In 200 Büchern um den Globus: Expeditionen in die neuere Weltliteratur [1 ed.] 9783205217794, 9783205217770


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German Pages [357] Year 2023

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In 200 Büchern um den Globus: Expeditionen in die neuere Weltliteratur [1 ed.]
 9783205217794, 9783205217770

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Achim Hölter

IN

200

Büchern Um den Globus Expeditionen in die neuere Weltliteratur

Achim Hölter

In 200 Büchern um den Globus Expeditionen in die neuere Weltliteratur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprimt der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande  ; Brill USA Inc., Boston MA, USA  ; Brill Asia Pte Ltd, Singapore  ; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland  ; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill ­Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Korrektorat  :  Constanze Lehmann, Berlin Umschlaggestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz und Layout  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-205-21779-4

Inhalt

Dank 6 Zu diesem Buch

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Vorwort 9 200 Bücher in 200 Wörtern

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Zu den Autor:innen

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Tabellarische Übersicht

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Lesehinweise 343 Abbildungsnachweis 346 Zum Autor

Inhalt

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Dank

Dieses kleine Buch ist das Produkt einer Spontanidee, die erst allmählich eine bestimmte textliche Form annahm. Dafür, dass es auch eine ansprechende Gestalt erhielt, und für die Aufnahme in das Verlagsprogramm danke ich zunächst Waltraud Moritz, Viktoria von Wickede und insbesondere Sarah Stoffaneller vom Böhlau-Verlag sowie nachdrücklich Julia Roßberg, Constanze Lehmann und Michael Rauscher, die die Drucklegung begleitet haben. Johannes Gelich vom ORF interessierte das Projekt schon vorher, so dass es bereits am 23.11.2022 Gegenstand einer Ö 1-Radiosendung war. Für sub­stantielle Hilfe bei der Dokumentation der Autorinnen und Autoren danke ich in erster Linie Verena Prantl, aber auch Marie-Helene Polt, sowie für die meist schon sehr druckreifen Entwürfe zu diesen Informationstexten Anna Hell und Cecilia Lermer. Alle sind oder waren Studienassistentinnen in der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien. Nicht zuletzt danke ich meiner Frau Eva Hölter für intensive Mithilfe und konstruktive Lektüre. Wien, April 2023

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Dank

Zu diesem Buch

Dies ist ein hybrides Buch. Literaturkritik, geschrieben von einem Literaturwissenschaftler, mit einer Prise artistischer Ambition. Das Experiment: 200 Bücher aus 200 Ländern oder Sprachkulturen zu lesen, die unbedingt als Bücher integrale Werke darstellen und ins Deutsche übersetzt sein müssen, die außerdem nach Möglichkeit, das heißt in den meisten Fällen, im Deutschen als Taschenbücher und in den allermeisten Fällen im Original nach 2000 erschienen sind, also zur Gegenwartsliteratur gehören. Als Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien habe ich mich zwischen 2019 und 2021 systematisch durch die aktuelle Weltliteratur gelesen, wobei die Auswahl aus den großen Nationalliteraturen absichtlich nach dem Zufalls- oder Lustprinzip erfolgte, während bei sehr kleinen Staaten oder sehr jungen Literaturen oft nur wenige Titel (zuweilen leider nur einer oder gar keiner) in Frage kamen, die schon ins Deutsche übertragen wären. Ein Ziel war, zu testen, ob ich als deutschsprachiger Leser überhaupt eine Chance haben würde, mich komplett um den Globus zu lesen, ein anderes, durch die zufälligen Stichproben einen Überblick zu gewinnen, der unvermutete Beobachtungen im Einzelnen und im Gesamten ermöglicht. Da hier nicht die Position eines professionellen Komparatisten eingenommen wird, sondern die eines – allerdings fachlich vorbelasteten und nicht meinungslosen – passionierten und erfahrenen Lesers, sollte die Information über die einzelnen Texte nicht trocken oder lexikonartig daherkommen, und weil es sich ja nicht um die aktuellsten Neuerscheinungen handeln konnte und die Literaturkritik das Ihre jeweils schon gesagt haben würde, nicht um nachgetragene Rezensionen. Vielmehr besteht das Rezept darin, Mitteilungen über den Inhalt und die literarischen Verfahrensweisen mit wertenden Äußerungen zu kombinieren. Um das nicht ausufern zu lassen, aber auch, um das Ganze möglichst homogen zu gestalten und den Metatexten, die auf diese Weise entstanden, einen ästhetischen Anspruch mitzugeben, entschied ich mich nach gut oulipistischer Manier für eine selbstauferlegte Regel, einen unnötigen, aber fruchtbaren Formzwang: in diesem Fall dafür, jedes der genau 200 Bücher in genau 200 Wörtern zu behandeln. Das gerät dann mal nüchtern, mal deskriptiv, mal bewundernd, mal kritisch, fast immer sehr dicht, jedenfalls Zu diesem Buch

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so, dass jedes Wort mit Absicht und Sinn steht, wo es steht. Dass man diese Texte nicht als Ersatz für eigene Lektüre, sondern als Neugier oder Widerspruch weckende Begleitung – im gleichsam musikalischen Sinne – vor oder nach dem Kennenlernen des jeweiligen Buches zur Kenntnis nehmen sollte, folgt daraus von selbst. Deshalb ist es ein hybrides und absolut kein wissenschaftliches Buch: ein wenig Einladung, ein wenig Warnung, ein wenig Information, ein wenig Kommentar, aber mit dem Resultat, dass man, wenn man meinem Reisepfad folgt, für vergleichsweise kleines Geld in der traditionellen Form von 200 gedruckten Büchern einmal um die ganze Lesewelt kommt.

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Zu diesem Buch

Vorwort

Mein Fach und ich

Als Hochschullehrer rate ich meinen Studierenden regelmäßig, in Hausarbeiten auf die erste Person zu verzichten, um gar nicht erst in die Subjektivitätsfalle tappen zu können. Natürlich halte ich mich selbst in streng wissenschaftlichen Publikationen nach Möglichkeit an diesen Rat, aber dies hier ist etwas anderes. Ich muss ein wenig von mir und meinem Fach sprechen und gebe völlig subjektive Urteile über einige Regalmeter Bücher ab; daher ist es nur fair, wenn ich ausnahmsweise – und ich habe ja schon damit angefangen – in der ersten Person schreibe. Ich bin Jahrgang 1960 und in Westdeutschland aufgewachsen, habe also, das lässt sich ausrechnen, mein Studium absolviert in der Hochphase der Postmoderne. Mir scheint, dass mein persönlicher Literaturgeschmack weniger davon beeinflusst ist, als dass ich bestimmte Absetzbewegungen gegenüber der stark politischen und wenig formbewussten Literatur der sechziger und siebziger Jahre eben aus Generationszugehörigkeit plausibel fand. Der Blick in die Literaturen der Nachbarländer, insbesondere nach Italien und Frankreich, bestärkte mich darin. Zugleich verband sich mit dem Misstrauen gegenüber der Schule und ihrer Literaturdidaktik, wie ich sie kennenlernte, ein neues Vertrauen zum Kanon, d. h. zur Wertung und zum Respekt vor dem Wertvollen an sich, aber auch zur kanonischen Literatur der großen Autorinnen und Autoren. Vielleicht ergab sich aus dieser Gemengelage, dass ich Komparatist wurde. Mein Arbeitsgebiet ist demnach die Weltliteratur, nicht weniger als das. Die Vergleichende Literaturwissenschaft, das sei hier nur ganz am Rande in Erinnerung gerufen, ist eine international sehr erfolgreiche Variante dessen, was im einen Land Germanistik, im anderen English studies usw. genannt wird und was seit gut 200 Jahren als Alternativmodell an den Universitäten Lesen und Interpretieren in einen nicht nationalen und sprachgebundenen, sondern transnationalen und vielsprachigen Praxisrahmen stellt. Wenn man nach dem Studienfach sucht, ist der übergreifende Name „Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft“ oder „Comparative Literature“. Das klingt nach einem Spezialphänomen, aber eigentMein Fach und ich

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lich kann man feststellen, dass diese Art, Literatur zu betreiben, wenn man nicht gerade vorhat, z. B. Deutsch- oder Französischlehrer:in zu werden, heutzutage der Normalfall ist, denn die allermeisten Menschen, so sehr sie sich vielleicht im Studium auf eine Sprachkultur spezialisieren, lesen Belletristik ohne nationale Beschränkungen. Wenn man aber übergreifende Strukturen und Konstanten im Blick hat, interessiert man sich automatisch für Formen und Strategien der Literatur, also generell für Lyrik oder Romane, und für Themen und Inhalte, also das, was wir im Fach Stoffe, Motive, Symbole, Topoi usw. nennen. Es sei auch nicht verschwiegen, dass sich die AVL gerne Transferphänomenen widmet, vor allem der Intermedialität – etwa Literaturverfilmungen oder Graphic-Novel-Adaptionen – und der literarischen Übersetzung. Das Lesen ohne Ländergrenzen hat indes seinen Preis. Jeder lesende Mensch kennt das Gefühl, nur einen winzigen Bruchteil dessen zu kennen, was interessant oder wichtig ist, und je älter man wird, desto schlimmer wird das bewusste Missverhältnis. Menschen, die das Lesen und das Publizieren und Unterrichten darüber professionell betreiben, erfahren dieses permanente Schuldgefühl noch ungleich intensiver, und vollends nun ein Professor für Komparatistik: Nicht nur ist das potentielle weltliterarische Lesepensum maximal – das wäre ja angesichts des ohnehin aussichtslosen Kampfes schon egal –, sondern es ist eine Frage der Fachkompetenz, den Mangel bestmöglich zu kompensieren. Komparatist:innen können stolz darauf sein, sich auf alle möglichen Literaturen einzulassen, aber sie haben auch in zwei Punkten notwendigerweise ein schlechtes Gewissen: Zum einen beherrschen sie im Normalfall nur eine Handvoll Sprachen, selbst wenn es viele sind, vielleicht ein Dutzend, von den Tausenden Idiomen der Menschheit, unter denen sicher hundert auch literaturaktiv sind. Sie müssen also vieles in Übersetzung lesen. Und zum andern haben sie eben doch ihre Schwerpunkte oder Lieblingskulturen, und schon fragt sich, wie ernst sie es mit der Weltliteratur-Idee, die ihrem Fach zugrunde liegt, eigentlich nehmen. Das nun war die Ursache für mein kleines Projekt, welches prononciert experimentellen Charakter hat: Mein eigener Schwerpunkt liegt nicht hauptsächlich in der Gegenwart, und ich hatte das Gefühl, eine Horizonterweiterung könne nicht schaden. So kam es, dass ich mir einige strikte Regeln auferlegte, die als solche vor allem heuristisch gemeint waren, also das Ziel verfolgten, neben dem Produktiveffekt einer Spielregel am Wege ein paar Erkenntnisse zu sammeln. Was würde ich also lesen, was habe ich 10

Vorwort

dann tatsächlich gelesen? 200 Bücher, von denen ich hoffte, erwartete, vermutete, dass sie gelungen wären und mir deshalb gefallen würden, einige, weil ich sie selbst gerne geschrieben hätte, andere, weil ich sie niemals hätte schreiben können, und ab und zu auch eines, das ich ablehne, ohne ihm entkommen zu können.

Die Idee und die Regeln

Es stimmt, ich liebe Spielregeln. Sie verleihen innerhalb ihrer Limits Freiheit; das ist eines der kreativen Schreibprinzipien, welches manche, auch Autor:innen, gar nicht verstehen, andere aber fruchtbar anwenden. Die französische Autorengruppierung Oulipo dachte sich kunstvolle „contraintes“, Zwänge, aus, etwa den, in einem ganzen Roman einen häufigen Buchstaben konsequent wegzulassen, um jenseits dieser extremen Beschränkung der Möglichkeiten all das zu entdecken, was man trotzdem sagen kann. So ungefähr ist auch mein Entschluss zu verstehen, nur und genau 200 Wörter pro Buch zu schreiben, denn wenn man jede Menge Platz hat, zerfranst mancher Text oder man findet gar keinen Anfang. Aus diesem Grund spiele ich mit meinen Studierenden gerne das Textverdichtungsspiel, also einen Entwurf von ungefähr 500 Wörtern auf 300 oder 200 oder 100 Wörter ‚einzudampfen‘. Dass ein Text dabei ein anderer wird, ist evident, aber bis zu einer gewissen Überkompression wird er auch präziser, schärfer. Die Spielregel für dieses Buch wurde schon genannt: 200 Bücher aus 200 Ländern oder Sprachkulturen aus den Jahren nach 2000 zu lesen, die ganze Bücher und ins Deutsche übersetzt sein müssen sowie möglichst bei uns als Taschenbücher erschienen sind. Da es mir sinnvoll erschien, mit einem emphatischen Werkbegriff zu arbeiten, in sich abgeschlossene Bücher zu lesen, würden das in der Regel Romane sein. Denn fiktionale Texte sollten es auch sein, nach Möglichkeit keine (Auto-)biografien, keine Fachbücher, keine Anthologien. Vielleicht ein ganzer Lyrikband, vielleicht ein Theaterstück, vielleicht ein Krimi, weil damit mehrere Subgenres eingefangen werden: der Großstadtkrimi ebenso wie der Regionalkrimi oder der historische Kriminalroman. Dass diese Bücher nicht immer auf gleichem Niveau operieren wie die als ambitionierte Belletristik geplanten, muss ich in Kauf nehmen. Nachdem die große Welle der Regionalkrimis ein wenig abzuebben scheint, treten an deren Stelle die Länderkrimis. Es gibt also für Die Idee und die Regeln

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eine große Zahl von Ländern, vor allem Urlaubsdestinationen, spezielle Produkte mit speziellen Kommissaren, die man von Fall zu Fall hier auch einbeziehen könnte. Ich betrachte das eher als Notlösung. In welcher Originalsprache meine Lektüre geschrieben wäre, sollte egal sein. Viele Menschen schreiben inzwischen überall englisch, auch wenn sie vielleicht eine afrikanische Nationalsprache als Muttersprache pflegen. Umso wichtiger ist also wohl die Staatszugehörigkeit der Autorin oder des Autors. Doch will man wirklich die Regel aufstellen, dass nur und genau alle anerkannten Nationalstaaten vertreten sein müssen und dürfen? So etwas würde sich vermutlich nur mit einiger Mühe durchhalten lassen. Man umgeht damit einerseits offene politische Konflikte wie die Anerkennung entstehender oder postulierter Staaten, andererseits exkludiert man möglicherweise größere, kulturell souveräne Gebiete, während man Kleinstaaten aufnimmt, die aufgrund geringer Bevölkerungszahl nur wenige professionell schreibende Menschen hervorbringen, die zudem noch wenig Differenz zu den dominanten Nachbarländern aufweisen. Vielleicht war es am weisesten, sich an die UNO-Mitglieder zu halten? Doch auch dabei fehlen dann einige wenige, die ansonsten dabeiwären. Das Prinzip sollte auf jeden Fall den Nationalitäten, nicht den Sprachkulturen gehorchen, sonst wäre nur ein Buch vertreten, das im Original englisch ist, nur ein spanisches, nur ein russisches, während diese und andere Sprachen doch vermutlich mehr Verbreitung in der zeitgenössischen Literatur haben. Außerdem legte ich mich fest, nur Bücher in deutscher Übersetzung zu lesen, erstens, um gleiche Bedingungen zu erzeugen, zweitens aber, um herauszufinden, wie unser Zugang zum globalen Literaturmarkt beschaffen ist. Um es vorwegzunehmen: Das gelobte Land des Übersetzens scheinen wir nicht mehr zu sein. Wie viele Gegenwartstexte sah ich bei meiner Recherche, die etwa ins Italienische oder Niederländische übersetzt sind, aber nicht ins Deutsche! Nach 2000 und möglichst im Taschenbuch, das würde dreierlei gewährleisten: Die Texte sind mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht völlig misslungen, weil ein größerer Verlag sie in sein Taschenbuchprogramm aufgenommen hat. Falls aber doch, ist die Fehlinvestition nicht so bedeutend. Und auch nicht der schlecht verwendete Platz in meiner Bibliothek, denn ich werde auch miserable Bücher nicht entsorgen. Das tue ich ohnehin nicht, aber hier würde es auch die Serie und damit das Projekt zerstören. Außerdem nahm ich mir vor, jedes Buch neu zu erwerben, also meine Bibliothek um genau 200 Bände zu bereichern, was ihr mindestens deshalb guttun würde, weil 12

Vorwort

ich schon aus beruflichen Gründen eher im riesigen Reich der Klassiker zu Hause bin und vorwiegend Texte lese, die man nicht, jedenfalls nicht im engeren Sinn, zur neuesten Produktion rechnen kann. Ich lese viel, auch Gegenwartsliteratur, aber ich fühle mich dort nicht so wohl wie in früheren Epochen, und das hat auch qualitative Gründe. Aber noch bin ich neugierig auf positive Überraschungen. Von dem Gedanken, mir ein Zeitlimit zu setzen, sah ich von vornherein ab. Und, um die 200 festzuhalten: Über jeden der Texte würde ich einen kurzen Eindrucksbericht schreiben, der aus genau 200 Wörtern besteht, nicht 199, nicht 201. Die Versuchung war groß, ein spezifisches Auswahlmuster zugrunde zu legen, doch dann würde es unmöglich, alle Länder abzudecken. Daher und auch aus Überzeugung entschied ich mich für das Zufallsprinzip. Auch Zufall kann man partiell konditionieren (je nachdem, welche Buchhandlung man betritt) oder minimieren (durch Bestellung im Netz). Hinzutrat aber das Lustprinzip, und das ist wichtig, zumal Klappentexte damit kalkulieren. Die meisten Bücher sind also zwischen einem und zwanzig Jahre alt. Deshalb würden schon Rezensionen existieren. Ich beschloss, diese grundsätzlich nicht zu lesen, mindestens nicht, bevor ich meine 200 Wörter zum betreffenden Buch abgeschlossen hätte. Als ich noch eine breite Auswahl hatte, erlaubte ich mir die Lizenz, keine Bücher zu kaufen, die ich nach allen Vorab-Informationen nicht mochte. Weitere Maximen ergaben sich nebenher: Wenn es überhaupt eine Auswahl gab, würde ich wohl Bücher zwischen etwa 150 und 300 Seiten heranziehen, sonst würde die Bewertung sehr ungerecht, denn in Tausend-Seiten-Romanen lebt man für eine gewisse Zeit, womit sie an Gewicht bekommen, das ihnen vielleicht gar nicht zusteht, je nach Gelungenheitsgrad. Faktisch spielte das kaum eine Rolle.

194 Länder oder Eine-Weltliteratur?

Mark Forster singt in einem populären Song „Es gibt 194 Länder …“. Das ist eine von mehreren Zählweisen, je nachdem, wer welchen Staat als souverän anerkennt. Die UNO hat 193 Mitglieder, viele zählen 197 Staaten; auf genau 200 kommt niemand. Trotzdem schien mir die runde Zahl, verknüpft mit derselben Zahl als Maß meiner kurzen Texte, die probateste Formel zu sein, und zugleich wurde mir dadurch auch schon der Ausweg gezeigt, denn wenn man ohnehin keine 200 Staaten zusammenbekommt, 194 Länder oder Eine-Weltliteratur?

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ist es auch nicht schlimm, wenn – wie in diesem Buch – erfolgreiche Funde nur in 175 Staaten gelingen und die übrigen eben substantielle Sprach- oder Raumkulturen sind: die australischen Aborigines, die Antarktis, das zwischen Frankreich und Spanien geteilte Baskenland, die russische Teilrepublik Dagestan, die zu Norwegen gehörenden Färöer-Inseln, das dänische Grönland, Hongkong, das aktuell um seine kulturelle Souveränität innerhalb des chinesischen Staatsverbands kämpft, die Inuit-Kultur in Kanada, das kulturell stark auf Souveränität pochende Katalonien, das zwischen vier Staaten zerrissene Kurdistan, die neuseeländische Maori-Kultur, Palästina, dessen prekäre Staatlichkeit seit vielen Jahrzehnten Thema ist, die südamerikanische Quechua-Kultur, die europäische der Roma, Schottland, das zum United Kingdom gehört, aber hier ähnlich behandelt wird wie im Fußball, so wie auch Wales eine eigene Vertreterin erhielt, die im Osten Deutschlands heimische sorbische Sprache und, stellvertretend für viele indigene Nationen in Nordamerika, die Spokane, Swahili als transnationale ostafrikanische Literatursprache, Tamilisch als südasiatisches Idiom, das teilweise das Streben nach Lösung aus dem Staatsverband von Indien bzw. Sri Lanka repräsentiert, das von China vor vielen Jahrzehnten annektierte Tibet mit seiner ganz selbständigen Kultur, das für 30 Jahre im Windschatten der Weltpolitik zwischen Moldau und Russland eingezwängte Transnistrien, als Vertreter weiterer Minderheitenvölker innerhalb der Russischen Föderation die Tschetschenen und die Tschuktschen sowie schließlich die Tuareg, als Nomaden die Grenzüberschreiter schlechthin. Gerade während der Drucklegung lässt sich beobachten, wie prekär der Umgang mit Territorien ist, die weitgehend nicht als autonome Staaten anerkannt sind oder deren Zugehörigkeit umstritten, wenn nicht umkämpft ist. Überdies impliziert die Position zu jedem einzelnen offenen Problem die Hinneigung zu einer bestimmten Blockpolitik. Nicht selten ist es ein Staat, der die Souveränität eines Gebietes als Sezession ablehnt und dessen Anerkennung nach Möglichkeit unterbindet. Wer also Taiwan aufnimmt, steht sofort im Verdacht einer antichinesischen oder proamerikanischen Haltung. Am deutlichsten könnte zur Zeit die Behandlung eines Buches aus der selbsternannten Republik Transnistrien wie ein prorussisches Signal wirken, zumal, wenn der Verfasser den Konflikt in einer zweifellos parteiischen Kriegserzählung abhandelt und eine deutsche Übersetzung per se als Intervention zu lesen ist. Hier indes soll die Sammlung von 200 territorial differenten Büchern ganz entschieden neutral verstanden werden, wie eine Briefmar14

Vorwort

ken- oder Münzsammlung, die sich auch und manchmal gerade für jene Gebiete interessiert, deren Status ungeklärt war oder ist. Goethe verbreitete 1827 strategisch seine Idee der „Weltliteratur“ und gab dem Terminus gezielt einen Spin, wie man es heute vielleicht ausdrücken würde, der nicht ins Qualitative (also ‚Literatur auf Weltniveau‘), sondern ins Kommunikative und Vielsprachliche tendierte. Sein „geistiger Handelsverkehr“ sollte als Produkt stetig verbesserter Reise- und Publikationstechniken dazu führen, dass die größten Geister aller Nationen, womit damals primär Europa und allenfalls Amerika und der Orient gemeint waren, in einander inspirierende Verbindung treten würden. Lange war der Begriff ganz an Goethes Nachwirkung gebunden, auch wenn zunehmend Weltliteraturgeschichten über den eben genannten Horizont hinausblickten, aber erst die als solche erkannte Globalisierung führte auf dem Buchmarkt wie in der Wissenschaft zu einer echten Ausdehnung des Diskursraums und, wenn auch nur in Ansätzen, zu einem Aufbrechen der Schranken, die der Postkolonialismus in Gestalt dominanter Sprachen und Verlagszentren von den Kolonialreichen geerbt hatte. Wer aber vor einigen Jahrzehnten das Label ‚Weltliteratur‘ für sich beansprucht hätte, wäre der Hybris geziehen worden. Heute ist das anders, wie man etwa vor zehn Jahren an Sigrid Löfflers Buch Die neue Weltliteratur ablesen konnte, und diese Entwicklung stammt nicht aus Goethes Sprachraum, sondern, wie könnte es anders sein, aus dem Englischen, wo das Pendant „world literature“ inzwischen etwas deutlich anderes meint, nämlich eine der Globalität bewusste, oft von Migrant:innen geschriebene, jedenfalls aber die Kulturen anderer Weltregionen respektierende und oft aktiv aufgreifende Literatur, die sich auch wie von selbst weltweit vermarktet. Dass dies faktisch primär für den angelsächsischen Raum funktioniert und deshalb eine neue Form des euro- oder nun anglozentrischen Blicks sein dürfte, ist spätestens seit Emily Apters Einwand bekannt. Über ein Viertel aller hier gelesenen Bücher ist im Original englisch geschrieben (49 Übersetzungen nennen die Ausgangssprache „Englisch“ und weitere neun „Amerikanisch“); das markiert die schon von Goethe gefürchtete Hegemonie recht deutlich, und es erklärt auch, warum es keine wirkliche Herausforderung ist, 80 Bücher der neuen „world literature“ zu finden. Die alten imperialen Strukturen bilden sich sprachlich ab: 28 Bücher, natürlich viele aus Afrika, sind im Original französisch, 22, vor allem aus Lateinamerika, spanisch, weitere acht portugiesisch, und die zwölf russisch geschriebenen Texte zeugen, meist auch 194 Länder oder Eine-Weltliteratur?

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thematisch, von einer postsowjetischen Kondition; insgesamt stammen sogar 17 aus der früheren Sowjetunion. Immerhin elf Bände stehen aber auch für die wachsende Bedeutung oder zumindest steigende Wahrnehmung der arabisch geschriebenen Literatur. Ein entsprechendes Potential an Übersetzer:innen ist im deutschen Sprachraum zweifelsohne vorhanden, dafür sprechen auch die vielen anderen, oft nur einmal auftretenden Sprachen. Zwölf Texte sind übrigens im Original deutsch. Das zeugt schon davon, dass einige Migrant:innen in unserem Sprachraum integriert sind, wodurch sie Vorteile auf dem heimischen Literaturmarkt genießen, der dadurch Texte, die sich meist mit den jeweiligen Heimatkulturen befassen, bei uns bekannt macht oder sogar erst generiert. Galsan Tschinag, der deutsch schreibt, ist ein Beispiel für die Verschränkung von Sprachen in der heutigen Weltliteratur.

Erwartungen und Gebrauchsanweisung

Natürlich kann niemand die Weltliteratur ernsthaft beherrschen, weder in den Dutzenden aktiven Literatursprachen noch auch nur in Übersetzungen. Trotzdem hat die Idee, aus sämtlichen Ländern ein Buch lesen zu wollen, ihren Reiz und auch ihren Sinn. Sie kann so schlecht auch nicht sein, denn es gibt Konkurrenz. Zumindest Ann Morgan kam mir mit ihrem englischen Buch zuvor, jüngst auch David Damrosch mit 80 Büchern, aber beide haben Werke gelesen, die ins Englische übersetzt sind, und damit automatisch eine andere Auswahl getroffen. Ich stellte fest, dass ich ohnehin Literatur aus den verschiedensten Ländern lese, einerseits in einer Reihe von Sprachen original, in anderen aber, oder wenn es rascher gehen soll, doch auf Deutsch, was angesichts der riesigen Ansprüche des deutschen Übersetzungswesens noch keine so große Einschränkung bedeutet. Fast alles, so hatte ich selbst gelernt und später gelehrt, was im Weltmaßstab von Belang ist, wird nach einiger Zeit ins Deutsche übersetzt, wobei das Englische bekanntlich inzwischen einen deutlichen Vorrang genießt. Ann Morgan hatte ihr Projekt zunächst als Blog geführt; das wurde mir auch vorgeschlagen, aber ich bin nun mal (bisher) kein Blogger. Schaut man sich um, dann stellt man fest, dass Anthologien ab und zu versuchen, im Weltmaßstab zu operieren. Ein Beispiel wäre Alisa Bremers/ Michael Krügers Glückliche Wirkungen, ein Buch, das – bestellte – Texte 16

Vorwort

aus 57 Ländern versammelt. Auf der vermutlich weitestverbreiteten Leser:innenplattform goodreads.com läuft ein Projekt, bei dem im Prinzip, nur ohne die letzte Konsequenz, im Austausch etwas Ähnliches realisiert werden soll wie hier, nämlich nicht 200, aber immerhin, an Jules Verne anklingend, 80 Länder lesend zu bereisen: „around the world in 80 books“. Auf lovelybooks.de finden sich ähnliche internationale Kanonlisten. Indes: Auf Englisch und nur auf Englisch ist das alles kein wirkliches Problem. Schon interessant ist aber die Zahl 80, denn die, so scheint mir im Deutschen, umreißt ungefähr die Zahl der größeren Literaturländer, aus denen neuere Texte in die wesentlichen anderen Zielsprachen übersetzt sind. Meine Frage ist jedoch ganz klar: Geht das Projekt auf Deutsch? Einige Verlage pflegen in ihren Programmen bewusst bestimmte Welt­ regionen oder solche der sogenannten ‚Dritten Welt‘. Da gibt es etwa Lamuv in Köln, jetzt Göttingen, oder Peter Hammer in Wuppertal oder Lenos in Basel, um nur einige zu nennen. Und dann ist da der Zürcher Unionsverlag, der als einziger mir bekannter im deutschen Sprachraum mit der Multinationalität seines Programms wirbt, indem er auf seiner Netzseite die Bücher nach Nationalitäten suchbar macht und sogar die Flaggen verwendet als Zeichen dafür, dass das Kriterium ihm am Herzen liegt. Allerdings: Manche Titel sind nur noch antiquarisch erhältlich. Und viele sind im Original viel älter als ihre deutsche Edition. Ich habe also 200 Texte über 200 Bücher aus 200 Staaten oder Sprachkulturen geschrieben, und zwar in jeweils genau 200 Wörtern. Das zwingt zur Verdichtung, Pointierung, ist aber verständlich und schlüsselt sich am besten auf, wenn man das betreffende Buch selbst liest. Dabei ist dies klarerweise, trotz kondensierter Inhaltsangaben, bei denen Spoiler unvermeidlich sind, Literaturkritik, also radikal subjektiv und letztlich reine Geschmacks- und Anschauungssache. Jurij Brězans Krabat etwa ist zwar ein Klassiker der sorbischen Sprachkultur, aber ganz unabhängig von dieser Bedeutung muss ich zugeben, dass mir das Buch nicht gefällt. Ich bitte hier und in analogen Fällen die jeweiligen Fans um Verständnis für ein aufrichtiges Urteil. Man mag also anderer Meinung sein, aber ich habe die Bücher gründlich gelesen, und mein Urteil ist nicht willkürlich. Die Informationstexte zu den 200 Autor:innen sind hingegen objektiv und daher getrennt abgedruckt; so wird auch deutlich: Ich bewerte die Texte, nicht die Personen dahinter. Dass es primär um die Bücher geht, zeigt sich darin, dass die 200 Cover abgebildet sind; es handelt sich übrigens um meine eigenen Erwartungen und Gebrauchsanweisung

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Exemplare. Das angegebene Datum des Erstdrucks bezieht sich jeweils auf das Original; hinzugefügt ist die Ersterscheinung der deutschen Übersetzung und ggf. der deutschen Taschenbuchausgabe. Dass die Texte nach dem Länderalphabet geordnet sind, also gleichsam wie der Einmarsch der Athle­ t:innen bei den Olympischen Spielen, soll an den sportlich-wettkämpferischen Charakter erinnern, der dem internationalen Kulturbetrieb wirklich eignet, und es soll das Leitprinzip des Buches illustrieren, sich einmal um den Globus zu lesen. Dabei dürfte ebenfalls ersichtlich sein, dass – wie bei den Olympischen Spielen die Teilnehmer:innen – jedes Buch letztlich für sich alleine antritt. Schlüsse auf den ‚Charakter‘ einer Nationalliteratur sind nur möglich, insofern man davon ausgehen muss, das manche Verlage bei ihrer Auswahl eben das ‚Landestypische‘ bevorzugen. Zu meinen Regeln gehörte auch, alle 200 Bücher unbedingt selbst zu erwerben, und zwar als Print-Exemplare, also: keine E-Books, keine Kopien, keine PDFs, keine Scans, keine ausgeliehenen Bücher, erstens, weil ich nur so mit meinem Korpus auch später würde arbeiten können, und, weil die Gleichheit des Materials eine Voraussetzung für die Stichprobe war, genau wie ich keine kleineren Einzeltexte heranziehen würde, die in diversen Anthologien auch fehlende Literaturen repräsentierten (z. B. ein Text von Kunzang Choden aus Bhutan in der Sammlung Himalaya fürs Handgepäck von Alice Grünfelder, 2017), oder Texte, die nur im Internet kursierten. Im September 2021 war ich „fertig“ und machte dann den gutgemeinten Fehler, abzuwarten, ob ich noch einige Lücken, die bei den wichtigeren Staaten der Erde geblieben waren, durch Neuerscheinungen schließen könnte. Beispielsweise bemühte ich mich lange vergeblich, den ins Deutsche übersetzten Lyrikband eines omanischen Autors zu erwerben, und wartete alternativ auf den Roman Celestial Bodies der omanischen Autorin Jokha Al-Harthi, der, obgleich mit dem Man Booker International Prize ausgezeichnet, noch immer nicht ins Deutsche übertragen ist. Auch war ich noch gar nicht entschieden, meine Sondierungen zu publizieren. Indes, das Warten führte zu nichts; erst als ich nach einem Jahr die Drucklegung initiierte, tat sich hier und da etwas, was nun, würde ich noch einmal ansetzen, zum einen oder anderen Austausch führen könnte. Von Niviaq Korneliussen ist ein zweites Buch erschienen, aber ich war mit meiner Wahl des ersten ganz zufrieden, und Abdulrazak Gurnah hat den Nobelpreis erhalten, so dass seine Bücher plötzlich wieder im Handel sind. Manche:r ist kürzlich gestorben. Jedoch gehörte auch dies zu meinen Regeln: dass ich nicht post 18

Vorwort

festum Bücher ersetzen würde, weil dies automatisch zu einer Art immerwährender ‚Optimierung‘ geführt hätte. Ich wollte aber das Zufallsprinzip möglichst weit treiben und schlechte Bücher ebenso wie gute einfangen. Einen einzigen Austausch nahm ich nachträglich vor, da ich den Eindruck hatte, über das betreffende Buch nicht schreiben zu können, und eine ‚Reservenummer‘ ließ ich draußen, nämlich Mister Pip von Lloyd Jones, einen empfehlenswerten Roman, der für die Insel Bougainville gestanden hätte, aber Jones wäre dadurch der einzige Autor geworden, der zweimal angetreten wäre. Einen deutlichen Nachteil für einige Schriftsteller:innen bewirkte die Anfangsregel, nur Bücher ab 2001 aufzunehmen. Z. B. fiel dadurch Giselher Hoffmann heraus, ein namibischer Autor, der zwar erst 2016 starb, dessen verlegte Werke aber vor der Jahrtausendwende entstanden, und Alais Roman Roter Mohn blieb zugunsten seines wesentlich schwächeren Ferne Quellen draußen, genau wie eine Reihe gewichtiger, aber älterer Bücher des großen Tschingis Aitmatow, dessen einziges in Frage kommendes Buch Der Schneeleopard den Fluch vieler Alterswerke trägt. Das ist nicht ganz gerecht, zumal ich später die Erscheinungsjahr- und die Taschenbuchregel nicht durchhalten konnte, aber auch hier gilt: Hätte ich von vorne begonnen, wäre des Austauschens und Abwartens neuer Übersetzungen kein Ende gewesen. Es kann ja jede:r selbst nach eigenem Dafürhalten andere Bücher aus demselben Land lesen. Ein paar notwendige Entscheidungen kommen mir bis jetzt kurios vor: Bangladesh ist ein dichtbevölkertes Land mit intensiver Literaturszene, und auf Englisch lagen Dutzende wichtiger und aktueller Bücher vor. Nicht so auf Deutsch. Ich war gezwungen, Zuflucht zu nehmen zu einem alten Buch, dessen Autor, Buddhaveda Bose, sich selbst noch als Ostpakistani bezeichnet hätte; indes spielte hier meine Sympathie für den Komparatistik-Kollegen eine Rolle. Und Berdy Kerbabajews Kanalbau-Roman ist ein echter Prototyp des sozialistischen Realismus alter Schule. Ich muss also erklären: Sein inzwischen selbständiges Heimatland Turkmenistan schließt sich heute kulturell so ab, dass neuere turkmenische Texte auf Deutsch kaum zu erwarten sind, mit Ausnahme des angeblich in alle möglichen Sprachen übersetzten angeblich vom Staatschef Saparmyrat Nyýazow selbst gedichteten Epos Ruhnama, das ich aber doch nicht finden konnte. Insgesamt sind sechs Bücher meiner Sammlung deutlich älter als der Rest und haben auch stilistisch etwas Patina angesetzt. Die Tabelle am Schluss fasst noch einmal die wesentlichsten Informa­ tionen zusammen: Land, Name und Titel des Buchs, dazu die Sprache des Erwartungen und Gebrauchsanweisung

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Originals, das Geschlecht des Autors oder der Autorin (für eine nicht-binäre Person, die schon alle Auswahlkriterien erfüllte, scheint es noch zu früh; in ein paar Jahren wird das vermutlich schon anders aussehen), das Erscheinungsjahr des Originals und schließlich das Datum, an dem ich meine Lektüre abschloss, sowie meine ganz persönliche Wertung von * bis *****. Weiter begründend verbalisieren möchte ich diese Urteile nicht, aber sie sind nicht so spontan entstanden, wie man glauben könnte, sondern setzen sich, wie das übrigens schon seit drei Jahrhunderten in der Ästhetik üblich ist, aus mindestens impliziten Teilurteilen zusammen, etwa über Ambition, Stil, Originalität usw. Punkte für gute Absicht, schwierige Ausgangslage, einwandfreie Gesinnung vergebe ich eher nicht, dafür bin ich zu eindeutig an Literatur als Lösung ästhetischer Aufgaben interessiert. Man könnte das Formalismus nennen.

