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German Pages 403 [404] Year 2004
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Conrad Wiedemann
Band 171
Kerstin Stiissel
In Vertretung Literarische Mitschriften von Bürokratie zwischen früher Neuzeit und Gegenwart
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004
Diese Untersuchung wurde durch die Volkswagen Stiftung gefördert.
Für meine Tochter Laura Gesine
Stüssel
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-18171-0
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http:/'/www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Geiger, Ammerbuch
Inhalt
ι.
Literatur und Bürokratie 1.1
Der Plan (I)
1.2
Bürokratie und Moderne
1.3
Bürokratie als Konkurrent, Komplement und Gegenstand der Literatur?
1.4
1.5
Stand der Forschung 1.4.1
Allgemeine Bürokratieforschung
1.4.2
Literaturwissenschaftliche Bürokratieforschung
Der Plan (II) 1.5.1
Literatur als Mitschrift - Literarische Beispiele des 19. Jahrhunderts: Clemens Brentano: »Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen >AnnerlDie Ritter vom Geistes Wilhelm Raabe: >Die Akten des Vogelsang
Räten< und >Fürstendienern< 2.3 Vorgeschichten 2.4 Barocke Romane: Grimmelshausen - Zesen 2.4.1 2.4.2
Quellenautorität Providenz, Prognostik und Stellvertretung in der Fürstenherrschaft
2.5 Goethes autobiographischer Rekurs auf den Joseph-Stoff: Autorschaft und Beamtenrolle 2.6 Thomas Manns >Joseph< 2.6.1
Zwischenspiel: >Lotte in Weimar< und die Josephskonstellation
2.6.2 2.6.3
Bürokratische Modelle und Autorschaft in Thomas Manns Frühwerk
71
Joseph und seine Brüder:
73
2.6.3.1
Mythos, Mitschrift und Roman
73
2.6.3.2
Josephs Stellvertretung
78
Kafkas Bürokratie-Mitschriften
87
3.1
87
Einleitung 3.1.1
Kafkas paradoxer Klassikerstatus und das Thema
3.1.2
Stellvertretung bei Kafka als Gegenstand und
Bürokratie Analysekategorie
87 89
3.2
Bürokratie bei Kafka - Probleme der Forschung
90
3.3
Lebensdokumente und die Mitschrift von Bürokratie
96
3.4 Kafkas >Der BauBeim Bau der chinesischen Mauer< und Alfred Webers >Der Beamte< 3.5
103
Handelsvertreter und Prokurist - Vertretung in >Die Verwandlung
Der Verschollene< (>AmerikaDer Proceß< 3.7.1
131 137
Zeitordnungen: Routine, Ritual und der Dispens von Bedeutung
141
3.7.2
Grenzen der Verantwortung
143
3.7.3
Autobiographik und Autoadvokatur
144
3.7.4
Okkupationen und Interferenzen bürokratischer Mächte. . . 147
3.7.5
Hierarchie - Rhizom
150
3.7.6
Zeichen der Bürokratie: Semiotische Debakel
155
3.7.7
Die Türhüterlegende: Kommunikative Intervention und Deutung
3.8
125
Das »Naturteater von Oklahama«: Integration, Macht, Unvertretbarkeit
3.7
124
158
>Das Schloß
Bartleby the Scrivener< Robert Walser: >Der Commis«, >Der Gehülfe< 4.4 Angestelltendiskurse in der Weimarer Republik 4.4.1
Angestelltentheorien und Angestelltenliteratur
184 195 198
4.4.2 Angestellte als Opfer und Vollstrecker der Modernisierung . 201 4.5 Stenographie: Rationalisierung - Hermeneutik - Literatur 4.5.1
Stenographiepropaganda in der Weimarer Republik
4.5.2
Stenographie, Leben und Literatur
4.6 Ort und Eigenart der literarischen Texte 4.6.1
Eine kurze Erinnerung
4.6.2 Lektüren
211 215 216 219
Liebes-Literatur: Angestellte und Medien
220
4.6.2.2
Diktat, Stenographie und Schreibmaschine
224
4.6.2.3
Stellvertretung und Ersetzbarkeit
231
4.6.2.4
Paradoxe Ausbrüche: Die Unentrinnbarkeit 237
4.6.2.4.1 Selbstmord
238
4.6.2.4.2 Rettungen
239
Die Literatur der >Planer und Leiten in der D D R 5.1
207
4.6.2.1
der Bürokratie
5.
206
Einleitung
245 245
5.2 Sozialistische Bürokratie - Bahros Analyse
247
5.3
250
DDR-Literatur als Auftrags- und >Parteiliteratur< 5.3.1 5.3.2
Parteiauftrag: Für eine Literatur der >Planer und Leiten . . . . 256 Die >Planer und Leiter« und die >Literatur-Gesellschaft< der D D R
5.3.3
259
Eliten, soziale Schichtung und Verwaltung in der D D R Literatur
5.3.4
>Pianer und Leiter« als Konfliktgeneratoren
5.3.5
Souveränität, Biomacht und Verwaltung -
in der Übereinstimmungsliteratur Bürokratieausblendungen
260 265 271
VII
5-3-6
Verantwortungsliteratur
281
5.4 Die Karikaturen der Auftrags- und der »Planer und LeitenLiteratur 5.4.1
285
»Ich wollte niemals C h e f werden ...«: Die Kritik an der »Planer- und LeiterEs geht seinen Gang
grundlose< Angestellte als Testfall
6.5.5
7.
8.
VIII
323
des Intellektuellen
333
Synekdochen der Bürokratie: Gebäude - Fenster
338
6.5.6
Metonymien der Bürokratie: Texte
342
6.5.7
Ausbruchsversuche (I): Fluchten und Nischen
347
6.5.8
Ausbruchsversuche (II): A u F s Ganze setzen
350
Quellen- und Literaturverzeichnis 7.1
316 323
Literarische und andere Quellen
359 359
7.2 Forschungsliteratur
368
Personenregister
393
ι.
Literatur und Bürokratie
i.i
D e r P l a n (I)
Bürokratie ist nicht nur sozial-historisches, sondern auch ein eminent literarisches Faktum. Diese Arbeit will Blickachsen durch die Literatur-Geschichte der Bürokratie eröffnen und empfiehlt, dazu die Leitfäden der alttestamentarischen Josephsgeschichte und der Stellvertreterstruktur zu benutzen. Diese stiften Ausschlußkriterien und Prinzipien der Konstruktion von Zusammenhängen. Zugleich wird vorgeschlagen, das Verhältnis zwischen Literatur und Bürokratie als Mitschrift zu kennzeichnen und mit dieser bewußt eingesetzten, zwischen Metapher und Metonymie changierenden rhetorischen Figur die forcierte Differenz zwischen Literatur auf der einen und Administration auf der anderen Seite in ein Kontinuum aufzulösen und damit die wechselseitige Modellfunktion und die historische Kontiguität der beiden Begriffe zu betonen. 1 Verwaltung und Literatur in ein Verhältnis von «Botschaft und >Medium< zu rücken, ruft den McLuhanschen Gemeinplatz 2 auf: Indem sich die Literatur mit Bürokratie beschäftigt, indem sie sie zum Gegenstand macht und sie variantenreich >mitschreibthochkulturelle< bzw. >neuzeitliche< Lebensformen und Institutionen begriffen. Unterstellt wird der Geschichte der politischen und wirtschaftlichen Verwaltung damit eine Entwicklungslogik, die ihre Anfänge mit dem Ende der primitiven Kulturen, ihre Dominanz mit dem Höhepunkt der Moderne und ihre allmähliche Auflösung mit der Postmoderne gleichsetzt. Diese geschichtsphilosophische Implikation ist wie die Unterscheidung zwischen primitiven Kulturen und sogenannten Hochkulturen von versteckten Wertungen besetzt, die leicht in performative Widersprüche fuhren. 1 0 Überaus einflußreich ist hier noch immer die idealtypische Beschreibung von M a x Weber, der die bürokratische Herrschaft im Unterschied zur traditionalen und zur charismatischen als spezifisch moderne Herrschaftsform eingeführt hat. Webers Definition und Bewertung des Phänomens Bürokratie überschreiten die Grenzen der im engeren Sinn politischen Fragen, die im 19. Jahrhundert mit dem T h e m a der Bürokratie in Z u s a m m e n h a n g standen. 1 1 Bürokratie, d.h. die Abstraktheit der N o r m e n , feste Kompetenzen und Zuständigkeiten, eine auf Spezialisierung u n d formaler Qualifikation beruhende Amtshierarchie, die Aktenmäßigkeit der K o m m u n i k a t i o n , die hauptamtliche und durch G e l d entlohnte Erledigung der
9
0
1
4
Bürokratie fungiert als Sündenbock, vgl. dazu Theodor W. Adorno, Individuum und Organisation. Einleitungsvortrag zum Darmstädter Gespräch 1953. In: Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 8. Soziologische Schriften I, Darmstadt 1998, S. 440—456. Vgl. etwa Alfred Weber, Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie, München 1951, S. I25ÍF. Zum allgemeinen Zusammenhang von Schriftgebrauch und Bürokratie vgl. Jack Goody, Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990. Zur ägyptischen Schriftlichkeit vgl. Jan A5smann, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München und Wien 1996, S. 6off. Besonders hervorzuheben sind Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. (1792) In: Humboldt, Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt i960. — Theodor von Schön, Woher und Wohin? (1845). In: Karl Heinzen, Die Preußische Büreaukratie, Darmstadt 1845, S. 3-10. - Sachlicher dann Robert von Mohl, Über Bureaukratie. In: Zeitschrift fur die gesammte Staatswissenschaft 3,1846, S. 33off. Abgedruckt in: Robert von Mohl, Politische Schriften, hg. von Klaus von Beyme, Köln, Opladen 1966, S. 276-310. - Vgl. Friedrich Rohmer, Deutschlands alte und neue Bureaukratie, München 1848. - Julius Koeller, Ein Wort über die Bürokratie in Preußen, zunächst an die Beamten selbst, Leipzig 1848.
G e s c h ä f t e u n d ein strenges Z e i t r e g i m e - all dies ist f ü r W e b e r e i n e s p e z i f i s c h m o derne Herrschafts- u n d L e b e n s f o r m , die eine Facette im Prozeß fortschreitender R a t i o n a l i s i e r u n g b z w . i n d e r >Entzauberung< d e r W e l t 1 1 b i l d e t . A u c h w e n n m a n g e g e n W e b e r die S y s t e m r a t i o n a l i t ä t b ü r o k r a t i s c h e r O r g a n i s a t i o n e n in F r a g e stellt, rückt der allgemeinen B e g r i f f der Organisation die B ü r o k r a t i e in einen e n g e n Z u s a m m e n h a n g mit der f u n k t i o n a l ausdifferenzierten Gesellschaft der M o d e r n e 1 3 u n d ihrer R h e t o r i k . 1 4 I n j ü n g s t e r Z e i t läßt s i c h j e d o c h d i e z u n e h m e n d e H i s t o r i s i e r u n g u n d
Mu-
sealisierung v o n B ü r o k r a t i e b e o b a c h t e n . W a r e n es v o r z e h n bis f ü n f z e h n J a h r e n die F ö r d e r t ü r m e , H o c h ö f e n u n d W e r k s h a l l e n a n S a a r u n d R u h r , die s a m t i h r e n T e x t e n das V e r s c h w i n d e n i n d u s t r i e l l e r K u l t u r e n s i n n f ä l l i g m a c h t e n , 1 ' s o s i n d es heute Behördenflure, B ü r o r ä u m e mit ihren Aktenschränken u n d antiken Schreibm a s c h i n e n , die V e r s u c h e , d e n A r b e i t s p l a t z S c h r e i b t i s c h d u r c h F o t o s u n d P o s t k a r t e n zu individualisieren, die feierabendlichen V e r g n ü g u n g e n der Angestelltenschaft u n d die R i t e n d e r B ü r o k u l t u r , d i e nostalgisches u n d w i s s e n s c h a f t l i c h e s I n t e r e s s e wecken.'6 Angesichts der ö k o n o m i s c h e n Kritik an vielfältig abgestuften, unflexib12
13
Max Weber, Wissenschaft als Beruf. In: Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1988, 7. Aufl., S. 582-613, hier: S. 612. Vgl. M a x Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. rev. Aufl., hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1980, S. 125—129, S. 551—579, S. 825-837. - Ders., Die drei T y p e n der legitimen Herrschaft. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 475—488. — Z u r Kritik an der Rationalitätsunterstellung vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft und ihre Organisationen. In: Systemrationalität und Partialinteresse. Festschrift für R. Mayntz, hg. von Hans-Ulrich Derlien u.a., BadenBaden 1994, S. 189—201. — Z u r Kritik an den verschiedenen Modernisierungstheorien vgl. Peter Wehling, Die Moderne als Sozialmythos. Z u r Kritik sozialwissenschaftlicher Modernisierungstheorien, Frankfurt a.M., N e w York 1992.
14
Zum phasenverschobenen Verhältnis sozialer, ökonomischer und symbolisch-künstlerischer Modernebegriffe und ihrer Verlaufs- und Paradoxienrhetorik vgl. Gerhart von Graevenitz, Einleitung. In: Konzepte der Moderne, hg. von G . von Graevenitz, Stuttgart, Weimar 1999, (Germanistisches Symposium 1997, Berichtsbände X X ) , S. 1—16.
15
Vgl. etwa: Die Arbeiter. Lebensformen, Alltag und Kultur von der Frühindustrialisierung bis zum »Wirtschaftswunder«, hg. von Wolfgang Ruppert, München 1986, und: D i e Fabrik. Geschichte von Arbeit und Industrialisierung in Deutschland, hg. von W . Ruppert, München 1983. - Z u m Verhältnis zwischen Literatur und Industrie vgl. Technik in der Literatur. Ein Forschungsüberblick und zwölf Aufsätze, hg. von Harro Segeberg, Frankfurt a.M. 1987. - Literatur in einer industriellen Kultur, hg. von Götz Großklaus, Eberhard Lämmert, Stuttgart 1989. - Wolfgang Hädecke, Poeten und Maschinen. Deutsche Dichter als Zeugen der Industrialisierung, München 1993.
16
Vgl. die großen Ausstellungskataloge Work & Culture. Büro. Inszenierung von Arbeit, hg. von Herbert Lachmayer und Eleonora Louis, Klagenfurt 1998; Großstadtmenschen. Die Welt der Angestellten, hg. von Burkhart Lauterbach, Frankfurt a.M. 1995. — Vgl. dazu Thomas Palzer, Ausflug I: D i e Welt der Angestellten. In: Palzer, A b hier F K K erlaubt. 50 schnelle Seitenblicke auf die neunziger Jahre. München 1996, S. 132-134. Vgl. auch Menschen im Büro. Von Kafka zu Martin Walser, hg. von Hannes Schwenger, München 1984, S. 2. - Ein weiterer Beleg ist auch, daß nach der deutschen Vereinigung weniger
5
len Hierarchien, des Vordringens des management-Gtóznkcns in die öffentliche Verwaltung 17 und angesichts weltweit vernetzter virtueller Büros, die allein im abstrakten Cyberspace existieren,18 angesichts einer Wirtschaftsverfassung, die den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit und jede nationale Politik in globalen Geld- und Arbeitsplätzetransfers auflöst,1? angesichts der Mobilitate- und Selbststeuerungszwänge20 und einer individualistischen »Erlebnisgesellschaft:«,21 die auch die Angestelltenmilieus atomisiert, erscheinen staatliche und privatwirtschaftliche Bürokratien 21 als signifikante Relikte einer vergangenen Moderne, die erst im Moment ihres vermeintlichen Verschwindens auf ein kulturwissenschaftliches Interesse stoßen. Unter den Vorzeichen einer linear fortschreitenden Modernisierung sieht es aus, als ob eine >nach-postindustrielle< Gesellschaft im Anschluß an die klassische industrielle Produktion auch die Verwaltung in die Sphäre des Abgegoltenen und Anachronistischen zu rücken sucht. Diese lineare Geschichtsvorstellung ist jedoch - was inzwischen fast schon ein Gemeinplatz ist - prinzipiell in Frage zu stellen. Wenn man die heterarchischen Vernetzungen im Sinne der von Deleuze und Guattari formulierten Relativierung
die verrotteten Industriestandorte der ehemaligen D D R als vielmehr die Zeugnisse der Stasi-Bürokratie auf alltagskulturelles Interesse stießen. Vgl. etwa Gabriele Goettle, Stasi-Kaufhaus. In: Goettle, Deutsche Bräuche. Ermittlungen in Ost und West, Frankfurt a . M . 1996 (EA 1994), S. 15-27. 17
Vgl. etwa Dietrich Budäus, Public Management. Konzepte und Verfahren zur Modernisierung öffentlicher Verwaltungen, Berlin 1994.
18
Vgl. Gerhard Bernau, Bürokommunikation im Wandel. Der Weg ins digitale Büro, Bonn u.a. 1997. - Vgl. etwa die Bürokratiekritik im Zusammenhang des Regierungsumzugs nach Berlin: Anon., Bits und Boten. Mit Milliardenaufwand läßt der Bund eine Datenautobahn zwischen Bonn und Berlin bauen - doch Beamte bevorzugen die Umlaufmappe. In: Der Spiegel 1.4.96, S. 44-46. - Vgl. jetzt den Titel des S T E R N , H. 39,18.9.2003: Wahnsinn Bürokratie. W i e die Regelwut unser Land lähmt.
19
Vgl. Ulrich Speck, D e r lange Abschied v o m Vater Staat. In: Merkur 53, H . 11, 1999, S. 1035-1046.
20
V g l . Ulrich Bröckling, Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement. In: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, hg. von Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke, Frankfurt a.M. 2000, S. 1 3 1 - 1 6 7 . — Z u m gleichen Phänomen polemischer: Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998. — Vgl. aktuell ein Beispiel unter vielen: Christiane Grefe, Leidende Angestellte. In: Die Zeit 36, 28. August 2003, S. 31-32.
21
Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a . M . 1992.
22
Im Anschluß an Max Weber werden daher die Ähnlichkeiten zwischen staatlichen Beamten und privatwirtschaftlichen Angestellten im folgenden betont, ohne wichtige Unterschiede, z.B. in der sozialen Absicherung, zu vernachlässigen. Vgl. Ulf Kadritzke, Martin Baethge, »... aber was sind Sehnsüchte gegenüber einer Beförderung?« Ein Versuch, die Welt der Angestellten zu begreifen. In: Großstadtmenschen, hg. von Lauterbach, S. 26—41, hier: S. 32.
6
von abendländischer Linearität und Territorialität 1 3 ernst nimmt, wird die Hierarchie unter den Vorzeichen rhizomatischer Vernetzung zu einem Spezialfall, auf den gelegentlich zurückgegriffen werden kann; genauso scheint die >klassische< Bürokratie ein möglicher, aber kein notwendiger Fall von Informations-, Personen- und Sachverwaltung zu sein, die außerdem mit permissiven Nivellierungen einhergehen kann, so daß sich der Modernisierungsprozeß nur auf der sehr abstrakten Ebene von Komplexitäts- und Kontingenzsteigerungen als einsinnig erweist. A u f mittlerem Abstraktionsniveau stellt er sich als Ineinander von Altem und N e u e m dar, als Alternative zwischen dem bewußten Setzen auf Innovation und dem Rekurs auf scheinbar Anachronistisches. Die nihilistische Emphase, mit der die lediglich okkasionalistischen B i n d u n g e n und die Logik v o n selbststützenden Kräften in der modernen Kultur hervorgehoben werden, müßte hingegen durch vielfältige historische Vergleiche überprüft, bestätigt und relativiert werden. Die vorliegende Arbeit wählt einen von geschichtsphilosophischen Linearisierungen möglichst divergenten W e g zur Bürokratie, und damit - vielleicht — zu einer Rhetorik der M o d e r n e . Sie verstellt sich m i t vollem Bewußtsein f u r die Unausweichlichkeit von Medialität und Perspektivik den Blick, sie nimmt also diskrete Reihen literarischer Mitschriften von Bürokratie und Verwaltung seit dem 17. Jahrhundert ins Visier, von denen sie genausoviel über die Bürokratie wie über die Literatur zu erfahren hofft. Bei allem Respekt gegenüber jenen, die der Literatur den (direkten) Sachbezug nicht zutrauen oder nicht zumuten möchten, weil Realismus stets ein sprachlich-rhetorischer Effekt 2 4 sei, der sich selbst immer wieder dementiert, wird Referenz hier vorausgesetzt: Der Realitätseffekt entsteht nämlich nur in der aufmerksamen Begleitung einer - zugegeben - diskursiv-rhetorisch formatierten >WirklichkeitinteressantenStellen< für Personen vereinigen, der mitschreibenden Literatur als ihr >Anderes< und als ihr Ahnliches zum Medium ihrer Selbstreflexion.
33
Michail Michailovic Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hg. von R . Griibel. Frankfurt a.M. 1979, S. 154fr.
34
Vgl. etwa zu literarischen Organisations- und Gruppenbildungen Rolf Parr, Interdiskursive As-Sociation. Studien zu literarisch-kulturellen Gruppierungen zwischen Vormärz und Weimarer Republik, Tübingen 2000.
35
V g l . dazu T h e o d o r W . A d o r n o , Kultur und Verwaltung. In: A d o r n o , Gesammelte Schriften, B d . 8: Soziologische Schriften I, Darmstadt 1998, S. 122—146. — W o l f g a n g Schaffner, Verwaltung der Kultur. Alexander von Humboldts Medien (1799-1834). In: Interkulturalität. Zwischen Inszenierung und Archiv, hg. von Stefan Rieger, Schamma Schahadat und Manfred Weinberg, Tübingen 1999, S. 353—366.
36
Gerhard Plumpe und Niels Werber, Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft, Opladen 1995, S. 7.
37
Carl Schmitt, Politische Romantik, Berlin 1991 (5. Aufl., unveränd. Nachdruck der 1925 erschienenen 2. Auflage).
IO
ι.4
Stand der Forschung
Nach einer Skizze der wichtigsten Etappen in der allgemeinen Verwaltungs- und Bürokratieforschung gilt es dann, ausfuhrlicher die Funktion zu bestimmen, die Literatur in diesen Kontexten innehat, um schließlich umgekehrt die Rolle der Bürokratie in literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen zu analysieren.
1.4.1
Allgemeine Bürokratieforschung
Die Forschung zur Geschichte und zur Theorie der Verwaltung präsentiert sich schon lange nicht mehr ausschließlich disziplinenkonform; interdisziplinäre Unternehmungen von Geschichts-, Politik-, Verwaltungs- und Rechtswissenschaft sind bereits die Regel. Desiderat der Forschung ist jedoch weiterhin eine kulturwissenschaftliche Betrachtung der Bürokratie, die ihre Selbst- und Fremdrepräsentation einschließt. Das Verwaltungshandeln, die Rollenmodelle innerhalb der Bürokratie, bürokratische Institutionen und bürokratische Medialität sind bisher nur in Anfängen in ihrer spezifisch kulturellen Dimension untersucht worden. 38 Gründe dafür sind die Konzentration auf Fragen der Organisationsrationalität und -funktionalität einerseits und auf Fragen der Beamtengeschichte andererseits. Jüngst ist allerdings Bernhard Siegerts groß angelegte Studie zu den Zeichenpraktiken bzw. Kulturtechniken der neuzeitlichen Wissenschaften erschienen, die den diagrammatischen und inventarisierenden Schreibpraktiken in der Büros der italienischen Kaufleute des 14. Jahrhunderts und der spanischen Verwaltung der >Indias< eine
'8
Dualistische (Snow) wie auch triadische Kulturmodelle (Lepenies) müßten die Frage eigentlich nahelegen. Vgl. Charles P. Snow, T h e T w o Cultures, Cambridge 1993. — Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München, Wien 1985. - Das Jahrbuch fur europäische Verwaltungswissenschaft 1994 ist den »Bildern der Verwaltung« gewidmet: Dort sind z.B. erschienen: Michael Kilian, Das Bild der Verwaltung in der deutschsprachigen Belletristik. In: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 6 (Bilder der Verwaltung. Memoiren, Karikaturen, Romane, Architektur), 1994, S. 7 9 - 9 7 . - Alf Lüdtke, Thomas Erwig-Drüppel, >Das Subject. Das Object'. Polizisten und andere Amtspersonen im >Simplicissimus< 1896—1914, S. 149—177. — E r k V o l k m a r Heyen, Die Bürokratie in der satirischen Graphik A . Paul Webers, S. 179—196. - Die bereits erwähnten Kataloge Großstadtmenschen, hg. von B. Lauterbach, und W o r k & Culture. Büro. Inszenierung von Arbeit, hg. von E. Louis und H . Lachmayer, liefern ebenfalls Materialien und Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Erschließung der Bürokratie. - Von Peter Becker ist schon vor längerer Zeit ein Projekt zur Kulturgeschichte der Bürokratie des 19. Jahrhunderts angekündigt: In: Akten. Eingaben. Schaufenster. Die D D R und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag, hg. von Alf Lüdtke und Peter Becker, Berlin 1997, S. 311.
II
e n t s c h e i d e n d e R o l l e in d e r E n t s t e h u n g d e r E x p e r i m e n t a l - u n d I n f o r m a t i o n s w i s senschaften zugewiesen hat.39 D i e u m f a n g r e i c h s t e M e n g e a n E i n z e l s t u d i e n z u r staatlichen B ü r o k r a t i e l i e f e r n P o l i t i k - u n d V e r w a l t u n g s g e s c h i c h t e , die V e r ä n d e r u n g e n in d e r p o l i t i s c h e n V e r a n kerung v o n Verwaltung, aber auch i m m a n e n t e Veränderungen der Organisation v o n V e r w a l t u n g untersuchen. E i n Schwerpunkt, der beide Seiten verknüpft u n d d e r d i e S o z i a l g e s c h i c h t e e i n b i n d e t , ist die G e s c h i c h t e des B e a m t e n t u m s , d . h . d e r rechtlichen V e r a n k e r u n g u n d der Ausgestaltung der Beamtenrolle.40
Genauer
u n t e r s u c h t w e r d e n a u ß e r d e m die R e g u l a r i e n f ü r V e r a n t w o r t l i c h k e i t i n n e r h a l b d e r V e r w a l t u n g s h i e r a r c h i e , d . h . V e r a n t w o r t l i c h k e i t n a c h o b e n u n d n a c h u n t e n , also z u m H e r r s c h e r b z w . z u r V e r f a s s u n g einerseits, z u m » V o l k « , z u d e n V e r w a l t e t e n andererseits. D e n s c h r i f t l i c h e n N i e d e r s c h l a g v o n V e r w a l t u n g s t ä t i g k e i t u n d P r o b l e m e seiner S p e i c h e r u n g u n t e r s u c h t d i e A r c h i v w i s s e n s c h a f t , d i e sich j e d o c h i m w e s e n t l i c h e n als h i s t o r i s c h e H i l f s w i s s e n s c h a f t v e r s t e h t . 4 1 E i n z e i t l i c h e r S c h w e r p u n k t b e i d e r E r f o r s c h u n g d e r B ü r o k r a t i e liegt i m 19. J a h r h u n d e r t m i t s e i n e r A u s w e i t u n g d e r Staatsaufgaben, regional werden vor allem die preußische Verwaltungsgeschichte u n d d i e B ü r o k r a t i e d e s H a b s b u r g e r r e i c h e s als p a r a d i g m a t i s c h b e h a n d e l t . 4 1 D i e
39
Bernhard Siegert, Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500-1900. Berlin 2003.
40
V g l . als repräsentative Beispiele Gustav von Schmoller, D e r deutsche Beamtenstaat vom 16. bis 18. Jahrhundert. In: Ders.: Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, Leipzig 1898. - Albert Lötz, Geschichte des deutschen Beamtentums. Berlin 1909. — Otto Hintze, Der Beamtenstand. In: Vorträge der Gehe-Stiftung zu Dresden III, 1911, S. 93—170. - Hans Hattenhauer, Geschichte des Beamtentums, Köln 1980. — Hansjoachim Henning, Die deutsche Beamtenschaft im 19. Jahrhundert. Zwischen Stand und Beruf, Stuttgart 1984. - Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: V o m Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches. Stuttgart 1983, Bd. 2: V o m Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, hg. von Kurt G . A . Jeserich, Hans Pohl u.a., Stuttgart 1983. — Bernd Wunder, Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt a.M. 1986. — Thomas Ellwein, Das Dilemma der Verwaltung. Verwaltungsstruktur und Verwaltungsreformen in Deutschland, Mannheim u.a. 1994. - Regionale Aspekte untersucht jetzt Stefan Brakensiek, Fürstendiener - Staatsbeamte - Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750-1830), Göttingen 1999.
41
Eckhart G . Franz, Einfuhrung in die Archivkunde. 3., grundlegend überarbeitete Auflage, Darmstadt 1990. - Heinz H o f f m a n n , Behördliche Schriftgutverwaltung. Ein Handbuch für das Ordnen, Registrieren, Aussondern und Archivieren von Akten der Behörden, München 2000 (2. Aufl., E A 1992). - Rudolf Schatz, Behördenschriftgut. Aktenbildung, Aktenverwaltung, Archivierung, Boppard a.Rh. 1961. — Z u einer kulturwissenschaftlich erweiterten Perspektive vgl. Wolfgang Ernst, Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung. Berlin 2002.
42
Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1975 (2. berichtigte Aufl.,
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Geschichte der deutschen Bürokratie im 20. Jahrhundert ist dagegen bislang weniger intensiv untersucht worden. 43 Obwohl die genetische Verbindung und die Gemeinsamkeiten der Lebensformen und des Habitus bei staatlichen Beamten und privatwirtschaftlichen Angestellten anerkannt werden, 44 bleibt die getrennte Betrachtung der öffentlichen und der privatwirtschaftlichen Bürokratien in der Geschichtswissenschaft vorherrschend,45 während diese von der Soziologie im Zeichen übergreifender organisations- und institutionentheoretischer Fragestellungen aufgegeben worden ist. Die soziologische Untersuchung der Bürokratie und der Angestelltenschaft als >neuer< gesellschaftlicher Gruppe/Klasse war ein zentrales Thema der deutschen Zwischenkriegssoziologie. 46 Es wurde in den 50er Jahren, vermittelt durch das Wissenschaftsexil, in der angloamerikanischen Soziologie rezipiert und schließlich, mit einer gewissen Verspätung, in der Bundesrepublik wieder aufgegriffen und im internationalen Austausch weiterentwickelt. Daneben konkurrieren international geprägte organisationstheoretische Untersuchungen, die sich von den herrschaftssoziologischen Fragestellungen in der Max-Weber-Nachfolge durch ihre Aufmerksamkeit auf die nichtformalisierbaren Folgen formaler Organisation unterscheiden.47 Organisationen sind Orte für Zweideutigkeiten, gerade dann, wenn Entscheidungen als Definiens von Organisationen identifiziert werden.48 Von der organisationstheoretischen Analyse der Genese, Evolution und Steuerungsmöglichkeiten in Organisationen setzt sich eine aktuelle, weitergefaßte Institutionenanalyse ab, die symbolische Selbstrepräsentation und
EA 1967). — Zuletzt einschlägig, vor allem für die Ausweitung der Staatsaufgaben im Kaiserreich Tibor Siile, Preußische Bürokratietradition. Zur Entwicklung von Verwaltung und Beamtenschaft in Deutschland 1871—1918, Göttingen 1988. — Vgl. zur österreichischen Geschichte: Alfred Hoffmann, Bürokratie insbesondere in Osterreich. In: Beiträge zur neueren Geschichte Österreichs, hg. von Heinrich Fichtenau, Erich Zöllner, Wien, Köln, Graz 1974, S. 13—31. — Die Habsburgermonarchie 1848—1918. Bd. II: Verwaltung u n d Rechtswesen, hg. von Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch, Wien 1975. — Karl Megner, Beamte. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte des k.k. Beamtentums, Wien 1985. 43
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Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Bibliographie zur neueren deutschen Sozialgeschichte, München 1993, S. 333-34°· Vgl. Angestellte im europäischen Vergleich. Die Herausbildung angestellter Mittelschichten seit dem späten 19. Jahrhundert, hg. von Jürgen Kocka, Göttingen 1981. Vgl. Jürgen Kocka, Die Angestellten in der deutschen Geschichte 1850-1980. Vom Privatbeamten zum angestellten Arbeitnehmer, Göttingen 1981. - Wehler, Bibliographie,
S. 227-230. 46 47
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Vgl. die Bibliographie in: Großstadtmenschen, hg. von B. Lauterbach, S. 520—534. Vgl. Morstein Marx, Einführung in die Bürokratie. - Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 4. Aufl. 1994 (EA 1964). — Renate Mayntz, Einleitung. In: Mayntz, Bürokratische Organisation, Köln 1968, S. 13—23. Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, Opladen, Wiesbaden 2000.
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»änderungsresistente Verhaltensprämissen« 45 als kennzeichnend fur Institutionen ernst nimmt und diese wiederum auf den engeren Bereich der Organisationen zu beziehen sucht. 50 D i e >klassischen< soziologischen Bestimmungen des Phänomens Bürokratie verweisen übereinstimmend auf seine hierarchische Struktur, die eindeutige Uber- und Unterordnungen sowie eindeutige Befehls- und Gehorsamsverhältnisse impliziert, w o m i t idealiter reibungsloses Funktionieren sichergestellt wird. Dagegen betonen neuere Beschreibungen, daß die stets zu beobachtenden Friktionen innerhalb bürokratischer Verfahren nicht ihre Dysfunktionalität, sondern ihre nichttriviale Funktionalität beweisen, 51 was auf die Uberlagerung und das Ineinander von hierarchischen u n d rhizomatischen Strukturen hindeutet. Das spannungs- und reibungsreiche Funktionieren bürokratischer Apparate beruht außerdem auf einer Disziplin, die im Inneren der beteiligten Akteure machtsteigernd wirksam wird. 5 2 D i e hierarchische Struktur >klassischer< bürokratischer Organisationen, die sich von traditionalen und charismatischen Anteilen distanziert, geht in der Moderne einher mit einer funktional strukturierten Gesamtgesellschaft, die auf strikte soziale Hierarchien verzichten kann. In diesem Zusammenhang verweisen neuere Analysen auf die bürokratisch verfaßten biopolitischen Kontrollen, die sich im Dienste eines >LebensSchreibmaschinen< die Diskurse ordnen und regeln, auch den literarischen. M i t diesem radikalen Reduktionismus verfällt aber auch die Medientheorie der hermeneutischen Lust an einer subtextuellen Tiefendimension, die sie eigentlich verpönt. Im Gegensatz zum Themen- und Problemspektrum des Gegenstandes Bürokratie ist die Beziehung zwischen »Rechtskultur« und Literatur seit Jacob G r i m m 6 9 ein traditionsreicher Gegenstand der Literaturwissenschaft. 7 0 Beide lassen sich als
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Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995 (3. vollst, überarb. Aufl.). Ders., Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986.
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Kittler, Grammophon Film Typewriter, S. 33if. Bernhard Siegert, Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751-1913, Berlin
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1993· Bernhard Siegert, Joseph Vogl (Hg.), Europa. Kultur der Sekretäre, München 2003 (Im Druck). Jacob Grimm, Von der Poesie im Recht. In: Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Werke I, 6, hg. von Ludwig Erich Schmitt, Hildesheim, Zürich, N e w York 1991, S. 152—191. Vgl. Klaus Lüderssen und Thomas-Michael Steinert, Autor und Täter, Frankfurt a . M . 1978. - Klaus Lüderssen, Produktive Spiegelungen. Recht und Kriminalität in der Literatur, Frankfurt a.M. 1991. - Besonders zu beachten sind die Arbeiten zu Literatur und Kriminalität, die in zwei Kolloquien unter der Federführung von Jörg Schönert präsentiert worden sind: Erzählte Kriminalität. Z u r Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1 7 7 0 und 1920, hg. von Jörg Schönert, Tübingen 1991. - Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 1850—1880. Interdisziplinäres Kolloquium der Forschergruppe
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Textsysteme auffassen; insbesondere das Strafrecht und die hier verwendeten Texte finden als literaturaffin Berücksichtigung. In einer interdisziplinären Anstrengung von Juristen und Literaturwissenschaftlern werden Narrativitätsmodelle, die in der Strafrechtskultur und der Literatur verwendet werden, miteinander verglichen und auf wechselseitige Einflüsse untersucht. 71 Schließlich werden die mythopoetischen Grundlagen- und Ursprungsgeschichten der europäischen Rechtskultur und ihre Implikationen analysiert: Die »Durchdringung« der Komplexe Recht und Poesie erfüllt sich in der juridischen »Gegenenergie«, die den literarischen Text in eine schreibgestörte Konkurrenz zweier Literaturen stellt. 72 Weil aber die Verfahren der Verwaltung eben nicht nach rein juristischen Prototypen geformt werden 73 und weil umgekehrt das Recht auf verwaltungs technischen Prämissen gründet, werden literarische Mitschriften der Bürokratie durch solche Untersuchungen zwar angeschnitten, aber nicht >direkt< ins Visier genommen. Bürokratie umfaßt immer Verwalter, Vertreter, die >vor dem Gesetz< stehen und als Personifikationen des Paratextes in Erscheinung treten. Die auch literaturwissenschaftliche Fruchtbarkeit eines indirekten Blicks belegt jetzt Cornelia Vismanns über die gesamte abendländische Geschichte hin dimensionierte Untersuchung zu Akten als Medien und Realien des Rechts. 74 Die Systematik und die Schwerpunkte der historischen und juristischen Analyse werden hier nicht der Verwaltungsgeschichte, sondern der Literatur entnommen: Melvilles >Bartleby the Scrivener< und Kafkas Erzählungen sowie das >ProceßZuständigkeit< der Literatur fur den Bereich der Bürokratie oder für die Vermittlung bürokratischer Redeordnungen und -formen die epistemologischen Prämissen der Bürokratie selbst auf die Analyseebene übertragen. Vorgeschlagen wird der Begriff der Mitschrift; mit ihm sind die komplexen Beziehungen und Verschränkungen zwischen Literatur und Bürokratie angemessener in den Blick zu rücken. Der Hinweis auf die epistemische Temporalisierung, der im Anschluß an Foucault und Koselleck8á unabweisbar scheint, kann für das Verhältnis zwischen Literatur und Bürokratie zunächst suspendiert werden. Die literarischen Texte werden jedoch an den vorsorgenden Beamtenfiguren zeigen, daß Bürokratie stets zweifach funktioniert, über taxonomische Statik und verwandelnde Zukunftsantizipation.
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Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1971. Daß der universale Aneignungsbegriff in der DDR-Literaturwissenschaft eine historische und epistemologische Analyse des >Realismus< verhinderte, macht den Kern der Kritik aus bei U l f Eisele, Realismus-Problematik. Überlegungen zur Forschungssituation. In: D V j s 51, 1977, H . i, S. 148-174. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 4i3ff. - Vgl hier auch W o l f Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München, Wien 1976. — Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Z u r Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1985 (4. Auflage).
i.j.i
Literatur als Mitschrift - Literarische Beispiele des 19. Jahrhunderts: Clemens Brentano: >Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen AnnerlDie Ritter vom Geiste«, Wilhelm Raabe: >Die Akten des Vogelsang«
Gegen die Annahme, daß die Welt und die Begriffe territorial aufgefaßt und als begrenzte Territorien erobert, kolonisiert und verwaltet werden können, stehen — im Anschluß an Deleuze und Guattari — rhizomatische Verknüpfungen und nomadische Fluchtlinien. Diese Kontrastfigur soll weder historisch noch philosophisch entschieden und damit abgeschafft werden; statt dessen ist die Einheit auch dieser Differenz als Ausgang für literaturhistorische Beobachtungen anzusetzen. Wenn die literarischen Texte >über< Bürokratie als Mitschriften87 der Bürokratie aufgefaßt werden, so ist zwar die Konnotation eines aggressiven Zugriffs auf begriffliche Räume vermieden, andererseits die Unvermeidlichkeit eines metaphorischen re-entry bürokratischer Verfahren in die literaturwissenschaftliche Beobachtung anerkannt. Mit dem changierenden Begriff der Mitschrift, damit auch der Stenographie, zeigt diese Arbeit zum einen auf den Vorgang des Protokollierens als einer kopräsenten Begleitung: Seit der Antike gilt es, sprachliche und nicht-sprachliche Handlungen zu bezeugen und im Moment des Vollzugs schriftlich festzuhalten, um sie wortgetreu zu speichern und stets abrufbar zu halten. Die Verhandlungen der modernen Parlamente sind die wichtigsten Arbeitsfelder für die sich professionalisierende Stenographie. Zum anderen aber verweist der Begriff der Mitschrift, der sich in der stenographischen Form seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr auch auf ökonomischen Schriftverkehr erstreckt, auf das Autoritätsgefälle zwischen dem Sprechenden, d.h. hier dem Diktierenden, und dem Mitschreibenden. Die Mitschrift ist hier nicht nur der Vollzug einer Zeugenschaft, sondern die Entgegennahme eines Befehls, der dem Aufschreibenden die schnellstmögliche Übermittlung der Willensäußerungen des Vorgesetzten, Dritte und Vierte betreffend, auferlegt. Der Effektivitätssteigerung der stenographischen Techniken durch Vereinheitlichung in der Weimarer Republik und ihre gleichzeitige Kassierung durch neue Diktier- und Schreibtechniken wird daher besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden (vgl. Kap. 4.5. dieser Untersuchung). Das Vermögen zur Abbreviatur beruht aber in asymmetrischen Kommunikationssituationen nicht allein auf der Kenntnis des stenographischen Codes und syntaktischer Regularitäten, sondern auch auf einer ernüchterten Hermeneutik, einem selektiven, d.h. subjektiven Blick bzw. einem Ohr für das >Wesentliche< und den Gesamtzusammenhang: Präsumtionen über Sprecher und Sprechsituation ermöglichen allererst die Steigerung der stenographischen Geschwindigkeit. Zugleich besteht die Kunst des Stenographen darin, dem Diktator
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Z u Protokollen und Stenographie vgl. Vismann, Akten, S. 8γ(. — Vgl. auch Rieger, Individualität der Medien, S. 22off. 23
»entgegen zu arbeiten,«88 d.h. aus dem Gesagten das noch Ungesagte extrapolierend zu erschließen und im Vorgriff seine Willensäußerungen zu prognostizieren und den >versprochenen< Wortlaut spätestens >in der Reinschrift zu korrigieren. Hierin manifestiert sich ein Modell der Beamten- und Angestelltenposition und damit die Reichweite einer ins Innere der Subalternen reichenden Macht, umgekehrt aber auch das Vermögen der Untergebenen, den Vorgesetzten über den Wortlaut hinausgehend performativ festzulegen. Dramen wie Schillers >Kabale und Liebe< und >Maria Stuart< sowie Kleists >Prinz Friedrich von Homburg< explorieren in ihren Schreiber- und Schriftintrigen den Deutungs- und Machtspielraum, der Mitschriften stets eigen ist, weil sie in hierarchische Strukturen und machtgeprägte Interaktionen eingebunden sind. Die vorliegende Untersuchung verfolgt im Gang durch das historische Material die Hypothese, daß auch literarische Texte als Mitschriften analysiert werden können. Damit begibt sie sich in die Traditionslinie einer Vergleichslogik, wonach Schriftsteller die Sekretäre der Gesellschaft seien. Diese von Honoré de Balzac im Vorwort zur >Comédie humaine«89 prominent formulierte Auffassung wird vor allem in der Tradition einer Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und fiktionaler Literatur angesiedelt.90 Diese paratextuelle Definiton erscheint in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts innerhalb fiktionaler Texte, wo die Differenz von poetischem und bürokratischem Schreiben literarisch untersucht und kritisiert wird. Clemens Brentanos >Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl· (1817)9' analysiert und dekonstruiert vor allem das performative Vermögen des Schreibers, Karl Ferdinand Gutzkows Vorwort zu >Die Ritter vom Geiste< (1850/51) mißt die literarische Gegenwarts- und Ganzheitsdarstellung an parlamentarischen Protokollen, Wilhelm Raabes »Akten des Vogelsang< (1895)92 konturieren die konstative und memorative Kraft der Literatur in Konkurrenz und Analogie zu Akten und Verwaltung. Diese Texte, die als Schlüsseltexte für romantisches und realistisches Schreiben gelten, entfalten die Implikationen und Folgen mitschreibender
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D a ß ein Charakteristikum des Nationalsozialismus im Willen bestanden habe, »dem Führer entgegen zu arbeiten«, ist eine Pointe der Hitler-Biographie von Ian Kershaw, Hitler 1889-1936, Stuttgart 1998, S. 66)ßf.: D i e Formulierung e n t n i m m t der Verfasser bezeichnenderweise einer R e d e eines Bürokraten, des Staatssekretärs im preußischen Landwirtschaftsministerium, Werner Willikens.
89
H o n o r é de Balzac, Avant-propos. C o m é d i e humaine, Bd. ι, Paris 1951. Dt: Vorrede zur »Menschlichen Komödie«. In: D i e menschliche K o m ö d i e (in 4 0 Bänden), Supplement. Zürich 1998, S. 7 - 2 7 , hier: S. 13.
90
V g l . Rainer W a r n i n g , C h a o s und Kosmos. Kontingenzbewältigung in der >Comédie humaine«. In: H o n o r é de Balzac, hg. von H a n s Ulrich G u m b r e c h t , Karlheinz Stierle und Rainer Warning, M ü n c h e n 1980, S. 9—55.
91
Clemens Brentano, Geschichte v o m braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Brentano, W e r k e , Bd. 2, hg. von Friedhelm K e m p , Darmstadt 1963, S. 7 7 4 - 8 0 6 .
92
Wilhelm Raabe, Die Akten des Vogelsangs. In: Raabe, Sämtliche Werke, (Braunschweiger Ausgabe), Bd. 19, hg. von Karl H o p p e , Göttingen 1970.
2-4
Literatur unter den Bedingungen des Autonomiepostulats, zugleich verweisen sie auf eine literaturgeschichtliche Merkwürdigkeit: Das bürokratische 19. Jahrhundert hat zwar in seiner Literatur eine Vielzahl von bürokratischen Szenen, von Juristenund Beamtenfiguren entworfen, aber keine intertextuell verbundene Gruppe von literarischen Bürokratiefiktionen entstehen lassen. Auf solche Textkorpora, die sich im 17. und 18. wie im 20 Jahrhundert finden, wird sich die Untersuchung jedoch schließlich konzentrieren. Die schamhafte 93 Identifizierung von »Schriftsteller« und »Schreiber« bei Brentano stellt die intervenierende und stellvertretende Kraft der Literatur wie der Schrift überhaupt auf den Prüfstand. Gegenüber der alten Bäuerin als Vertreterin des traditional verfaßten >Volkes< weiß der Schrifsteller sich jedenfalls nicht auszuweisen. Er ist als Erzähler-Ich in mehrfacher Hinsicht Vertreter einer ökonomischtechnischen Modernisierung, die ihn von religiösen wie menschlichen Bindungen und Ursprüngen entfernt hat: Er handelt mit »freien und geistigen Gütern, mit unmittelbaren Geschenken des Himmels«, er ist aus dem »Schulgarten nach dem Parnaß entlaufen«, er »hat das Gleichgewicht verloren« und muß sich »einigermaßen schämen« wie »alle Menschen, welche ihr Brot nicht im Schweiße ihres Angesichts verdienen« 94 und sich damit dem Verhängnis des Sündenfalls und der jenseitigen Gnade zu entziehen suchen. Diese Selbstzweifel eines Vertreters autonomer Literatur führen zur Identifikation mit der Schreiberrolle, die immerhin im Dienste der Menschen zu stehen scheint. Doch der Konflikt zwischen »Ehre« und »Recht«, die Konkurrenz zu den abergläubischen Vorzeichen, in die der »Schreiber« von der Alten eingebunden wird, zeigt die mortifikatorische Disposition jeglicher Schrift. Ihre Handhabung erweist sich als Totenkunst, während sie vor den Lebenden und im Dienst des diesseitigen Lebens versagt. Die mögliche Begnadigung wird versäumt, das Zugeständnis des ehrlichen Begräbnisses wird allein durch körperliche Anwesenheit erlangt, als Trost an die zum Tode Verurteilte kommt es zu spät. Das Fiasko des Schreiber-Schriftstellers manifestiert sich im Sturz des Dichterrosses: »Der Mensch hat sein Möglichstes getan, der Sturz des Pferdes ist an allem schuld«. 95 Bereits der Auftrag der alten Frau an den vermeintlichen Schreiber, eine Bittschrift zu verfassen, um das ehrliche Begräbnis eines Selbstmörders und einer Kindsmörderin zu erlangen, ist verfehlt: Da der Erzählerfigur die formularischen Fähigkeiten des echten Schreibers abgehen, muß man ihm Instruktionen geben. Allein die mündli-
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95
Brentano, V o m braven Kasperl und dem schönen Annerl, S. jSif. Brentano, V o m braven Kasperl und dem schönen Annerl, S. 782. - Vgl. zum Zusammenhang von Autorschaft, Geschlecht und Ehre: Gerhard Neumann, Der Schreiber und die alte Frau. Weibliche und männliche Autorschaft in Brentanos >Geschichte v o m braven Kasperl und dem schönen Annerl«. In: Autorschaft. Genus und Genie um 1800, hg. von Ina Schabert, Barbara Schaff, Berlin 1994, S. 233-263. Brentano, V o m braven Kasperl und dem schönen Anneri, S. 804.
che Erzählung und das Lied der Alten können von einem »Schreiber«, der sich nur durch seinen »schönen menschlichen Eifer« 96 bewährt, tradiert werden. Die Lösung der Literatur aus funktionalen Zusammenhängen vermag also nicht ihr Begehren zu stillen, als performative Mitschrift lebendiger Bedürfnisse zu taugen. Der T e x t zeigt in der Figur des Schreibers das Scheitern einer Literatur zwischen Autonomie und Mitschrift und determiniert genau hier seinen eigenen Ort. Karl Ferdinand Gutzkow, Protagonist des J u n g e n Deutschland« und allgegenwärtiger Publizist stellt die Frage nach der mitschreibenden Gegenwärtigkeit des Romans, also eines stets schriftlich vorliegenden Textes, im Memorialkontext der gescheiterten Revolution von 1848/49. M i t »Dresden, am Pfingsttage 1850« 97 lokalisiert und datiert er das wegen der Einfuhrung des Begriffs »Roman des Nebeneinanders« berühmt gewordene Vorwort zu seinem 1850/51 erschienenen neunbändigen Roman >Die Ritter vom Geiste«, in dem sich Zeit- und Geheimbundroman 9 8 verbinden. D a m i t ist die Revolution nicht nur Handlungselement, sondern schon im paratextuellen Rahmen als Memorialtopos präsent: D a t u m und Ortsangabe erinnern an die Maiereignisse in der sächsischen Hauptstadt, die fast exakt ein Jahr zuvor 99 mit der Niederschlagung des Aufstandes und Flucht oder Verhaftung der Revolutionäre geendet hatten. Während G u t z k o w in früheren Texten eine Physiognomie der Gegenwart zwischen diskontinuierlicher, auf Brüchen beruhender M o d e und vergangenheitsintegrierender Augenblickserfahrung 1 0 0 entwickelt hatte, erhebt er jetzt, nach der aus nächster N ä h e erfahrenen gescheiterten Revolution, unter Rekurs auf französische Vorbilder den Anspruch auf eine literarische Totalitätsrepräsentation, die sich im haltlosen Changieren zwischen einer himmelfahrtlichen Entrückung und Apotheose des Erzählers einerseits und seiner pfingstlich präsentischen Kontiguität andererseits vollzieht.
Brentano, Vom braven Kasperl und dem schönen Annerl, S. 805. Karl Ferdinand Gutzkow, Die Ritter vom Geiste. Roman in neun Büchern, hg. von Thomas Neumann, Frankfurt a.M. 1998, S. 12. 98 Vgl. jetzt, mit besonderem Schwerpunkt auf der Frühphase des Zeitromans Dirk Götsche, Zeit im Roman. Literarische Zeitreflektion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert, München 1001. Zu Gutzkows >Die Ritter vom Geiste« S. 579ÍF. Dort auch ein umfassender Forschungsüberblick. 99 Vgl. den Hinweis auf den Himmelfahrtstag 1849, an dem wieder in allen Kirchen Gottesdienst gehalten wurde bei David August Taggesell, Jahr 1849. In: Dresden vom Biedermeier bis zur Revolution 1848/49, hg. von Günter Jäckel, Hanau 1989. (Originaltitel: Dresden zwischen Wiener Kongreß und Maiaufstand, Berlin (DDR) 1989), S. 301-302. •00 Vgl. Martina Lauster, Moden und Modi des Modernen. Der frühe Gutzkow als Essayist. In: Nachmärz. Der Ursprung der ästhetischen Moderne in einer nachrevolutionären Konstellation, hg. von Thomas Koebner, Sigrid Weigel, Opladen 1996, S. 59—95. — Vgl auch Ingrid Oesterle, Paris, die Mode und das Moderne. In: Nachmärz, hg. von Koebner, Weigel, S. 156—174. 97
Die ironische Argumentation des Paratextes entfaltet sich zwischen Pfingstsymbolik und den T o p o i der literarischen Pragmatik: D i e ungewöhnliche Länge des Romanes begründet das Vorwort damit, daß auch die »zurückgezogenen einflußlosen Schriftsteller« gewohnt seien, »den Samen reeller Thatsachen von den Blüten der Erscheinung abzustreifen und in [ihrer] Art auch Etwas für die Geschichte zu thun«, so daß die »Gründlichkeit« nicht nur »der Paulskirche und den Protokollen unserer Ständekammern, Interims- und Verwaltungsräthe« 1 0 1 zuzuschreiben sei. In der Konfrontation des im gärtnerischen Topos gefaßten literarischen T u n s und der juridisch-bürokratischen Mitschrift taucht der altbekannte Gegensatz von Worten und Taten wieder auf, an dem sich bereits die Diskurse des Jungen Deutschland und der Vormärzzeit abgearbeitet haben. Doch die T a t des Schriftstellers ist hier nicht der Eingriff in den Geschichtsverlauf, sondern die poetische Gewährleistung einer historischen Kontinuität, die die Momente des Bruchs kopräsentisch protokolliert und zugleich in den Geschichtsverlauf reintegriert. Als Memorialtechnik tritt sie neben die rechtlich-bürokratischen Aufschreibsysteme und in Konkurrenz zu ihnen. Programmatisch und in Abkehr vom linear-kausalen Prinzip des Bildungsromans löst sich die Ereigniskette in der literarischen Mitschrift auf in signifikative Konstellationen, doch de facto wird auch im »Roman des Nebeneinanders< Kontiguität in Kontinuität, Differenz in Einheit verwandelt, so daß das Prinzip der literarischen Montage, das man bereits bei G u t z k o w vermuten wollte, wohl nur gelegentlich verwirklicht wird. W ä h r e n d sich der Paratext den göttlichen »Adlerblick« u n d damit eine zentrale, zur generellen Kritik geeignete Stelle außerhalb des erzählten Geschehens vorbehält, scheint in der programmatisch formulierten Aufgabe, die nachmärzliche Wirklichkeit konstellativ, ohne Zentrumsannahmen zu präsentieren, eine desillusionierte Moderne auf, die providenzanaloge Zukunftsprognosen in die narrative Selbstreflexion verlagert. 102 In Raabes Roman >Die Akten des Vogelsang< entwirft sich die Erzählerfigur »Oberregierungsrat D r . jur. K . Krumhardt« als - subalterner — Bürokrat, als Protokollant, als Verfertiger, Kollationierer (A 310) 1 0 3 u n d K o m p i l a t o r jener A k t e n des Vogelsangs, die schließlich in Variation der aktenförmigen Wilhelm Meisterschen Lehrjahre 1 0 4 den R o m a n selbst ausmachen. Sie beschreiben die Liquidation eines
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Gutzkow, Die Ritter vom Geiste, S. 6. Götsche, Zeit im Roman, S. 583: In der Erstfassung habe der >Adlerblick< keinen Ort, hier gebe es vor allem ein disparates Nebeneinander. In späteren Fassungen allerdings werde dieser poetologische Neuansatz zurückgenommen. Im folgenden werden Zitate aus >Die Akten des Vogelsang< durch die Sigle A und nachgestellte Seitenzahl aus der Braunschweiger Ausgabe belegt. Vgl. dazu Clemens Pornschlegel, Der literarische Souverän. Studien zur politischen Funktion der deutschen Dichtung, Freiburg 1994, S. I59ff. 2-7
Idylls durch Industrialisierung, Urbanisierung und Bürokratisierung; aus der immer wieder emphatisch beschworenen »Nachbarschaft«, die durch unmittelbaren Kontakt und durch die Anteilnahme der Familien aneinander gekennzeichnet ist, wird allmählich eine >verwaltete Welt«, die anonyme Großstadt der Gegenwart, die durch vielfältige Zitate und Anspielungen mit dem Verwaltungswissen des ausgehenden 19. Jahrhunderts verbunden wird. Im Roman selbst verschränkt sich der >poetische< Erinnnerungsraum, der den Kindern des Erzählers tradiert werden soll, mit einem Verwaltungsraum, der bürokratisch klassifiziert und »in den Akten« festgehalten (A 366) werden soll, weil es zu einem metaphorischen »Prozeß« zwischen diesen zwei Welten kommt. Die Erzählerfigur gewinnt auf diese Weise die doppeldeutige Rolle des nostalgischen Beschreibers und Vollstreckers einer skeptisch beurteilten Modernisierung. In der Figurenkonstellation bildet sich die Opposition zwischen Phantastik und prosaischer, d.h. in der Asthetiktradition des 19. Jahrhunderts bürokratischer Nüchternheit (A 330)105 paradigmatisch aus: Velten Andres und Helene Trotzendorff verkörpern die durch ihre undisziplinierten Ausbrüche zu Außenseitern werdenden >verrückten< Phantasten, der Erzähler figuriert als domestizierter Philistertypus,106 der die phantastischen Ausbrüche seiner Kindheitsfreunde als skeptischer, versteckt wehmütiger Beobachter begleitet. Die narrative Konstruktion des Romans, vor allem die zu Beginn des Textes präsentierte Nachricht über den Tod des Freundes, betont zwar die unwiderrufliche Distanz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, 107 aber die Vision einer kopräsenten Mitschrift prägt zugleich vor allem die Beschreibungen der Kindheitsszenen. In den nicht aktenmäßigen »Akten« findet die Auferstehung jener verschwundenen Welt des Vogelsang statt, die nicht zufällig am Fuß des »Osterbergs« angesiedelt ist. ">' So beschreibt etwa Friedrich Theodor Vischer in der Aesthetik« von 1857 im Anschluß an Hegel die Simultaneität von theoretischer Festlegung des Romans auf die »wunderlose Welt« und einer zunehmenden »prosaische(n) Einrichtung der Dinge«; diese manifestiert sich als »die Lösung der Staatsthätigkeiten von der unmittelbaren Individualität, die Amtsnormen, denen der Einzelne nur pflichtmäßig dient, die Theilung der Arbeit zugleich mit ihrer ungemeinen Vervielfältigung, wodurch der U m f a n g physischer Uebungen aus der lebendigen Vereinigung mit sittlichen Tugenden, die im Heroen lebt, sich scheidet [...]«. Für Vischer ist der Bereich der Prosa, der sich als Bereich der bürokratischen, sachlichen Lebensordnung rekonstruieren läßt, der Zuständigkeit der Literatur enthoben; die noch existierenden Möglichkeiten, das »Wunder« bzw. den Zufall wieder in die Romanhandlung einzuführen, werden von der »Vertrocknung des öffentlichen Lebens« zerstört, so daß die Bürokratie hier als das definitiv Unpoetische erscheint. Vgl. Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Z u m Gebrauche fur Vorlesungen, Stuttgart 1857, S. 395. (Zit. nach: M a x Bucher, Werner Hahl u.a., Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880, Stuttgart 1981, S. 216). 106 Y g | Wolfgang Frühwald, Philisterliebe? Z u m Alterswerk Wilhelm Raabes. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2000, S. 1 - 1 5 . 107 Vgl. Wolfgang Preisendanz, Die Erzählstruktur als Bedeutungskomplex der »Akten des Vogelsang«. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1981, S. 210—224. 28
In zwei Leitmotiven, die im Schreiben Franz Kafkas an zentralen Stellen wieder auftauchen werden, manifestiert sich im R o m a n die Fluchtlinie, mit der die bürgerliche Gesellschaft und ihre Institutionen in Frage gestellt werden: Ausbruch und Entkommen nach Amerika und die Verwandlung in einen Affen 1 0 8 markieren jene Existenz eines unwiderruflich >VerschollenenFallesklassische< Formulierung bei Roman Jakobson, Linguistik und Poetik. (EA i960). In: Poetik, hg. von Holenstein, Scheiben, S. 83—121. Im Anschluß an Jakobson ließe sich dies als Rekurs auf romantische Verfahren im Rahmen des realistischen Schreiben deuten. 29
was kein Geringes ist. Zugleich aber vermag sie es, an bürokratischen Institutionen die Strukturen der Stellvertretung, der Bevollmächtigung und der Beauftragung, der Leitung und der Abhängigkeit besonders hervorzuheben. Damit ist der zweite Gesichtspunkt erreicht, der den Gang dieser literaturhistorischen Untersuchung leiten soll - die Stellvertretung. Dabei ist jedoch stets von Phasenverschiebungen zwischen der Entwicklung der Bürokratie und der Literaturgeschichte auszugehen. Beschränkt man sich nicht nur auf die Betrachtung singulärer, kanonischer Texte und bezieht serielle literarische Artefakte mit ein, dann ist zu beobachten, daß quantitativ bemerkenswerte literarische Mitschriften der Bürokratie nicht kontinuierlich auftreten, sondern in diskreten Gruppen von Texten, die nun in historischen Fallstudien zu analysieren sind. Diese Texte sind in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlicher Strenge durch Kontiguität in nicht-literarische Kontexte eingebettet, deren Bedeutung nicht unwiderleglich, wohl aber plausibel ist. Der je geltend gemachte Kontextbezug läßt auf der >textimmanenten< Ebene ein produktives Schwanken zwischen metaphorischer und metonymischer Lektüre zu, das dem einzelnen Text trotz der mit der Eingliederung in Kontexte und Reihen einhergehenden Relativierung Gerechtigkeit widerfahren lassen kann.
1.5.2
Beobachtungsprogramme: Stellvertretung - Josephsgeschichten
Die Kritik am Begriff der Kultur und am Konzept der Kulturwissenschaft 110 richtet sich vor allem auf den allzu großen BegrifFsumfang, der alles zu Kultur erklärt, und auf die damit zusammenhängenden Unbestimmtheiten und die Vielzahl der Methoden, Kulturen zu beschreiben. Eine Vorliebe für Kuriositäten, Anekdoten und hybride Strukturen scheint in einer dilettantischen Opulenz zu kulminieren, deren detailbesessene Überkomplexität nur durch ein theoretisches Diätprogramm reduzierbar scheint. Damit aber wiederholt sich zugleich ein bekannter, auf vielen Wissensfeldern virulenter Konflikt zwischen historistischer und mikroskopischer Detailbesessenheit auf der einen Seite und >strukturalistischen< Einsätzen auf der anderen Seite, der seinerseits auf einer Metaebene ebenfalls einer doppelten, einer mikrologischen oder einer reduktionistischen Beschreibung ausgesetzt ist. 111
1,0
Niklas Luhmann, Kultur als historischer Begriff. In: Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1995, S. 31—54. - Friedrich Kittler, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2000, S. n f .
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Die Resonanzen des jeweils polemisch eingesetzten Kontrastes von Mikrologie und Reduktion betont etwa Walter Erhart, Nach der Aufklärungsforschung? In: Aufklärungsforschung in Deutschland, hg. von Holger Dainat, Wilhelm Voßkamp, Heidelberg 1999, (Beiheft zum Euphorion 32) S. 99—128, hier: S. 126.
Dieser Aporie entspricht unsere Untersuchung, indem sie historisch von der frühen Neuzeit, wo der alttestamentarische Joseph als Paradigma für die Berater- und dann die Ministerrolle im Zusammenhang mit der fürstlichen Territorialherrschaft: in großem Umfang literarisch bearbeitet wird, ausgreift bis fast in die unmittelbare Gegenwart, sich aber zugleich Momente des lokalen close reading vorbehält: Die einzelnen Texte sollen durch das Vergleichsparadigma eine neue Lesbarkeit erhalten, die teils komplementär, teils konträr zu den je verschiedenen Forschungstraditionen stehen wird, die Autoren, Gattungen, Epochen und Werken gewidmet sind. Um aus einer stets unvollständigen Liste der literarischen Bürokratie-Mitschriften, die zweifellos kanonische Texte und Phasen erhöhter Streuungsdichten aufweist, zu einer Beschreibungskategorie zu gelangen, die die kulturhistorische Vielfalt gliedert, ist die Programmierung der Aufmerksamkeit erforderlich. Dies leistet hier als zentrale, narrative Einheit die alttestamentarische Josephsgeschichte und, daraus erwachsend, die Stellvertretung als basale, zeichenhafte Struktur. Mit dem Risiko, das jeder Systematik innewohnt, ließe sich vorläufig folgende BegrifFsklärung der Stellvertretung bzw. des Stellvertreters formulieren: Ein Stellvertreter agiert und spricht in der abendländischen Rechtskultur in ökonomischen wie in politisch- juristischen Bürokratien und Verhandlungen fïir einen anderen, ohne zu dessen passivem Werkzeug zu werden. Der Stellvertreter kann nämlich eigene Willenserklärungen mit Wirkung fiir andere abgeben und unterscheidet sich deswegen vom >Boten< (nuntius), der seine eigenen Absichten nicht mit Effekt ins Spiel bringen kann. Die Handlungen des Stellvertreters dagegen haben einen Effekt auf die Stellvertretenen, wenn geklärt ist, ob der Stellvertreter im eigenen oder fremden Namen handelt und spricht.112 Im theologischen Diskurs spielt die Stellvertreterfigur vor allem in vertikaler Dimension eine zentrale Rolle:" 3 Ob und in welcher Form ein Mensch an die
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Die fehlende systematische Behandlung des Phänomens aus soziologischer Perspektive bemängelt Johannes Weiß, Handeln und handeln lassen. Uber Stellvertretung, Opladen, Wiesbaden 1998. - Z u r privatrechtlichen Vertretung Axel Claus, Gewillkürte Stellvertretung im Römischen Privatrecht, Berlin 1973, S. 2. — Vgl. auch Huberta Bauer, Die Entwicklung des Rechtsinstituts der freien gewillkürten Stellvertretung seit dem A b schluß der Rezeption in Deutschland bis zur Kodifikation des B G B , Diss. phil. Erlangen 1963. - Als Kafka zugängliche, zeitgenössische juristische Monographie, die das T h e m a auf dem Gebiet des Prozeßrechts behandelt, ist zu nennen: Leo Rosenberg, Stellvertretung im Prozess. Auf der Grundlage und unter eingehender, vergleichender Darstellung der Stellvertretungslehre des bürgerlichen Rechts nebst einer Geschichte der prozessualischen Stellvertretung, Berlin 1908.
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Vielleicht bezeichnend die Dominanz der katholischen Theologie in dieser Frage: Z u r Komplexität des Stellvertreterkonzepts unter Hervorhebung einer >eigentlichen< konstitutiven Stellvertretung in Abgrenzung von juristischer, soziologischer und semiotischer Stellvertretung Karl-Heinz Menke, Stellvertretung. Schlüsselbegriff christlichen Lebens und theologische Grundkategorie, Freiburg 1991. — Vgl. auch Bernd Janowski, Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff, Stuttgart 1997,
31
Stelle Gottes treten kann, die Bedeutung seiner Propheten und des in Christus fleischgewordenen
göttlichen Wortes, und daß Christus stellvertretend die Sünden
jedes einzelnen auf sich genommen und gebüßt habe — all das sind zentrale, stets umstrittene und weitreichende Denkfiguren des Christentums, die der Moderne immer unvertrauter werden, gerade wenn sie, wie in Heideggers >Sein und Zeiteigenen Willens< und durch die persönliche Präsenz unterscheiden. Nur mit solchen - personalen — Zeichen, die mehr sind als Zeichenträger, können Interaktion und Kommunikation" 9 stattfinden. Alles andere wäre bloße Manipulation von Objekten. Die Materialität dieser Zeichen besteht in Körperlichkeit und in der Unterstellung wechselseitiger Undurchschaubarkeit und Unmanipulierbarkeit. Stellvertretung und Repräsentation unterscheiden sich durch ihre Referenz: Die Repräsentation ließe sich als Synekdoche, als pars pro toto-Beziehung deuten, während die vertikale personale Stellvertretung der Metapher im engeren Sinne entspräche. Die horizontale Auswechslung der einen Person durch die nächste, die jene bloß ersetzt, verweist auf eine gemeinsame >Stelle< und auf die Macht, die über diese und über >Ersatz-Spieler< entscheidet. Zusammen bilden diese Stellvertreter eine Serie von Doppelgängern ohne herausragende Einzelne, die die rhetorische Figur der Metonymie personifizieren und die Arbitrarität der Zeichen in bürokratischen Szenen sinnfällig machen können. Bei der Sichtung des Materials, das wegen der Unentscheidbarkeit zwischen metaphorischer und wörtlicher Bürokratiebeschreibung potentiell unendlich ist, wurde nach und nach, im Wechselspiel zwischen Suchen und Finden, zwischen serendipity und Neujustierung der Aufmerksamkeit, die Josephsgeschichte als Vergleichsspender fiir Strukturen der Stellvertretung, der Vermittlung und einer restringierten Zeichenhaftigkeit kenntlich. (Der vorliegende Text trägt also noch die Spuren einer Mitschrift meiner Bemühungen.) Damit ist das Prinzip der Komplexitätsreduktion und das Gliederungsprinzip vorgegeben.120 In den literarischen Bearbeitungen der Josephsgeschichten entfaltet sich Stellvertretung zwischen Berater- und Fürstendienerkonzeption, Kafkas Bürokratie-Mitschriften fächern Stellvertretung begrifflich in Prokuristen, Advokaten, persönlichen und repräsentativen, geheimen und öffentlichen Vertretern aus, die Literatur in der Weimarer Republik sorgt sich um die austauschbaren, subalternen Angestellten,
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119
120
Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, Stuttgart, Weimar 2000 (2., vollst, neu bearbeitete und erweiterte Auflage), S. 162-169. Niklas Luhmann, Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, in: Luhmann, Soziologische Aufklärung 3, Opladen 1981, S. 25-34. Ungekärt und damit eine Lücke schaffend bleibt jedoch die Frage nach dem literarischen Zusammenhang von Habsburgermythos und Beamtentum: Vgl. Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur, Wien 2000 (ital. EA 1963, dt. EA 1966). — Vgl. dazu Adam Wandruszka, Ein vorbildlicher Rechtsstaat? In: Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. II: Verwaltung und Rechtswesen, hg. von Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch, Wien 1975, S. IX-XVIII.
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in der Literatur der D D R erscheinen Bürokratie und Stellvertretung in der Figur des >Planers und Leiters< als Kommissar und Bevollmächtigter der Arbeiterklasse und in der bundesrepublikanischen Literatur erscheinen erneut die abhängigen, stets ersetzbaren Angestellten als Manifestationen von Vertretungsstrukturen und als Double des Intellektuellen. Gegen die Substanzialisierung des Mythos-Begriffs 121 läßt sich die biblische Josephsgeschichte als ebenso >witziger< wie >scharfsinniger< Leitfaden des Vergleichs nutzen, ohne den Anspruch auf vollständige Erfassung aller Mythosmanifestationen zu erheben.122 Unter Rekurs auf diese Prinzipien des 17. und 18. Jahrhunderts, die damit den Vergleich, das Erkennen von Ähnlichkeiten und Unterschieden, als generelles Verfahren kulturwissenschaftlicher Performanz kenntlich machen und institutionalisieren,123 fungiert diese Geschichte als Modul fur je unterschiedliche Adaptionen und deren Aufmerksamkeits- und Interessenschwerpunkte: Joseph, Sohn Jakobs und von seinen Brüdern verraten, gelingt es, Selbstbeherrschung zu demonstrieren und die Träume des Pharao befriedigend zu deuten; er wird durch diese »gouvernemen talen«124 und semiotischen Fähigkeiten zunächst Berater und schließlich Stellvertreter der Herrschers, um in dessen Auftrag die Zukunft des ägyptischen Staates verwaltend zu besorgen. Ohne seine nomadische Herkunft und die Loyalität gegenüber seinem Gott aufzugeben, gelingt es ihm, Stabs- und Sellvertreterfunktion zu vereinen: Aus der hermeneutisch verfaßten Beratung des Herrschers erwächst die Einbindung in eine hierarchische Organisation, zugleich eine exekutive, kontrollierende und verwaltende Macht, die zwischen göttlicher Providenz, utopischem Sprung und statistisch-extrapolierende Prognosen, die Mögliches und Wahrscheinliches zu vermitteln sucht, eine Sorge um die Zukunft geltend macht, die mit Foucaults normalisierender »Bio-Macht«I2S zu vergleichen wäre. Hier zeigt sich nun das Spannungsfeld zwischen einer Taxonomie der Zuständigkeiten und
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Heinz Schlaffer, Das Nachleben des mythischen Sinns in der ästhetischen Form. In: Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, hg. von Matias Martinez, Paderborn 1996, S. 27-36.
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Vgl. dagegen das strukturalistische Postulat von Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, Frankfurt a.M. 1967, S. 226ff. Die Begriffe werden durch die Leibniz-Wolffsche Schulphilosophie einflußreich: Während >Scharfsinn< auf die Beobachtung von Unterschieden zielt, verweist >Witz< auf die Erkenntnis von Ähnlichkeiten. N u r zusammen können sie eine >klare< und >deutliche< Erkenntnis gewährleisten. Vgl. die besonders prägnante Formulierung bei Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe 1: Sudelbücher, hg. von Wolfgang Promies, München 1968, D 469: »Wenn Scharfsinn ein Vergrößrungs-Glas ist, so ist der Witz ein Verkleinerungs-Glas. Glaubt ihr denn daß sich bloß Entdeckungen mit Vergrößerungs-Gläsern machen ließen?« - Vgl. Dirk Baecker, Wozu Kultur? Berlin 2000. - Ders., A u f dem Rücken des Wals. Das Spiel mit der Kultur — die Kultur als Spiel. In: Lettre International, 1995, S. 24-28.
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34
Foucault, Die Sorge um sich, S. i2off. Foucault, Der Wille zum Wissen, Kap. V .
einem temporalisierten Wandel, welches die literarischen Bürokratiemitschriften je unterschiedlich entfalten werden Weiterhin ist die Bevollmächtigung, die Einsetzung eines Stellvertreters, eine basale Figur der Machtverteilung, die die Souveränität des Herrschers nicht mindern, sondern ausdehnen soll. Daß aber der Bevollmächtigte eigene Macht entwickelt, ist ein Gemeinplatz. Vor allem für die >von unten< nach Annäherung an das Zentrum Strebenden ist der bevollmächtigte Vertreter eine faszinierende Sperre, weil er immer auch Zugänge gewährleisten kann. Mentale Reserven, konkurrierende Loyalitäten und Ausbruchsversuche des Stellvertreters sind aus dieser Perspektive Sachverhalte, die Zugangschancen erhöhen. Aus der Binnenperspektive der Stellvertretung selbst sind es allerdings destruktive Momente, die ihre Ordnung in Frage stellen. Schließlich lassen sich die Fluchtlinien aktiver und passiver Stellvertretung auf vertikaler und horizontaler Ebene beschreiben: Mentale Reserven, Ausbrüche aus der Repräsentanz, das Insistieren auf Nichtvertretbarkeit und Nichtersetzbarkeit sind die Paradigmen für die Renitenz gegen eine stets irreduzibel zeichenhafte Beziehung zwischen institutioneller Struktur und Individuum. In modernen Bürokratien mit ihrer losen Kopplung zwischen Personen und Stellen erweist sich ebenso die Arbitrarität der Zeichen wie schließlich auch die Manipulierbarkeit bzw. die Unfaßbarkeit eines Letztsignifikats. Damit wird ein erst kürzlich vitalisiertes rhetorisches Konzept virulent, das der Prosopopeia:116 Im Stellvertreter, sei er nun Repräsentant, Bevollmächtigter, Kommissar oder Ersatzmann, personifizieren sich Zeichen in ihrer pragmatischen Er- und Bemächtigung. Besser als mit einer vom Theatrum-mundi-Modell inspirierten Redeweise über kulturelle Inszenierungen von Zeichen und in dramatologischen Auffassungen von Kultur 127 kann mit dem komplexen Stellvertretungskonzept die organisatorisch-strukturell verfaßte Mächtigkeit, die Machtabhängigkeit und die verliehene oder angemaßte Interventionskraft der kulturellen Zeichen beschrieben werden. In den zeichenhaften und zeichenmanipulierenden Beamten und Angestellten findet schließlich nicht nur der literarische Autor, sondern die Literatur überhaupt einen sehenswerten und zugleich erschreckenden Doppelgänger. Dies ist nicht nur aufgrund von Analogien und daraus erwachsender Metaphorik zu erweisen,
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Im Anschluß an Paul de M a n , Autobiography as De-facement. In: Modern Language Notes 94, 1979, S. 919—930, vgl. jetzt Bettine Menke, Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, H o f f m a n n , Kleist und Kafka, München 2000.
117
Vgl. W o l f g a n g Lipp, Kultur, dramatologisch. In: Lipp, D r a m a Kultur, Berlin 1994, S. 207—235; hier werden die daraus erwachsenden Plurivalenzen, Transfunktionalitäten und Rekurrenzen in der Kultur besonders betont. — Vgl. die impliziten Hinweise auf die Inszenierung« von kulturellen Zeichen bei Geertz, Dichte Beschreibung, S. i o f f . , und Posner, Kultur als Zeichensystem, S. 5iff. - Vgl. Ralf Konersmann, Welttheater als Daseinsmetapher. In: Konersmann, Der Schleier des Timanthes. Perspektiven der historischen Semantik, Frankfurt a.M. 1994. S. 84—168.
35
sondern zeigt sich insbesondere durch die Beobachtung sozial- und kulturhistorischer Kontiguitäten. So kann schließlich auch der historische Wechsel zwischen subalternen und leitend-beratenden Rollen- und Funktionsbeschreibungen für die Literatur gekennzeichnet werden.
36
2.
Der alttestamentarische Joseph in der Literatur: Berater, Stellvertreter und Organisator der Lebensvorsorge
2.1
Redlicher Mann am Hof — Fürstendiener — Staatsbeamter: Lokale Hierarchien und globale Heterarchie
Für diese Untersuchung stellt sich, sofern sie die eigenen kulturwissenschaftlichen Prämissen ernst nimmt, die Frage: W o anfangen? Welche Masche des kulturellen Textes ergreifen? Weder okkasionell noch notwendig, sondern abhängig von dem Ausmaß an aktualisierbaren Anschlußmöglichkeiten ist es ein Beginn, der >BeginnlosigkeitDes Vortrefflich Keuschen Josephs in Egypten Lebensbeschreibung« (1671) und >Assenat< (1670), aus nachzugehen. Die Reihe soll mit Goethes verschollenen Jugendwerk über diesen Stoff fortgesetzt werden. Schließlich beendet die bekannteste moderne Version des Stoffes, Thomas Manns Tetralogie >Joseph und seine Brüder« (1933-1943), die literarische Serie, an der Selektion, Neukombination und amplificatio als intertextuelle Wiederholungs- und Differenzierungsbewegungen beobachtet werden können. Sie lassen erkennen, welche Folgen die Etablierung von Bürokratie und die Autonomisierung der modernen Literatur zeitigen. Dieser Stoff, dessen >ursprüngliche< Novellenstruktur und Literarizität von den Alttestamentlem beschworen,9 hier aber nicht vorausgesetzt zu werden braucht, liefert im Zuge seiner Rezeption und Weiterverarbeitung10 ein Paradigma fur '
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Carl Schmitt, Gespräche über die Macht und den Zugang zum Machthaber. Gespräch über den Neuen Raum, Berlin 1994 (EA: Gespräche über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Pfullingen 1954.) - Der alteuropäische Begriff des Günstlings bzw. des Favoriten verweist auf Chancen und Risiken dieses privilegierten Zugangs zum Herrscher. Vgl. The World of the Favourite, hg. von J . H . Elliott und L.W.B. Brockliss, Yale University Press 1999. Darauf, daß Differenz zumeist als Rivalität wahrgenommen wurde verweist Niklas Luhmann, Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik. In: Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3. Frankfurt a.M. 1989, S. 65-148, hier: S. 74fr. Weber, Die drei Typen der legitimen Herrschaft, S. 476. Genesis, 37-50. Zur Novellenstruktur der biblischen Vorlage vgl. Herbert Donner, Die literarische Gestalt der alttestamentarischen Josephsgeschichte, Heidelberg 1976. Vgl. die mit einem irreführenden Titel versehene Studie von Hans Priebatsch, Die Josephsgeschichte in der Weltliteratur. Eine legendengeschichtliche Studie, Breslau 1937. Das Hauptinteresse gilt den außerbiblischen Josephsüberlieferungen des Nahen Ostens.
die literarische Erforschung der immanenten und transzendental-theokratischen Logik, die eine hierarchische Bürokratie mit einer mächtigen Spitze impliziert, die traditionale und charismatische Anteile zwar noch besitzt, sich aber davon distanziert.11 Sie bildet einen möglichen Rahmen fiir die allmähliche Konstituierung und die je unterschiedliche Behandlung und Einbettung unseres Themas und erlaubt die literarische Uberprüfung der doppelten Epochenschwellen-These, daß sich Bürokratien in der Moderne in einer nichthierarchisch strukturierten Gesellschaft zu bewähren haben und daß sich die Literatur von ihrer engen Kopplung an die hierarchische Repräsentation befreit.
2.2
Stoffe, Themen, Mythen und die frühneuzeitliche Diskursgeschichte von >Räten< und >Fürstendienern
StofF< und >ThemaverdanktSpitze< einer hierarchischen Herrschaftsorganisation angesiedelt sind: Josephs Fähigkeit, die Träume Pharaos zu deuten, wird als Muster jener präsumtiven hermeneutischen Leistungen des Subalternen kenntlich, in der sich Berater- und Stellvertreterposition miteinander verbinden. Zugleich bringen die Josephsgeschichten mit den sprichwörtlich gewordenen >sieben fetten und sieben mageren Jahren< auf den literarischen Prüfstein, was
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Heinrich Detering, Z u m Verhältnis von >MythosProvidenz< bei Clemens Lugowski. In: Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, hg. von Marias Martinez, Paderborn 1996, S. 63-79.
18
Lugowski, Die Form der Individualität im Roman, S. 28 Manfred Derpmann, Die Josephgeschichte. Auffassung und Darstellung im Mittelalter, Ratingen 1974, S. 255ff.
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Vgl. Ruprecht Wimmer, Jesuitentheater. Didaktik und Fest. Das Exemplum des ägyptischen Joseph auf den deutschen Bühnen der Gesellschaft Jesu, Frankfurt a . M . 1982. — Jean Lebeau, Salvator Mundi. >L'exemple< de Josephe dans le théâtre allemand au X V I e siècle, Nieuwkoop 1977.
41
Michel Foucault als eine der grundlegenden Transformationen von Macht und Herrschaft zur Moderne behauptet hat: Das Recht des Souveräns über Leben und T o d zu entscheiden, das auf »Aneignung« und »Abschöpfung« der Untertanen beruht, verwandele sich in eine Macht der antizipatorischen Sorge um das Leben: Sie arbeite an der »Anreizung, Verstärkung, Kontrolle, Überwachung, Steigerung und Organisation der unterworfenden Kräfte [...], diese Macht ist dazu bestimmt, Kräfte hervorzubringen, wachsen lassen und zu ordnen, anstatt sie zu hemmen, zu beugen oder zu vernichten. N u n verschiebt sich oder stützt sich jedenfalls das Recht über den T o d auf die Erfordernisse einer Macht, die das Leben verwaltet und bewirtschaftet.« 21 Foucaults zeitliche Lokalisierung dieser Umstellung in das 19. Jahrhundert ist jedoch in Frage zu stellen, ohne in den historistischen Fehlschluß einer unendlichen Ursprungssuche zu verfallen, denn schon der frühneuzeitliche Staat kann als vorsorgender beschrieben werden: In der Theorie des Fürstenstaats definiert sich die »Lands-Fürstliche Regierung« nämlich unter Bezug auf einen allgemeinen Nutzen, sie besteht in der »Erhaltung und Behauptung gemeines Nutzes und Wolstandes in Geist= und Weltlichen Sachen« und setzt sich ab von einer Macht, die »die meiste Gewalt hätte/ über die andern alle/ zu seinem Nutz und Vortheil/ nach seinem Willen und Belieben allein«. 22 Souveränität wird hier in eine fiirsorgende Instanz aufgelöst, die ihre Macht und Rechtfertigung aus den positiven Effekten ihrer Wirksamkeit gewinnt, damit aber auch aus der Definitionsmacht über Begriffe der Wohlfahrt und des gemeinen Nutzens. Foucaults methodische Maxime, von der hierarchischen Spitze, vom Zentrum der Macht abzusehen und stattdessen ihr Zirkulieren an den Peripherien zu untersuchen, mag für die Analyse der modernen »Bio-Macht« 23 angemessen sein, nicht jedoch für die Untersuchung des absolutistischen Fürstenstaates und seiner literarischen Mitschriften in den Josephsgeschichten, wo die rhizomatische Depotenzierung der Spitze erst langsam in das Blickfeld gerät. Mit dem Zentrum, bzw. der Spitze zu beginnen, ist deshalb nicht so sehr Reverenz gegenüber der alteuropäischen Tradition, sondern der Versuch, auf jenes Denken beobachtend hinzuweisen, das der Macht einen Ursprung zuweisen muß und das den Wechsel von einer Macht des Todes zu einer Verwaltung des Lebens thematisiert. An der je unterschiedlichen Behandlung des Joseph-Stoffes, in der Erzeugung von Differenz
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Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit 1: D e r Wille zum Wissen, Frankfurt a . M . 1997 (EA 1983, 1977), S. 163. Veit-Ludwig von Seckendorf, Teutscher Fürstenstaat, Franckfurt am Mayn 1665 ( N D 1976) (EA 1656), S. 62, 57Í. — Vgl dazu Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft). Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaft in Deutschland, Neuwied 1966, S. i 7 o f f . Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 171.
durch Wiederholung, 24 die als Selektion, Neukombination und >Amplificatio< vorgegebener Erzähleinheiten erscheint, läßt sich erkennen, ob und wie die Entstehung von Bürokratie im Sinne einer Depotenzierung der fürstlichen Souveränität und im Sinne einer nichtutopischen Zukunftssorge zum Thema gemacht und schließlich sogar als literarisch >wiederholtes< Thema zum Medium narrativer Selbstreflexion genutzt wird.
2.3
Vorgeschichten
Die alttestamentarische Geschichte von Joseph, dem Sohn Jakobs, der von seinen Brüdern verraten und verkauft wird, um in Ägypten Verwalter eines Höflings und schließlich Minister Pharaos zu werden, ist zunächst unter ganz unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen literarisch aufgegriffen worden: Josephs präfigurative Rolle als Vorläufer Jesu Christi mit der Episode um Joseph und Potiphars Frau im Zentrum sowie die Frage nach der Harmonie von menschlichem und göttlichem Willen, die die Schwerpunkte der älteren Exegese bilden, werden mit den Themen der >innerweltlichen< Rationalität und der Macht des Ministers kombiniert. Die hier zu beschreibende Reihe konstituiert sich aus den frühneuzeitlichen Prosabearbeitungen des Stoffes, aus seiner autobiographischen Einfuhrung bei Goethe und kulminiert in Thomas Manns Josephs-Tetralogie; damit wird eine latente Kanonisierungstendenz explizit gemacht, die bei Thomas Mann als Diskussion um den Status von Narrationen in den literarischen Text reintegriert ist. Die Josephsgeschichte ist in der christlichen Tradition seit der Patristik immer wieder Gegenstand einer typologischen Exegese gewesen.25 Dabei wird nicht nur der Figur Josephs die Vorläuferschaft Christi zugeschrieben, sondern alle Figuren, Gegenstände, Handlungen und Geschehnisse erhalten eine Bedeutung, die auf das Neue Testament verweist oder Theologeme der Heilsgeschichte repräsentiert und exemplifiziert. Parallel dazu findet sich eine Literarisierung der Josephsgeschichte, die die theologischen Interpretationsmuster voraussetzt.26 Die These, daß sich schon die Genesis-Exegese des Mittelalters so wie auch die Literarisierung des Stoffes mehr und mehr aus den Banden der Theologie befreit und dem individuellen Menschen zugewandt habe, 27 scheint fraglich, denn eben das Gott zugewandte und von Gott erwählte Individuum ist bereits das zentrale theologische Thema, das man der biblischen Josephsgeschichte unterstellen kann.
24
Vgl. dazu grundlegend Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1997, (2. korr. Auflage).
25
Priebatsch, Josephsgeschichte, S. IV, weist auf die anders funktionierende jüdische Rezeption hin, die die präfigurative Funktion der Josephsgestalt ablehnen muß.
26
Derpmann, Josephsgeschichte, Einl. O.S.
43
Für die Deutung der Karriere Josephs in Ägypten lassen sich in den mittelalterlichen Kommentaren und Literarisierungen mehrere Traditionen ausfindig machen. D i e Voraussetzung der höfisch-politischen Karriere Josephs ist seine Traumdeutungsfähigkeit. Sie wird zu der nur Jesus möglichen Erkenntnis des göttlichen Wortes in Beziehung gesetzt. Josephs >ernährende< Tätigkeit am Hofe Pharaos erscheint als Doppelung von Erlösung und Verkündigung, wobei die materielle Versorgung in einem übertragenen geistlichen Sinn gedeutet wird. Pharao dagegen erscheint in einer exegetischen Tradition wegen seines Heidentums als Teufel, dem gegenüber sich Josephs Glauben zu bewähren hat, in einer anderen als weltliches Abbild Gottes, das die theologische Rechtfertigung weltlicher Herrschaft bildet. 28 Im Hinblick auf Josephs Maßnahmen gegen die Kornknappheit hatte in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts Ambrosius in >De officiis ministrorum< gegenüber den materiellen Effekten die Intelligenzleistung des Individuums bei der klugen Vorsorge betont. 29 In der frühen Neuzeit gewinnt der Josephs-Stoff eine dezidiert politische Dimension; er verbindet sich mit einer grundsätzlichen Reflexion über die Rolle herrscherlicher Berater und Minister am Hof und bettet diese Konstellation in die politische Theorie und die Diskussionen der Kameralistik ein. Die theologischen Diskurse werden dabei nicht abgeschnitten, sondern laufen gewissermaßen im Hintergrund mit: Der Josephstraktat des Münchner Jesuiten Jeremias Drexel stellt zwar noch die göttliche Prädestination in den Vordergrund, die Joseph über den »Weg und die Gelegenheit/ oder die erste Ursach [...] der Brüder Mißgunst« zum obersten Beamten Pharaos bestimmt habe, 30 aber bereits die >Biblische Policey< von Theodor Reinkingk, die sich entschieden gegen die ratio status machiavellischer Prägung stellt, entwirft eine Sammlung innerweltlicher Ratschläge, die nur noch legitimatorisch und exemplarisch am biblischen Text partizipiert, die theologisch-exegetischen Details aber dahingestellt sein läßt. 31 Damit entfernt er sich von der jesuitischen Tradition, die die angestrebte Einförmigkeit von göttlichem und menschlichem Willen im Bilde des Heliotrops beschworen hatte. 32 Zunächst belegt Reinkingk die
27
Derpmann, Josephsgeschichte, S. 262.
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Derpmann, Josephsgeschichte, S. 79. Derpmann, Josephsgeschichte, S. 92.
29
Jeremias Drexel, Ioseph Aegypti prorex descriptus et morali doctrina illustratus, Antwerpen 1641. Die deutsche Version findet sich in Hieremias Drexel, Werke. Vierdter und Letzter Theil. Der 24. Tractat/ Joseph genandt. Darinnen beschrieben der Joseph/ ein ViceRe und Herr über gantz Egypten, München 1662, S. 167. 31
Z u r Reaktion auf die Ausklammerung von Moral und Theologie in den machiavellistischen ratio-status-Theorien und in den taciteischen Konzepten der Staatsarkana vgl. Michael Stolleis, Arcana Imperii und Ratio Status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts. In: Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, Frankfurt a . M . 1990, S. 3 7 - 7 2 .
32
Jeremias Drexel, Sonnenwend das ist/ von Gleichförmigkeit deß Menschlichen Willens mit dem Willen Gottes, München 1631.
44
Behauptung, daß »Regenten und Herrn [...] ohne Rathen/ Beampten und Dienern ihr Regiment nicht fuhren« können, mit einer Reihe von biblischen Parallelen und Hinweisen. 33 Was fur alle gilt, muß dann christlich respezifiziert — »Fromme Regenten sehen sich vmb nach getrewen/ gottsförchtigen und weisen Rathen und Dienern« — und am Beispiel des ägyptischen Pharaos und Josephs untermauert werden: Allein die Wahl Josephs qualifiziert Pharao zu einem >frommen< Regenten: »Nach dem Trewen im Lande hatte der König Pharao auch seine Augen gewandt/ als er den frommen Joseph zu seinem geheimbden Rath erwählet/ ihn über sein gantz HAuß gesetzet/ vnnd seiner hohen Dienst vnnd Meriten halber deß Landes Vatter/ oder Patriae Patrem, einen Vatter des Vatterlandes [...] genandt.« 34 Joseph lcann im Anschluß daran nicht nur als Beispiel für die nützliche Indienstnahme ausländischer Beamter dienen, 35 sondern er ist Paradigma des maßgeblichen Ratgebers eines »guten Oeconomus«, der in den »sieben guten Jahren/ so viel Getreyde in Vorrath samlen und auffschütten liesse/ daß in den nachfolgenden sieben bösen Jahren/ sein Hoffstatt und das gantze Königreich darvon zu leben und andern noch darzu mitzutheilen hatte.« 36 Dieses sparsame, auf Zukunftsrisiken gerichtete Verhalten ist auch das zentrale Thema in der ausführlichsten Reflexion und Applikation des biblischen Stoffes auf Probleme der Gegenwart, im Exemplarischen Joseph< von Cyriacus Martini aus dem Jahre 1677. 3 7 Er entsteht knapp nach den beiden barocken Josephs-Romanen von Grimmelshausen und von Zesen und versammelt noch einmal das zeitgenössische Interesse am Josephsstoff und das daran gekoppelte staatstheoretische Wissen: Er betont zum einen die zentrale Rolle des königlichen Ratgebers im organischen Bildfeld des Staatskörpers, wo der Ratgeber in der emblematischen Tradition 38 die Funktion des Auges übernimmt, damit es »auf alle andere Gliedmassen acht haben« soll 39 und mehr und anderes sieht als
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Theodor Reinkingk, Biblische Policey. Das ist: Gewisse/ auß Heiliger Göttlicher Schrifit zusammengebrachte/ auff die drey Haupt=Stände [...] gerichtete Axiomata, oder Schlußreden, Frankfurt a.M. 1656, S. 336.
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Reinkingk, Biblische Policey, S. 34if.
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Reinkingk, Biblische Policey, S. 342. Reinkingk, Biblische Policey, S. 328.
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Cyriacus Martini, Der Exemplarische Joseph/ Das ist: Fürstliches Tugendbild und Abriß aller Christ=löblichen Regenten/ deren gewissenhafften Beampten/ und aller Christlichen/ sowohl hohen als geringeren Standes= und Verstandes=Personen, Jena 1677.
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Martini, Joseph, S. 217fr., insbesondere S. 220. - V g l . Arthur Henkel und Albrecht Schöne, Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des X V I . und X V I I . Jahrhunderts, Stuttgart 1967, S. I040f. — Z u r Bedeutung des Auges in der Tradition des politischen Körpers< und in der Wendung von - göttlicher — Providenz zu — menschlicher — Prognostizität vgl. Gotthardt Frühsorge, Der politische Körper. Z u m Begriff des Politischen im 17. Jahrhundert und in den Romanen Christian Weises, Stuttgart 1974.
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Martini, Joseph, S. 218. - Vgl. zu dieser Rechtfertigung der Ratgeberfunktion in der zeitgenössischen staatstheoretischen Literatur Michael Stolleis, Grundzüge der Beamtenethik (1550-1650). In: Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, S. 1 9 7 - 2 3 1 .
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das Auge des Herrschers. Darüber hinaus übernimmt der Rat auch die Funktion des Augenlides, das den herrscherlichen Augapfel schützt.40 Zum anderen betont der Text im Einklang mit Ambrosius und Drexel die Ubereinstimmung von menschlicher Vorsicht (prudentia) und göttlicher Providenz, die sich hier jedoch aus einem Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnis ergibt: »Prudentia humana divinae famula, die gebührende Vorsichtigkeit der Menschen ist eine Dienerin der Göttlichen Verordnung/ um dessent Willen gehet Er mit seinen klugen Rahtschlägen dahinaus/ wie durch heilsame Mittel/ ein grosser Vorraht/ und schätz in zeiten möge beigeschaffet werden.«4' Die absolutistische Souveränität bewährt sich in ihrer »Klugheit«, die den »bösen Zufällen vernünftig zuvor« kommt.42 Dies impliziert aber Depotenzierungen des Souveräns nach oben und nach unten: Die Einbindung des absoluten Herrschers in die göttliche Providenz gehört zu seiner traditionellen Legitimation. Sie läßt die transzendentale Hierarchie zwar intakt, die Abhängigkeit eines Herrschers von seinem obersten Minister aber bedroht - so beobachtet es der frühneuzeitliche Theoretiker der Souveränität Jean Bodin - die staatliche Hierarchie und die Macht des Herrschers.43 Sobald dieser einen »weise(n) Mensch« benötigt, der »in allem diesen fursichtig« ist, der »die künfftige Noth« bedenkt »und spahret/ weil er hat/ daß er finde/ wann er nicht hat,«44 verliert der Fürst an Machtvollkommenheit. Die Spitze der Hierarchie verdoppelt sich zu einer Konkurrenz, die neue Folgerisiken und -chancen mit sich bringt: Die Korruption und die Bildung des Herrschers durch die Räte wird nun zum Thema politischer Debatten und literarischer Texte. Damit reagieren sie auf die Verselbständigung der territorialstaatlichen Bürokratien, die sich persönlicher Kontrolle zu entziehen drohen. Im Modell des alttestamentarischen Joseph lassen sich die Folgen eines Prozesses beschreiben, der den Berater im Stellvertreter bürokratisiert, ihn aber noch nicht aus dem persönlich-traditionalen Regiment entlassen will.