Sprachen oder Staaten?

Eine ab und zu ebenfalls notwendige Entscheidung war die Zuordnung von Personen zu einem Land. Nicht nur besitzen bekanntlich viele Menschen mehr als einen Pass; es ist auch nicht immer eindeutig festzulegen, ob jemand für sein Geburtsland, sein gefühltes Heimatland oder sein heutiges oder momentanes Aufenthaltsland ‚antreten‘ soll. In einigen Fällen leben die Autor:innen im Nachbarland, wie etwa Nalini Singh, die von Fidji stammt, aber in Neuseeland arbeitet, oder Mala Nunn (Eswatini/Südafrika). Auch das funktioniert wie im Sport, wo man sich noch vor wenigen Jahrzehnten nicht hätte vorstellen können, dass Fußballspieler für eine von mehreren Nationalmannschaften optieren. All das ist heute normal. Teju Cole z. B. habe ich das Trikot der USA zugeteilt und nicht das nigerianische; im Einzelfall mag man darüber streiten. Was sich aber deutlich zeigt, ist, dass das Prinzip Staatsangehörigkeit ebenso sprechend wie obsolet ist. Eigentlich kann man nicht mehr damit arbeiten, aber man tut es, wiederum wie im Sport, trotzdem, denn natürlich ist man in Tansania stolz auf Gurnahs Nobelpreis, auch wenn der Autor in Großbritannien lebt. Und natürlich gehören Petra Piuk, Lukas Bärfuss, Armin Öhri und Marc Graas zur deutschsprachigen, aber nicht zur deutschen Literatur, und legen Wert darauf. Ob Galsan Tschinags Romane in deutscher Sprache noch mongolische Literatur sind, ist eine weitere offene Frage, denn strenggenommen 20

Vorwort

bleibt, wenn der Ort, die Sprache und möglicherweise auch die Staatsangehörigkeit getauscht sind, nur noch ein ethnisches Argument, und das kann leicht zu einem rassistischen werden. Schließlich kaufte ich noch ein kleines, hier nicht aufgenommenes Bändchen, das mich gleich wieder in definitorische Probleme stürzt: Carlos María Domínguez ist Argentinier aus Buenos Aires, lebt aber mehr als sein halbes Leben in Montevideo. Ich buchte ihn deshalb versuchsweise unter Uruguay, was ja das viel schwerer abzudeckende Literaturland ist. Und prompt stieg das Gefühl des Fußballbildersammelns auf – die „Urus“ mit ihrer brachialen Spielweise und den mittelblauen Trikots. So sehe ich den Autor nun innerlich vor mir (und im Hintergrund alternativ in Hell­blau-­weiß-gestreift). Eines erkenne ich deutlich: Das Prinzip, nach Staaten zu lesen, war vor ein paar Jahrzehnten noch nicht zeitgemäß, weil die großen Sprachkulturen des Westens über den Globus ihre Kolonien gestreut hatten. In der Dewey Decimal Classification, die in zahllosen Bibliotheken der westlichen Welt die Aufstellung regelt, wären fast alle Bücher als amerikanische, englische, französische, spanische, portugiesische oder – die sowjetischen – russische einsortiert worden. Heute aber ist das Prinzip schon wieder überholt, denn mindestens die im Westen verlegten, ins Deutsche übersetzten Autor:innen sind meist solche, die bei uns auch bekannt sind, oft auch leben. Migrationsliteratur ist im Weltliteraturbetrieb schon beinahe der Normalfall. Man kann vermuten, dass unser Markt, unsere Literaturförderung, auch das Bild von Migration im öffentlichen Diskurs Migrant:innen literarisch partiell privilegieren. Denn selbst wenn man annehmen darf, dass Menschen, die ihre Heimat gegen ein anderes Land tauschen (wie z. B. oft ein afrikanisches Land gegen die USA, Großbritannien oder Frankreich, soll heißen: New York, London oder Paris), Dramatischeres zu erzählen haben, wäre es nicht recht wahrscheinlich, dass all jene, die im jeweiligen Land bleiben, nichts schreiben. Migration erzeugt Schreiben und Schreiben – eine Intellektuellenexistenz, die sich ja nicht selten auch mit persönlicher Gefährdung verknüpft – erzeugt Migration, so viel steht fest. Aber doch wohl nicht immer. Die veröffentlichte, übersetzte Literatur erweckt indes inzwischen den Eindruck, Migrant:innenliteratur sei beinahe eine quantitative Norm, womit dann die Frage nach der Staatsangehörigkeit vollends obsolet würde. Der gegenwärtige Buchmarkt, das kann als ein Resultat antizipiert werden, ist bereits stark geprägt von internationalen Existenzen. GlobalisieSprachen oder Staaten?

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rung bedeutet also nicht mehr nur und vielleicht nicht einmal primär den vereinfachten Austausch zwischen den Sprachkulturen in Goethes Sinn, sondern, dass die schreibenden Menschen Migrant:innen sind, einen mehrsprachigen Hintergrund haben, in verschiedenen Ländern leben und meist eben auch, dass sie zwar einen liberianischen oder syrischen oder nicaraguanischen Pass besitzen und vielleicht sogar ihre Eltern im Herkunftsland leben; sie selbst aber haben sich für eine der Weltmetropolen entschieden. Das gilt dann auch für nicht-westliche Autor:innen, für Kasachinnen oder Usbeken, die in Moskau leben. Wonach nun entscheiden? Ich dachte mir schon, dass das Kalkül bei aller Liebe zum spielerischen Zwang nicht völlig aufgehen würde, dass also relevante Bücher von Personen mit monegassischem, liechtensteinischem oder costaricanischem Pass nicht ganz leicht zu finden wären. Die Disproportion zwischen Nationalitäten und großen Sprachkulturen ist ja bewusst in Kauf genommen, wie bei einer Fußballweltmeisterschaft das absehbare Ungleichgewicht zwischen den kleinen Qualifikanten einerseits und Brasilien oder Italien oder früher einmal Deutschland andererseits. Trotzdem würde sich irgendwann die Entscheidung aufdrängen, ob man nach Nationalität verfährt oder nach Wohnsitz. Viele Autor:innen aus emergenten oder kleineren Nationalliteraturen sind relativ früh nach Nordamerika oder Europa ausgewandert, oft dort erst zum Schreiben ermutigt worden. Was man alleine fast immer sicher kennen kann, ist der Geburtsort; und der muss nun wirklich nichts mehr besagen. Damit kommt man auf ein Konzept, das sich inzwischen in vielen Disziplinen zu bewähren oder wenigstens aufzudrängen scheint, nämlich, wenn die Fixierung auf eine Kategorie unmöglich ist, egal, ob in der Gattungstheorie oder wo immer: das von Wittgensteins „Familienähnlichkeiten“. Auf mein Problem bezogen, würde dies heißen, dass man mehrere Kriterien kumuliert, um die Zuweisung einer Person und ihres Werkes zu einem Staat oder einer Nation vorzunehmen: Traditionelle Nationalität (der Familie), Geburtsort, Sozialisationsort, Wohnort, Muttersprache, Schreibsprache, aktuelle Staatsangehörigkeit, Partizipation an einem nationalen literarischen Feld, die aber nicht alle erfüllt sein müssen. Faktisch habe ich mich dann weitgehend an die Staatsangehörigkeit gehalten, soweit diese überhaupt von den Verlagen mitgeteilt wird. Und dann fiel mir natürlich immer mehr auf, was ich schon wusste: Kaum eine:r der afrikanischen Autor:innen ist im Heimatland geblieben. Mehr noch, die allermeisten sind nicht einmal in Afrika aufgewachsen, der 22

Vorwort

Normalklappentext sagt vielmehr so etwas wie: ‚als Kind afrikanischer (hier steht meist das Land) Eltern in den USA aufgewachsen‘ oder so ähnlich. Innerhalb der Literaturwissenschaft dreht sich diese Debatte um den Begriff „afropolitan“ (Taiye Selasi), der namentlich in Afrika einen sehr kritischen Klang hat. Ein schönes Beispiel macht auch mein Dilemma deutlich: Yewande Omotoso. Das klingt eindeutig, und doch verkündet der Verlagstext: „in Barbados geboren, wuchs in Nigeria auf. Anfang der neunziger Jahre zog sie mit ihrer Familie nach Südafrika.“ Die Frage, zu welcher Nation Frau Omotoso nun zu rechnen sei, ist offensichtlich sinnlos. Das ist nicht ihre Schuld und vielleicht ihr Reichtum. Man muss es ernst nehmen und als Zwischenresultat festhalten: Ein wachsender Teil der Weltliteratur stammt von Personen, die man nicht mehr einer Nationalliteratur zurechnen kann. Man könnte beinahe versucht sein, die Hypothese zu überprüfen, dass schon die Mehrzahl der heute Romane publizierenden Menschen in einem anderen Land geboren sind als in dem, in dem sie heute leben und schreiben. Dies von der Schreibsprache entscheiden zu lassen, wie man es im 19. und teilweise noch im 20. Jahrhundert tat, führt ebenso wenig zum Ziel, denn das ist – wie im vorliegenden Beispiel – meist Englisch. Übrigens ist ein Nebeneffekt, dass die meisten Klassifikationssysteme für Bibliotheken hier scheitern, denn während die schon erwähnte Dewey-Dezimalklassifikation, das weltweit immerhin meistverbreitete System zur Ordnung unseres Wissens, sorgsam zwischen amerikanischer (810) und britischer Literatur (820) unterscheidet, müsste man alles andere, was englisch verfasst ist, entweder hier oder dort mitunterbringen; eine erkennbar überholte Sortierung, die, nebenher gesagt, auch in den meisten anderen Systemen nicht besser gelingt. Allenfalls könnte man also heutzutage nur noch nach der Primärsprache der Texte ordnen und alle anderen Faktoren (Pass, Biografie, mögliche Zweitsprachen des Autors/ der Autorin oder sogar innerhalb von Texten) beiseitelassen. Interessant übrigens auch die Perspektivverschiebung der Verlage: „zog mit Familie“ müsste in den meisten Fällen heißen: „die Eltern zogen mit ihr oder ihm“. So auch in dem obigen Beispiel. Die Eltern von Yewande Omotoso gingen nach Nigeria, als sie ein Jahr alt war, und nach Südafrika, als sie zwölf war. Und sie sind selbst keine unbedeutenden Menschen. Trotzdem werden die Biografien meist so modelliert, als stecke eine Teleologie dahinter, als habe in diesem Fall die Autorin ihr Lebensziel in Südafrika gesehen, weil sie ihre bisher zwei Romane dort herausgebracht hat. Sprachen oder Staaten?

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Wie es lief

Natürlich war das Projekt einer „globalen“ Lektüre für mich ein Nebenschauplatz. Mal blieb viel Zeit, mal gar keine, und vor allem gibt es für einen Literaturwissenschaftler täglich viel anderes zu rezipieren, wobei die sogenannte Primärliteratur den geringsten Teil einnimmt. Ebenso oft wie ungern musste ich in den letzten dreißig Jahren Menschen, die gerne lesen, eröffnen, wie gering der Lust-Leseanteil im Pensum eines Literaturwissenschaftlers doch ist. Anders gesagt: Gerne lesen und das noch bezahlt bekommen, das ist eine zu romantische Vorstellung meines Berufs. Ich habe also, wie ich nachher feststellen konnte, für die Nebenher-Lektüre dieser 200 mal dünnen, mal sehr dicken Bücher genau zweieinhalb Jahre gebraucht: vom 17. März 2019 bis zum 17. September 2021. Das war etwas länger, als ich kalkuliert hatte, doch war gegen Schluss der Grund gar nicht fehlende Lesezeit, sondern der wachsende Aufwand, überhaupt noch passende Bücher zu finden. Die 200 Bücher lassen sich grob in vier Viertel einteilen: Die ersten 50 waren relativ leicht „einzusammeln“, nach dem Lust- und Zufallsprinzip, und unter Beachtung meiner sämtlichen Regeln. Die zweiten 50 musste ich schon gezielt suchen und beschaffen. Trotzdem gelang es auch hier, mit einiger Mühe alle Regeln einzuhalten. Über die Hälfte der Bücher sind also wirklich nach 2000 erschienen, enthalten einen belletristischen Text eines Autors/ einer Autorin aus einem souveränen Staat und liegen auf Deutsch als Taschenbuch vor. Bei den dritten 50 aber musste ich recht bald Kompromisse schließen, durch Verzicht auf die broschierte Form oder durch Rückgriff vor die Jahrtausendwende. Und für die letzten 50 musste ich in einigen Fällen, das hatte ich mir rechtzeitig überlegt, anstelle von Ländern – kleinen, bevölkerungsarmen –, aus denen noch nichts bis in unsere Sprache gelangt ist, wichtige Sprachkulturen wählen, denen zwar die Eigenstaatlichkeit fehlt, nicht aber die literarische Produktivität. Es sind also nicht vertreten z. B. die Bahamas, Bahrain oder Laos, und – natürlich, möchte man sagen – eine Reihe von Pazifikstaaten wie die Cook-Inseln, Vanuatu, Tuvalu oder Nauru. Hier ist kein Platz, ausführlich den Kauf aller einzelnen Bücher zu schildern. Ich fasse daher nur kurz zusammen, wie ich vorging. Wer will, kann die Tabelle am Ende umsortieren und wird dann herausfinden, dass ich begann mit Lasha Bugadzes Der Literaturexpress, von dem ich mir mehr versprochen hatte, und Ayelet Gundar-Goshens Lügnerin, das meinen Er24

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wartungen positiv entsprach. Mit Absicht ließ ich mich zunächst spontan inspirieren in den verschiedenen großen und kleinen Buchhandlungen von Wien, Düsseldorf und Berlin. Es folgte bis Ende 2019 ein gezielteres Suchen im stationären Handel und der Kauf über Versender. – Dann kam die Coronakrise. Die Buchhandlungen schlossen. Bücherkauf wurde zur reinen Bestellangelegenheit, was sich bis zum Ende meines Vorhabens auch deshalb nicht änderte, weil beim finalen Auffüllen des Korpus von Zufall oder Auswahl keine Rede mehr sein konnte. Als ich nach meinem erst dritten Buch von 200 stöberte, machte ich in einer Wiener Großbuchhandlung eine Reihe weiterführender Erfahrungen: Zunächst die, dass es schwerer war als vermutet, aus den Hunderten alphabetisch geordneten Taschenbüchern oder den Dutzenden auf Schwerpunkttischen verteilten Titeln einen irgendwie ausländischen zu wählen, der mich wirklich interessierte. Ich musste mir also eine selbstverständliche, bisher unbewusste Regel ins Bewusstsein holen und dort auch festschreiben, dass ich nämlich nicht vorhatte, ein Buch zu kaufen, nur, weil es aus einem Land stammt, das mir noch auf der Liste fehlt – wohl wissend, dass dies am Schluss doch nötig würde – und mehr noch, dass ich eigentlich gar nicht plante, etwas zu lesen, das mich schon beim Anblättern oder beim Lesen des Klappentexts langweilt oder abstößt. Während Letzteres nicht so häufig vorkommen dürfte, ist Ersteres, wie ich wieder einmal feststellte, leider beinahe die Regel. Unter den vielen Neuerscheinungen der letzten Jahre sind eben zahlreiche, die – in meinen Augen – allzu sehr offene Türen einrennen oder ästhetische Rezepte zu Tode reiten. Ich muss keine 500 Seiten eines mühsam in eine Romanhandlung gepressten ökologischen oder politischen oder sexuellen Manifests lesen. Dabei geht es nicht primär um die Argumentation; ich versuche, nicht in einer bubble zu lesen, will aber auch nicht dauernd bubble-Denken anderer lesen, und keine allzu simplen Produkte. Viele Bücher scheiden also aus, weil ich vermute, dass ich sie nicht mögen werde. Das ist mein gutes Recht. Nun wurden mir jedoch weitere Fragen deutlich: Einmal, ob ich nur schöne Literatur im engsten Sinn inkludieren würde, also keine als solche deklarierte Unterhaltungsliteratur, keine Fantasy, keinen Horror, keine Kinder- oder Jugendliteratur, nicht einmal schwerpunkthaft historische Romane? Was bliebe da noch, wenn man Klassiker ausschließt und nur die beiden letzten Jahrzehnte zulässt? Meine Antwort war, dass ich nicht beabsichtigte, hauptsächlich Thriller oder Chicklit oder Erotik oder was weiß ich zu lesen, aber, wenn doch, die Wie es lief

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Bedingung wäre, dass die jeweilige nationale Zugehörigkeit auch erkennbar ist. Ein isländischer Krimi sollte möglichst auch in Reykjavík spielen und nicht in Manhattan, etwa, weil der Verfasser schon vor dreißig Jahren nach New York ausgewandert ist. Und hier zeigte sich nun das andere, wohl größere Problem, das man „name profiling“ nennen könnte: Wenn man nach Autor:innen aus bestimmten Ländern sucht, wird man auf ihre Namen achten. Ich suchte also exemplarisch nach japanischen oder chinesischen, nach afrikanisch oder indisch klingenden Namen, fand auch russische oder iranische. Und was ich anhand der Kurzbiografien auf den Buchkartons feststellen konnte, war, dass deutschsprachige Verlage ganz offensichtlich gerne Bücher von z. B. persischen Autorinnen oder Autoren herausbringen, wenn diese in Berlin wohnen oder deutsche Stipendiat:innen sind. Im Senegal oder in Nigeria oder in Angola geborene Schriftsteller:innen gibt es natürlich auch, aber die ziehen mit großer Wahrscheinlichkeit bald nach Paris oder London oder Lissabon, schreiben dann über ihre dortige Erfahrungswelt und spielen für unsere Verlage erst eine Rolle, wenn sie im Ausland überdurchschnittlich erfolgreich waren. Einmal sehe ich in einer großen Buchhandlung einen schmalen Erzählungsband von Rattawut Lapcharoensap. Den Namen schätze ich richtig ein; er ist thailändisch. Der Klappentext teilt schon einigermaßen ehrlich mit, dass der junge Autor aufgewachsen sei in Bangkok, geboren aber in Chicago. Wie lange er wo war und ist, wird nicht gesagt. Das Titelblatt mit der Angabe „Deutsch von …“ verschweigt aber sorgsam, dass die Übersetzung aus dem amerikanischen Original, nicht etwa aus dem Thai erfolgte. Der Verfasser hat Wurzeln in Thailand, aber die Sprache schreibt er nicht. Das muss man wohl in Kauf nehmen. Immerhin handeln die Erzählungen vom Land seiner Ursprünge. Ich habe ja auch ein Buch eines Ungarn gelesen, das in Japan spielt, und das eines Neuseeländers, das in Deutschland spielt. Ist nicht verboten. Eine Wiener Buchhandlung auf der Wollzeile im Schatten des Stephansdoms ordnete ihre Belletristik-Regale bis vor wenigen Jahren nach einzelnen Ländern; das wäre reizvoll gewesen und hätte zugleich Zeit gespart. Ende März 2019 war ich in Düsseldorf. Dort gibt es die Buchhandlung Müller & Böhm. Selinde Böhm und Rudolf Müller sind im Rheinland eine literarische Institution. Alle wichtigen Gegenwartsautor:innen unseres Sprachraums haben dort schon gelesen, viele oftmals. Und dort sind die Bücher tatsächlich noch nach originalen Sprachgebieten aufgestellt, nur 26

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ist der Platz im Heine-Geburtshaus leider begrenzt. Ich kaufte übrigens die Sammlung dissidenter Erzählungen, die unter dem Pseudonym „Bandi“ aus Nordkorea geschmuggelt wurde und im Deutschen den Titel „Denunziation“ trägt. Nordkorea ist sicher einer der selteneren Vertreter in meiner Sammlung, darum nehme ich auch gleich dreierlei in Kauf: 1. scheint mir noch gar nicht klar gewesen zu sein, ob ich Sammlungen, solange sie von einem Autor stammen, aufnehmen will. Offenbar habe ich nichts Entscheidendes dagegen. 2. wurden die Texte nach den einzelnen Datierungen gegen Ende der 1990er Jahre geschrieben. Dadurch sind sie eigentlich ein paar Jahre zu alt. Andererseits erschien das Buch erstmals in Seoul im Jahr 2014. Und nun 3. Was weiß man überhaupt? Bandi ist bislang nicht identifiziert; das Buch könnte auch eine Projektion dessen sein, was man im Westen aus Nordkorea erwartet. Jedenfalls ist der Verfasser des deutschen Vorworts sehr vorsichtig. Wäre also später ein zweifelsfrei nordkoreanisches Buch von einer zweifelsfrei nordkoreanischen Person und sicher erst aus den letzten 20 Jahren stammend auf den Markt gekommen, so hätte ich getauscht. So ging es weiter, von Autor zu Autorin, von Land zu Land. Albanien etwa ist eines jener Länder, die in der Welt beinahe exklusiv durch einen Schriftsteller repräsentiert werden: Ismail Kadare. Ich musste mir daher nur ein Buch aussuchen, das zu seinem Alterswerk gehört, was bei ihm aber keinen spezifischen Unterschied zu bedeuten scheint. Die Lektüre macht einen durchaus positiven, aber auch gänzlich so erwarteten Eindruck. Keine Überraschung also. Davor lese ich einen Krimi aus Ghana, der bemüht ist, die Großstadthölle Accra einzufangen. Danach muss ich, so darf man es ausdrücken, einen Science-Fiction-Roman lesen, an dem ich nur auskomme, weil der Verfasser aus Grenada in der Karibik ist, ein Alleinstellungsmerkmal, an dem ich nicht vorbeikann. Hoffentlich, so dachte ich, werde ich bald für die Resultate meines Systemzwangs entschädigt; das Ganze ist ja eine Maschine zur Erzeugung von Zufällen, also auch von glückhaften Überraschungen. Einmal führte mich mein Weg aus der Universität zum Bahnhof Wien-­ Mitte, wo sich auf der Landstraßer Hauptstraße eine recht große Filialbuchhandlung befindet. Dort war ich überrascht zu sehen, dass jemand innerhalb der Belletristik eine Rubrik „Literarische Weltkarte“ eingerichtet hatte. Die umfasste zwar nicht viele Bücher, war aber immerhin, in nicht ganz durchsichtiger Reihenfolge, geografisch untergliedert, was mich auf einen neuen Roman aus Sri Lanka brachte. Am folgenden Samstag stöberWie es lief

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ten meine Frau und ich in der Buchhandlung im damaligen Nachbarhaus auf der Lerchenfelder Straße. Dort gibt es eine erstaunliche Auswahl, und ich wurde gleich fündig: die etwas punkige und auch recht schnoddrig übersetzte Story um irgendwie Literatur produzierende Männer mittleren Alters im nach-jugoslawischen Zagreb. Da galt tatsächlich: Schauen wir mal. Auch in Dritte-Welt-Läden kann man gezielt nach heutiger Weltliteratur Ausschau halten. Bücher aus aller Herren Ländern, nein falsch, vor allem aus dekolonisierten Ländern haben sie reichlich. Dort gewann ich einmal einen Krimi aus Haiti. Trotzdem war ich von den bisher gemachten Erfahrungen in Buchhandlungen, von klein bis mega, von literarisch spezialisiert bis Mainstream, aber auch in solchen, die Nischen eröffnen und nationale Vielfalt versprechen wollen, vage enttäuscht. Buchhandlungen und Bibliotheken sind für mich wie Zoos – sie sollen, wenn man sie denn haben will, möglichst viele verschiedene Spezies aus möglichst vielen Weltgegenden zeigen, nicht alle dieselben Big Five. Es kann also sein, dass ich, wenn ich nicht viel Leerlauf oder viel doppeltes und zehnfaches Anblättern riskieren will, klugerweise doch vorher recherchieren muss, nämlich, welche Autor:innen aus welchen Ländern überhaupt in Frage kommen, d. h. jung genug sind, aktiv, ins Deutsche übersetzt und schon im Taschenbuch angelangt. Da hilft tatsächlich ein Blick ins Netz. Erstaunlicherweise hat nämlich irgendjemand einmal begonnen, auf Wikipedia nationale Schriftsteller:innenlisten einzurichten, nicht für jedes Land bisher, aber doch – in deutscher Sprache wenigstens – für Dutzende von Ländern und auch für solche, etwa die größeren afrikanischen, die in Buchhandlungen eher wenig vertreten sind. Damit kann man arbeiten, vorbereitend auswählen, sehen, wer schon übersetzt ist. Die vorsortierende Funktion der Wikipedia-Artikel, also, dass sie die Personen Ländern zuordnen, ist nützlich, aber vorhersagbarerweise nicht unumstrittten; und genauso ungeklärt wie die Frage der Anerkennung des Kosovo oder Taiwans ist damit auch die Frage nach der Distinktheit einer solchen nationalen Dichter:innenliste. Auch die bekannten Internethändler ermöglichen übrigens subhierarchisierende Bestsellerlisten. Man kann also suchen, welches das meistverkaufte oder bestbewertete Buch in der Rubrik „Karibische & Lateinamerikanische Literatur“ ist. Etwas früher, als ich gedacht hatte, begann ich also, systematisch zu werden. Zwar gab es noch eine ganze Reihe von Ländern, für die die Auswahl riesig, groß, oder mindestens ausreichend sein würde, Großbritannien etwa, 28

Vorwort

Brasilien oder Ghana, aber um nicht zu viel Leerlauf zu riskieren, beschloss ich, nicht nur eine Länderliste zur Kontrolle zu führen, die ich abarbeitete – das war ja eine selbstverständliche Kleinigkeit –, sondern tatsächlich nach Autor:innen aus all jenen Ländern regelrecht zu suchen, aus denen mir bisher keine Bücher zufällig begegnet waren. Eigentlich bin ich ein planvoller Mensch und hätte das von Anfang an getan, aber ich war unbewusst optimistisch gewesen, dass dies erst sehr viel später erforderlich sein würde, zu optimistisch. Ich legte mir also eine Datei an für alle verbleibenden Länder, von Afghanistan bis Zypern, und entschied ferner, dass ich mir, je nach Zeit, immer einmal die Literaturen einiger Länder in Literaturgeschichten oder im Netz überblickshaft anschauen würde, um ein paar Namen aufzutreiben. Der komparatistische Profit war enorm, ich lernte viel, doch wurde mir schnell deutlich, dass die gedruckten Literaturgeschichten keinen Nutzen hatten, da ich nur Bücher ab 2001 suchte. Also doch Wikipedia. Im November 2019 war dann die Phase des In-den-Buchhandlungen-Suchens endgültig vorbei. Es begann das Recherchieren im Netz, und das ganz kurz vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie, die ohnehin alles änderte und das Prinzip des arbiträren Fundes in Buchhandlungen außer Kraft setzte. Selbst im Internet kamen die Bücher nicht von selbst zum Vorschein, doch immerhin hatte ich auf Vorrat gekauft und war insgesamt mit fast hundert Titeln ausgestattet.