2.4
Barocke Romane: Grimmelshausen — Zesen
Die beiden barocken Romane, die sich des Joseph-Stoffes annehmen, sind in der älteren Forschung aufgrund ihrer Entwicklungs- und Authentizitätsideale kontrastiv
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Vgl. zu diesen verbreiteten, z.T. mit Aristoteles legitimierten Topoi der Fürstenspiegel und Handbücher ebenfalls Stolleis, Grundzüge der Beamtenethik (1550—1650), S. 197—231. Martini, Joseph, S. 223. Martini, Joseph, S. 225. Jean Bodin, Les Six Livres de la République. In: Bodin, Œuvres philosophiques, Paris 1951,1, 8-10. Vgl. dazu: Antonio Feros, Images of Evil, Images of Kings. The Contrasting Faces of the Royal Favourite and the Prime Minister in Early Modern European Political Literature, c. 1580—c. 1650. In: The World of the Favourite, hg. von Elliott und Brockliss, S. 205-222, hier: S. 209f. Martini, Joseph, S. 560
gegenübergestellt worden. Dabei spielt die Prämisse der auktorialen Souveränität eine zentrale Rolle: Philipp von Zesens >Assenat< erscheint als das Werk eines oberflächlichen, an Sinnesreizen orientierten Autors, der die frivole Charakterlosigkeit eines ungebundenen Schriftstellers aufweise und der sich ungeniert des Grimmelshausenschen Vorbildes bediene, ohne dessen Ernsthaftigkeit und Volkstümlichkeit jemals zu erreichen. Gehe es bei Grimmelshausen um Erlösung, so sei von Zesens Text nur durch virtuose Oberflächlichkeit und Genußsucht geprägt.45 Grimmelshausens Josephs-Roman, der gegenüber der Zesenschen Version positiv gewertet wird, gerät im analogen Vergleich zu seinem eigenen übrigen Werk in Mißkredit: Grimmelshausens >Keuscher Joseph< verhält sich in dieser Sichtweise so zu dessen andern Werken wie Zesens Roman zu Grimmelshausens, doch ordnet sich Grimmelshausens >Joseph< positiv in die Reihe seiner anderen Texte ein, auch wenn die »Moderomane« gegenüber den simplicianischen Texten als defizitär beurteilt werden; von Zesen, die »Hofschranze«46, dagegen bleibe, widersprüchlich genug bei der zuvor konstatierten Charakterlosigkeit, stets seiner Effekthascherei treu. Es wird aus diesen Gegenüberstellungen deutlich, wie stark idealtypische Autorschaftskonzeptionen, die der Goethezeit und dem 19. Jahrhundert entstammen, die Wahrnehmung der barocken Werke beeinflußen; es ist daher sicher angemessener, die Gelehrsamkeitsdiskurse des 17. Jahrhunderts als gemeinsamen Kontext zu verwenden, der mittels aemulatio und imitatio dem gelehrten Autor eine Stelle im Tableau einer literarischen Sozietät vermittelt.47 Zesens und Grimmelshausens Schreibprogramme können auf diesem gemeinsamen Hintergrund als divergente Optionen wahrgenommen werden, sich einen Platz in der Kommunität der gelehrten Schriftsteller zu sichern. Die Forschung ordnet den Grimmelshausenschen Josephs-Roman in die »Ideal-Romane«48 ein, die dem höfischen Typus nur teilweise entsprechen und die Tradition der Erbauungsliteratur integrieren. Gegen Machiavelli wird im Josephs-Roman die sittliche Bindung des Politikers vorgestellt und
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Vgl. Clara Stucki, Grimmelshausens und Zesens Josephsromane. Ein Vergleich zweier Barockdichter, Horgen-Zürich/Leipzig 1933. Margarete Nabholz-Oberlin, Der Josephroman in der deutschen Literatur von Grimmelshausen bis Thomas Mann, Diss. phil. Basel 1950, S. 11. Auch sonst ist diese Arbeit von einer ausschließlich negativen Beurteilung der literarischen Leistung Zesens geprägt. Franz Günter Sieveke, Philipp von Zesens »Assenat«. Doctrina und Eruditio im Dienste des »Exemplificare«. In: Philipp von Zesen 1619—1969. Beiträge zu seinem Leben und Werk, hg. von Ferdinand von Ingen, Wiesbaden 1972, S. 137—155. — Zum Gelehrtentum vgl. Gunter E. Grimm, Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung, Tübingen 1983. Jürgen Fohrmann, Dichter heißen so gerne Schöpfer. Über Genies und andere Epigonen. In: Merkur 39,1985, S. 980-989. — Stefan Rieger, Autorfunktion und Buchmarkt. In: Einfuhrung in die Literaturwissenschaft, hg. von Miltos Pechlivanos, Stefan Rieger, Wolfgang Struck, Michael Weitz, Stuttgart/Weimar 1995, S. 147-163. - Vgl. jetzt auch Text + Kritik 154, Barock, 2003. Volker Meid, Grimmelshausen. Epoche - Werk — Wirkung, München 1984, S. i84f.
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die Eigengesetzlichkeit der Politik in Zweifel gezogen.49 Deutlicher verweist von Zesen auf die Welt des Politischen und auf die Gattung des historisch-politischen Romans. Das daraus erwachsende moralische Defizit wird durch die Analyse einer Amtseinführung zwischen sachlicher Qualifikation und öffentlicher Repräsentation kompensiert. Im Mittelpunkt der hier vorgeschlagenen Lektüre steht der deklarierte Umgang mit den Quellen und ihrer je unterschiedlichen Autorität sowie die Darstellung von Josephs parabürokratischer Karriere zwischen göttlicher Providenz, Hermeneutik und prognostischer Vorsorge. Zu prüfen ist, ob Josephs Position zwischen Abhängigkeit und Ermächtigung ein Pendant im Verhältnis des gelehrten literarischen Textes zur Autorität des biblischen Prätextes und anderer besitzt. 2.4.1 Quellenautorität Für Grimmelshausens literarisches Projekt liegt die eigentliche Legitimation in den nicht-biblischen und nicht-christlichen Quellen fur das Leben Josephs. Neben der rabbinischen Exegese spielten die Josephsgeschichte der >Antiquitates Judaicae< des Flavius Josephus, die fiktiven >Testamenta duodecim patriarchum< sowie die >Historia Asenath< eine bedeutende Rolle. Sie finden bereits im Hochmittelater Eingang in die christliche Uberlieferung; die islamische Tradition dagegen, vom Koran bis zu den Dichtungen von Dschami und Firdousi, wird erst im Hochbarock intensiv rezipiert.50 Diese Quellen besitzen zwar gegenüber der Bibel ein Mehr an Wissen, doch bleibt es kompatibel mit den biblischen Texten und beläßt ihnen ihre Autorität. Da »so hohen als nidern Stands=Personen die gern in der Bibel lesen« den Wunsch geäußert hätten, »sie wolten daß Josephs Histori etwas weitläuffiger beschrieben wäre«, kann das Verhältnis zwischen den Quellensorten als eines der Ergänzung und Vervollständigung betrachtet werden: Die captatio des Grimmelshausenschen Vorwortes umfaßt so zwar den Hinweis auf konkurrierende Quellen, dieser wird jedoch umgehend unter Rekurs auf ein ständeübergreifendes Publikum relativiert und fungiert als Anstoß fur den Erzähler, die verschiedenen Quellen in einen narrativen Zusammenhang zu integrieren, der sich durch Episoden- und Schwankhaftigkeit auszeichnet. Allerdings distanziert sich das Erzähler-Ich des Vorwortes von den »Mährlein«, die »zu fabelhafftig« scheinen,51 und inszeniert sich auf diese Weise als Sammler, Prüfer und Kompilator52 unterschiedlicher Quellen,
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Meid, Grimmelshausen, S. 193. Wimmer, Jesuitentheater, S. 37. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, Des Vortrefflich Keuschen Josephs in Egypten Lebensbeschreibung samt des Musai Lebens-Lauff, hg. von Wolfgang Bender, Tübingen 1968 (EA 1671), S. 5. - Vgl. auch die entsprechende Erzählerreflexion S. 117. Vgl. auch bereits das Titelblatt, wo die »grosse und unverdroßne Mühe« beschworen
der von jeder Fiktionalität abrückt. Das Kriterium fur die verfehlte Fiktionalität, die hier »fabelhafiftig« genannt wird, bleibt jedoch unausgeführt. Erzählerische Souveränität manifestiert sich einerseits als abhängige und delegierte, weil sie von den Wünschen der Leser und den Vorgaben der Quellen gesteuert wird, andererseits als Unterscheidungskompetenz, die sich selbst nicht zu erklären b r a u c h t . " Anders als Grimmelshausen betont Philipp von Zesen in seinem R o m a n >Assenat< die »heilige Liebesgeschichte«, die er sich vorgenommen hat, im Einklang mit der Bibel und den »Schriften der Alten« zu erzählen. Tatsächliche Hauptquelle ist jedoch die >Historia Assenat< in der Form des >Speculum Historiale< des Vincenz von Beauvais und dessen Ubersetzung im >Testament vnd A b s c h r i f t / Der/ Z w ö l f Patriarchen< von 1664. 5 4 Daneben rekurriert er in den gelehrten Partien und A n merkungen vor allem auf Athanasius Kirchers >Oedipus Aegyptiacus< ( 1 6 4 2 - 5 4 ) . " Diese Quellen stehen im Hintergrund eines literarischen Projekts, das sich in großen Teilen als staatstheoretische Abhandlung präsentiert und deshalb in die Gattung des höfisch-politischen Romans einzuordnen ist. 56 D a ß die Liebesgeschichte mit Assenât nur einen geringen Stellenwert im Haupttext des Romans einnimmt, wird im Paratext des Vorwortes verschwiegen, während der erweiterte Titel deutlich darauf aufmerksam macht, daß politischer und biographischer Gehalt der biblischen Geschichte mindestens gleichberechtigt neben einer Episode stehen, die in der Bibel keine besondere Relevanz besitzt. Das Vorwort besteht weiterhin darauf, daß diese »Geschichte [...] ihrem Grundwesen nach/ nicht erdichtet« ist. Der Autor reduziert die eigene Leistung und verweist statt dessen auf die antiken Schrifen, denen er gefolgt sei, so daß er die Wahrheit direkt habe schreiben können und keine »erdichtungen/ [...] vermaskungen/ [...] Verdrehungen« nötig gehabt habe.57 Zesen rekapituliert somit implizit die romantheoretischen Debatten seiner Zeit,
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wird, mit der Text »zusammen getragen« worden sei. Grimmelshausen, Joseph, S. 3. Im folgenden werden die Zitate durch die Sigle KJ und die entsprechende Seitenzahl in nachgestellten Klammern belegt. Zur Differenz zwischen Vorlage und Text bei Grimmelshausen vgl. Sieveke, Doctrina und Eruditio, S. 145. Zusammenfassend: Ferdinand von Ingen, Philipp von Zesen, Stuttgart 1970. Ausführlich zur Quellenverwertung Volker Meid, Nachwort zur »Assenat« im Faksimile-Neudruck, Tübingen 1967. Sieveke, Assenat, S. 145. Diese Ansicht hat sich gegen die Legendenthese Herbert Singers: Joseph in Ägypten. Zur Erzählkunst des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Euphorion 48,1954, S. 249-279, zu Recht durchgesetzt, ohne daß die Figuraldeutung ihren Sinn verlöre. Vgl. Volker Meid, Zesens Romankunst, Diss. phil. Frankfurt a.M. 1966. Philipp von Zesen, Sämtliche Werke 7: Assenat, hg. von Ferdinand van Ingen, Berlin, New York 1990: Auf der Grundlage der Ausgabe: Filips von Zesen, Assenat; das ist Derselben/ und des Josefs Heilige Stahts- Lieb- und Lebens-geschicht, Amsterdam 1670, S. Ii. Im folgenden werden die Zitate durch die Sigle A und die entprechende Seitenzahl in nachgestellten Klammern belegt. 49
die die Fiktionalität unter didaktischen Gesichtspunkten zu funktionalisieren weiß.' 8 E r positioniert sich so im Gegensatz zu Grimmelshausen, der Fiktionalität generell ablehnt, als Autor, der bewußt auf ihre hier in geringem M a ß pejorativ konnotierten Möglichkeiten verzichtet und eine >nackte Wahrheit< präsentiert. Daß diese Wahrheit auf Interpolation und Kompilation gründet, wird konstatiert, aber nicht als epistemologisches Problem kenntlich gemacht. D a ß der biblische Text »entweder zu kurtz redet/ oder aber gar schweiget« (A n ) , mache den Rekurs auf andere transparente Quellen 5 9 erforderlich. D i e von Grimmelshausen immerhin erwähnte Kompatibilitätsproblematik wird bei von Zesen nicht weiter verfolgt. Alle benutzten Quellen geben unbezweifelt den Blick auf ein Geschehen frei, das der R o m a n unter dem Anspruch auf Vollständigkeit erzählen will.
2.4.2 Providenz, Prognostik und Stellvertretung in der Fürstenherrschaft D e m Vorwort an den Leser folgt bei Grimmelshausen der sogenannte »Inhalt dieses Buches«; doch er präsentiert gerade nicht die Gliederung des Textes mit dem Ziel, daß ein Z u g r i f f auf den T e x t unabhängig von seiner schriftlichen Linearität möglich wird, sondern erläutert den providentiellen Rahmen fiir die Beschreibung des Josephschen Lebenslaufes in Ägypten: »Wie es nun ihme Joseph ergangen/ bis alles dem Göttlichen Willen nach zu Faden geschlagen worden/ solches wird in diesem B u c h einfältig erzehlt.« (KJ 6) 6 ° Innerhalb dieses Bereichs entsteht ein Freiraum für die Lebensbeschreibung Josephs, die nicht vollständig von der göttlichen Vorsehung geprägt ist, bzw. die, wenn man die temporale Konstruktion des Satzgefüges betrachtet, erst mit Verzögerung eintritt und das Einzelleben bis zur Koinzidenz von Providenz und individuellem Lebenslauf erzählbar macht. Anders als in Lugowskis Konstruktion des >mythischen Analogons« ist hier das Individuum erzähltechnisch dem Providenzgefiige vorgeordnet, welches seinerseits durch die auffällige Verwendung der traditionellen textilen Metaphorik der Erzähler- bzw. Autorinstanz angenähert wird. Die Frage hingegen, wie das Verhalten der Brüder zu beurteilen ist und ob es, auch wenn R u b e n aus ihrer Reihe ausschert, »dem Willen G O t t e s und dessen Vorsehung folg gethan,« (KJ 7) wird als unliterarisch,
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Vgl. Wilhelm Voßkamp, Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg, Stuttgart 1973. - Quellentexte in: Romantheorie 1620-1880. Dokumente ihrer Geschichte in Deutschland, hg. von Eberhard Lämmer u.a., Frankfurt a.M. 1988, S. uff. Zu den einzelnen Quellen vgl. Sieveke, Assenât, S. 145ÍF. - Vgl. jetzt auch Niels Werber, Gerücht und Gesicht. Medien in Philipp von Zesens Roman >Assenatbewältigennatürlichen< Verläufen mit menschlichen Mitteln begegnen kann, wird als genuiner, zunächst nicht delegierbarer Bereich der persönlichen Herrschaft identifiziert. Terminologisch findet hier die Assimilation von göttlicher Vorsehung und menschlich-herrschaftlicher Vorsorge 6 ' statt, die die absolutistische Hierarchiespitze codiert: Gott hat sich, so Joseph, dem Pharao »offenbahrt/ daß er Ägypten beherrschen soll; [...] damit er [...] bey Zeiten weißliche Vorsehung thue/ und Land und Leut im Wolstand erhalte.« (KJ 86) Gott wird die Enthüllung seiner providentiellen Pläne durch den sich als reines Medium inszenierenden Joseph in einem finalen, intentionalen Sinn zugeschrieben: Damit sich der Herrscher als Herrscher beweist, damit er sich aktiv handelnd auf sie einstellt, erfährt er vermittelt über den Berater die Zukunft. Die Harmonie menschlicher Freiheit und göttlicher Providenz erweist sich als das Paradox alteuropäischer Herrschaftskonzeption: Sie gehen Hand in Hand, auch wenn sich die Aktivität des erkennenden und handelnden Herrschers listig gegen die Konsequenzen der von Gott gelenkten Prozesse richtet: 64 Gegen die drohenden mageren Jahre gilt es, die herrscherliche »Vorsehung« in Gang zu setzen. Der Herrscher kann und braucht sich nicht in den Providenzzusammenhang zu schicken, sondern ihm wird jene Erkenntnis vermittelt, die Kontrolle und Beherrschung dieses Konnexes zumindest lokal erlauben. Zugleich wird dem absolutistischen Herrscher, den Pharao paradigmatisch vorstellt, eine gottanaloge Stellung verliehen, die es ihm gestattet, im Bereich seines Territoriums dieselbe Vorsehung auszuüben, wie sie Gott ubiquitär exekutiert. Damit geraten seine Untertanen in dieselbe Position, die alle Menschen gegenüber Gott einnehmen. Sie sind abhängig von Offenbarungen des Fürsten oder auf die passive Hinnahme seiner Entscheidungen angewiesen. Weltliche Herrschaft erscheint zugleich als Ausnahme von der göttlichen Providentia und als ihre partielle Analogie, die aber nicht global exekutiert wird, sondern in einem verkleinerten absolutistisch-territorialstaatlichen Ausschnitt und Abbild. 61
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Genesis, 41, 38. Dort formuliert Pharao selbst die Frage nach einem befähigten Beauftragten und die Bevollmächtigung Josephs. Providenz wird bei Cicero, Epistulae ad Quintum fratrum 1,1,31, als vorausschauende Fürsorge besonders des Staatsmannes, fester Teil der imperialen Terminologie. Vgl. Ruprecht Wimmer, Grimmelshausens >Joseph< und sein unverhofftes Weiterleben. In: Daphnis 5, 1976, S. 369-413.
Auf der heilsgeschichtlichen Ebene hingegen sind die Aktionen Pharaos Vollzüge der göttlichen Vorsehung, die Joseph in jene Position befördert, von der aus ihm die Errettung seines Volkes möglich sein wird. Joseph erhält die Position als stellvertretender oberster Beamter Pharaos durch einen Akt der Delegation, der der Machtvollkommenheit des Herrschers entspricht, aber durch Erfolge des Ministers gerechtfertigt werden muß: »Hingegen thät er gegen den König und den Unterthanen/ durch seine Vorsichtigkeit/ so viel/ daß man von einem Gott/ geschweige von einem Menschen nicht mehr hätte begehren mögen; In Summa/ er war des Königs Augapffel/ und zugleich der jenig/ der seinen Beschützer beschützte.« (KJ 104) Je größer die Herrschermacht, desto auffälliger die Umkehrung der Machtverhältnisse im Bild des Augapfels: Die Analogie zwischen »vorsichtigem« Menschen und sorgendem Gott fuhrt dazu, daß sich die Hierarchie zwischen Herrscher und Beamten umkehrt und auflöst: Der vom Herrscher Abhängige verwandelt durch seine Aktionen den Herrscher in einen Abhängigen. Auch Philip von Zesens Josephs-Roman wird auf das Bildfeld des Auges zurückgreifen. Dabei manifestiert sich erzähltechnisch eine erhebliche Differenz zur biblischen Version der Geschichte: Der Roman setzt mit Josephs Ankunft in Ägypten gattungsgemäß medias in res ein; die Geschichte seiner Herkunft, des Verrats der Brüder und des Verkaufs an die Midianiter wird erst durch einen Hebräer nachgeliefert, bei dem sich die ägyptische Königstochter Nitokris nach Joseph erkundigt. Wie dieser in Kenntnis des Josephsgeschehen gekommen ist, wird nicht erklärt. Bereits jetzt manifestieren sich Joseph zukunftsseherische Qualitäten in Träumen und deren Deutungen, die dem bibelkundigen Leser dessen persönliche Aussichten verraten. Die Figur »Josef« vermag sie jedoch nicht auf sich selbst zu beziehen. Das dritte Buch ist allein der Schilderung von Josephs Bildungsgang im Hause Potiphars sowie der Verführungsgeschichte gewidmet. Dabei eignet sich Joseph die ägyptischen Weisheit so an, daß »er sich nicht entziehen durfte mit den allergelehrtesten im gantzen Egipten anzubinden.« (A 114) Der Beginn von Josephs Karriere wird somit als Akkulturationsprozeß beschrieben, der Joseph agonal in einem Sektor der fremdkulturellen Elite annähert. Seine Verwaltungstätigkeit wird explizit unter dem Begriff der Sorge subsumiert, der die Schilderung des weiteren Geschehens prägen wird. Wenn Potiphar in Anerkennung seiner Leistungen über den Untergebenen Joseph sagt, »er allein träget sorge vor uns alle,« (A128) so ist einerseits der stellvertretend-prokuratorische Aspekt von Josephs Tätigkeit angesprochen, andererseits aber auch die temporale, zukunftsbezogene Dimension seines Handelns genannt. Potiphars Haus fungiert als Synekdoche fur das ägyptische Staatswesen, es fungiert als Übungsfeld für die gesamtstaatliche Verantwortung, die Joseph schließlich aufgetragen bekommt und die ebenfalls mit dem Begriff der Sorge verbunden ist. Zugleich ist aber auch Joseph selbst der Gegenstand der Sorge: Sowohl Nitokris Zuneigung zu ihm in Zeiten seiner schlimmsten Demütigung als auch Gottes Zuwendung werden ebenfalls mit diesem Begriff verbunden. (A 169F.) Der Begriff konturiert sich in einer zeitlichen, 53
praktischen und personenbezogenen Dimension: Sorge ist immer auf die Zukunft gerichtet und impliziert die Reflexion auf die Verwirklichung zukunftsbezogener Vorhaben sowie die Zuwendung zu einzelnen Personen, auch wenn diese in Gruppen, Körperschaften und Kollektiven auftreten. Die zeitliche Dimension der Sorge manifestiert sich in der Josephs-Geschichte als bürokratisch-ökonomische Proto-Versicherung, die mit dem Providenzdenken in Einklang gebracht werden muß. In von Zesens Roman wird die Gefängnis-Episode mit einer ausführlichen Reflexion über das Wesen der Sterndeuterei, d.h. der Zukunftserkenntnis verbunden. Sie ist nicht unabhängig vom Handeln des Menschen zu haben: Zwar habe Gott die Natur geschaffen und »ihren lauf eingericht«, aber er könne ihn jeder Zeit in Reaktion auf das menschliche Verhalten ändern. Im Gegensatz zum Gottesbegriff bei Grimmelshausen, der einen Gott des verzögerten bzw. aufgeschobenen Handelns präsentiert, und im Gegensatz zu einer deistischen Gottesauffassung vertritt der Text hier einen theologischen Okkasionalismus, der das Handeln des Individuums freisetzt und Gott als bloß Reagierenden zumindest zeitweise degradiert: E r (Josef, K . St.) wüste/ daß das Sternbuch anders nicht/ als Gottes W a r n - und Zeichenbuch sei: dadurch Er zugleich den Menschen seine Almacht/ so wohl im zorne das unglük/ als in der gühte das glük k o m m e n zu laßen/ v o r äugen gestellet. [...] Also verlies sich J o s e f auf sein instehendes durch das gestirn angedeutetes glük keinesweges so fest/ daß er ihm einbildete/ es müste also geschehen. Sondern er verlies sich auf G o t t allein: der es ihm durch diese sternzeichen zwar angedeutet/ aber gleichwohl solche andeutung gantz anders könte ausfallen lassen; imfal es sich solches gliikkes selbst unwürdig machte/ oder dasselbe durch achtloßheit oder sonst verschertzete. (A 165 f.) 6 '
Deshalb seien negative Vorzeichen nicht passiv hinzunehmen, sondern der Einzelne solle »das instehende unglük mit tapferem muhte/ und mit vorsichtigem handel und wandel ableinen und vermeiden [...].« (A 167) 66 Wie Gott verhalte sich auch der weltliche Fürst, der zwar Zeichen seiner Gnade gebe, damit aber nicht das jeweilige Handeln des einzelnen, der sich dieser Gnade auch als unwürdig erweisen kann, ignoriere. Damit fuhrt der Text auf theologischer Ebene die Dimension der Werkgerechtigkeit ein, so daß die Zukunft zu einem Interaktionsprozeß zwischen Individuum und Gott bzw. zwischen Einzelmensch und Fürst wird. Diesen Interaktionsprozeß konzipiert der Text als Ubersetzungsvorgang, der den Fürsten und seinen Berater in ein Verhältnis wechselseitiger semiotischer Kompetenzvorsprünge zusammenfügt: Die zeichensetzende Fertigkeit des Fürsten wird durch seine Unfähigkeit unterminiert, Zeichen zu verstehen. Erst indem er Josephs semiotischen Wissensvorsprung erkennt und ihm eine stellvertretende performative Macht zuweist, Maßnahmen abzuleiten und durchzufuhren, wird auch ihm etwas
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V g l . H a n s Blumenberg, D i e Lesbarkeit der W e l t , Frankfurt a . M . 1993. D i e Absetzbewegung von Grimmelshausen, die in dieser Passage vollzogen wird, rekonstruiert W i m m e r , Grimmelshausens J o s e p h , S. 392ÍF.
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von der göttlichen Legitimation zuteil, die Josephs Handeln auszeichnet: Gott »gibt nicht allen den verstand sie [seine Zeichen, K. St.] zu verstehen« (A 167); dem Herrscher ist es jedoch aufgegeben, jene Personen zu erkennen, die Gottes Zeichen verstehen und in politische Anstalten umsetzen können. Unter diesen semiotischen Prämissen steht die zentrale Traumdeuter-Episode: Joseph allein ist in der Lage, die Träume als göttliche Zeichen zu deuten, mit den Gott dem König verkünde, »was unter seiner herrschaft geschehen sol.« Diese Aussendung von Zeichen hat das Ziel, das menschliche Handeln zu aktivieren: »Und solches tuht er darum/ damit er wisse/ was er künftig tuhn und laßen sol/ sein Reich/ samt den untertahnen/ glüklich zu beherschen/ und im erbaulichen Wohlstände zu erhalten.« (A 186) Bei diesem Kommunikationsprozeß bedient sich Gott zunächst eines Mittlers und Dolmetschers, um die Decodierung seiner Zeichen zu bewerkstelligen. Warum die Fähigkeit zur Zeichendeutung jedoch unmittelbar mit der Fähigkeit und anschließend mit der Macht, vorsorgend zu handeln, verbunden ist, wird erst deutlich, wenn Joseph dem ägyptischen Herrscher den Rat zur Einstellung eines obersten Ministers gibt, der die notwendige Spar- und Vorsorgemaßnahmen mit dem doppelten Ziel durchsetzen soll, »die Wohlfahrt der untertahnen/ in so gar böser zeit« zu erhalten und die »Königliche macht und herligkeit selbsten üm ein märkliches« zu vermehren. (A 189) Die Kopplung von Zeichendeutungskompetenz und Vorsorgemacht wird erst mit dieser selbstlosen, auf eigenes Handeln verzichtenden Handlungsempfehlung legitimiert. Damit empfiehlt sich Joseph als Exekutivorgan des Herrschers, denn er erkennt nicht nur den allgemeinen Vorteil einer in die Zukunft schauenden und ihre Risiken beachtenden Politik, sondern auch die machtpolitischen Chancen einer solchen Herrscherentscheidung. Damit wandelt sich die semiotische Fertigkeit vollends zu einer hermeneutisch-vorgreifenden: Als Deuter seiner Träume qualifiziert sich Joseph als Bevollmächtigter und Stellvertreter, der dem >Chef< entgegen zu arbeiten befähigt ist. Damit wird er nicht nur zum Modell des frühneuzeitlichen Fürstendieners, sondern als »Verwalter« eines fremden »glüks« (A 195) zum Paradigma des Beamten oder Angestellten, der stets für anderes und andere einzustehen hat. Als oberster Minister des Königs wird ihm eine Stelle angewiesen, die auch in der räumlichen Herrschaftsrepräsentation unmittelbar unter dem König und über allen anderen angesiedelt ist: D u wirst die stelle desselben/ den du uns zu suchen gerahten/ am besten verträhten können. Und darum setze ich dich itzund über mein Haus. J a ich setze dich über das gantze Egipten. Alles übergebe ich deiner macht. N u r des Königlichen Stuhles und Nahmens wil ich höher sein. Deinem worte sollen alle meine Völker gehorchen. (A i9of.)
Diese im Arkanbereich vollzogene Inauguration muß nun noch >öffentlichVolk< bestätigt und sichtbar symbolisiert werden. Das Ende des vierten und vor allem das fünfte Buch sind voll von solchen symbolisch-anschaulichen Repräsentationen der neuen, >erhöhten< 55
Stellung Josephs (A 217), so daß literarisch deutlich wird, in welchem Ausmaß eine sich bürokratisierende Politik doch auf deutliche Sichtbarkeit, auf Ritualität und Zeremonie angewiesen ist. Diese Repräsentationstopik erklärt die Gegenüberstellung von Zeichen des früheren niederen und des neueren erhöhten Status des Protagonisten, sie ist auch für die ausführliche Tableaubeschreibung der Festtafeln im Hause des Königs verantwortlich, während die Begegnung des erhöhten Josephs mit dem ägyptischen Volk während seiner Einführung und seiner späteren Visitationen vor allem in seiner akustischen Dimension vorgestellt wird: Der sichtbaren Ordnung der Herrschaft entspricht die hörbare, aber unordentliche Begeisterung eines kaum ausdififerenziert vorgestellten Volkes«. (A 216 ff.) Den kulturellen Kontext für von Zesens Beschreibung der höfischen Rangdemonstration bilden die höfischen Feste der frühen Neuzeit, 6 7 mit denen der literarische Text in einen Austauschprozeß gerät: W o der Roman eine ausführliche Festbeschreibung integriert, umfaßt umgekehrt eine berühmte Festbeschreibung den Verweis auf ein Josephs-Drama, das Teil einer höfischen Festfolge ist: Gabriel Tzschimmers »Durchlauchtigste Zusammenkunft« 68 dokumentiert und kommentiert die Zeremonien und Festivitäten, die anläßlich eines Familientrefifens der Wettiner 1678 in Dresden stattgefunden haben. Der erste Band, die eigentliche chronologische Festbeschreibung, umfaßt 316 Folioseiten mit 28, teils großformatigen und ausklappbaren Kupfertafeln. Der zweite Band enthält den gelehrten Kommentar und umfaßt 562 Seiten und ca. 20 allegorische Kupferstiche. Innerhalb des Festes findet eine Auffuhrung einer »Comoedie vom Ertzvater Joseph« statt, die mit einem ausführlichen gelehrten Kommentar über die theologische und weltliche Bedeutung dieser biblischen Figur versehen ist. Deutlich wird, daß die Josephs-Dramatik nicht nur im Raum des Schultheaters, sondern auch im höfischen Bereich präsent ist. Der Kommentar verbindet Josephs Fähigkeit zur vernünftigen Vorsorge mit der Erlangung seiner Stellung des »vornehmsten und geheimesten Rathes«, 6 ' so daß
67
Richard Alewyn und Karl Sälzle, Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung, Hamburg 1959. - Jörg Jochen Berns, Die Festkultur der deutschen H ö f e zwischen 1580 und 1730. Eine Problemskizze in typologischer Absicht. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N . F . 34,1984, S. 295-311. - Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn, Tübingen 1995. — Speziell zur Zeremonialwissenschaft und ihren juristischen Implikationen: Milos Vec, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentationen, Frankfurt a.M. 1998.
68
Gabriel Tzschimmer, Durchlauchtigste Zusammenkunfft. Oder Historische Erzehlung, Nürnberg 1 6 8 0 , 1 . Teil: S. 1 3 2 - 1 3 4 , 1 3 8 - 1 4 3 , 1 4 9 - 1 5 3 , S. 157-163. - Vgl. dazu jetzt Markus Völkel, Gabriel Tzschimmers »Durchlauchtigste Zusammenkunft« und die Überführung von höfischer Repräsentation in Gelehrsamkeit. In: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, hg. von Helmut Zedelmaier und Martin Mulsow, Tübingen 2001, S. 221-248.
69
Tzschimmer, Zusammenkunfft, S. I49f., 152.
56
die Josephsgeschichte im zweiten Teil, wo sich der »untadelhafftige König« durch seine »Räthe/ als welche die Augen eines Königes und Regenten sind«, auszeichnet, die folgende These bestätigt: »Die Authorität der Räthe erhält auch die Authorität eines Königes.« 70 Auch im >AssenatStellungSorge< erweitert sich auf das vorhersehbar unberechenbare menschliche Verhalten: 73 D e m muste/ durch heilsame Satzungen/ bei Zeiten vorgebauet werden [...]. U n d dariim stiftete er Untersuchungen des lebens. Allen Egiptern w a r d auferlegt/ jährlich v o r der Obrigkeit zu erscheinen. Einjeder solte verpflichtet sein rechenschaft zu tuhn/ wie er lebete/ was er tähte/ w o m i t er sich u n d die seinigen ernährete. Alles Unwesen solte vertilget/ aller müßiggang abgeschaffet/ alles üppige leben gestrafet werden. (A 282Í.)
70 71
Tzschimmer, Z u s a m m e n k u n f t , T e i l 2: S. 364, 367. D a ß erst das Bestehen a u f >Blödigkeit< modernes Indiviualitätsbewußtsein konstituiert, zeigt G e o r g Stanitzek, Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. J a h r h u n d e r t , T ü b i n g e n 1989.
72
N o r b e r t Elias, Ü b e r den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische u n d psychogenetische Untersuchungen, B d . 1: W a n d l u n g e n des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, B d . 2: W a n d l u n g e n der Gesellschaft. E n t w u r f zu einer T h e o r i e der Zivilisation, Frankfurt a . M . 1995 (19. Aufl.). Vgl. Blumenberg, D i e Lesbarkeit der Welt, S. io8ff.
57
Damit sind die Kernbereiche der frühneuzeitlichen, von Lipsius und Erasmus paradigmatisch definierten >Policey< - Proto-Statistik und Strafandrohung - markiert. Mit diesen Verfahren, die noch nicht technisiert sind, macht sich der Fürstenstaat das >Leben< zugänglich, und er begründet seinen Allmachtsanspruch mit seinen Wohlfahrtsleistungen.74 Er positioniert sich zwischen Ausbeutung und Lebensbeförderung, die panoptische Kontrolle der >Policey< scheint herrschaftstechnisch effektiver als der Eigentumstitel. Damit wird der von Foucault diagnostizierte Wechsel zur Bio-Macht erkennbar, wenn man so will sogar das neuzeitliche Versicherungsdenken,75 denn Josephs Maßnahmen gründen, im Gegensatz zu allen Beschwörungen der göttlichen Zukunftsenthüllung, nicht auf Wissen, sondern auf von Prognostik gestützte Wahrscheinlichkeitserwägungen. Dies zeigt ein Satz ganz explizit: »Er spielete aufs künftige«. (A 283) Was ihm Gott zu erkennen gegeben hat, ist kein positives Wissen, sondern eine Technik des Umgangs mit Wechselhaftigkeit und Kontingenz. Damit verliert sich die Theodizeeproblematik im innerweltlichen Wahrscheinlichkeitskalkül. Wenn man dem hohen Barock eine pessimistische Weltsicht zuschreibt, die immer damit rechnet, daß alle Ordnungen zusammenbrechen können und sich alles umkehrt, so wird man dem Text Zesens bereits eine >innerweltliche Rationalität< unterstellen können, die aus der Unberechenbarkeit des Weltlauf nicht die Schicksalsergebenheit, sondern aktives Handeln ableitet. Nur bis zum Eintritt des >Schadensfalles< werden Josephs Maßnahmen mit Skepsis betrachtet: N u n markten sie/ wie vorsichtig/ wie klüglich er gehandelt. Die ihn vor diesem beschimpfet/ priesen nun seine Weisheit. Die ihn verspottet/ erhüben seine so treue Vorsorge himmelhoch. Die ihn verlachet/ flöheten ihn an üm gnade. J a sie nenneten ihn ihren Erhalter/ ihren Heiland/ ihren Reichsvater.« (A 285)
Der sprachliche Parallelismus, mit dem Vergangenheit und Gegenwart unmittelbar gegenüber gestellt werden, macht deutlich, daß das Risiko des Josephschen Handelns in der Dimension der Zeit und in der mangelnden Zukunftssorge der Untertanen liegt: Erst mit der eingetretenen Krise erweist sich der vorsorgende Politicus als Beherrscher der Situation, der nun aus verliehener Machtvollkommenheit und den erwirtschafteten Vorräten schöpfen kann; der eingetretene Schadensfall legitimiert rückwirkend alle protobürokratischen Kontrollmaßnahmen, Bürokratie und ihre Protagonisten sind offensichtlich auf Annahmen über den schlechten Weltlaufi angewiesen.
74
Vgl. den kanonischen Text zur Konzeption des Fürstenstaats Veit-Ludwig von Seckendorf, Teutscher Fürstenstaat, Franckflirt am Mayn 1665 ( N D 1976) (EA 1656). - Vgl. zu den entsprechenden, zu verallgemeinernden Projekten im Spanien des 16. Jahrhunderst jetzt Siegert, Passage des Digitalen, S. 6^ff. D i e vollständige Durchsetzung dieses Prinzips im 19. Jahrhundert, das den Verantwortungsdiskurs ablöst, beschreibt Francois Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt a.M.
1993·
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Damit aber verkehrt sich auch hier die hierarchische Position zwischen Monarch und erstem Minister: Zesen benutzt zwar fast die gleichen Worte wie Grimmelshausen, doch ist seine Begründung für die Machtumkehr um ein vielfaches elaborierter: Der Abhängige bringt den, dem er seine Stelle verdankt, in Abhängigkeit von sich: »Er war derselbe/ der seinen Beschützer beschützte. Er war des Königes Augapfel; der stab/ darauf er sich lehnete. J a er war alles in allen.« (A 307) Der Reichtum, der dem König aus Joseps Wirtschaftsunternehmungen erwächst, wird in repräsentative, monumentale Bauten und schließlich in die Gründung einer gelehrten Schule investiert; damit mündet die >Sorge< in überzeitliche Monumentalität und in die Institutionalisierung der Vermittlung von Herrschaftstechnik. D i e neugegründet Schule soll nämlich lehren, »wie man aus den zeichen und zügen der euserlichen gestalt die innerliche kraft und beschafifenheit aller geschaffenen dinge erkennen solte.« (A 317) Diese Institutionalisierung einer allgemeinen Z e i chendeutungs- und Verstehenslehre, die den zeitgenössischen Bemühungen u m eine allgemeine rationale Hermeneutik entspricht, 7 é läßt sich als literarische Legitimation frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit und ihrer Funktion für die Etablierung des Beamtentums lesen. Joseph ist gelehrter Zeichendeuter, und als solcher gewinnt er nicht nur des Königs, sondern auch des gesamten Volkes Vertrauen. A u s einer Technik, die Semiotik, Hermeneutik und das Wahrscheinlichkeitskalkül umfaßt, erwächst sein politisches Vermögen; wie sein individueller Fall mittels avisierter institutioneller Bildung verallgemeinert und auf Dauer gestellt werden kann, bleibt im Text allerdings offen. Joseph und die Geschichte seiner Karriere wird somit vor allem in von Zesens >Assenat< als Apotheose des frühneuzeitlichen Beamtentums lesbar; in seinem uneigennützigen und klugen Verhalten ist er ein »Lehrspiegel vor alle Stahtsleute«. (A 349) D a ß er neben dem primären Ziel, der allgemeinen W o h l f a h r t , und dem damit eng verbundenen Z w e c k der Steigerung der königlichen Macht, mit dem eigenen Wohlergehen, dem R u h m zu Lebzeiten und posthum sowie mit der Sorge fur seinen eigenen Familenverband noch weitere Zwecke erreicht, wird hier nicht als Problem, sondern als natürlicher, harmloser Zusammenhang gesehen, sofern nur das Allgemeinwohl an erster Stelle steht. Andernfalls »weren gewislich seine anschläge/ wie weislich und klüglich sie auch ersonnen waren/ so wohl nicht gelungen.« (A 349) Die Motivation des Handelns ist also für dessen Bewertung wie für dessen Folgen der ausschlaggebende Faktor: »Er gab ein lehrbild allen Beamten der Könige und Fürsten. [...] Hier möchten sie lernen/ wie man durch liebe zur algemeinen Wohlfahrt/ seine eigene befördert, wie man durch treue reich wird/ und aus Vermeidung seines eigennutzes gleichwohl einen großen nutzen ziehet [...]« (A 349) Handlungen, die unter eigennützigen Vorzeichen gemeinnützige Folgen haben, sind jedoch immer negativ zu bewerten und stehen auch nicht unter dem göttlichen Segen.
76
Vgl. dazu Scholz, Verstehen und Rationalität, S. 3 5 ® 59
Damit erscheint das Ideal des tugendhaften Ministers, das bis in das 18. Jahrhundert hinein in Deutschland das politische Denken prägen wird. 7 7 Es verläßt sich auf individuelle Qualitäten und verzichtet auf institutionelle Kontroll- und Sicherungsmechanismen. Die Skepsis gegenüber den Interessen und Egoismen der Individuen wird hier zugunsten einer Staatsdienerkonzeption aufgegeben, die den preußisch-kantischen Idealen der Zeit um 1800 schon recht nahe kommt, ohne daß ernsthaft nach der Verstetigung und Institutionalisierbarkeit von Tugend gefragt werden kann. Grimmelshausens und von Zesens Josephsromane relativieren ungeachtet aller inhaltlichen und das Ausmaß ihrer intellektuellen und literarischen Intensität betreffenden Unterschiede die Autorität und Souveränität des Herrschers gegenüber seinem Berater: Pharao verzichtet nach der Delegierung auf eigenes Handeln, weil Joseph ein fur allemal seine machttechnische Qualität bewiesen hat. Die hierarchische Spitze löst sich auf im ungeklärten Machtgefuge von Herrscher, Berater und Stellvertreter; paradoxerweise aber funktioniert dieses Gefuge trotz oder gerade wegen dieser Komplexitätssteigerung: Die Kritik am Herrscher kann nun auf den Berater, die Kritik am Berater auf den Herrscher abgelenkt werden. Die Unterstellung einer asymmetrischen Kommunikation, die einmal den offiziellen Herrscher, ein anderes Mal seinen Berater und Stellvertreter privilegiert, fuhrt zur Machtsteigerung per Machtdelegation und Stellvertretung. Im Gegensatz dazu betont die zeitgenössische Staatstheorie und Polizeiwissenschaft weiterhin die letztinstanzliche Rolle des Monarchen. So heißt es bei Seckendorf?: Der Herrscher bewährt sich in der Auswahl seiner »Diener«, er hat sich nichts aus der Hand nehmen zu lassen, er hat immer wieder per Autopsie und Visitation zu überprüfen, ob seine Anordnungen ausgeführt worden sind und wie die >Wirklichkeit< im Bereich seiner Herrschaft aussieht. 78 Als besonders riskant gilt die Favorisierung eines einzelnen oder einiger
77
Martens, Der patriotische Minister, S. 33jff.
78
Seckendorf?, Fürstenstaat, S. 92ff.: Die »persönliche Bemühung« des Landesherrn bestehe vor allem darin »die eigentliche Beschaffenheit seinen Landes umbständig zu wissen/ und sich bekant zu machen [...]. Denn ob es wol an dem ist/ daß ein Hoher Regent nicht selbst in allen vorher erzehlten Stücken die H a n d anlege/ und alles selbst verrichte/ sondern zu dem ende Räthe und Diener hat/ und besoldet/ [...]: So hat er doch über alles die oberste Aufsicht/ durch fleissiges Nachfragen Nachdencken auff gute Ordnung und Anstalten/ Erforschung verständiger Rathschläge/ und schleunige Werckstellung dessen/ was er schlüssig wird/ zu verführen. [...] und stehet hierinn nicht eine geringe Mühe und Vorsichtigkeit des Landes=Herrn/ daß er nemblich in Erwehlung und Bestellung solcher Diener/ [...] wol antreffe/ und ob er wol hierinn seinen freyen Willen hat/ dennoch mit gutem Rath und reiffer Bedachtsamkeit verfahre/ sintemal an getreuen/ verständigen und fleissigen Dienern in einem Regiment/ ein grosses gelegen.« Vgl. auch die Ausführungen über die Visitationen, S. z8if. - Vgl. zum grundsätzlichen Problem direkter fürstlicher Intervention und der Notwendigkeit bürokratischer Vermittlung in den deutschen Territorien Gerhard Oestreich, Das persönliche Regiment der deutschen Fürsten am Beginn der Neuzeit. In: Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, S. 201—234.
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weniger Beamter, von denen sich der Herrscher abhängig mache: »Dadurch endlich andere ehrliche Leute vertrieben werden/ und ein Herr selbst an statt/ daß er der Höchste und Oberste seyn solte/ in die Hände und Botmässigkeit seines also zu sehr erhoben= und einig geliebten Dieners dergestalt gerathen thut.« 79 Allein die intellektuelle und moralische Schwäche des Fürsten ist danach fur die Entstehung eines Machtdipols verantwortlich, der immer negativ beurteilt wird. Im Medium der Josephsgeschichte präsentieren sich zeitgenössische politische und theoretische Problemzusammenhänge; die biblische Vorlage dient als gemeinsamer Hintergrund fur Literatur und Staatsphilosophie, die die Fürstendiener- und Individualitätsproblematik verhandeln. Das Individuum Joseph ist nicht Produkt eines aufgelösten Providenzkonnexes, sondern diesem vorgeordnet; sein Handeln und die Providenz Gottes konvergieren in seiner protobürokratische Rolle als Berater und Stellvertreter, so daß sich göttliche und menschliche Souveränität in einem Interaktions- und Kommunikationsprozeß relativieren. Die eingeschränkte Souveränität des Erzählers indes, der in Abhängigkeit von verschiedenen Vorlagen unterschiedlicher Autorität seinen Text verfertigt, wird wohl konstatiert, aber nicht problematisiert. Damit vollziehen die Texte ein formularisches Schreiben unter der Dominanz des Rhetorischen, das vor allem bei von Zesen der Einführung in den Habitus des Politicus dient. Poetische Kompetenz manifestiert sich nicht in Unverwechselbarkeit, sondern in der gelehrt kontrollierten, panoptischen Aneignung der vorhandenen Josephs-Geschichten, die das Okkasionell-Zufällige des Aneignungsvorganges durch die Autorität des Stoffes und seine Offenheit fur zeitgenössische Debatten um Herrschaft und Hierarchie zu reduzieren suchen. In der frühneuzeitlichen Bearbeitung des Joseph-Stoffes vollzieht sich am biblischen Modell zugleich die Mitschrift einer sich allmählich bürokratisierenden Welt und die rekursive Bestätigung dafür, daß die frühneuzeitliche Literatur sich in der Bindung an gelehrte Prätexte sowie an furstenstaatliche Repräsentation und Didaktik manifestiert. Eine Lösung aus diesem Konnex verspräche nur die Konzeption einer Konkurrenz zwischen göttlicher Providenz und politischer Prognose; auf dem Gegenteil aber beruht der deutsche Fürstenstaat und seine Literatur.
2.5
Goethes autobiographischer Rekurs auf den Joseph-Stoff: Autorschaft und Beamtenrolle
Noch Goethe, der von der älteren Literaturgeschichtsschreibung als jugendliches Genie und reifer Aneignungskünstler inszenierte Klassiker, hat als Bearbeiter des biblischen Josephsstofifes seine Autorschaft begonnen. Mehrere Gründe lassen sich dafür geltend machen: Zunächst hat der Joseph-Stoff trotz der Selbstdistanzierung
79
Seckendorff, Fürstenstaat, S. 202f.
61
der Aufklärungsliteratur von der Literatur des Barock 80 noch im 18. Jahrhundert eine erheblich Faszination ausgeübt: Christian Weises Drama >Der keusche Joseph< aus dem Jahr 1690 betont in der Tradition der antiken Komödie das höfische Intrigenspiel und die Konflikte zwischen Joseph und den ägyptischen Fürsten. Die Fähigkeit zur Traumdeutung wird von diesen als subalterne Kompetenz aufgefaßt, die nicht zugleich zu Stellvertretung und Leitung des Staates im Auftrag des Fürsten befähige. 81 Johann Jacob Bodmers Versepos Joseph und Zulika< 82 von 1753 rückt die Episode von Potiphars Weib in den Mittelpunkt. Eingeleitet wird das Werk durch eine an Joseph adressierte Erzählerrede über das Verhältnis von Schicksal und menschlicher Schuld: allein der H e r , d e r die s c h i k u n g e n lenket/ W i l l aus d e m boesen, das sie [die B r ü d e r , K . St.] an dir zu thun sich vermassen,/ G u t e s fyr dich u n d fyr sie, fyr J o s e p h s u n d Israels haus ziehn./ E r hat einen M a e a n d e r v o r den w e g e n verwebet,/ d e n d u n o c h lange g e h n sollst, dir unerforschlich, i m d u n k e l n , / Z w i s c h e n Versuchungen h i n , u n d i m tiefen g e w o e l b e des kerkers/ Bis d e n irrgang d e r H e r r v o r dir enthyllt u n d d e n sclaven/ aus d e m staubichten boden erhebt, u n d h o c h zu den
fyrsten/Koeniglich
sezt, u n d v o r dir die
stolzen b r y d e r e r n i e d r i g t , / D i e d a n n das knie v o r dir biegen, u n d ihre speise dir danken./ L e g e d e n n u m d i c h g e d u l d u n d williges leiden, u n d warte/ A u f das ende, das izt schon in der ferne G o t t siehet. 8 '
Die erzähltechnische Enthüllung einer göttlichen Verhüllung gerät dadurch zur Paradoxie, daß nicht der Leser, sondern der Protagonist des Textes Adressat der Rede ist: Joseph darf, um das Geschehen so zu entfalten, wie es der Vorsehung entspricht, nicht wissen, was ihm hier zu wissen gegeben wird. Er erfährt, daß er in der Unübersichtlichkeit seines Lebenslaufes nicht wissen wird, welches Ziel das Geschehen hat. Indem ihm dies gesagt wird, ist er zugleich unwissendes Opfer und wissender Agent seiner Geschichte. Der »Maeander« des Lebensganges, der Joseph hier angekündigt wird, kollidiert mit der Zukunftsvorsorge des ägyptischen Ministers und verweist somit auf das theologisch-philosophische Grundproblem, an dem sich die Mehrzahl der Prosafassungen des Stoffes abarbeitet: Das Verhältnis zwischen göttlicher Providenz und menschlicher Vorsorge muß in seiner Widersprüchlichkeit harmonisiert und als
80
W i l f r i e d Barner, D a s Negieren v o n T r a d i t i o n - Z u r T y p o l o g i e literaturprogrammatischer E p o c h e n w e n d e n in D e u t s c h l a n d . I n : E p o c h e n s c h w e l l e u n d E p o c h e n b e w u ß t s e i n , h g . v o n R . H e r z o g u n d R . Koselleck. M ü n c h e n 1987, S . 3 - 5 1 . D e r s . , G o e t h e s B i l d v o n der deutschen Literatur der A u f k l ä r u n g . Z u m Siebenten B u c h v o n >Dichtung u n d W a h r h e i t . In: Z w i s c h e n A u f k l ä r u n g u n d Restauration. Sozialer W a n d e l in d e r deutschen Literatur ( 1 7 0 0 - 1 8 4 8 ) . Festschrift f ü r W o l f g a n g M a r t e n s , hg. v o n W . F r ü h w a l d u n d A . M a r t i n o , T ü b i n g e n 1989, S. 2 8 3 - 3 0 5 .