Anekdoten und Beobachtungen

Spätestens mit dem Roman Norma von Sofi Oksanen trat eine weitere Regel in mein Bewusstsein, allerdings eine, die ich als Literaturwissenschaftler ohnehin mein Leben lang praktiziert habe und die viele Menschen niemals verstehen werden: Wenn ich ein Buch einmal angefangen habe, lese ich es auch zu Ende, selbst wenn es mir nicht gefällt oder es mich ärgert oder ich es für sinnlos halte. Oder wenn ich auch einfach nur die Lust verliere; es muss ja nicht immer Schuld des Buches sein. Gerade in letzterem Fall ist das Durchhalten natürlich doppelt schwer. Das Lesen wird zur Mühe, wie ein sinnloser Vortrag, aus dem man nicht fliehen kann, weil man in der Mitte sitzt und die Versammlung nicht stören will, wie die Fahrt in die falsche Richtung nach einer verpassten Autobahnabfahrt. Es quält, aber offenbar trage ich ein Ethos oder Disziplin-/Pedanterie-Gen in mir. Also Sofi OksaAnekdoten und Beobachtungen

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nens Roman sagte mir auf den ersten hundert Seiten so gar nichts, aber nun steckte ich schon mal drin, las ihn also auch fertig. Selbst nach dem Ende mochte ich ihn noch nicht besonders, musste aber einräumen, dass er auf eine eigentümliche Weise spannend ist und, ganz nebenher, so organisiert, von der Gliederung und der Typografie, dass man ihn rasch liest. Er hat weniger Substanz, als die Seitenzahl vermuten ließe. Gleichwohl: Das Milieu reizt mich nicht, die Figuren lassen mich kalt, und die gerade modische Magie von „peculiar persons“ erschöpft sich schnell. An einem Märztag 2019 marschierte ich wieder in eine Universitätsbuchhandlung. Auf einem Tisch lag eine Handvoll afrikanischer Titel, darunter die noch recht neue Übersetzung eines Romans von Chimamanda Ngozi Adichie, die wohl aus rhythmischen Gründen Blauer Hibiskus heißt, während das englischsprachige, mit vielen Igbo-Vokabeln eingefärbte Original den Titel Purple Hibiscus trägt. Gut möglich, dass „violett“ im Deutschen spezifischer klingt als „purple“ und dadurch zu sachlich oder überpräzise, aber mir scheinen solche Verstöße immer als Übergriff, zumal im Buchtitel. Ich bin gespannt, wie nigerianisch das Buch ist, und auch darauf, ob man merkt, dass es sich um den quasi nachgetragenen Erstling der inzwischen berühmten Autorin handelt, die später mit Americanah so großen Erfolg hatte. Drei Tage später, ich hatte noch keine Zeit, das Buch ganz zu Ende zu lesen, dachte ich an Nachschub und stieg mittags kurz im selben Geschäft ins Obergeschoss. Doch leider – heute hatte mir der intensive Kulturbetrieb einen Strich durch die Rechnung gemacht. Genau an der Regalreihe mit den Romanen und Neuerscheinungen war für eine Veranstaltung bestuhlt, und zwar für den ganzen Rest des Tages. Der Rundfunk hatte eine Lesung quer durch den Garten gefördert; nun standen einige Kulturschaffende und professionelle Literaturmenschen nervös tuschelnd beeinander, zwanzig Minuten vor Beginn voll Angst, dass niemand kommen könnte. Ich hätte sie gerne beruhigt, aber zunächst am liebsten ein Buch gekauft. Genau das war in dieser angespannten Atmosphäre unmöglich, bei der mich alle aus den Augenwinkeln taxierten, ob ich wohl der erste Zuhörer wäre oder wenigstens schnell genug wieder verschwinden würde. Im Hinausgehen überflog ich noch den Büchertisch mit den vorzulesenden Werken, ob dort etwas sich anböte, war aber dann doch schon zu deutlich innerlich abgetrennt von meinem Vorsatz und schüttelte die organisierte Literatur nur noch rasch ab. Es gibt Tage, da will man einfach nur in Ruhe lesen, und die Buchhandlungen lassen einen nicht. 30

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Bücher kaufen ist wie Tagebuch schreiben; mit jedem Exemplar verknüpft sich auf Dauer irgendein Geschehen, und sei es noch so unbedeutend: Nach einigen erfreulichen Lektüren lateinamerikanischer und afrikanischer Bücher freue ich mich auf eine ‚sichere Bank‘, das Böse Mädchen von Mario Vargas Llosa. Sicher mindestens in dem Sinne, dass der erfolgreiche Roman kein schlechtes Buch sein wird, wenn auch vielleicht nicht überraschend durch sein erzählerisches Konzept oder die Story an sich. Egal. Ich beginne und vertiefe mich schnell in die Geschichte der verführerischen Lily, wenn sie denn so heißt, die immer wieder ihre Rolle wechselt. Und da passiert etwas inzwischen völlig Ungewohntes. Dazu muss ich ausholen: Seit ich Bücher kaufe, also seit Mitte der 1970er Jahre, insbesondere aber, seit ich antiquarische Bücher erwerbe, widerfährt mir immer einmal wieder, dass in einem Oktavband eine oder zwei Lagen à 16 Seiten fehlen oder, seltener (aber notwendigerweise im Durchschnitt genauso häufig), ein oder zwei Lagen doppelt eingebunden sind. Solche ‚verbundenen‘ Bücher gab es früher zuhauf. Das passierte wohl letztlich durch menschliches Versagen beim Stapeln der gefalzten Bögen oder durch Fehler beim Bedienen des automatisierten Prozesses. Manch einer wollte mir gar nicht glauben, dass es so etwas gab. Rechtfertigt wurde meine Auskunft dann durch Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht, in dem strenggenommen aber noch etwas anderes, eine dramatischere oder kreativere Variante der Fehlbindung oder -heftung sich alle 16 Seiten wiederholt: das Auftauchen eines gänzlich fremden Texts. Calvino bezieht sich nämlich auf dieses Ärgernis, das jedem Vielleser bekannt ist, das ich aber ein wenig vergessen hatte. Nun lese ich das Das böse Mädchen, lese rasch und rasch weiter. Und pralle auf Seite 192 vor einem Abgrund zurück. Auf der gegenüberliegenden, natürlich einer rechten Seite springt die Pagina auf 257, aber es ist keine riesige Lücke in diesem selben Roman, sondern es lauert eine andere Drucktype, ein engerer Satzspiegel, es geht um andere Dinge, es ist ein komplett anderes Buch. Dass von Dychthonien die Rede ist, verrät rasch: Es handelt sich um Stanisław Lems Sterntagebücher, also nicht, wie bei Calvino, um erfundene (oder innerhalb seiner Fiktion zwar existente, aber dem Leser noch unbekannte) Bücher, sondern einfach nur um den bei Calvino unterstellten Fall, dass mitten in dem einen Text ein anderer beginnt oder eben hier nicht beginnt, sondern gleichsam fortgesetzt wird. Ich muss ein zweites Vargas Llosa-Exemplar beschaffen; bei einem Bestseller ist das wenigstens kein Problem. Anekdoten und Beobachtungen

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Noch eine Beobachtung: Mir wird immer deutlicher, dass ich keine Autofiktion mag, genauer: Ich mag nicht, wenn ein Text voller wichtiger Informationen, die eigentlich in eine Reportage gehört hätten, oder ggf. in eine Autobiografie, als fiktional ausgeflaggt wird, sei es, weil unsere neuere Literaturtheorie dem Vorschub leistet, sei es, um juristischen Problemen auszuweichen, sei es, weil es einfach bequemer ist, von sich zu sprechen, solange man will, und zu fabulieren, wenn es spannender werden muss oder peinliche Details verschwiegen oder umfrisiert werden sollen. Ich bin eher ein Fan ‚richtiger‘ Fiktionalisierung. Natürlich weiß auch ich, dass die wenigsten Menschen in der Lage sind, von etwas zu erzählen, wozu sie keinen oder nur wenig Bezug haben. Ich erwarte aber von einem narrativen Text, dass er gut fiktionalisiert ist, also mit Sorgfalt, ohne dass die Camouflage gleich durchschaubar wäre. Das bloße Umbenennen oder Ändern minimaler Einzelheiten macht für meinen Geschmack die Sache schlimmer. Das Ganze ist klarerweise ein großes, ja eines der größten Probleme des kreativen Schreibens und der poetologischen Forschung gleicherweise. Im April 2019 war ich wieder in Berlin. Von der Staatsbibliothek kommend, ging ich routinemäßig ins größte Buchhaus am Platze. Die Abteilung Moderne Literatur rechts im Erdgeschoss sollte doch genug Ideen bereithalten, dachte ich. Im Prinzip traf das auch zu, aber unter den vielen Hundert Büchern, die dort alphabetisch aufgebaut sind, entstammten doch die allermeisten den großen Nationalliteraturen; die wollte ich mir noch aufsparen. Was kaufte ich? Einen chinesischen Familienroman, der irgendwie authentisch und alltäglich wirkte, in dem die Namen nicht übersetzt waren und schwer verständliche kulturelle Details nicht weggelassen oder ersetzt zu sein schienen, der neu genug war, nicht in Peking oder Shanghai spielte und dankenswerterweise direkt aus dem Chinesischen übersetzt war. Das ließ hoffen. Und einen New-York-Roman, so schien es mir, der beim Anblättern viel versprach und beim Lesen auch einiges hielt: ein offenbar hochgelobtes, dichtes, atmosphärisches Buch, das mich trotzdem in einem Punkt enttäuschte. Bei Großstadtromanen hat eine Migrant:innenexistenz nämlich die Folge, dass entweder jemand über eine Metropole schreibt, die er/sie noch gar nicht so richtig kennt. Das taugt dann hervorragend, soweit es um die subjektive Fremdheitserfahrung geht, sagt aber nicht viel über die Stadt. Oder es geht um eine Stadt der persönlichen Vergangenheit, die man vielleicht als Kind schon verlassen hat. Dann ist es wieder eine wichtige private Erfahrung, aber würde nicht jemand, der geblieben ist und inzwischen seit 50 Jahren in ei32

Vorwort

ner Metropole Afrikas oder Asiens oder Lateinamerikas lebt, anschaulicher, aktueller, vollständiger darüber schreiben? Vielleicht schiebt sich mir das Ideal des Großstadtromans zu sehr in den Vordergrund. Womöglich ist das Feuilleton oder die Werbung schuld, dass ich von dem New-York-Roman Teju Coles, um bei dem Beispiel zu bleiben, mehr Downtown-Manhattan und Harlem und Brooklyn erwartet habe. Das sind nämlich die beiden sekundären Folgen des Faktums, dass jemand von A nach B gewandert ist und nun über B schreibt: Es kommt gar nicht so viel B vor, wie man braucht, dafür mehr A, als man sucht, in diesem Fall auch noch C, jedenfalls aber in der Summe zu wenig New York für einen New-York-Roman. In Berlin recherchiere ich und entdecke einen auf afrikanische Literatur spezialisierten kleinen Laden. Immerhin zwei Bücher finde ich, die ich nicht kannte und die mein Spektrum ergänzen. Allerdings bestätigt sich immer mehr meine Beobachtung, dass fast alle Autor:innen, die „für“ ein bestimmtes afrikanisches Land „stehen“, partiell über dieses Land schreiben oder dort sogar geboren sind, inzwischen und fast ihr ganzes Leben lang woanders wohnen, meist in den USA, in London oder in Paris. Wenn ich aber reale Anschauung präferiere, Literatur, die zwar fiktionalisiert ist, aber auf Erfahrung beruht, nicht auf einer kurzen Reise zu den eigenen Wurzeln oder einer mittelbaren Recherche in einer amerikanischen Universitätsbibliothek, ist das falsch? Steckt dahinter ein böser kolonialistischer Wunsch? Ein echtes Problem, so scheint mir, ist neben der Attraktivität der Hauptstädte, gerade auch unterhalb der Weltmetropolen, die Kulturförderung der westlichen Welt. Wie viele Autor:innen aus sogenannten Entwicklungsländern leben nicht in Berlin, wie viele aus dem ehemaligen Jugoslawien leben nicht in Wien? Wenn sie gefördert werden, dann von einer deutschsprachigen Institution, wenn sie verlegt werden, von einem deutschsprachigen Verlag. Von den Tausenden, die irgendwo aus dem Commonwealth stammen, aber in London leben, oder die aus einer der ehemaligen französischen Kolonien stammen, aber in Paris wohnen, ganz abgesehen. In geringerem Maß gilt dies alles auch für Madrid, Lissabon, Moskau. Und natürlich New York. Die Literaturförderung zerstört also indirekt die „Nationalliteraturen“, das ist wohl so. Und sie erzeugt das, was man „world literature“ nennt, die, was paradox klingen mag, neuerdings auch in der Forschung wiederum in den einzelnen Literaturnationen identifiziert wird. Anekdoten und Beobachtungen

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Ein interessanter Fall ist Papua-Neuguinea, das bis jetzt das Image einer halben Ureinwohnerinsel hat, was nicht völlig falsch ist. Doch natürlich hat sich seit der Unabhängigkeit von australischer Verwaltung auch ein eigenständiges schriftliches Kommunikationssystem etabliert, das allerdings, soweit nicht die zahlreichen indigenen Sprachen angesprochen sind, aufgrund der seinerzeitigen Entscheidung auf Pidjin funktioniert. Das ist als Kompromiss für das Gemeinwesen ein Vorteil, für einen Platz auf dem internationalen Literaturmarkt aber ein Nachteil. Bis jetzt gibt es einen bekannten Roman eines papuanischen Autors auf Englisch, nämlich Maiba von Russell Soaba, das übrigens ins Französische und Italienische übersetzt ist. Auf Deutsch freilich liegt bisher kein fiktionaler Text vor; daher wird hier die Autobiografie von Albert Maori Kiki vorgestellt. Natürlich gibt es einige Lektüren, die mich ärgern, obwohl ich beim Anblättern einigermaßen zuversichtlich war, sogar einzelne Bücher, bei denen es mir halbwegs schwerfällt, 200 Wörter zusammenzukratzen. Nicht wörtlich – 200 Wörter gehen immer, aber die Versuchung ist groß, sie weniger auf eine Skizze des Inhalts und des ästhetischen Konzepts oder der Besonderheit des Buches zu verwenden als auf Worte des Missfallens oder des professionellen Tadels. In einigen Fällen würde ich am liebsten so etwas schreiben wie: ‚Die Verfasserin beabsichtigt ganz offenbar, dies oder jenes zu tun. Ist es ihr gelungen? Na ja, na ja, na ja …‘ Und so weiter, bis die 200 Wörter voll sind. Diesem Impuls habe ich nirgends nachgegeben, aber manchmal war es hart. Einige meiner Kurztexte zeugen von einer gewissen amüsierten Frustration. Eine andere Beobachtung gilt der medialen Gestalt: Es ist eine Tendenz, vermutlich auch eine zunehmende, Bücher aus als exotisch geltenden Literaturen ins Deutsche zu übersetzen und zu verlegen. Freilich existieren sie dadurch noch nicht als Taschenbuch. Hinderlich auf dem Weg zur regulären Paperback-Ausgabe sind heute mehrere Faktoren: 1. Zunächst natürlich mangelnder Erfolg der vorausgehenden Hardcover-Ausgabe. Dem wird nicht selten vorgebeugt durch Taschenbuch-Originaleditionen. Trotzdem – es können viele Jahre vergehen, es kann auch nie geschehen, dass aus einer vorliegenden Hardcover-Ausgabe ein Paperback abgeleitet wird, sei es, weil man im eigenen Verlag die entsprechende Reihe nicht öffnen oder den neuen Schritt an den Markt nicht riskieren will, sei es, weil der Verlag keine Standardverbindung zu einer zugehörigen Taschenbuchvermarktung besitzt. 2. Die wachsende Books-on-demand-Produktion. Hier 34

Vorwort

werden zwar, technisch gesehen, Taschenbücher produziert, aber sowohl das Format als auch die weitere Ausstattung sind für den Kunden, der das Buch online bestellt, eher dem Zufall unterworfen. Es wird extreme Risikovermeidung betrieben. Möglich, dass alles, was als Nischenprodukt am Weltliteraturmarkt gilt, einmal im Print-on-demand-Keller landet. 3. Die E-Book-Option. Mit dem Anbieten von E-Books muss nicht der Verzicht auf eine Print-Ausgabe verknüpft sein, aber es ist doch eine weitere Komponente, die Käufer:innen abziehen und die Herstellung eines Paperbacks unwahrscheinlicher machen kann. Zusammengefasst: Trotz der steigenden globalen Vernetzung ändern sich die Bedingungen für das Erscheinen eines modernen Texts in deutscher Übersetzung als Taschenbuch so, dass – über den Daumen gepeilt – die Quantität der Titel nur ungefähr gleich bleibt.

So etwas wie Ergebnisse

Mein Zufallsprinzip führte dazu, dass ich – namentlich aus kleineren Literaturen – eine Reihe von recht schlichten, nicht immer ganz unpeinlichen Büchern zu lesen bekam, aber auch fünf von Nobelpreisträger:innen, vieles Ambitionierte, manchmal Dutzendware, nicht wenig, das in meinen Augen gescheitert ist, und dann wieder das Großartige, für das man die Literatur liebt. Als ich von Johannes Gelich zu einer Ö 1-Sendung über mein Projekt eingeladen wurde, konnte ich sechs Bücher für eine genauere Vorstellung auswählen, und diese sechs, das war denn doch klar, sollten nicht zufällig die schwächsten sein, sondern Texte, für die auch Zuhörer:innen sich begeistern würden. Ich entschied mich für Anuk Arudpragasam aus Sri Lanka, Junot Díaz aus der Dominikanischen Republik, David Trueba aus Spanien, Fernanda Melchor aus Mexiko, Nadifa Mohamed aus Somalia und Angharad Price aus Wales, eine Geschlechterparität, die sich in der 200er-Probe noch nicht eingestellt hat, wo es nur knapp 60 Frauen waren, und dies, obwohl ich, wenn ich die Wahl hatte, eher zu einer Autorin tendierte, ohne mir indes eine Quote zu verordnen. Ich hätte im Radio aber auch Szczepan Twardoch, Sergio Álvarez, Per Petterson, Ali Zamir oder Jean Rhys und noch eine ganze Reihe anderer mit Überzeugung vorstellen können. Das Korpus nachträglich zu sortieren, ist nicht so schwer. Einige Weltregionen sind besonders stark vertreten, weil sie einerseits neue StaatengeSo etwas wie Ergebnisse

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bilde generiert haben, in denen andererseits doch je ein literarisches Feld funktioniert. So stammen sieben Bücher aus dem ehemaligen Jugoslawien und zwanzig aus dem karibischen Raum, wobei es noch mehr sein könnten, denn nicht alle Inselstaaten haben bereits den Weg zu der immerwährenden Buchmesse unserer novitätenhungrigen Verlagslandschaft gefunden. 15 Bücher stammen aus dem Maghreb oder dem Nahen Osten; auch hier gibt es Länder, deren autochthone Literatur noch auf Deutsch zu entdecken ist. Denn eines ist offensichtlich: Viele Bücher, mindestens zwölf, handeln von politischer Repression, elf von Bürgerkrieg, weitere von einem Krieg zwischen Staaten, in zwölfen ist Postkolonialismus das thematische Zentrum, in 17 Büchern – mindestens, muss man sagen, denn das Thema ist implizit noch viel präsenter – geht es unmittelbar um Migration. Meist hängt das alles zusammen: Wer im Heimatland verfolgt ist, emigriert und wird, falls das Asylland deutschsprachig ist, in unsere Literaturszene integriert. Womit der Blick auf Länder wie Syrien, den Irak, den Iran, Jemen usw. stark eingeschränkt ist auf die genannte Problematik. Ein extrem hoher Teil der gelesenen Bücher ist also genau nicht mono-, sondern interkulturell. Meist sind Exil, Diaspora, Migration ganz konkret dafür verantwortlich. Indes ist das kein neues Phänomen mehr, so dass viele migrierte Autor:innen oder solche einer folgenden Generation, die nunmehr ihre Wurzeln in einem anderen Land oder auf einem anderen Kontinent mit Bedacht aufsuchen müssen, es geradezu als „Last der Repräsentation“ empfinden, wenn sie für das Ursprungsland ihrer Geburt oder ihrer Familie in Anspruch genommen werden. Nicht wenige wollen auch keinen Sonderstatus auf dem Verlagsmarkt und keinen Rabatt bei der Literaturkritik. Wiebke Sievers spricht zurecht von „Postmigration“. 23 der Bücher sind aus Afrika und spielen in Afrika, eine ganze Reihe weiterer aber zeigt Afrikaner:innen in den USA oder in Europa. Wie ist die unmittelbare Gegenwartsliteratur der Welt thematisch und formal aufgestellt? Siebenmal las ich das, was man früher als „Sittenbild“ bezeichnet hätte und was, ethnologisch betrachtet, oft die interessantesten Bücher ergibt. Achtmal waren es historische Narrationen, zwei Romane waren dystopischer Natur, sieben typische Großstadtliteratur, vier Jugendromane, sieben Bücher würde ich als prononciert feministisch einstufen. Einige Titel sind romantisch, nostalgisch, andere aktuell, politisch engagiert, wieder andere märchenhaft, allegorisch, popliterarisch oder esoterisch, aber das sind alles Einzelfälle. Hingegen würde ich nicht weniger 36

Vorwort

als 24 Texte aus ganz verschiedenen Ländern der transnationalen Postmoderne zuschlagen. Immerhin 15 Krimis sind dabei, jedoch nur zwei Novellen, zwei Lyrikbände, zwei Theaterbände und doch wenigstens sechsmal Kurzgeschichten. Anders gesagt: Der Roman ist das absolut dominante Genre der Weltliteratur. Was besonders auffällt, ist etwas anderes: Eigentlich hätte ich meiner Spielregel nach gar keine reinen Autobiografien aufgenommen – nachher waren es vier –, weil diese strenggenommen Sachliteratur sind. Doch nicht weniger als zwölf weitere Bücher bieten die oben schon angesprochene Autofiktion, d. h. sie verfahren inhaltlich ebenfalls autobiografisch, nehmen sich aber die Rechte der Fiktion, wie etwa das Hinzuerfinden oder Weglassen von Details, das Umbenennen der Figuren, sie sind Beinahe-Autobiografien, die offiziell als Romane deklariert werden. Es ist inzwischen auch deutlich, dass ungefähr zwei bis drei Dutzend Nationalliteraturen zu den Big Players der Gegenwart gehören. Da ist es nicht schwer, ein ins Deutsche übersetztes Taschenbuch zu finden – man hat vielmehr die Qual der Wahl. Aber selbst bei diesen gibt es zwei Klassen, nennen wir sie die Premier League und die deutlich weniger kreativen, vielfältigen, fruchtbaren, vorbildhaften, aber immer noch quantitativ stabilen Literaturen darunter. Es steht außer Frage, dass oben die Literaturen der USA und Großbritanniens rangieren, auch die chinesische und die japanische, wohl auch noch oder wieder die französische und spanische (kastilische? katalanische? hispanische?). Italien hat mich hingegen in den beiden letzten Dezennien eher enttäuscht, und auch die deutsche Literatur sehe ich nicht so stark, wogegen ich – ohne Zweckpatriotismus – glaube, dass die österreichische Literatur, zumal, angesichts der nur neun Millionen zählenden Bevölkerung, zu den zehn aktivsten Literaturen der Welt gehört. Oben dabei sind sicher auch Kanada, Australien, Brasilien, Argentinien, Ägypten, Südafrika, Nigeria, Russland, Indien. Ein wenig ist es wie mit der grundsätzlichen Frage nach den größten Volkswirtschaften, den politischen Schwergewichten, den erfolgreichsten Sportnationen. Als Überraschungstopteam sehe ich Kolumbien. Und meine eigenen Texte? Sie sind so abwechslungsreich, wie es mir innerhalb meines Konzepts gelingen wollte, aber ich stelle auch Konstanten fest, die man nicht meiner mangelnden Invention anlasten möge, sondern dem Faktum, dass im deutschsprachigen Raum aus vielen Ländern bevorzugt Bücher publiziert werden, die Migration mit ihren Ursachen und Folgen behandeln. Da viele Texte von Instabilität, Konflikt oder BürSo etwas wie Ergebnisse

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gerkrieg reden, ist es kein Wunder, wenn in meinen genau 40.000 Wörtern z.B. 24mal „korrupt“ o.ä. vorkommt, nicht selten in Kombination mit „Gewalt“. Diese gewisse Monotonie ist Frucht der realen Verhältnisse in der Welt, aber freilich auch der impliziten Normen und Präferenzen unseres literarischen Systems, das den „globalen Süden“ in seinen Texten gerne auch als solchen wiedererkennt. War nun die Idee des Lesens nach Ländern sinnvoll? Soll man sich in soundsoviel Büchern um den Globus lesen? Letzteres unbedingt. Die Weltliteratur ist reich, reicher auch, als die Politik der meisten Verlage und das Angebot an Übersetzungen vermuten lässt. Der erste Schluss wäre allerdings, vieles im fremdsprachlichen Original zu lesen, was wir Komparatist:innen ja zu unseren Vorsätzen zählen. Kann man sagen, dass sich die Literatur des 21. Jahrhunderts schon als distinkte Gegenwartsliteratur auszeichnet? Ja und nein. Das Verwenden eingeübter Muster, auch nicht mehr ganz neuer Techniken oder Ästhetiken, verbreitet sich aus den kulturellen Zentren gemächlich über die Welt, das zeigte sich am postmodernen Beispiel. Die berühmte Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen ist zuweilen ablesbar wie auch eine gewisse Verzögerung bei den Themen. Wir können recht gut vorhersagen, welche topics international in den nächsten zehn Jahren am höchsten gehandelt werden; es sind die jetzt aktuellen, und so liest man kurz nach 2000 nicht selten Diskurse von kurz vor 2000. Schwerpunkte erwiesen sich rasch; sie können als wichtige Probleme auf sich aufmerksam machen oder als Wiederholungen langweilen. Die Gegenwartsweltliteratur hat nun einmal viel von Migration und Ökonomie geredet, und sie wird viel von Gender und Klima reden. Was hat es gebracht, nach den Pässen der Autor:innen zu fragen? Oft genau die Beobachtung der Irrelevanz von Geburtsort und Nationalität, und doch ist, deshalb die rekurrenten Verweise auf die Rituale des internationalen Sports, das welt­ literarische Feld mit seinen Literaturpreisen und seinem Wettbewerbscharakter um die Wahrnehmung von Nationalität herum organisiert. Insofern ist es, wie bei den Olympischen Spielen, jedem und jeder selbst überlassen, die Goldmedaillen den Personen oder den Ländern zuzurechnen. Gesagt wird gemeinhin das eine, getan das andere. Und insofern war dieses private Leseprojekt auch eine praxeologische Selbstbeobachtung, Komparatistik im Privaten.

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Vorwort

200 Bücher in 200 Wörtern

Aborigines Sally Morgan – Wanamurraganya. Die Geschichte des Jack McPhee. Roman. 1989. A. d. Engl. v. Gabriele Yin (dt. EA 1997/ TB 2019).

Wieso Roman? Die mündliche Lebensgeschichte eines Aborigine-Farmarbeiters, der in den 1980er Jahren in hohem Alter einer jüngeren Frau sein Schicksal erzählt. Sehr anschaulich, unprätentiös, gelassen, gewährt Jack – das ist sein angelsächsischer Name, der weder seine Kultur noch seine Verwandtschaftsverhältnisse mitteilt – Einblick in das unterprivilegierte, unterdrückte, oft nahe an Sklaverei grenzende Leben eines männlichen Ureinwohners, der um 1905 im Nordwesten Australiens geboren, früh an harte und frugale Lebensbedingungen gewöhnt wurde und bis in die 1970er Jahre auf Ranches, in Minen, als Erzschürfer, Viehtreiber, Schafscherer, im Straßenbau arbeitete, wo auch immer der Unterhalt verdient werden konnte, ohne dass dabei je mehr heraussprang als eine Anzahlung auf ein nie besessenes Haus oder der Kauf eines gebrauchten Autos. Jack heiratet, wird mehrfacher Vater, kämpft sich durch ein durchschnittlich zufriedenstellendes Leben, durchleidet die für seine Ethnie typischen Erniedrigungen: von weißen Farmern oft um den Lohn betrogen, mit dem allgegenwärtigen Alkoholismus konfrontiert, systematisch diskriminiert, insbesondere, solange sein Kontinent noch zum Empire gehörte, um die Staatsbürgerschaft kämpfend, gedemütigt durch aufgezwungene weiße Normen, des indigenen Namens, der absolvierten Initiation, des Rechts, an einem Korrobori teilzunehmen, beraubt, doch aufgehoben in einem Geflecht wärmender persönlicher Beziehungen, selbstbewusst, nicht verbittert. Gerade, weil Fiktionalisierung offenbar nicht stattfindet, ein lehrreiches und glaubhaftes Buch. 30.9.2020 41

Afghanistan Atiq Rahimi – Stein der Geduld. Roman. 2008. A. d. Frz. v. Lis Künzli. (dt. EA 2009/TB 2011).

Irgendwo in einem Zimmer in Afghanistan pflegt eine Frau ihren Mann, der aufgrund einer Schussverletzung seit drei Wochen im Koma liegt. Sie betet, lässt ihn ihre Stimme hören, und je länger die Situation andauert, desto offener spricht sie vom Unglück ihrer Ehe, davon, drei Jahre auf den ihr fremden Frontkämpfer gewartet zu haben, vom misslingenden Liebesleben, von seiner Rücksichtslosigkeit, von ihren Familien, dem lieblosen Vater und dem Schwiegervater mit seiner warmherzigen Weisheit. Sie gesteht nach und nach kleine Vergehen aus ihrer Kindheit, aber auch, ihn betrogen zu haben, um schwanger zu werden. Währenddessen kämpfen in der Nähe die Bürgerkriegsparteien, Nachbarn werden ermordet, Mudschaheddin stürmen die Wohnung. Die Frau schützt sich, indem sie sich als Prostituierte ausgibt. Als einer der Männer später zurückkommt, schläft sie mit ihm in unmittelbarer Nähe zu ihrem bewusstlosen Mann. So treten ihre sexuellen Bedürfnisse zutage, die sie für eine Zeit nach dessen Aufwachen vorausphantasiert. In mystischer Projektion identifiziert sie den stummen, ins Leere starrenden Zuhörer, ihren Geduldsstein, mit Allah, den sie durch ihre lebendige Gegenwart offenbart. Da greift von hinten der endlich erwachte Mann nach ihr. Durch Trockenheit, Kürze, lakonische Alternativlosigkeit, Retrospektive und Gegenwart bewirkt der starke Text, dass man glaubt, eine Uhr ticken zu hören. 6.12.2019

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Ägypten Ahmed Khaled Towfik – Utopia. Roman aus Ägypten. 2009. A. d. Arab. v. Christine Battermann (dt. EA 2015/TB 2017).

Eine ägyptische Nahzukunfts-Dystopie: Nach dem Zusammenbruch der Sozialsysteme leben die Massen in den Großstädten in Anarchie und Verwahrlosung. Wenige Reiche haben sich in abgeschlossene, von amerikanischen Marines geschützte luxuriöse Wohnbezirke zurückgezogen, wo sie sich in säkularisierter Dekadenz sinnloser Langeweile und der Droge Phlogistin hingeben. Der Protagonist, sechzehnjähriger Sohn des einzigen ägyptischen Pharmafabrikanten, widmet sich, wie seine Altersgenossen, einer Dauerorgie aus Sex und Gewalt. Ein spezieller Nervenkitzel ist es, im unkontrollierten Gebiet der Anderen unerkannt einen Menschen zu entführen, zu jagen, zu töten, seinen Unterarm als Trophäe zu amputieren und sich von einem Helikopter rechtzeitig heimfliegen zu lassen. Dies versucht auch der junge Mann, gemeinsam mit seiner gleichgesinnten Freundin Germinal, fliegt aber auf und würde von den empörten Massen gelyncht, wenn nicht Gâbir, einer der Armen mit humanem Restinstinkt, die beiden versteckte und, als er selbst in Verdacht gerät, durch einen Geheimgang in die Siedlung Utopia zurückbrächte. Doch nachdem er schon Gâbirs Schwester vergewaltigt hat, tötet der zynische Jäger ihn hinterrücks, trennt ihm den Arm ab und bringt sich und seine Begleiterin in Sicherheit. Dieser beispiellose Frevel veranlasst die elenden Massen, die Energieversorgung Utopias zu sabotieren und auf die möglicherweise nicht mehr haltbare Siedlung vorzurücken. Der junge Mann eröffnet das Feuer. 30.6.2019

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Albanien Ismail Kadare – Ein folgenschwerer Abend. Roman. 2009. A. d. Alban. v. Joachim Röhm (dt. EA 2010/TB 2018).

Gjirokastra, Heimatstadt des Autors, wird 1943, nach der Kapitulation des bisherigen Besatzers Italien, von einem deutschen Regiment übernommen. Der Chirurg Gurameto, der in Deutschland studiert hat, scheint im Kommandeur einen früheren Kommilitonen zu erkennen und gibt für diesen ein abendliches Festmahl nach albanischem Gastrecht. Die Geiseln, die als Sühne für den Beschuss des anrückenden Militärs durch Partisanen erschossen werden sollten, kommen frei. Nach dem Abzug der Deutschen, nach dem Krieg, nach der Etablierung des Eisernen Vorhangs, genauer: während 1953 Stalin stirbt, verhaften Geheimdienstmänner den Arzt, den sie der Teilhabe an einer diffusen internationalen jüdischen Ärzteverschwörung verdächtigen, die es auf das Leben kommunistischer Führer abgesehen habe, zusammen mit einem ebenfalls als Mediziner wirkenden Namensvetter, der stets nur als Nebenfigur auftritt und mitleidet, und befragen ihn über die mysteriösen Hintergründe jenes zehn Jahre zurückliegenden Abendessens, allein, dann unter Mitwirkung eines sowjetischen Agenten, dann unter Anwendung schwerer Folter, bis sie das Opfer aus der Stadt bringen und beim Friedhof ermorden. Mythisch bleibt die Geschichte, weil der deutsche Offizier vielleicht ein Hochstapler war, vielleicht sogar ein Toter, wie er im albanischen Volkslied aus dem Grab zu Gast kommt. Die Aufarbeitung ethnischer, nationaler und lokaler Geschichte aus der Logik von Hörensagen, Aberglaube und poetischer Überlieferung. 20.10.2019

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Algerien Yasmina Khadra – Die Schuld des Tages an die Nacht. Roman. 2008. A. d. Frz. v. Regina Keil-Sagawe (dt. EA 2010/TB 2011).

Warum moderne arabische Prosa wohl ironiefrei sein muss? Auch dieser Roman ist übervoll mit bildlicher Rede, Metaphern für Stadt, Landschaft, Gefühle, was ein europäisches Publikum meist automatisch als Einladung zu einverständigem Schmunzeln liest. Ist aber wohl nicht so gemeint. Der alte Younes Mahieddine reist 2008 nach Südfrankreich, um viele Altersgenossen, algerische Emigranten der diversen politischen Lager, und das Grab einer Frau zu besuchen. Als Kind bettelarmer Eltern war er in Oran aufgewachsen, dann von seinem gutsituierten Onkel adoptiert worden und hatte dessen Apotheke in der Stadt Rio Salado übernommen. Sein Versuch, sich im Unabhängigkeitskrieg neutral zu verhalten, gelang nur teilweise. Mit seinen Kameraden, teils französisch-, teils arabischstämmig, überwarf er sich auch aufgrund eines fast alle involvierenden Beziehungskonflikts: Younes war das wahre Liebesobjekt der wunderschönen Emilie, doch weil deren Mutter ihn als Heranwachsenden verführt hatte, verweigerte er sich Emilies Zuneigung, was sein und ihr Leben zerstörte. Das Buch ist am stärksten, wo es die Widersprüche des spätkolonialen Algerien vor 1962 schildert, die Heimatliebe der unpolitischen Einwohner verständlich zu machen versucht, und in den sozialrealistischen Details. Es ist am schwächsten überall dort, wo es zu viel redet, in geläufigen Romanstil verfällt und zu sehr die Pose eines sentimentalen, resignierten alten Mannes antizipiert. 3.11.2019

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Andorra Ramón Villeró – Das Lächeln der Erde. Roman. 2005. Dt. v. ­Hanna Grzimek (dt. EA TB 2007).

Ein extrem schlichter, kleiner Roman, der sich die Perspektive eines malischen Emigranten so zu eigen macht, dass man die andorranische Provenienz des Texts völlig vergisst. Es erzählt Abdel Mansur, der von seinen sensiblen Eltern Jusuf und Soraya positiv und human erzogen wurde, der die Wüste kennt und als Fremdenführer die Oasenstadt Timbuktu lieben lernt, nach Frankreich auswandert, in Marseille als Koch lebt, heiratet, gelegentlich nach Afrika zurückkehrt und in Katalonien einen Freund gewinnt, bei dem er als Erntehelfer naturverbunden arbeiten kann. Der Sprecher ist ein toleranter Humanist, der die Natur und die Menschen verehrt und seinen Text, welcher mit einer Klage über den durch 9/11 gesäten Hass zwischen den Völkern endet, mit lauteren Lebensregeln durchwirkt, denen man schwerlich widersprechen mag. Die aber auch jenseits des Kontemplativen und Erbaulichen keinen Raum lassen für eine weitere Auseinandersetzung mit dem Büchlein. Wer das tun wollte, hätte leichter mit Bob Ross über Tannenwaldbergseen in der Malerei gestritten. Eine Welt mit lauter Personen wie der Hauptfigur und vermutlich auch dem Autor wäre sicher eine bessere Welt. So dient die lächelnde Erde als Symbol für eine brevierhafte Lektüre, nach der man sich inwendig ganz geläutert fühlen kann. Wenn man in sich hineinhorcht: Es fängt schon an. 22.4.2021

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Angola José Eduardo Agualusa – Das Lachen des Geckos. Roman. 2004. A. d. Portugies. v. Michael Kegler (dt. EA 2008/TB 2018).

Eigentlich eine simple Story, Aufarbeitung neuerer angolanischer Geschichte, der Unterdrückungsphase vor der Unabhängigkeit, mit Ausläufern nach Portugal und Brasilien. Der Klartext: José Buchmann, diesen Namen lässt er sich zuschreiben, kehrt eines Tages nach Luanda zurück, findet den ehemaligen Geheimdienstmann Edmundo Barata dos Reis, mittlerweile schwachsinnig und verkommen, der einst seine Frau umgebracht und die neugeborene Tochter gefoltert hatte, und tötet ihn im Haus von Félix Ventura, einem Antiquar, bei dem er sich eine komplette Personenlegende samt Vorfahren, fiktivem Geburtsort und eben erfundenem Namen bestellt hat. Die inzwischen erwachsene Tochter Ângela trifft er als Geliebte dieses älteren Mannes. Der Zusammenhang ist kein Zufall. Erzählt wird meist aus der Sicht des von Wänden und Decken beobachtenden, ein lachähnliches Geräusch produzierenden Geckos Eulálio, der früher Mensch war und am Ende stirbt, so dass der zurückbleibende Buchhändler, ein Albino und daher Außenseiter in der angolanischen Gesellschaft, ein resümierendes Diarium beginnen muss, um den Rest aufzuklären. Weitere Informationen und Aufschlüsse liefern diverse Träume. Kurz: Ein atmosphärisches, lakonisches, eindrückliches Buch, bei dem man jedoch die Frage nicht loswird, ob es nur auf die beschriebene Weise gleichsam hintenherum konstruiert funktionieren konnte. Man möchte den Autor weniger für sein Konstruiergeschick beglückwünschen als für seinen Mangel an Mut bedauern. 4.9.2019

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Antarktis Elizabeth Arthur – Eislandfahrt. Roman. 1994. A. d. Amerikan. v. Hans u. Michaela Link (dt. EA 1996/TB 1997).