81
C h r i s t i a n W e i s e , D e r k e u s c h e J o s e p h . In: W e i s e , S ä m t l i c h e W e r k e B d . 8: B i b l i s c h e D r a m e n , hg. v o n J o h n D . L i n d s a y , B e r l i n / N e w Y o r k 1 9 7 6 ( E A D r e ß d e n u n d Leipzig 1 6 9 0 ) , S. 189.
8z
J o h a n n J a c o b B o d m e r , J o s e p h u n d Z u l i k a : in z w e e n G e s ä n g e n , Z y r i c h 1753.
83
Bodmer, Joseph und Zulika, A j r
62
komplementär begriffen werden; bis zu Thomas Mann wird diese Konstellation die Darstellung der politischen Tätigkeit Josephs bestimmen. Das »ende, das izt schon in der ferne Gott siehet«, wird in diesem paradoxen Sprechakt aus der Beschränkung auf Gott gelöst und als Wissen des Erzählers (und des Lesers) dem Protagonisten vermittelt, dessen unwissend-wissendes Handeln zugleich frei und vorherbestimmt erscheint. Diese erzähltechnische Finesse, die die Allwissenheit Gottes mit der des Erzählers verknüpft und schließlich der Figur übermittelt, reagiert mit literarischer Souveränität auf die komplexe kommunikative und theologische Konstellation. Bei Goethe nun steht die Josephs-Figur im Mittelpunkt der autobiographischen Beschreibung seiner jugendlichen literarischen Arbeiten. Das neben Thomas Manns Romantetralogie prominenteste Beispiel fur die Bearbeitung des Joseph-Stoffes bildet jedoch, weil es selbst nicht überliefert worden ist, eine literaturhistorische Leerstelle. Durch seine Funktion im autobiographischen Kontext von >Dichtung und Wahrheit« erhält es indes eine erhebliche Bedeutung. Im dritten Buch von >Dichtung und Wahrheit< verweist Goethe zunächst auf einen »umständlichen Aufsatz, worin ich zwölf Bilder beschrieb, welche die Geschichte Josephs darstellen sollten.« 84 Die Beschäftigung mit dem Stoff erwächst aus dem persönlichen Kontakt zu den Malern, die Graf Thoranc beschäftigt. Die bildende Kunst prägt schließlich noch die Metaphorik im Verweis auf seine verschollene literarische Jugendarbeit, 85 einen Josephs-Roman (oder eine Prosaerzählung) nach dem Muster von Karl Friedrich von Mosers >Daniel in der Löwengrube< (1763). Dabei ist die Indirektheit auffällig, mit der die Autorschaft des jungen Goethe eingeführt wird. V o m unpersönlichen »man« über die Verwandlung des autobiographischen Ichs in die dritte Person Singular bewegt sich der Bericht schließlich zurück zur ersten Person Singular: Höchst anmutig ist diese natürliche Erzählung, nur erscheint sie zu kurz, und m a n fühlt sich berufen, sie ins einzelne auszumalen. [...] Die Personen des Alten und Neuen Testaments hatten durch Klopstock ein zartes und gefühlvolles Wesen gewonnen, das dem Knaben sowie vielen seiner Zeitgenossen höchlich zusagte. V o n den Bodmerischen Arbeiten dieser Art kam wenig oder nichts zu ihm; aber >Daniel in der LöwengrubeDivanIsrael in der Wüste< geschrieben, die im Zusammenhang steht mit den gattungstheoretischen Erörterungen über epische und dramatische Dichtung und den an >Hermann und Dorothea« anschließenden idyllentheoretischen Erörterungen.
J u d e n d i s k r i m i n i e r u n g bei g l e i c h z e i t i g e m k u l t u r e l l e m A n t i s e m i t i s m u s 8 8 e i n e b e sondere diskursive B e d e u t u n g . 8 9 E s erfordert die K e n n t n i s des H e b r ä i s c h e n , das gerechtfertigt w i r d d u r c h d i e d a d u r c h b e f ö r d e r t e n b i b l i s c h e n S t u d i e n , w ä h r e n d das v e r p ö n t e J i d d i s c h e als V e r s c h w i e g e n e s t h e m a t i s i e r t w i r d . » I c h v e r s c h w i e g i h m die A b s i c h t a u f das J u d e n d e u t s c h , u n d sprach v o n besserem V e r s t ä n d n i s des G r u n d t e x t e s . « ( D u W I, 4, 126) D a s Spätere, Abgeleitete u n d V e r m i s c h t e gerät gegenüber einem Ersten u n d Basalen ins Hintertreffen. Diese D i f f a m i e r u n g s b e w e g u n g wiederholt sich i m Spiel m i t d e n hebräischen S c h r i f t z e i c h e n , w o ebenfalls zunächst die »ersten Z e i c h e n « g e g e n ü b e r d e m n e u e n » H e e r v o n kleinen B u c h s t ä b c h e n u n d Z e i c h e n [...] v o n P u n k t e n u n d Strichelchen« favorisiert w e r d e n , u m als Materialität der Z e i c h e n schnellstens v o m »Inhalt des Buchs« u n d d e m »Sinn der Sache« ersetzt zu w e r d e n . ( D u W I, 4 , 1 2 6 f f . ) D i e A u f m e r k s a m k e i t des L e r n e n d e n liegt j e d o c h a u f d e n » W i d e r s p r ü c h e ( n ) « , d e n » U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t e n u n d I n k o n g r u e n z e n « ( ( D u W I, 4 , 1 2 7 ) des b i b l i schen T e x t e s . D i e textuelle Deterritorialisierung, eine »die B i b e l n a c h allen Seiten d u r c h k r e u z e n d e , k i n d i s c h e L e b h a f t i g k e i t « ( D u W I, 4, 128), w i r d d u r c h d e n V e r weis a u f den » W e g [...], d e n i h m die N a t u r einmal vorgezeichnet hat«, z u r ü c k g e n o m m e n . D i e A b k e h r v o n e i n e m »zerstreuten L e b e n « u n d e i n e m »zerstückelten Lernen« ( D u W I, 4 , 1 4 0 ) erscheint als buchstäbliche Reterritorialisierung, als Flucht »nach jenen m o r g e n l ä n d i s c h e n G e g e n d e n « der ersten B ü c h e r M o s i s . Sie bildet die L e g i t i m a t i o n d a f ü r , d a ß er »diese a l l g e m e i n b e k a n n t e n , so o f t w i e d e r h o l t e n u n d ausgelegten G e s c h i c h t e n hier abermals umständlich vortrage.« ( D u W I, 4, 140) D a s Bibelreferat selbst ist n ä m l i c h v o n d e m selben G e g e n s a t z v o n B e - u n d E n t g r e n z u n g geprägt w i e die R e f l e x i o n über einen L e b e n s l a u f zwischen Z e r s t r e u n g u n d K o n z e n tration. D i e S p r a c h s t u d i e n f u h r e n zuletzt z u r ü c k zu einer l e b h a f t e r e n b i l d l i c h e n V o r s t e l l u n g v o n »jenem s c h ö n e n u n d viel gepriesenen L a n d e « der H e i l i g e n S c h r i f t , aber auch v o n »seiner U m g e b u n g u n d N a c h b a r s c h a f t « .
( D u W I, 4 , 1 2 9 ) »Dieser
kleine Raum«, das »Lokal« der ersten B ü c h e r M o s i s ist zugleich »einfach u n d faßlich, als m a n n i g f a l t i g u n d zu d e n w u n d e r s a m s t e n W a n d e r u n g e n u n d A n s i e d e l u n g e n geeignet«. E i n »kleiner, höchst a n m u t i g e r R a u m « sei d e m M e n s c h e n ausgesondert, w o er seine ersten F ä h i g k e i t e n e n t w i c k e l n , aber auch »seine R u h e « ( D u W I, 4 , 1 2 9 ) verlieren sollte. D a s nach d e r S i n t f l u t b e g i n n e n d e H i r t e n l e b e n j e d o c h »nötigte die V ö l k e r bald, sich v o n e i n a n d e r zu entfernen«. ( D u W I, 4 , 1 3 0 ) D a s R e t e r r i t o r i a -
88
Vgl. Wolfgang Frühwald, Antijudaismus in der Zeit der deutschen Romantik. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg. Zweiter Teil, hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler, Tübingen 1989, S. 72—91. Norbert Oellers, Goethe und Schiller in ihrem Verhältnis zum Judentum. In: Conditio Judaica. 1. Teil, Tübingen 1988, S. 108-130.
8?
Vgl. den Überblick zum Goetheschen Verständnis des Judentums bei Günter Härtung, Goethe und die Juden. In: Weimarer Beiträge 40, 1994, S. 398-416.
65
lisierungsbemiihen begründet den scheiternden Bau des babylonischen Turmes: »Sie kamen auf den Gedanken, einen hohen T u r m zu bauen, der ihnen aus weiter Ferne den Weg wieder zurück weisen sollte.« ( D u W I, 4, 130) Doch »die Elohim verwirrten sie, der Bau unterblieb, die Menschen zerstreuten sich; die Welt war bevölkert, aber entzweit.« (ebd.) Erst die genealogische und nationale Einheit überwindet »Glücks- und Ortswechsel« (ebd.) und koinzidiert mit einer besonderen geoffenbarten Religion, die »den Glauben an eine besondere Vorsehung« mit sich führe, »die das göttliche Wesen gewissen begünstigten Menschen, Familien, Stämmen und Völkern zusagt.« ( D u W I, 4, 134) Dieser Glaube ist aber funktional zu erklären. Er erwachse aus der nomadischen Situation: »Sie bedurften mehr als der tätige gewandte Jäger, mehr als der sichre sorgfältige hausbewohnende Ackersmann des unerschütterlichen Glaubens, daß ein Gott ihnen zur Seite ziehe, daß er sie besuche, an ihnen Anteil nehme, sie führe und rette.« ( D u W I, 4,135) Die monotheistische Religion erscheint somit als das einheitsstiftende Prinzip, das die großen Reterritorialisierungen des Abendlandes, Nation, Staat und Individuum, auf dem Hintergrund einer nomadischen Deterritorialisierung und einer genealogischen Uneindeutigkeit entstehen läßt. Die >Wiederholung< dieser zivilisationsgeschichtlichen These im Bibelstudium kulminiert schließlich in der Auseinandersetzung mit der Josephsfigur, die »der Jugend mit Hoffnungen und Einbildung gar artig schmeicheln kann.« (DuW I, 4,140) Die biblische Josephsgeschichte fungiert als Bildungsmoment für das jugendliche Individuum, zur wiederholenden Produktion hingegen fehle der »Jugend« ein »Gehalt«, der nur »durch das Gewahrwerden der Erfahrung selbst« (DuW I, 4 , 1 4 1 ) entstehen könne. Damit setzt das autobiographische Ich, welches zuvor die »Form« als eigentliche Schwierigkeit der Josephsgeschichte präsentiert hatte, das eigene >Leben< an die Stelle jenes >stummen< und verworfenen Werkes, dem es in der Autobiographie soviel Platz einräumt. Erst der Lebensvollzug vermittele jenen Gehalt und jene Erfahrung, die eine Josephsgeschichte per definitionem zu einem Alterswerk machen würden. So aber hat Goethes autobiographischer Hinweis auf sein nicht überliefertes Jugendwerk die Funktion, den Leser auf die in seinen autobiographischen Texten sonst ausgesparte lebensgeschichtliche Phase des Fürstendienstes und der Beamtentätigkeit am Weimarer H o f hinzuweisen. Dazu tragen auch die Erwähnung von zwei kryptischen, biographisch wirksamen Figuren bei, die auf die höfisch-politische Sphäre verweisen: Johann Michael von Loen (DuW I, 2, 75) und Karl Friedrich von Moser (DuW I, z, 79; I, 4,150) sind beide mit politischliterarischen Werken an die Öffentlichkeit getreten, die das Thema des >redlichen Mannes am Hofe< variieren. 90 Daß sich schon der junge Autor Goethe anhand der Josephsgeschichte mit diesem Thema beschäftigt haben will, ist als autobiographische Rechtfertigung des
Vgl. Martens, Der patriotische Minister, S. I05ff., S. m f f .
66
Schrittes an den Weimarer Hof zu lesen, der literarisches Schaffen und praktische Tätigkeit in einem immer komplizierten Konkurrenzverhältnis letztlich koinzidieren läßt: 91 Autorschaft im Goetheschen Sinne wäre zum einen stets eine Autorschaft, die sich eher in den Kategorien der frühmodernen Gelehrten als im Sinne einer >freien< Schriftstellerlaufbahn begreifen läßt. Zum anderen entwickelt >Dichtung und Wahrheit in engster Nachbarschaft zur Einfuhrung des Josephsthemas die Vorstellung einer souveränen Herrschaft über das eigene Schicksal gerade im Zusammenhang mit den Abhängigkeiten und Beschränkungen einer Regierungstätigkeit in einem begrenzten Territorium des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation: Das Fremde in stellvertretenden Aktivitäten zum Eigenen machen und so der Welt seinen Stempel aufdrucken, ist die Leitlinie des Lebenslaufes, den Goethe der Öffentlichkeit übergibt. Der Weg nach Weimar fixiert und fundiert die souveräne Goethesche Autorschaft auf dem kontrastiven Hintergrund nomadischer Zerstreuung. Ohne diesem Modell eine teleologische Implikation zu unterstellen, kann man hier eine Kybernetik beobachten, die das Modell eines von Gott providentiell determinierten Lebenslaufs obsolet werden läßt. Der autobiographische Rekurs auf die Faszination des Joseph-Stoffs ist so zugleich ein Moment der Identifikation und der Distanzierung: Wie beim biblischen Joseph erfiillt sich das Schicksal Goethes nicht nur, aber auch in der Beamten- und Regierungstätigkeit; anders als es in den bekannten Versionen der Josephsgeschichte geschieht, beschreibt sich Goethe als Meister seines Schicksales, der die Kontingenzen und unkontrollierbaren Einflüsse des faktischen Lebenslaufes integriert in Darstellung und Beobachtung des Eigenen.
2.6
Thomas Manns >Joseph
Dichtung und Wahrheit< zur Bearbeitung des Joseph-Stoffes inspirieren lassen; 92 seine Rezeption des Phänomens Goethes ist weitgehend eine imitatio, die 91
Zuletzt im Zusammenhang mit Goethes Mitgliedschaft in einer Freimaurerloge, die im Auftrag des Herzogs bestanden habe, W . Daniel Wilson, Unterirdische Gänge — Goethe, Freimaurerei und Politik, Göttingen 1999. - Friedrich Sengle, Das Genie und sein Fürst. Die Geschichte des Lebensgemeinschaft Goethes mit dem Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Ein Beitrag zum Spätfeudalismus und zu einem vernachlässigten T h e m a der Goetheforschung, Stuttgart/Weimar 1993. — Z u r Übertragung bürokratischer Ordnungstechniken auf die Organisation der persönlichen Existenz Ernst Robert Curtius, Goethes Aktenführung. In: Neue Rundschau 62,1951, H. II, S. 1 1 0 - 1 2 1 . 50 Jahre später bildet das Goethejubiläum erneut Anlaß zur Beschäftigung mit Goethes Existenz im Amt: Hannelore Schlaffer, Goethe im A m t . 1778. In: Neue Rundschau 110, 1999, S. 20-23.
52
Mann, Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag, S. 654. Vgl. Eckhard Heftrich, Geträumte Taten. »Joseph und seine Brüder«, Frankfurt a. M 1993, S. 15.
67
wiederum geprägt ist von der Nietzsche- und Schopenhauer-Lektüre seiner frühen Jahre. Mann vergleicht sein Verhältnis zu Goethe einmal sogar mit der Gottesnachfolge Josephs, so daß nicht nur eine intellektuelle Achse hergestellt, sondern auch die Autorsouveränität in spezifischer Weise recodiert wird. 9 3 In deutlicher Anspielung auf Goethes autobiographische Kritik am eigenen jugendlichen Alter bezeichnet Thomas M a n n seinen Josephs-Roman mehrfach als Altersroman und unterstellt ihm so - in Kontrast zum Jugendwerk Goethes - ausreichenden »Gehalt«. 94 Bevor der Roman selbst analysiert wird, ist es erforderlich, ihn in den spezifischen Kontext des Mannschen Œuvres einzuordnen: D i e Auslegung der Goetheschen Autorschaft steht hier im Vordergrund, anschließend werden mehrere intertextuelle Referenzen im Frühwerk aufgewiesen, die Autorschaft und Verwaltungstätigkeit zueinander in Beziehung rücken.
2.6.1
Zwischenspiel: >Lotte in Weimar< und die Josephskonstellation
M i t der Arbeit am Goethe-Roman >Lotte in W e i m a r s die zeitlich zwischen der Beendigung des dritten und dem Beginn des vierten Bandes der Josephs-Tetralogie liegt, vergewissert sich T h o m a s Mann seines Goethe-Bildes, das in einer Apotheose des Opfers und des christlichen Dogmas von der Fleischwerdung des Wortes kulminiert: D e m großen Dichter, dem Werk und seinem Wachstum, opfern sich zentrale Personen seines Lebensumkreises, die ihm als einem göttlichen Herrscher dienen; doch zugleich opfert sich der Autor - wie Gott - seinem eigenen Werk, das als eucharistisches Phänomen erscheint. 95 Der Künstler steht so in der Nachfolge Christi, wie Joseph diesen präfiguriert; es entsteht eine Reihe von >Auferstandenenfreien< Schriftsteller Thomas Mann vor allem ein symbolisch-theoretisches Modell, mit dem literarisch experimentiert werden kann. Goethe und Joseph verkörpern ihm die grundsätzliche Problematik menschlich-künstlerischer Existenz zwischen Geist und Leben. So hat der Gegensatz zwischen der positiven Bewertung der Berufstätigkeit Wilhelm Meisters und der negativen Beurteilung der Faustischen Naturbeherrschung, der ein Aspekt seiner verführten, erlösungsbedürftigen Existenz ist, einen Kern, der auf Goethes und Thomas Manns je unterschiedliche Lebenslaufkonstruktionen verweist. Für Thomas Mann ist die praktische, d.h. die nicht-künstlerische, nicht nur zeichenhafte Aktivität des Individuums ein metonymischer Signifikant für das Bürgerliche, das in komplizierten Differenz- und Spiegelbeziehungen den Gegenpol und das Attribut einer künstlerischen Existenzoption in der Moderne bildet. So verweist die Diskussion über Goethes Annäherung von künstlerischer Vorsorge und >ernsthafter< Tätigkeit im Staatsdienst in >Lotte in Weimar< zurück auf das frühe Werk >Königliche HoheitSorge< um die Zukunft des fiktiven Kleinstaates vollzieht. Damit entfaltet sich jenes intratextuelle Beziehungsfest,100 das zum Markenzeichen des Thomas Mannschen Schreibens wird und das die Selbstwahrnehmung und -Inszenierung des Autors grundiert. Das Scheitern der anachronistischen herrscherlichen Repräsentation manifestiert sich in Klaus Heinrichs solipsistischer Schein-Existenz,101 die erst in dem Moment eine Substanz erhält, da er sich von den polysemischen Repräsentationsszenen ab- und der Ehe und der Staatsverwaltung zuwendet. Fürstliche Repräsentanz ist im alteuropäischen Modell erst dann vollzogen, wenn sie genealogisches und praktisches Zeichenhandeln umfaßt und zueinander in Beziehung setzt. Daß sich die Ernsthaftigkeit des Heiratsantrages durch Handlungen im Feld der Staatsverwaltung erweist, ist die Bedingung fur eine märchenhafte Hochzeit, die die ökonomischen Schwierigkeiten des Landes auf einen Schlag beseitigt, so daß die volkswirtschaftliche >Sorge< ihren Gegenstand verliert. Klaus Heinrichs und Immas ökonomische Studien erweisen sich also ebenfalls als >bloß< zeichenhaftes Handeln, das im Ritual der Eheschließung und den damit verbundenen Folgen zwar seine praktische, nicht aber seine zeichenökonomische Notwendigkeit verliert.
100 101
Heftrich, Geträumte Taten. »Joseph und seine Brüder«, S. 5. Zum Ende der Repräsentation Eberhard Straub, Repraesentatio maiestatis. In: Staatsrepräsentation, hg. von Jörg-Dieter Gauger und Justin Stagi, Berlin 1992, S. 75-87. Vgl. dazu und zu den Wagner- sowie Nietzsche-Bezügen Jochen Strobel, Entzauberung der Nation. Untersuchungen zur Repräsentation Deutschlands im Werk Thomas Manns, Dresden 2000.
71
Hermann Kurzkes These, daß die politisch-ökonomische Sphäre nur den Vordergrund für den eigentlichen Künstlerroman bilde,102 greift somit zu kurz, zumal Kurzke später selbst die Sphäre des Volkswirtschaftlichen als Exempel für den »bürgerlichem Gegenbereich zur formalen Existenz des Künstler-Königs beschreibt. Ökonomie und Bürokratie stehen hier pars pro toto für das prosaisch-praktische >LebenLeben< ist als Verweis auf die persönliche und politische - und künstlerische - Zukunft notwendig, so daß sich die basale Dichotomie von Leben und Kunst, mit der Thomas Mann sein Werk wie seine Lebensschrift imprägniert, zu einer bipolaren Einheit verbindet. Größte Distanz und innigste Nähe zwischen Kunst und >Leben< machen die Extrema aus, ohne die das Gesamtwerk Thomas Manns nicht zu denken ist. So zeigen sich die Lebensferne und die dionysische Gefährdung des Künstlers im >Tod in Venedig« gerade in der bürokratisch-verwaltenden Weise, mit der Aschenbach sein Werk hervorbringt und seinen Ruhm bewirtschaftet.103 Der Protagonist der Novelle steht außerdem an einem genealogischen Knotenpunkt, wo sich eine Reihe von »Ofifiziere[n], Richter[n], Verwaltungsfunktionäre[n], [...] die im Dienste des Königs, des Staates ihr straffes, anständig, karges Leben geführt hatten« mit der »Tochter eines böhmischen Kapellmeisters« verbinden. »Die Vermählung dienstlich nüchterner Gewissenhaftigkeit mit dunkleren, feurigeren Impulsen ließ einen Künstler und diesen besondern Künstler erstehen«.104 Die topische Verbindung von asketischem Protestantismus105 und ekstatisch-katholischem Künstlertum hatte in >Die Buddenbrooks« ihre Eruptivkraft im Bereich des Unternehmertums entfaltet; hier zerstört sie einen Künstler, der sich mühsam den Habitus des einem unbestimmten Allgemeinen dienenden Bürokraten angeeignet hat. Aschenbachs Künstlerbeamtentum entspricht zwar seiner Herkunftsgeschichte, doch andererseits ist er dazu »nur berufen, nicht eigentlich geboren«.106 Dieser eigenartige Gegensatz zwischen zwei Polen, die in der abendländischen Semantik gemeinhin beide auf
102 IO
Hermann Kurzke, Thomas Mann. Epoche — Werk — Wirkung, München 1985, S. 83. ' Das Bild Goethes im Hintergrund ist vielfach bemerkt worden: Vgl. etwa Norbert Held, Thomas Manns >imitatio Goethes« aus dem Geist der Entsagung bei Goethe (Diss. Düsseldorf), Berlin 1995.
104
Thomas Mann, Der T o d in Venedig. In: Mann, Werke in 12 Bänden. Die Erzählungen 1, Frankfurt a.M. 1966, 1967, S. 338-399, hier: S. 342f.
105
Thomas Mann hat in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« Wert darauf gelegt, daß er das Bedingungsgefiige von asketischem Protestantismus und unternehmerischem Habitus selbständig, unabhängig von der zeitgenössischen Soziologie entdeckt habe. Vgl. Harvey G o l d m a n , Max Weber and Thomas Mann. Calling and Shaping of the Self. Berkeley, Los Angeles, London 1988, S. 1, Fn. 3. Ein Vergleich, wie ihn Goldman, M a x Weber and T h o m a s M a n n , durchfuhrt, kann deshalb keine genetischen, sondern nur strukturelle Zusammenhänge behaupten.
106
M a n n , Der T o d in Venedig, S. 343.
72
eine höhere, vom Individuum unabhängige Begabung, auf das Genie verweisen, rekurriert auf einen abstrakten Leistungsgedanken, der Aschenbachs Kiinstlertum das Angestrengte gibt und der in einer - internationalen - Öffentlichkeit gegründet ist, die Ansprüche auf Repräsentation und die »Verwaltung« 107 des Ruhms an den Künstler stellt. Autorschaft als Amt hat sich in der Moderne jedoch von allen konkreten Repräsentationsritualen gelöst und manifestiert sich in einer >kalten< bürokratischen Verfahrensweise, die sich sowohl auf den topischen Kontrast von apollinischem und dionysischem Künstlertum abbilden läßt als auch den Gegensatz von mönchischer Disziplin und mystischer Verzückung in Erinnerung ruft. Als Metapher für eine im Zeichen der Desinvolture stehende bürokratieaffine Mitschrift läßt sich im übrigen auch die herrenlose Kamera am Ende der Novelle interpretieren. 108
2.6.3
Joseph und seine Brüder:
Die Oppositionen von Ordnung und Ausbruch prägen auch den Josephs-Roman, der jedoch mehr ist als die Humanisierung des Mythos gegenüber nationalsozialistischen Vereinnahmungsversuchen und mehr als die Apotheose Roosevelts als guter Herrscher im Kontrast zur Diktatur Hitlers. 109 In ihm kulminiert die Reflexion politischer und künstlerischer Souveränität, die sich gegenüber dem Mythos der Providenz und dem wiederholten Erzählen des Mythos profiliert. Vor allem seine erzähltechnische Komplexität charakterisiert einen Roman, der in der Beschränkung bzw. der Ersetzung des Souveräns durch den Ratgeber und Exekutor auf einem hohen Niveau das Verhältnis von Individualität und Institution als Analogmodell für Autorschaft und vorgebene narrative Strukturen reflektiert. Allerdings stellt sich zuletzt die Frage, ob dies den Rückfall in eine anachronistische politische Theologie verhindern kann.
2.6.3.1 Mythos, Mitschrift und Roman Es ist zunächst bemerkenswert, daß sich die umtriebige Thomas-Mann-Forschung bislang nicht um stoffbezogene Quellenvergleiche bemüht hat. O b Thomas Mann
107
Mann, Der T o d in Venedig, S. 343.
108 10
Für diesen Hinweis danke ich Michael Neumann, Dresden. 9 Das ist wohl die Position in den Briefen an Karl Kerényi, im Vortrag J o s e p h und seine Brüden, doch kann trotz zugestandener Konzeptionsänderung kein simpler Fortschritt v o m Individuum zur Politik konstatiert werden: Vgl. dagegen Klaus Schröter, V o m Roman der Seele zum Staatsroman. Z u Thomas Manns >JosephGottessorge< in J o s e p h , der Ernährern In: Werk und Wirkung Thomas Manns in unserer Epoche, hg. von Helmut Brandt und Hans Kaufmann, Berlin/Weimar 1978, S. 229—248.
73
also Grimmelshausens und von Zesens Josephsromane zur Kenntnis genommen hat, bleibt ungeklärt, ist aber eher unwahrscheinlich. 110 Statt dessen werden als engere Kontexte für Thomas Mann die Schopenhauersche Metaphysik, 111 seine BachofenRezeption, 112 die zeitgenössischen Mythos-Konzeptionen" 3 und die Bewunderung der Rolle Roosevelts und ihre Überhöhung in eine Art politischer Künstlerschaft 114 in Anschlag gebracht.
110
Die Register der einschlägigen Tagebuchbände nennen Zesen und Grimmelshausen nicht, auch die Quellenforschungen haben diese intertextuellen Bezüge nicht als Quellen im engeren Sinne dingfest machen können.
111
Z u r Verarbeitung von Schopenhauer in Verbindung mit Dacqués >Urwelt, Sage und Menschheit< (München 1924) D(mitri) Mereschkowskis >Die Geheimnisse des Ostens< (Berlin 1924), Alfred Jeremias' >Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients< (3.Aufl. Leipzig 1916), D . M . Mereschkowskis >Tolstoj und DostojewskiTod in Venedig< und zur >JosephPariser Rechenschaft als protofaschistischen Obskuranten attackiert hat. O b Thomas Mann damit seine eigene Vergangenheit ad acta legt und Baeumler in die Arme seiner Gegner treibt, steht hier nicht zur Debatte. Vgl. Marianne Baeumler, Hubert Brunträger und Hermann Kurzke, Thomas M a n n und Alfred Baeumler. Eine Dokumentation, Würzburg 1989. - Hubert Brunträger, Der Ironiker und der Ideologe. Die Beziehungen zwischen Thomas Mann und Alfred Baeumler, Würzburg 1993. Weniger auf die persönliche Ebene und mehr auf die quellenkritischen Fragen eingehend Dierks, Studien zu Mythos und Psychologie. - Helmut Koopmann, Vaterrecht und Mutterrecht. Thomas Manns Auseinandersetzung mit Bachofen und Baeumler als Wegbereiter des Faschismus. In: Text + Kontext 8,1980, S. 266-283. — Eckhard Heftrich, Matriarchat und Patriarchat. Bachofen im Joseph-Roman. In: Thomas-Mann-Jahrbuch 6,1993, S. 205-221. - Elisabeth Galvan, Zur Bachofen-Rezeption in Thomas Manns »Joseph«-Roman, Frankfurt a . M . 1996. — Vgl. jetzt auch Wolters, Zwischen Metaphysik und Politik, S. 7if. Hermann Kurzke, Dichtung und Politik im Werk Thomas Manns von 1914—1955. In: L W U 1 6 , 1 9 8 5 , S. 153—169, 225—243. — V o r allem zu J u n g und Freud in der Josephstetralogie Charlotte Nolte, Being and Meaning in Thomas Mann's >Joseph< Novels, Leeds 1996. Es bleibt aber ungeklärt, ob diese Autoren eine quellenkritische oder analytische Rolle spielen.
114
T h o m a s M a n n , Franklin Roosevelt. In: Reden und Aufsätze 4, Frankfurt a.M. i960, 1974, S. 941-944, hier: S. 942: »Ich habe Roosevelt wohl einen >shrewd politician* schelten hören. N u n , er war es: ein geborener Adept der Politik, die man die >Kunst des Möglichen genannt hat, und die ja in der T a t eine kunstähnliche Sphäre ist, in sofern sie, gleich der Kunst, eine schöpferisch vermittelnde Stellung einnimmt zwischen Geist und Leben, Idee und Wirklichkeit, dem Wünschenswerten und dem Notwendigen, Gewissen und Tat, Sittlichkeit und Macht.« Vgl. Mann, Sechzehn Jahre. Z u r amerikanischen Ausgabe von J o s e p h und sein Brüder* in einem Bande. In: Reden und Aufsätze 3, S. 669—681, hier: S. 680. — Vgl. Thomas M a n n , Brief an Agnes Meyer, 20.8.42. In: Thomas M a n n Agnes E. Meyer. Briefwechsel 1937—1955, hg. von Hans Rudolf Vaget, Frankfurt a.M. 1992, S. 428—430. - Vgl. Wolters, Zwischen Metaphysik und Politik, S. 302ff. Heftrich, Geträumte Taten, S. 8: Dieses Analogieverfahren erinnere an Flaubert, den Thomas
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Im Unterschied zu den semantischen und geschichtsphilosophischen Reflexionen über das Verhältnis von Mythos und Aufklärung, die sich bei Thomas M a n n und vielen Interpreten an aufgeladene sexuelle und mythogeographische Zuordnungen anlagern, soll Mythos hier vor allem als formal-strukturelles, d.h. als erzähltechnisches und mediales Phänomen interpretiert werden; damit ist der Anschluß an das analytische Potential des strukturalistischen Mythos-Begriffs gewährleistet; Lugowskis Begriff des »mythischen Analogons« kann als ein Fluchtpunkt der poetologischen Selbstreflexion des Textes ausgemacht werden. Dabei vermag die Selbstreflexion der erzählerischen Instanz den Mythos, d.h. die Wiederholungsstruktur des zyklischen Weltverständnisses und einer oralen Tradition zu transzendieren, indem die Semantik als Korrelat der mythischen Syntax erklärt wird. Die narrative Grundstruktur wiederholt sich nämlich auf der inhaltlichen Ebene: So wie sich die Bindung an die vorgegebenen Versionen der Josephsgeschichten als Freiheit erweist, mit ihnen souverän zu spielen, so erweist sich der Beamtendienst Josephs als Kraftfeld für die spielerisch-souveräne Durchsetzung eigener, familiärer und religiöser Ziele. Etwa in der Mitte des Textes behauptet indes der Erzähler des Josephsromans die Priorität des fraglos Geschehenen, einer von der Erzählung und Tradierung unabhängigen Realität: »Niemals sind wir darauf ausgegangen, die Täuschung zu erwecken, wir seien der Urquell der Geschichte Josephs. Bevor man sie erzählen konnte, geschah sie [...].« Unmittelbar im Anschluß an die Prioritätsthese aber wird in einer kühnen Verknüpfung der Partizipialform des einen und der Reflexivform des anderen Verbs die eben noch bestrittene Koinzidenz von Geschehen und Erzählen behauptet: »[...] sie quoll aus demselben Born, aus dem alles Geschehen quillt, und erzählte geschehend sich selbst.« 1 ' 5 Damit wird der Ursprung der Geschichte in Analogie und Differenz zum bürokratischen Verfahren der Mitschrift beschrieben. Die protokollierende Mitschrift besitzt hier keinen beobachtend-verstehenden Protokollanten, sondern vollzieht sich als Effekt des Geschehens selbst; damit entspricht sie dem seit den 1920er Jahren verstärkt diskutierten bürokratischen Ideal eines maschinellen Aufschreibesystems," 6 das keinen Autor, keinen Anfang und kein Ende besitzt. Die Anspielung auf das bereits im Prolog verwendete Bild des »Brunnens« der Vergangenheit zeigt, daß weder dem Geschehen noch dem Erzählen ein fixierbarer Anfang zuzuordnen ist. Damit verweist das Erzählen einerseits auf
Mann sonst wegen dessen >archäologischen Brokats< kritisiere. (XI, 626). — Vgl. Frank Fechner, Die Gestalt des Staatslenkers bei Thomas Mann. In: Dichter, Denker und der Staat. Essays zu einer Beziehung ganz eigener Art, hg. von Michael Kilian, T ü b i n g e n 1993, S. 129—154. — Paul Ludwig Sauer, Gottesvernunft. Mensch und Geschichte im Blick auf Thomas Manns »Joseph und seine Brüder«, Frankfurt a.M./Berlin/Bern/New York u.a. 1996, S. 5I4ÍF. "s
Thomas M a n n , Joseph und seine Brüder, Frankfurt a.M. i960, 1974. S. 827. Die Zitate werden im folgenden belegt durch die Sigle J und die entsprechende Seitenzahl in nachgestellten Klammern.
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Vgl. Kap. 4 dieser Untersuchung. 75
den göttlichen Schöpfungsprozeß, der sich in der Gleichzeitigkeit von Sagen und Machen manifestiert, andererseits widerspricht es ihm: Der souveräne Akt des Beginnens verliert sich in >Beginnlosigkeites geschiehtMeer der Aktenbloßen< Metonymien und Serien erforschen und protokollieren, ohne diese Degradierung in einer geschichtsphilosophischen Verlaufsthese zu fixieren. Hierarchische Verhältnisse lösen sich auf in Relationen von Kontiguität und Serialität, was Konsequenzen für personale, technische, sprachliche und literarische Zeichenprozesse hat. Damit ließe sich Roman Jakobsons Gegenüberstellung von Metapher und Metonymie12 präzisieren und an der fiktionalen Welt Kafkas überprüfen. Die Synekdoche, für Jakobson ein Spezialfall der Metonymie, würde zusammen mit der Metapher der Metonymie gegenübergestellt, die nun keinerlei Totalitätsreferenz mehr impliziert. Mit dieser These werden Bedeutungszuschreibungen der Art >Die Bürokratie bei Kafka steht für ...< abgewehrt; wie leicht zu erkennen ist, unterlaufen die Texte Kafkas, wenn die These von der Exploration der Stellvertretung zu belegen ist, solche Bedeutungszuschreibungen, ohne in die reine Selbstbezüglichkeit des autonomen Zeichens oder Kunstwerks zu verfallen. Die Stellvertreter- und Repräsentantenfiguren bilden so einerseits die prosopopoetische Trope des Zeichens und andererseits die Trope einer performativen Schrift, einer Konstellation von intervenierenden Zeichen.
3.2
Bürokratie bei Kafka - Probleme der Forschung
Der Blick auf die Forschung zeigt, daß das >kleine ThemaDer Bau< and the Dialectic of the Bureaucratic M i n d . In: P M L A HI, 1996, S. 256—270. — Niels Werber, Bürokratische Kommunikation. Franz Kafkas Roman >Der Proceßunpassenden< Instrumentarium seziert werden. Weitergehend wird die medizinisch-pathologische Metaphorik des Vorwurfs in den Tadel übersetzt, daß der poetische Text bloß in einen wissenschaftlichen >Jargon< übertragen werde. Wie angemessen dieser Vorwurf ist, wird jedoch systematisch ausgeklammert. Tatsächlich >entfernt< sich jede metasprachliche Beschreibung von ihrem Gegenstand, jede vermeintliche textnahe Auswahl und Kombination von Zitaten ist >theorieKafka. Für eine kleine Literatur< dezidiert gegen jede >Deutung< der Kafkaschen Texte ausgesprochen: Sowohl die allegorische Lektüre als auch die strukturale Beschreibung verfehlten die Kafkaschen Protokolle und ihre Bewegungen, denen es
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Vgl. dagegen jetzt, unter Bezugnahme auf Herders Konzept der Paraphrase, Ralf Simon, Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1998, S. i6yff. Vgl. Peter Pfaff, Die Erfindung des Prozesses. In: Verteidigung der Schrift. Kafkas >ProzeßDer Proceß< in Erscheinung tritt, zweifellos leichter als metaphorisches Zeichen ftir etwas anderes zu deuten als die >SchloßProceß< den Blick zwischen innerweltlichinstitutionell zugeschriebener und transzendentaler Schuld oszillieren läßt, fehlt in >Das Schloßs so daß metaphorische Deutungen forcierter durchgeführt werden müssen. 93
ihrerseits nur um Beschreibung von Experimenten, nicht um ihre Deutung gehe. 2 6 Deleuze und Guattaris Verweis auf die rhizomatische, maschinenhafte und serielle Struktur des Werkes, die die Hierarchisierung der Referenzen verbietet und statt dessen zu einem ständigen Ineinanderübergehen der wuchernden familiär-ödipalen und bürokratischen Dreiecke führe, trifft wohl eine Eigenart des gesamten Kafkaschen Œuvres, das die im engeren Sinne literarischen Texte überschreitet, vernachlässigt aber die eigene konstruktive Dimension, die Serialität auf Kosten der verhandelten Zeichenprozesse präferiert: M a n kann eben nicht nicht >deutenRhetorik< des Textes zu beobachten. Außerdem ist hinzuweisen auf die relative Autonomie eines literarischen Werkes, das eben die genannten Aporien aus sich hervortreibt und das jede biographistische, realistisch-metonymische oder metaphorische Lektüre in Zweifel zieht. Natürlich ist keine konkret existierende Bürokratie Gegenstand der Texte Kafkas, weder die seiner Berufstätigkeit noch die seiner historischen Umwelt, aber es wird eine fiktionale Welt mit Zügen einer Bürokratie entworfen, die dem Leser realistische Konkretisierungen ermöglicht und zugleich verbietet. 29 Eine Lektüre, die, wie hier vorgeschlagen, die Fragen von Stellvertretung 30 und von Individualität und Kollektivität in das Zentrum der literarischen Bürokratiefiktionen rückt, müßte schließlich zeigen, daß diese kein Programm der Unentscheidbarkeit durchführen, das metonymisch-realistische und metaphorisch-allegorische Deutungen unvermittelt nebeneinander stellt, sondern daß die Texte mit diesen formalen und inhaltlichen Gegensätzen spielen, um Individualität und Schreiben mitschreibend auf die Spur zu kommen. 3 1 Die Ermittlung eines mehrfachen Schriftsinns soll in ihrer latent selbstwider16
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Gilles Deleuze and Félix Guattari, Kafka. Toward a Minor Literature, Minneapolis/London 1986. Vgl. Bernd Scheffer, Interpretation und Blamage. >Vor dem Gesetz< — Präambeln aus konstruktivistischer Sicht. In: Neue Literaturtheorien in der Praxis. Textanalysen von Kafkas >Vor dem Gesetzohne eine Interpretation dazwischen zu mengen«. In: Ästhetik im Prozeß, hg. von Gerhard Rupp, Opladen 1998, S. 53-83. Vgl. gegen Binders Ablehnung einer bürokratiekritischen Lektüre Andrew Weeks, Kafka und die Zeugnisse vom versunkenen Kakanien, S. 32off. — Vgl. jetzt vor allem Benno Wagner, Odysseus in Amerika. List und Opfer bei Horkheimer/Adorno und Kafka. In: Jenseits instrumenteller Vernunft. Kritische Studien zur Dialektik der Aufklärung, hg. von Manfred Gangl und Gérard Raulet, Frankfurt a.M., New York u.a. 1998, S. 207-224. Eher am Rande findet sich der Verweis auf die Häufigkeit der Stellvertreterfigur bei Ulf Abraham, Der verhörte Held. Verhöre, Urteile und die Rede von Recht und Schuld im Werk Franz Kafkas, München 1985, S. 53-55. Zuerst Gerhard Neumann, Umkehrung und Ablenkung. Franz Kafkas »Gleitendes
sprüchlichen Dimension an Kafka nicht nachvollzogen, sondern als Thema mit bürokratietheoretischen Implikation identifiziert werden. Sie ist eine gelehrte Übung Alteuropas, die die jüdische Tradition einschließt, auf die bei Kafka zweifellos angespielt wird, 32 die aber ihre disziplinierende Autorität in der hermeneutischen Moderne und bei Kafka im besonderen verloren hat. Dasselbe gilt aber auch für die Suche nach einem einheitlichen Sinn, der in einer Abgleichung von Teil und Ganzem ermittelt wird. W e n n weder Eindeutigkeit noch geregelter mehrfacher Schriftsinn ermittelbar sind, dann ist genau dieses Dilemma analytisch fruchtbar zu machen, ohne es dekonstruktivistisch bloß zu affirmieren. D a ß Kafka bürokratische Phänomene beschreibt, ist nämlich nicht nur im Sinne eines soziologischen und historischen Realismus oder als Provokation einer allegorischen Lektüre, sondern vor allem als Vergleichs- und Gegenüberstellungsverfahren von Literatur und Bürokratie bedeutsam, wo diese jene ins Licht hebt, um sie als Medium fiir eine literarisch-thematische Selbstreflexion kenntlich zu machen. Um diese These plausibel zu machen, verbinden sich close reading und behutsame Kontextualisierung; zunächst werden biographische Dokumente im Hinblick auf die Darstellung von Bürokratie überprüft, schließlich zwei kürzere Texte aus dem Nachlaß, deren Thema nicht explizit die Bürokratie ist, die aber offenkundig zeitgenössische Bürokratie-Diskurse mitschreiben, in ihrer bürokratietheoretischen Dimension gedeutet. Danach folgt eine auf die Vertretungsstruktur konzentrierte Lektüre der >Verwandlung< und schließlich die bürokratieorientierte Analyse der drei großen Romanfragmente. Das Kontinuum des Kafkaschen Schreibprozesses tritt dabei notwendigerweise gegenüber den thematischen Rekurrenzen in den Hintergrund. Ziel ist eine >offeneProceßMannes ohne Eigenschaften^ jene mehrfach gerahmte Schilderung eines Verkehrsunfalls in Wien im ersten Kapitel, das als >Eine Art Einleitung« überschrieben ist und mit dieser Überschrift eine ironische Distanzierung von traditionellen narrativen Mustern vollzieht, wird versicherungstheoretisch codiert. An ihrem Anfang steht jedoch die Inszenierung einer reinen Beobachtung, die später mit der traditionellen Bienentopik gekoppelt ist (»wie die Bienen um das Flugloch [...]«), die gemeinhin das Vermögen des Dichters zur imitatio und aemulatio klassischer Vorlagen bezeichnet, hier aber das großstädtische Massenverhalten beschreibt: »Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Reihe gesprungen, eine quer schlagende Bewegung; etwas hatte sich gedreht, war seitwärts gerutscht [...].« Die reine Sensation wird ergänzt durch die Deutung und die Einordnung des Geschehens in bekannte Wahrnehmungsmuster: Das Geschehen stellt sich als Unfall eines Lastwagens heraus, der »aus der Bordschwelle gestrandet« ist. Die nautische Metaphorik verweist auf die historischen Ursprünge des Versicherungswesens, und auch dieser Schiffbruch hat Zuschauer. Welchen Honig mögen die Dichter aus dem Geschehen saugen? Konkurrierende Erklärungen für das Geschehen werden angeboten: Während einerseits die »Unachtsamkeit« des Fußgängers verantwortlich gemacht wird, macht »der Herr« ein technisches Faktum dingfest: »Die schweren Kraftwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg«. Diese Konkurrenz der Erklärungen wird schließlich aufgehoben durch die Einordnung des Geschehens nicht nur in »irgendeine Ordnung«, sondern in eine »amerikanische Statistik«, die das plötzliche, momenthaften Unterbrechen der Ordnung in ein »gesetzliches und ordnungsmäßiges Ereignis« verwandelt. Ewald, Vorsorgestaat, S. 443ff.
Öffentlichkeit und Volkspropaganda in der Differenz von Wort und Tat gestalten. Auf diesem Hintergrund degeneriert der Geist der Utopie zur Hoffnungspolitik, zu einem reklamehaften Werkzeug der Massenmobilisierung unter anderen. Die Vereinzelung im Inzest wie bei Musil, im Tierwerden wie bei Kafka ist die atopische Fluchtbewegung aus dem Gespinst einer Macht, die Versicherung und Statistik an die Stelle von Gesetz und Strafe rückt. Unter Betonung der inklusiven Implikationen einer normalistischen Macht zitiert Kafka in einem Brief an Max Brod eine Passage aus einem Brief an Feiice Bauer, die mit einer erstaunlich deklarativen Rhetorik das Bekenntnis des epistolarischen Ichs zu einem Lebensziel enthält. Ob sie ein besonderes Maß an Selbsterkenntnis bekundet, bleibt nebensächlich gegenüber der Einschränkung der juristischen und theologischen Begriffe von Schuld und Sünde einerseits und der Funktionalisierung der Literatur im Rahmen eines innerweltlichen Gerichtsverfahrens andererseits: Er strebe nicht danach, »ein guter Mensch zu werden und einem höchsten Gericht zu entsprechen, sondern, sehr gegensätzlich, die ganze Menschen- und Tiergemeinschaft zu überblicken, ihre grundlegenden Vorlieben, Wünsche, sittlichen Ideale zu erkennen«. Diese panoptische Erkenntnis von Kultur und Natur soll dann in einer Art Bildungsprozeß dahin führen, »daß ich durchaus allen wohlgefällig würde und zwar - hier kommt der Sprung - so wohlgefällig, daß ich, ohne die allgemeine Liebe zu verlieren, schließlich als der einzige Sünder, der nicht gebraten wird, die mir innewohnenden Gemeinheiten offen, vor allen Augen ausführen dürfte. Zusammengefaßt kommt es mir also nur auf das Mensch- und Tiergericht an und dieses will ich überdies betrügen, allerdings ohne Betrug.«41 Kafkas Literatur, fälschlicherweise so oft als reine Schrift apostrophiert, erweist sich hier als eine durch und durch soziale Handlung, die in ein paradoxes Betrugsunternehmen verflochten ist. Das normativ verurteilende und verbietende Gericht der »Menschen- und Tiergemeinschaft< verwandelt sich in Kafkas Vision unter dem Einfluß seiner um Gewogenheit buhlenden Literatur zu einer individuellen, alle Verhaltensweisen des Subjekts umfassenden Lizenz. Der literarische Betrug mittels Transparenz im Gegensatz zum Betrug mittels Verstellung und Opazität kennzeichnet diese Selbstbeschreibung einer Existenz, die Schrift einsetzt, um das Subjekt der Gemeinschaft anheimzugeben und es zugleich von ihr so zu distanzieren, daß die Grenze unüberschreitbar ist. Göttliches Recht verwandelt sich nach Vermittlung der statistischen Erkenntnis in ein menschliches Gericht, das die individuellen >Sünden< nicht mehr bestraft, sondern registriert, Nomalitätskurven zuordnet und verwaltet. Die Literatur nimmt der Macht ihr verbietendes und strafendes Gesicht und zeigt ihr bewilligendes Antlitz. Wo Thomas Mann den Geschichten und der Einbildungskraft die Potenz zur staatlichen Vorsorge zugeschrieben hat, verwandelt Kafka die Literatur in eine Mitschrift jener neuen Macht, die individuelle Lizenz im
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Kafka, Briefe, S. 178.