Ein schon aufgrund seiner Länge beeindruckendes, zugleich rätselhaftes Buch. Die dreißigjährige Amerikanerin Morgan Lamont berichtet, wie sie seit ihrer Geburt magnetisch darauf polarisiert war, Robert Scotts tödliche Schlittenfahrt unter ähnlichen Bedingungen zu wiederholen, was in Begleitung tatkräftiger, exzentrischer Freunde gelingt. Dank der anschaulichen Schilderungen von Sturm, Kälte, Grenz­ erfahrungen imposant, außerdem ein Beispiel ökologisch-aktivistischer, zudem leicht esoterisch-feministischer Literatur, aber auch mysteriös, denn: Die komplexe, stellenweise naturwissenschaftlich ausufernde Erzählung scheint wirklich fiktiv und nicht die Reiseerfahrung einer gegebenenfalls umbenannten Autorin, obgleich Quellen für Sachinformationen und Seitenstories erkennbar fremder Herkunft offengelegt werden. Weder die aus Colorado stammende Morgan noch ihre Familie, Liebhaber, Freunde oder Begleiterinnen scheinen bei genauerer Recherche authentisch, und doch klingt jeder Satz wie ein realer Reisebericht und auf fast tausend Seiten, denn über eine Südpolexpedition kann man nicht kurz schreiben, nichts fiktionalisiert. Entweder ist das Buch die Autobiografie einer Unbekannten, von der Verfasserin zu Papier gebracht, oder es ist ein so unkünstlerischer Roman, dass damit in der Herstellung von Fiktion eine quantitativ ganz neue Stufe des ‚effet de réel‘ erreicht wurde. Das ist angesichts des Erzählsogs und des vielfach überwältigenden, auch spannenden Inhalts keinesfalls ironisch, sondern eine ernsthafte, trotz öffentlicher Präsenz der Autorin, die bekanntlich ein Antarktisstipendium wahrnahm, unbeantwortete Frage. 21.3.2021

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Antigua und Barbuda Jamaica Kincaid – Nur eine kleine Insel. 1988. A. d. Engl. v. Ilona Lauscher (dt. EA 1990/TB 2001).

Nur eine kleine Hasspredigt. Antigua, Minimalinsel ohne Feinde, aber auch ohne tiefere Überzeugung von der eigenen Existenz. Die Verfasserin hasst die Vergangenheit ihrer Heimat, Sklavenhandel, britisches Empire, Rassismus, alles nachvollziehbar, und sie hasst die Gegenwart der späten 1980er Jahre, unreife Demokratie, Vetternwirtschaft, fortbestehende rassistische Gewohnheiten, vor allem aber Drogen-, Auto- und Immobilienhändler syrischen und libanesischen Ursprungs, die sie nicht beim Namen nennt. Sie verabscheut alles Englische und deshalb auch ihre Literatursprache, attackiert britische, amerikanische und europäische Touristen. Sie weiß um ihre Ungerechtigkeit, ihre schwarz-weiße Täter-Opfer-Logik, will es aber nicht anders haben. Offensichtlich muss sie Emotionen loswerden, die sie als Erbe ihrer Mutter erkennt. Da bleiben von über siebzig Seiten nur drei, fast am Schluss, für eine Liebeserklärung an die Schönheit ihrer Insel. Nein, es ist nicht wenigstens gut geschrieben, und die postkolonialen Reflexe alleine rechtfertigen diese Banalisierung nicht. Die Frustration ist nachvollziehbar, aber der Minderwertigkeitskomplex auch mit Händen zu greifen. Würde er wenigstens irgendwie verarbeitet, aber nein: Sollte der Text Spuren von Selbstironie enthalten, sie würden unter der karibischen Unmutssonne verdunsten. Das individuelle Problem, aus einem Winzstaat zu kommen, verschiebt die Autorin zu einfach auf ein grundsätzlich plausibles koloniales Deutungsmuster. Leider nur ein irgendwie pubertärer, missgelaunter, rat- und perspektivloser Rundumschlag. 16.4.2020

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Äquatorialguinea Joaquín Mbomío Bacheng – Ein guter Fang. Die Geschichte des Padre Gabriel aus Niefang. Ein Roman aus Äquatorialguinea. 1996. A. d. Span. übertr. v. Susanne Doppelbauer (dt. EA TB 2017).

Eigentümliches Buch: Nach dem Ende der Gewaltherrschaft des Diktators Macías wird der inhaftierte junge Priester Gabriel freigelassen und kehrt triumphal in seine Heimatpfarre Niefang zurück. Das ist es eigentlich. Padre Gabriel − der Buchtitel spielt mit seiner Zugehörigkeit zum Stamm der Fang −, charismatischer Redner, aber von schwacher Gesundheit, steht nicht gerne im Mittelpunkt und legt auch keinen Wert darauf, Bischof von Bata zu werden. Außerdem liebt er eine junge Witwe, taugt also nicht einmal zum Zölibat. Trotzdem setzt der vatikanische Nuntius darauf, dass dieser einheimische Geistliche das katholische Christentum im Land stärken und die stets neu hervortretende Neigung zur Naturreligion zurückdrängen wird. Diese scheint indes auch zu funktionieren, denn ein Epileptiker kann als Medium wirklich Tote verkörpern, mit deren Stimme reden, ihr Wissen kommunizieren. Eine erfundene Romanhandlung ist die recht schlicht geschriebene Story wohl kaum. Stationen der Heimreise bieten Anlass zu diversen Rückblenden und eingebetteten Anekdoten um verschiedene Personen, die Gabriel kennenlernt oder wiedertrifft, um traurige Männer- und Frauenschicksale unter der Juntaregierung. Passagenweise einfach Kurzreferate der leidvollen Landesgeschichte nach der spanischen Kolonialherrschaft. Informativ, patriotisch, laienhaft-begeistert und dadurch anrührend. Kaum große Literatur, aber man spürt, wie es sein muss, befreit durch den frischen sonnigen Morgen eines jungen Waldes zu fahren. 10.4.2020

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Argentinien Federico Jeanmaire – Richtig hohe Absätze. Roman. 2016. A. d. Span. v. Peter Kultzen (dt. EA TB 2019).

Ein bitterböser Kurzroman zwischen China und Argentinien: Su Nuam ist als Tochter eines chinesischen Lebensmittelhändlers in der trostlosen Stadt Glew nahe Buenos Aires aufgewachsen. Sie beherrscht das Spanische fließend, aber im Denken der chinesischen Grammatik. So schreibt sie auch: in immerwährendem Präsens, nur durch Zeitangaben präzisiert. Inzwischen lebt sie, fünfzehnjährig, bei Mutter und Großeltern in Suzhou, denn ihr Vater ist bei dem Versuch, seinen Supermarkt mit der Waffe gegen Plünderer zu verteidigen, in den Flammen des von den Angreifern angezündeten Gebäudes umgekommen. Monate später kehrt das traumatisierte Mädchen als Dolmetscherin mit einer Handelsdelegation nach Südamerika zurück, begleitet vom Großvater, der das Grab des Sohnes sehen will und zugleich das Handeln seiner Enkelin schweigend lenkt. Dank Schminke, Kleidung und hoher Absätze, die ihre Chefs als Waffen vorschreiben, wandelt sie sich zur selbstbewussten, listigen Chinesin. Während die Asiaten dank ihrer Mithilfe die westlichen Handelspartner übervorteilen, heuert sie für einen niedrigen Dollarbetrag – zu ihrem Preis – einen Auftragskiller, der kurz vor ihrem Abflug die beiden jugendlichen Haupttäter verbrennt. Die raffinierte Story macht durch den schlichten Stil der Ich-Erzählerin deren scheinbare Hilflosigkeit als unerwachsene Fremde glaubhaft und veranschaulicht allegorisch eine klandestine taktische Überlegenheit, die beinahe geeignet ist, als Ost-West-Parabel das im Text unmögliche Futur vorauszusagen. 19.9.2019

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Armenien Norajr Adaljan – Schuld und Liebe. Eine Novelle. 2004. A. d. ­Armen. v. Levon Sarkisjan (dt. EA TB 2008).

Eine klassische Novelle, deren Dialogen und Motiven man die Schulung am russischen Kanon ablauscht. Abstrakt, nicht in allen Zügen realistisch, aus westlicher Sicht auch poetologisch, thematisch und symbolisch traditionell, aber konzentriert, eindrücklich, traurig. Maneh Davtjan, junge, hübsche, allseits begehrte Richterin, muss das Urteil über einen einfachen Mann sprechen, der des Mordes am Liebhaber seiner attraktiven Frau beschuldigt wird. Die Beweislage ist uneindeutig. Die glücklich mit einem Physiker verheiratete Juristin verliebt sich in die Christus-Ähnlichkeit des Angeklagten, stellt durch unorthodoxe Prozessführung ihre Gefühle bloß und bemüht sich mit allen Mitteln, den Sohn eines Schneiders, der seiner untreuen Frau die Treue hält und sich vorbehaltlos als Mörder bekennt, zu entlasten oder zum Abstreiten der Tat zu bewegen. Natürlich leidet schließlich Manehs Ehe mit Ben unter ihrer fixen Idee, die auch nicht weicht, als die junge Frau, die normalerweise ihr extremes Gerechtigkeitsempfinden keiner Hierarchie, keinen Beziehungen, keinen privaten Beweggründen opfert, nach einem heimlichen Besuch im Untersuchungsgefängnis das Urteil schriftlich ausfertigt, das nach armenischem Recht bei erwiesener Schuld nur in der Todesstrafe bestehen kann, gegen die aber ein sechsmonatiges Berufungsrecht besteht. Eine metaphysische Erzählung mit tragischer Pointe, die ihre evidente Symbolik in einer Szene, in der die Richterin im Dienstzimmer Dreiecke zeichnet, bewusst ausstellt. 8.6.2020

52

Aserbaidschan Akram Aylisli – Steinträume. Ein Requiem. Roman. 2012. A. d. Russ. v. Annelore Nitschke (dt. EA 2015).

Menschlich-politisch offensichtlich ein verdienstvoller Text, vom Verfasser, der durch die Publikation zum Ziel massiver Anfeindungen und Bedrohungen wurde, weder als Roman noch als Novelle eingestuft. Er protestiert gegen den postsowjetischen Nationalismus Aserbaidschans, gegen muslimischen Fanatismus, namentlich gegen die physische und memoriale Auslöschung der christlichen armenischen Nachbarn in Massakern 1919 und pogromartigen Ausschreitungen nach der Unabhängigkeit und dem Ausbruch des Karabach-Konflikts. Leider holzschnitt­ artig konstruiert, zentriert um den aus der alten armenischen Stadt Aylis stammenden, allgemein anerkannten fiktiven Schauspieler Sadai Sadygly in der Haupstadt Baku, der 1989 wegen einer humanen Intervention schwer verprügelt wird und im Spital nach Träumen, Halluzinationen und Visionen von seiner Heimat einem Schlaganfall erliegt. Sein Schwiegervater, pensionierter Professor, sein Arzt, aufgeklärter Muslim, und sein Kollege, Bühnenkomiker, der schließlich Selbstmord begeht, sowie als Gegenposition der opportunistische Theaterintendant verkörpern andere Stimmen dieses Dialogs, der eigentlich im Kopfinnern des Autors stattfindet und verbleibt. Plot, Informationen und Reflexionen fallen eher auseinander. Einige Textpartien sind regelrechte Fremdkörper: Monologe des seine Toleranz undiplomatisch kommunizierenden Helden, historische Dokumente, Verweise auf politische Aktualitäten. Am gelungensten die lyrischen Stellen, in denen mit immergleichen Worten die Ruinen der zwölf inzwischen völlig vernichteten Kirchen von Aylis in ihrem eigentümlichen rosig-gelblichen Licht als steinerne Verweise auf die Transzendenz geschildert werden. 26.4.2020 53

Äthiopien Dinaw Mengestu – Zum Wiedersehen der Sterne. Roman. 2007. A. d. Amerikan. v. Volker Oldenburg (dt. EA 2009/TB 2010).

Am heruntergekommenen Logan Circle der amerikanischen Hauptstadt betreibt Ende der 1990er der ostafrikanische Emigrant, Ex-Student und Einzelgänger Sepha unmotiviert und erfolglos einen Gemischtwarenladen. Seine äthiopische Community meidet er, zurückkehren in das Land, wo 1977 nach dem Umsturz sein Vater ermordet wurde und seine Familie lebt, wird er nicht. Befreundet ist er allenfalls mit einem kenianischen Ingenieur, der das amerikanische Erfolgsmodell besser verinnerlicht hat, und einem kongolesischen Kellner, der noch ein poetisch-revolutionäres Afrikabild verwaltet. Als eine weiße Akademikerin ein verfallenes Haus luxusrenoviert und mit ihrer kleinen Tochter bezieht, entwickelt sich eine schüchterne Beziehung, die keine Chance hat und sich rasch wieder in nichts auflöst, als jemand aus Protest gegen die Gentrifizierung das Haus anzündet. Wenig später verlässt Sepha sein offenstehendes Ladenlokal, sucht vergeblich einige Kontakte in der Stadt auf und scheint schließlich zu seinem einzigen Bezugsort zurückzukehren. Abwechselnd in zwei Strängen erzählt, der illusionslosen Gegenwart und der bitteren Judith-und-Naomi-Geschichte, in einem weitgehend winterlichen Washington. Die Einsamkeit des Immigranten, aber auch das eigentümlich-kalte Gefühl der Stadtgeometrie teilen sich unprätentiös mit. Und dass es für den Erzähler keinen guten Ratschlag und keine bessere Option gibt, als die leere Zeit neben der Kasse mit Lesen und vielleicht mit dem Aufschreiben seiner Existenz zu füllen. 6.2.2020

54

Australien Peter Carey – Mein Leben als Fälschung. Roman. 2003. A. d. Engl. v. Regina Rawlinson (dt. EA 2004/TB 2006).

Eine leicht verspätete postmoderne Fälschergeschichte, basierend auf dem authentischen Literaturhoax um den vorgeblichen australischen Lyriker Ern Malley. Der Verfasser hat daraus eine verschachtelte, aus dem Jahr 1985 erzählte, gänzlich erfundene Story gemacht, die von Sarah Wode-Douglass, Herausgeberin einer britischen Poesiezeitschrift, berichtet wird und mehrere Ebenen entfaltet, die zwischen Australien, Großbritannien und Malaysia angesiedelt sind. Sarah begleitet 1972 den englischen Schriftsteller John Slater nach Kuala Lumpur, wo man auf Slaters alten Bekannten, den in Armut lebenden Australier Christopher Chubb stößt, der wiederum vor vielen Jahren den Editor eines Literaturmagazins durch Unterschieben von Texten des samt Biografie erfundenen Lyrikers Bob McCorkle in den Selbstmord getrieben haben soll. Chubb will später von einem Mann bedroht worden sein, der als der inkarnierte McCorkle ein großartiges reales Werk geschaffen und außerdem Chubbs Tochter entführt habe. Das Ganze kulminiert in der Auseinandersetzung mit dieser jungen Frau und einer aggressiven Chinesin um den scheiternden Verkauf des extrem hoch geschätzten dichterischen Nachlasses. Eine Meta-Metakreation mit ziemlich vielen nicht weiterentwickelten Seitensträngen, einem letztendlich doch im Sande verlaufenden Hauptplot, wie ein tropischer Henry James, aber, inklusive der Frankenstein-Idee des sich gegen seinen Schöpfer auflehnenden fiktiven Geschöpfes, zu seiner Zeit nicht mehr originell und hauptsächlich interessant durch sein farbiges malaiisches Kolorit. 19.1.2020

55

Bangladesh Buddhadeva Bose – Das Mädchen meines Herzens. Roman. 1951. A. d. Bengal. v. Hanne-Ruth Thompson (dt. EA 2010/TB 2012).

Der kurze Roman besteht aus einem Rahmen und vier Erzählungen, die einem Bauunternehmer, einem Beamten, einem Arzt und einem Schriftsteller zugeschrieben werden, welche um 1950 aufgrund einer Streckensperrung ungeplant zusammen eine Nacht im Warteraum eines bengalischen Bahnhofs zubringen müssen. Die Beobachtung eines frisch verheirateten Paares motiviert das Thema – jeder berichtet über eine Liebe aus der Jugendzeit, der Erste, ungeschlacht, versteckt hinter der Maske eines Freundes, erinnert sich an seine Verliebtheit in ein Nachbarmädchen, die zu nichts führt, weil sie zu stolz und er zu unbeholfen ist, beim Vierten teilen sich drei unerfahrene junge Männer die Liebe zur Nachbarin, die aber heiratet und im Kindbett stirbt, während der Dritte die Frau geheiratet hat, die eigentlich kapriziös in einen Freund verliebt war und der Zweite das Mädchen, das eigentlich ihm zugetan war, bei ihrer Hochzeit und dann immer wieder einmal im Leben trifft, bis beide allmählich altern. Das alles ist hauptsächlich denkbar in einer Kultur, die Frauen zwingt, jung zu heiraten und offenen Austausch der Gefühle strikt unterbindet. So entstehen pragmatische, sogar funktionierende Ehen, aber immer wieder auch Eifersuchtskonstellationen, die, wie es scheint, kaum je ausgelebt werden. Das Buch könnte auch heißen: Die Melancholie der schüchternen Männer, nachdem schon alles egal ist. 8.8.2020

56

Barbados George Lamming – Zeit der Abenteuer. Roman. 1962. A. d. Engl. v. Waltraud Neuhäuser (dt. EA 1962).

Der fiktive karibische Inselstaat San Cristóbal ist gerade unabhängig. Die Bevölkerung differenziert sich in von außen schwer durchschaubare Abstufungen gemischter Herkunft. Die junge Fola sucht ihren leiblichen Vater, jemand anderen als Polizeichef Piggott, den Mann ihrer Mutter Agnes. Sie gibt sich in Gegenwart ihres europäischen Schullehrers einem indigenen Tanzritual mit Totenbefragung hin, sagt sich später von ihren Eltern los und sucht Kontakt zu den unterprivilegierten „Eingeborenen“ im Matrosenlokal „Glühmond“, darunter dem jungen Maler Chiki, der ein Bild ihres Vaters rekonstruiert. Eine Gegengewalt zur Funktionärsoberklasse sind die im Waldreservat verankerten Steeldrum-Bands. Als der Vizepräsident Raymond, Vater einer Freundin Folas, von Powell, einem der Trommelboys, ermordet und im Zuge der Ermittlungen das Trommeln auf der ganzen Insel verboten wird, bricht sich das revolutionäre musikalische Potential Bahn und bewirkt kurz nach dem Abzug der Kolonialmacht einen Umsturz. Erzählt wird also, oftmals retro­ spektiv und andeutungsweise, die Gerinnungsphase einer postkolonialen Staatwerdung, allerdings breit als symbolische Psycho-Mytho-Handlung mit hohem Abstraktionsgrad und zugleich expressivem Vokabular. Dies erzeugt einen anti-realistischen Effekt, wie er merkwürdigerweise zur selben Zeit auch für die europäische Auseinandersetzung mit jüngerer Vergangenheit, Totalitarismus, Krieg und Okkupation typisch war. Dadurch wird ein kollektiver Prozess in den wenig erklärungsmächtigen Horizont individuellen und vor allem subjektiven Erlebens gerückt. 9.4.2021

57

Baskenland Fernando Aramburu – Patría. Roman. 2016. A. d. Span. v. Willi Zurbrüggen (dt. EA TB 2018).

Zwei befreundete/verfeindete (typisches Stilmittel) Familien in einem Baskendorf bei San Sebastián, retrograd erzählt in zahlreichen Mosaik-Episoden. Bittori, Witwe eines ETA-Mordopfers, kehrt im Alter zurück, provoziert die ehemaligen Nachbarn. Noch gegen Romanende offene Fragen: Was führte zum Bruch der Familien? Hat der Terrorist Joxe Mari, älterer Sohn des von seiner Frau Miren unterdrückten Eisengießers Joxian, den benachbarten Fuhrunternehmer, genannt Txato, persönlich erschossen? Warum hat ein Schlaganfall die Tochter Arantxa in den Rollstuhl gebracht? Was genau trennte den Arzt Xavier, Sohn des Mordopfers, von seiner großen Liebe? Bleiben er und seine verbitterte Schwester Nerea nun allein? Nicht alles wird beantwortet, doch generell gilt: Schuld sind Fanatismus, Pseudopatriotismus, der harte spanische Staat, die aufhetzende Kirche, das enge Kleinbürgertum in einer hundertäugigen Kleinstadt-Gesellschaft mit geheimen mafiösen Seilschaften, weniger schwache Ehemänner, eher aggressive, unversöhnliche Frauen. Einzige Chance der Kinder: weggehen, sich dem Teufelskreis aus Angst, Beteiligungszwang, Schutzgelderpressung, Mordanschlägen, Strafverfolgung, Rache entziehen. Junge Männer müssen: über die Grenze, Aufdeckung, Verhaftung, Folter, heimatferne Zuchthaushaft riskieren. Detailreiche, anschauliche, informierte Schilderung konspirativer Existenz kleiner Terrorzellen. Die baskische Sprache beweist sich als Ausschlussinstrument. Der ungeheuer kraftvolle Roman argumentiert von nahem, analysiert nicht historisch-abstrakt, auch wenn ein auftretender anonymer Schriftsteller Sprachrohr sein könnte. Doch die Tristesse erklärt sich durch: Regen, Regen. 15.1.2021

58

Belarus Viktor Martinowitsch – Paranoia. Roman. 2010. A. d. Russ. v. Thomas Weiler (dt. EA 2014/TB 2017).

Anatoli Petrowitsch Newinski, Autor von fünf Büchern, lebt in einem Kommunalbau in Minsk, fährt einen alten BMW, eher Dissident, aber bislang nicht in offenem Konflikt zum Regime des autokratisch herrschenden Nikolai Murawjow. Lernt in einem Café die attraktive Jelisaweta Supranowitsch kennen, geheimnisvolle Schönheit, die einen sonderzugelassenen Luxuswagen fährt und eine riesige Wohnung in einem Imponiergebäude des Stadtzentrums besitzt. Man verliebt sich. Romantische Spaziergänge. Viel Sex. Dann Rätsellösung: Lisa ist die heimliche Geliebte des musisch-romantischen Staatschefs. Kein Wunder, dass die Wohnung, die beide für ihre Rendezvous gemietet haben, systematisch abgehört wird. Ein Großteil des Buches Geheimdienstprotokolle. Dann: Lisa angeblich schwanger, Anatoli rasend angesichts der Möglichkeit, Murawjow sei der Vater. Die Horcher hören eine stumme Trennung. Dann: Lisa angeblich ermordet. War es der eifersüchtige Schriftsteller? Vermutlich, wenn, eher die Staatssicherheit, aber Anatoli sucht sie, stellt sogar das Staatsoberhaupt, flieht nicht. Also vorgeladen, inhaftiert, verhört, misshandelt, wird wohl als Mörder seiner Geliebten hingerichtet werden. Vor allem: So konditioniert, dass er mit Überzeugung detailliert gestehen wird. Schade um das Paar, Gogol und Füchsin, wie sie in den Tonbandmitschriften heißen, scheinen gut zueinander gepasst zu haben. Finstere Liebesgeschichte, man sieht förmlich die Rückblenden auf die verliebten Tage im Park in den Schlusssequenzen einer potentiellen Verfilmung. 12.1.2020

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Belgien Bram Dehouck – Der Psychopath. Thriller. 2012. A. d. fläm. Niederländ. v. Stefanie Schäfer (dt. EA TB 2016).

Wenn ein Buch Thriller heißt, ist es meist nicht weit her damit; da hilft auch die teilweise retrospektiv verschachtelte Narratio nicht. Chris Walschap, Allgemeinmediziner, Sohn eines gefühlskalten, wohlhabenden Facharztes, hat als Kind seine Nanny heimtückisch betäubt und dadurch beinahe getötet. Die Eltern bezahlen jahrzehntelang das Pflegeheim, in dem sie als Folge des Anschlags dahinvegetiert. Chris weiß davon nichts. Sein elfjähriger Sohn Sam scheint die Anlage zu gefährlicher Psychopathie von ihm geerbt zu haben; er ist in der Schule isoliert, unberechenbar, gewalttätig, grausam. Langsam reift in Chris, durchaus in Gestalt einer fixen Idee, systematisch die Überzeugung, er müsse seinen Sohn töten. Seine Frau Charlotte kommt ihm zuvor und trennt sich samt Kind von ihm, doch der Arzt plant den Mord als Ausflug in den Wald, zu dem er Sam eines Tages im Auto abholt. Ein Wettlauf gegen die Uhr beginnt. Die von Charlotte alarmierte Polizei spürt die beiden auf, trifft aber nur noch den Jungen lebend an, der seinen Vater angegriffen und im Schlamm hat ertrinken lassen. Gut, eine böse Pointe, aber angesichts der sparsamen Personenkonstellation eine von zwei Optionen, insofern keinerlei Überraschung, und auch der, scheint es, offen gedachte Schluss des wortkargen, in fahler Stimmung dahineilenden Texts ist irgendwie misslungen. 19.9.2019

60

Belize Zee Edgell – Beka. Roman. 1982. A. d. Engl. v. Uta Goridis (dt. EA 1989).

Ein sympathischer, aromatischer Blend aus Jugendbuch und nationalem Emanzipationsroman, situiert in der ausgehenden Kolonialzeit Mitte des 20. Jahrhunderts. Die vierzehnjährige Beka Lamb gehört zur farbigen Bevölkerungsgruppe von Britisch-Honduras und lebt mit ihrer Familie in Belize-City. Sie ist spontan, unkontrolliert, empathisch und muss miterleben, wie ihre ältere Schulfreundin, die disziplinierte Toycie, durch eine ungewollte Schwangerschaft stufenweise in den Tod getrieben wird. In der Klosterschule droht Beka zu scheitern, doch eine Nonne glaubt an ihren Erfolg. Durch die Familie geht ein politischer Riss: Der bürgerliche Vater vertraut dem Kolonialstatut, die Großmutter will sozialistische Unabhängigkeit. Ein Hurrikan, wie sie periodisch die Stadt heimsuchen, schweißt die Gemeinschaft wieder zusammen. Das Mädchen repräsentiert erkennbar die neue Generation, der die Mühen der Selbstbehauptung und der Versöhnung sehr verschiedener Ethnien und Kulturen in einem kleinflächigen Staat bevorstehen. Sinnbild der Hoffnung und autobiografisch-auktorialer Spiegel ist ein Aufsatz über die Geschichte ihrer Schule und ihrer Stadt, mit dem Beka wider Erwarten und dank des Vertrauens ihrer Lehrerin am Ende einen Preis gewinnt. Vielleicht arbeitet das Buch etwas zu sehr mit Symbolen und gestaltet nicht alle Charaktere vielschichtig, aber es vereinfacht nicht radikal, weder die Situation des Landes als Spielball mittelamerikanischer Nachbarn noch die berechtigte Sozialkritik noch die komplexen Perspektiven. 19.10.2020

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Benin Ryad Assani-Razaki – Iman. Roman. 2011. A. d. Frz. v. Sonja Finck (dt. EA 2014/TB 2016).

Man ist hin- und hergerissen. Ein Roman aus der realen afrikanischen Gegenwart mit starkem Formwillen und einer emotionalen Geschichte, der an einer Reihe kompositioneller Schwächen leidet und geradezu melodramatisch endet. Erzählt wird abwechselnd von den Hauptbeteiligten und anfangs von einigen Bezugspersonen. Ein junger Mann, Toumani, als Kind von seinen Eltern verkauft, vom Käufer schwer misshandelt, für tot weggeworfen, wird von einer Jugendgang gerettet, verliert aber ein Bein. Sein bester Freund wird der attraktive, von Mädchen umworbene, hilfsbereite, aber zuweilen auch undurchschaubare Iman, der keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter, der selbstbewussten Zainab, oder seinem europäischen Vater hat. Als Toumani Alissa trifft, eine Freundin aus seiner Kindheit als Sklave, entwickelt sich eine Dreiecksgeschichte, in der der großgewachsene, charismatische Iman die dominante Rolle spielt, die hübsche, warmherzige Alissa das Wettbewerbsobjekt ist und für den körperlich und mental unterlegenen Toumani der tragisch-dämonische Part bleibt. Die Mimesis verschiedener, nicht immer zuverlässiger Erzählstimmen überzeugt kaum ganz, die Unlogik der subjektiven Gefühlswelten ist durch inneres Chaos kaum zufriedenstellend erklärt, und einige Hilfskonstruktionen müssen die Handlung ermöglichen oder in Gang halten. Auch die sich zum Anagramm „Immigration“ summierenden metaphorischen Kapitelüberschriften wollen etwas zu viel. Trotzdem ein intensives Buch über Chancen und Auswege, Glückserwartungen und Opferbereitschaft junger Afrikaner. 28.6.2020

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Bolivien Rodrigo Hasbún – Die Affekte. Roman. 2015. A. d. Span. v. ­Christian Hansen (dt. EA 2017).

Daniel Kehlmann vermisst ein spannendes Politrätsel zwischen Bolivien und Nachkriegsdeutschland; so ungefähr schreibt Hasbún dank oder trotz eines nicht unbedeutenden, auch gedruckten Stapels an biografischem, historischem, kriminalistischem und geheimdienstlichem Material einen Kurzroman aus der Sicht verschiedener beteiligter Personen über den ausgewanderten Nazi-Kameramann, Bergsteiger und Dokumentarfilmer Hans Ertl und dessen irgendwie abhandenkommende, nicht dazugehörige Frau sowie die Töchter Trixi, Heidi und Monika. Letztere wurde berühmt als deutschstämmige Linksguerillera, Rächerin Che Guevaras, die mutmaßlich einen Repräsentanten des bolivianischen Regimes erschoss und 1973 gefasst und getötet wurde. Dass sie geplant hatte, den in dem Andenstaat untergetauchten Kriegsverbrecher Klaus Barbie zu entführen, wird nicht explizit erwähnt, ist aber eines der bekanntesten Mytheme um Monika Ertl und vielleicht das heimliche Zentrum der Geschichte. Diese endet, als ihr greiser Vater auf der heruntergekommenen Hacienda Dolorosa eine tiefe Erdgrube ausheben lässt; für wen oder was, bleibt offen. Setzt ein mit der Werner-Herzog-mäßigen Paititi-Expedition. Dazwischen viel Innensicht, Privataufnahmen, quasi die Wahrheit hinter den erhaltenen, verlorenen oder geschnittenen Filmbildern. Eine kalt überkochende Familie, fremd bleibend in Bolivien; Nähe und Liebe misslingen offenbar grundsätzlich. Der Titel ist so eine Sache. Die oft redende Trixi, an der das Leben vorbeizulaufen scheint, sucht nach den zu ihren Erinnerungen passenden Gefühlen, mag sein. 14.4.2020

63

Bosnien und Herzegowina Dževad Karahasan – Der Trost des Nachthimmels. Roman in drei Teilen. 2015. A. d. Bosn. v. Katharina Wolf-Grießhaber (dt. EA 2016/TB 2018).

Ein wunderbarer Roman, der Leben und Psyche des historischen Astronomen und Dichters Omar Chayyam im – christlich gerechnet – 12. Jahrhundert ausspekuliert und, wie sich in gezieltem Anachronismus herausstellt, erzählt wird von dem Bosnier Vukac, der als junger Mann ein Jahr lang den sterbenden Omar in dessen Asylort Nishepur pflegte. Der Sonderling Omar hat seine glücklichsten Jahre in der Hauptstadt Isfahan im engen Machtzirkel des Wesirs verbracht, dabei aber, eher Philosoph denn politischer Kopf, das Heraufziehen totalitärer Gefahren ignoriert. Der verdächtige Freund Hassan entpuppt sich mithin auch als Extremist, gründet ein geheimbündlerisches Netzwerk, für das er Omar vergeblich gewinnen will. Nachdem dieser bereits durch Krankheit seine Tochter Leyla verloren hat, lässt Hassan dessen Frau Sukhayma und den Wesir ermorden. Der vereinsamte, bedrohte und nur im Anblick des Sternenhimmels getröstete Omar sucht eine neue Umgebung, verliert aber Humor und Lebensbejahung nicht, wenngleich sein Alterssarkasmus schwer erträglich ist. Das Buch beginnt wie ein Kriminalroman, doch der Held klärt trotz ärztlicher Kenntnisse den vermutlichen Giftmord an seinem Schwiegervater nicht auf. Der desaströsen Politik steht die frühe islamische Hochkultur gegenüber mit Frömmigkeit, Gastfreundschaft, Gesprächspflege, aber auch selbstbewussten Frauen. Horizont ist der nicht explizit angesprochene Balkankrieg der 1990er Jahre; auch Begriffe wie Terror oder Islamismus fallen nicht. 27.8.2019

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Botswana Unity Dow – Die Beichte. Roman. 2002. Ins Dt. übertr. v. Berthold Radke (dt. EA 2003/TB 2017).

Analytischer Bericht über die Aufklärung eines Ritualmords in einem Dorf des nördlichen Botswana. Durch vorgeschaltete Porträts der Täter ohne Krimispannung, aber straff durcherzählt und mit doppelter Überraschung am Schluss: der Beichte eines weiteren Beteiligten und der Entlarvung eines hochrangigen Komplizen. Das Mädchen Neo ist grauenhaft ermordet worden, geradezu geschlachtet. Die Polizei macht absurderweise Wildtiere verantwortlich, die Kleidung des Kindes, das von Männern um der magischen Kraft einiger Körperteile willen lebend zerstückelt wurde, ist aus den Asservaten verschwunden. Jahre später findet die Praktikantin Amantle das Beweismaterial. Bis hierhin plausibel. Nun aber initiiert das Mädchen, das schon als Jugendliche Bürgerrechtsaktivistin war, eine Revolte der Dorfbevölkerung, die Geiselnahme zweier Krankenschwestern, führt tollkühne Verhandlungen mit den Behörden, organisiert aus der Hauptstadt eine Rechtsanwältin, entfremdet eine Staatsanwältin ihres Berufs, holt eine Reporterin hinzu und bewirkt zwecks Wiederaufnahme der Untersuchungen eine traditionelle Volksversammlung, die auch Polizei und Minister gezwungenermaßen besuchen. Das ist etwas zu viel des Guten, selbst wenn es so oder so ähnlich einmal geschehen und gelungen sein sollte. Auch dass alles Übel von den Männern, alle Aufklärung von den Frauen ausgeht − da hilft selbst der leicht resignative Schluss nicht. Dicht, anschaulich, teilweise spannend, dann doch wieder zu engagiert-moralisch, zu nah an der Heldin. 12.1.2020

65

Brasilien Luiz Ruffato – Es waren viele Pferde. 2001. A. d. Portugies. v. Michael Kegler (dt. EA 2012/TB 2016).