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Zeichen einer statistischen Normalität und Unvertretbarkeit beobachtet, anstachelt und kontrolliert. Ein Brief und eine Tagebucheintragung entfalten die zugleich realistisch-metonymische wie metaphorisch-symbolische Wahrnehmung bürokratischer Phänomene durch Kafka: Autobiographische u n d gesellschaftliche Diagnose verknoten sich in einem Verwirr- und Verweisspiel, das nur partiell und exemplarisch aufgelöst werden kann. In einem Brief an seinen Freund Oskar B a u m vom J u n i 1922, also kurz vor seiner endgültigen Pensionierung, beschreibt Kafka seine Erfahrung bei Beantragung und Erhalt eines neuen Passes und verbindet dies mit einer bilanzierenden Aussage über sein Verhältnis zur Bürokratie: [...] wunderbar ist die neue Paßausgabereform, unerreichbar sind für die sich nachtastende Deutung die Steigerungen, deren die Bureaukratie fähig ist, und zwar notwendige, unvermeidliche Steigerungen, hervorgehend aus dem Ursprung der Menschennatur, dem ja, an mir gemessen, die Bureaukratie näher ist als irgend eine soziale Einrichtung, sonst die Einzelheiten zu beschreiben ist zu langwierig, fur Dich nämlich, der nicht zwei Stunden im Gedränge auf einer Bureautreppe glücklich war über einen neuen Einblick ins Getriebe und der bei der Übernahme des Passes bei Beantwortung einer belanglosen Frage gezittert hat in wirklichem tiefen Respekt (auch in gewöhnlicher Angst, allerdings aber auch in tiefem Respekt). [Hervorhebungen durch Vfn., K. St.] Die Verbindung des der bürokratisch-juristischen Fachsprache angeglichenen Kompositums »Paßausgabereform« mit dem Adjektive »wunderbar« verweist ironisch auf den Kontrast zwischen literarischer und bürokratischer Sprache, 4 1 der überbrückt wird durch das doppeldeutige Substantiv »Steigerung«: Es kann nämlich, wenn man den sachlichen Kontext berücksichtigt, zum einen die Zunahme von Komplexität eines bürokratischen Apparates und seiner Verfahren, zum anderen aber die Rhetorik der Hyperbel bezeichnen, die der T e x t durch die qualifizierende Wiederholung des Begriffes »Steigerung« und das Adjektiv »unerreichbar« selbst verwirklicht. 4 3 D i e Einzelheiten des von Kafka erfahrenen reformierten Verfahrens der Paßausgabe sind aber weder der »Deutung« noch der Beschreibung zugänglich, sie sind keine lesbaren und keine an Leser adressierbaren literarischen Gegenstände. Der kulturelle Text >Paßausgabereform< ist eben deshalb so »wunderbar«, weil er fur die »nachtastende Deutung« prinzipiell unerreichbar ist — so wie das Letztsignifikat der Sprache. D e r Unendlichkeit der hermeneutischen B e m ü h u n g e n entspricht die Langwierigkeit der Beschreibung, die einem Adressaten, der nicht selbst die Diskrepanz zwischen dem »Gedränge« auf der Bureautreppe und dem »Einblick ins Getriebe« erfahren hat, nicht zuzumuten ist.
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Vgl. dazu Kremer, Erotik, S. 153: Die Faszination von Kafkas Sprache gründe »in der schwer greifbaren Spannung zwischen schlichter Klarkeit der Aussage, die sich auch vor den sperrigsten Nominalphrasen des Kanzleistils nicht scheut, und relativierenden Konjunktiven und hypothetischen Partikeln.« Vgl. dazu Heinemann, Kafka's Oath of Service, S. 2$6ff.
Aber in welcher Hinsicht unterscheiden sich »Gedränge« und »Getriebe«? Die Unordnung, die die Treppe als >Vorraum der Macht< hier kennzeichnet, unterscheidet sich vom opak bleibenden Getriebe zunächst durch den ihr nicht zukommenden Anspruch auf Deutung, der offensichtlich mit dem von Kafka angesprochenen »Respekt« vor den bürokratischen Institutionen zu tun hat. Dieser Respekt kommt der Bürokratie, wenn man >Getriebe< auf dem Hintergrund der impliziten topischen Maschinenmetaphorik betrachtet, offensichtlich aufgrund ihrer Intentionalität, ihrer Komplexität und ihrer Zweckgerichtetheit zu. Die neuzeitliche Verwendung der Maschinenmetapher für den Staat und seine Institutionen kann seinen Schöpfer oder ersten Beweger, aber auch die Funktionalität der Instanzen und Dienstwege betonen: 44 Wenn die Steuerungsmechanismen selbst einer Deutung zugänglich wären, könnte man eine schöpferische Instanz und eine Steuerung des bürokratischen Apparates unterstellen, der diese in eine triviale Maschine mit berechenbarem Output verwandelte. Tatsächlich aber ist der Deutungsprozeß ein unendlicher, der die bürokratischen Stellvertretungsstrukturen nie vollständig erfaßt, und gleicht damit der Deutung eines literarischen, eines heiligen Textes und seiner unendlichen Zeichen- bzw. Signifikantenketten. Diese Annäherung von bürokratischer Struktur und literarischem Text führt nach der Bildlogik zu folgendem Ergebnis: Der - ironisch - ins Spiel gebrachte »Respekt« verweist auf Autorität und Autorschaft, die einem kulturellen wie einem literarischen Text durch die unendlichen Deutungsrituale erwiesen werden. Die Souveränität, die man jedoch gemeinhin mit Autorschaft und unendlicher Deutung verbindet, wird hier an eine anthropologische Instanz delegiert, an den »Ursprung der Menschennatur«, aus dem die Steigerung der Bürokratie wie die Hyperbeln eines Textes hervorgehen. Die Verdopplung des Ursprungsgedankens - der Ursprung der Menschennatur ist Ursprung der Bürokratie - bindet zwar Bürokratie an den Menschen und umgekehrt, läßt aber beider gemeinsame Herkunft im Dunkeln. Interessant ist die autobiographische These, die Kafka daran knüpft: Diesem gemeinsamen Ursprung sei die Bürokratie »näher« als jede andere menschliche Institution; das Maß für den Komparativ als Steigerungsform sei jedoch ausschließlich er selbst. Was aber hat es nun mit diesem Selbst, mit diesem Individuum auf sich, das als Maß für Institutionen herhalten muß, die per definitionem sozial, d.h. nicht individuell sind? Hier führt ein zweites, früheres Dokument weiter, eine Tagebucheintragung aus dem August 1916, aus einer Phase größter persönlicher und beruflicher Unsicherheit: Schlußansicht nach zwei schauerlichen Tagen und Nächten: Danke Deinem Beamtenlaster der Schwäche, Sparsamkeit, Unschlüssigkeit, Berechnungskunst, Vorsorge u.s.w. daß D u die Karte an F. nicht weggeschickt hast. Es ist möglich, daß D u sie nicht widerrufen
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Barbara Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. Z u r politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaates, Berlin 1986. — Dietmar Peil, Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart, München 1983.
ΙΟΙ
hättest, ich räume ein, es ist möglich. Was wäre der Erfolg? Eine Tat, ein Aufschwung? nein. Diese T a t hast D u schon einigemal vollzogen, gebessert hat sich nichts. Suche es nicht zu erklären; gewiß kannst D u alle Vergangenheit erklären, da D u doch nicht einmal eine Z u k u n f t wagen willst ohne sie vorher erklärt zu haben. Was eben unmöglich ist. Das was Verantwortungsgefühl ist und als solches sehr ehrenwert wäre ist im letzten Grunde Beamtengeist, Knabenhaftigkeit, vom Vater her gebrochener Wille. Das bessere, daran arbeite, das liegt unmittelbar vor Deiner Hand. Das heißt also, schone Dich nicht [...], denn schonen ist unmöglich, das scheinbare Schonen hat dich heute fast zugrundegerichtet. Es ist nicht nur das Schonen, was F., Ehe, Kinder, Verantwortung u.s.w. betrifft, es ist auch das Schonen, was das A m t betrifft, in dem D u hockst, die schlechte Wohnung betrifft, aus der D u Dich nicht rührst. Alles. Also damit höre auf. M a n kann sich nicht schonen, nicht vorausberechnen. [...] auf beiden Seiten Sorgen d.h. Unmöglichkeit der Berechnung. [...] Dich schwinge also auf, Dich bessere, der Beamtenhaftigkeit entlaufe, fange doch an zu sehn, wer D u bist, statt zu rechnen, was D u werden sollst. Die nächste Aufgabe ist unbedingt: Soldat werden. 4 ' D a s sich in der zweiten Person Singular a n k l a g e n d e u n d e r m a h n e n d e Selbst d i a g n o s t i z i e r t als in s e i n e m »letzten G r u n d e « l i e g e n d - u n d so i m i n d i v i d u e l l e n Fall d e n » U r s p r u n g d e r M e n s c h e n n a t u r « (s.o.) b i l d e n d - d e n » B e a m t e n g e i s t « u n d identifiziert diesen referentiell g l e i t e n d m i t E i g e n s c h a f t e n des K i n d e s b z w . des S o h nes, also d e s n o c h n i c h t a u s g e b i l d e t e n Selbst. D i e w e i t e r e E n t f a l t u n g dessen, w a s d e n B e a m t e n g e i s t des S e l b s t a u s m a c h t , b e d i e n t sich d e r O p p o s i t i o n v o n T a t u n d Passivität: A u f d e r S e i t e d e r T a t stehen d i e V e r l o b t e Feiice, » E h e , K i n d e r , V e r a n t w o r t u n g « , schließlich das S o l d a t w e r d e n , ein K o m p l e x , d e r d e n >Brief a n d e n Vater< a u s m a c h e n w i r d . A u f u n d m i t d e m B e g r i f f des V e r a n t w o r t u n g s g e f ü h l s >gleitet< 4é d e r T a g e b u c h t e x t z u r a n d e r e n Seite d e r D i f f e r e n z , w o sich m i t d e r Passivität d i e »Beamtenlaster der Schwäche, Sparsamkeit, Unschlüssigkeit,
Berechnungskunst,
V o r s o r g e « , d a s S i c h - S c h o n e n u n d das S o r g e n , w o d i e B e r e c h n u n g s k u n s t v e r s a g e n m u ß , v e r b i n d e n . E s ist d e r h y p o t h e t i s c h - k a l k u l i e r e n d e B l i c k in d i e Z u k u n f t , d e r B e a m t e n s c h a f t u n d Knabenhaftigkeit miteinander verbindet. W e n i g e r die indiv i d u a l p s y c h o l o g i s c h e D i a g n o s e , die d e m V a t e r e i n e e n t s c h e i d e n d e R o l l e zuweist, diese a b e r letztlich u n k e n n t l i c h m a c h t , 4 7 als d e r R e k u r s a u f die B i l d u n g s s e m a n t i k
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Franz Kafka, Tagebücher 1909—1923. Fassung der Handschrift, Frankfurt a.M. 1997, S. 6 2 0 Í — Vgl. auch den Brief an Kurt W o l f f vom 27. Juli 1917: »Dieses Letztere wird sich allerdings nach dem Krieg ganz und gar ändern. Ich werde meinen Posten aufgeben (dieses Aufgeben des Postens ist überhaupt die stärkste H o f f n u n g , die ich habe), werde heiraten und aus Prag wegziehn, vielleicht nach Berlin. Ich werde zwar, wie ich heute noch glauben darf, auch dann nicht ausschließlich auf den Ertrag meiner literarischen Arbeit angewiesen sein, trotzdem aber habe ich oder der tief in mir sitzende Beamte, was dasselbe ist, vor jener Zeit eine bedrückende Angst.« Kafka, Briefe, S. 158.
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Vgl. Erich Kleinschmidt, Gleitende Sprache, München 1992.
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Der Wille des Sohnes wird nicht von einem Vater-Subjekt gebrochen, sondern »vom Vater her«, aus der Phantasie eines familiären Raumes, der Verantwortung ebenso auflöst wie die bürokratische Organisation. — Vgl. auch die eigentümlichen Exkulpationsversuche im Brief an den Vater, S. 6: »Diese Deine übliche Darstellung halte ich nur so weit für
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ist hier bemerkenswert. Die Zukunftssorge ist nämlich immer auch eine spezifische, von Kafka an anderer Stelle dingfest gemachte »Sorge um sich«, 48 ein Kalkül auf die Z u k u n f t und keine Erkenntnis der Gegenwart. Der väterliche Stachel zwingt den schon erwachsenen S o h n in die Unruhe einer Bildung, die untrennbar mit endlosem Aufschub, Zögerlichkeit und Untätigkeit verbunden ist. Es gilt hier der sich selbst dementierende Befehl moderner Bildung, Werde, der du werden sollst oder Werde, der du werden kannst, der Perfektion auflöst in die Gleichwahrscheinlichkeit von Perfektion und Korruption. 4 9 D a m i t hätte auch die mit Selbstermahnungen verknüpfte Selbstbeschreibung Kafkas ex negativo noch teil an jener Kopplung von Bildungsdiskurs, Dichterschaft und Beamtentum, nun aber am Rand der deutschen Kultur formuliert, wo sie eine negative Intensität gewinnt, die im 20. Jahrhundert ihresgleichen sucht.
3.4
Kafkas >Der Baus >Beim Bau der chinesischen Mauer* und Alfred Webers >Der Beamte*
Die Vision der Soldatenexistenz im Tagebuch, die Kindheitswurzeln hat 5 ° und der Kafka während des Krieges tatsächlich versucht hat zu folgen, beschwört noch einmal die alteuropäische Oberschichtensemantik herauf, aus der die moderne Beamtenschaft nach Alfred Webers Essay >Der Beamte* aus dem Jahr 1910 entsteht, von der sie sich aber zugleich weit entfernt hat. Webers kulturkritische Arbeit, die in der von Kafka bekanntlich regelmäßig gelesenen >Neuen Rundschau* erschien, bildet zusammen mit der später punktuell zu behandelnden Arbeit >Bureaukratie< (1904) des galizischen Publizisten Josef Olszewski 5 ' einen identifizierbaren Kontext mit einer sehr großen Wahrscheinlichkeit der Rezeption u n d U m a r b e i t u n g durch
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richtig, daß auch ich glaube, Du seist gänzlich schuldlos an unserer Entfremdung. Aber ebenso gänzlich schuldlos bin auch ich.« Franz Kafka, Brief an den Vater, Frankfurt a.M. 1980, S. 53: »Mich beschäftigte nur die Sorge um mich«. — Vgl. die Konkretisierungen und die Hinweise auf die Alterität der antiken Sorge um sich bei Michel Foucault, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt a.M. 1997 (5. Aufl.), S. 6zff. Vgl. Günther Buck, Unbestimmtheit und Bildsamkeit. Der Ursprung der Pädagogik im Grundaxiom der neuzeitlichen Anthropologie. In: Buck, Rückwege aus der Entfremdung. Studien zur Entwicklung der deutschen Bildungsphilosophie, Paderborn/München 1984. S. 135—153. Gezeigt wird, daß diese Kopplung von Perfektibilität und Korruptibilität eine in Deutschland oft ignorierte basale Komponente des BildungsbegrifFes ist. Kafka, Brief an den Vater, S. 11 Darauf verweisen Heinemann, Kafka's Oath of Service, S. 259, und Klaus Hermsdorf, Land und Stadt. Soziotopographische Aspekte in Franz Kafkas >Vor dem Gesetz«. In: Neue Literaturtheorien in der Praxis. Textanalysen von Kafkas >Vor dem Gesetzklassischer< Bürokratietheorien entwickelt sich in Kafkas Texten jedoch eine vorgreifende Hermeneutik der normalistischen Verwaltungsverfahren, die mit der Einheit der Differenz von Metonymie und Synekdoche >spieltaufsaugtgeopfertDer Bau« und in >Beim Bau der chinesischen Mauer< an. Sie deuten gerade in der Differenz zu ihrem vermutlichen Herkunftskontext die Spezifik der Kafkaschen Bürokratiefiktionen, wie sich sich in den Romanfragmenten dann breit manifestieren, bereits an. Z u m Begriff des Baus gelangt Alfred Weber durch seine Unterscheidung von falscher und richtiger Berufsaskese. U m sich von den »deutschen theokratisierten Bureaukraten« zu befreien, dürfe es nicht darum gehen, jedes Berufsethos aufzugeben,
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Alfred Weber, Der Beamte. In: Die Neue Rundschau 21, 1910, S. 1321-1339. - Vgl. dazu, allerdings nur unter Berücksichtigung eines hier weniger einschlägigen Kafka-Textes, Astrid Lange-Kirchheim, Franz Kafka »In der Strafkolonie« und Alfred Weber »Der Beamte«. In: G R M 27, 1977, S. 202-221. - Derlien, Bureaucracy in Art and Analysis: Kafka and Weber. Ders., Bürokratie in der Literatur und Soziologie der Moderne, S. 44-61. Weber, Der Beamte, S. 1332. Weber, Der Beamte, S. 1334. Weber, Der Beamte, S. 1325.
Weber, Der Beamte, S. 1327. 57 Weber, Der Beamte, S. 1326. 58 Weber, Der Beamte, S. 1328.
doch könne es »nur noch ein sekundäres Mittel bilden [...], uns zu entfalten.« Auch die »Stählung«, die mit amtlicher Stellvertreterschaft verbunden sei, nämlich »stets mit Uberwindung innerer und äußerer Widerstände täglich grade das zu tun, was einem ganz von innen fremd ist«, darf nicht aufgegeben werden, sondern muß als »Unterlage«, jedoch nicht als »Ziel« des Lebens verstanden werden, »als Selbstverständliches, von dem man schweigt, wie vom Moralischen im engeren Sinne, das man auch einfach >so< tut.«59 Nur unter diesen Voraussetzungen des Taktes als einer kommunikativen, professionellen Ethik des Schweigens kann eine »Arbeit für das Ganze« stattfinden, die den Einzelnen nicht in jenen »ungeheure(n) Bau« als einen »Käfig« sperrt, in dessen »Katakombenhöhlen« und »öden ungezählten Kammern« die Seele stirbt, gleichgültig, »wer ihn schafft, wem er gehört«.60 Webers Bau ist ein unterirdisches Gebilde des Todes, in deren einzelnen Höhlen die anonymen Funktionsträger der Bürokratie verschmachten. Was bei Weber ein kollektives Werk ohne Autor- und Eigentümerschaft ist, wird in Kafkas Erzählung als rhizomatisches und solipsistisches Produkt einer ängstlichen, vorausberechnenden, maulwurfsähnlichen Kreatur eingeführt, die nur sich selbst vertritt und mit ihrer Rede in der ersten Person Singular schamlos jenen Takt vermissen lässt, den Weber mit funktionalistischen Argumenten fordert. So wie ihre »Vorsicht« das »Risiko des Lebens« einzugehen verlangt,61 so führt ihr Bemühen um Sicherheit und Ordnung zum Gewinn der ersteren, indem auf letztere verzichtet wird: Das System der unterirdischen Höhlen und Ausgänge ist nämlich durch so viele Querverbindungen und Redundanzen (doppelte Vorratslager62 z.B.) geprägt, daß die Eindeutigkeit der (Dienst)-Wege aufgegeben wird. Folge ist für den unbekannten Feind, der von außen kommt, der Verlust an eindeutigen Verbindungen und damit der Verlust an Orientierung im dreidimensionalen Netzwerk des Baus. Nur derjenige, der den Bau errichtet hat und ihn bewohnend erweitert, behält die Orientierung und kann das Rhizom in abtrennbare Sektoren teilen, die die Sicherheit des Bewohners steigern. Was die gefürchteten Feinde irritieren soll, wird einerseits zu einer nur heterarchisch repräsentierbaren prothetischen Ausdehnung des Individuums, andererseits zu einer animistischen Gestalt, die ein Eigenleben gewinnt. Die symbiotische Produktion des Baus durch das Ich und eine unbekannte Population von Waldmäusen ebenso wie das bedrohliche Geräusch von einem oder mehreren vermeintlichen Feinden führen zwar zur Imagination einer »Verständigung«, eines Ende der solipsistischen Lebensweise des bauenden Ichs, bleiben aber letztlich nur Zeichen für eine unabänderliche Feindschaft gegenüber allen anderen:
» 60 61 61
Weber, Der Beamte, S. Weber, Der Beamte, S. Franz Kafka, Sämtliche Kafka, Der Bau, S. 363,
1336. 1334. Erzählungen, hg. von Paul Raabe, Frankfurt a.M., S. 360. 371. 105
In meinem Erdhaufen kann ich natürlich von allem träumen, auch von Verständigung, obwohl ich genau weiß, daß es etwas derartiges nicht gibt, und daß wir in dem Augenblick, wenn wir einander sehen, ja wenn wir einander nur in der Nähe ahnen, gleich besinnungslos, keiner früher, keiner später, mit einem neuen anderen Hunger, auch wenn wir sonst völlig satt sind, Krallen und Zähne gegeneinander auftun werden. 63
Kooperation und Stellvertretung dagegen erfordern Vertrauen, doch Vertrauen in eine andere Kreatur ist in der Perspektive des bauenden Ich genauso von der einander ausschließenden Doppelheit aus Sicherheits- und Risikozuwachs geprägt wie das Leben überhaupt. Jeder Vertrauensvorschuß erfordert unerträgliche Zugeständnisse und unkontrollierte, d.h. endlose Kontrollen, so daß alle denkbaren Vorteile in sich zusammenfallen. Dieser Habitus der Sorge gegenüber der interpersonalen Zukunft verwandelt jedes Wahrscheinlichkeitskalkül über die Vertrauenswürdigkeit des anderen in eine Prognose des negativen Ausgangs. In der Figur des »Vertrauensmanns«, dem man die Vertretung eigener Angelegenheiten anvertraut, erscheint die - unmögliche - Stellvertretungsrelation in Kafkas Text: Es ist verhältnismäßig leicht, jemandem zu vertrauen, wenn man ihn gleichzeitig überwacht oder wenigstens überwachen kann. [...] Es genügt ja schon die Überlegung, daß [...] alle die unzähligen Zufälle des Lebens den Vertrauensmann hindern können, seine Pflicht zu erfüllen, und was für unberechenbare Folgen kann seine kleinste Verhinderung für mich haben. Nein, faßt man alles zusammen, muß ich es gar nicht beklagen, daß ich allein bin und niemanden habe, dem ich vertrauen kann. Ich verliere dadurch gewiß keinen Vorteil und erspare mir wahrscheinlich Schaden. 6 4
Für den Text >Der Bau< liegen, wie so oft bei Kafka, mehrere metaphorische Deutungen nahe: Er kann die Sprache oder die Kunst bzw. Literatur bedeuten, auf das Innere des Autors verweisen oder zuletzt die moderne Bürokratie symbolisieren. Als Metapher eines kulturellen Textes wäre der Bau ein geschlossenes und gerade deshalb offenes Werk, das nicht nur einem unabschließbaren Deutungsprozeß unterliegt, sondern das außerdem in einem osmotisch-symbiotischen Verhältnis zu seiner Umwelt steht. So wie die Waldmäuse am Bau möglicherweise mitgearbeitet haben, so haben andere Autoren und andere Zeichenkomplexe am Text mitgeschrieben. 65 Wenn man nun bürokratische Organisationen und Institutionen als Textverarbeitungsmaschinen interpretiert und zusätzlich den Weber-Kontext ernstnimmt, so hat Kafka mit diesem Text der modernen Bürokratie eine Gegen- und Deutungsgeschichte erfunden, die die unauflösbare Asozialität eines Einzelnen, der unvertretbar ist, der nichts und Niemanden vertritt, weil er Niemandem vertrauen
6
'»
65
Kafka, Der Bau, S. 387. Kafka, Der Bau, 370. D a ß man diese Autoren und Texte für Kafkas Werk noch genauer dingfest machen kann, als das hier geschehen ist, zeigt demnächst die Publikation von Benno Wagners unveröffentlichter Habilitationsschrift (vgl. A n m . r6)
kann, in den Mittelpunkt rückt. Kooperation, d.h. die Aufopferung des Eigenen für etwas Fremdes, die Stellvertretung, wandelt sich unter diesen Bedingungen zu einer hypertrophen Uberwachungsmaschinerie ohne Zentrum. Die im Brief an Baum 1922 beschriebenen »Steigerungen« der Bürokratie bestünden dann in einer Komplexitätssteigerung mit dem Ziel, den Apparat gegenüber allen Kontingenzen abzudichten, was aber paradoxerweise in zunehmender Öffnung und wirklicher Gefährdung endet. Die Öffnung eines Baus und die generationenübergreifende Kooperation bei seiner Herstellung beschreibt der zweite hier zu untersuchende Text, >Beim Bau der chinesischen MauerMenschenführunggouvernementalesHoffnungspolitik< erfordert hier zunächst i. eine komplexe Organisation, die sich als hierarchisch-bürokratische Struktur erweist, 2. einen Rekurs auf die eigene und fremde Vergangenheit
71
K a f k a , B e i m B a u der chinesischen M a u e r , S . 299.
72
Kittler, D e r T u r m b a u zu B a b e l , S. 14.
73
V g l . Ulrich Bröckling, Susanne K r a s m a n n u n d T h o m a s L e m k e (Hg.), Gouvernementalität der G e g e n w a r t . Studien zur Ö k o n o m i s i e r u n g des Sozialen, F r a n k f u r t a . M . 2 0 0 0 .
(»Benützung der Bauweisheit aller bekannten Zeiten und Völker«) 74 und 3. eine spezifische psychische Ausstattung der übergeordneten >Führer< (»dauerndes Gefühl der persönlichen Verantwortung der Bauenden«). 75 Der Bau besteht somit eben nicht nur aus seinem materiellen Substrat, sondern aus Bürokratie, Logistik und >Bildungvorgesorgt< werden. Der Text selbst spricht hingegen aus einer eigentümlichen Nachträglichkeit: Der Bau der Mauer ist zum Zeitpunkt des Berichts offensichtlich abgebrochen und/oder abgeschlossen worden, so daß er eine Vergangenheit der Zukunft vorführt, die die Hoffnungen und Visionen im Gestus kulturanalytischer Melancholie als vergänglich und trügerisch dekuvriert. Dies vollzieht sich im Modus einer funktionalen Betrachtungsweise: Der Widerspruch zwischen >Lebenszeit< und >WeltzeitWerk< Zustandekommen kann und funktioniert, fuhrt in das Zentrum jeder Kultur, denn es fragt nach dem Funktionieren des kulturellen Mechanismus, 8 1 nach der Tradierung kultureller Werte und Ziele über räumliche Distanzen in der Gegenwart und y or allem in die Z u k u n f t hinein. Indem das Buch des Gelehrten mit seiner funktionalistischen These als »Beispiel« für die Verwirrung der K ö p f e kritisiert wird, die es doch zu beheben versucht, wird darüber hinaus in einer metakritischen Bewegung die Möglichkeit bzw. die soziale Funktion einer vergleichenden Ethnologie der eigenen Kultur in Frage gestellt, zugleich aber werden zwei Rede- und Verstehensordnungen gegenüber gestellt: Viele hätten sich »erst im Nachbuchstabieren der Anordnungen der obersten Führerschaft [...] selbst kennengelernt und gefunden, daß ohne die Führerschaft weder unsere Schulweisheit noch unser Menschenverstand für das kleine A m t , das wir innerhalb des großen Ganzen hatten, ausgereicht hätte.« 82 Das hermeneutische, auf Vieldeutigkeit angelegte Ausdeuten des gelehrten Buches wird kontrastiv dem >Nachbuchstabieren< gegenübergestellt, dem wörtlichen Lesen von Befehlstexten, die auf Eindeutigkeit zielen und sie im mühsam wiederholenden Lektüreprozeß herstellen. Während der zerstreute Beobachtungstext des Wissenschaftlers seinerseits zerstreut, führt der performative Text der Befehle trotz der Unbekanntheit und Abwesenheit der »Führerschaft« zu sozialer Integration. Der disziplinierte Lesemodus produziert Identität, Solidarität, vielleicht sogar zugehörige Individualität. Zugleich aber ist der Beobachter, der sich als Kulturhistoriker seiner eigenen Gegenwart präsentiert, auf die abwesenden, unkenntlichen Urheber der »Anordnungen« verwiesen, die in ihrer unterstellten Mächtigkeit nichts ohne Absichten verfugen. Weil die Führerschaft mit dem »Abglanz der göttlichen Welten« versehen ist, kann angenommen werden, »daß die Führerschaft [...] auch jene Schwierigkeiten hätte überwinden können, die einem zusammenhängenden Mauerbau entgegenstanden«. Angesichts des Ergebnisses bleibt nur die Folgerung daß die Führerschaft den Teilbau beabsichtigte«, d.h. etwas »Unzweckmäßiges«. 8 ' Damit führt sogar die Logik einer
81 82 8
'
110
Posner, Kultur als Zeichensystem, S. 68ff. Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer, S. 292 Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer, S. 292f.
theologisch gerechtfertigten menschlichen Hierarchie und ihrer Zwecksetzungen, denen die untergeordneten Organisationsmitglieder als Mittel zugeordnet werden, in unendliche, rhizomatische Motivationsunterstellungen und Fallunterscheidungen oder in die Paradoxie (»sonderbare Folgerung«); deshalb wird eine geheime, paradoxale Stauungen vermeidende und deshalb funktionale Grenze des Nachdenkens über die Anordnungen der Führerschaft evoziert, ohne näher bestimmt werden zu können. Der Vergleich mit dem Fluß, der seine Ufer überschwemmt, betont einerseits die Grenzen setzende und einhaltende Selbstbestimmungsfähigkeit der Individuen und beschreibt diese andererseits als gesetzmäßiges subjektloses Geschehen. Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung, die Matrix moderner Subjektivität, verkehren sich so in das murmelnde Nachbuchstabieren fremder Anordnungen und in das subjektlose Erleiden einer fremden Gesetzlichkeit. Während der Brief an Oskar Baum die Unmöglichkeit, eine bewundernswert komplexe bürokratische Struktur zu verstehen, hervorhebt, betont >Beim Bau der Chinesischen Mauer< die Gefahren, die damit verbunden sind, die Paradoxien, in die die Verstehensversuche fuhren. Erst die zeitliche Distanz zum Mauerbau, die der Erzähler dann hervorkehrt (»aus den längst verflogenen Gewitterwolken zuckt kein Blitz mehr«), 84 erlaube die Fortsetzung der Verstehensbemühungen — die Macht und Machtlosigkeit der menschlichen Führer wird im klassischen Verweis auf den Blitzeschleuderer Zeus gefaßt, der hier jedoch als unbekannte, abwesende göttliche Instanz nur in seinen nicht mehr gegenwärtigen Wirkungen gezeigt wird. Eine merkwürdige Doppelung macht diese Abwesenheit zu einer endgültigen: Es bleibt offen, ob der Zorn der Götter verflogen ist wie die Wolken oder ob sich dieser Zorn nicht mehr äußern kann. Damit ist zwar das weitere Nachdenken über die Führung in den Grenzen der »Denkfähigkeit«®5 möglich, doch diese können das zu erfassende Gebiet niemals abdecken. Die Frage nach den Gründen des Mauerbaus wird zunächst zurückverwiesen in das Interaktionsfeld der Leitung, d.h. der oberen, dem Kaiser unmittelbar untergeordneten Führer. Der ideologiekritische Gestus, der die äußere Bedrohung durch die Nordvölker als absichtlichen Betrug der Führerschaft entlarvt, wird dann aber dekonstruiert durch den Verzicht auf die Ursprungskonstruktion: Wie die >Führerschaft< keinen eindeutig datier- und lokalisierbaren Ursprung hat, so kann auch der Beschluß des Mauerbaus nicht fixiert werden: »Vielmehr bestand die Führerschaft wohl seit jeher und der Beschluß des Mauerbaus gleichfalls.« Damit aber wird der äußere Feind fiir ebenso einflußlos erklärt wie der Kaiser als Spitze der Hierarchie: »Unschuldiger Kaiser, der glaubte, er hätte ihn angeordnet«. Das Abkoppeln der Spitze von den Rängen der bürokratischen Organisation und die fiinktionalistische Deutung der äußeren Bedrohung lassen die strenge Hierarchie als konstruierten
84
«5
Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer, S. 293. Kafka, ebd. III
Spezialfall einer ursprungslosen, dezentralen und rhizomatischen Heterarchie erkennbar werden. Dies wird im Textverlauf durch eine Reihe von politischen und kommunikationstheoretischen Reflexionen verrätselt. Die >zwei Körper< des Herrschers, 86 die sich schließlich in die Zwillings- und Doppelgängergestalten der Romanfragmente verwandeln, die geheime reale und die repräsentativ-öffentliche Gestalt können auch hier unterschieden werden: Vom zeitlich-sterblichen Körper des Kaisers kann und braucht das Volk nichts zu wissen; »unsterblich« ist das Kaisertum als Institution dennoch. 87 Damit verliert die eingeschachtelte, separat noch zu Lebzeiten veröffentlichte Parabel >Die Kaiserliche Botschaft ihre Dramatik. Zwar ist die Kommunikation zwischen Herrscher und Untertan wie jede Kommunikation prinzipiell unwahrscheinlich, 88 doch verhindert dies nicht die konstante Autorität der Institution selbst, die sich in der kollektiven Sage von einer unmöglichen individuellen Kommunikation manifestiert. Gerade umgekehrt scheint der zugleich »hoffnunglose« und »hoffnungsvolle« Blick auf einen abwesend anwesenden Kaiser Garant für die institutionelle Kontinuität und Tradition zu sein. Dies fuhrt zwar in eine chiastische Vertauschung von lebendiger Gegenwart und toter Vergangenheit, doch die wechselseitige Schwäche der Regierung und der Untertanen ist im Ergebnis ein »Einigungsmittel«; wie die lückenhafte Mauer das Fundament bildet sie den »Boden« eines zusammengehörigen Volkes. Während also der babylonische Turmbau, der einem gemeinsamen Begehren entsprang, zerstreuend wirkt, haben die vage Realität des Kaisertums und der Führerschaft ebenso wie der lückenhafte Mauerbau einen kohärenzstiftenden Effekt. Was nach außen niemals schützen kann, wirkt nach innen integrierend. Die Analyse der Leerstelle im Zentrum oder an der Spitze einer Hierarchie verweist auf ihre Funktionen innerhalb einer lückenhaften, rhizomatischen Struktur, die ihrerseits durch Lücken und Querverbindungen Kontiguität und eine andere Form von Zusammenhalt erzeugt. Daran, an den verschwiegenen Präsuppositionen der Kultur definitorisch und fixierend zu rühren, hieße sie zu unterminieren, deshalb steht der Text im Zeichen eines verschwiegenen Wissens, das der Erzähler mit seinen Beobachtungsobjekten teilt und das dem von Alfred
86
87
88
112
Ernst H. Kantorowicz, The King's Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology, Princeton 1957, S. 496fr. Vgl. Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, hg. von Gert Melville, Köln, Weimar, Wien 2001. Ders., Vorfahren und Vorgänger. Spätmittelalterliche Genealogien als dynastische Legitimation zur Herrschaft. In: Die Familie als sozialer und historischer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit, hg. von Peter-Johannes Schuler, Sigmaringen 1987, S. 203-309. Rehberg, Institutionen als soziale Ordnungen, S. 47-84. Niklas Luhmann, Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: Soziologische Aufklärung 3, S. 25-34.
Weber beschrieben Schweigen des Amtsinhabers ähnelt: »Wir vom Mauerbau wissen es anders, und schweigen«.8? Wolf Kittlers These, daß es das nicht beschreibbare Verhältnis von Führerschaft und Kaisertum sei, was den Bericht in ein Abbruchunternehmen verwandelt, erscheint überzeugend, weil es den Erzähler als »Nomaden«, der von tradierter Redeweise zu Redeweise springt, konturieren kann. Dabei ist das Ziel nicht die Metaebene einer hierarchischen Spitze, der Punkt, in dem sich alles vereinigt und von dem aus alles beobachtet werden kann, sondern die wiederholende Prüfung der Lücken, die die Diskurse ineinander übergehen läßt. Der Text entwirft also eine nichtsouveräne Autorschaft, die mit den unklaren, aber genau deshalb integrierend wirkenden Herrschafts- und Machtmechanismen korreliert ist. Das pyramidalbürokratische Machtmodell erweist seine Brüchigkeit und Redundanz, aber auch seine Funktionalität im Mauerprojekt, das die Perspektivenvielfalt letztlich nicht zu integrieren vermag; daran partizipiert der >verschwiegene< Text, der sich mehr und mehr vom auktorialen, panoptischen Modell distanziert und eine Literatur der Vielstimmigkeit vorexerziert, ohne die Fluchtlinie des hierarchischen Modells von Performanz zu verlassen. Im Gegensatz zu Thomas Manns Josephstetralogie, dessen Erzählinstanz als souveränes Wiederholungswerk des abendländischen Ursprungstextes Ursprünglichkeit in Beginnlosigkeit auflöst, etablieren Kafkas Texte eine Pluralität und Kontiguität von Ursprüngen und Ursprungserzählungen. Sie wissen um ihr performatives Potential, das sie paradox schreibend als zu verschweigend charakterisieren, weil es die latenten Prämissen ihrer Kultur explizit macht und dadurch liquidiert.
3.5
Handelsvertreter und Prokurist - Vertretung in >Die Verwandlung
Die Verwandlung^ 90 die die >Fluchtlinie< des Tierwerdens gegenüber Familie und Bürokratie entfaltet und den kontrastiven Übergang zu den Romanfragmenten bildet, erscheint Bürokratie zum ersten Mal in zwei Stellvertreterfiguren, im Prokuristen und im Vertreter Samsa: Der Prokurist als Bevollmächtigter und Stellvertreter des Chefs dringt von außen in den familiären Binnenraum ein, um Arbeits- und Reisefähigkeit des untergeordneten Handelsvertreters Gregor Samsa zu überprüfen.91 Die bürokratische Hierarchie der 89 90
91
Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer, S. Z94. Die Zitate werden durch die Sigle V und die Seitenzahlen in K l a m m e r n belegt. Sie beziehen sich auf Franz Kafka, Die Verwandung. In: Sämtliche Erzählungen, S. 56-99. Daß hiermit die viel diskutierte Frage des Versicherungsbetruges angesprochen wird, ist durchaus plausibel, erklärt aber nicht die Umschichtung der Familienverhältnisse. Vgl. Benno Wagner, Die Welt geht ihren Gang, und du machst Deine Fahrt. Z u r Problematik des normalen Lebens bei Kafka, UnveröfF. Mskr.
"3
Firma wird im >Privatleben< nicht gebrochen, sondern setzt sich fort: Durch die Schulden des Vaters, die der Sohn abzuarbeiten hat, ist der »Chef« als Abwesender in der Mitte der Familie angesiedelt und untergräbt dort allmählich die traditionellen Binnenbeziehungen. Die prekäre familiäre Hierarchie schachtelt sich so in die geschäftliche Rangordnung ein. Seine jeden Normalitätsspielraum überschreitende >Verwandlung< entfernt Gregor Samsa gleichermaßen aus dem familiären wie aus dem beruflichen K o n n e x und isoliert ihn wie das Ich des >BausFluchtlinie< b e s c h r i e b e n , k a n n ferner als Anwendungsfall einer Bemerkung von L u d w i g Wittgenstein gedeutet werden: »Wenn der L ö w e sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.« 93 Der Käfer der >Verwandlung< kann sprechen, er bekommt zumindest von der Erzählinstanz für den Leser ein sprachlich verfaßtes Denken und eine Stimme zugeschrieben, doch diese erweist sich fìir die anderen, weil es keine kommunikativen Konventionen für die Verständigung mit Tieren gibt, als unverständliche, private »Tierstimme«. (V 64) Sein Aussehen wird die anderen »erschrecken«, was den Verwandelten aus jeder »Verantwortung« löst und ihn im Gegensatz zur Unruhe der sozialen Interaktion »ruhig sein« (V 64) läßt. D i e unruhige, nomadisierende »Sorge« des reisenden Handelsvertreters f ü r die in N o t geratene Familie, die gemeinhin als Ausweis der familiären Zuneignung betrachtet wird, verhindert tatsächlich die Entstehung einer »besonderen Wärme« (V 75) unter den Familienmitgliedern. D i e Verpflichtungen, die aus der einseitigen G a b e des Sohnes entstehen, zerstören das Gleichgewicht des familiären Zusammenhangs. Den Umschlagpunkt der Erzählung bildet der unerwartete Eintritt des Prokuristen in die verwandelte familiäre Konstellation: Der Prokurist vertritt nicht nur das »Geschäft« als Ganzes, sondern speziell den Chef, die Spitze der Hierarchie. Gregors vergebliche R e d e an den Prokuristen, die ihn an seine Stellung, seine Interessenlage und den damit verbundenen Überblick erinnert, kehrt jedoch das Verhältnis der vertikalen Stellvertretung, von Über- und Unterordnung
" 1x4
Deleuze/Guattari, Kafka. Toward a Minor Literature, S. 35. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, II xi, S. 223.
um; sie setzt den Prokuristen, was den »Überblick« und das unparteiische Urteil angeht, über den Chef. (V 67) Was bei Thomas Mann im Josephsroman als religiöse Abwesenheit der Hierarchiespitze gedeutet wurde, ist hier die Perspektivität ihres Urteils, die aus der unternehmerischen Konkurrenz erwächst: Der Chef lasse sich »in seiner Eigenschaft als Unternehmer [...] in seinem Urteil leicht zu Ungunsten eines Angestellten beirren«. (V 67) Der abwesende, nomadische Reisende, dessen Ort man nicht kennt, der sich dem Zugriff der geschäftlichen Bürokratie tendenziell entzieht, verliert nun endgültig im Geschäft wie in der Familie seine stellungsabhängige Sicherheit: Die Hierarchie, die in Gregors Rede an den Prokuristen mit schmeichlerischer, überredender Zielsetzung umgekehrt wurde, kehrt sich im Familiengefiige faktisch um. Dies läßt sich am Begriff und an den Konnotationen von >Sorge< erweisen: In freier indirekter Rede wird den Eltern die Überzeugung zugeschrieben, daß Gregor wie ein klassischer, seßhafter Beamter »in diesem Geschäft für sein Leben versorgt war«; außerdem seien sie mit den »augenblicklichen Sorgen« so beschäftigt, daß ihnen »jede Voraussicht abhanden gekommen war.« Die Dissoziation der sonst gekoppelten Begriffe »Sorge« und »Voraussicht« in der Unterscheidung zwischen einer gegenwartsbezogenen Sorge und der langfristig in die Zukunft reichenden Prognostik markiert die Umstellung im Familiengefiige: Der Vater übernimmt (wieder) die Position des Patriarchen und Familienvormunds, und die Sorge als vorausblickende Zukunftskalkulation verlagert sich vom anwesend-abwesenden Sohn auf das übrigbleibende Trio. Das Eintreten der beruflichen Bürokratie, personifiziert durch den Prokuristen, in die Familienwohnung fungiert als Katalysator für die familiäre Dynamik in der Folge von Gregors Verwandlung. Sie kennzeichnet, vor allem durch die umkehrbare Relation zwischen Chef und Prokuristen, ein klassisches Problem der hierarchischen Spitze, das bei der Beobachtung, Beurteilung und beim Ausgrenzen von Gregors Verhalten ins Gewicht fällt. Zugleich manifestiert sich dadurch die Verwandlung als personifizierte Darstellung eines semiotischen Defekts: Daß Gregors Rede, indem sie Stellvertreter und Chef verwechselt, auch Zeichen und Bezeichnetes verwirrt, ist Beleg und Grund seiner Verwandlung aus den Vertretungsrelationen heraus. Während die Bürokratie der >Verwandlung< eine scheinbar marginale, aber entscheidende Funktion nicht nur für den plot besitzt, bildet sie in den großen Romanfragmenten Kafkas das Zentrum des Geschehens; der Protagonist wird von ihren >Verfahren< nolens volens ergriffen und >regiertDer Verschollene< gibt es einen direkten intertextuellen Verweis auf die biblische Josephsgeschichte. Das vierte Kapitel, in dem Karl Roßmann nach dem Bruch mit dem Onkel »in eine beliebige Richtung«, jedenfalls fort von N e w York wandert, steht unter dem autorisierten Titel »Der Marsch nach Ramses« ( V A ιοί). 1 0 1 Man hat vergeblich versucht, einen wirklich existierenden Ort dieses Namens in den U S A ausfindig zu machen 1 0 1 und auf den biblischen Bezug hingewiesen. 103 . Genauer betrachtet aber markiert dieser Name das ägyptische Exil der Israeliten und gleichzeitig einen Ort des Vergessens, 104 er bezeichnet jene Gegend, in der sich Jakobs Sippe niederlassen darf, nachdem sie Joseph in Ägypten wiedergefunden hat und durch seine administrative Intervention gerettet worden ist; zugleich impliziert Ramses die Sklaverei, die durch das Vergessen von Josephs Leistungen in Gang gesetzt wird. 1 0 5 Es läßt sich nachweisen, daß Kafka durch die Besuche des jiddischen Theaters, insbesondere durch das Stück >Moyshe Khayit als Gemaynderat< von Moyshe Rikhter mit der Gedankenverbindung Amerika-ägyptisches Exil
99
Vgl. Detlef Kremer, Verschollen. Gegenwärtig. Franz Kafkas Roman >Der Verschollenem In: Text + Kritik. Sonderband Franz Kafka, München 1994, S. 238-253.
100
Hermsdorf, Arbeit und A m t als Erfahrung und Gestaltung, S. 44, 77.
101
Die Zitate werden belegt durch die Sigle V A und die jeweilige Seitenzahl; diese beziehen sich auf die Ausgabe Franz Kafka, Der Verschollene (Amerika). Roman in der Fassung der Handschrift, Frankfurt a . M . 1999. Vgl. den Brief an Feiice Bauer vom 11. November 1912: »Die Geschichte, die ich schreibe und die allerdings ins Endlose angelegt ist, [...] handelt ausschließlich in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. [...] Die einzelnen Kapitel heißten: I Der Heizer II Der Onkel III Ein Landhaus bei N e w York I V Der Marsch nach Ramses V Im Hotel occidental V I Der Fall Robinson.— Ich habe diese Titel genannt als ob man sich etwas dabei vorstellen könnte, das geht natürlich nicht, aber ich will die Titel solange bei Ihnen aufheben, bis es möglich sein wird.«
102
Gerhard Loose, Franz Kafka und Amerika, Frankfurt a . M . 1968, S. 32. Exodus I, Ii: »Und man setzte Fronvögte über sie, die sie mit Zwangsarbeit bedrücken sollten. U n d sie bauten dem Pharao die Städte Pithom und Ramses als Vorratsstädte.« Vgl. dazu knapp Kremer, Verschollen, S. 238fF.
103
104
Das Vergessen Josephs durch die Ägypter deutet auf das Vergessen Gottes durch die Israeliten selbst: 5. Mose 6. Vgl. dazu Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997, S. 37.
105
Exodus ι, 8: »Da kam ein neuer König auf in Ägypten, der wußte nichts von Joseph [...].«
117
konfrontiert wurde. 1 0 6 Karl Roßmanns kontingenter Weg in den offenen Raum Amerikas gleicht also dem Weg in ein ägyptisches Exil, das hier einen einzelnen trifft, der von Familie und Heimat unwiederbringlich getrennt worden ist. 107 Als Interimszustand ist es Sinnbild einer modernen Rhetorik des stets exilierten Individuums: Der Weg in das gelobte Land steht dem einzelnen immer erst bevor. Der Prozeß der kollektiven Volkwerdung wird auf ein Individuum projiziert, dem zuletzt Integration als Exklusion abverlangt wird. Ebenso wie das ägyptische Exil bürokratisch veranlaßt wurde und - im >Mann Moses< und seiner Verwaltung des Gesetzes - bürokratisch endet, hält Karls nomadisch angelegter Weg vorläufig in den geschlossenenen Räumen des Schiffs und des Hotels occidental an. Der Weg »ins Endlose«, den Karl Roßmann zu gehen hat, vollzieht sich im Raum des Vergessens, zwischen und nach den bürokratischen Stationen, die im folgenden einzeln und seriell betrachtet werden, um die Wiederholung als Effekt von Differenz kenntlich zu machen.
3.6.2 Das Aus-/Einwandererschiff: Liquidation der Rede Der Raum der ersten Bürokratie-Szene 108 ist das europäische Auswanderschiff mit seinen verwirrenden Gängen, Treppen und Korridoren. Weil sich Roßmann mit der Suche nach dem Regenschirm, einem Attribut europäischer Zivilisation, das für den Einwanderer nach Amerika lächerlich anmutet, dem Anlege- und Ausschiffungsprozeß entzieht, ist seine Akkulturation von vornherein in den Horizont des Mißlingens gestellt: Wer in Amerika, das immer noch fiir unzivilisierte Natur bzw. für die kämpferische Bändigung dieser Natur steht, am Regenschirm, dem Sinnbild für die verweichlichte, unzulängliche Abwehr der Natur, so sehr hängt, ist für dieses Land womöglich gar nicht geeignet. Dies ist der Sinn des Vorwurfs, den er vom Heizer zunächst zu hören bekommt: »Auf dem Schiff wechseln mit den Hafenplätzen auch die Sitten«. (VA 11) Unter seerechtlichem Gesichtspunkt ist jedes Schiff auf dem offenen Meer eine exteritoriale Einheit oder ein mobiles Territorium, das zu dem Staat gezählt wird,
106
Evelyn Torton Beck, Kafka and the Yiddish Theatre. Its Impact on his Work, Madison/ London 1971, S. n y f . : Dort verschwindet eine männliche Figur nach Amerika und läßt ihre schwangere Frau zurück. Die Klagen über Amerika kulminieren in dem Ausruf: »What is the difference between Pithom and Raamses and Brooklyn and N e w York«. (In der Übers, von E . T . Beck.) - O b allerdings der Hinauswurf aus dem »Hotel occidental« wegen einer motivischen Ubereinstimmung (das Zurücklassen des Mantels) als Travestie der Episode um Joseph und Potiphars Weib gedeutet werden kann, scheint mir zweifelhaft. •07 Vgl. Sandra Schwatz, 'Verbannung« als Lebensform. Koordinaten eines literarischen Exils in Franz Kafkas >Trilogie der Einsamkeit«, Tübingen 1996, S. I72Í. 108
Der gesamte Text ist eine Reihe von szenischen Anordnungen, die einer dramaturgischen Deutung bedürfen.
unter dessen Flagge es fährt; 1 0 9 M i t dem Anlegen des Schiffs im Hafen wird jedoch eine kulturelle, dann juristisch-bürokratische Ö f f n u n g vollzogen. So verwandelt sich das Schiff, dessen starres Gehäuse und hierarchisch gegliederte Besatzung traditionell als Metapher des Territorialstaates fungiert, 1 1 0 zu einem Bezirk der Ö f f n u n g und damit zu einer Metapher der Akkulturation und der kulturellen Interferenz. Auch das Innere des Schiffes ist von kultueller und nationaler Heterogeneität geprägt: Der Heizer mokiert sich über die internationale Mischung des technischen Personals, die zur ungerechten Behandlung durch einen rumänischen Vorgesetzten geführt habe. Sein vermeintlicher Wissensvorsprung verleiht ihm einen kommunikativen Vorteil gegenüber R o ß m a n n , der ihn als gleichberechtigten Freund wünscht, gleichzeitig aber auch familiär geprägte Überlegenheitsphantasien hegt: »Denn solche Leute sind leicht gewonnen wenn man ihnen irgendeine Kleinigkeit zusteckt, das wußte Karl noch von seinem Vater her [...].« ( V A 15) Diese Deutung der Situation motiviert Karl, sich zum Vertreter des ihm völlig Unbekannten aufzuschwingen. Das Paar tritt als stellvertretende Konstellation in eine eingespielte bürokratische Struktur aus Schiffsoffizieren und Vertretern der Hafenbehörde ein, die das Geschehen nach ihren Maßgaben ordnet. R ä u m e und Menschen dieser Schiffsbürokratie scheinen zuallererst in technische und mediale Prozesse eingesponnen: Lesen, Exzerpieren und Diktieren sowie das Hantieren mit Dokumenten und Folianten bilden ein opakes Geschehen, das im Gegensatz steht zur Transparenz der Fenster und zu den überdeutlichen Herrschaftsinsignien (Degen, Ordensreihe, Bambusstöckchen) der beiden Männer »in halblautem Gespräch«. ( V A 19) Ebenso kontrastiv angeordnet werden die unbeteiligten, sich nicht um den Neuankömmling kümmernden Personen einerseits und die Stadt »Newyork« andererseits, die personifiziert hinter allem Gewimmel des Hafens steht und Karl »mit den hunderttausend Fenstern seiner Wolkenkratzer« ( V A 18) ansieht. Karl präsentiert sich dieser Umwelt, die sich seiner Intervention störrisch entzieht, als scheiternder Stellverteter, als Ignorant, der v o m Heizer instrumentalisiert, also zum bloßen >Boten< degradiert wird. Die feste Konstellation der bürokratischen Körper gerät durch Karls Hineinlaufen in eine Bewegung, die in der Synekdoche (»wurde gleich das ganze Z i m m e r lebendig«) ( V A 20) als Aktion des Ortes selbst erscheint. So entsteht ein »Raum«, 1 1 1 in dem Roßmann eine vektorielle Rolle zugeteilt ist. Daran schließt sich eine szenisch durchkomponierte Reihe von bürokratisch determinierten Äußerungen an, in denen die Differenz von Information und Mitteilung, also die Kommunikation selbst 112 zum Thema wird. An ihrem A n f a n g steht Karls »allgemeines« mündliches Plädoyer,
109 Vgl. >Schiffeace·) bei Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988 (EA 1980), S. ïiyff. Luhmann, UnWahrscheinlichkeit der Kommunikation, S. 25—34. 119
diesem folgt das Ausbreiten der schriftlichen Beweismittel durch den Heizer, schließlich die mündlichen Vorwürfe des Oberkassierers und das Eingreifen des Kapitäns. Die Serie von Äußerungen läßt sich aber nicht homogenisieren: »Immerhin erfuhr man aus den vielen Reden nichts eigentliches«, so daß »Zerstreuung« folgt. (VA 23) Diese wird durch das Hafenleben, durch das Geschehen auf dem Wasser in einem doppelten, nämlich in einem metaphorischen und einem metonymischen Sinn gedeutet: »Eine Bewegung ohne Ende, eine Unruhe, übertragen [Hervorhebung durch die Vfn.] von dem unruhigen Element auf die hilflosen Menschen und ihre Werke.« (VA 24) Das flüssige Element Wasser und alles, was sich auf ihm in den Spielräumen der Normalität, gesteuert und ungesteuert (»kleine Motorboote [...] rauschten nach den Zuckungen der Hände eines am Steuer aufrecht stehenden Mannes schnurgerade dahin« (VA 23f.)), vorhersehbar und unvorhersehbar (die »selbständig« auf- und abtauchenden Schwimmkörper (VA 24)) bewegt, steht so zwar im Gegensatz zum festen Gehäuse des Schiffes, aber am Anfang einer Bewegung, die das Geschehen auf dem Schiff kausal beeinflußte, andererseits stehen Hafenleben und Schiffsbürokratie in einer unerwarteten paradigmatischen Reihe, die es erlaubt, metaphorisch Aspekte zwischen Wassergeschehen und Schiffsgeschehen zu verschieben. In jedem Fall verflüssigt sich das bürokratisch-juridische Geschehen im Inneren des Einwandererschiffes analog zum Hafengeschehen oder von ihm verursacht."3 Gegen diese Liquidation, gegen den Heizer, der seine Papiere »nicht mehr halten«, der dem Kapitän lediglich ein »Durcheinanderstrudeln« der »Klagen über Schubal« vorweisen kann, die ihm aus allen »Himmelsrichtungen [...] zuströmten«, »mahnte« alles »zur Eile, zur Deutlichkeit, zu ganz genauer Darstellung«, (VA 24) zu einer hierarchisch abgestuften Darstellung der Beschwerden, die dem Einfluß nehmenden beweglichen Element des Wassers abgerungen werden muß: Rhetorische »Disziplin« wird, so erläutert es am Ende der Szene der Staatsrat, als notwendige Bedingung der »Gerechtigkeit« vorgelagert (VA 40): Karl sagte also zum Heizer: >Sie müssen das einfacher erzählen, klarer, der Herr Kapitän kann das nicht würdigen so wie Sie es ihm erzählen. Kennt er denn alle Maschinisten und Laufburschen bei Namen oder gar beim Taufnamen, daß er, wenn Sie nur einen solchen N a m e n aussprechen gleich wissen kann, um wen es sich handelt. Ordnen Sie doch Ihre Beschwerden, sagen Sie das Wichtigste zuerst und absteigend die andern, vielleicht wird es dann überhaupt nicht mehr nötig sein, die meisten auch nur zu erwähnen. [...].< ( V A 25)
Im traditionsreichen Bildfeld des Schiffes" 4 sammelt sich das bürokratietheoretische Wissen des Textes: Die Grenze zwischen Hafenleben und dem Inneren des Schif-
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Vgl. dazu die umgekehrte Fixierung des eigentlich beweglichen Meeresgottes im Text >PoseidonInformatives< gesagt worden ist. Gegen die Osmose von Wasser und Hafenleben auf der einen Seite und dem Inneren des Schiffes als quasi staatlicher Einheit auf der anderen Seite wird von Karl das klassische Repräsentations- und Subsumtionsmodell in Stellung gebracht, in dem die Individuen und ihre Fälle unter allgemeine und besondere Sachverhalte subsumiert werden und die Eigennamen ihre Funktion verlieren. Der Heizer tritt hier also nicht nur als anachronistischer, körperlich überlegener Angehöriger einer illiteraten Arbeiterklasse auf, sondern auch als jemand, der trotz seiner gleichzeitigen diabolischen Assoziation mit dem zerstörerischen Feuer vom unruhigen Element des Wassers so affiziert ist, daß seine liquide Rede von der pyramidalen Rede Karls, der sich mit der Rolle des Kapitäns assoziiert, eingedämmt und strukturiert werden muß." 5 Die abstrahierenden Verhältnisse der Moderne, hier am Beispiel der Bürokratie manifestiert, fuhren nicht zum Verschwinden oder zur Repression des Individuums, sondern zu seiner neugefaßten Formatierung, einer Disziplinierung, die Schrift, Rede und Körperlichkeit gleichermaßen trifft. Der spät in Erwägung gezogene Einsatz der physischen Kräfte des Heizers, mit denen er »alle anwesenden sieben Männer bezwingen könnte«, die sich aber lediglich in »herumfahrenden Hände[n]« (VA 26) kundtun, wird nämlich durch eine teletechnische Installation relativiert: Allerdings lag auf dem Schreibtisch wie ein Blick dorthin lehrte ein Aufsatz mit viel zu vielen Druckknöpfen der elektrischen Leitung und eine Hand, einfach auf sie niedergedrückt, konnte das ganze Schiff mit allen seinen von feindlichen Menschen gefüllten Gängen rebellisch machen. ( V A 27)
Doch ob Handgreiflichkeit für den einzelnen durch das technische Instrument ersetzbar ist, läßt der Text systematisch unentschieden, denn offen bleibt, was es eigentlich heißt, wenn das Schiff rebellisch gemacht wird. Die metonymische Beziehung zwischen dem Schiff und den Menschen läßt sich nämlich nicht in Parteien oder Fraktionen konkretisieren, so daß keine eindeutige Freund-Feind-Opposition ausgemacht werden kann. Diese entsteht erst durch das Eintreten Schubals, doch auch hier wird die Körperlichkeit der Gegner durch dessen elaborierte Rede konterkariert. Die »Löcher« seiner Rede werden durch die Performanz seines Auftritts, eines »Feind[es] frei und frisch im Festanzug«, überbrückt, die zumindest den »Herren« als »richtiges Benehmen« (VA 29) erscheint.
Aleida Assmann, Fest und flüssig. Anmerkungen zu einer Denkfigur. In: K u l t u r als Lebenswelt und Monument, hg. von Aleida Assmann und Dietrich Harth, Frankfurt a.M. 1991, S. 181-199.
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Schließlich löst die auch in Amerika gültige Institution des Eigennamens den Protagonisten aus der verunglückten, liquidierten Stellvertretung des Heizers, dem wegen seiner idiosynkratischen Rede nicht zu helfen ist, und bindet ihn märchenbzw. romanhaft wieder in den familiären Zusammenhang ein: Dieser ist stärker als die selbstgewählte, wenn auch zufällige Freundschaft, auf die die Vertretung reduziert wird und die vom vormundschafltlich, d.h. auch vertretungsweise handelnden Onkel als Bezauberung ( V A 41) erotisch umcodiert wird.
3.6.3
Der amerikanische Schreibtisch: Liquidation der Ordnung
Das Haus des Onkels bildet wie das S c h i f f eine europäische Enklave in einem Land, das als Einwanderland gleichsam aus lauter solchen Enklaven gemacht ist. Sie relativiert, weil Karl sich »nicht durch schlechte Erfahrungen belehren lassen« muß, den Gattungsrahmen des Bildungsromans und auch die These, daß »die ersten Tage eines Europäers im Amerika [...] einer Geburt vergleichbar« ( V A 46) seien. Tatsächlich verbleibt Karl gleichsam in einer exterritorialisierten Gebärmutter, aus der ihn erst der willkürliche Akt des Onkels heraustreibt. D i e verzögerte und aufgeschobene Geburt, die mit dem Eintritt »vom Jenseits in die menschliche Welt« verglichen wird, markiert mit der Differenz und der Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz eine der wahmehmungsprägenden Unterscheidungen, mit der über das Phänomen Amerika informiert wird. Sie entstammen dem Kafka vertrauten Fundus der europäischen Amerikastereotype. 1 1 6 M i t relativ großer Wahrscheinlichkeit findet sich eines davon in Raabes >Akten des VogelsangOrdnung der Dinge« in ihrer aktenförmigen Konstitution ist nicht ein- für allemal festgelegt, sondern sachlichem, vor allem aber zeitlichem und das heißt >politischem< Wandel unterworfen, der im Symbol des nur einmal wiederwählbaren amerikanischen Präsidenten, später auch in den Richter-Wahlkampfszenen, deutlich zutage tritt. Die Beweglichkeit kombiniert mit der leichten Fixierbarkeit, die Uberlagerung einer hierarchischen Differenzierung durch die funktionale und stets wechselnde Einteilung der Welt in ihren Akten macht den amerikanischen Schreibtisch zum Symbol einer fluktuierenden Moderne
Triester Abteilung der Arbeiter-Unfall-Versicherung bearbeitete. Vgl. ferner auch den Hinweis auf den seinerseits verschollenen Film >Der Roman eines Verschollenen (1912) bei Hanns Zischler, Kafka geht ins Kino, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 82. "8
Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, H A 8, S. 372: Der Melusinenpalast und seine Entfaltung wird dem Schreibtisch verglichen: »Wer einen künstlichen Schreibtisch von Röntgen gesehen hat, w o mit einem Z u g viele Federn und Ressorts in Bewegung kommen, Pult und Schreibzeug, Brief- und Geldfächer sich auf einmal oder kurz nacheinander entwickeln, der wird sich eine Vorstellung machen können, wie sich jener Palast entfaltete«.
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Vgl. JoAnne Yates, Control through Communication. T h e Rise of System in American Management, Baltimore/London 1993 (EA 1989), S. 29ÍF.: D i e Vervielfältigung der externen und vor allem der internen Korrespondenz sowie die damit verbundene Vermehrung der möglichen Relationierungen erfordert in Differenz zum chronologischen Aufeinanderstapeln der eingehenden wie der abgehenden Korrespondenz neue Ablage- und Archivierungstechniken, die zunächst lediglich in der Vergrößerung des Raumes, später dann in der verstärkten Flexibilisierung der Zugriffs- und Neuordnungsmöglichkeiten bestanden. Entscheidend sind hier neue Verfahren der vertikalen bzw. lateralen Ablage, die ihr Vorbild in der Innovation der Bibliothekskataloge besitzen. - Vgl. auch Brigitte Huber und Raimund Beck, Schreiben, Lochen, Archivieren. In: Burkhart Lauterbach (Hg.), Großstadtmenschen. Die Welt der Angestellten, Frankfurt a . M . 1995, S. 183-193. — Vgl. jetzt Markus Krajewski, Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek, Berlin 2002.
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samt ihren Restabilisierungs- und Reinterpreationstendenzen. Weil die technische Innovation des Fächerregulators unbegrenzt kompatibel ist und auch »bei älteren Schreibtischen ohne große Kosten« (VA 48) angebracht werden kann, wird die Vergangenheit stets zu einer Vorstufe der Gegenwart, deren Forderungen sie sich durch technisches upgrade anpaßt. Der Eindruck des Schreibtisches, dessen okkasionalistischer »Regulator« selbst vom Kommissions- und Speditionskaufmann mit Vorsicht behandelt wird, imprägniert zuletzt auch die Kindheitserinnerung Karls an die >alte WeltDas Schloß< zeigen.
3.6.5. Das »Hotel occidental«: Interferenz normativer und normalistischer Mächte Das Amerika des Romanfragments zeichnet sich, beginnend mit der Schiffs- und Hafenszene, durch eine osmotische Konstellation normativ organisierter Orte und normalistisch verfaßter Räume aus, so daß stets neu geprüft werden muß, ob feste Regeln oder laxe Üblichkeiten >herrschenStellen< und Personen >sichtbar< werden und in ihrer körperlich-materiellen Dimension zu Irritationen führen. 115
128
Luhmann, Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, S. 25ÍF.
Die angepeilte Beschleunigung und Automatisierung der Kommunikation ist außerdem abhängig vom Retrieval des in der Vergangenheit gespeicherten Wissens, das von den Boten und Laufburschen offenbar nicht immer korrekt lokalisiert werden kann, so daß die Produktion von >Müll< und Zeitverlust die Folge ist: »Die abgelösten Laufburschen durften sich aber noch nicht strecken, sondern hatten noch ein Weilchen damit zu tun, die während ihrer Dienststunden auf den Boden geworfenen Gegenstände aufzuheben und an ihren Platz zu legen.« (VA 200) Das, was die einen wie Müll behandeln, ist für die anderen Anlaß zur erneuten Einordnung in bestehende Register: Damit ist ein bürokratisiertes Bild des kulturellen Mechanismus der Moderne' 1 6 komplett, das Kommunikation im Modus der Stellvertretung, im geordneten Rekurs auf Akten, in der Produktion von Abfall und in der erneuten geregelten Archivierung begreift. Zuletzt verwandelt sich die den Blicken offene, sonst aber nach außen geschlossene Portiersloge in einen geschlossenen, arkanen Raum (»über den Scheiben der halben Portierloge zogen sich im Fluge bis in die letzte Höhe schwarze Vorhänge«), in dem erneut eine teletechnische Installation als Mensch-Maschine-Konstellation zu beobachten ist, die in vielem dem Telefonverkehr im Geschäft des Onkels zu vergleichen ist. Die Sender- und Empfängerrolle ist auf dreimal zwei Personen aufgeteilt; es entstehen drei Vermittlungsstellen, wobei neben jedem Sprecher »ein Junge zur Hilfeleistung« steht, der Telefonnummern, also die Adressen der Botschaft herauszusuchen hat. 1 1 7 Diese »Anordnung« (VA 202) wirkt von außen wie eine Ansammlung körperlicher Schwäche und beobachtender Meditationen, denn Sender und Empfänger der Botschaften wie deren Thema bleiben offen: »und [man] hätte glauben können, sie beobachteten murmelnd irgend einen Vorgang in der Telefonmuschel, während die drei andern wie betäubt [...] die Köpfe auf das Papier sinken ließen, das zu beschreiben ihre Aufgabe war.« Die jedem Sprecher zugeordneten »Junge[n] zur Hilfeleistung« bilden mit diesen zusammen eine funktionale Hierarchie, die die Rangfolge der Auskunftgeber und ihrer Helfer wiederholt. Sie spiegelt sich in der repräsentativen Hierarchie der Oberkellner, Oberportiers und Oberköchinnen, die auf die Spitze der »Hoteldirektion« verweisen. Aber die Aussage des Oberportiers »So tritt hier immer jeder fur den andern ein« ( V A 203), mit der er seine Vertretung des Oberkellners begründet, widerspricht in ihrer Verallgemeinerung der hierarchischen Struktur der Hotelbürokratie, wo eben nicht jeder jeden anderen ersetzen kann, sondern wo auf horizontaler Ebene Paare und Serien festgelegt werden. Weil diese Äußerung implizit Karls Demütigung und Bestrafung widerruft, die ihren Ursprung ja im Gebot autorisierter Stellvertretung hatte, erweist sie sich als zutiefst ironische Bekundung einer wechselseitigen Solidarität, die sogleich
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Groys, Über das Neue, S. i n f f .
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Im Brief an Feiice vom 22./23.1.1913 entwirft Kafka ironisch Geschäftsideen, die sich an Feiice Bauers Tätigkeit im Parlographenunternehmen entzünden. Eine prominente Rolle spielt die Telefoneinrichtung in Hotels. Vgl. Kafka, Briefe an Felice, S. 264fr.
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vom Sprecher selbst in einer Amtsanmaßung dementiert wird: »Im übrigen bin ich in gewissem Sinne als Oberportier über alle gesetzt [...].« (VA 203) Somit ist das Hotel occidental ein Beispiel für die moderne Verschachtelung und Uberlagerung repräsentativer und funktionaler Hierarchien, die nur noch lokal und über Selbstermächtigungen funktionieren. In ihm manifestieren sich die kommunikationstheoretischen Konsequenzen des Ausschlusses und des unerwartbaren Wiedereintritts der Individuen in die medialen Anordnungen. Das Verfahren der Stellvertretung erweist sich in seinen Manipulationsmöglichkeiten als zutiefst rhetorisch und damit politisch, es steht im Kampf um die Macht an zentraler Stelle: Wer die organisationsinterne Stellvertretung regelt, regelt immer auch Zeichenprozesse und vice versa. Für Karl verwandelt sich die Bürokratie im Hotel occidental zuletzt in eine Hoffnungsvernichtungsmaschine: »[...] denn nun war dieser Liftjungendienst nicht wie er gehofft hatte, eine Vorstufe zu besserer Anstellung gewesen, vielmehr war er jetzt noch tiefer herabgedrückt worden und sogar sehr nahe an das Gefängnis geraten.« (VA 205) Die moderne soziale Mobilität bestätigt sich als zutiefst riskant, weil jeder Moment Korruption und Abstieg implizieren kann. Eine Akkumulation von Ansprüchen kann jederzeit in sich zusammenfallen. Die Hoffnung des einzelnen, »einen Posten zu finden, in dem er etwas leisten und für seine Leistungen anerkannt werden könnte« (VA 272), kann sich dann nur noch auf günstige Gelegenheiten richten: Sie sei »größer, wenn er vorläufig die Dienerstelle bei Delamarche annahm und aus dieser Sicherheit heraus die günstige Gelegenheit abwartete [...].« (VA 272) Das positive Ziel seiner Erwartungen aber ist die Beamtenrolle, die im Verschollenem in einen zeitgenössischen Topos der Beamtenkritik eingeschrieben wird: [...] schließlich war es ja gar nicht ausgeschlossen, daß er auch fur reine Büroarbeit aufgenommen werden konnte und einstmals als Bürobeamter an seinem Schreibtisch sitzen und ohne Sorgen ein Weilchen lang aus dem offenen Fenster schauen würde wie jener Beamte, den er heute früh beim Durchmarsch durch die H ö f e gesehen hatte. [...] Wenn aber Karl einmal einen solchen Posten in einem Büro hätte, dann wollte er sich mit nichts anderem beschäftigen als mit seinen Büroarbeiten und nicht die Kräfte zersplittern wie der Student. Wenn es nötig sein sollte, wollte er auch die Nacht fürs Büro verwenden [...] Er wollte nur an das Interesse des Geschäftes denken [...] und allen Arbeiten sich unterziehen, selbst solchen, die andere Bürobeamte als ihrer nicht würdig zurückweisen würden.« (VA 272)
Der von den Akten weg aus dem - offenen - Fenster blickende, sorgenlose Beamte, der schon im Brief an Hedwig Weiler vom Oktober 1907 imaginiert worden war, und der zum Vergleich herangezogene stets besorgte nachts studierende Angestellte zeigen in einer Variation des platonischen Höhlengleichnisses die chiastischen Verschränkungen der Sorge um sich und der Sorge um das Ganze, die die moderne Berufsbeamtenrolle kennzeichnen. Wer die Wohlfahrt des Ganzen im Auge hat, braucht sich um sich selbst keine Sorgen zu machen und hat einen freien Blick, wer 130
dagegen seine Kräfte in der Sorge um sich und der Sorge um ein fremdes Geschäft zerstreut, sieht nichts (VA 263), weil er den Blick in die Bücher richtet und gegen das Licht »blinzelt« (VA 265). Die Zersplitterung der Kräfte verweist zweifellos auf Kafkas persönliche Ausfüllung der Autorrolle: Zwar materiell sorglos, aber in den eigenen Kräften zerstückelt, des Nachts über den Büchern, ist dem Autor der freie Blick aus dem Fenster verwehrt, so daß sein Blick nach außen notwendig ein verstellter sein muß. Die zeitgenössische Bürokratiebeschreibung von Josef Olszewski dagegen, die Kafka hier zweifellos mit- und weiterschreibt, benutzt die Fenstermetapher fur die Kritik an der bürokratischen Weltkonstruktion: Die beschränkten und oftmals schmutzigen Fenster der Büros trennen den Beamten von der Wirklichkeit, der er sich in persona im Modus der Inquisition und Visitation128 auszusetzen hätte. Statt dessen bleibt er im Büro und schiebt das Medium der Schrift zwischen sich und die Realität, die er deshalb immer nur verzerrt wahrnimmt. 12 ' Kafka wird die intransparenten >Fenster< der Bürokratie im >Schloß< invertiert wieder auftauchen lassen: Dort versperren die spiegelnden Fenster und die spiegelnden Brillengläser dem von außen kommenden K. die Sicht auf das Innere der Bürokratie.
3.6.6 Das »Naturteater von Oklahama«: Integration, Macht, Unvertretbarkeit Die von Kafka nach einer längeren Unterbrechung im Sommer 1914 wieder aufgenommene Arbeit am >Verschollenen< enthält mit der Aufnahmeprozedur in das »Naturteater« ein bürokratisches Verfahren neuer Prägung. Zuerst ist darauf hinzuweisen, daß die »Ausreise Bruneidas« in das »Unternehmen Nr. 25« in einer Verwaltung endet, die mit ihrer gesetzlichen Strenge keine Ausrede gelten läßt, zugleich aber ein bloßes Begleitphänomen bleibt, das nicht interveniert. Es braucht nicht ernster genommen werden »als das regelmäßige Uhrenschlagen« (VA 294). Der Verweis des Verwalters, der Karls Unpünktlichkeit anmahnt, wird so in die regelmäßige indexikalische Anzeige des Zeitmeßverfahrens eingeordnet und ver-
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Vgl. Siegert, Passage des Digitalen, S. 80: Während die Visitation einen ausnahmsweisen Wirklichkeitskontakt bezeichnet, verweist die Inquisition auf eine kommissarische Begutachtung. — Vgl. zur Visitation auch Kap. 5 dieser Untersuchung. Vgl. dazu die zeitgenössischen Bürokratiebeschreibung von Josef Olszewski, Bureaukratie, Würzburg 1904, S. 93: »Zu was anderem aber, wenn nicht zur Schablone, muss die Routine in den Händen eines behördlichen Funktionärs werden, welcher sich scheut und es geradezu nicht versteht, sein Augenmerk über die Grenzen seines Kanzleitisches oder über jenen Gesichtskreis hinaus zu richten, welcher sich aus dem Fenster des bezüglichen Amtes überblicken lässt.« S. 286: »Das, was sich durch die staubigen Bureaufenster nur ungenau sehen lässt, oder wozu man im Wege schriftlicher Korrespondenz längere Zeit und Formalitäten braucht [...], das lässt sich nicht selten durch eigene Augenscheinnahme und durch persönliches Dazwischentreten des Beamten sofort zur allgemeinen Zufriedenheit erledigen«.
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liert, weil er nicht aus dem nivellierenden Kontiguitätsverhältnis heraustritt, seine normative Kraft: »Auf solche Reden hörte Karl kaum mehr hin, jeder nützte seine Macht aus und beschimpfte den Niedrigen.« (VA 294) Die performativen Äußerungen und Bestätigungen der Macht werden in ihrer Adressierung ubiquitär und sind in ihrer Regelmäßigkeit zumeist zu vernachlässigen. Ganz anders verhält es sich mit der zweiten Pünktlichkeitsmahnung auf dem Werbeplakat des »Naturteaters von Oklahama«: »Das große Teater von Oklahama ruft Euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer!« (VA 295) Der schriftliche Hinweis auf die Einmaligkeit der Einladung unterläßt es aber, ein eindeutiges Datum zu nennen, so daß die indexikalischen Zeitaussagen »heute [...] jetzt«, die in der mündlichen Kommunikation ihren eindeutigen Sinn haben, systematisch mehrdeutig werden.'30 Die »Unwahrscheinlichkeit« (vgl. V A 295) des Plakates besteht daher mehr in der systematischen Ausschaltung eindeutiger situativer Bedingungen, unter denen die Aufforderung erfüllt werden kann, als in der Aussparung der ökonomischen Dimension. Entweder kommt keiner oder jeder rechtzeitig zur deutungsbedürftigen Rekrutierungsprozedur für das »Naturteater von Oklahama«, die auf der (Pferde)-Rennbahn von Clayton stattfindet. Der Text des Fragments unterminiert systematisch jede eindeutige Festlegung der Referenz: Was das Naturtheater >eigentlich< sei, wird nirgends deutlich, nebeneinander stehen eine allgemein-religiöse,131 die circensische,'3* die kriegsrekrutierungstechnische,'33 die zionistische134 und die versicherungspropagandistische135 Dimension des Geschehens. Natürlich verweist die Präsentation der Begrüßungsszenerie mit den als Engeln verkleideten Frauen und den in Aussicht gestellten »Teufeln«, mit der impliziten Zusagen, alles zu vergessen, »was er bisher getan hatte,« (VA 295) auf den Eintritt in eine religiöse Gemeinschaft, die zugleich Himmel und Hölle verspricht. Zweifellos sind die militärischen Einreihungs- und Rekrutierungsverfahren der modernen Massenheere eine sehr plausible Referenz, zumal Kafka, selbst wegen körperlicher Schwäche zunächst untauglich - »militärfrei« — und später wegen seiner beruflichen Tätigkeit vom Kriegsdienst freigestellt, mit dem Gedanken spielte, dennoch Soldat zu werden. Das Gleiche gilt fur die zeitgenössischen Werbefeldzüge der Lebensversicherungen, die Kafka aus der Tätigkeit bei der Assicurazioni generali und wahrscheinlich aus damit zusammenhängender Lektüre vertraut sind: Sie
•3° Vgl. Nöth, Handbuch der Semiotik, S. 185fr. 131 Vgl. Heinz Politzer, Franz Kafka, der Künstler, Frankfurt a.M. 1965 (EA 1962), S. 2 3 2ff. Walter Bauer-Wabnegg, Zirkus und Artisten im Werk Franz Kafkas. Ein Beitrag über Körper und Literatur im Zeitalter der Technik, Erlangen 1986, S. 97fr. 133 Anz, Kafka, der Krieg und das größte Theater der Welt, S. i)iff. Ή Wagner, Odysseus, S. 207ff. •3S Wagner, Odysseus, ebd. 132
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versprechen ebenfalls, jeden einzelnen aufzunehmen und reihen ihn dann in mindestens ebenso tief ausdifferenzierte Risikoklassen ein, wie Karl in die Gruppe der »gewesenen Mittelschüler« (VA 305) eingeteilt wird. Die Beziehung zur zionistischen Auswanderungspropaganda ist ebenfalls unstrittig und läßt sich auch an Details nachweisen, obwohl im Text jedes religiöse Ausschlußkriterium ignoriert wird. Die Frage nach dem bisher ausgeübten Beruf, »damit wir ihn an den richtigen Ort stellen können, wo er seine Kenntnisse verwerten kann,« (VA 303) ist auch eine an Goethes >Wanderjahre< erinnernde Frage nach der Emigrationsfähigkeit, also nach der Bildung, die eine kolonisierende Bevölkerung befähigt, sich zu organisieren und verwalten. Kafkas Text spielt in der Feinheit der Berufs-Kategorien zudem mit der von den Zeitgenossen diskutierten Problematik der Berufsstatistik.136 Es geht bei allen vorgeschlagenen Referentialisierungen um eine inkludierende (»jeder ohne Ausnahme« (VA 302)) Erfassung der Bevölkerung, sei sie nun missionarischer, biopolitischer oder kommerzieller Art, die von Repräsentation und Stellvertretung auf das Gesetz der großen Zahl umstellt. Sie arbeitet nicht mit normativen Ausgrenzungen, sondern mit der Drohung eines endgültigen >Zu spätKafkaforschung< niemand mehr, dennoch besitzen manche für manche eine »große Verlockung« (VA 295). Eine noch größere Versuchung bestünde darin, die Konkurrenz der Deutungen durch eine übergreifende, die Vielzahl der Auslegungen integrierende, Gesamtinterpretation aufzuheben: Die dem »Naturteater« implizite Anspielung auf die Topik des theatrum mundi137 scheint diese Großdeutung zu ermöglichen, doch diese Topik, die ihren Hintergrund in Kafkas ausgeprägtem theatralischen und dramaturgischen Interesse hat, und ihre Weiterungen, die den Rahmen und die privilegierte Interpretationsebene zu bilden scheinen, reichen zur umfassenden Analyse des Funktionierens dieser unterschiedlichen Referenzebenen nicht aus. Zwar bietet ein möglicher Arbeitsplatz im Theater der Figur Karl die Möglichkeit, sich von den zudringlichen Fragen nach seiner beruflichen Vergangenheit zu distanzieren, (»>Es ist ja ein TeaterJudenstaatvom Tellerwäscher zum Millionän funktioniert, weil es verallgemeinert wird und gerade deshalb selten zutrifft. Dem gegenüber ist Roßmanns Hoffnung auf die feste und sichere Stellung als Bürobeamter bescheiden und anmaßend zugleich. Die syntagmatische »Steigerung« im Text des Romanfragmentes von der Hafen- und Schiffsszene bis hin zur Schilderung des »Naturteaters«, wo eine Aufschichtung der nebeneinanderstehenden Großmetaphern Theater und Rennbahn über den bürokratischen Referenzen Lebensversicherung, Weltkrieg, Zionismus und Berufsstatistik stattfindet, läßt den literarischen Text selbst 147 als Experiment mit Metapher, Metonymie und Serie erscheinen: Die metaphorische Codierung der Metonymien (Schiff, Haus des Onkels, Hotel occidental) erscheint als eine fortsetzbare Serie, so daß mit der »Naturteater«-Konstellation zwar eine Differenz zu den vorhergehenden Stationen Roßmanns, aber kein endgültiger Abschluß, weder des Textes noch der >Laufbahn< Roßmanns hergestellt wird. Die Integration der >ganzen< Person in das »Naturteater« hebt die Entfremdungserscheinungen, wie sie auf dem Schiff, im Geschäft des Onkels und im Hotel zu Tage traten, nicht auf, sondern vollzieht die Ausdehnung und Verlängerung einer bürokratischen Macht, die Individuen wie Rennpferde und Wetter verfertigt und als Serien ausstößt.
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A n prominenter Stelle erneuert Reiner Stach diese Interpretation. Vgl. Reiner Stach, Kafka. Die Jahre der Entscheidung, Frankfurt a.M. 2002, S. I96f. 147 Vgl Wagner, Odysseus in Amerika: Der Roman sei ein syntagmatisches Segment neben den anderen, doch stellt er außerdem Pictura-subscriptio-Relationen her, die den Text als polyvalent erscheinen lassen. - Politzers Charakterisierung als »mißratene Allegorie« greift eindeutig zu kurz. Vgl. Politzer, Kafka, S. 233
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3-7
>Der ProceßProceßProceßVerschollenen< sollte der >Proceß< auch durch das Vorwegschreiben von Anfangsund Schlußkapitel einen festen Rahmen bekommen. 150 Der Versuch, schreibend einen vorgegebenen Rahmen aufzufüllen, findet seine Entsprechung in Reflexionen des Protagonisten, die den geschriebenen Text mit dem geschilderten >juristischen< Verfahren identifizieren. Diese textphilologische Annäherung von Schreib- und Gerichtsverfahren hebt die gleichsam teleologische Struktur von Verhaftung, Untersuchung und Exekution eines unausgesprochenen Urteils hervor.151 Die hier vorgeschlagene thematisch-motivische Lektüre lenkt das Augenmerk stärker auf die unterschiedlichen im Romanfragment behandelten Semiosen und ihr Verhältnis zueinander; dies gestattet, weil es bürokratische wie literarische Implikationen besitzt, eine Relationierung von Literatur und Verwaltung. 2. Das Romanfragment steht im engen Kontakt mit dem Briefwechsel und der aufgelösten Verlobung zwischen Kafka und Feiice Bauer, worauf vor allem
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Im folgenden wird nach der Ausgabe Franz Kafka, Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der Kritischen Ausgabe herausgegeben von Hans-Gerd Koch. Bd. 3: Der Proceß. Roman in der Fassung der Handschrift, Frankfurt a.M. 1994, mit der Sigle Ρ zitiert. Die Zahlen in den Klammern beziehen sich auf die Seitenzählung dieser Edition. •49 Vgl. Kafka, Tagebücher, Einträge unter den Daten 8.3.1912, S. 305, 23.9.1912, S. 355. Malcolm Pasley, Wie der Roman entstand. In: Nach erneuter Lektüre. Franz Kafkas >Der Proccßi, hg. von Hans Dieter Zimmermann, Würzburg 1992, S. 11—33. 151 Pasley, W i e der Roman entstand, S. 11 ff. — Detlef Kremer, Franz Kafka. Der Proceß. In: Nach erneuter Lektüre, hg. von H . D . Zimmermann, S. 185—199.
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Elias Canetti eindrücklich hingewiesen hat.152 Die Trennung und die Lösung aus Verpflichtungen, die das Ende der Junggesellenexistenz mit sich gebracht hätten, bedingen das Schreiben und umgekehrt, dies deuten die Daten der Entlobung (nach dem 12. Juli 1914) und des Beginns des Schreibprozesses (August 1914) zumindest an. Canetti ist so weit gegangen, die Verhaftungsszene des ersten Kapitels auf die von Grete Bloch vermittelte Verlobung im Hause Bauer, Fräulein Bürstner auf Feiice Bauer und Grete Bloch und die Exekution im letzten Kapitel auf das G e richtsverfahren im Askanischen Hof zu beziehen.153 Zweifellos rechtfertigt Kafkas berühmter Brief vom 14./15.1.1913 an Feiice Bauer zunächst diese Engfiihrung von lebensnäherem Brief und Romanfragment, doch die brieflich getroffene Unterscheidung zwischen »Oberfläche« und »wahrere[m] Gefühl«, welches die offenherzig enthüllte »Oberfläche« ins Schwanken bringe, macht das expressive Verhältnis von lebendigem Gehalt und Schrift rückgängig und kehrt es schließlich um: Schreiben heißt ja sich öffnen bis zum Ubermaß; die äußerste Offenherzigkeit und Hingabe, in der sich ein Mensch im menschlichen Verkehr schon zu verlieren glaubt und vor der er also, solange er bei Sinnen ist, immer zurückscheuen wird — denn leben will jeder, solange er lebt — diese Offenherzigkeit und Hingabe genügt zum Schreiben bei weitem nicht. Was von dieser Oberfläche ins Schreiben hinübergenommen wird - wenn es nicht anders geht und die tiefern Quellen schweigen — ist nichts und fällt in dem Augenblick zusammen, in dem ein wahreres Gefühl diesen obern Boden zum Schwanken bringt.' 54
Das literarische Schreiben enthüllt nicht ein immer schon vorhandenes Inneres, sondern treibt es aus sich hervor, weil es den Schreiber in eine bindunglose Einsamkeit führt, die jeden Lebensgehalt abtötet. Diese biographische und schreibtheoretische Deutung der literarischen Selbstreflexion vernachlässigt aber unter der Dominanz des Junggesellenthemas die anderen institutionellen und die semiotischen Mechanismen, die der Text verhandelt; deshalb gilt es, das im Romanfragment selbst explizit gemachte, mit der Proceßbürokratie engstens verbundene Schreiben, Reden und Malen als poetologische Selbstreflexion zu deuten, ohne die Verbindungen zur zweifach dingfest gemachten Schrift-Problematik zu leugnen. In diesem zeichentheoretischen Zusammenhang manifestiert sich die eigentümliche, ubiquitäre und sich entziehende Macht des Textes; diese äußert sich nicht darin, vorgängige Schuld zu identifizieren und zu bestrafen, sondern sie erzeugt verfahrenstechnisch eine Schuld, die sich mit jedem Versuch, dieser Macht näher zu kommen, vergrößert. Zu zeigen ist, daß es sich um die literarisch-experimentell vorgeführte Bio-Macht handelt, die schon in >Beim Bau der Chinesischen Mauer< und in den Naturteater-Passagen des >Verschollenen< kenntlich wurde. Der >Witz< des Fragments »Der Proceß< besteht
152
Elias Canetti, Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Feiice, München 1969. — Vgl. auch Politzer, Kafka, S. 2 4 4 ^
153
Canetti, Der andere Prozeß, S. 68fif. Franz Kafka, Briefe an Felice, S. 250.
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in der juristisch-theologischen Codierung dieser Macht, so daß eine Interferenz gesetzlicher und normalistischer Menschenlenkungstechniken entsteht. Es ist das >Proceßvor dem Gesetz«' 50 befindet, gleicht der praedekalogischen Existenz des ägyptischen Joseph; während dieser als Gegenstand der göttlichen Vorsehung betrachtet werden konnte, gerät Josef K . in ein normalistisch zu deutendes Kräftefeld, in dem das Gesetz als Leerstelle zwar immer angesprochen wird, sich aber letztlich jeder Entdeckung entzieht. Im Verlauf des Romanfragments und des Prozesses ist zu beobachten, wie Josef K. allmählich seine professionelle Stellvertreterfunktion aufgibt und sich zugleich von jenen Personen distanziert, die ihn vertreten wollen oder sollen. Er nimmt »seine Sache« (P 147) in die eigene H a n d und ist sich selbst »ein Advokat« (P 143). 1 5 7 D e r Onkel als »gewesener Vormund« (P 95) wird durch die Flucht in Lenis Arme ebenso brüskiert wie der Advokat und der Kanzleidirektor, die Josef K. in seiner >Sache< zu unterstützen und zu vertreten beanspruchen. Auch die Erfahrungen des selbst in einen Prozeß verstrickten Kaufmanns und die echten oder vermeintlichen Kenntnisse Titorellis erscheinen als unvergleichbar mit der Vorgeschichte und den Erlebnissen
155
Vgl. zur geschlechtspezifischen Funktion von Namensgebung und -Verwendung im >Proceß< Barbara Hahn, Die fremde Hilfe der Frauen. Tisch, Bett und T ü r in Kafkas >ProceßVor dem Gesetz«, hg. von K.-M. Bogdal, S. 159-172.
•56 Vgl. die prominente Interpretion von Jacques Derrida, Préjugés. Vor dem Gesetz, Wien
1999· 157
Die Komplexität der zeitgenössischen juristischen Diskussion zu Dauer und Umfang der prozessualen, insbesondere zur »gewillkürten« Stellvertretung im Unterschied zur »gesetzlichen« Stellvertretung, auf deren Hintergrund Kafkas Text argumentiert, vermittelt eindrucksvoll Rosenberg, Stellvertretung im Prozess, S. sijff.
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Josef K.'s, so daß die Suche nach Vertretern, Verbündeten und nützlichen Ratgebern an ein Ende gerät. Während sich die Proceß-Bürokratie räumlich und personell unablässig ausdehnt, ohne daß eine Differenz zwischen Repräsentanten und bloß durch Kontiguität mit dem Proceß verbundenen Figuren deutlich würde, zieht sich Josef K. mehr und mehr auf sich selbst zurück. Sein Fall ist unvergleichlich und seine Sache unvertretbar. Die moderne Trennung von Individuum, Rolle und Funktion wird schließlich aufgehoben, indem sie auf die Spitze getrieben wird. Das Individuum zieht sich aus seinen Amtern zurück und steht ohne Vertretung und ohne institutionelle Entlastung und Unterstützung einer feindlichen Organisation gegenüber. Diese Konstellation aus radikalem Individualismus und feindlicher Bürokratie ist jedoch keine gegebene Tatsache, sondern erweist sich als Effekt einer Überlagerung von Normalismus und Gesetzlichkeit, die den einzelnen über Lizenzen und Verbote methodisch im Unklaren läßt. Seine grundierende Spannung erhält der Text durch die plötzliche Verhaftung und die Unerkennbarkeit der individuellen Schuld. W o das Gesetz nicht buchstäblich, sondern nur in seinen menschlichen Vertretern, in den bürokratisch organisierten >Türhütern< erscheint,1'8 verwandelt sich die Schuld des einzelnen von einem erkennbaren Faktum zu einem Effekt von Kämpfen, Verhandlungen und Interventionen. Doch alle Fahndungen nach einem >Gesetz< unabhängig von seinen menschlichen Vertretern müssen anerkennen, daß stets die mit Autorität ausgestattete interpretierende Anwendung des >Wortlauts< auf den Einzelfall in der modernen Rechtskultur handgreifliche Interventionen gegen Individuen legitimiert. Die Konzentration der Aufmerksamkeit auf diese Konstellation wird vom Text nahegelegt. Sie begünstigt aber die Vernachlässigung jener Textindizien, die auf die Verschränkung normalistischer und protonormalistischer Dispositive deuten. Josef K. wird unter normalistischen Vorzeichen plötzlich protonormalistisch behandelt: W o es keine explizite Norm gibt bzw. wo diese nicht zugänglich ist, gegen die zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem bestimmten Verhalten verstoßen werden kann, herrschen Häufigkeiten und Normalverteilungen. Die Grenze, die normales von unnormalem Verhalten trennt, ist flexibel, und so fällt K. mit einem Verhalten, daß gestern noch normal war, heute in den gewissermaßen >behandlungsbedürftigen< Anormalitätsbereich. Die Verhaftung ohne Haft markiert so den Beginn einer Diagnose und einer Therapie. Daß sie in die Exekution der Todesstrafe mündet, wäre Beleg für die lebenslängliche Unterwerfung des einzelnen unter normalisierende Mächte. Anders als >Der Verschollenes dessen paradigmatischen Segmente syntagmatisch erscheinen und so in der Interpretation textchronologisch nachvollzogen werden 158
Vgl. Christine Lubkoll, »Man muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur fur notwendig halten.« Die Theorie der Macht in Franz Kafkas Roman »Der Proceß«. In: Franz Kafka: Schriftverkehr, hg. von Wolf Kittler/Gerhard Neumann, Freiburg 1990, S. 279-294, Hier: S. 280.
können, erfordert der Text von >Der Proceß< eine Schnitte setzende Lektüre, die Paradigmen und Isotopien gegen die Textströmung zueinander fuhrt. Die These Deleuzes und Guattaris von der Rhizomatik des Kafkaschen Œuvres bestätigt sich in der Praxis: Wo immer man anfängt, eröffnen sich Verbindungen; die Erschließung des Kontinents Kafka verfährt zwar willkürlich, aber in einer legitimen Willkür, wenn sie sich auf der Suche nach den bürokratietheoretischen Schätzen durch unverhoffte Nachbarschaften und Verbindungswege überraschen läßt. So kommt es wohl zu einer bürokratietheoretischen Kolonialisierung Kafkas, doch deren Ziel ist nicht die Deklassierung und Ausbeutung der Texte, sondern ihre falsifizierbare >Karte< mit bürokratietheoretischer Legende.'59 3.7.1 Zeitordnungen: Routine, Ritual und der Dispens von Bedeutung Bürokratie ist immer schon und immer noch da. Sie dauert idealiter stets länger als das Leben des Individuums. Umgekehrt ist aber auch der Einzelne immer schon und immer noch außerhalb bürokratischer Institutionen zu denken. Doch die Bürokratie sucht in das Leben des einzelnen einzugreifen, um es nach eigenen Maßgaben zu ordnen, zu regeln und zu fördern. Die Kafka zeitlich und räumlich naheliegende zeitgenössische Beschreibung der Bürokratie durch Olszewski faßt dies negativ als Eingriff »ohne Rücksicht auf das pulsierende Leben und die veränderlichen vitalen Verhältnisse und die Interessen des Individuums und der Gesellschaft«."50 Diese Verquerung von Dauer und momentaner Intervention manifestiert sich in >Der Proceß< darin, daß sein Beginn nicht exakt mit dem Beginn des Verfahrens koinzidiert und daß sein Schluß über die Exekution des Urteils hinausweist. Zu beginnen ist also mit dem Zeitregime des Romanfragmentes, des Textes und seines Gegenstandes, das sich als Unterbrechung und als Unterbrechung von Unterbrechungen manifestiert. Den ersten intervenierenden Schnitt setzt und beschreibt >Der Proceß< nach der berühmten Deutung des Geschehens im ersten Satz, da die wiederkehrenden Alltagsroutinen Josef K.'s gestört und unterbrochen werden: »Die Köchin der Frau Grubach [...], die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehn.« (P 9) Dieser Einschnitt fällt zusammen mit einer rituellen Unterbrechung des Lebensvollzugs, der jährlichen Erinnerung an die eigene Geburt, und überlagert diese. Daß die Sonntage mit Rücksicht auf K.'s Berufstätigkeit zu Untersuchungstagen erklärt werden, nähert auf einer traditionellen symbolischen Ebene das Gerichtsverfahren heiligen Handlungen an bzw. profaniert den - christlichen - Tag des Gottesdienstes. Zugleich
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Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, S. 23fr. — N ö t h , Handbuch der Semiotik, S. 4 8 7 ^
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Olszewski, Bureaukratie, S. 73.