Wenn dies ein Roman ist, dann ein modernistischer Metropolenroman vom Querschnittstyp, der in 69  Miniatursplittern die Megacity São Paulo am 9. Mai 2000 kaleidoskopisch betrachtet, wobei diverseste Textsorten eingesetzt sind: beispielsweise erzählerische Kurzporträts, Dialoge, innere Monologe, lyrische Impressionen, eingefügte Alltagsdokumente wie die Beschreibung eines Bücherregals, einer kleinbürgerlichen Küche oder einer Menükarte. Das ist natürlich nicht mehr innovativ, aber angemessen, anschaulich und ausdrucksstark. Vermutlich auch realistisch, denn das eher schmale Buch entspricht in seiner Schilderung gängigen Urteilen über die größte Stadt Brasiliens mit ihren Favelas, den gesichtslosen Wohnblocks, den abgesicherten besseren Vierteln, den gläsernen Bürotürmen, dem immerwährenden Verkehrsstau: Es herrschen soziale Ungleichheit, verbreitete Armut, Drogen- und Gewaltkriminalität, Polizeiwillkür, überzuckert von gelegentlichen Ausbrüchen sinnlicher Lebensfreude. Ein Widerspruch bleibt jedoch: Wer einen zufälligen Schnitt durch die Bevölkerung legt, wird hauptsächlich auf kleine Leute treffen, so weit stimmig, aber ein derart hoher Anteil an Opfern unheilbarer Krankheiten und willkürlicher Morde erscheint ebenso wenig glaubhaft wie die obstinate missmutige Verzweiflung der Einwohner. Kinder sind fast immer dem Missbrauch nahe, Prostituierte allgegenwärtig. Die Figuren werden bei aller Kürze doch plastisch, begegnen, wie es scheint, nur einmal, Straßennamen simulieren die reale Stadt. Technisch gelungen sind die kurzgeschichtenartigen offenen Schlüsse der einzelnen Aufnahmen und die zahlreichen bitteren Schlusspointen. 10.10.2019 66

Bulgarien Georgi Gospodinov – Physik der Schwermut. Roman. 2012. A. d. Bulgar. v. Alexander Sitzmann (dt. EA 2014/TB 2016).

Auch wieder kein Roman. Ein überdurchschnittlich schönes Buch voller tiefer Gedanken, doch eigentlich einfach ein Protokoll von Situationen, Ideen, und – dies allerdings  – Spekulationen, Ausphantasierungen des tatsächlichen Autors, gebunden an seine wirkliche Familie und seine unter Klarnamen begegnende kleine Tochter. Das spricht, wohlgemerkt, nur gegen eine Klassifikation als Roman, für welche Abkürzung von Städtenamen und Maskierung realer Personen nicht reichen. Der Beginn mit nachempfundenen Erlebnissen von Vater und Großvater und die Auflösung der Chronologie hin zu einem Erzähllabyrinth aus melancholischen Rückzügen und zahlreichen Seitengängen kreieren ein starkes ästhetisches Artefakt, aber immer noch keine Narration, eher bebilderte autobiografische Phantasien. Am stärksten die Rechtfertigung des Minotauros, die Umdeutung zum Verlassenwerden des kleinen Jungen, Bulgarien als das unsichtbare Land Europas, die Einsamkeit auf Reisen, der Anfang des Alterns, das Archivieren von allem und jedem, die Listen im Text, in genialer Kürze die 1980er Jahre aufrufend: Das Inventar der Dinge, die den Beginn der Militärzeit markieren. Die um 15 Uhr verlassenen Städte Europas. Epiphanien der momentanen Ausgesetztheit. Die Erinnerung an ein überempathisches Kind, fortgesetzt in der narrativen Identifikation mit den eigenen Vorfahren. Die Literaturwissenschaft würde formulieren, der Erzähler scheine Schriftsteller zu sein und ähnele dem empirischen Autor. Der gesunde Menschenverstand sagt, es spricht: Georgi Gospodinov. 8.5.2019

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Burkina Faso Lawagon Alex Roméo Ki – Der Werdegang eines Deutschlehrers aus Burkina Faso. 2019 (Dt. EA TB 2019)

Dieses Buch darf niemand an belletristischer Fiktion messen. Es ist ein autobiografischer Zwischenbericht des empirischen Verfassers, dessen Muttersprache Samo ist, der aber zwei Jahre in Stuttgart Dolmetschen studiert hat, nachdem er, im burkinischen Toma aufgewachsen, auf dem Gymnasium, an der Universität und als Lehramtskandidat beharrlich Deutsch gelernt hatte. Umstände, Personennamen, amtliche Korrespondenz und private Details, alles ist bis hin zu Foto und Mailadresse ungefiltert aufgenommen. Natürlich ist der Text reich an Wiederholungen, an mündlichem Berichtsmodus, an Content, den man eigentlich nicht mit der Öffentlichkeit teilt. Dadurch gewährt er aber einen beispiellos authentischen, ehrlichen Einblick nicht nur in die Persönlichkeit des Autors, sondern auch in das west-zentralafrikanische Alltagsleben, das beim Dauervergleich mit dem ungleich reicheren Deutschland nicht schlecht abschneidet. Die Unterschiede sind eklatant: die permanent eingeforderte Familiensolidarität in Afrika, dort aber auch ein auf Schulgeld aufgebautes, kompromissloses Erziehungssystem. Teilweise liest der Text sich wie Reklame für positives Denken, Sprechen, Agieren. Eine unfreiwillige Besonderheit ist die nachvollziehbare Veranschaulichung ritualisierter Kommunikation und alltäglichster Handlungen, da diese im Maßstab eins zu eins verbalisiert werden, ein narrativer Realitätseffekt, über den sich zu amüsieren unfair wäre, auch, weil das Funktionieren von erzählerischer Authentizität und der Wert von Texten ganz auf den Rahmen einer Gattungszuweisung geschoben würden. 8.6.2021

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Burundi Gaël Faye – Kleines Land. Roman. 2016. A. d. Frz. v. Brigitte Große u. Andrea Alvermann (dt. EA 2017/TB 2019).

Ob dies ein Roman ist? Oder doch eine autobiografische Aufzeichnung mit Ausschmückungen, Modifikationen, veränderten Namen? Das würde den Text weder entwerten noch aufwerten; trotzdem wüsste man es gern. Denn die Geschichte ist in erster Linie ein Geständnis: Der Erzähler, heute bei Paris lebend, Sohn eines weißen Franzosen und einer Ruanderin aus der Tutsi-Nation, sucht nach zwanzig Jahren seine Heimat Burundi auf. Und er erinnert sich: an die unbeschwerte Kindheit in einer Sackgasse eines sicheren Viertels der Hauptstadt Bujumbura, an die für ihn und seine Schwester unverständlichen ethnischen Spannungen, an den Militärputsch, den Besuch im Nachbarland Ruanda, wo bald darauf seine Tante verschwindet und deren vier Kinder massakriert werden, an die zunehmende Gewalt, in die auch er als Heranwachsender durch seine Kameraden unfreiwillig verwickelt wird, schließlich, wie man ihn nach der Eskalation 1994 außer Landes bringt, während sein Vater wenige Tage später getötet wird. Und er trifft seine Mutter als alte Frau wieder, die nach dem Anblick ihrer ermordeten Angehörigen den Verstand verloren hat und ihn nun nicht mehr erkennt. Kurz vor dem Schluss berichtet er, wie er damals von einer Straßengang gezwungen wurde, einen Mann, der zuvor den Vater eines Freundes getötet haben soll, in einem Auto lebendig zu verbrennen. 14.4.2019

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Caboverde Germano Almeida – Das Testament des Herrn Napumoceno. 1991. A. d. Portugies. v. Maralde Meyer-Minnemann (dt. EA TB 1997/TB 2014).

Vielleicht fehlte die Energie, den Einfall vollständig umzusetzen: Das Testament des 1898 geborenen und fast achtzigjährig gestorbenen wohlhabenden kapverdischen Kaufmanns Napumoceno da Silva Araújo umfasst 387 Seiten und entpuppt sich als veritable Autobiografie eines äußerlich erfolgreichen, aber einsamen, sensiblen, gefühlsvorsichtigen Mannes, der seinen Neffen Carlos wegen eines dummen, verletzenden Streiches enterbt und sein Vermögen der unehelichen Tochter Maria da Graça hinterlässt, die er mit einer Putzfrau gezeugt und der er zwei Jahrzehnte lang eine missverstandene Liebe nachgetragen hat. Der von manchen Zwangsstörungen besessene, sparsame Erblasser ist nicht viel gereist, war aber doch in Amerika, Paris und Lissabon. Er hat neben zahllosen anderen Anordnungen verfügt, eines seiner Bücher seiner früheren Geliebten Adélia auszuhändigen, über die er viel schrieb und von der er viel träumte, doch den Testamentsvollstreckern, die, analog zu Citizen Kanes Rosebud, dieses Lebensliebesobjekt suchen, gelingt es nicht, das Rätsel zu lösen, obgleich klar gesagt wird, dass es sich bei dem Buch um den Gedichtband „Só“, „Einsam“, des neoromantischen Lyrikers Antonio Nobre handelt. Die Hauptfigur kommt mit ihrem letzten Willen jedoch nicht selbst zu Wort; alles wird aus der Sicht der Hinterbliebenen erzählt bzw. als deren Reaktion referiert, was eigentlich schade ist, aber die Einsamkeit des Toten möglicherweise noch unterstreicht. 23.4.2020

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Chile Hernán Rivera Letelier – Die Filmerzählerin. Roman. 2009. A. d. Span. v. Svenja Becker (dt. EA 2011/TB 2012).

Eine anrührende kleine Erzählung, deren Heldin ihr Leben berichtet, das sich nur an einem Ort, einer inzwischen aufgelassenen Salpetersiedlung in der chilenischen Wüste, abgespielt hat. Sie ist die Jüngste; ihre Brüder gehen der Reihe nach vor die Hunde, nachdem ihr Vater durch einen Arbeitsunfall querschnittsgelähmt ist und die jüngere, attraktive Mutter, die ihn zuvor schon im Dorf mehrfach betrogen hat, die Familie verlässt. Die Armut erlaubt es nur einem Familienmitglied, die einzige Attraktion der Einöde, das Kino, zu besuchen. María Margarita gewinnt als Begabteste das Vorrecht, abends einen Film zu sehen und ihn anschließend anschaulich wiederzuerzählen, dem Vater und den Brüdern, dann auch den Nachbarn, mit wachsender Professionalität, schließlich gegen bescheidenen Eintritt. Von einem Privatkunden wird sie, noch ein halbes Kind, missbraucht, vom ältesten Bruder blutig gerächt; als der Vater stirbt, darf sie das Haus nur dank eines Verhältnisses mit dem Minendirektor behalten. Nach der Allende- und Pinochet-Zeit bleibt die Frau, immer noch eine passionierte Erzählerin, alleine in der Wüste zurück und erzählt den Touristen. Erst als Nachtrag erwähnt sie die größte Krise im Film ihres Lebens: Sie hatte der Mutter, die als gescheiterte Tänzerin für eine Vorstellung ins Dorf zurückgekehrt war, ein Wiedersehen verweigert, worauf diese sich selbst tötete. 27.5.2019

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China Yan Ge – Frau Duan feiert ein Fest. Roman. 2013. A. d. Chines. v. Karin Betz (dt. EA TB 2018).

Ein Familienroman. Hauptfigur ist der über 40-jährige Xue Shengqiang, dessen Geschicke seine in einem Pflegeheim lebende, nicht in Erscheinung tretende Tochter allwissend, aber immer nah an seinen Empfindungen und Gedanken, berichtet. Ihr Vater raucht, trinkt, hurt, muss dabei aber nicht nur seine Firma, eine Bohnenpastenfabrik in einer südwestchinesischen Kleinstadt, sondern auch die Familie managen: die ältere Schwester, ehemalige TV-Sprecherin in Scheidung, den älteren Bruder, Universitätsprofessor in Wiedervereinigung mit seiner Jugendliebe, die desillusionierte, aber an der Ehe festhaltende Frau, die schwangere Geliebte, die Sauffreunde, und allen voran die Mutter, deren 80. Geburtstag mit gebührendem Aufwand, aber zusammen mit dem Fabrikjubiläum begangen werden soll. Eine Tragikomödie um innerfamiliäre Eifersucht, geschäftlichen Erfolg im neuen China, Provinzleben, Midlife-­ Katastrophen, Dominanz der Elterngeneration, erzählt aus Anlass der Familienfeier, in zahlreichen Rückblenden und einer Vorausschau, wie ein leichtgewichtiger Krisenfilm mit Dialogen aus dem Leben. Alle haben Berufe und leben unter Druck, niemand scheint ernsthaft zu arbeiten, Geld ist im Überfluss vorhanden, niemand scheint richtig reich zu sein. Shengqiang ist herzkrank, aber potent, die scharfe Sichuan-Küche grundiert den Tagesablauf, alle telefonieren permanent. Das Fest ein Datum, keine Zäsur. Unterhaltsam, kolloquial, schnell getaktet, aber kein Großstadtbuch, die Volksrepublik, aber nicht Shanghai oder Beijing. Was ist in China eine Kleinstadt? 19.4.2019

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Costa Rica Rafael Ángel Herra – Das göttliche Lumpenpack. 2011. Übers. v. Hans Jürg Tetzeli von Rosador (dt. EA TB 2016).

Staunend fragt man sich, ob der Autor gewettet hat, hundert analoge Texte zu schreiben, fast alle aus derselben Formel, alle ohne zündende Pointe. Tierfabeln im 21. Jahrhundert wirken kurios, doch wenn es neue Jobs für die alte Tagelöhnerin der Literatur gibt – warum nicht? Indes: Sind das Fabeln? Kleiden sie Höheres, eine kleinformatige Erkenntnis in eine kurze Geschichte? Stehen die gelehrten Tiere überhaupt für Menschen? Beobachtungen oder Behauptungen über eine Spezies werden aus der Warte der besserwissenden Tierwelt, des Betroffenen oder des zynischen Gegners korrigiert, Umkehrungen, leider beschränkt auf eine Desillusionierung ins Banale des Fressengefressenwerdens. Zuerst Rede eines Papageis, dann Perspektiven verschiedener Tiere, die sich erst am Schluss zu erkennen geben – falls das denn nötig war; meist spricht der jeweilige Fressfeind. Eingekleidete Moral? Null. Immer wieder Negierung oder Korrektur einer vorgeblich allgemeinen Vermutung über den Grund des Verhaltens eines Tiers. Ergebnis: Gier, Eitelkeit, Furcht. Unwitzig, unscharfsinnig, selbstbewusst, belehrend ohne Lehre, das Äußere einer Fabel. Systematisch monotones Niederschlagen aller Erwartungen an unvorhersehbaren Blitz, sparsame Seiten mit Pseudoweisheiten, gefüllt mit Bekräftigungsformeln. So: Der Fabeldichter schaut in den Spiegel. Eitel, sagen die Menschen. Ich versichere feierlich und ohne Umschweife, ich weiß es besser, sagt Lessing: Die Wahrheit ist, er hat Angst, nichts zu schreiben. 14.12.2019

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Côte d’Ivoire Ahmadou Kourouma – Allah muss nicht gerecht sein. Roman. 2000. A. d. afrikan. Frz. v. Sabine Herting (dt. EA 2002/TB 2004).

Der Verfasser war Ivorer, doch das Leben des Erzählers, des muslimischen Kindersoldaten Birahima, spielt sich in den Bürgerkriegsländern Liberia und Sierra Leone ab. Der familiär verwahrloste Junge wird Straßenkind und geht mit dem zwielichtigen Gauner, Geschäftemacher und Fetischverkäufer Yacouba, seine Tante suchend, nach Westen, wo unsägliche Kriegsgräuel ihn erwarten, an denen er sich selbst beteiligt, bis er einige Wörterbücher und einen gebildeten Menschen findet, der alles aufschreibt. Die pseudo-naive Erzählsituation, die unpolierte Sprache mit regelmäßigen Flüchen, aber auch Erläuterung von Fremdwörtern und Afrikanismen, sollen der aus Dokumenten und aufgezeichneten Erlebnissen echter child soldiers konstruierten Lebensbeichte eines Minderjährigen Glaubhaftigkeit verleihen. Zuweilen gelingt das, wenn die Häufung der Brutalitäten und die Selbstverständlichkeit, mit der Dorfbevölkerungen massakriert werden, den gewollten Eintaucheffekt bewirken, doch meistens zeigen sich Formeln, wiederholte Selbstkommentare und eingebauter Geschichtsunterricht über die wichtigsten Putsche und Gegenputsche zu deutlich im Vordergrund, so dass auch die bestürzenden Geschichten anderer, völlig chancenloser Kindersoldaten, die der Sprecher, also eigentlich der Autor, in Trauerreden verpackt, jederzeit die textliche Integration stören. Das kann man auch positiv als Symptom dafür lesen, dass Westafrikas Leid grauenhafte Bilder, aber keine flüssige Story produziert, doch bleibt hinter einem sorgsam fingierten Protagonisten der Puppenspieler sichtbar und der Riss in der geplanten Architektur. 1.6.2020

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Dagestan Alissa Ganijewa – Die russische Mauer. Roman. 2012. A. d. Russ. v. Christiane Körner (dt. EA 2016).

Einstieg science-fiction-artig: Eine spannungsgeladene Pre-title-Sequence (Teetrinken bis zur plötzlichen Razzia) mit vielen nur durch Vornamen bezeichneten Figuren und noch mehr awarischen Vokabeln und religiösen Termini des Islam, die totale Immersion in eine fremde kulturelle Galaxis suggerierend. Dann erfährt man: Es geht um den jungen Schamil, der in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala lebt und seine Freundin verliert, die sich abrupt einer strengen Praxis des Islam und einem entsprechenden Ehemann zuwendet. Am Ende heiratet er eine Kusine, offenbar nach halbwegs freiheitlichem Ritus. Dazwischen aber wird die russische Teilrepublik am Kaspischen Meer abgeriegelt und fällt islamistischen Hardlinern in die Hände. In vier Episoden wird geschildert, wie das Land gleichsam über Nacht islamisiert wird, wie zahlreiche wohlhabende, liberale, westlich denkende oder Russland verpflichtete Menschen getötet werden, untertauchen oder sich der Scharia unterwerfen. Figuren, die man soeben noch bei ihrem Freizeitvergnügen oder im Beruf begleitet hat, sind kurz darauf ermordet, Beteiligte und Unbeteiligte. Die titelgebende Mauer ist reine Phantasie, nötig als Voraussetzung eines dystopischen Denkspiels, welches nah an den belegten Erfahrungen aus der beschriebenen und anderen Regionen bleibt und so – weitgehend – unprätentiös in die Alltagskultur durchschnittlicher postsowjetischer Menschen eintaucht, dass das Nicht-Reale für westliche Leser kaum erkennbar ist. Dem arbeitet ein Präteritum ohne Jahreszahlen zu. 15.11.2020

75

Dänemark Erling Jepsen – Die Kunst im Chor zu weinen. Roman. 2002. A. d. Dän. v. Ulrich Sonnenberg (dt. EA TB 2008).

In einem Dorf Südjütlands lebt – vermutlich Ende der 1960er Jahre – ein Milchmann und Lebensmittelhändler mit Frau, 11-jährigem Sohn und 14-jähriger Tochter in beengten, frömmlerischen Verhältnissen. Sein Talent ist es, als ungebetener Trauerredner bei Beerdigungen die Mitbürger zu Tränen zu rühren und davon im Gemeinwesen und als Kaufmann kurzfristig zu profitieren. Seine dunkle Seite: Er ist feige, triebhaft, unbeherrscht, schlägt den Sohn, unterdrückt die Frau, missbraucht die Tochter. Im Haushalt wird viel geweint, gelacht, gesungen. Es erzählt der Junge, der aus kindlicher Sicht dem Vater nichts übelnimmt und aus naiver Logik für Bestattungen sorgt, um ihm eine Bühne zu bereiten. Er bewirkt den tödlichen Sturz eines Ortsbewohners, während die Schwester seinen Wunsch nach dem Tod der Tante und der Großmutter erfüllt. Dann befreit er die Schwester auf eigene Faust aus der Nervenklinik und schneidet schließlich den Vater, der sich erhängen will, in letzter Sekunde vom Ast. Eine schwarze Tragikomödie, deren Abgründigkeit sich in der unverstellten Harmlosigkeit des schelmenhaften Erzählers verbirgt. Komik unterminiert Glaubwürdigkeit; deshalb lädt der Roman zu zweiter Lektüre, um die mimetische Stichhaltigkeit zu prüfen: Lässt er, aus Sicht von Nachbarn, Ärzten, Polizei, ohne die Fehldeutungen, Phantasien, Übertreibungen des Kindes eine wasserdichte protokollierbare Rekonstruktion von Familienleben und justiziablen Akten zu? 18.9.2019

76

Deutschland Sven Regener – Wiener Straße. Roman. 2017 (TB 2019).

Ein typischer Regener: Locker vom Hocker ein weiterer Baustein der Lehmann-Saga, in der Frank nur eine Nebenrolle spielt. In der Wiener Straße verbindet sich in Gestalt des Café Einfall das Milieu der authentischen Kneipenmagistrale mit Symbolik für die klammheimliche Unterwanderung Westberlins durch Österreicher. Das gesamte ArschArt-Kollektiv besteht aus solchen, 1980, vor dem EU-Beitritt, ohne Aufenthaltstitel in Kreuzberg lebend. Andere sind aus Bremen oder Südwestdeutschland. Die autochthonen Berliner berlinern, aber unvollkommen. Handwerker schauen einander beim Handwerken zu. Bier ist umsonst, alles andere kostet zwei Mark, Kaffee, Kuchen, Wein drei. Passieren tut fast nichts: Eine Wohnung wird behelfsmäßig renoviert, das Fernsehen filmt Pseudo-Hausbesetzer mit Höhenangst samt fingierten Punkern, eine Thekenbesatzung sondiert ihre Back- und Servierkünste, eine Baumarktkassiererin und ein Kunde mit Kettensäge testen ihre Durchsetzungsfähigkeit, eine Kaffeemaschine wird erstaunlicherweise repariert, Wein wird degustiert, gekauft und ausgeschenkt, die leutselige Westpolizei auf Distanz gehalten, die schikanöse Grenzpolizei der DDR hingegen respektiert. Man trennt und findet sich. Eine Frau ist schwanger, der zugehörige Mann trägt einen Testbauch. Ergo: Viel wird probiert und improvisiert. Zum Schluss läuft eine Kunstaktion um zugenagelte Überraschungskisten und einen schwarz gefällten Baum leicht aus dem Ruder. Namen tun nichts zur Sache. Lehmann hat derweil für 25 Mark täglich die Kneipe geputzt. 26.5.2019

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Dominica Jean Rhys – Die weite Sargassosee. Roman. 1966. A. d. Engl. übers. v. Brigitte Walitzek (dt. EA 1980; 2015/TB 2017).

Klassiker des postkolonialen re-writing, Ikone des Feminismus, unantastbar, warum auch nicht, da das Buch zahlreiche produktive Lektüren auslöst? Was kann also überhaupt bewertet werden? Ob der Roman auch für sich funktioniert, ob die Geschichte trotz oder wegen ihrer Offenheit und Ambivalenz plausibel bleibt, ob es gelungen ist, psychische Störungen autodiegetisch nachzubilden, egal, ob bei der Protagonistin oder ihrem Ehemann, ob der erzwungene Namenswechsel überzeugt. Die dreigeteilte Handlung, 1833 in der Karibik angesiedelt, ist Seitenstück und Gegenerzählung zu „Jane Eyre“ – Bertha Mason, Mulattin, Tochter des einen Plantagenbesitzers und nach Ende der Sklaverei Stieftochter des anderen – begegnet als Kind unter dem Namen Antoinette Cosway. Nach dem Brand des ererbten Hauses, dem Untergang der Familie und Klostererziehung wird sie Frau eines Briten, der ihrer Sinnlichkeit, Psyche, tropischen Herkunft gleichermaßen misstraut. Beide kommen zu Wort, wer wie stark traumatisiert ist und ob jemand im Recht sein kann, bleibt undeutlich. Der Akzent auf der Neuerung: Auch der Mann zeigt, berichtend, Zeichen von Wahn. Der finale Brand des britischen Herrenhauses nur angedeutet. Aber wer den Prätext kennt – wer kennt ihn nicht? – kann von der verrückten Frau unterm Dach, die das Feuer legt, schwer absehen. Vielleicht wäre eine Variationenfolge noch reizvoller gewesen, die weitere Möglichkeiten durchgespielt hätte. 30.8.2020

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Dominikanische Republik Junot Díaz – Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao. ­Roman. 2007. A. d. Amerikan. v. Eva Kemper (dt. EA 2009/TB 2010).

Drei-Generationen-Familiengeschichte, unchronologisch verschachtelt, aus der Domikanischen Republik des brutalen Diktators Trujillo. Um eine seiner Töchter vor dem notorischen Vergewaltiger zu schützen, trotzt der wohlhabende Arzt Abelard Cabral dem Regime und landet für den Rest seines Lebens in einem Foltercamp, während seine Frau und die Mädchen nacheinander gewaltsam umkommen. Seine dritte, außergewöhnlich dunkelhäutige Tochter durchlebt eine grauenhafte Kindheit als Waise, fällt als Teenager einem Gangster-Lover in die Hände, flieht in die USA. Ihre Kinder wachsen in New Jersey auf, Lola widerständige Punkerin, Oscar übergewichtiger Nerd zwischen Comics, Fantasy und Rollenspielen, literarisch produktiv, aber ganz ohne jedes Glück bei den Mädchen. Die Familie scheint verflucht: Jedes Mitglied wird irgendwann schwerst misshandelt und stirbt auf brutale Weise. Ob Lolas Tochter den Fukú brechen kann? Das hofft jedenfalls der Erzähler Yunior, Exgeliebter Lolas und Exuniwohnheimkamerad Oscars, nachdem dieser ewig glücklose außenseiterische Schwärmer sich zum Schluss bei einem Heimatbesuch in der Karibik in eine Hure verknallt hat und im Auftrag von deren Geliebtem zuerst zusammengeschlagen, dann, provokativ aus Amerika zurückgekehrt, im Zuckerrohrfeld ermordet wird. Ein letzter Brief deutet an, dass Oscar vor seinem Tod noch die Liebe kennengelernt hat. Souverän komponiert, hochtragikomisch, magisch, mündlich-ironisch erzählt mit karibischem Spanisch und etwas too much Marvel und Tolkien. 27.12.2019

79

Dschibuti Abdourahman A. Waberi – In den Vereinigten Staaten von Afrika. Roman. 2006. A. d. Frz. übers. v. Katja Meintel. (dt. EA 2007).

Die globalen Rangverhältnisse sind umgekehrt. Afrika ist der Kontinent, von dem Wirtschaftsmacht, Intellektualität und Prestige ausgehen. Hauptstadt seiner Vereinigten Staaten ist die eritreische Metropole. Wann genau, wird nicht festgelegt, auch nicht, ob es sich um eine Alternativgeschichte oder eine Utopie nach geänderten Bedingungen handelt; kulturell und technisch scheint man in einer diffusen Andersgegenwart. Die Global Players der Ökonomie kommen jedenfalls aus Afrika und heißen Nka statt Ikea usw. So weit eine nette Satire, augenöffnend, wo auch Know-how, humanitäre Hilfe, Kunst, Kultur aus Afrika nach Europa und Amerika exportiert werden. Die Story in der Du-Form: Maya, weiße Adoptivtochter eines Arztes und seiner sterbenden Frau, ist in der Normandie geboren und begibt sich auf der Suche nach ihren Wurzeln in das heruntergekommene – oder nie besser entwickelte? – Paris, trifft ihre primitive leibliche Mutter und kehrt desillusioniert eiligst nach Asmara zurück, wo auf sie Liebe und Karriere als Künstlerin warten. Vermutlich wäre eine banale Umkehrphantasie schematisch-kontraproduktiv geworden. Jedenfalls war das Elend der ausgebeuteten oder zurückgewiesenen europäischen Flüchtlinge kaum viel weiter narrativ auszubauen. Dennoch schwankt das Buch zwischen diversen Konzepten und entzieht sich zwar dem Dilemma dank des halbprivaten Blicks auf eine Einzelfigur recht ordentlich, opfert aber die Anschaulichkeit eines an sich maximal anschaulichen Themas. 17.5.2020

80

Ecuador Jorge Icaza – Caballero in geborgtem Frack. 1958. A. d. Span. übers. v. Horst Teweleit (dt. EA TB 1968).

Luis Alfonso Romero y Flores – der Name ist Programm, denn der junge Mann ist ein Chulla, Einwohner von Ecuadors Hauptstadt Quito, der, arm, aber ehrgeizig, bequemen Gewissens, als Sohn eines auf Ehre bauenden weißen Hispanos und einer warmherzigen Indiomutter um jeden Preis etwas aus seinem Leben machen will. Dazu stapelt er hoch, wo immer es geht, bei den Frauen, bei den Konkurrenten, bei den Mächtig-Reichen. Doch alles geht schief: Er bleibt bei der verheirateten Rosario hängen, schwängert sie und wird, als er auf seinem Gelegenheitsposten beim Finanzamt unbestechlich gegen einflussreiche Steuerschuldner vorgeht, verleumdet und von der Polizei verfolgt. Bis hierhin liest sich die Geschichte als Sozialsatire mit Picaroeinschlag. Aber die zweite Hälfte schildert ausführlich Luis’ Flucht und seinen verzweifelten Versuch, zu seiner in den Wehen liegenden Freundin zu gelangen, ohne verhaftet zu werden. Letzteres gelingt mit Hilfe der Proletarier seines Viertels, doch Rosario stirbt und hinterlässt ihm einen Sohn. Dieser lange, dramatische Schluss ist weder komisch noch romantisch, sondern nunmehr drastisch naturalistisch und vielfach sogar expressionistisch. Auffälligste Stilmittel sind innerer Monolog und gehäufte Gesprächsfetzen, die Meinung der Masse, Wortmeldungen der Nachbarn oder zuvor auch die Schmähungen der feinen Leute und der Kollegen repräsentierend. Buchstäblich nicht mehr von heute, aber nationaltypisch. 12.4.2020

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El Salvador Jorge Galán – Mein dunkles Herz. Roman. 2013. A. d. Span. v. Angelica Ammar (dt. EA TB 2017).

Der Magische Realismus kommt in El Salvador an, in Gestalt Magdalenas, der Großmutter des Erzählers, die in ihrem langen Leben einige wenige Wahrträume hat und unfreiwillig Böses herbeiwünschen kann. Nach dem Tod ihres geliebten Mannes lebt sie in einem zurückgelegenen Zimmer, erzählt, erlischt am Ende körperlos. Vicente seinerseits war Kind eines Greises, der bei seiner Zeugung starb, und schien ihr im Traum vorherbestimmt. Der attraktiven jungen Frau trat der Nachbar zu nahe; so sorgte sie dafür, dass er mit seinen Töchtern, ihren Freundinnen, nach Europa auswanderte. Einer Verrückten, ihren Brüdern, die ihr schadeten, fügte sie ungeplant schwere Strafen zu. Das große Familienglück endete wie vorausgeahnt, als einem Massaker an Studenten in der Hauptstadt auch ihre sämtlichen Kinder zum Opfer fielen; der Gedanke, das ganze Buch diene der Aufbewahrung der Landesgeschichte unter der Militärjunta der 1980er, drängt sich auf, doch müssen dabei dominante Konzepte von Schicksal, Genealogie und übersinnlichen Fähigkeiten einiger Figuren analytische Erinnerungsarbeit ersetzen. Menschen wandern, gesteuert vom Instinkt oder vom Nordwind, Männer sind Männer, Frauen schön und stark. Magdalena bleibt die ewige Bewohnerin des immerwährenden lateinamerikanischen Geisterhauses. Ein naturhafter, emotionaler Roman, in tiefen, tiefen Spuren wandelnd, vielleicht etwas schemenhaft, etwas kurz – das Generationenmodell trägt am Schluss nicht mehr weiter. 2.10.2019

82

England Tom McCarthy – 8 ½ Millionen. Roman. 2006. A. d. Engl. v. Astrid Sommer (dt. EA TB 2009).

Jüngerer Mann aus Brixton erhält nach nicht näher beschriebenem Unfall mit Koma und langer Rehabilitation phantastische Millionenabfindung. Muss Bewegungen neu lernen, fällt wiederholt in Zustände völliger Unentschiedenheit, sucht natürliches Funktionieren des Alltagslebens. Nach einem Déjà-vu-Moment, zu dem Fensterausblick, Badezimmerwand, Klavierspiel und Leberbratgeruch aus Nachbarwohnungen gehören, verwendet er sein neues Vermögen, um diesen Augenblick gefühlter Wohnauthentizität wiederzubeleben. Kauft, renoviert, bezieht Mehrfamilienhaus, engagiert Personal inklusive eines superkompetenten Organisators, lässt den Moment endlos wiederholen. Die undeutliche Idee ist eine Art immortalisierender Zeitdehnung. Dann weitere beliebige, leicht surreale Erlebnisse, alle in 1:1-Entsprechung und im Modellbau aufwendigem re-enacting unterzogen: Autowerkstattepisode, Mord auf offener Straße, Banküberfall. Als Letzterer unter Realbedingungen gespielt wird, misslingt der Plan: Menschen sterben, der schuldige Protagonist startet mit seinem Famulus im Privatflugzeug und endet in einer Schleife aus eigenem Fluchtimpuls und polizeilicher Rückflugorder. − Der unspezifizierte Auslöser eines langen Traumas, Erinnerungsbruchstücke, Allmachtsphantasien, Faszination durch blutige Todesszenarien, die unablässige Suche nach Beglaubigungsdetails wirklichen Lebens, das Leitmotiv des nur von ihm wahrgenommenen Korditgeruchs lassen vermuten, dass die Mitteilungen in der 1. Person unzuverlässig sind und der Erzähler, vielleicht ein Verbrecher, auf den ein Anschlag verübt oder der bei einem Überfall angeschossen wurde, in Wahrheit weiterhin im Koma liegt und nun in seinen Tod entschwebt. 14.12.2020 83

Eritrea Abu Bakr Khaal – Die Titanic auf afrikanische Art. Roman. 2008. A. d. Arab. übertr. u. ins Dt. gesetzt v. Ishraga Mustafa Hamid u. Kurt F. Svatek (dt. EA TB 2018).