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aber entsteht nicht nur eine Konkurrenz zwischen der Sphäre des Gesetzes und der Sphäre des Heiligen, sondern auch eine gemeinsame Rivalität dieser beiden Sphären gegenüber der profanen Sphäre der Freizeit: A u f die ehrenvolle Einladung des Direktor-Stellvertreters zur sonntäglichen Segelpartie muß K. wegen des Untersuchungstermins verzichten (P 42). Was also eigentlich seine berufliche Tätigkeit nicht tangieren sollte, bekommt schon am allerersten Tag eine Wendung, die nicht nur die Zeitordnung, sondern jegliche »Ordnung« als Koordination von Handlungen und Zeichen überhaupt zerstört. In allen kleinen Pausen [Hervorhebung d. V f n . , K. St.] der Tagesarbeit hatte er daran gedacht; ohne genau zu wissen, was er meinte, schien es ihm, als ob durch die Vorfälle des Morgens eine große Unordnung in der ganzen W o h n u n g der Frau Grubach verursacht worden sei und daß gerade er nötig sei, um die Ordnung wieder herzustellen. W a r aber einmal diese Ordnung hergestellt, dann war jede Spur jener Vorfälle ausgelöscht und alles nahm seinen alten Gang wieder auf. (P 26)
Josef K.'s Idee einer grundsätzlichen Revidierbarkeit der Verhaftung ist an Unterbrechungen seiner Arbeit geknüpft, steht damit aber im Widerspruch zu einer Äußerung gegenüber Frau Grubach, in der K. kontrafaktisch eine ununterbrechbare Handlungskette entwirft, die im häuslichen Bereich die Routine aufhebt, »hätte ich diesmal ausnahmsweise etwa in der Küche gefrühstückt [...]«, und für den beruflichen Bereich einen routinierten »Zusammenhang der Arbeit« und der hierarchischen Gliederung konstatiert, in den K. »immerfort« eingebunden sei und der ihn vor Überrumpelungsversuchen schütze. (P 29) Der Beginn des Prozesses ist eine gänzlich anomale Unterbrechung des Lebens- und Arbeitsvollzuges. Die Verhaftung unterbricht das Interim des Geburtstages und fugt neue, reflexionssteigernde illegitime Pausen in den Gang des Lebens mit seinen geregelten Unterbrechungen: »Aber statt zu arbeiten drehte er sich in seinem Sessel, verschob langsam einige Gegenstände auf dem Tisch, ließ dann aber, ohne es zu wissen den ganzen Arm ausgestreckt auf der Tischplatte liegen und blieb mit gesenktem Kopf unbeweglich sitzen.« (P 118) Die Sonn- und Geburtstage, die rituellen, immer wiederkehrenden traditionsgebundenen Gelegenheiten des bürgerlichen Lebens zum Innehalten werden vom Prozeßverfahren okkupiert, das umgekehrt zur Unterbrechung des routinierten funktionalen Daseins zwingt: » [...] und warum, so schienen wieder die Herren hinter der geschlossenen T ü r zu fragen, verwendete der fleißige K. für Privatangelegenheiten die beste Geschäftszeit«. (P i34f.) l f i l Daß K . am Sonntag zur Untersuchung bestellt wird, daß Block den genauen Beginn des Prozesses von seinem angeblichen Zeichen, dem Glockenklingen, abkoppelt, die Verwirrung der
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So heißt es im Dom-Kapitel: »Jede Stunde, die er dem Bureau entzogen wurde machte ihm Kummer; er konnte zwar die Bureauzeit beiweitem nicht mehr so ausnützen wie früher, er brachte manche Stunden nur unter dem notdürftigsten Anschein wirklicher Arbeit hin, aber desto größer waren seine Sorgen, wenn er nicht im Bureau war.« (P 209)
Zeitangaben im Dom-Kapitel, all dies vollzieht und zeigt die bedrohliche Aufhebung der Trennung von Leben und Prozeß. Josef K . erscheint in seinem Zeitmanagement als Vollzugsorgan von Normalität, zugleich als Repräsentant der von Kafka beschworenen und kritisierten »Auswurfsklasse des europäischen B e r u f s m e n s c h e n « , d e r im Wechsel von Arbeit und Freizeit, von Ritual und Routine funktioniert. Durch die Verhaftung wird er zu einer denormalisierenden Reflexion gezwungen, die mehr und mehr aufhört, punktuell interimistisch zu sein, sondern totalisierend wirkt: Das gesamte letzte Lebensjahr ist vom Prozeßverfahren geprägt, das sich nicht nur als Störung des G e w o h n t e n , sondern als Z w a n g zur Neujustierung aller Zeiten und Zeichen entpuppt. Ein Ausweg liegt nur in der Weigerung, im Geschehen etwas Bedeutungsvolles zu sehen: K.'s Antwort auf Frau Grubachs Behauptung, bei seiner Verhaftung handele es sich um »etwas Gelehrtes [...], das ich zwar nicht verstehe, das man aber auch nicht verstehen muß«, ist eine hilflose Attacke gegen Sinn und Bedeutung des Geschehens: »Nur urteile ich über das ganze noch schärfer als Sie, und halte es einfach nicht einmal fiir etwas Gelehrtes sondern überhaupt fur nichts.« (P 28) K.'s Insistieren, daß die Verhaftung lediglich eine bedeutungslose und vermeidbare Störung des normalen Zusammenhangs der Dinge sei, ist der vergebliche Versuch, den Reflexionszwang und die Bedeutungszuweisungen zu kappen, die das Verfahren dem Individuum auferlegt, wenn es den normalen Lebensvollzug plötzlich unter juristisch-normativen Differenzen beobachten muß.
3.7.2 Grenzen der Verantwortung Das Ende der nicht revidierbaren Unterbrechung ist die Exekution eines unausgesprochenen Todesurteils. Sie bildet das Ende aller Unterbrechungenen u n d alles Unterbrochenen. Josef K.'s Verzicht auf Widerstand gegen die H i n r i c h t u n g ist die Bestätigung einer Verfahrenskontinuität, die okkupierend an die Stelle der zuvor beschworenen Lebenskontinuität getreten ist, eine Stellvertretungsrelation, die nichts bedeutet, die jeder Zeichenhaftigkeit entbehrt. Josef K.'s Rechtfertigung rekurriert auf die Unentrinnbarkeit eines Prozesses, der kein Außen mehr hat. Eine Unterbrechung der Exekution würde lediglich eine Wiederaufnahme des Prozesses an früherer Stelle bedeuten: »Soll man mir nachsagen dürfen, daß ich am A n f a n g des Processes ihn beenden und jetzt an seinem E n d e ihn wieder beginnen will. Ich will nicht, daß man das sagt.« (P 238) Die H o f f n u n g auf Aufschub und auf Revidierbarkeit des Verfahrens wird jetzt durch ein umfassendes »Einverständnis«, (P 239) ein »Entgegenkommen« (P 240) ersetzt, das man ideologiekritisch als ultimative Unterdrückung des Individuums durch die Institution oder modernisierungstheoretisch als Verwandlung der Fremd- in Selbstzwänge verstehen könnte. Individualität
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Kafka, Briefe, S. 50. 143
erscheint als Erschöpfung, als der Rest, der sich nicht zur Übernahme der Verantwortung fur das eigene Leben ermächtigen vermag: »Vollständig konnte er sich nicht bewähren, alle Arbeit den Behörden nicht abnehmen, die Verantwortung f ü r diesen letzten Fehler trug der, der ihm den Rest der dazu nötigen Kraft versagt hatte.« (P 241) Die zunehmende Verlagerung oder Ausdehnung der institutionellen >Logik< in das Individuum durch die unendlich ausfullbare Leere des Gesetzes und den Rückzug seiner offiziellen Vertreter findet ihre Grenze in der als Schwäche beschriebenen Unfähigkeit des Individuums, auch noch die Zuständigkeit fur das E n d e des eigenen Lebens zu übernehmen. Das Menschenopfer, 1 6 ' das auf diesem Altar gebracht wird, verliert durch die Eigentümlichkeit des Verfahrens die Möglichkeit, sich als passives unschuldiges O p f e r zu beschreiben, sondern bewahrt sich eine paradoxe A u t o n o m i e im Z u gleich von Einverständnis und Schwäche, aber auch im Dispens einer zeichenhaften Stellvertreterschaft, auf die durch die christologische Codierung des letzten, einunddreißigsten Lebensjahres K.'s angespielt wird. 1 6 4 Im Lichte eines imaginierten posthumen Urteils über den Verurteilten erscheint nämlich das Vorleben K.'s als nun verfehltes Begehren, stellvertretend zu intervenieren, also zeichenhaft zu handeln: »Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck.« (P 238) Die überzähligen Hände als Symbole eines Handelns mit fremden Gliedern lassen sich auf Josef K.'s Prokuristentätigkeit beziehen, die ein eigenverantwortliches Handeln in fremdem Namen ist. Es setzt aber das Funktionieren von Zeichenprozessen voraus, das Josef K. zu Beginn des Prozesses, um sich von ihm zu distanzieren, verabschiedet hatte. D i e späte Folge dieses widerständigen Verzichts auf Bedeutungszuschreibung ist paradoxerweise jenes Einverständnis, das eine >unmögliche< Art der Stellvertretung begründet. Weil im normalistischen Prozeß dem einzelnen die Verantwortung und H a f t u n g für alles zugeschrieben wird, kann er nur noch die Ermordung den Gerichtsvertretern überlassen, die nun als Stellvertreter seiner selbst, als Handlanger des Selbstmörders tätig werden.
3.7.3 Autobiographik und Autoadvokatur Das eigentümliche Verfahren gegen K., nicht aber der T e x t des Romanfragments, der eine anonyme »Scham« (P 241) das Menschenleben überdauern läßt, endet mit der Exekution eines nie ausgesprochenen Todesurteils, die nach genau einem Jahr, am Vorabend von Josef K.'s nächstem Geburtstag, stattfindet. Damit steht das letzte
">3 Vgl. René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987, sowie: Ders., Der Sündenbock, Zürich 1988. 164
144
Gerhard Neumann, Der Zauber des Anfangs und das >Zögern vor der Geburt« - Kafkas Poetologie des -riskantesten Augenblicks«. In: Nach erneuter Lektüre: Franz Kafkas »Der Proceß«, hg. von H. D. Zimmermann, S. 121-142.
Lebensjahr des Protagonisten im Bann eines Verfahrens, das keine deutlichen Unterscheidungen zwischen Untersuchung, Urteilsspruch und Urteilsexekution macht. Zwar ersetzt das >Verfahren< in Justiz, Staat und Gesellschaft das »alteuropäische Modell einer hierarchischen Ordnung von Rechtsquellen und Rechtmaterien«, 165 doch wird seine die Normalität des Lebens in Frage stellende Normativität hier angefochten: Die Kombination von Sicherheit und Freiheit, die das Verfahren zu gewährleisten verspricht, gerät in Gefahr, wenn seine Routinen nicht mehr zu identifizieren und zu erkennen sind. Die Übernahme bindender Entscheidungen in die eigene Entscheidungsstruktur kommt nämlich gar nicht erst zustande, wenn Orte und Funktionäre der Entscheidung nicht identifizierbar sind. Die unterstellte und vermutete Zuschreibung einer Schuld, die in Kafkas Text im Gegensatz zu den erwartbaren Prinzipien unserer Rechtskultur' 66 bereits darin bestehen kann, ein verschwiegenes Gesetz nicht zu kennen, löst in Josef K. zunächst jenen Rechtfertigungsfuror aus, der spätestens seit Rousseau die Vorstellung eines obersten, zuletzt göttlichen Gerichts mit dem autobiographischen Schreiben verbindet und es zugleich zu einem unmöglichen Projekt verurteilt. 167 Wer nämlich sein gesamtes vergangenes Leben in die juristische Waagschale werfen muß, weil Gesetz und Tatbestand verschwiegen bleiben, hat eine narrative Rekonstruktion vorzulegen, die zum Scheitern verurteilt ist, weil das Ganze eines kontinuierlichen Lebens nicht lückenlos in einem diskreten, konventionalen Zeichensystem abgebildet werden kann. Die meditativ konnotierte Reflexion über die zweckmäßigste Verteidigungsstrategie setzt demnach die - unmögliche - eigene Lebensbeschreibung in Konkurrenz zur Vertretung durch den unbeherrschbaren Advokaten (Ρ 118); 168 die Lebens-Schrift soll den Vertreter nicht nur vertreten, sondern ersetzen: 169 Öfters schon hatte er überlegt, ob es nicht gut wäre, eine Verteidigungsschrift auszuarbeiten und bei Gericht einzureichen. Er wollte darin eine kurze Lebensbeschreibung vorlegen und bei jedem irgendwie wichtigern Ereignis erklären, aus welchen Gründen er so gehandelt hatte, ob diese Handlungsweise nach seinem gegenwärtigen Urteil zu verwerfen oder zu billigen war und welche Gründe er für dieses oder jenes anfuhren konnte. (P 118)
Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt a.M. 1997, 4. Aufl. (EA 1969), S. VII. 166 £ ) e r Rechtsgrundsatz besagt, daß Unkenntnis bei akutem Verstoß vor Strafe nicht schützt, die Unkenntnis als solche ist jedoch nicht strafbar. 167
Jean-Jacques Rousseau, Les Confessions. In: Oeuvres Complètes I, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1959. — Z u m Z u s a m m e n h a n g von autobiographischem Schreiben und kriminologischem Archiv vgl. M a n f r e d Schneider, D i e erkaltete Herzensschrift. D e r autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München/Wien 1986.
168 Vgl. Kafka, Der Proceß, S. 118: »Die Vorteile einer solchen Verteidigungsschrift gegenüber der bloßen Verteidigung durch den übrigens auch sonst nicht einwandfreien Advokaten waren zweifellos. K. wußte ja gar nicht was der Advokat unternahm [...]. 169
Vgl. Sokel, Kafka, S. I4if. Das Scheitern der Autobiographie wird hier allerdings zur Schuld K.'s.
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Aus der Unkenntnis des auf ihn angewandten Gesetzes rührt der Solipsismus des Unternehmens und das unendliche autobiographische Schreiben: Die »Schwierigkeit der Abfassung der Eingabe [...] [ist] überwältigend« (P 133), sie bedeutet nämlich eine »fast endlose Arbeit«. (P 134) Bei Berücksichtigung des Kontextes zeigen sich die verheerenden institutionellen u n d zeichentheoretischen Konsequenzen des verschwiegenen Gesetzes: Das unmögliche Projekt der eigenen Lebensbeschreibung entsteht aus der Unzulänglichkeit von personaler Vertretung und ist damit an das Scheitern von Zeichenrelationen gekoppelt. Weil es »keine Schuld« gibt, ist »der Proceß [...] nichts anderes, als ein großes Geschäft [...].« (P 132) D o c h nun gilt es für K , als Prokurist seiner selbst im eigenen Namen zu handeln und den »Gedanken an den eigenen Vorteil möglichst fest [zu] halten« (P 132): Der Vergleich von »Geschäft« und »Schuld« verweist nicht nur auf den Gegensatz von Ökonomie und Recht, sondern macht auch die Problematik einer Selbststellvertretung sinnfällig: In einer entzauberten, säkularisierten, funktional ausdifferenzierten Welt gerät gerade derjenige in den Bann eines totalisierenden Normalismus, dem es nicht gelingt, die Rede von der »Schuld« als bloß partiellen Sprechakt innerhalb des Rechtssystems zu begreifen, der nie >den ganzen Menschen« erfaßt. K.'s >privat-politische< Fähigkeiten, »sich in der Bank in verhältnismäßig kurzer Zeit zu seiner hohen Stellung emporzuarbeiten und sich von allen anerkannt in dieser Stellung zu erhalten«, (P 132) versagt in dem M o m e n t , da ihn nicht mehr Kredite und Schulden, sondern die eigene Schuld beschäftigen: Signifikant dafür ist die emblematische Szene, in der der Direktor-Stellvertreter »mit großem Gelächter« einen »Börsenwitz« (P 133) auf jenem Schreibblock und mit jenem Bleistift illustriert, die K. für seine Lebensbeschreibung vorgesehen hatte. (P 133) Die Enteignung seines Schreibinstruments 1 7 0 und die machtgestützte Beschriftung seines Schreibmediums durch einen Anderen markieren den Punkt, da (sich) K. von seiner beruflich-funktionalen Welt entfernt (wird) und einer endlosen Selbsttechnik anheimgeben muß, die »unmöglich war [...] fertigzustellen« (P 134). D i e spezifisch moderne Distanzierung des Individuums v o n der eigenen Tätigkeit, die ein >Lachen über Börsenwitze< allen abverlangt, ist für K . eine Provokation, sie stellt seinen Prozeß in Frage, der ihn wegen seiner »Unkenntnis der vorhandenen Anklage und gar ihrer möglichen Erweiterungen« dazu zwingt, »das ganze Leben in den kleinsten Handlungen und Ereignissen in die Erinnerung« zurückzubringen, darzustellen und von allen Seiten zu überprüfen. (P 134) Die Sorge um die Z u k u n f t im Zeichen des verschwiegenen Gesetzes zwingt zur Aneignung der Vergangenheit auf Kosten der Gegenwart. Die »Geschäfte der Bank« und die »Schriften dieses Processes« schließen einander aus. D i e Entscheidung, im Prozeß Prokurist und Advokat der eigenen Sache zu werden, bedeutet »die Notwendigkeit sich von allem andern möglichst abzuschließen«, so daß ein bloßer »Urlaub« (P 139)
170 Vgl. auch die Szene, da der Onkel K.'s Schreibtisch als Sitzmöbel mißbraucht. 146
von der Berufstätigkeit der unabsehbaren Dauer des Processes niemals entsprechen könnte. Die Gleichzeitigkeit von Proceß und Geschäft erscheint als eine »vom Gericht anerkannt[e] Folter« (P 139), so daß der Verzicht auf eine endgültige Verhaftung, das Insistieren auf der Privatheit des Prozesses perfide machttechnische Konsequenzen zeitigt: Die vormoderne Zurichtung des Körpers verwandelt sich in eine Disziplinierung des >InnerenBlödigkeitvor< dem Gesetz, »seitwärts von der Tür« (P 226). Zugleich ist die Kontiguität zum Gesetz unauflöslich, solange die Hoffnung auf die zukünftige Eintrittserlaubnis nicht zerschlagen wird. Die Hoffnungspolitik des Türhüters korrespondiert mit dem Verfahren des »Naturteaters« im >Verschollenengestört< und wird als Verblendungs- oder Verschwörungszusammenhang erkennbar, doch im Bannkreis des Gesetzes lebt nur der, der sich von ihm anziehen läßt. Eine Zukunft »außerhalb des Processes« wäre also nur möglich, wenn man das Verlangen, das Gesetz zu erkennen, aufgäbe. Dann hätte man die normalistische Funktion schriftlich fixierter Normen und ihrer Verwalter zu erkennen, nämlich den einzelnen davon abzulenken, daß sein gesamtes Verhalten unter Beobachtung steht, insbesondere dann, wenn er sich an einem Ort um die >Stelle< des Gesetzes bemüht, der sich als solipsistische Nische des normalen Individuums erweist. Die Zukunftssorge des Individuums angesichts der überall osmotisch eindringenden >ProceßSchloßProceßVor dem Gesetzunter< dem Gesetz stehenden Institutionen: Das Gesetz (als Text) determiniert hier idealiter das Verhalten der Behörde, das als funktionales, also als heteronomes Handeln konkretisiert wird. Die Behörde ist hier nicht eine Summe selbständig und unberechenbar handelnder Vertreter, sondern eine Reihe von Boten, eine triviale Maschine. 2. K.'s lange Rede bei der ersten Untersuchung ist von einem A u f und A b geprägt, das den Wechsel zwischen Außen- und Innenperspektive kennzeichnet: K. bemüht sich auf dem »Podium«, die Souveränität eines von außen und von oben Beobachtenden und Urteilenden zu gewinnen, um schließlich doch auf gleicher Ebene, »Aug' in Aug'« (P 57), dem Gedränge des Publikums gegenüberzustehen. Sein Plädoyer gegen die »Sinnlosigkeit des Ganzen«, gegen die »große Organisation« (P 56) und die Korruption ihrer Organe, die Vorwürfe gegen die Wächter und Aufseher, gegen die Entwürdigung vor der Versammlung, gehen am Kern des Problems, dem >verschwiegenen< Gesetz vorbei. So kann sich das unstrukturierte »Gedränge«, das sich während des Plädoyers in Parteien geschieden zu haben schien, als zueinandergehörig entpuppen und die Differenz zum Untersuchungsrichter zusammenbrechen. Die Rhetorik des Plädoyers erweist sich durch die fehlgeschlagene Adressierung als situationsunangemessen: »Ihr seid ja alle Beamte wie ich [erst jetzt an den Abzeichen unter den Barten, K. St.] sehe, Ihr seid ja die korrupte Bande, gegen die ich sprach, Ihr habt Euch hier gedrängt, als Zuhörer und Schnüffler, habt scheinbare Parteien gebildet und eine hat applaudiert um mich zu prüfen.« (P 58) Die Identifikation von »Beamten« und »korrupter Bande« macht nun dingfest, welche machttechnischen Konsequenzen das verschwiegene Gesetz hat. Es hebt die Unterscheidungen zwischen Freund und Feind auf und isoliert das Individuum gegen eine homogenisierte Umwelt aus lauter Blicken der Beamten. Als Raubtier mit »Krallen« steht der Einzelne den »kleine[n] schwarze[n] Äuglein« und den »steiflen] und schütteren« (P 58) Bärten gegenüber. Die Aggressivität dieses metonymischen Bildes überlagert die Konzeption einer allmächtigen hierarchischen Organisation, die das Individuum jagt, und betont die aktive Rolle, in die der Prokurist K. gedrängt wird. Zugleich nähern sich Repräsentanz und Kontiguität einander an: »So viele Leute sind mit dem Gericht in Verbindung« (P 141), daß das Gericht als übergeordnete Instanz und Vertretung des Gesetzes seine Relevanz verliert und sich in eine Reihe mit allen anderen Vertretern stellt. Omnipräsenz und Nivellierung seiner - menschlichen - Vertreter erweist sich als Effekt eines verschwiegenen Gesetzestextes und des unstillbaren Begehrens, ihn zum Reden zu bringen. In den >LeutenGlieder< zur Folge hätte. Diese Macht- und Uberwältigungsphantasie ist die Kehrseite von Josef K.'s Ohnmachtserfahrung, doch sie verfehlt die Spezifik der entgrenzten rhizomatischen Struktur, die den Angeklagten auf eine paradoxe Art und Weise individualisiert: Individualität manifestiert sich als verallgemeinerte Exklusion; weil Rhizome nur ausnahmsweise hierarchische Strukturen ausbilden, ist die >Stelle< des einzelnen nicht subsumtionslogisch adressierbar. Er wird unvergleichbar und inkommensurabel, so daß Vertretung im funktionalen und im repräsentativen Sinn versagt und in einen unkontrollierbaren »Kreis von Helfern« (P 159) eingeebnet wird. K. ist nun der Unvertretbare par exellence: Begreift er seinen Fall und das, was ihm zugefugt wurde, in der ersten Untersuchung noch als »Zeichen eines Verfahrens wie es gegen viele geübt wird«, und versucht er hier noch seine stellvertretende, repräsentative Rolle zu behaupten: »Für diese stehe ich hier ein, nicht für mich« (P 52), so ist seine Hinrichtung der - ganz normale - T o d eines einzelnen, für den niemanden eintritt und der an niemandes Stelle steht. Ungeachtet der relativierenden Rahmungen wird vor allem die Türhüterlegende die fatalen Konsequenzen eines Pfades explorieren, der nur einem einzigen offensteht. Der Segen der Verallgemeinerung, der Vertretung, die dem Individuum eine Sphäre der Nichterfassung zugesteht, wird zugunsten einer alle individuellen Nischen erfassenden Bürokratie aufgegeben, die nicht mehr unter der Differenz Rationalität-Irrationalität zu beurteilen ist. Es manifestiert sich eine postsouveräne Macht, die dezentral funktioniert und sich als omnipräsent erweist, weil eine institutionelle Spitze, ein sprachlich-schriftliches Gesetz und seine autorisierten Verwalter als Demarkationsgeneratoren ausfallen.
3.7.6 Zeichen der Bürokratie: Semiotische Debakel So wie in der Sphäre des Handelns die Stellvertreterschaft: ermöglichende und auf Stellvertreterschaft beruhende Hierarchie dekonstruiert wird, so ist auch auf der Ebene der Zeichen eine analysierbare Konfusion zu verzeichnen: Josef K.'s schon bei der ersten Untersuchung registrierte Empfindung, »wie seekrank« zu sein und zu glauben »auf einem Schiff zu sein, das sich in schwerem Seegang befand«, so daß ihm »war [...] als stürze das Wasser gegen die Holzwände, als komme aus der Tiefe des Ganges ein Brausen her, wie von überschlagendem Wasser, als schaukle der Gang in der Quere und als würden die wartenden Parteien zu beiden Seiten gesenkt
•75 Vg|. dazu Olszewski, Bureaukratie, S. 2 2 7 , w o die Kafka bekanntlich faszinierende anarchistische Bewegung in Verbindung gesetzt wird zum K a m p f gegen die Hydra: »die (anarchistische) Propaganda der T a t möchte alles mit Feuer und Dolch vernichten, es wird aber nicht übertrieben sein, wenn wir neben diese hundertköpfige Hydra die anscheinend sanftere heutige Bureaukratie hinstellen.«
155
und gehoben« (Ρ 84) läßt sich zuerst auf die Staatsschiffmetaphorik beziehen; 17 ^ außerdem bildet sie die Mitschrift einer Passage in Olszewskis zeitgenössischer bürokratiekritischer Abhandlung, wo sich die Institution, die traditionell als Schiff dem unbeherrschbaren Meer entgegengestellt wird, in einen »Ozean« aus Akten auflöst, so daß die Differenz zwischen bürokratischer Organisation und Umwelt annulliert wird.* 77 Der einzelne wird bei Kafka seekrank, weil das Schiff der Institution leckt und zu kentern droht, weil das Zeitalter einer postsouveränen, nicht mehr lokalisierbaren Macht beginnt, in die sich das Individuum gerade auch im Widerstand, durch stetes Rebellieren (P 74), einpaßt. Doch neben der politischen Metaphorik läßt sich eine semiotisch-kommunikationstheoretische Bezugnahme identifizieren, die sich innerhalb des fur Kafka auch sonst wichtigen Sirenenmythos entfaltet: Das vermeintliche Kentern des Schiffes wird nämlich begleitet von einem »Lärm, der alles erfüllte«, der die menschlichen Stimmen im Rauschen erstickt und »durch den hindurch ein unveränderlicher hoher T o n wie von einer Sirene zu klingen schien.« (P 85) Die verführerische Stimme der Sirene, die das Rauschen überlagert, lockt das Individuum nicht von seinem Schiff fort wie Odysseus, der sich mit Wachs in den Ohren dagegen wie gegen ihr Schweigen zu wappnen versteht, 178 sondern entsteht in der Sphäre des Schiffes selbst, so daß die Verlockung immanent bleibt. Eine Flucht ins Außen des ubiquitären Prozesses ist für Josef K. auch deshalb unmöglich, weil Rauschen wie Sirenenklänge auf den Zusammenbruch der Stellvertretung, der Repräsentation und der Kommunikation verweisen. Der »Lärm« bedeutet nichts, er hat keinen eindeutigen Urheber und keinen Adressaten, der Sirenenton bleibt, im Gegensatz zum Homerischen Mythos, 1 7 9 in seiner Urheberschaft fiktiv, in Adressierung und Semantik offen. Mit dieser Schlüsselszene gerät die eigentümliche >ProceßVerschollenen< anfuhren. Olszewski, Bürokratie, S. 94: Gegen die positive Bewertung der sprachlichen Schablone, die Nachdenken erspare, fuhrt Olszewski den »endlosen Ozean des heutigen Staatsformalismus« an, in der sich die Suche nach »einer entsprechenden Schablone für eine spezielle Angelegenheit verirrt.« S. 98: Die übermäßige »Kontrollswut der modernen Bureaukratie« verliere »sich sehr leicht selbst im Ozeane kontrollierender Einrichtungen«. S. 126: Im »Ozean formalistischer Vorschriften« finde man hingegen z.B. keine Information zu ökonomischen Fragen. - Vgl. Siegert, Passagen, S. 75f. Kafka, Das Schweigen der Sirenen. In: Sämtliche Erzählungen, S. 304f. Homer, Odyssee, 12. Gesang, 184fr.
dem Dachboden« (Ρ io8) unterscheiden will, löst sich der Unterschied zwischen einer repräsentativen und einer in den Lebensvollzug eingeordneten metonymisch und rhizomatisch organisierten Bürokratie auf, denn auch Titorellis Atelier in einer »Vorstadt [...], die jener in welcher sich die Gerichtskanzleien befanden vollständig entgegengesetzt war,« (P 147) befindet sich unvermittelt in unmittelbarer Nachbarschaft der Kanzleien. Daß K. den Proceß als ein »lüderliches Verfahren« bezeichnet, daß die Akten des Untersuchungsrichters aus »engbeschriebenen fleckigen, gelbbrandigen Blätter[n]« (P 52) bestehen, daß sich die »Gesetzbücher« des Gerichtes als pornographische Bilder und Schriften entpuppen und daß das funktionale »Innere« wie das repräsentative »Äußere« des Gerichtswesen« als »widerlich« bezeichnet werden können, (P 79) ist nur das degradierende Vorspiel zu einer definitiven Nivellierung der Sphären und Ebenen: Die sprachlichen und die nichtsprachlichen Versuche, den Prozeß, das Verfahren und seine Aitiologie zu repräsentieren, scheitern daran, daß nichts mehr stellvertretend für etwas anderes eintreten kann, sie scheitern am Ende der Repräsentation und der Signifikation. Die Akten stehen neben und in den diskrepanten und divergenten mündlichen Berichten über das Gericht; die Selbstverteidigung Josef K.'s mündet in einen unmöglichen autobiographischen Text, der aber als Eingabe Aktenförmigkeit annehmen und damit der behördlichen Datenverarbeitung kompatibel sein soll; die Entscheidungen des Gerichts sind nicht veröffentlicht, sondern in Legendenform überliefert (P 162); das Richterbild beim Anwalt ist zwar mit repräsentativen Zeichen ausgestattet, aber nicht von repräsentativer Statuarik. In diesem Bild und in den pragmatischen Erläuterungen dazu vollzieht sich das Zeichendebakel der >ProceßBesprechung< in Analogie zu jüdischer Kommentarpraxis 1 8 3 aufgegeben, so daß den hierarchischen Strukturen, dem modernen T u r m b a u , der kollektive Teilbau der chinesischen Mauer engegenzuhalten wäre. Damit und mit ihrer präambularischen Natur aber erhielte die Literatur eine spezifische, aber unspektakuläre Rolle: I m Feld normalisierender Kräfte auf diese zu verweisen und zerstreute Kommentare wie ihre Sammlung zu provozieren.
3.8
»Das Schloß
Blumfeld, ein älterer Junggeselle< vorgebildet ist: Dort gleicht der Versuch, die beiden Praktikanten unterzuordnen und sie zu selbständigem Verhalten im Sinne der Firma zu >bildenstählernen Gehäuse< Max Webers gleicht, steht K. mit dem Dorf, seinen Bewohnern und den Vertretern der Schloßbehörde etwas Ungreifbares gegenüber, das sich auflöst, das diffundiert und nur in seiner Zerstreuung die Präsenz einer Bürokratie andeutet. Die Metapher des unentwirrbaren Knotens und der Verflechtung wird jedoch schließlich abgelöst durch das Bild des Platzwechsels: »Nirgends noch hatte
192
Olszewski, Bureaukratie, S. 13.
165
Κ. A m t und Leben so verflochten gesehen wie hier, so verflochten, daß es manchmal scheinen konnte, A m t und Leben hätten ihre Plätze gewechselt.« (S 74) Diese gegenseitige Auswechslung, die im Gegensatz zur Verflechtung die Möglichkeit der erneuten T r e n n u n g beider Sphären voraussetzt, begründet eine basale Serie, die metonymische Nachbarschaft von Bürokratie und Leben. Damit wird die Möglichkeit einer metaphorischen Deutung der Bürokratie im >SchIoß< verstellt; über den Einfluß jedoch, den »Amt« und »Leben« aufeinander ausüben, über Kontakt und Kommunikation, die zwischen Beamten und den anderen stattfinden, ist damit noch kein Urteil gesprochen. Intervention und Kommunikation wird daher in der Folge das Hauptaugenmerk gelten. Die zentrale Differenz zwischen dem unvertretbaren einzelnen, der »für etwas lebendigst Nahes [...] fur sich selbst« und »aus eigenem Willen« kämpfe, und den stellvertretenden Behörden, die »immer nur im N a m e n entlegener, unsichtbarer Herren, entlegene, unsichtbare Dinge« (S 73) zu verteidigen haben, erscheint im Modus der von Joseph Vogl geltend gemachten >vierten PersonDer Revisori.
exzeptionellen Fähigkeiten, die ihn aber nicht aus seiner untergeordneten Stelle befördert, zählt nämlich sein bürokratisch-pedantisches Mißtrauen. Es läßt ihn um Ergänzung der Akte bitten, es läßt ihn nach der Begründung für die Ablehnung des Landvermessers und schließlich nach der ursprünglichen amtlichen Zuschrift fragen, deren Existenz der Vorsteher nicht beweisen kann. Der »schreckliche«, »herrliche« (S 83) Sordini erscheint als bürokratischer »Arbeiter«, (S 84) in dessen Zuständigkeitsbereich die Materialität und die Entropie der bürokratischen Zeichen besonders ins Auge fällt: Er ist von unsortierten Aktenbündeln überhäuft. Wie die Unordnung beim Vorsteher ist das Durcheinander bei Sordini der Effekt einer verfehlten Registratur und Ablage, so daß »immerfort den Bündeln Akten entnommen und eingefügt werden«, was zu Zusammenbrüchen der »Säulen« (S 83F.) führt. So entpuppt sich das Lob Sordinis durch den Vorsteher als Enthüllung einer verfehlten bürokratischen Praxis, in der jeder Zugriff auf die jeweils interessierenden Daten zu einem Kollaps der Datenordnung führt. Die Ordnung »in Säulen von großen aufeinander gestapelten Aktenbündeln« spielt einerseits auf klassische Staatssymbolik an, markiert aber andererseits in der Materialität der Akten die Nachteile einer vertikalen, von Kontakt und Abstützungen abhängigen Datenorganisation. Kafka verweist hier auf das prinzipielle Archivierungsproblem, chronologische, gegenstände- und zuständigkeitsbezogene Ablageordnung miteinander in Einklang zu bringen und Zugriff bzw. Ablage ohne Störung der einmal eingeführten Ordnung zu gestatten. Die Beobachtung, daß Sordini »dem kleinsten Fall [...] die gleiche Sorgfalt [widmete] wie dem größten« (S 84), ist deshalb kein Beleg für eine besondere amtliche Gerechtigkeit, sondern Effekt einer nicht reibungslosen Datenverarbeitung und -speicherung, die den Beamten zu arbeits- und zeitaufwendigen Such- und Ordnungsbemühungen zwingt. Sordinis repräsentativer Ruhm resultiert aber eben aus diesen geheimen Friktionen und der Entropie der bürokratischen Datenverarbeitung, so daß erst eine reibungslose Datenverarbeitung, die der laudativen Rhetorik des Vorstehers entspräche, graue, unsichtbare Funktionäre erzeugte. Im chiastischen Gegensatz zum berühmten, pflichtbewußten Spezialisten Sordini, dem wegen seiner paradoxen Repräsentationsfunktion kein Fehler unterstellt werden darf, steht der »zurückgezogen [e] und den meisten fremd [e]« (S 229) Beamte Sortini, der seine Machtposition für erotische Beutezüge ausnutzt und durch dessen Handeln die Barnabas-Familie aus dem Dorf verstoßen wird. Sein repräsentativer öffentlicher Auftritt, der seiner sonstigen Zurückgezogenheit (»Sortini tritt in der Öffentlichkeit kaum auf.« (S 229)) widerspricht, sorgt dafür, daß seine brieflichen und damit geheimen erotischen Avancen öffentlich nicht abgelehnt werden können. N u n ließe sich der Gegensatz von Amtsöffentlichkeit, d.h. Amtsrepräsentation, und Amtsgeheimnis auf die beiden Figuren projizieren: Sordini wäre dann der Datenverwalter, der die Kommunikation der Behörde innen in Gang hält, während Sortini dem österreichischen »Repräsentationsbeamten« entspräche, der die Behörde und das Schloß sichtbar und öffentlichkeitswirksam vertritt. Doch genau diese einfache Opposition, die einer historischen Semantik in Österreich-Ungarn
167
entspricht, 195 wird vom Text durch die Koppelung von Vertretung und Verwechslung unterlaufen: Der Funktionär ist hier berühmt, während der Beamte, der die »Repräsentationspflichten« (S 239) übernimmt, gänzlich unbekannt ist: Eigentlich weiß man von ihm nur, daß sein N a m e dem Sordinis ähnlich ist, wäre nicht diese Namensähnlichkeit, würde man ihn wahrscheinlich gar nicht kennen. Auch als Feuerwehrfachmann verwechselt man ihn wahrscheinlich mit Sordini, welcher der eigenliche Fachmann ist und die Namensähnlichkeit ausnützt, um besonders die Repräsentationspflichten auf Sortini abzuwälzen und so in seiner Arbeit ungestört zu bleiben. (S 239)
Die winzige orthographische Differenz der Namen fungiert als visuelles Mittel, Differenz, Identität und Verwechselbarkeit zu verdeutlichen. Was im Falle des Namens »Josef« eine intertextuelle und thematische Verweisfunktion hat, wird bei Sordini-Sortini fiir die textimmanente Handlung und ihre bürokratietheoretischen Dimensionen relevant: Innen- wie Außenseite der Bürokratie sind gleichermaßen repräsentativ-symbolische Phänomene, den reinen, grauen Funktionär gibt es nur als symbolische Konstruktion: Die Aktenverteilungsszene des 24. Kapitels zeigt ja, daß sogar der Umgang mit den Akten ein Kampf um Rang und Ruhm ist. Die Praxis der wechselseitigen Vertretung auf horizontaler Ebene fuhrt nicht nur zu Identitätsverwechslungen, sondern auch zu verunglückten Kommunikationen zwischen der Organisation und ihrer Umwelt, weil die Zuständigkeiten nur lose an die Personen gekoppelt scheinen: Sortini, der sich zum Teil mit Feuerwehrangelegenheiten beschäftigen soll, vielleicht war er aber auch nur in Vertretung da - meistens vertreten sich die Beamten gegenseitig und es ist deshalb schwer die Zuständigkeit dieses oder jenes Beamten zu erkennen - nahm an der Übergabe der Spritze teil [...]. (S 229)
Aus dieser Perspektive ist das Fehlgehen eines Briefes wie im Falle der Landvermesserberufung die Folge einer Falschadressierung, in der Eigenarten der Mündlichkeit und der Kommunikation zwischen Personen in den Bereich der Schriftlichkeit und der Kommunikation mit Institutionen übertragen werden. Wenn Beamte einer Ebene sich in ihrer Funktion vertreten, müssen eindeutig adressierte Briefe nicht nur ihren - zudem noch verwechselbaren - Eigennamen, sondern statt dessen oder zusätzlich ihre Funktionsbezeichnung oder ihr Ressort nennen. Parallel dazu wird in der Szene der öffentlichen Repräsentation der Aspekt der körperlichen Anwesenheit ignoriert: Einen öffentlichen Repräsentanten zu vertreten, heißt, den eigenen Körper zu verleugnen. Nicht umsonst formuliert Sortini seine erotischen Avancen schriftlich, per Brief. So überkreuzen sich im Doppelgängerpaar SordiniSortini die gängigen Oppositionen der Bürokratie- und Institutionentheorie: Die Schauseite und die Arkansphäre, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, das Prozessieren von Zeichen und das Repräsentieren der Institution.
195
Karl Megner, Beamte. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte des k.k. Beamtentums, Wien 1985, S. 35, 123.
168
Besonders dicht und konkret zeigt sich das Phänomen der horizontalen Vertretung in der Diktierszene, die in Olgas Bericht über Barnabas' vergebliche Botentätigkeit (S 218) integriert ist: Trotz der Enge des Raumes tauschen die Beamten nicht die Bücher, die die zu verarbeitenden Daten enthalten, sondern ihren Platz am Pult. Der Massivität und Statuarik der Datenspeicher steht die unendliche Beweglichkeit der Menschen gegenüber, die die Datenverarbeitung zu einem beinahe stummen, maschinenartigen Geschäft werden lassen. Statt Befehlen zu gehorchen, folgen die einzelnen subalternen »Schreiber« Routineregeln, die ihren Körper disziplinieren und ihre Verwechselbarkeit intensivieren. Im Vergleich zur Datenverarbeitungsszene im >VerschollenenSchloßentschiedenganzen< Menschen stammen, denn kommunikative Handlungen sind stets doppeldeutig, sie sind als stellvertretende oder repräsentative Äußerungen eines einzelnen zugleich Äußerungen einer wirkungsvollen Macht oder als autonome Äußerungen eines nur sich selbst vertretenden Individuums Manifestationen einer bemächtigten Innerlichkeit. Der Adressat solcher Reden und Schriften ist immer zugleich potentielles Werkzeug der Institution und autonomes Individuum, so daß sich hier das prinzipielle Dilemma
aller nicht-idealen Kommunikationsgemeinschaften manifestiert, ohne daß eine Utopie nichtverstellter Kommunikation diesem entgegengehalten wird: Kafkas Texte wissen zu genau, daß solche Utopien den einzelnen dem Konnex einer zerstreuten Macht weiter verhaften. Im Blick auf Klamm zeigt sich nicht dieser, sondern der faszinierte Blick des Beobachters selbst: Klamms Augen sind durch einen »spiegelnde [n] Zwicker« (S 49) verdeckt. Kafkas Texte, in denen immer wieder spiegelnde Fenster- oder Brillengläser auftauchen, 1 " machen mit der auffälligen Opazität der Gebäude und der Körper nicht nur eine allgemeine >Krise der Repräsentation^00 augenfällig, sondern transformieren, indem sie Transparenz in Intransparenz verwandeln, einen Topos der zeitgenössischen Bürokratiekritik: Dort stehen die »amtlichen Brillen« und die »staubigen Bureaufenster«101 für die Zurichtung der Wirklichkeit durch die Bürokratie und für ihre verstellte Sicht auf die Realität. Ohne dies zu leugnen, betonen Kafkas Texte umgekehrt die Undurchdringlichkeit bürokratischer Institutionen für den faszinierten Blick von außen, die sich in den unüberschaubaren Vertretungs-, Zeichen- und Kommunikationsprozessen pluralisiert. Die Synekdochen der reflektierenden Fenstergläser (S 17) des Schlosses bzw. der Brillengläser (S 49, 219) Klamms markieren so nicht nur die bürokratische Intransparenz und die Unmöglichkeit, die Beobachtungen der Macht selbst zu beobachten, sondern auch den machttechnischen Effekt, solipsistische Blicke auf die Statthalter und Embleme der Macht zu erzeugen. Im 16. Kapitel kulminieren die Zweifel an der Klammschen Identität: Olgas Bericht über Barnabas' Botenexistenz rekurriert zuletzt wieder auf das Gesicht, auf den »Blick« Klamms, der Barnabas treffe (S 218). Hier handelt es sich um die Beobachtung eines Beobachters, die sich als Unterscheidung zwischen Beobachtung und Beachtung profiliert. Ob nämlich Barnabas mit diesem Blick gemeint ist, bleibt ebenso unklar wie die Identität Klamms, der in jeweils verschiedenen Gestalten auftreten soll und über dessen Aussehen unterschiedliche Versionen kursieren. »Augenschein«, »Gerüchte« und »verfälschende Nebenabsichten« koinzidieren einerseits, so vermutet Olga, in den »Grundzügen« eines »Bild[es] Klamms«, andererseits divergieren die Ansichten diametral, was »durch die augenblickliche Stimmung, den Grad der Aufregung, die unzähligen Abstufungen der Hoffnung oder Verzweiflung, in welcher sich der Zuschauer [...] befindet,« (S 216) begründet werden kann. Der Rekurs auf die unterschiedlichen Zustände unterschiedlicher Beobachter, die das Bild Klamms beeinflussen und verhindern, daß Klamm wiedererkannt wird, führt, wie Barnabas' und K.'s Insistieren auf Klamms Identität, von der losen
•99 Vgl. die Hafenszene im >Verschollenen< und die Beschreibung der >SchloßDie Ordnung der Dinge< beginnt ja bekanntlich mit der Interpretation von Velasquez' >Las MeninasAbweichung< vom klassischen Biirokxatiebild, dieses Begehren, die Beamten als ungespaltene und unvertretene Entscheidungsträger zu sehen und zu beeinflussen, markiert eine immanente Paradoxie, die bereits die Türhüterlegende exponierte, nämlich die Kontamination und Untrennbarkeit von liquider mündlicher Kommunikation und vermeintlich >fester< Schrift, das Unbestechlichkeitsideal einer Funktionärsethik und die Praxis von manipulativer Bestechung, das Leitbild eines unbeeinflußten Datenstroms und die Hoffnung auf Intervention, die Serie von Türhütern, Kanzleien und Barrieren (S 213) und die hoffnungslose Aussicht auf Kontakt mit dem Schloß: Wenn »der einzige Weg, der fur Sie zu Klamm führt, hier durch die Protokolle des Herrn Sekretärs geht« (S 139 f.), dann muß die Verfugung von persuasiver Rhetorik und mehrfach vermittelter Schrift als Problem von kommunikativen Interventionen reflektiert werden, die symbolische und mediale Differenzen nivelliert. Daß dies Auswirkungen auf die Rolle der Literatur besitzt, zeigt schließlich die Relationierung von Akten und Erzählung im 5. Kapitel des Romanfragments.
3.8.2 Narrative Nivellierungen Neben klassischen Herrschaftssymbolen, die durch den Text verwandelt und in ihrer Repräsentativität in Frage gestellt werden, enthält der Text zwei ausführliche, explizit als mündliche Äußerungen charakterisierte Schilderungen der bürokratischen Organisation. Die Erzählung des Vorstehers und die Rede des Sekretärs Bürgel konkurrieren mit traditionellen Repräsentationen von Macht und markieren jene Lücke, in der Literatur bürokratisches Wissen mitschreiben und transformieren kann. Im Gegensatz von »Adler« und »Blindschleiche«, mit der die Wirtin die Opposition von Klamm und K. beschreiben will, ist der Gegensatz zwischen panoptischer Souveränität und kultureller Ignoranz des Fremden enthalten. E r wird ergänzt und konterkariert durch K.'s Beschreibung Klamms, die sich der Metaphorik der Wirtin erinnernd bedient: [...] einmal hatte die Wirtin K l a m m mit einem Adler verglichen und das war K . lächerlich erschienen, jetzt aber nicht mehr, er dachte an seine Ferne, an seine uneinnehmbare Wohnung, an seine, nur vielleicht von Schreien, wie sie K. noch nie gehört hatte, unterbrochene Stummheit, an seinen herabdringenden Blick, der sich niemals nachweisen, niemals widerlegen ließ, an seine von K.'s Tiefe her unzerstörbaren Kreise, die er oben nach unverständlichen Gesetzen zog, nur für Augenblicke sichtbar — das alles war Klamm und dem Adler gemeinsam. (S 144)
Dieses Bild der Unerreichbarkeit und Entrückung Klamms aus der irdischen Kontiguität wird ironisch bestätigt durch K.'s Bemerkung: »Gewiß aber hatte damit 173
dieses Protokoll nichts zu tun, über dem jetzt gerade Momus ein (!) Salzbrezel auseinanderbrach [...]« (S 144) Tatsächlich ist diese faszinierende Entrückung ein machttechnischer Effekt: Erst die Sekretäre, die >TürhüterTürhüter< findet ihre prägnanteste Durchführung bereits sehr früh im Text, nämlich im ersten Kapitel: Das Schloß als Ort, in dem Herrschaft und Macht lokalisierbar zentriert sind, nivelliert sich im genaueren Blick K.'s, wobei auch der Unterschied zwischen seiner persönlichen Vergangenheit und der Gegenwart zusammenschrumpft: Es war weder eine alte Ritterburg, noch ein neuer Prunkbau, sondern eine ausgedehnte Anlage, die aus wenigen zweistöckigen, aber aus vielen eng aneinanderstehenden niedrigem Bauten bestand; hätte man nicht gewußt daß es ein Schloß ist, hätte man es für ein Städtchen halten können. [...] Aber im Näherkommen enttäuschte ihn das Schloß, es war doch nur ein recht elendes Städtchen, aus Dorfhäusern zusammengetragen [...]. Flüchtig erinnerte sich K. an sein Heimatstädtchen, es stand diesem angeblichen Schlosse kaum nach [...]. (S i6f.)