Menschen aus Eritrea emigrieren und beschließen alternativlos, nach Europa zu gelangen. Sie bleiben nicht in den Nachbarländern, sie suchen nach der besten Route, um über das Mittelmeer nach Lampedusa zu kommen. Sie bezahlen Schlepper und begegnen dem Risiko der Überfahrt in teilweise überladenen, teilweise seeuntüchtigen Booten mit einer Mischung aus Angst, Phlegma und dem im Titel zur Schau getragenen Sarkasmus. Der Erzähler berichtet von einer Wüstenstrecke, die mehrere Mitreisende das Leben kostet, von einem klandestinen Aufenthalt in Libyen, der sich als Zwischenstation vor der Weiterreise nach Tunesien entpuppt. Die Migranten stammen aus verschiedenen Ländern, helfen einander, zerstreuen sich wieder, kommen durch, kommen nicht durch. Manche Schicksale werden nicht innerhalb der Erzählkonstruktion, sondern gleichsam aus zweiter Hand referiert. Von Flucht ist gar nicht die Rede, auch nicht von Motiven, vielmehr von einem „Migrationsbazillus“. Natürlich ist dies ein trauriges Buch über Menschen in schrecklichen Situationen, doch wirkt es literarisch eher improvisiert, unfertig, und zwar nicht aus souveräner Entscheidung wie in manchen metafiktionalen Erwartungstäuschungen. Für einen Roman ist der mit diversen Literaturanleihen versetzte Text sehr kurz. Würde ein geschlosseneres, kunstfertigeres Werk authentischer wirken? Mindestens würde es distinkter im Gedächtnis bleiben als diese Streiflichter, die das Schicksal der namenlosen angeschwemmten Toten nicht verewigen können. 28.2.2021

84

Estland Indrek Hargla – Apotheker Melchior und das Rätsel der Olai­ kirche. Ein Hansekrimi. 2010. A. d. Estn. übers. v. Uta Kührt (dt. EA TB 2014).

Ein historischer Kriminalroman auf Standardniveau, etwas gemindert durch leicht redundante und, da die Handlung 1409 in Reval spielt, erläuternde, deshalb aber auch etwas durchsichtige Erzählweise. Der Fall selbst ist, wenngleich kaum originell, weitgehend sauber konstruiert; allenfalls sind Details wie die eher assoziativen Schachparallelen weit hergeholt, und einige Anachronismen waren in Kauf zu nehmen. Es handelt sich um den 4. Fall des intellektuell überlegenen Stadtapothekers, der diesmal den Mord an einem Gebietiger des Deutschen Ritterordens und in der Folge drei weitere Morde aufklärt. Dabei fällt das hellste Licht auf die Frühgeschichte der heutigen estnischen Hauptstadt, die Stadtanlage, Kirchen und Klöster, die deutsche Ostexpansion, den Kampf der Hanse gegen das Seeräuberunwesen. Im Feld estnischer Unterhaltungsliteratur erfüllt der Roman seinen Zweck; als Dokument autonomer Literaturproduktion trägt er zurückhaltend zur Reflexion natio­ naler Identität bei, insofern auch die einheimische Bevölkerung, obschon nur durch Nebenfiguren, repräsentiert wird. Der Verfasser rekapituliert mit einiger Sorgfalt Lokalhistorie und deutsche Kulturgeschichte. Dass dabei, wie in jedem Mittelalterkrimi nach Eco, eine markante Resonanz des Musters unvermeidlich ist, leuchtet wohl ein, denn das soziale Gefüge setzte sich nun einmal aus einem städtischen und einem klerikalen Herrschaftsbereich zusammen, wobei hier noch die Ordensburg als dritter Ort und Geschehensfaktor hinzukam. Schnell lesbare, informative Unterhaltung. 11.11.2019

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Eswatini Malla Nunn – Ein schöner Ort zu sterben. Kriminalroman. 2008. A. d. Engl. v. Armin Gontermann (dt. EA 2009/TB 2011).

Der Krimi spielt im Südafrika des Jahres 1952 − die Apartheidsgesetzgebung ist auf einem Höhepunkt  – in einer Siedlung nahe Mosambik; geografisch rekonstruktiert, dürfte es sich eher um Swasiland handeln. Der weiße Polizeicaptain Willem Pretorius wurde am Grenzfluss erschossen, und der Kriminalpolizist Emmanuel Cooper, Ex-Weltkriegssoldat, wird alleine aus Johannesburg herbeordert, um den Mord aufzuklären, in einem Milieu, in dem die ethnischen Gruppen einander in einem strikten Regelwerk belauern. Der komplexe Roman sondiert dieses über fünfzig Jahre zurückliegende Gewirr aus Burenreligiosität und Stammesbräuchen, weißer Hegemonie, Gewalt, Überheblichkeit, aber auch Kompromiss und Menschlichkeit, und stellt es vor den Hintergrund politisch motivierter Polizeiarbeit. So muss sich der einsame Detective mit Unterstützung des schwarzen Constable Shabalala der Übergriffe mehrerer brutaler Vertreter des geheimen Security Branch ebenso erwehren wie der bigotten Witwe und der vierschrötigen Söhne des Mordopfers. Der Plot hat viel mit unterdrückter Sexualität zu tun, leuchtet hinter die Fassade der scheinbar rigiden Rassentrennung, gibt den Figuren Vorgeschichten, die, wie im Falle des jüdischen Emigranten oder des Ermittlers selbst, über die Ränder des Buches hinauszugreifen scheinen. Trotz oder wegen der weiten Distanzen wirken die Figuren aber wie eingesperrt. Der Titel ist wörtlich gemeint: Die grandiose südafrikanische Landschaft rettet das Setting vor der Tristesse europäischer Kleinstadtkrimis. 3.4.2020

86

Färöer Heðin Brú – Vater und Sohn unterwegs. Roman. 1940. A. d. Färö­ ischen v. Richard Kölbl (dt. EA 1966/dt. NA 2015/TB 2017).

Von historischer Bedeutung für die färöische Literatur, schildert der Roman sparsam die allmähliche Ablösung der älteren, traditionell lebenden Generation in den 1930er Jahren. Ketil und seine Frau leben unter ärmlichen Bedingungen in einem mit Grassoden gedeckten Bauernhaus, fernab größerer Siedlungen. Ihre verheirateten Söhne wohnen in der Nähe und betrachten die Bescheidenheit der Eltern mit Ironie. Nur der jüngste, geistesschwache, ängstliche, inzwischen aber auch triebhafte Sohn Kálvur, der mit der Tochter des Nachbarn schläft, des frömmelnden Schnorrers Klávus, ist noch geblieben. Die Bewohner des kargen, stürmischen europäischen Außenpostens scheinen gesteuert von Gebräuchen und protestantischer Religiosität, von Hilfsbereitschaft, gepaart mit Neid und Neugier, misstrauen einander aber im Ringen um den Lebensunterhalt, den minimale Landwirtschaft, Fischerei und Treibholzsammeln abwerfen. Der lakonische Text kreist daher monoton, aber humorvoll und anschaulich hauptsächlich um Subsistenzfragen. Das Leben auf Insel und Meer ist fordernd und gefährlich; Verletzungen oder schwere Erkrankungen darf niemand riskieren. Als das Dorf auf großen Grindwalfang geht, sichert sich Ketil einen respektablen Vorrat, gibt aber durch die anteilige Gebühr so viel aus, dass die Familie den Rest des Jahres vergeblich Spar- und Verdienstmöglichkeiten nachjagt und zuletzt, der Ehre gehorchend, die es ihrer Generation verbietet, Schulden zu machen oder mittellos dazustehen, die einzige Kuh verkauft. 1.7.2020

87

Fidji Nalini Singh – Im grausamen Licht der Sonne. Thriller. 2019. A. d. amerikan. Engl. v. Katharina Naumann (dt. EA TB 2020).

Routinierte Spannungsliteratur über eine fiktive Kleinstadt an der wilden Westküste von Neuseelands Südinsel. Die jüngst verwitwete Anahera kehrt nach sechs Jahren in London heim; der vom Leben ramponierte, auf den zweiten Blick attraktive Will ist seit kurzem einziger Dorfcop. Alte Freundinnen sehen sich wieder, zurückgebliebene und weltflüchtige. Alte Geheimnisse lauern, Gewalttaten, Einsamkeit, Ambitionen. Neu ist die allseitige Verliebtheit in die wunderschöne neunzehnjährige Miriama, die einen soliden Verlobten hat, einen heimlichen Lover hatte, und die beim Jogging auf dem Küstenpfad spurlos verschwindet. Das Buch inszeniert hauptsächlich die Aufklärung ihres Verbleibs, schüttet aber auch eine Reihe zeitlich zurückliegender Themen aus: die Untreue von Anas verstorbenem Mann, die ohnmächtige Wut des Polizisten auf einen mörderischen Familiengewalttäter, die Allmachtansprüche der Ortswohlhabenden, bis hin zu den Untaten eines psychopathischen Serienkillers. Das alles ist ein wenig zu schlicht – alle Frauen sind warmherzig oder unterdrückt oder lebensbejahend, jedenfalls aber solidarisch und im Recht, alle Männer Alkoholiker und Schläger oder Vergewaltiger oder Schlimmeres oder mindestens verbissene, egoistische Machos. Na, vielleicht ist das für die Autorin so. Was sie leider gar nicht glaubhaft machen kann, weil sie es überhaupt nicht zeigt: dass die selbstbewusste Maori-Frau Anahera in Europa als erfolgreiche, plattenbespielende Pianistin unter einem Künstlernamen Konzertsäle gefüllt haben soll. 3.8.2020

88

Finnland Sofi Oksanen – Die Sache mit Norma. Roman. 2015. A. d. Finn. v. Stefan Moster (dt. EA 2017/TB 2019).

In Skandinavien blüht die Neugier auf Paranormales in heutiger Umwelt wie in Jordskott, am besten mit Ökobotschaft, in der angelsächsischen Welt die Lust am Absonderlichen im vagen Viktorianismus einer Miss Peregrine, am besten mit viel Respekt für alle, die anders sind. In den Büchern oder als deren Hintergrund gerne Fotos des späten 19 Jahrhunderts. Hier wird so etwas mit einer modernen Räuberpistole um Leihmütter, Kinderverkauf und Haarimport kombiniert: Die dreißigjährige Norma hat über Generationen von dem lange verstorbenen, aber mental fortwirkenden Kuriositätenmodell Eva Hypertrichose ererbt; ihr Kopfhaar wächst zusehends und ist von solcher Qualität, dass es einen einträglichen, geheim gehaltenen Handel erlaubt. Mit ihrem extrem sensiblen Haar verbindet sich die hellseherische Fähigkeit, den Gesundheitszustand und die Psyche anderer zu durchleuchten. Normas Mutter hat Selbstmord begangen, involviert in Machenschaften ihrer Familie, die großformatiges internationales organisiertes Verbrechen in Helsinki als Frisiersalon mit der Spezialität Extensions tarnt. Norma will den scheinbaren Unfall aufklären; sie stößt auf Videoaufzeichnungen und Fotos, während man von ihr nichtexistente Kontaktdaten erpressen will. Offenbar gibt es weitere Tote, vielleicht ein normales Leben mit Mann jenseits des Schlusses. Oder doch nicht? Die Stimmung ist düster, zynisch, medikamentenschwanger. Kein Krimi, keine übernatürliche Märchenvariante. Haar und Fruchtbarkeit und böse Männer, irgendwie so. 30.5.2019

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Frankreich Laurent Binet – Die siebte Sprachfunktion. Roman. 2015. A. d. Frz. v. Kristian Wachinger (dt. EA 2017/TB 2018).

Der Versuch, einen Eco-Roman zu schreiben und dadurch abzusichern, dass Eco selbst auftritt, verspricht mehr, als er hält. 1980: Roland Barthes verunglückt. Der Roman macht daraus einen Kriminalfall um ein Geheimdokument, in dem es darum geht, Jakobsons sechs Sprachfunktionen um so etwas wie unmittelbar wirksame Überredung zu erweitern. Ein robuster Kommissar ermittelt im Auftrag der französischen Regierung, unterstützt von einem blassen Nachwuchssemiotiker, doch das Geheimrezept sichert Mitterrands Wahlsieg. Schauplätze sind Paris, Bologna, Venedig, Neapel und ein fiktiver Kongress an der Cornell University. Natürlich gibt es eine jahrhundertealte Geheimgesellschaft, diesfalls den Logos-Club, in dem irgendwie maskiert, aber doch recht öffentlich Rhetoriker bis zum blutigen Ernst um die Macht wetteifern. Es amüsieren die satirisch überzeichneten Auftritte praktisch aller Poststrukturalisten und sonstiger Intellektuellen. Die Karikaturen sind gelungen, um den Preis der Eindimensionalität, die keinen längeren Roman rechtfertigt: Foucaults Leben scheint nur aus homosexuellen Geschlechtsakten zu bestehen, auch Barthes war hauptsächlich schwul, nur verklemmt, Searle ist ein frustrierter Besserwisser, alles scheint eine Bulgarenmafia zu steuern, und Bernard-Henri Lévy ist der weißbehemdete Adabei. Man fragt sich allerdings, warum niemand der vielen lebenden, authentischen Personen gegen seine teilweise zwielichtige Rolle interveniert hat, beispielsweise Julia Kristeva, der offensichtlich eitel-verrückte Philippe Sollers oder auch Derrida. Die Auflösung enttäuscht. 14.8.2019

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Gabun Janis Otsiemi – Libreville. Ein Kriminalroman aus Gabun. 2013. A. d. Frz. v. Caroline Gutberlet (dt. EA TB 2017).

Ein schmales Buch in mehrfachem Sinn. Der an James Ellroy angelehnte Originaltitel „African Tabloid“ und die darin angelegte Idee, den jeweiligen öffentlichen Kenntnisstatus durch Zeitungsüberschriften einzublenden, funktioniert nicht wirklich, weil es kaum eine Diskrepanz zum Wissensstand von Ermittlern und Lesern gibt; auch kostet dies viel Platz. Die kurze, in Gabuns Hauptstadt Libreville angesiedelte Erzählstrecke selbst verbindet die Suche nach einem Fahrerflüchtigen mit der nach den Mördern eines Journalisten. Zufällig findet man das Auto des Ersteren, zufällig kennt dieser die Täter des Hauptfalles, und schon ist die Sache erledigt. Seitenhiebe auf die durchsichtig umbenannte Politikelite und völlig aus dem Fokus der Narration herausfallende Faktennachträge mögen Europäer informieren, vereiteln aber jede Spannung. Zahlreiche Wiederholungen ziehen die kurze Story, die noch durch die ebenso schlichte Ausforschung eines pädophilen Europäers aufgepolstert wird, zusätzlich in die Länge. Dass die erstaunlich vielen Polizisten der Korruption und Promiskuität frönen und Verhörergebnisse standardmäßig durch massive Misshandlungen erzielen, dass simpelste Befragungen mit vorgehaltener Waffe erfolgen, wird einfach mitgeteilt, doch auch diese Sparsamkeit kreiert kein kritisches Potential. Allenfalls Abkürzungen und Redensarten verleihen dem Text bescheidenes Kolorit. Gerade gegen neuere Noir-Ikonen, die in der Regel für lange, undurchschaubare Plots bekannt sind, fällt der sympathische Ausflug in deren Fahrwasser als unterkomplex ab. 15.11.2019

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Georgien Lasha Bugadze – Der Literaturexpress. Roman. A. d. Georg. v. Nino Haratischwili. 2009 (dt. EA 2016/TB 2018).

Der 28-jährige Georgier Zaza hat für sein einziges Buch, eine Sammlung von zehn Erzählungen, einen Literaturpreis erhalten und wird als Sekundärfolge aus Deutschland zu einer einmonatigen Eisenbahnfahrt durch Europa eingeladen, gemeinsam mit 99 anderen europäischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Der eigenbrötlerische, einsame junge Mann muss nun mit zwei weiteren Georgiern sowie Männern und Frauen, von denen ihn besonders die junge Griechin Helena provoziert, Zugabteile, Hotelzimmer und Leseabende teilen. Zwischen Lissabon und Berlin gehen die Reisenden einander gehörig auf die Nerven, werden auf der Frankfurter Buchmesse frustriert, trinken reichlich, flirten, jedenfalls in ihrer Phantasie, doch literarisch produktiv ist die Fahrt nur für Wenige, etwa den tschetschenischen Sieger des Wettbewerbs, sicher aber kaum für Zaza, jedenfalls nicht, bevor er wieder in Tbilissi ist und einen Roman über die absolvierte Zugreise schreibt. Wenn man dem Sprecher Glauben schenken darf, ist typisch georgisch der Hass auf alles Russische sowie ein tiefsitzender Komplex gegenüber allem Europäischen, den man mit den Nachbarn aus dem Kaukasus teilt. Die Figuren werden schablonenartig skizziert, ihre Texte kaum gezeigt, allenfalls als Tagebuchoder Briefaufzeichnungen, und selbst der Ich-Erzähler erhält kaum Profil, so dass sich der Eindruck bestätigt, hier habe ein Autor nach dem Zufalls­ prinzip eine Chance erhalten und sie nicht genutzt. 17.3.2019

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Ghana Kwei Quartey – Accra. Roman. 2011. A. d. amerikan. Engl. v. Sabine Schilasky (dt. EA TB 2012).

Als Krimi nicht besonders, aber auch nicht schlecht, anschaulich als Schilderung der ghanaischen Hauptstadt von ihrer abschreckenden Seite: Ein sympathischer, kollegialer Kriminalpolizist mit weitgehend intaktem Familienleben, aber nicht ohne Probleme, ermittelt gegen einen Serienkiller, der Straßenkinder tötet, verstümmelt und an den schmutzigsten, elendesten Orten der Millionenstadt wegwirft. Eine Handvoll Verdächtiger bietet Anlass, Charaktere und Milieus zu entwerfen. Was aber im Gedächtnis haftet, sind das viele Autofahren, die Namen der immer gleichen Hauptstraßen, Kwame Nkrumah Avenue, Tudu Road, und der Kreisverkehre, der Märkte und Industrieruinen, öffentlichen Latrinen und Wohnslums, an denen sich das Leben der Lastträger, Drogenhändler und Prostituierten abspielt, auch die über Afrika hinaus berüchtigten Schauplätze wie die Elektronikschrottdeponie von Agbogbloshie und die Korle-Lagune. Zahlreiche elternlose Kinder aus dem Hinterland suchen in der Metropole nach Verdienstmöglichkeiten. Polizei, Behörden und Hilfsorganisationen verheddern sich im Versuch, dieses Problem irgendwie in den Griff zu bekommen. Man erlebt die Armut großer Bevölkerungsteile, die Isolation der wenigen Wohlhabenden, die unvermeidliche Korruption, das Jonglieren mit mehreren Sprachen, die technische Rückständigkeit weiter Teile der Stadt bei gleichzeitig allgegenwärtiger Handy-Kommunikation. Die intensiven Dialoganteile, lebensnah, wenngleich wenig originell, und die Standards – sachferner Chef, ehrgeiziger Assistent, hilfsbereiter Forensiker – bewirken, dass der Roman sich zum Drehbuch eines gutklassigen Fernsehkrimis eignen würde. 18.10.2019 93

Grenada Tobias S. Buckell – Kristallregen. 2006. A. d. amerikan. Engl. v. Axel Plantiko (dt. EA TB 2007).

Auf dem fernen, offenbar erdähnlich hergerichteten Planeten Nanagada leben die Nachkommen ausgewanderter Menschen, passiv begleitet von den außerirdischen Loa, in Feindschaft mit den Aztecanern – der Name ist kein Zufall, denn sie tragen Federrüstungen, bauen Kultpyramiden, und ihre Priester reißen den gefangenen Menschenopfern am liebsten das Herz heraus –, die die grauenhaften, ebenfalls extraterrestrischen Teotl als Götter verehren und gerade die menschlichen Siedlungen verwüsten und das stark befestigte Capitol City belagern. Vor langer Zeit sind die Vorfahren der Bewohner durch ein Spiralloch gekommen; nun ist die Hochtechnologie vergessen, man nutzt Dampfwagen und gasbetriebene Luftschiffe, lebt von Fischfang und beobachtet die vermeintlich unüberwindliche, von den Barbaren aber heimlich untertunnelte Hochgebirgsgrenze. Der einstige Kapitän John deBrun, der durch die Invasion seine Frau verliert, während sein Sohn als Gast friedlicher Inselbewohner überlebt, bewahrt die verschüttete Erinnerung an ein rettendes Superraumschiff, das im Norden des Planeten verborgen ist, findet es durch eine Polarexpedition, begleitet von seinem früheren, ebenfalls cyborgartigen Kampfpartner Pepper und dem Verräter Oaxyctl, und bringt es gerade noch rechtzeitig nach Süden, um die totale Niederlage zu verhindern. Der Autor verleugnet seine Herkunft nicht; die guten Menschen sind dunkelhäutige Nachfahren von Karibikbewohnern. Das Ganze ist Steampunk-Science-Fiction mit blutspritzenden Gewaltorgien und Dialogen in gewolltem Tarzan-Jane-Pidgin. 23.10.2019

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Griechenland Ioanna Karystiani – Die Augen des Meeres. Roman. 2006. A. d. Griech. v. Michaela Prinzinger (dt. EA 2009/TB 2011).

Mitsos Avgoustis, 75-jährig, ist seit 58  Jahren Seemann und auch seit Jahrzehnten schon Kapitän eines griechischen Frachtschiffes, das alle Meere befahren hat, inzwischen aber hauptsächlich im Pazifischen und Indischen Ozean operiert. Er kennt sein Schiff auswendig und hat es seit zwölf Jahren nicht mehr verlassen. Früher besuchte er seine Familie in Piräus oder seine Geliebte, die Friseurin Litsa in Elefsina, doch inzwischen meidet er, mit Ausnahme gelegentlicher Funktelefonate, den Kontakt zu seiner Frau oder den drei erwachsenen Kindern. Die Reederei will ihn ablösen, doch Avgoustis ist stets schneller und beschafft sich jedesmal einen neuen Frachtauftrag. Als die frustrierte Ehefrau Flora nach Japan fliegt und ihn stellt, löst sich das Rätsel: Der Kapitän ist erblindet, was er seiner Besatzung durch Routine, Schroffheit und Distanz verheimlicht. Noch weigert er sich, das Kommando abzugeben, bis sein skeptischer Sohn Antonis, den er nur als Kind kennt, inkognito anheuert und sein Vertrauen gewinnt. Auf die Wiedererkennung folgen Versöhnung, Heimreise, Regelung der Familienverhältnisse inklusive Auflösung der nur noch papierenen Ehe, scheiternde Augenoperation und ein mythisches Wiederfinden der gealterten, schlichten, aber lebensbejahenden Geliebten. Das klingt sentimental und ist es nicht, dank der dichten und technisch bestens instruierten Seefahrtsschilderung und des traditionellen, von der Erzählstimme übernommenen nautischen Lakonismus. 7.11.2019

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Grönland Niviaq Korneliussen – Nuuk #ohneFilter. Roman. 2014. A. d. Dän. v. Giannina Spinty-Mossin u. Katja Langmaier (dt. EA TB 2016).

Eigentlich ein ganz normaler Roman um junge Menschen mit Problemen und zu viel Alkohol. Auch, dass die Hauptfiguren, vier junge Frauen und ein junger Mann, alle ihre Homosexualität entdecken, sie emphatisch zelebrieren oder aggressiv bekämpfen oder einfach an Liebeskummer leiden, ist heute kaum exzeptionell. Besonders ist das Buch – aber wäre das nicht eine merkwürdige Spekulation auf einen exotisierenden Leserblick? – allenfalls, weil es in Nuuk spielt, dem Hauptort Grönlands. Der Eindruck: Jugendliche verbringen ihre Zeit hauptsächlich mit Trinken, Afterparty, Hangover. Ortsbewegungen zwischen Treffpunkten und Wohnblocks finden in Taxis statt. Die Credibility ist enorm, weil die Umgangssprache abgefilmt wird, jeweils die Perspektive einer Figur verfolgend, nicht narrativ, sondern durch Einblick in Aufzeichnungen, Bewusstseinsströme, gerne auch digitale Konversationen. Realistischerweise trennt sich denn auch ein lesbisches Paar, weil die betrogene Freundin eine Textnachricht liest, die nicht für sie bestimmt war. Regelrecht komponiert, gerahmt von einem gelingenden Beziehungswechsel, glaubwürdig, weil dieselben Szenen mehrfach aus verschiedener Sicht berichtet werden, mit Abweichungen oder identischem Wortlaut. Hingegen ist der Stil der fünf zu homogen, stets mit viel Englisch durchmischt, so dass man die Monologe und Dialoge doch als Äußerungen im Duktus der empirischen Verfasserin liest. Ausnahme: Inuk, der sich pathetisch dänen- und schwulenfeindlich aufspielt und dadurch natürlich verrät. 27.4.2020

96

Guatemala Eduardo Halfon – Der polnische Boxer. Roman in zehn Runden. 2008/2010. A. d. Span. v. Peter Kultzen u. Luis Ruby (dt. EA 2014/TB 2016).

Der deutsche Untertitel suggeriert eine geschlossene Komposition, doch bilden die zehn Erzählungen kein Ganzes, geschweige denn einen Roman. Eher eine streckenweise gelungene, aber auch eitle und partiell nur witzig oder erotisch gewollte Buchsynthese aus Semifiktion, verbunden durch das Ich Eduardo Halfon, einen jüdischen Guatemalteken, der sich im längsten Handlungsstrang auf die vergebliche Suche nach einem serbischen „Zigeunerpianisten“ begibt und dabei eine immer abgründigere Reise ins dunkle Geheimnis erlebt. Dieses Kapitel ist lesenswert, weil der nur Spanisch und Englisch sprechende Mann aus Übersee im bedrückten, bedrückenden, winterlichen Belgrad unter lauter serbisch sprechenden Fremden, an die er nur vage empfohlen ist, in immer entferntere Stadtviertel gerät, sich von Romakindern und rätselhaften Halbweltfiguren, autochthonen Neonazis und radikal fremden Romamusikern fasziniert und bedroht fühlt, aber seinem Instinkt bis zum Opfer des letzten Geldscheins und der letzten Zigarette weiterfolgt. Ansonsten Episoden aus dem Alltag eines Literaturwissenschaftlers. Die Stories enden meist offen; sie respondieren einander sparsam, durch Stichwortwiederholungen eher als durch echte unterirdische Verbindungsgänge. Leitmotiv ist die sich als wenig verlässlich herausstellende Anekdote des Großvaters über einen polnischen Boxer, der ihm geholfen habe, in Auschwitz zu überleben. Als der alte Auswanderer in Mittelamerika gestorben ist, wird der Erzähler im Schlusssatz seine Kippa in einen Mülleimer werfen. 29.11.2019

97

Guinea Tierno Monénembo – Cinema. 1997. A. d. Frz. v. Karin Boden u. Monique Lütgens (dt. EA TB 1999).

Binguel alias „Der Mann von der Küste“, ein schmächtiger Halbstarker, der in der Epoche der beginnenden Unabhängigkeit Guineas heranwächst, berichtet in verschachtelter Struktur – abwechselnd die spannende Gegenwartsepisode und diese motivierende Reminiszenzen weitertreibend  – von seinem Leben zwischen Zeittotschlagen, Streichespielen, ernsthafter, gelegentlich aus politischen Spannungen erwachsender tödlicher Gewalt, Schuleschwänzen und Kleinkriminalität. Binguel hat die übliche Patchwork-Familie mit zwei Müttern und viel Chaos. Sein Vorbild, Mentor und Quälgeist ist der unbestrittene Anführer der Ortsdesperados, Benté, genannt „Oklahoma Kid“. Damit ist offensichtlich, dass man in der Phantasie die Filme verkörpert, die man im improvisierten Dorfkino immer wieder anschaut. Dieser Trick, die sterbensöde Wirklichkeit der guineischen Provinz um 1960 durch die Selbstinszenierung im Kopfkino der Jugendlichen zu veranschaulichen, welche sich in ein gottverlassenes Westerndorf mit Banditen, Sheriff und Saloon hinüberträumen, funktioniert ausgezeichnet und erspart die häufige, leicht peinliche Draufsicht auf Afrika für Europäer. Die punktuelle Handlung, die erst im Schlussatz mit einer Überraschung endet, besteht denn auch in einem Showdown und der Antwort auf die Frage, wen der Erzähler, der zu Beginn bewaffnet auf einem Fahnenmast lauert, nachdem er sich mit allen angelegt, bei allen dabeigesessen, allen etwas vorgetrunken, den Mädchen imponiert, die Erwachsenen genervt, aber bei den Halbwüchsigen allmählich etwas Straßenrespekt erworben hat, erschießt. 26.7.2020

98

Guinea-Bissau Abdulai Sila – Zwei Schüsse und ein Lachen. 2013. A. d. Portugies. übers. v. Renate Heß (dt. EA TB 2021).

Politischer Dreiakter, irgendwo in Afrika: Der Warlord Amambarka beauftragt drei Killer, einen Widersacher als Verräter zu töten, mit zwei Schüssen in die Augen. Doch die Anschläge misslingen, weil den Schergen die Motivation fehlt; grausame Dilettanten machen sich in die Hosen. Der überlebende, moralisch integre Reformer Kamala Djonko will das Land mit Hilfe eines unter ihm agierenden Triumvirats regieren; dazu müssen die gängigen Missbräuche bekämpft werden. Als Kilin, einer der drei, das eingegangene Keuschheitsgelübde – es soll eine einschränkungslose Pflichtbindung garantieren – bricht und Pläne schmiedet, den Staatschef durch seine eigene Geliebte Sonaa zu korrumpieren, um sich danach selbst hochzuputschen, wird er von seinen Bezugspersonen, die allesamt Opfer seiner Betrügereien sind, in einer Verkleidungsintrige entlarvt. Das Ganze mündet in eine versöhnende Besserungsszene mit befreiendem Lachen. – Lehrstücke wirken immer etwas aus der Zeit gefallen. Sie verfahren schematisch, typisieren, sind oft pathetisch, manchmal überexplizit. Letzteres fehlt hier: Man versteht, wenn man die nationalen Verhältnisse kennt. Auch Dialoge mit langen Redebeiträgen kennzeichnen die didaktische Schaubühne; in den politischen Äußerungen wirkt das sprachrohrmäßig, in den privaten Gesprächen naturalistisch. Kolloquiales Vokabular und indigene Redensarten machen die Gespräche anschaulich. Das Ganze reduziert, mit sparsamsten Schauplatzbeschreibungen. Der Schlussakt stellt seine Theatralisierung geradezu aus; in Guinea-Bissau ist die moralische Anstalt geöffnet. 26.5.2021

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Guyana Pauline Melville – Der Bauchredner. Roman. 1997. A. d. Engl. v. Leonie v. Reppert-Bismarck (dt. EA 1998/TB 2000).

Ein formal fast traditioneller, nach Kundenwunsch exotisch-erotischer Roman aus dem tropischen Guyana, in dessen Mittelpunkt die Nachkommen des britischen Siedlers McKinnon stehen, der im frühen 20. Jahrhundert im hintersten Winkel der Savanne mit zwei indigenen Frauen eine Großfamilie gründet, dem Einspruch eines später auftauchenden, hartnäckigen, final scheiternden Missionars zum Trotz. Die Vorgeschichte ist eingebettet in die lange inzestuöse Lovestory des Geschwisterpaars Danny und Beatrice und vor allem in die gegenwartsnähere Affäre des späteren Nachkommen Chofy mit der jüdischen Literaturwissenschaftlerin Rosa, die Evelyn Waugh nachforscht. Die ethnologische Anschauung ist exzellent und dicht, die atmosphärische Beschreibung des kaum kolonisierten Hinterlands mit Dschungel und verstreuten Siedlungen der Indigenen wie auch die der seltsam leeren Hauptstadt Georgetown nacherlebbar, der Stil jedoch unausgewogen, die Struktur unvollkommen. Teilweise werden erkennbar Anekdoten lose aneinandergehakt, und der titelgebende äußere Rahmen eines halbanonymen Erzählsubjekts ist ebenso überflüssig wie misslungen. Die selbstverständliche kolonialismuskritische Perspektive ist unaufdringlich, aber plausibel durchgehalten. Daneben lassen standardisierte Erwartungen hinter jeder Ecke die Tricks des Magischen Realismus vermuten; indes: Bei allem Hörensagen, allem Stammesaberglauben, aller dominanten Mythologie und allen genealogischen Verschwommenheiten kann von Magie kaum die Rede sein. Dies schützt das Buch vor Konkurrenzen, die es nicht bestehen kann, behält ihm aber auch deren Zauber vor. 7.12.2020

100

Haiti Gary Victor – Schweinezeiten. Kriminalroman. 2009. Übers. v. Peter Trier. (dt. EA 2013/TB 2016).

Haitianischer Polizeiinspektor entreißt Pflegetochter Organhandelssekte. Müll, Hitze, Schweiß, Gestank, Alkohol. Viel Blut fließt. Port-au-Prince muss eine grauenhaft hässliche Stadt sein. Inspektor Azémar schielt, hurt, säuft sich durch den kurzen Roman. Krimihandlung ultradünn, Lücken werden großzügig durch Vergessen, Erinnern, Nichtbeachten, Nichtwissen, Umentscheiden oder spontane Fähigkeiten motiviert. Alle sind korrupt, extrem korrupt oder irrsinnig korrupt. Die Drogenhändler sind die Guten, weil sie einen vor den Organhändlern retten. Wer Spanisch spricht, ist Ausländer und böse, aber Amerikaner sind die Schlimmsten. Den Showdown rettet ein Kind durch einen Kunstschuss, nachdem ihm kurz vorher grundlos eine Waffe erklärt wurde; man kann daran fühlen. Unterkomplex, aber atmosphärisch nachwirkend: Leseeindruck wie nach schwerem Saufgelage in zugemüllter Sauna. Die anderen Saunagäste sind gewalttätige mutierte Voodoopriester oder noch skrupellosere amerikanische Sektennonnen. Was hat es mit den Schweinen auf sich? Sie dekorieren die Müllhalden abseits der verstopften Straßen, versehen fleißigen Metapherndienst, wo immer Kritik an den Zuständen anliegt, und ein früherer Freund des Protagonisten, zum Bösen übergelaufen, wird in ein Schwein verwandelt. Kein Wunschtraum, keine Vision, sondern Voodoo. Das süße Töchterlein Mireya kann nämlich allerhand und träumt sich die karibische Welt zurecht. Darum erhöht sich am Schluss die beträchtliche Summe der vom einzigen fähigen Bullen Haitis Erschossenen nicht noch weiter. 13.4.2019

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Honduras Ramón Amaya-Amador – Aufstand in Tegucigalpa. 1958. A. d. Span. übers. v. Hans Wiltsch (dt. EA 1962).

Wer sozialistischen Realismus in statu nascendi beobachten will, ist hier bestens bedient: Eine marxistisch-klassenbewusste Stimme erzählt vom Schicksal einfacher Menschen, hauptsächlich Hilfsarbeiter und Handwerker in der honduranischen Hauptstadt Tegucigalpa der 1950er Jahre. Ein demokratischer Aufstand scheitert, aber Beharrlichkeit führt zum Ziel: Bauarbeiter emanzipieren sich und gründen Gewerkschaften. Einigen Hauptfiguren, Maurern, opferbereiten Frauen, einem arbeitsunfähigen Veteranen, einem solidarischen Intellektuellen, stehen negative Projektionsfiguren, allen voran ein korrupter Anwalt und die antikommunistischen Handlanger der nicht mit Namen genannten United Fruit Company gegenüber. Honduras ist seinerzeit eine klassische Bananenrepublik mit der einzigen Alternative eines paternalistischen oder gar diktatorischen Regimes bzw. einer Militärjunta. Aber gerade die rasch wachsende Hauptstadt des kleinen Landes fungiert als Denkbild, schreitet von primitiven Wohnungen, in denen das Proletariat ausgebeutet wird, vorwärts zum modernen, gesunden Bauen, das wie so oft Symbol für den Progress der egalitären Gesellschaft ist. Nicht zufällig in der DDR übersetzt, wirkt der Roman wie ein in Ostdeutschland geschriebenes Buch, das zufällig in Mittelamerika spielt und dessen Anschluss an die sozialistische Internationale vorwegnimmt. Geschrieben als Mischung aus sehr schlichter Schilderung von Handlungen, Beziehungen, Gefühlen und elementaren Dialogen und aus schneller, summarischer, zeitraffender, einordnender Erzählung der Ereignisse und ihrer Deutung. Man meint, einen Wochenschausprecher mit enthusiastischer Stimme zu hören. 6.5.2020 102

Hongkong Chan Ho-Kei – Das Auge von Hongkong. Die sechs Fälle des ­Inspektor Kwan. Kriminalroman. 2014. A. d. Engl. v. Sabine Längsfeld (dt. EA TB 2019).

Hongkong 2013, 2003, 1997, 1989, 1977, 1967, in dieser Reihenfolge. Die Kron­­ kolonie, dann die Sonderverwaltungszone als Schauplatz von Verbrechen, die den genialen, geizigen, eitlen, eigensinnigen, geheimniskrämerischen, pflichtbewussten Superintendent Kwan Chun-dok, der nach einer Ausbildung in Großbritannien zwischen den Sprachen und Kulturen vermitteln kann, in Aktion zeigen, von seinem letzten Fall im Beinahe-Koma, der von seinem früheren Assistenten Sonny Lok zum guten Ende geführt wird, bis zu einer spektakulären Rettungstat des zu Höherem berufenen Streifenpolizisten 46 Jahre zuvor. Die sechs abgeschlossenen Fälle um Triadenkriminalität, Mord, Korruption, Entführung und Terrorismus sind dicht komponiert, spitzfindig, holmesianisch, mit zahlreichen Volten, nicht immer wahrscheinlich, aber voller Twists und natürlich ein vor allem für ortskundige Insider nacherlebbares, anspielungsreiches Tableau von Geschichte, Gesellschaft und Atmosphäre der Sechsmillionen-Weltstadt. Das Buch liest sich wie mit einem virtuellen Stadtplan im Kopf, der zugleich eine diachrone Tiefendimension aufweist. Es demonstriert geradezu Undurchschaubarkeit. Fremdheit der herrschenden, bedrohten, abgelösten, gebliebenen Briten stößt auf Interessenspaltung der kolonisierten, aufständischen, neokapitalistischen, festlandskeptischen Chinesen. Die Pachtuhr läuft nach 99 Jahren ab, doch die undankbare, gehetzte Polizeiarbeit geht unter sich zuspitzenden Bedingungen weiter. Auf gewisse Weise ist der polychrone Metropolenkrimi wohl prophetischer als ohnehin geplant. Die chronologische Umkehr war nicht zwingend erforderlich, kreiert aber mindestens eine zusätzliche Pointe. 16.6.2021 103

Indien Avtar Singh – Nekropolis. Kriminalroman. 2014. A. d. Engl. v. Lutz Kliche (dt. EA 2015/TB 2018).

Zu viele Kriminalromane klären nicht primär einen Fall, sondern signalisieren, dass eine plausible Lösung ohne Belang sei, wenn sie nicht gar eine Aporie stehenlassen. Meist düstert dahinter die diffuse Unübersichtlichkeit der modernen, gerne auch digitalen Welt oder gleich eine diffuse Kritik an den Machtverhältnissen, die präzise Polizeiarbeit verhindern. So auch hier. Indien ist schuld am Tod eines Dealers, eines Entführers im Dienst politischer Intrige und eines jungen Fingerabschneiders, und seine Hauptstadt Delhi im besonderen. Es ermitteln der dort aufgewachsene, attraktive, redliche Kommissar Dayal, sein handfester, notfalls zulangender Assistent Kapoor und die hübsche, noch idealistische Smita. Belobigt, in Wahrheit aber bewacht, behindert und benutzt wird das Team von der alten Ministerin, die die traditionelle bessere Gesellschaft der Metropole nicht erschüttern will, und von der geheimnisvollen, alterslosen Razia, mit der sich der unbestechliche Kriminalbeamte ein erotisches Duell liefert. Die Handlung ist schwach, der Plot ohne Energie konstruiert; dagegen sind die Jahreszeiten in Delhi und das Leben der verschiedenen Schichten in der Moloch-City kraftvoll und auch poetisch eingefangen. Vermutlich soll das Ganze eine Allegorie sein auf die unvergänglichen Mächte der Beharrlichkeit, personifiziert von der Ministerin, von Razia, die nicht von dieser Welt scheint, und von Dayal, der Hoffnung auf Selbsterneuerung aus eigenen Wurzeln. 8.8.2019

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Indonesien Eka Kurniawan – Schönheit ist eine Wunde. Roman. 2002. A. d. Indones. v. Sabine Müller. (dt. EA 2017/TB 2019).

Das übliche magisch-realistische Epos, diesmal in der fiktiven indonesischen Stadt Halimunda zwischen niederländischer Kolonialherrschaft, japanischer Besatzung, Aufständen und Unabhängigkeit bis in die neunziger Jahre. Eigentlich eine einfache Story: Dewi Ayu ist gemischter Abkunft, schön, selbstbewusst. In einem Internierungslager zur Prostitution gezwungen, beschließt sie, ihren Körper fortan gezielt einzusetzen. Sie erobert sich eine Machtposition, bekommt drei wunderschöne Töchter, die sie an drei dominante Männer vergibt, einen Militärchef, einen Stadtgangster, einen Kommunistenguerilla. Von da an ist der Roman eine Kette von Verführungen, Vergewaltigungen, Brutalitäten, die aber angesichts des Übernatürlichen und aufgrund des über Details hinweggehenden summarischen epischen Stils nicht durchweg abstoßen. Die Frauen sind göttinnengleich, die Männer gewalttätig. Beziehungen orientieren sich an der Mythologie, Mord und Totschlag sind an der Tagesordnung, die Toten kehren kurzfristig zurück und ihre Geister begleiten die Lebenden. Die bezaubernde Schönheit der drei jungen Frauen bringt ihnen kein Glück, aber auch die bestürzende Hässlichkeit der vierten Tochter, die ironischerweise den Namen Schönheit trägt, hilft dieser begreiflicherweise nicht. Ein Familienfluch liegt über allem. Nun gut, aber das Buch spielt im 20. Jahrhundert; das Magische, die märchenhaften Übertreibungen und die Triebhaftigkeit der Personen verschenken jedes Erklärungspotential, das man von einem Roman, der die jüngere Geschichte einer Nation spiegelt, erwarten dürfte. 2.8.2019

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Inuit Tanya Tagaq – Eisfuchs. 2018. A. d. Engl. v. Anke Caroline Burger (dt. EA 2020).

Nicht gattungsdefiniertes Buch der Inuit-­Kehlkopfsängerin, zusammengesetzt aus Passagen von Ich-Erzählung und Gedichten, offenbar bis zu einem gewissen Grad autobiografisch. Die Lyrik eine Mischung aus schlichten, aufzählenden Rhythmen und verrätselten, aber dechiffrierbaren Metaphern. Die Narration mit deutlicher Chronologie, also eine Art Coming-of-Age-Roman. Das junge Mädchen wächst in einer kanadischen Inuit-Siedlung mit den üblichen sozialen Problemen auf, deren Umgebung anders strukturiert ist als die durchgehend besiedelten Territorien Europas, eher wie auf einem fremden Planeten aus Meerwasser, Eis, Fels und Minimalvegetation. Die Schulzeit in einem Internat durchlebt die junge Frau als Außenseiterin, die sich zunehmend durch gewalttätige Reaktionen durchsetzt. Sie orientiert sich bewusst auch an ihrer indigenen Sprache und Kultur, deutet ihre Umwelt und ihr Leben immer stärker aus mythologischen Mustern: Arktische Tiere, Eis, Farben, Dunkel, Helligkeit. Dass sie schwanger wird, schreibt sie – im Text – einer ekstatischen Hingabe an das Polarlicht zu, während sie in dem angedeuteten Realleben bei der Großmutter ihres Freundes Unterschlupf findet. Sie gebiert yin-yang-analoge Zwillinge: Dem weiblichen Säugling schreibt sie eine fast göttliche Sanftheit und Versöhnungswirkung zu, dem männlichen Aggressivität und eine Zerstörungskraft, die mehreren Familienmitgliedern tödliche Krankheiten eingetragen habe. Die junge Mutter, deren Psyche durch keine andere Instanz dokumentiert wird, beschließt, den Knaben zu töten. Beide Kinder sterben. 12.10.2020

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Irak Abbas Khider – Die Orangen des Präsidenten. Roman. 2010 (TB 2013).

Wieder einmal ein autobiografischer Flüchtlingstext, der durch Umbenennung von Personen nur formal ein Roman sein soll. Egal: Es geht um Mahdi, der im modernen Babylon im Irak aufwächst, nach dem Tod der Eltern in Nasrijah lebt, Tauben züchtet, auch mit Christen befreundet ist, Abitur macht, zufällig zu einem der zahllosen Opfer von Saddam Husseins Regime wird, dann aber, im ersten Golfkrieg aus dem Gefängnis befreit, vor den Truppen des nicht beseitigten Diktators ins Ausland fliehen muss. Der Erzähler steht für die Mehrheit der irakischen Zivilbevölkerung: überlebend zwischen den Fronten, Schiiten und Sunniten, religiösen Fundamentalisten und säkularen Kommunisten, Freunden und Spitzeln der Baath-Partei, später zwischen den Waffen und Wundertüten der allierten Soldaten. Diese gradlinige Geschichte wird nach einer kurzen Einleitung als Binnentext präsentiert, der achtundneunzig Prozent des Buches umfasst, eine Unbeholfenheit, der die notdürftig auf zwei alternierende Stränge verteilte Handlung ästhetisch zur Seite tritt. Leider. Denn was passiert, ist an sich bedrückend, empörend, repräsentativ. Warum wird Mahdi verhaftet? Weil er mit einem heimlich oppositionell aktiven Freund einen Ausflug in die Wüste macht. Mitgefangen. Mitgefoltert. Zwei Jahre inhaftiert unter unmenschlichen Bedingungen. Verwahrlost, immer hungrig. Was soll der Titel? Zum Geburtstag des Staatschefs erwarten alle Gefangenen eine Amnestie, erhalten aber jeder eine Orange. 28.6.2019

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Iran Mahmud Doulatabadi – Der Colonel. 2009. A. d. Pers. v. Bahman Nirumand (dt. EA 2009/TB 2010).

Der Text nennt sich nicht Roman, obgleich eine Handlung erkennbar und eine komplexe Vorgeschichte rekonstruierbar ist. Er zeichnet auch eher eine Vision, eine Allegorie, ein verbales Gemälde aus Düsterkeit, Blut und Dauerregen. Ein ehemaliger Offizier der Schah-Armee, der Colonel, lebt zur Zeit der revolutionären Unruhen – offenbar zu Beginn der 1980er Jahre – in einer iranischen Kleinstadt. Seine drei Söhne und zwei Töchter repräsentieren verschiedene, einander bekämpfende politische Richtungen der nächsten Generation. Sie werden fast alle getötet; der Vater muss ihren Beerdigungen beiwohnen. Er selbst identifiziert sich mit dem Colonel Mohammad Taghi Pessian, dessen Bild er in seinem Haus mit denen der toten Kinder verehrt. Sein Sohn Amir vegetiert visionär noch im Keller; er musste eines Tages sogar seinen ehemaligen Folterer, einen Geheimdienstoffizier für eine Nacht aufnehmen, als dieser sich vor den Revolutionsgarden in Sicherheit brachte. Der Text besteht aus einer Kette von Erinnerungen des Colonels an wechselnde Machtverhältnisse, militärische Insubordination, die Tötung der eigenen untreuen Ehefrau. Regen, Zigaretten, Misshandlungen, Mord, Wahnsinn. Die eigentliche Handlungszeit ist nur kurz, eine Nacht, in der der alte Mann zur Staatsanwaltschaft abgeholt wird, um die Leiche einer Tochter zu identifizieren und vor dem Morgengrauen zu begraben. Ob er sich am Ende, wie beabsichtigt, tötet, bleibt offen. 23.6.2019

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Irland Donal Ryan – Die Gesichter der Wahrheit. Roman. 2012. A. d. Engl. v. Anna-Nina Kroll (dt. EA 2016/TB 2017).

Eine Story aus Einzelperspektiven erzählen zu lassen, die sich erst allmählich zum Ganzen zusammensetzen, und auch nur bei aufmerksamem, ergänzendem oder wiederholtem Lesen, ist keine ganz seltene, aber meist eine gute Idee. So auch hier: 21  Personen schildern und kommentieren in jeweils etwa zehnseitigen, radikal subjektiven Statements Ereignisse in einem irischen Dorf, das von der Wirtschaftskrise 2008 schwer getroffen ist. Die Männer, meist in der Baubranche, haben Arbeit, Vermögen, soziale Absicherung verloren, werden von ihren Frauen verachtet und unter Druck gesetzt. Die katholische Dorfgemeinschaft ist nur Fassade vor den Folgen harter Erziehung, vor Alkohol, Außenseitermobbing, Männlichkeitswahn, weiblicher Missgunst. Die Arbeiter werden um ihre Versicherung betrogen, ein kleiner Junge von Kindergärtnern entführt. Achse des Plots ist das Paar Bobby und Triona, er ein energischer, beliebter Vorarbeiter, der fälschlich verdächtigt wird, seinen Vater getötet und seine Frau betrogen zu haben, sie eine angefeindete, loyale, liebende Frau, die erst am Ende zu Wort kommt. Fast alle tragen an einer Schuld, viele an einer kaputtgegangenen Beziehung, psychisch gestört, egoistisch oder auch nur weltfremd. Sehr normal: Die Trauer scheint zu überwiegen, aber weil der Zeithorizont nur ein paar Monate umfasst und auch Mut, Treue, sogar Klugheit sichtbar werden, ist vielleicht nicht alles auf Dauer schlecht. 6.10.2019

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Island Guðmundur Andri Thorsson – In den Wind geflüstert. Roman. 2011. A. d. Isländ. v. Tina Flecken. (dt. EA 2014/TB 2018).

Warum das schmale Buch wohl seinen Originaltitel nicht behalten durfte? Dieser nennt das erfundene isländische 1000-Seelen-Dorf Valeyri. In geschlossenem Reigen werden einige Bewohner geschildert, die sich auf ein abendliches Mittsommer-Konzert vorbereiten. Eigentliche Handlungszeit sind die Minuten, als die Chorleiterin Kata auf dem Fahrrad von ihnen gesehen wird. Dahinter öffnen sich jahrzehntealte Lebensgeschichten mit ihrer Durchnittlichkeit, aber auch kleineren, größeren, sogar düsteren Geheimnissen: Ein Mord ist einmal geschehen, ein Suizid, der Priester hat eine suchtkranke Seite, Eheleute haben einander verlassen oder sind unglücklich beisammengeblieben. Vieles versinkt sogar im Nebel, der eine der dominanten Metaphern bildet und geradezu den allwissenden Geist der Erzählung verkörpert. Ein Mann bricht zusammen, eine verheiratete Frau kehrt kurz in ihre Heimat zurück und trifft ihren früheren Freund, für den es nie eine andere gab nach ihr, die fremde junge Frau auf dem Rad scheint vor einem grauenhaften Schicksal geflohen zu sein, der alte Ladeninhaber wird dement und versäumt deshalb, seiner Schwester wie in vielen Jahren zuvor aus dem Weg zu gehen, der naturliebende Dorfpoet stirbt am Ende. Die angedeuteten Beziehungen der Figuren und ihre einzelnen Lebensprobleme erhalten erst als Geflecht einen verständlichen, erzählbaren Zusammenhang. Deshalb ist der leise, bildstarke Roman eines jener Bücher, die man zweimal liest. 3.4.2019

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Israel Ayelet Gundar-Goshen – Lügnerin. Roman. 2017. A. d. Hebr. v. Helene Seidler (dt. EA/TB 2018).

Die siebzehnjährige Nuphar, unscheinbar, gehemmt, wird im Ferienjob als Eisverkäuferin von einem erfolglosen Sänger, der einen schweren Tag hatte, vehement beleidigt. Ihren Weinkrampf missdeuten Zeugen; im Tumult wird der unbeherrschte, aber nicht gewalttätige Mann festgenommen. Das Mädchen ist außerstande, die ihm aufgedrängte Täuschung zurückzunehmen, so dass dem wegen Vergewaltigungsversuchs Beschuldigten eine mehrjährige Gefängnisstrafe droht. Zwei Zeugen kennen die Wahrheit: ein Stadtstreicher, dem die Polizei nicht glaubt, und ein schüchterner junger Mann, der das Mädchen zu Intimitäten erpresst und ihr damit das Eingehen einer ersten Liebesbeziehung erleichtert. Der einsetzende Automatismus der Massenmedien verwandelt die unfreiwillige Lügnerin in ein ikonisches Opfer; öffentliche Tränen machen sie attraktiver; sie steht so im Mittelpunkt, dass die eifersüchtige hübschere Schwester, die das Geheimnis erspürt, die Mutter einbezieht und auf ein Eingeständnis dringt, bis schließlich der Boyfriend die Aufdeckung der Lüge erzwingt. Beinahe erstaunlich, dass der Roman nicht als Verrat an der feministischen Sache verfemt ist, vielleicht, weil Fokus und Innensicht die junge Frau privilegieren, während das männliche Justizopfer keine eigene Stimme hat, vielleicht, weil dieses wenig sympathisch gezeichnet ist und seine Rehabilitierung die Öffentlichkeit schon nicht mehr interessiert. Verwoben mit der Geschichte einer Frau, die fälschlich als Opfer von Theresienstadt auftritt, eine lockere, zuweilen zarte Teenagergeschichte. 23.3.2019

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Italien Wu Ming – Manituana. Roman. 2007. A. d. Ital. v. Klaus-Peter Arnold (dt. EA TB 2018).

Das Postulat ist plausibel: Geschichte aus Verliererperspektive wird spannend, zumal, wenn das herrschende Narrativ der Unabhängigkeitskampf der USA ist. Allerdings gerade bei „Indianern“ nichts Neues. Hier also vom italienischen Autorenkollektiv, im Fahrwasser Coopers, das Schicksal der sechs Irokesen-Nationen, die in den 1770er Jahren mehrheitlich für den britischen König gegen die Rebellen kämpften, deren Seite wiederum bekanntlich auch Washingtons siegreiche Armee vertrat. Im Mittelpunkt der mit europäischen Siedlern verschwägerte historische Häuptling Joseph Brant Thayendanega. Ein Triptychon: Exposition mit Vorgeschichte, alte Loyalitäten, komplexe Konfliktlagen, uneinige Ureinwohner, Machtverlust des zentralen Mohawk-Stamms − Seereise nach England, Königsaudienz und gesellschaftlicher Triumph der Exoten in London − Rückkehr in eine fast aussichtslos gewordene Lage, unidealistische Bruderschaft des ersten Teils zerfällt, halboffener Schluss, den das Geschichtsbuch leicht komplettiert. Überzeugend recherchiert, nach fast allen Regeln der Kunst des historischen Romans gestaltet, Anachronismen und Belehrung minimal, dafür subjektive Visionen von Figuren. Viele kleine Abschnitte, dadurch kurzweilig, auch kurzatmig. Rein referierende Passagen halten sich in Grenzen. Ethnografie wird unauffällig getrieben, Kontext leise nachgetragen, keine erzählte Bundeskunsthalle. Nettes Stilmittel: Sprunghaftes Einblenden in situatives Erleben einer Person, Typ: Das hier das Endspiel, Schiri? Im Gedächtnis bleiben leitmotivische Grausamkeiten, die den Ruf der Irokesen mitbegründeten, wie etwa … Hier sträubt sich die Feder. 22.2.2020

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Jamaika Marlon James – Eine kurze Geschichte von sieben Morden. Roman. 2014. A. d. Engl. v. Guntrud Argo, Robert Brack, Michael Kellner, Stephan Kleiner u. Kristian Lutz (dt. EA TB 2016).

Der ironische Titel verdeckt einen langen, komplexen, meisterhaften Roman über das Jamaika der siebziger und achtziger Jahre und die Ausläufer des dortigen organisierten Verbrechens in Miami und New York. Eine Reihe sich allmählich als Hauptfiguren manifestierender Stimmen: Der nur als „Sänger“ titulierte, als einziger nicht redende Bob Marley, auf den 1976 ein reales Attentat verübt wurde, daran beteiligte Drahtzieher, die ein von Marleys legendärem Konzert besiegeltes Friedensabkommen torpedieren, die vielen kleinen Killer und Dealer, die am narrativen Wegesrand hin und wieder tot aufgefunden werden, ein amerikanischer Musikschriftsteller, der konspirativen Zusammenhängen auf die Spur kommt, eine auch in die USA nicht weit genug geflohene Frau, und buchstäblich zahllose andere. Kunstgriff: Erzählt und erinnert wird ausschließlich im Präsens der ersten Person Singular, bis hin zum Ermordetwerden und zum Totsein. Die Sprache: Idiomatisch, direkt, brutal, explizit, wie auch große Teile der Handlung. Die Zahl der Narko-Tötungsdelikte überschreitet die symbolische Sieben um ein Vielfaches. Komposition, Vielfalt der Tonarten, Credibility des Jargons in den Dialogen machen den immer wieder neu episodisch ansetzenden Buchklotz, Fiktion über ein berühmtes Faktum, zum mentalen Blockbuster, der wenig Raum lässt für Karibikromantik, sei es in den härtesten Ecken von Kingston oder der Bronx. Ein heftiger Trip auf aktuellstem erzählerischem Level. 5.8.2021

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Japan Fumimori Nakamura – Der Dieb. Roman. 2009. A. d. Japan. v. Thomas Eggenberg (dt. EA 2015/TB 2017).

Enttäuschend, gemessen am enormen Hype, wenngleich intelligent angelegt: Ein erfolgreicher Taschendieb in der Metropolitan Area von Tokio gibt einen Einblick in sein von Einsamkeit und Zynismus bestimmtes Leben, in dem nur der Momenterfolg eines geschickten Zugriffs auf Portemonnaie, Brieftasche oder Handy sorgsam ausgespähter Passanten oder U-Bahn-Passagiere Sekunden der Euphorie verspricht. Die erratische Vision eines Turms begleitet den Dieb zuweilen. Das erbeutete Geld erfüllt keinen weiterreichenden Zweck. Aus verstreuten Bemerkungen ist auf einen vielleicht toten Freund, eine frühere Geliebte zu schließen. Solche Geheimnisse, der nur einmal anklingende Name des Diebs, der wachsende Schwierigkeitsgrad der Diebstähle wecken moderates Interesse, auch die Beziehung zu einer Prostituierten, die ein Kind auf Diebeszüge ausschickt, dessen Talent zur Förderung animiert. Über einen früheren Komplizen wird Nishimura in einen Raubmord verwickelt, beauftragt von dem undurchsichtigen, brutalen Yakuza-Gangster Kizaki, welcher ihn nun zu weiteren Verbrechen zwingt, deren terroristischer Sinn nur vage angedeutet wird. Kizakis Lustgewinn besteht in der kompletten Manipulation des Diebs, den er nach der letzten Aufgabe in einer schmutzigen Backalley tötet. Diese Story wird erzählt von dem Dieb selbst, der vielleicht überlebt hat. Die hingetupften Rätselelemente üben Reiz aus, die Anleihen beim Bundesroman des 18. Jahrhunderts sind indes nur Literaturgeschichte. Kein schlechtes, aber ein kleines Buch. 3.5.2019

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Jemen Galal Alahmadi – Die Leere der Vase. Gedichte. 2020. A. d. Arab. v. Leila Chammaa u. Günther Orth (Arab.-Dt. EA 2020).

Fünfzig in mehrere Großabschnitte gegliederte arabische Gedichte des jemenitischen Emigranten, die natürlich auch von den Exilerfahrungen reden, aber verschlüsselt, sehr verschlüsselt, leise, standardisierten Erwartungen an sogenannte Migrationsliteratur entweder ausweichend oder ganz einfach nicht entsprechend. In den meisten der sehr verschieden gestalteten, gerne mit Sequenzierungen und experimentellen Permutationen spielenden Texte spricht, fragt oder träumt ein Ich, das eine Maskierung des realen Erlebens weder verweigert noch mühevoll betreibt. Natürlich handelt es auch von Einsamkeit, Leid, Trauer, Krieg, Liebe, erprobt aber vor allem neugierige Fragen an die Existenz. Dieses Ich ist ein Beobachter der Gegenstände, der unmittelbarsten Umgebung, wo auch immer diese zu lokalisieren wäre: kleinteilige Situationen, Innenraumlagen, das Bett, die Wand, beschreibende Miniaturen. Daneben rekurrierende Tränen; die Texte sprechen viel vom Weinen. Auch vom verlorenen Lachen, doch stiehlt sich durch die teils verrätselten Metaphern nicht selten Optimismus, der freilich kein jugendlicher Aufbruch mehr sein kann. Auch ein Wir kommt vor, doch um Aktionismus, politischen etwa, geht es nicht, wenngleich die bedrohliche, traumatische Realität im Heimatland nicht gänzlich ausgeblendet wird. Einige Widmungen an Angehörige verraten mehr als die halb-hermetischen Texte vom Entstehungszusammenhang. Der implizite Gestus der Non-Compliance mit herkömmlichen Erwartungen, die den in Berlin lebenden Autor wieder verrechenbar machen könnten, fällt individualisierend auf. 25.6.2021

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Jordanien Fadia Faqir – Wie Säulen aus Salz. Roman. 1996. A. d. Engl. v. Rita Seuß u. Robert A. Weiß (dt. EA 1997/TB 2003).

Die triste Geschichte zweier Frauen in der Epoche der Staatwerdung Jordaniens: Maha, Tochter eines Witwers in einem Beduinendorf am Toten Meer, heiratet aus Liebe einen Widerstandskämpfer, der von britischen Soldaten getötet wird, und verweigert eine weitere Bindung. Ihr Bruder sucht die Protektion der Europäer, unterdrückt und misshandelt seine Schwester. Haniyyeh aus Amman, in einen jungen Mann verliebt, wird zur Ehe mit einem älteren Schlachthofarbeiter gezwungen, dem sie acht Söhne gebiert, bevor er sie zugunsten einer Zweitfrau verstößt. Beide Frauen wehren sich, beide werden in ein Irrenhaus gesperrt, wo sie von einheimischem und kolonialem Personal auf erniedrigende Weise therapiert werden. Da beide einander abwechselnd ihre Vorgeschichten erzählen, ist die Perspektive weitgehend bei den Frauen, die keine Chance haben, der überkommenen Welt aus männlicher Gewalt und weiblicher Rechtlosigkeit zu entkommen. Eine zweite, männliche Sichtweise ist diesem Diskurs zur Seite gestellt, nicht als Kommentar oder Korrektiv, sondern als traditioneller arabischer Erzählmodus: die Stimme eines fahrenden Geschichtenerzählers, der insbesondere die Figur Mahas ins Hexenhafte verschiebt und sie in seinem intermittierenden Fortsetzungsmärchen als zauberkräftige Dämonin und Männerverführerin deutet. Eine historisch situierte, mythologische Rekonstruktion, die Frauen ihre ‚Befangenschaft‘ belässt und die Wirklichkeit unter poetisierender Oberfläche zeigt. Überzeugend gebauter, nachgerade ironisch angelegter, aber eigentlich furchtbarer, guter Roman. 14.4.2021

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Kambodscha Vaddey Ratner – Im Schatten des Banyanbaums. Roman. 2012. A. d. Engl. v. Stephanie von Harrach (dt. EA 2014/TB 2016).

Eine herzzerreißende, bis auf die üblichen Vereinfachungen, Fiktionalisierungen und Umbenennungen authentische Geschichte. Die 1975 siebenjährige Raami hat nur mit ihrer Mutter das Grauen der Diktatur der Roten Khmer überlebt und erzählt in der Rückschau. Ihre gesamte, zum Königshaus gehörende Familie wird aus Phnom Penh aufs Land deportiert, zu „neuen Menschen“ umerzogen, zur Zwangsarbeit eingesetzt. Mehrfach wird die Gruppe aufgespalten, alle Verwandten werden ermordet, sterben an Krankheit oder Entkräftung, der Onkel tötet sich. Als erster gibt sich Raamis Vater, Intellektueller und Poet, als Prinz zu erkennen, nachdem sie voll Stolz seinen vollständigen Namen verraten hat, und verschwindet spurlos. Auch den Tod der kleinen Schwester, die sie einmal aus den Augen ließ, soll die Erzählerin verschuldet haben. Die folgenden Jahre bringen Kollektivierung, Umsiedlungen, Reisfeldarbeit, Dammbau im Monsunregen, Hunger, Korruption, Bosheit, permante Beobachtung, willkürlichen Mord, kurz: eine völlige Destruktion der Zivilisation, die erst mit dem Sieg der vietnamesischen Truppen beendet wird. Chronologisch erzählt, überzeugend durch die nacherlebbare Befangenheit der Opfer in völligem Informationsmangel, mit buddhistischer Sensibilität für die Natur und genauem Einblick in südostasiatische Lebensrealitäten unter Normalund Ausnahmebedingungen. Die vielen am Wegrand der Geschichte aus dem Blick geratenden Figuren, die expliziten und stummen Abschiede fürs Leben machen das Buch traurig und bewegend. 1.3.2020

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Kamerun Imbolo Mbue – Das geträumte Land. Roman. 2016. A. d. amerikan. Engl. v. Maria Hummitzsch (dt. EA 2017/TB 2018).

Sympathisches Ehepaar aus Kamerun versucht, in den USA Fuß zu fassen: ­Jende ist mit Hilfe eines Cousins vorausgeflogen und hat – rechtlich nicht begründbar – Asyl beantragt, dann seine Frau Neni per Studienvisum und mitsamt Sohn nachgeholt und zunächst unter erbärmlichen Bedingungen in New York gehaust. Die Handlung beginnt mit der erfolgreichen Bewerbung  – unter Vorspiegelung falscher Tatsachen – als Chauffeur bei einem Lehman-Banker. Ein Anwalt macht Jende Aussichten, in Amerika bleiben zu können, Neni bekommt eine Tochter, will Pharmazie studieren, aber die Finanzkrise 2008 vernichtet die Träume: Hatten sich die wohlhabenden Weißen mit der schwarzen Familie angefreundet, so zieht Cindy, die ihrem Mann Clark – zu Recht – misstraut, den Fahrer in ihre Ehekrise hinein, bis dieser unschuldig seinen Job verliert. Die alkoholsüchtige Frau stirbt, nachdem Neni ihr als Schadenersatz zehntausend Dollar abgepresst hat. Bis kurz vor Romanschluss ist undeutlich, ob die Ehe der Jongas nicht zerbricht, weil der warmherzige Jende aufgeben, Neni aber um jeden Preis in New York bleiben will. Sie bietet alle möglichen Helfer gegen ihren Mann auf, der sich schwertut, seine afrikanische Rolle – auch mit Gewalt – durchzusetzen. Zuletzt löst man den Haushalt auf, verabschiedet sich im Guten von Amerika und fliegt als relativ wohlhabende Familie heim nach Westafrika. Happy ending? Realistisch? 2.12.2019

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Kanada Alice Munro – Liebes Leben. 14 Erzählungen. 2012. A. d. Engl. v. Heidi Zerning (dt. EA 2013/TB 2014).

Zehn Kurzgeschichten, vier autobiografische Skizzen. Letztere mal übergehen, also: Vorausgesetzt, man hält Short Stories für eine erwachsene Gattung, dann kann man den Nobelpreis nachvollziehen. Die Stärken des Genres, Alltäglichkeit, Andeutung, Abgründigkeit werden professionell ausgereizt. Karge Titel. Manche Geschichten liest man zweimal. Junge, gelangweilte Dichterin sucht Abenteuer, junge Sanatoriumslehrerin liebt unsentimentalen Arzt, der in letzter Sekunde die Heirat cancelt, schlichtes Mädchen verlässt Familie und trifft in der Stadt einen Bekannten wieder, der sich um sie kümmert, aus dessen Sicht erzählt. Mann erinnert sich an das rätselhafte Ertrinken der Schwester, die vergeblich Aufmerksamkeit der schwangeren Hippie-Mutter und ihres Freundes suchte. Mädchen lebte früher bei frommem, schroffem, dominantem Arzt und dessen nachgiebiger Frau. Schüchterner Mann gerät in Beziehung zu schlichter Frau, versucht Zusammenleben zu vermeiden und endet genau damit, vielleicht glücklich. Reiche junge Frau mit Langzeitverhältnis zu verheiratetem Mann wird deswegen erpresst und begreift erst nach vielen Jahren, von wem. Gehemmter Mann flieht seit Kindheit Frauenbeziehungen, und immer so weiter, zu traurig. Alte Frau glaubt, wegen Gedächtnisschwund Arzt aufzusuchen, böse Pointe. Frau eines alten Dichters wähnt sich verstoßen, weil dessen frühere Muse auftaucht. Das ländliche Kanada besteht aus tristen, ungeheizten Einöddörfern, um die todbereite Menschen mit ihrer Schuld einsam in ihren Autos kreisen. 3.2.2020

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Kasachstan Rakhymzhan Otarbayev – Der Schädel. Roman. 2019. A. d. ­Kasach. v. Adilbek Alzhanov u. Jeanine Dağyeli (dt. EA 2020).