Der anschließende Vergleich zwischen dem heimatlichen Kirchturm und dem T u r m innerhalb des Schloßkomplexes macht den Unterschied zwischen der transzendentalen Zeichenhaftigkeit und dem immanenten Verweis auf einen Urheber geltend: Der Kirchturm des Heimatdorfes hebt sich als »irdisches Gebäude« mit einem »höherem Ziel als das niedrige Häusergemenge und mit klarerem Ausdruck als ihn der trübe Werktag hat« vom »Turm hier oben« ab, der nur »Turm eines Wohnhauses« ist, »wie von ängstlicher oder nachlässiger Kinderhand« gezeichnet, und der einem versteckt und eingesperrt lebenden Hausbewohner gleicht, der sich »erhoben hätte, um sich der Welt zu zeigen.« (S 17). Die transzendentale Deutung eines Bauwerks ist als Memorialverfahren konzipiert, dagegen wird der Schloß-Turm über die metaphorische Analogie zu einem natürlichen Zeichen einer individuellen Defizit- und Deprivationserfahrung erniedrigt. Eine ähnliche Nivellierungsbewegung läßt sich fair das Verhältnis von Akten und (literarischen) Erzählungen beobachten: Im Anschluß an die bereits erörterte Reflexion K.'s über die Verflechung von A m t und Leben (S 74) kommt es zu jener >offenen Erzählung< (S 76) des Vorstehers, die, ohne »Amtsgeheimnisse zu machen« (S 76), das »Mißverständnis« der Berufung aufklären soll, unter dem K. zu leiden hat. Sie thematisiert nicht nur Organisation und Verfahren der Schlossbürokratie, sondern behauptet, daß sie, diese ersetzend, an die Stelle jener nicht mehr auffindbaren Akten trete, welche den ursprünglichen Erlaß und den Verzicht auf einen Landvermesser belegen könnten. So heißt es zu Beginn der Erzählung: »Ich kann Ihnen jedoch zunächst die Geschichte auch ohne Akten erzählen« (S 79). Nachdem weder die Frau des Vorstehers noch die Gehilfen die Akten haben finden
174
können, resümiert der Vorsteher: »schade, aber die Geschichte kennen Sie ja schon, eigentlich brauchen wir den Akt nicht mehr.« (S 89) Sein mündlicher Bericht steht in der Aussage des Vorstehers stellvertretend fur die verlorenen Akten. Die von der Institution im Zusammenwirken verschiedener Teilbehörden produzierten Daten und Datenspeicher erhalten in der zutiefst illegitimen Äußerung des Vorstehers, der »nicht genug Beamter« ist (S 76), eine unerlaubte semiotische Modellierung. Die Herstellung einer Stellvertreter- und Zeichenrelation kommt dem Vorsteher aufgrund seiner untergeordneten Position offensichtlich nicht zu: Alle Informationen über die Schlossbürokratie werden durch die Art ihrer Mitteilung in Frage gestellt. Allerdings gibt sich der Adressat zunächst mit der Rede zufrieden: Auf die Frage, ob ihn die Geschichte nicht langweile, antwortet K., daß sie ihn dadurch unterhalte, »daß ich einen Einblick in das lächerliche Gewirre bekomme, welches unter Umständen über die Existenz eines Menschen entscheidet.« (S 80) Mit der Annäherung der Begriffe »Unterhaltung« (S 80) (im Sinne von Kurzweil) und »Existenz eines Menschen« (ebd.) verschiebt der Text ein Arrangement, das die soziale Rolle der Literatur im prodesse et delectare (Horaz) bestimmte, in einschneidender Weise: Die literarische Funktion zu unterhalten, die an eine aus allen Kontiguitäten herausgehobene Position des Erzählens geknüpft ist, 101 wird nun in das verwirrende Feld der zu beschreibenden Konflikte und Kämpfe verlagert und mit der Erkenntnis von Interventions- und Wirkungsmöglichkeiten (bürokratischer) Schriften und Strukturen verbunden. Daß das interne, abgeschlossene bürokratische »Gewirre« nach außen, auf das Einlaß begehrende Individuum Wirkung zeigt, ist die Erkenntnis aus dem Vorsteherbericht. Doch K. nimmt diese Erkenntnis, die die - moderne - Trennung von amtlichen Stellenausschreibungen und individuellem Lebenslauf bestätigt, wieder zurück, wenn er darauf besteht, er selbst solle in der Erzählung vorkommen. K.'s Einwand, man müsse unterscheiden zwischen dem, was »innerhalb der Amter vorgeht«, und dem, was seine »wirkliche Person« beeinträchtige und gefährde, die »außerhalb der Amter stehe« (S 83), kulminiert in der Forderung, nun endlich »auch ein Wort über mich hören« zu wollen, obwohl er nur als Platzhalter, nicht als unverwechselbare und unausschöpfliche Person im Kommunikations- und Entscheidungsprozeß über >Stellen< vorkommen kann. Dementsprechend taucht K. in der Erzählung des Vorstehers ebenso spät und plötzlich auf, wie er in der erzählten Roman->Realität< als erstes erscheint: »Es war spät abend als K. ankam« (S 9), lautet der erste Satz des Romanfragments. Im Licht der Vorsteher-Erzählung, die die Zeit vor der erzählten Zeit abdeckt, ist K.'s Auftauchen eine basale Verspätung; er erscheint, nachdem längst alles abgeschlossen und entschieden scheint: »Und nun stellen Sie sich Herr Landvermesser meine Enttäuschung vor, als jetzt nach glücklicher Beendigung der ganzen Angelegenheit
202 \jçr;e paradoxienträchtig das ist, demonstriert die Rahmenerzählungen zu Goethes »Unterhaltungen deutscher Ausgewandertem in Anspielung auf Boccaccios >Decameronevon außen< irritieren. Im Einklang mit dieser, allerdings ungesicherten und unautorisierten Theorie der Entwicklung von Bürokratie wird dem Individuum K. in der Vorsteher-Erzählung, die die Akten nicht nur vertritt, sondern um Kontextinformationen ergänzt und bereichert, eine gänzlich illegitime Randposition zugewiesen. Dies widerruft aber das Romanfragment, indem es K. die paradoxe Protagonistenrolle eines Bildungsromans 203 zuweist. Dessen Topoi und Gattungskonventionen werden dadurch zugleich bestätigt und unterlaufen, denn die >bildende< Konfrontation zwischen Einzelnem und Institutionen 204 verwandelt sich in eine nicht transzendierbare Formatierung des Individuums durch seine Position in einem unbegrenzten bürokratischen Kraftfeld. Durch die Implementierung der Akten-Geschichte entfaltet >Das Schloß< Konkurrenz und Komplementarität von Bürokratie und Literatur, indem sie Aneignungsfuror und Kontiguität gleichzeitig beschreibt: Die Akten können zwar Gegenstand einer Erzählung, die an ihre Stelle treten will, und damit Bestandteil der Literatur werden, zugleich aber stehen sie quer zu ihr, da diese zugleich mehr und weniger als die Akten weiß. 3.8.3
Geburten
Den Kontrapunkt zur »Geschichte« des Vorstehers bildet die immer mehr zu einem Monolog sich wandelnde Rede des Sekretärs Bürgel im 23. Kapitel. In und mit ihr vollzieht sich eine doppelte Geburt, die Geburt der nichtgeheimen Rede des Sekretärs
103
204
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Vgl. den vornehmlich auf den >Proceß< zielenden Beitrag von Gerhard Neumann, >Blinde Parabel· oder Bildungsroman? Z u r Struktur von Franz Kafkas >ProceßProcesses< parallelisieren: Beide heben die Zurichtung des Individuums und seine Isolation durch eine Bürokratie hervor, die den einzelnen gerade als evasives Element erfaßt. In dieser Szene, die von einer primären semiotischen Verwechslung geprägt ist, weil die Zuordnung von Zimmern und Bewohnern nicht vorgenommen werden kann, werden K . Optionen der Intervention demonstriert, die dieser, v o n »Müdigkeit« gequält, unaufmerksam, nicht auf sich selbst anwenden kann: E r bemerkt nicht, daß hier, anders als in der Akten-Geschichte, von ihm und seinen persönlichen, auf körperlicher Anwesenheit beruhenden Interventionschancen die Rede ist. Bürgels Rede wird zwar als an ihn adressiert anerkannt, aber ihr wird jede Bedeutung abgeschrieben: »>Klappere M ü h l e klapperes dachte er, >Du klapperst nur für mich.VerschollenenBerufstudiarechts< und >linksDie Angestellten. A u s dem neuesten Deutschland< greift die Literarisierung der Angestelltenwelt mit einer eigentümlichen
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198
Speier, Die Angestellten, S. 34. - Carl Dreyfuss, Beruf und Ideologie der Angestellten, München, Leipzig 1933, S. 97. Vgl. den Beitrag von Ethel Grace Mátala de Mazza über Angestellte in der Dramatik des frühen 20. Jahrhunderts. In: Europa. Kultur der Sekretäre, hg. von B. Siegert, J.Vogl. (Im Druck). Vgl. dazu immer noch Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt/Main 1987. Intellektuellendiskurse, hg. von M. Gangl und G. Raulet, S. 9. — Vgl. Walter Delabar, >Was tun?< Romane am Ende der Weimarer Republik, Opladen 1999, S. 23. — Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1991 (2. unveränd. Aufl).
Selbstrelativierung auf, die sich umgehend zu einer Kritik an der populären, weit verbreiteten Angestelltenliteratur 71 wandelt: In den Romanen stehe schon alles, was über die Angestellten zu sagen sei, hält eine »Privatangestellte« der eine authentische Auskunft suchenden Ich-Figur des Textes 72 entgegen. Diese Äußerung mit ihrer >naiven< Gleichsetzung von Literatur und Leben ironisiert eine Konstellation, in der die Dialogpartnerin zu einem gänzlich fremdbestimmten Untersuchungsobjekt erklärt wird. Die Berichte der Angestellten werden nur referiert, um ihr Welt-Wissen als gänzlich verfehlt zu entlarven: Wer, wie die beschriebene Privatangestellte, nicht einmal weiß, daß Spanien auf dem Landweg zu erreichen ist, der kann auch kein Wissen über sich, die Angestelltenrolle und die Literatur besitzen. 7 ' Der geographische Irrtum ist Teil und Beleg eines umfassenden Irrtums über die Verhältnisse auf Erden. Ebenso ist die von der Angestellten geäußerte These über die Koinzidenz von Romanen und Wirklichkeit Element und Beleg des immer wieder konstatierten Verblendungszusammenhangs, dem die Angestellten unterliegen. Die angesprochenen Magazinromane (und Filme) stellen die »Normaltypen von Verkäuferinnen, Konfektionärinnen, Stenotypisten usw.« dar und »züchten« sie zugleich. 74 Wegen dieses selbstwidersprüchlichen Zusammenhangs stehe weder »alles in den Romanen«, noch könnten die von ihnen geprägten Angestellten zutreffend über sich selbst sprechen. »Dieses kleine Buch« 75 allerdings versuche, wirklich von ihnen zu sprechen. Es erhebt damit Ansprüche auf eine Beobachtung zweiter Ordnung und auf Intervention in die realen Verhältnisse. In dieser Konstellation vollzieht sich die Enteignung der Angestellten-Rede durch die Schrift des Essays. Kracauers Text zitiert die Angestellte nur, um sie als ganze Person zu widerlegen und so der Präsentation des eigenen Wissens die Autorität der Montage, des Beobachtens zweiter Ordnung, zu verleihen. Dieses Bemühen vollzieht sich im komplexen Arrangement eines aus diversen Quellen stammenden Wissens über die Angestellten, das jeweils fiir sich genommen ungenügend bleibt. Weder die Funktionäre der Angestelltenverbände noch die Unternehmer und erst recht nicht die radikalen Intellektuellen vermögen das Phänomen der Angestellten zureichend zu erkennen. Mit der Anspielung auf die Verheimlichung durch Of-
71
Vgl. die summarischen Bemerkungen bei Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a.M. 1986, S. 177fr. Die komplette bibliographische Erschließung dieses Materials würde erhebliche Schwiergkeiten machen, weil es nicht nur im Medium des Buches, sondern auch als Fortsetzungsroman in Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen verbreitet wurde. Vgl. etwa die Liste von Texten mit Angestelltenthemen in Franz Anselm Schmitt, Beruf und Arbeit in deutscher Erzählung. Ein literarisches Lexikon, Stuttgart 1952, S. 6f.
71
Siegfried Kracauer, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. In: Ders., Schriften I, Frankfurt a.M. 1971, S. 21 i f . Kracauer, Die Angestellten, ebd.
73 74
Kracauer, Die Angestellten, S. 259.
75
Kracauer, Die Angestellten, S. 208.
199
fenlegung in Edgar Allan Poes >The Purloined Letten 76 und der Metaphorik einer »Expedition« 77 in einen zwar allen vor Augen liegenden, aber dennoch unbekannten, exotischen Alltag 78 kombiniert Kracauer die von Melville und Walser bekannte Rhetorik der Aufmerksamkeitsverschiebung und des anderen, physiognomischen auf Oberflächen gerichteten Sehens 79 mit den Materialsammlungen des Ethnologen, der in teilnehmender Beobachtung zwischen bloßem Registrieren und kommunikativhermeneutischer Verstrickung oszilliert.80 Der Mobilität des reisenden Beobachters und seinen perspektivischen Blicken widerspricht nämlich der zuletzt gewählte panoptische Blick >von obenlinken< Kritikern der Angestelltenideologie, also Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, Ernst Bloch, schließlich noch Theodor W. Adorno. Der Angestellte wird zum Symbol und zugleich zum Vexierbild einer Moderne, die sich durch eine >Mobilmachung< ohne identifizierbares, aktives Zentrum charakterisieren ließe. Die dazu komplementäre wohlfahrtsstaatliche und konsumgesellschaftliche Erfassung des Einzelnen, die bis an die Ränder ausgreifende Durchdringung der Welt durch normalisierende Bio-Mächte im Sinne Foucaults bilden nur noch Erinnerungen an die Providenz- und Fürsorgekonzepte Alteuropas; sie sind zwar deren Nachlassverwalter, betreiben aber die Unterminierung dieses Erbes so, daß rechte wie linke Ansprüche auf diese Hinterlassenschaft autoritärdezisionistische Wiederbelebungsversuche zeitigen. Wie Kracauer begreifen so unterschiedliche Autoren wie Karl Jaspers und Ernst Jünger ihre zeitdiagnostischen Texte als Interventionen, die beobachtend die beobachtete Situation verändern und sich damit als Praxis charakterisieren. Die »Sphäre der Macht«91 und das Verändern der »Situation«92 sind Fluchtpunkte dieser Texte, die sich entweder dem »Morgengrauen [eines] Revolutionstages«93 bzw. dem Vorfeld eines autoritären »Arbeitsstaates«94 zuordnen oder aber in der »Härte des
89
90
91 91
93 94
So Walter Benjamin in der Rezension des Kracauerschen Angestelltenessays: Walter Benjamin, Politisierung der Intelligenz. Z u Siegfried] Kracauer: »Die Angestellten«. 1930. In: Benjamin, Gesammelte Schriften III, Frankfurt a.M. 1972, S. 2 1 9 ® Intellektuellendiskurse, hg. von M. Gangl und G. Raulet, S. 15. - Wolfgang Eßbach, Radikalismus und Modernität bei Jünger und Bloch, Lukács und Schmitt. In: Intellektuellendiskurse, S.145-159. Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Stuttgart 1981 (EA 1932), S. 56. Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin/New York 1979 (Achter Abdruck der im Sommer 1932 bearbeiteten 5. Auflage) EA 1931, S. 23. Benjamin, Politisierung der Intelligenz, S. 237. Jünger, Der Arbeiter, S. 246ff.
202
Wirklichen« ein existentielles Ethos ansiedeln, das den Einzelnen auffordert, in den bürokratischen und technoiden »Machtkörpern mitzuleben, ohne von ihnen aufgesogen zu werden.« 95 Das Pathos der Intervention und der Macht findet sich spiegelverkehrt in den resignativen Bekundungen der Ohnmacht des (angestellten) Einzelnen in Adornos Kritik an der Kulturindustrie, die bereits vom Erfolg des Nationalsozialismus in Deutschland geprägt ist: Gegen Jaspers' Hoffnung auf den nicht kolonisierbaren Seinsgehalt des Einzelnen verweist sie in Anklang an Robert Walsers >Der Gehülfe« darauf, daß in der Moderne jeder zum Angestellten werde und daher zeigen müsse, daß er »sich ohne Rest mit der Macht identifiziert, von der er geschlagen wird.«' 6 Im Angestellten finden die Texte, Kracauers bzw. Lukács' These von seiner geistigen Obdachlosigkeit 97 verallgemeinernd, das Paradebeispiel für den ungeschützten, aus jeder geistigen Sicherheit entlassenen Menschen der prosaischen Moderne, dem das »stählerne Gehäuse« seiner Institutionen fremd und feindlich gegenübersteht. In Jüngers Essay >Der Arbeiter« wird dieser von der sich ausbreitenden Gestalt des Arbeiters aufgesaugt, während er bei Jaspers durch Reste eines nicht in die »Apparate« integrierten Menschseins überboten wird. Die auf Seßhaftigkeit und Sicherheitsdenken gründende Angestelltenkultur steht bei Jünger in einem begrüßten Auflösungsprozeß, in einer gesteigerten Bewegung, die genau das »heimatlose Bewußtsein« produziere, das zur Beobachtung und weiteren Liquidierung der Angestelltengesellschaft erforderlich ist. In der Gestalt des wandernden Juden Ahasver personifiziert Jünger diese nicht-seßhafte Beobachterinstanz, die »Augen eines Fremdlings«,' 8 der allein in der Lage sei, die neuen Bewegungen des Menschen »unter lautlosen und unsichtbaren Kommandos« 99 wahrzunehmen. Damit wird Kracauers Ethnologenfigur mit einer Gestalt aus dem Fundus antisemitischer Stereotypien konfrontiert; beide Texte aber befürworten die performative Potenz von Beobachtung und Erkenntnis und binden ihre Texte in ein Kontinuum von gesteigerter Beweglichkeit und zu schwächenden gesellschaftlichen Institutionen ein. Wie bei Kracauer und Jünger findet sich bei Jaspers die Auszeichnung der mobilen Beobachtung, die den Konflikt zwischen Teilnahme und Beobachtung markiert. »Der Strudel bringt zutage, was wir nur sehen, wenn wir von ihm mitgerissen werden«. 100 Dennoch installiert auch Jaspers' Text einen fixen panoptischen Blick und beklagt die Liquidierung von Substanzialität, an der der Text selbst indes nicht teilzuhaben scheint. Die Angestelltenzivilisation löse das Menschsein
95 96
Jaspers, Geistige Situation, S. 167. M a x Horkheimer und T h e o d o r A d o r n o , Dialektik der A u f k l ä r u n g . Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969 (EA 1944), S. 138.
97
Kracauer, Die Angestellten, S. 282.
98
Jünger, Der Arbeiter, S. 98, 137.
99
Jünger, Der Arbeiter, S. 138. Jaspers, Geistige Situation, S. 25.
100
203
in »Schlagworte[η], [...] Verkehrsmittel und Vergnügungen« auf, das »Individuum« werde vor allem durch den »Riesenapparat der Daseinsfursorge« »in Funktionen«, »Durchschnitt«, »Majoritäten« und »Mittelmäßigkeit« aufgelöst. 101 Uniformierung und Mobilität gehen Hand in Hand. Jünger dagegen hebt die Gleichförmigkeit und Serialität des »Menschenmaterials« ohne bedauernde Zwischentöne in rhetorischer Affirmation hervor; der Einzelne sei nur noch Punkt in einem »Koordinatensystem« sachlicher, d.h. technischer, medialer und verwaltender Bio-Mächte, durch die er je unterschiedlich in »Anspruch genommen« sei. 1 0 1 Das Thema von Stellvertretung und Ersetzbarkeit wird im Angestelltendiskurs als Phänomen der Lebensalter, der Generation und des Wandels ihrer Beziehungen verhandelt. Kracauer sieht die Bevorzugung der Jüngeren auf dem Arbeitsmarkt darin begründet, daß die Älteren die Sinnleere des Betriebes erkennen und empfinden könnten und deshalb als Quellen der Subversion durch die nachdrängende, naivere Jugend ersetzt werde: »Die herrschende Wirtschaftsweise will nicht durchschaut sein, darum muß die bloße Vitalität obsiegen«. 103 Die stete Möglichkeit, ersetzt zu werden, und der »Jugendkult« in den Betrieben relativieren nicht nur die Hochachtung gegenüber dem Alter als Kumulation und Reflexion von Erfahrungen, sondern Bildung und Ausbildung überhaupt. Das Individuum verwandelt sich - so Horkheimer/Adorno in einer Replik auf Plessners und Heideggers Thesen zu Stellvertretung und Ersetzbarkeit — in ein Serienelement, das »absolut Ersetzbare, das reine Nichts«. 104 An die Stelle von aufeinander aufbauenden Etappen der Bildung, des Expertentums und der Weisheit tritt ein genereller Okkasionalismus, der die Schnelligkeit eines stets reversiblen Umstellens auf veränderte Situationen und das Vergessen früherer Lehren prämiert: »Das Leben des Einzelnen wird nur augenblicklich erfahren, [...] wird nicht als Aufbau unwiderruflicher Entscheidungen [...] erinnert und bewahrt. [...] So fängt er stets von vorn an und ist stets am Ende; er kann dies tun und auch das, und einmal dies, ein andermal jenes; alles scheint jederzeit möglich zu sein, nichts eigentlich wirklich.« 105 Im Tempo des Wechsels und der Neuansätze ist nicht nur das konsumbezogene Gehen mit der Mode, sondern auch die Kontingenz von Karrieren impliziert; diese Karrieren aber, die Aufstieg oder >Fiasko< bedeuten können, werden das Hauptthema der Büroromane ausmachen.
101 101
Jaspers, Geistige Situation, S. 34ff Jünger, Arbeiter, S. I4sff., 258.
103
Kracauer, Die Angestellten, S. 248. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 131. — Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 239f., und die These von der Unvertretbarkeit des Einzelnen. Dagegen verweist Plessner, Die Stufen des Organischen, S. 343 f, auf die Individualität als Effekt der genuin menschlichen Erkenntnis, daß jeder vertretbar und ersetzbar sei.
104
105
Jaspers, Geistige Situation, S. 44.
204
Wenn Horkheimer und Adorno die moderne Kultur mit einem Attribut des Angestellten und Beamten synekdochisch als »Registraturmappe« kritisieren, die zwar »Ordnung«, aber nicht »Zusammenhang« stifte, 106 verweisen sie auf die philosophisch-soziologischen Debatten der Weimarer Republik, die anhand des Angestelltenphänomens um das Verhältnis von Teil und Ganzem kreisen. Die kritisierte Kultur wird in die Entwicklung der Bürokratie und ihrer Medien eingeordnet. Die Bürokratie exemplifiziert das Dilemma des von Lukács beschworenen Zeitalters, das eine »Gesinnung zur Totalität« auf erfahrene Partikularität treffen läßt. 1 0 7 Die Anmahnung von »Zusammenhang« entspricht dem von Jaspers formulierten unstillbaren Begehren, aus den isolierten Einzelheiten das »Ganze« bzw. seinen »Plan« zu suchen, 108 sie trifft sich mit der verbreiteten Kritik an der Ablenkung vom ganzheitlichen Zusammenhang durch »Zerstreuung« 10 ' und schließlich mit der deutschen Hermeneutiktradition, die in der Zeit der Weimarer Republik in Heideggers Verstehens- und Auslegungskonzeption kulminiert. 110 Der Verweis aufs Ganze, der trotz des Bewußtseins fürs sich nicht fügende Detail auch die >physiognomischMenschenVerblendungszusammenhang< reduktionistisch zu kritisieren, soll anknüpfend an einen konkreten schreibtechnischen und schreibhistorischen Gegenstand das hermeneutische Moment der literarischen Angestelltenwelten und ihre seriellen Fluchtlinien in eine Verausgabung ohne Opfer und in eine verzweifelte Destruktion entziffert werden. Kenntlich werden dann literarische Ausbruchs- und
106
Dies ist nur einleuchtend, wenn man dem Begriff das amerikanische Prinzip der Serienakten unterstellt. D a s in Deutschland aber seit d e m 17. Jahrhundert praktizierte Sachaktenprinzip verweist auf den erwünschten Zusammenhang von Ganzem und Teil. Vgl. Schatz, Behördenschriftgut, S. 19R.
107
Lukács, Theorie des Romans, S. 47. — Vgl. den Hinweis auf die an sozialistische oder nationale Kollektive geknüpften Ganzheitsvisionen von sozialen Körpern und geistigen Überwölbungen bei Delabar, Was tun?, S. 22, 27.
108
Jaspers, Geistige Situation, S. 28, 33. 109 Vgl. dazu vor allem Ernst Bloch, Angestellte und Zerstreuung. In: Bloch, Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 4, Frankfurt a . M . 1985, S. 31—41. - Vgl. Siegfried Kracauer, Kult der Zerstreuung. Über die Berliner Lichtspielhäuser. In: Kracauer, Der verbotene Blick. Beobachtungen, Analysen, Kritiken, Leipzig 1992, S. 146—152. 110
Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. I48ff.
111
Vgl. Sloterdijk, Weltanschauungsessayistik, S. 322.
205
Denormalisierungsbestrebungen der Angestellten, die z.B. durch anachronistische Verhaltensweisen, 112 durch Praktiken der Rauscherzeugung und >Zerstreuung< sowie schließlich durch Selbstmord und altruistische Verausgabung die >Ganzheit< und Ubiquität bürokratischer Institutionen 1 1 ' und ihren Zusammenhang von Stellvertretung und Ersetzung zu sprengen versuchen. E x negativo freilich haben sie teil an den genannten Diskursen und ihren Konturierungen der Bürowelt.
4.5
Stenographie: Rationalisierung — Hermeneutik — Literatur
Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Repräsentativität des Angestellten, die sich an das T h e m a von Stellvertretung und Ersatz anlagert bzw. von diesem bestimmt wird. Angestellte sind für ihre Beobachter repräsentativ, weil sie ersetzbar sind, weil ihre geistige Arbeit ebenso mechanisiert und rationalisiert wird wie die körperliche. Dies manifestiert sich aber nicht nur in den technischen Innovationen der Schreibmaschine, der Lochkarte und des Parlographen, sondern auch in der institutionellen Entwicklung der bislang von der Forschung vernachlässigten" 4 Stenographie als Schreib- und Medienverbundstechnik. Sie ist Symptom fiir die kulturkritischen Ganzheitsbestrebungen und für die Effekte der identifikatorischen Tendenzen des Angestellten. Die Geschichte der Stenographie, die von ihren Propagandisten, den Vertretern der Stenographenvereine vornehmlich mit der Geschichte staatlicher Repräsentation, nämlich mit der Forderung nach Öffentlichkeit der Parlamentsverhandlungen verknüpft worden ist, muß enger an die Geschichte der Bürokratie in öffentlich-politischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen gebunden werden. Daß umgekehrt von der konkreten Tätgkeit der Stenographen, vor allem der Stenographinnen in der Medien- und Angestelltenforschung so wenig Aufhebens gemacht wird, dürfte darin begründet sein, daß die Stenographie zwar in einer signifikanten Konstellation von Vertretung und Ersatz lokalisiert werden muß, daß sie als Textverarbeitungsverfahren aber schon lange keinen öffentlichen Resonanzraum mehr besitzt. In der Weimarer Republik hingegen sind Stenographie und das stenographische Diktat im Büroleben alltägliche und Vielen vertraute Praktiken. Spätestens seit dem Beschluß über die Einführung der Einheitskurzschrift 1924 ist Stenographie ein
112
113 114
Kracauer, Die Angestellten, S. 277. — Ernst Bloch, Ungleichzeitigkeit und Pflicht zu ihrer Dialektik. In: Bloch, Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 4, Frankfurt a.M. 1985 (EA 1932), S. 104-204. Jaspers, Geistige Situation, S. 47. Bezeichnend dafür ist die falsche Bezugnahme der Schreibgeschwindigkeitsmessung nach Silben, die sich auf die Stenographie und nicht auf die Schreibmaschine bezieht, bei Klaus Theweleit, Buch der Könige, Bd. 1: Orpheus (und) Eurydike. Basel/Frankfurt a.M. 1991 (2., überarb. Aufl.), S. 91, im Anschluß an Kittler, Grammophon Film Typewriter, S. 318. — Vgl. jetzt aber Rieger, Individualität der Medien, S. 22off.
206
anschlußfähiger Topos in der Öffentlichkeit, ein Kollektivsymbol," 5 das sich literarisch verbreitet. In der Stenographie mit ihrem Januskopf aus passiver Registratur und koproduktivem Vorgriff auf die sinnvolle Ergänzung der Vorgesetzten-Rede konkretisiert sich schließlich auch literarisch die Angestelltenproblematik: T h o m a s M a n n s Beschreibung v o n Goethes literarischer Bürokratie u n d die Darstellung der Traumdeutungsverfahren des alttestamentarischen Joseph, Robert Walsers Identifikation des Angestellten mit dem Vorgesetzten lassen sich deshalb auch als literarische Mitschriften der stenographischen Mitschrift lesen.
4.5.1
Stenographiepropaganda in der Weimarer Republik
Die Stenographie als Silben-, Laut- und Siglenschrift vertritt die im R a h m e n der allgemeinen Schulpflicht vermittelte Lang- oder Alphabetschrift zeitweilig, um Dikat und Klarschrift per H a n d (auf der Schreibmaschine) voneinander zu trennen. Sie beansprucht aber tendenziell, als Speichermedium für die gesprochene Sprache dauernd an ihre Stelle zu treten und sie abzulösen. D i e Utopie einer verallgemeinerten Kurzschrift, die bis zu Konzeptionen einer Universalschrift" 6 reicht, scheitert an der relativ schweren Erlernbarkeit der Stenographie und an ihrer Abhängigkeit von der bereits entwickelten Schriftsprache. Die Stenographie steht zudem im Z u s a m m e n hang einer ständigen Entwertung von Bildung und einmal erlernten Fertigkeiten. Jedes einzelne stenographische System, von denen Gabelsberger und Stolze-Schrey die bekanntesten und verbreitetsten sind," 7 steht nicht nur unter dem Vorbehalt einer Einheitskurzschrift, die die langfristige Verwendbarkeit der stenographischen Kenntnisse und Fertigkeiten sicherstellen soll und die Vergleichbarkeit der Schreiber und damit die Rationalisierungsoptionen steigert, sondern auch unter dem D r u c k von Diktiermaschinen und zumindest imaginierten Spracherkennungssystemen, die den Zwischenschritt der Stenographie überflüssig machen. 1 ' 8 D i e vor allem kommerziell erklärbare, aber durch Unterschiede in den Z e i chensystemen begründete aggressive Konkurrenz der stenographischen S c h u l e n " 9
Axel Drews, Ute Gerhard und Jürgen Link, Moderne Kollektivsymbolik. Eine diskurstheoretische orientierte Einführung mit Auswahlbibliographie. In: IASL 1. Sonderheft: Forschungsreferate, 1985, S. 256-375. 116 Vgl. Nöth, Handbuch der Semiotik, S. 375. 117 Christian Johnen, Allgemeine Geschichte der Kurzschrift, Berlin 1940 (4., völlig neubearbeitete Auflage). " 8 Vgl. Sabine Segelken, Stenographie und Schreibmaschine, Hildesheim 1991. — Vgl. Karl Bode, Schreibrationalisierung und Schreibmechanisierung. In: Die Redezeichenkunst 5, 1927, S. 93-98. "9 Vgl. dazu Kurt Tucholsky, Das Mitglied. In: Tucholsky, Gesammelte Werke Bd. 4, hg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz, Reinbek bei Hamburg 1985 (EA 1926), S. 455Í. Ders., Ein schwedischer Sachse. In: Tucholsky, Gesammelte Werke Bd. 6, (EA 1928), S. 226-228.
207
verhindert bis zur Vereinbarung über die deutsche Einheitskurzschrift, 1 2 0 die im J a h r 1924 Elemente der Gabelsbergerschen Kurzschrift u n d des Systems StolzeSchrey vereinigte und harmonisierte, die allgemeine Konkurrenz der Angestellten und weitere Arbeitsteilungen: 1 1 1 Wer das Diktat stenographisch aufnimmt, muß es normalerweise auch in Langschrift transkribieren. Erst die Einheitskurzschrift erlaubt die konsequente Trennung von Aufnahme und Maschinenschrift des Diktats und die Verteilung des Mitschreibprozesses auf zwei Personen. Auch das Einsparen der Transkription in Langschrift erfordert eine einheitliche Stenographie: Im Hintergrund steht, hier schon in unmittelbarem Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Machtergreifung formuliert, das nationalstaatliche Ideal einer gänzlichen Ersetzung der Langschrift durch die Kurzschrift, so daß »von Danzig bis zum Bodensee und von H a m b u r g bis Wien [...] einer des andern Schriftung lesen« 1 1 2 könne. D i e Stenographie wird stets doppelt, einerseits als bloß registrierende u n d andererseits als co-produktive Potenz, wahrgenommen. A u f der positiv codierten Seite dieser Differenz droht jedoch die Erneuerung einer hermeneutisch-politischen Autorität, die gar nicht mehr zu diktieren braucht, weil der Angestellte die Rede des Vorgesetzen vorgreifend verinnerlicht hat. Die Stenographie zeichne sich, so ihre Verteidiger und Apologeten, durch die geistige Kompetenz aus, die erforderlich sei, u m sie geschickt zu praktizieren. D a m i t wenden sie sich gegen die Vorwürfe der älteren Bildungsrepräsentanten, die in ihr eine bloße mechanische Technik des Kopierens und Wiederholens erblicken. 123 Dieses Stereotyp von der Stenographie als Sklavenkunst 1 2 4 wird von den Verfechtern der Kurzschrift in öffentlicher und privatwirtschaftlicher Verwaltung mit Hilfe einer argumentativen Volte entkräftigt, die die Führung einer Verwaltung und die literarische Autorschaft einander annähert und die Macht der Schrift über jene setzt, die als Machthaber eigentlich keiner Macht unterworfen sind: Wenngleich die Funktion der Stenographie durch Schreibmaschine und Diktiergerät gefährdet sei, behalte sie doch ihren unersetzbaren Wert für den Vorgesetzten wie für den Autor. Die »Macht« der Stenographie im
120
Johnen, Geschichte der Kurzschrift, S. 179fr. - Segelken, Stenographie und Schreibmaschine, S. 7ifF. 121 F. Hoppe, Die Arbeitsformen des Beamten. In: Deutsche Stenografen—Zeitung 48,1933, S. 304-308. 121 Hoppe, Arbeitsformen, S. 308. I2 ' Fr. Schreiter, Die Wertschätzung der Stenographie im Wandel der Jahrhunderte. In: Allgemeine Deutsche Stenographen—Zeitung (Organ der Akademie für Kurzschrift in Leipzig) 57, 1920, S. 83-91. So hatten die preußischen Gymnasialdirektoren am Ende des 19. Jahrhunderts der Kurzschrift jeden »bildenden Wert« abgesprochen, während sie in den bayerischen höheren Schulen zumindest als Wahlpflichtfach eingeführt worden war. — Vgl. zur Koevolution von Gedächtniskunst und Stenographie um 1800: Rieger, Individualität der Medien, S. I94f. 124
208
Es gründet auf Ciceros stenographierenden Sklaven Tiro, den >Erfinder< der »tironischen NotenSoziologie der deutschen Angestelltenschaft< unterbleibt aus politischen G r ü n den, 1 5 7 Martin Kessels >Herrn Brechers Fiasko< und Kästners >FabianSchicksale hinter Schreibmaschinen von Christa Anita Brück wird nach 1933 aus den Volksbüchereien entfernt. 159 Die literarischen und essayistischen Analysen und Kritiken der Angestellten sind offensichtlich dem nationalsozialistischen Projekt der »Gleichschaltung« und der »Volkspolitik« 160 nicht einzugliedern.
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Irmgard Keun, Das kunstseidene Mädchen, München 1989 (EA 1932), S. 118. Zitate werden im folgenden durch die Sigle K M und die Seitenzahl belegt. Beispiele fiir die explizite Integration des Angestelltendiskurses finden sich insbesondere dort, wo jeweils die Differenz zwischen Angestellten und Arbeitern zum Thema gemacht wird. Vgl. Braune, Das Mädchen an der Orga Privat, S. 135. - Kessel, Herrn Brechers Fiasko, S. in. - Ähnlich auch die Kritik an fehlendem Widerstandsgeist und mangelnder Solidarität unter Angestellten bei Oskar Maria Graf, Die Angestellte. Kalender-Geschichten II. In: Graf, Werkausgabe XI/3, hg. von Wilfried F. Schoeller. Frankfurt a.M. 1986 (EA 1929), S. 233fr. Hans Speier, Vorwort zu: Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus, S. 9ff. - Vgl. auch die Briefe vom August/September 1933 des Reihen-Herausgebers Theodor Geiger, in dem die ausschlaggebende Rolle des zweiten Herausgebers, des NSDAP-Mitglieds Andreas Walther betont wird. Kästners Erfolgsroman fällt der Bücherverbrennung« anheim; Kessels Roman, kurz vor Weihnachten 1932 erschienen, wird in der Öffentlichkeit fast vollständig ignoriert, das Buch wird zurückgezogen und der Vertrag annulliert. Dazu: Wolfgang Grothe, Martin Kessel und sein Max Brecher. In: Deutsche Rundschau 82, H. 10, 1956, S. 1116—1118. »Christa Anita Brück«. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, hg. von Walther Killy, Gütersloh/München 1989. — Vgl. zu den bibliothekarischen >SäuberungsDritten Reich«. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder, München 1995 (Überarb. und aktualisierte Auflage), S. 142-154: Die Texte fallen unter die sogenannte »Asphaltliteratur«, mit der in der »Liste der unerwünschten Literatur« operiert wird. So der Terminus von Geiger, Soziale Schichtung, S. m f f
D i e Serialität der vergeblichen Individualisierung bei den Angestellten widerspricht den in Soldaten- und Arbeitermassen anvisierten Ein- und Unterordnungsphantasien, ihre oft sachlich-schnoddrige Kontingenzbewußtheit den nationalsozialistischen Schicksalsparolen und Pathosformeln. D i e Kritik an den Harmonie- und Aufstiegsillusionen der standesbewußten Angestellten erinnert die nationalsozialistische >Bewegung< außerdem zu sehr an ihre eigenen unspektakulären Ursprünge, etwa an das Bündnis mit dem Deutschen Handlungsgehilfen-Verband ( D H V ) , das nach 1933 revidiert wurde. In der Angestelltenproblematik werden insgesamt Konkurrenzen in der W a h r n e h m u n g von Modernisierung und im U m g a n g mit ihr sichtbar, die das Projekt einer zentral gelenkten und traditionalistisch codierten gesellschaftlichen Mobilisierung zu relativieren drohen.' 6 1
4.6.2 Lektüren D i e hier präsentierten Textanalysen folgen vier Gesichtspunkten, die den Textvergleich, die A n b i n d u n g an Angestellten- und Stenographiediskussion und die thematische Verallgemeinerung ermöglichen. ι. Als Kristallisationspunkt fur Beiträge zum Angestelltendiskurs für die literarische Selbstreflexion fungieren in den literarischen Texten Anspielungen auf die modernen Medien und ihre Nutzung; Literatur klärt über sich selbst auf, wenn sie sich im Kräftefeld von Medien beobachtet, die über identifikatorische Lektüre die Angestelltenillusionen fördern und wenn sie die Relation von literarischem und bürokratischem Schreiben untersucht; einzelne Texte distanzieren sich explizit von >trivialen< Mustern und markieren auf diese Weise eine spezifische Differenz zu den T o p o i des Angestellten- und Geschlechterdiskurses. 2. Die bürokratischen Schreibverfahren, vom Diktat über das Stenogramm zur Schreibmaschinenschrift, eröffnen den Blick auf bürokratische Sinnerzeugungsmechanismen und auf die hermeneutischen Implikationen der organisatorischen Hierarchie. Selbst das Schreibwerkzeug verwandelt sich in ein menschliches G e genüber. Der Angestellte ist zwar durch seine exorbitante Fähigkeit zu verstehen gekennzeichnet, gleichzeitig aber verfügt sie/er über Schreib-Techniken, die das Verstehen dosieren und verlagern. Verstehen als Vorgriff auf die Perspektive und als Denken im Interesse des Vorgesetzten befähigt zur Stellvertretung, degradiert aber den Einzelnen zum flottierenden Zeichen ohne festes Signifikat. 3. Das T h e m a der Vertretung und der Ersetzbarkeit wird in seiner sozialen D i mension zu einem zentralen Moment der Angestelltendiskussion und der narrativen Konstruktion der Texte; die Implikationen und Konsequenzen des zeichenanalogen
161
Vgl. Michael Prinz, Vom neuen Mittelstand zum Volksgenossen. Die Entwicklung des sozialen Status der Angestellten von der Weimarer Republik bis zum Ende der NS-Zeit, München 1986. 219
Handelns werden vor allem mentalitätshistorisch in den Blick genommen, während die semiotischen Facetten von Stellvertretung eher im Hintergrund bleiben. 4. In der doppelten Polarität von Ausbruchs- und Rettungsphantasien taucht die Struktur der Stellvertretung, der Fürsorge und des Opfers in einem säkularisierten moralischen Sinne wieder auf und richtet sich gegen bürokratisch-ökonomische Austauschverfahren und Aquivalenzkonstruktionen. Selbstmord und zwischenmenschliche Solidarität entziehen sich jedoch ebenfalls allen synekdochäischen Ganzheitsvisionen und verweisen diese an ihre Grenzen. Dem statistisch grundierten Normalitätsdispositiv hingegen vermögen sie kaum zu entgehen.
4.6.2.1 Liebes-Literatur: Angestellte und Medien Die untersuchten Romane enthalten sowohl literarische Reminiszenzen als auch Verweise auf das Kino; die Kinoreferenzen 161 sollen hier nur am Rande berücksichtigt werden, die literarische Lektüre wird dagegen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Lektüre ist ein zentrales Motiv, an dem sich der Bildungsehrgeiz der Angestellten und die Bildungszerstörung durch die Büroarbeit manifestieren: Bereits die älteren und trivialen Beispiele benutzen die Projektion einer bildungsbürgerlichen Lektüre, um den Angestelltenhabitus zu idealisieren: So nutzt ein unverheiratetes Angestelltenpaar im Roman >Junggesellinnen< (1921) des Erfolgsschriftstellers Arthur Zapp die knapp bemessene Zeit des Feierabends zur Inszenierung einer bürgerlichen »Häuslichkeit« mit forcierter Fixierung traditioneller Geschlechterrollen. Im Mittelpunkt dieser Inszenierung steht die gemeinsame, aber nicht weiter qualifizierte Klassikerlektüre. In Hedwig Courths-Mahlers >Das ist der Liebe Zaubermacht< (1924) symbolisiert sich der Aufstiegswille eines aus einer Arbeiterfamilie stammenden jugendlichen Angestelltengeschwisterpaars durch das Klassikerregal im elterlichen Haus.' 6 3 Die Bücherbände der deutschen >Klassiker< stehen für das Einüben eines Habitus und den mühseligen Erwerb eines kulturellen Kapitals, der stets als unangemessen, peinlich und autodidaktisch denunziert werden kann. 164 Im Kontrast dazu steht die unkonzentrierte und abgebrochene Magazinlektüre, der sich etwa die Protagonistin von Rudolf Braunes sozialkritischem AngestelltenRoman >Mädchen an der Orga Privat< während ihrer mittäglichen Pause widmet:
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Die Orientierung auf das Kino zeigt sich sogar in der Namensgebung bei Braune und Brück, w o Figuren die Namen bekannter Regisseure (Siodmak) und Schauspieler (Veidt) tragen.
Arthur Zapp, Junggesellinnen. Ein Roman vom neuen Mädchentyp, Dresden 1921, S. 25. — Vgl. auch Hedwig Courths-Mahler, Das ist der Liebe Zaubermacht. (EA Berlin/Leipzig 1924): Arme kleine Anni/Das ist der Liebe Zaubermacht/Im fremden Land, BergischGladbach 1993, S. 288. 164 Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1988, 2. Aufl. (dt. E A 1982).
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Die junge Stenotypistin, durch Herkunft und Erziehung in proletarischem Milieu als untypische Angestellte eingeführt, verhält sich auch in dieser Hinsicht anders als ihre »kleinbürgerlichen« Kolleginnen: Dann holt sie sich einige illustrierte Zeitschriften, alte abgegriffene N u m m e r n , und döst beim Lesen. [...] Erna liest den Roman in einer >Illustriertenklassenbewußte< Art der Medienrezeption, die den Aspekt des Kampfes in den Vordergrund rückt, wird als sinnvoller Bildungsschritt dargestellt. Das Einklinken in den Verbund moderner Massenmedien scheint nur dann legitim, wenn die harmonisierenden, aber ohne Möglichkeit zu echter Identifikation rezipierten Medieninhalte und -formen gegenüber sinnaufgeladenen, von marxistischer Geschichtsphilosophie geprägten Konfliktmodellen des kollektiven Aufstiegs zurücktreten. Der Aufstieg eines Arbeitermädchen steht stellvertretend für den Sieg der Klasse und läßt Fragen nach dem prekären Verhältnis von individuellen Karrieren und dem Schicksal gesellschaftlicher Gruppen völlig außer acht. Daß eine einfache Angestellte durch ihre erotische Attraktion und/oder ihre berufliche Tüchtigkeit den Vorgesetzten betört, ihn heiratet und dadurch einen gesellschaftlichen Aufstieg vollzieht, ist ein wiederkehrendes Thema von Moderomanen und Filmen;' 65 die hier vorgestellten Texte rekurrieren auf diesen Topos in mehr oder minder kritisch-ironischer Art und Weise. Martin Kessels Roman >Herrn Brechers Fiasko< bindet das Motiv in eine Lektüreszene ein: Sie zeigt eine erotisch aufgeladene Situation gemeinsamer Lektüre während der Arbeitszeit. Kollegin und Kollege vereinen sich im sexuell stimulierenden Um-die Wette-Lesen eines Liebesromans, der als kulturindustrielles Produkt gekennzeichnet ist. Dieselbe Firma, dem Ullstein-Konzern nachgebildet, für deren Propaganda die Figuren des Romans verantwortlich zeichnen, hat dieses Buch produziert; aus der Zirkularität von Medienproduktion, Werbung und Illusionssteuerung gibt es keinen Ausweg: Mucki hatte inzwischen die Atmosphäre gewechselt, indem sie sich in der Lustbarkeit eines Uvag-Romans erging, und Doktor Geist war Kavalier genug, ihr über die Schul-
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Knut Hickethier, Tippmädchen, Chefsekretärinnen, Buchhalter, Angestellte im Film. In: Großstadtmenschen, hg. von B. Lauterbach, S. 435-444. - Vgl. auch Dreyfuss, Beruf und Ideologie, S. 242fr.
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tern zu sehen. Sie lasen um die Wette. »Komm, wir wollen uns zusammen hinlegen und schlafen!« las Doktor Geist, mehrmals verlockt, die Lippen leise auf Muckis Nacken zu legen. Er war seiner Sache nie sicher, in welcher der beiden Welten er sich befände. >Es flöß eine sanfte Röte über ihn hinNicht doch!« rief Mucki. >Sie drücken mich tot.< (BF 107)
Die Verwechslung von Literatur und >Wirklichkeit< unterläuft selbst jenen, die sich einen intellektuellen Habitus aus ironischer Distanz und mentaler Reserve gegenüber den Strukturen und Verfahren der Angestelltentätigkeit zu bewahren suchen. Der mit dieser Verwechslung verbundene Übergang von Lektüre zu erotischer Aktion bildet in der europäischen Liebessemantik einen Topos erotischer Spannungserzeugung, der über die Verknüpfung von Beobachtungen erster und zweiter Ordnung funktioniert und potentiell unendlich ist. Im Gefiige des Romans antizipiert er den Topos einer Heirat zwischen Vorgesetztem und Untergebener als illusionäre Hoffnung subalterner weiblicher Angestellter. Im Angestelltenroman der Weimarer Republik findet man zudem explizite Reflexionen auf jene Texte, die in direkter Konkurrenz die Gattung konturieren: Im Hinblick auf Brücks kurz zuvor publizierten Angestelltenroman »Schicksale hinter Schreibmaschinen distanziert sich die Titelheldin in Irmgard Keuns Roman »Gilgi - eine von uns« von Texten, die die erotische Ausbeutung der weiblichen Angestellten durch ihre Vorgesetzten mit vornehmlich moralischen und auf die traditionelle Frauenrollen rekurrierenden Argumenten kritisieren. Sie entdramatisiert das männliche Verhalten mit dem Rekurs auf die »sachlichen! Kategorien Normalität und Natürlichkeit. Für die Frauen gebe es immer die Möglichkeit des taktisch-strategischen Verhaltens, das zunächst in der Funktionalisierung der erotischen Attraktion für die eigenen Aufstiegsambitionen gesehen worden war, dann aber in der klugen Distanzierung lokalisiert wird: »Hauptsache man versteht, ihnen geschickt auszuweichen. Bloß keine große Beleidigungstragödie à la »Schicksale hinter Schreibmaschinen««. (G 68) Z u m Zweck der Figurencharakteristik und zur Kennzeichnung ihres stets codifizierten Verhaltens wird auch hier die Literatur mit dem »Leben« verwechselt. Gilgis Kritik an der moralischen Strenge der Protagonistin und Ich-Erzählerin in Brücks Roman kennzeichnet ihren eigenen, vom Text implizit dekonstruierten und eben auch imitatorischen Habitus als aufgeklärt-zynische junge Frau, 1 6 6 die sich die Schwächen anderer zielgerichtet zunutze macht. Gilgis Kritik an jedem literarischen Reden von »Herz und Gefühl«, am »modernen Weltschmerz« als exhibitionistischem Akt (G 69) verfällt nämlich angesichts der eigenen Liebesbeziehung dem Selbstwiderspruch: Berufliche Konzentration und Ablenkung durch die Gedanken an den Geliebten heben sich wechselseitig auf, die Schwangerschaft schließlich durchkreuzt ihren Lebensplan, der die Karriere
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Vgl. Delabar, »Was tun?«, S. 107.
einer emanzipiert-selbstbewußten, asketisch lebenden und arbeitenden jungen Frau vorsah, nicht aber verzehrende Liebe oder gar Familienleben.1®7 Das Ende des Romans, der Entschluß, sich vom Freund zu trennen, nach Berlin zu gehen und dort als berufstätige, ledige Mutter weiterzuleben, markiert mit dem Zusammenbruch der klaren Alternative zwischen Mutterschaft und Berufstätigkeit auch den Kollaps einer literarisch-stilistischen Differenz: Das zutiefst literarische Konzept der »sachlichen Romanze