Das selbständig gewordene Kasachstan zwischen Tradition, Korruption und Identitätssuche. Wie lässt sich ein solches Sujet aus der Sicht eines peinlich berührt Beteiligten gestalten? Formal in einem extrem lockeren, in zahllose Absätze und Dialogpartikel zerfallenden kürzeren Roman. Der in Moskau verheiratete Anthropologe Noel entdeckt in einem Grabhügel eine Silberschale und den Schädel des historischen Dichters Mahambet Utemisov, der 1846 ermordet wurde. Später wird er bei Grabungen in den USA, die den Skandal um den Schädel des Häuptlings Geronimo etwas gewaltsam ins Buch ziehen, ein Pendant zu der Schale finden. Nationalgenealogische These? Wie auch immer, den Dichterkopf nutzt der Wissenschaftler zur Rekonstruktion von Mahambets Personenbild, vertraut das Original aber einem Studierendenpärchen an, nachdem keine offizielle Stelle daran Interesse zeigt. Der Brief eines Dorfältesten bringt dann die Lawine ins Rollen: Die Reliquie wird Nationalheiligtum, eine Million Dollar wird auf den Kopf des Poeten ausgesetzt, Funktionäre und ihre Gattinnen, die Unterwelt nicht zu vergessen, jagen das Objekt und präsentieren schließlich Fälschungen, doch Dauren und Ayym, die jungen Leute, zukünftige Patrioten, können den wahren Schädel vorweisen. So kommt die leichtgewichtige Satire zu einem frohen Komödienende. Denn das ist der Text eigentlich – ein Gogol’scher Revisor, nur eben aufgrund der vielfachen Schauplätze nicht für die Bühne passend. 4.12.2020

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Katalonien Jaume Cabré – Das Schweigen des Sammlers. Roman. 2011. A. d. Katalan. v. Kirsten Brandt u. Petra Zickmann (dt. EA 2011/TB 2013).

Barcelona: Hochbegabter, polyglotter, musikalischer Sohn eines zwielichtigen Antiquitätenhändlers, der unter Franco zu Geld kam, wird Büchersammler, Privatgelehrter, Dozent und erfolgreicher Universalhistoriker, scheitert aber an einer Geschichte des Bösen. Auf deren Manuskriptrückseite schreibt er, an rapide fortschreitendem Alzheimer erkrankt, seine Autobiografie, gerichtet an die verstorbene jüdische Lebenspartnerin. Schon geistig umnachtet, erhält er das monumentale gedruckte Werk im Pflegeheim; sein bester Freund Bernat Plensa, ambitionierter, aber unbegabter Schriftsteller, hat es unter eigenem Namen als Roman publiziert. Für das Böse treten außerdem auf: Skrupellose Kaufleute, Betrüger, Mörder, Inquisitoren, SS-Schergen und KZ-Ärzte. Haupterzählstrang ist Adrià Ardèvols Lebensbeichte, doch wandert der Text, oft von einem Satz zum nächsten, durch fünf Jahrhunderte und viele untereinander analoge Situationen, deren roter Faden die Geschichte einer wertvollen Violine ist, die sich von einem aufgelassenen Kloster bis Auschwitz erstreckt. Jenseits der präzisen Vermittlung von Emotionen, der berührenden Liebes- und Verratsgeschichte, der zuallermeist exzellenten Rätsel- und Spannungsbögen, der überdurchschnittlichen Dialoge, ist das Buch auch erzähltechnisch ein gelungenes Experiment, weniger wegen der funktionierenden Fiktion einer literarischen Konfession in später Lebensphase als wegen der unorthodoxen, teils raffinierten Brüche der Erzählperspektiven, die die Sprachlogik missachten und dadurch quasi-kubistisch die Hauptfigur als handelnde, beschreibende und beschriebene zugleich zeigen. Das Böse lauert spätestens im Altenheim. Herausragend. 26.5.2020 121

Kenia Yvonne Adhiambo Owuor – Der Ort, an dem die Reise endet. Roman. 2014. A. d. Engl. v. Simone Jakob (dt. EA 2015/TB 2017).

Eine analytische Familienchronik: Das verfallende Anwesen Wuoth Ogik im wüstenhaften Norden Kenias. Dorthin reist 2007 die junge Künstlerin Ajany Oganda aus Brasilien, um mit ihren Eltern den in Nairobi erschossenen älteren Bruder Odidi zu bestatten. Es enthüllen sich in atemlosem, neoexpressionistischem Stil zwischen den Sprachen die Ursache seiner Ermordung und die Tragödie des Landes 1969. Der Vater Nyipir, Täter und Opfer unter einem brutalen Regime nach der Selbständigkeit, Viehräuber, die verbitterte Mutter Akai, seit je einen anderen Mann, Ali Dida Hada, liebend, Hugh Bolton, der weiße frühere Besitzer der Ranch, um Akais willen getötet, Isaiah, dessen Sohn, aus Großbritannien gekommen, der Aufklärung sucht und sich in Ajany verliebt. Am Schluss verlassen der ehemalige Geheimpolizist Petrus, der Odidi nicht retten konnte, und der mit seinem Folterer versöhnte Nyipir den Ort, wie auch alle anderen in neuen Konstellationen eine Zukunft suchen. Odidi, der Idealist, ist vor seinem Tod noch Vater geworden. Seine Schwester hat sich von ihrem früheren fremdbestimmten Leben befreit. – Im Grunde eine konventionelle Saga um die politische Geschichte der Entkolonialisierung und um düstere Familiengeheimnisse, freilich individuell erzählt: Fragmentarisch, in vielen Einzeltupfern, nicht-chronologisch, mit Elementen indigener Mythologie, viel Pathos, Zitaten, akustischen Impressionen, mit den Farben der Landschaft und Wolken von Staub. 19.7.2019

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Kirgisistan Tschingis Aitmatow – Der Schneeleopard. 2006. A. d. Russ. v. Friedrich Hitzer (dt. EA 2007/TB 2008).

Das letzte Buch eines großen Sowjetautors, in dem noch eine alte Kriegserzählung notdürftig untergebracht wurde. Verstörend zu sehen, wie jemandes Zeit lange vorbei ist und wie auch, dass dies das Thema des Texts ist, diesen nicht rettet. Das Schicksal eines alten Schneeleoparden, von seiner Sippe verstoßen, und die Lebenskrise eines noch nicht so alten Journalisten in Kirgisistan werden hochsymbolisch zusammengeführt. Arsen Samantschin lebt offenbar in Bischkek, träumt sich in eine Beziehung mit der Sängerin Aidana, für die er das Libretto der immer wieder zitierten Legende „Die Ewige Braut“ schreiben will, legt sich mit den Kräften des postsowjetischen Turbokapitalismus und den neuen Religiösen an und plant als Reaktion auf Außenseitertum und Erniedrigung einen erweiterten Selbstmord. Doch die Familienbande sind stark: Zunächst muss er noch im Heimatdorf zwei arabische Prinzen betreuen, die Schneeleoparden jagen wollen. Um deren räuberische Entführung durch seine Dorfgenossen zu verhindern, opfert er sich, warnt, wird erschossen und von seiner gerade erst gefundenen neuen Geliebten Elesa Arm in Arm mit der Raubkatze tot aufgefunden. Niemand kennt sein Motiv, alle verfluchen ihn. Die unvermeidlich peinlichen Leseeindrücke: Banalitäten, naive Innensicht, Altersfrustration, romantisches Pathos, Tierkitsch, haufenweise offene Satzschlüsse, Schicksalsgeklingel, nicht zuletzt aber und geradezu erstaunlich: Ein Roman ohne ein einziges ironisches Wort. 12.7.2019

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Kolumbien Sergio Álvarez – 35 Tote. Roman. 2010. A. d. Span. v. Marianne Gareis (dt. EA 2011/TB 2013).

Der Wahnsinn: Dichter Text. Hohes Tempo. Langer Atem. Viele Sprecherwechsel. Zumeist berichtet aber ein Mann, aus der kolumbianischen Provinz stammend, von seiner Tante nach Bogotá gebracht, später in Cali lebend, nach Europa geflohen, in Madrid sein weiteres Schicksal erwartend. Der Erzähler ist früh mit dem Kreislauf aus Armut, Guerillaaufstand, Drogenkrieg, Korruption, Diktatur der Reichen vertraut geworden, kennt alle Seiten, hat zahlreiche Frauen geliebt, einige in längeren Beziehungen, die ihm immer wieder vor die Füße geknallt werden, hat reichlich Sex, Geld und Gewalt gegeben und genommen. Ohne Ehefrau und Tochter, verlässt er die Heimat nur, weil sein erster Job als Killer schiefgeht, als er, um sein eigenes Leben zu retten, einen früheren Freund nicht erschießt. Im Grunde ist das Töten aber kein Problem, und auch die vielen Toten der Geschichte, beileibe nicht alle erschossen, auch einfach gestorben, verunglückt, verbrannt, gehören dazu. Zwischenzeitlich pikaresk, mit erzählerischen Kabinettstücken voll schwitzender Details, Alkohol, Tanz, nationaler Musik, deren Verse die Kapitel benennen, mit dem Leben in der Hauptstadt, in kleineren Orten, sogar im Dschungel. Zahllose Namen, viele unerklärte Beziehungen, ein Puzzle aus Genealogien, impliziten Daten, Ereignissen der jüngeren Geschichte, das Rekonstruktion des Ganzen fordert. Auf den letzten Seiten kann man das Heimweh nach Südamerika nachfühlen. 9.6.2019

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Komoren Ali Zamir – Die Schiffbrüchige. Roman. 2016. A. d. Frz. v. ­Thomas Brovot (dt. EA 2017/TB 2020).

Ob realistisch ist, dass eine schwangere Siebzehnjährige, die sich mit letzter Kraft an einem schwimmenden Kanister festhält, bevor sie ertrinkt, einen souveränen, ironischen, humorvollen, selbstbewussten und zugleich ihr Schicksal erkennenden und annehmenden inneren Monolog von zweihundertfünfzig Seiten denken kann? Das spielt keine Rolle. Anguille tut dies, einzige vorerst noch Überlebende eines Bootsuntergangs bei der üblichen illegalen Überfahrt nach dem französischen Überseedepartement Mayotte. Die analytisch erzählte Geschichte, die sie in diese Lage gebracht hat, ist einfach: Mit ihrer Zwillingsschwester scheinbar Tochter eines scheinbar allwissenden Fischers, hat sich das Mädchen in einen attraktiven Mann verliebt, der sie schwängert und verleugnet. Vom Pflegevater verstoßen, wählt sie den für ihre Landsleute fast natürlichen, obschon lebensgefährlichen Fluchtweg in ihr eigentliches Element, das Meer. Ihr kurzes Leben hat sich in Mutsamudu auf der Komoreninsel Anjouan abgespielt, zuletzt als behütete, eigenwillige Gymnasiastin, bevor sie von Vorace zu Rauchen, Alkohol und Sex verführt wurde. Die sprechenden, totemistischen Namen lassen die kleine Welt der Fischer als Theater aus untreuen Frauen und untreuen Männern erscheinen, mit ihren Geheimnissen wie die sprichwörtlichen Aale unterm Fels. Erstaunlicherweise stören die vielen Fisch-Analogien der Sprecherin nicht, auch nicht die kolloquialen Anreden an das fiktive Publikum der Sterbenden. Individuum, Milieu und afrikanische Politrealität genial komponiert. 7.3.2020

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Kongo (Demokratische Republik) Fiston Mwanza Mujila – Tram 83. Roman. 2014. A. d. Frz. v. ­Katharina Meyer u. Lena Müller (dt. EA 2016/TB 2018).

In der tropischen Rohstoffquelle namens „Stadtland“ drängen sich Minenarbeiter, Raubritter aus Europa und Asien, nichtstudierende Studenten, Handlanger, Schläger, Killer, Klein- und Großkriminelle, Kellnerinnen und Hilfskellnerinnen, Prostituierte in minderjährig, jung oder über einundzwanzig. Sie verbringen die Nächte im legendären Club „Tram 83“, wo Jazz hart und authentisch ist und die von allen begehrte Diva Kantilenen produziert. Die Toiletten sind gemischtgeschlechtlich, und so ist es auch gedacht. Das Afrikabild ist das, das es ist: Postbelgischer Kolonialverfall mit Korruption, Gewalt, Sex, in umgekehrter Wagenreihung. Schauplätze sind die Gleise des alten Bahnhofs oder die je nach Gunst des Machthabers zugängliche Diamantenmine. Hauptfiguren: Requiem, ein obskurer Bandenchef, Schieber, Gegenspieler von Ferdinand, einem Verleger, der aus Genf einschwebt, vor allem aber Requiems Feind-Freund Lucien aus „Hinterland“, der mit alldem fremdelnde idealistische Schriftsteller, der das Chaos dank Emiliennes Protektion knapp überlebt und dessen Bühnenepos am Ende tatsächlich gedruckt wird. Ob es den dreien gelingt, vor der Rache des Rebellengenerals außer Landes zu fliehen oder ob sie von dem Magneten „Tram 83“ gebannt bleiben? Als abgefilmtes Nachtlebendurcheinander narkotisch, suggestiv, fatalistisch, auch gängige Rassismen einzementierend, obgleich natürlich nirgends gesagt wird, dass dies Afrika sei. Aber ja doch, ist es. Wobei das atemlose, schwitzende, dauergeile Dauergeplärr auf Französisch besser funktioniert. 11.5.2019

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Kongo (-Brazzaville) Alain Mabanckou – Black Bazar. Roman. 2009. A. d. Frz. v. Andreas Münzer (dt. EA 2010/TB 2011).

Es berichtet ein noch jüngerer Mann aus Kongo-Brazzaville, der in Paris lebt. Seine Freunde nennen ihn den „Arschologen“, weil er Frauen primär nach dem Hinterteil beurteilt. Er ist jedoch eher kein Macho, sondern konziliant, zu wenig kämpferisch wohl, weshalb ihn die Mutter der gemeinsamen Tochter verlassen hat. Seine neue Freundin, Halb-Belgierin, malt. Der Erzähler stammt ursprünglich aus dem Dorf Louboulou in Kongo-Brazzaville und ist vor 15 Jahren über Portugal und Belgien mit den Papieren eines Verstorbenen nach Frankreich eingewandert. Seinen wirklichen Namen erfahren wir nicht, doch sei er Enkel von Henriette, Sohn von Pauline Kengué, der der Roman auch gewidmet ist. Also einfach wieder einmal eine zwar verschwiegene, aber letztlich authentische Geschichte, vielleicht ein wenig übertrieben, ein wenig aufgepeppt? Schnurrbart, Maßanzüge, teure Schuhe, neuerdings Schriftsteller: Die, um das Mindeste zu sagen, konfliktscheue Figur ist selbstironisch, sympathisch, in der schwarzen Community der Stadtteile Château d’Eau und Château Rouge gut vernetzt. Die meisten Anekdoten drehen sich um Bekannte aus den anderen frankophonen Staaten Westafrikas. Der Alltag mit viel Pelforth-Bier und Achselzucken zu den kleinen Intrigen und zum milden Rassismus der Immigranten untereinander zeigt die französische Hauptstadt von unten, aber nicht unbedingt von ganz unten. Viel mehr ist eigentlich nicht darüber zu sagen. 21.2.2020

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Kosovo Meral Kureyshi – Elefanten im Garten. Roman. 2015 (EA TB 2017).

Eine türkischsprachige Familie aus dem Kosovo emigriert in die Schweiz. Ihr Asylantrag wird abgewiesen, aber Eltern, Sohn und zwei Töchter bleiben geduldet in Bern. Darüber erzählt die namenlose ältere Tochter, als der Vater plötzlich gestorben ist und sie mit der inzwischen blinden, immer schon anstrengenden Mutter zurückbleibt. Nur, und das ist das Traurige an dem kurzen, fahlen Buch, es gibt eigentlich nichts zu erzählen außer alltäglichen Erinnerungen an eine Kindheit in Prizren und eine einsame Jugend als Außenseiterin, notdürftig akzeptiert im Schwimmbad, bei den Pfadfindern, von den Klassenkameradinnen, aber das ist keine Integration und bricht ab, sobald man verreist oder jemanden länger nicht sieht. Das muslimische Mädchen erfindet Märchen wie die von Elefanten und Löwen im eigenen Garten, um sich bei den Mitschülerinnen interessant zu machen, bleibt aber isoliert, verliebt sich oft, ergebnislos, hasst die Telefon- und Videorituale der Familie mit dem Kosovo. Warum eine Heimkehr ausscheidet, obgleich keine Gefahr droht und die Schweiz ein kaltes, unglücklich machendes Land zu sein scheint, veranschaulichen Besuche dort: Die junge Frau lebt inzwischen wurzellos zwischen den Sprachen. Albanisch und Serbisch kann sie nicht; das Schwyzerdütsch grenzt sie aus, mit Standarddeutsch schließt sie sich aus; so schreibt sie blasses heimatloses Deutsch. Eine traurige Geschichte. 21.12.2019

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Kroatien Edo Popović – Ausfahrt Zagreb-Süd. Roman. 2003. A. d. Kroat. v. Alida Bremer (dt. EA 2006/TB 2012).

Das Buch kommt langsam, dann doch, dann doch nicht. Der Zagreber Stadtteil Utrina ist Schauplatz episodenhafter Porträts einer Handvoll Menschen, die um die Jahrtausendwende ungefähr 40 sind. Sie leben in kaputten Beziehungen oder ganz alleine, haben beruflich nichts vorzuweisen, sind nicht mehr schön, ohne Pläne, neidisch auf Jüngere, halten sich an Alkohol, Marihuana oder Sex und verkörpern die Generation, die im alten Jugoslawien aufwuchs und von der Zukunft nur das Alter erwartet. Untereinander durch Freundfeindschaften verbunden, sehen sich der Buchhändler und Lyriker Robi und seine Kurzzeitfreundin Suzi, der Ein-Buch-Schriftsteller Baba und seine Langzeitfreundin Vera, die ihn verlässt, der ehemalige Seemann Stjepan und Magda, Kančeli, der Kellner wird, und Elza in Kneipen, Cafés, heruntergekommenen Wohnungen, auf der Straße, auf dem Markt. Sie schlagen sich irgendwie durch und versuchen auch nicht mehr. Der heruntergerissene Stil, die minimalen Kapitel, die kleinen Jokes der Überschriften, das ergibt einen ambitionslosen Beinahe-Bukowski, dem man nicht viel zugutehalten kann: Vielleicht Authentizität? Vermutlich ein taugliches Generationsporträt? Womöglich, dass die Paare oder Singles am offenen Schluss irgendwie nicht ganz mit leeren Händen dastehen? Das kann ein klein wenig Sympathie wecken, ist aber als Kunstbemühung dünn, kaum originell, und geht einen nichts an, selbst wenn man denselben Jahrgängen angehören sollte. 9.4.2019

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Kuba Wendy Guerra – Alle gehen fort. Roman. 2006. A. d. Span. v. Peter Tremp (dt. EA 2008/TB 2017).

Die kubanische Protagonistin heißt Nieve, mit Nachnamen Guerra, wie man kurz vor Schluss erfährt. Sie ist, wie die Verfasserin, 1970 geboren. Fragen? Das Buch besteht aus Auszügen ihrer geheimen Tagebücher, als Kind 1978–1980, als junge Frau 1986–1990. Nieves getrenntlebende Eltern streiten um das Sorgerecht. Ihre liberale, aber labile Mutter, Radiosprecherin, mit einem Schweden liiert, muss das Kind dem Vater abtreten, der es kaum ernährt und misshandelt. So wandert Nieve durch viele Schulen in kubanischen Provinzorten, bis sie als Heranwachsende wieder bei der Mutter in großer Armut in Havanna lebt. Der Vater ist inzwischen ins Ausland gegangen. Dies ist auch das Hauptmotiv alles Weiteren. Nieve will Künstlerin werden, verliebt sich in den Macho Osvaldo, der nach Paris emigriert und den sie durch Antonio ersetzt, der aber inhaftiert wird. Außenseiterin, vage oppositionell eingestellt, verkehrt sie in intellektuellen Kreisen, so dass es nicht verwundert, wenn alle Menschen, die ihr etwas bedeuten, früher oder später emigrieren. Die Eintragungen enden damit, dass ihre Flucht nach Paris bis auf weiteres unmöglich geworden ist, während der Zerfall des Ostblocks Kuba zunehmend isoliert und allen Bleibenden die Zukunft verbaut. Ihrem symbolischen Vornamen gemäß, findet sich die Tagebuchschreiberin am Ende der Eiseskälte des Meerwassers ausgesetzt, um symbolisch zu überwintern. 29.6.2019

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Kurdisch Bachtyar Ali – Der letzte Granatapfel. Roman. 2002. A. d. Kurd. (Sorani) v. Ute Cantera-Lang u. Rawezh Salim (dt. EA TB 2017).

Ein poetischer Parabelroman über Gewalt und Elend der kurdischen Bürgerkriege und individuelle Auswege daraus, unausgesprochen lokalisiert im Irak Saddam Husseins. Muzafari Subhdam ist, wie sich allmählich herausstellt, der vierzigjährige Erzähler, der sein Schicksal an Bord eines verirrten Flüchtlingsbootes mitteilt, nachdem er die Hälfte seines Lebens in Gefangenschaft verbracht hat. In Europa will er sich dem letzten von drei vermeintlichen Söhnen widmen, dem schwer verstümmelten Saryasi Subhdam. Zwei weitere junge Männer, die rätselhafterweise denselben Namen trugen, waren in Wirklichkeit Kinder seines Feindes Jakobi Snauber. Der eine, Häftling, hatte als kaltblütiger Peschmerga-Kämpfer zahllose Bluttaten begangen, der andere wurde als heiterer, aber mutiger Anführer der Karrenhändler von der Polizei erschossen; zuvor hatte er sich in platonischer Beziehung mit zwei ätherischen, stets weiß gekleideten jungen Schwestern verbunden, deren Enthaltsamkeitsgelübde schon den Tod eines Verliebten an gebrochenem, metaphorisch: gläsernem Herzen verursacht hatte. Alle Figuren suchen die Wahrheit, ein Blinder auch die Sehkraft im Schatten eines in den Bergen wachsenden Granatapfelbaums. Der Granatapfel als Symbol dominiert denn auch die gesamte Handlung, deren Andeutungsstil die Sehnsucht des kurdischen Volkes nach Reinheit, Erkenntnis und Unschuld zu verkörpern scheint. Der märchenhafte Stil schützt das Buch vor einer einfachen Identifikation als Kriegsroman oder epische Klage über Uneinigkeit, Feindschaft und Fremdbestimmung. 6.5.2021

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Kuwait Ismail Fahd Ismail – Die alte Frau und der Fluss. 2016. A. d. Arab. v. Christine Battermann (dt. EA 2019).

Ein kuwaitischer Autor verarbeitet den Golfkrieg zwischen Irak und Iran in der simplen, parabelartigen, warmherzigen Geschichte einer älteren Frau, mehrfachen Mutter und Großmutter, die sich gegen die Militärlogik auflehnt, nachdem ihre gesamte Familie das Heimatdorf Sabiliyat am Schatt-el-Arab wegen Evakuierung verlassen musste. Ihr Mann stirbt, ihre Söhne wollen vorerst im Exil bleiben, doch Umm Kasim reitet auf ihrem beinahe menschlich-verständigen Esel heimwärts, um die exhumierten Gebeine ihres Mannes daheim zu bestatten. Beseelt von dieser Mission, überzeugt sie die Offiziere von ihrer nicht einmal vorgetäuschten Harmlosigkeit, beschafft Proviant und kocht, sabotiert aber auch die strategische Trockenlegung der Wasserläufe und beginnt heimlich mit dem Anbau von Pflanzen und der Wiederherstellung des menschenleeren Dorfes, obwohl feindlicher Beschuss die Häuser erneut beschädigt und einen jungen Soldaten verstümmelt. Als dieser aber – einer Traumweissagung ihres toten Mannes entsprechend – freiwillig aus dem Lazarett wiederkehrt, beinahe wie ein angenommener Sohn, ist ihre Duldung nicht mehr befristet. – Ein wenig Kriegssatire, wenn die Frau einsilbig wird, naiv antwortet, ihren Willen als den ihres Mannes ausgibt und durchsetzt, ein wenig Lob des Weiblichen, der Zivillogik, der Frömmigkeit, der Heimat, ein wenig aber auch eine ergebnisoffene Episode, denn sie spielt im dritten Kriegsjahr. Wer weiß, was der Frau in ihrem Dorf widerfährt? 30.9.2020

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Lesotho Thomas Mofolo – Chaka Zulu. 1926. A. d. Sesotho v. Peter Sulzer (dt. EA 1988/TB 2000).

Ein Klassiker der afrikanischen Literatur, wichtig für seine indigene Sprachkultur, durch seine umfangreiche Wirkung, als polyvalenter Roman. Dieser folgt, gestützt auf profunde Recherche, reflektiert den Regeln historischen Erzählens, insofern er sein Quellenmaterial teilweise frei und auch selektiv benutzt, vereinfacht, umbenennt und vor allem eine Innensicht zulässt, die mit Fiktion, nicht mit Dokumentation verbunden ist. Trotzdem ist die Hauptfigur ebenso authentisch wie alle wesentlichen geografischen und geschichtlichen Umstände. Chaka, erstgeborener Häuptlingssohn im Süden des Kontinents, dessen Status als eheliches Kind angezweifelt wird, setzt sich gegen Konkurrenten durch, wird zum imposanten Mann, dann zum in Kriegen erfolgreichen Häuptling seines Stammes, vereint die durch ihn so benannten Zulu unter einem immer grausameren Regime und wird schließlich 1828 ermordet. Seine Macht verdankt er den Medizinen des fiktiven Zauberers Isanusi und seiner Helfershelfer. Er entscheidet sich bewusst für Blutdurst, gegen Menschlichkeit, opfert seine Braut, tötet seine Mutter, befiehlt gegen Ende seiner Tyrannei regelmäßig Massenschlächtereien an Feinden und dem eigenen Volk. Christlich gelesen, unterliegt er dem diabolischen Versucher und bezahlt am Ende dafür, wird zum abschreckenden, inhumanen Exempel, aber die patriotische afrikanische Literatur kann ihn später auch zum charismatischen Führer umdeuten, sogar zum Befreier von der Hegemonie der Weißen, die in dem Roman gar nicht vorkommen. 8.8.2020

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Lettland Dace Rukšāne – Warum hast du geweint. Roman. 2003. A. d. Lett. v. Matthias Knoll (dt. EA 2007/TB 2009).

Eine Art Adoleszenzroman: Private Aufzeichnungen einer Schülerin aus Riga in den späten 1980er Jahren, vor der Unabhängigkeit Lettlands. Das Mädchen, Katrīna Mūra, ist Tochter eines Veterinärs. Ihre Schwester ist beste Freundin und Streitpartnerin. Ihre Eltern stehen kurz vor der Trennung. Katrīna durchlebt Schwärmereien für Sportler und Musiker, entdeckt ihren Körper, empfindet sich in ihrer Schulklasse, von der sie kaum berichtet, als Außenseiterin. Nur beim Bergsteigerferienlager im Kaukasus gilt sie aufgrund ihrer lettischen Herkunft als begehrenswert. Dort hat sie erstmals Sex mit dem schwarzhaarigen Instruktor Oleg aus einer fernen russischen Stadt. Als sie ohne Geld auf Umwegen in die Heimat zurückgekehrt ist, erkrankt sie. Später wird sie wiederholt den verheirateten Berglehrer anrufen. Ihre Mutter nimmt sich das Leben; die Schwester geht ins Ausland, Katrīna bleibt vorerst alleine zurück und versucht sich im Aufschreiben ihrer Gedanken. Die in sich schon retrospektiven Aufzeichnungen sind durchsetzt mit weiter zurückführenden episodenhaften Reminiszenzen an die Kindheit, aber auch mit im Futur erzählten, ebenfalls schon erlebten Geschehnissen, außerdem mit Tagträumereien. Interessant wegen der scheinbaren Formlosigkeit: weder Tagebuch noch Briefwechsel noch Autobiografie eines Spät-Teenagers, sondern aufschlussreiche Rollenprosa einer vielleicht neurotisch vorbelasteten, vielleicht auch durchschnittlichen jungen Frau mit ihren Krisen in einem Land, das es so nicht mehr gibt. 28.10.2019

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Libanon Iman Humaidan – Andere Leben. Roman aus dem Libanon. 2010. A. d. Arab. übers. v. Regina Karachouli (dt. EA 2013/TB 2017).

Der Ich-Bericht spielt 1996. Die vierzigjährige Myriam, drusische Libanesin, im Bürgerkrieg mit ihren Eltern nach Australien ausgewandert, lebt inzwischen mit dem ungeliebten britischen Ehemann Chris in Kenia. Da der einzige Bruder im Krieg starb – die Mutter verstummte auf lange Zeit, der Vater ist seitdem aufgrund einer Verletzung geistesgestört  – erbt sie das Familienhaus und kehrt alleine nach Beirut zurück, um es in Besitz zu nehmen. So sieht sie die strenge Großmutter wieder, die dann stirbt, die todkranke, geliebte Verwandte Olga, auch fremd gewordene frühere Freunde. Der Vater ihres abgetriebenen Kindes ist verschollen. Am wichtigsten wird aber der Amerikaner Nour, ebenfalls libanesischer Abstammung, mit dem sie eine Beziehung eingeht, bis er in die USA zurückfliegt. Die Erzählerin hingegen wird wohl nicht zu ihrem Mann heimkehren. Eine heimatlose, kinderlose Frau auf der Suche nach der richtigen Liebe stellt sich vor, depressive, selbstkritische, schwierige Partnerin, selbstbewusste Tochter, unterdrückte Enkelin. Sie kann das Vergessenwollen der Daheimgebliebenen nicht verstehen; ihr Trauma zwingt sie zu Erinnerungen, deren Form literarisch das Interessanteste an dem Buch sind, denn der erkennbar autobiografische, mit den üblichen Umbenennungen maskierte Text verweigert sich weitgehend der Chronologie und kommt auf Ereignisse, Erlebnisse, Details kreis- oder spiralgestaltig, aber ergänzend, aufklärend, nicht nur wiederholend, obsessiv zurück. 20.11.2019

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Liberia Vamba Sherif – Geheimauftrag in Wologizi. Roman. 2006. A. d. Engl. v. Thomas Brückner (dt. EA 2009).

Die Grenzstadt Wologizi ist erfunden, ihr liberianischer Name aber nicht. Eines Tages trifft William Mawolo aus der Hauptstadt dort ein. Er soll im Auftrag des Staatschefs das Schicksal des verschwundenen gewalttätigen Lokalchiefs Tetese aufklären, wird in einem leeren Renommiergebäude untergebracht, verstrickt sich in den örtlichen Hierarchien, Geheimnissen und Ausweichmanövern, sucht Unterstützung bei einer Miliz, bei den Außenseitern der Stadt, verliebt sich in eine junge attraktive Frau, Teteses Tochter, weist die Avancen einer scheinbar unbedeutenden verheirateten Frau zurück, fühlt sich unterwürfig verehrt, aber auch hinters Licht geführt, und geht bei der organisierten Suche nach den Verantwortlichen im Dschungel unter, wie zugleich auch die Stadt Wologizi zerstört wird. Während die Frauen heimlich die Regentschaft innehaben, hat der Fremde aber unwissentlich dafür gesorgt, dass sich die Geschichte in einer Generation wiederholen wird. Das Schweigen der Bewohner gehorcht dem real existierenden Poro-Geheimritus, der Roman aber dem parabolischen Schreibmodus Kafkas oder noch eher Buzzatis. Auch strukturell keine Neuerfindung – Außenseiter stößt auf Rätsel, kann es nicht und sich nicht mehr lösen, kommt als Individuum um und geht dadurch ein in die immerwährende kultische Gegenwart des Mysteriums –, aber deshalb auf sichere Weise suggestiv und atmosphärisch. Angst, Gewalt, Schweigen, unveränderlich. Ein Herz der Finsternis aus afrikanischer Invention. 17.5.2020

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Libyen Hisham Matar – Im Land der Männer. Roman. 2006. A. d. Engl. v. Werner Löcher-Lawrence (dt. EA TB 2009).

Suleiman el-Dewani, 24-jährig, lebt in Kairo als libyscher Emigrant und erzählt von seiner Jugend in Tripolis unter der brutalen Herrschaft Gaddafis. Sein inzwischen verstorbener Vater, bürgerlich Kaufmann und klandestin Aktivist der verfolgten Opposition, war eines Tages enttarnt und mit Gesinnungsgenossen verhaftet worden. Durch Folter schwer entstellt, war er zu Frau und Sohn zurückgekehrt und auf eine einfache soziale Stellung zurückgefallen. Den widerstrebenden Sohn hatte man ins Ausland geschickt; viele Jahre später besucht die als Jugendliche zwangsverheiratete, depressive, jetzt erst 39-jährige Mutter ihn in Ägypten. Der Roman arbeitet die bei seiner Entstehung andauernde Diktatur auf, indem er die brutale Unterdrückung freier Meinung, das Schweigen unter Nachbarn, die Infiltration der Familien schildert. Suleiman ist aber keineswegs Außenstehender; er offenbart eine Freunden gegenüber untreue, Schwächeren gegenüber gewalttätige Seite, und da aus der Sicht und mit der Stimme des beobachtenden, manchmal verzweifelt naiven, aber mitschuldigen Kindes berichtet wird, verrät der Erzähler selbst seine Beteiligung am Auffliegen der Flugblattproduzenten und daher an der Misshandlung des Vaters und dem Tod des Nachbarn. Die stärkste Beschreibung des Buches gilt dessen im Fernsehen live übertragener Hinrichtung mit den Fetzen unvollständig abgelöster Plastikfolie um die Standbeine der billigen Aluleiter, auf der der Professor im Nationalstadion unter den Strang steigt. 31.1.2020

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Liechtenstein Armin Öhri – Die dunkle Muse. Historischer Kriminalroman (TB 2012).

Berlin 1865. Dämonischer Professor ermordet Prostituierte und inszeniert dies als perfektes Verbrechen im Kontext einer Wette mit atheistischen Gesinnungsgenossen. So etwas wie eine Aufklärung erfolgt durch den erotisch aktiven Kunststudenten und Justizzeichner Julius Bentheim und einen zechfreudigen Freund. Involviert ist die Liebesaffäre des jungen Helden mit einer Pfarrerstochter samt Entführung. Warum die beiden sich zufällig oder mutwillig genau in der Dachmansarde der Ermordeten verstecken, weiß der liebe Himmel. Das Ganze ist düster gefärbt, weil das Böse siegt und dann doch bestraft wird und darin wieder anderes Böses die Oberhand behält, und geht insgesamt etwas gruslig aus, ist in den Handlungszügen, die von Poe inspiriert wurden, sogar interessant. Das Unrealistische und Reißerische sollte man diskontieren. Wie beinahe immer in historischen Kriminalromanen stören hingegen die Anachronismen: Die Figuren lesen damals völlig vergessene Literatur, verwenden heutige Redensarten, benutzen das metrische System sieben Jahre vor seiner Einführung. Am schlimmsten sind die Leberreime für humoriges Kolorit. Und natürlich die unvermeidlichen Cameo-Auftritte: Fontane läuft durchs Bild und erinnert sich an Texte, die er noch gar nicht geschrieben hat, Fanny Lewald sitzt im Publikum, und die Forensik macht niemand Geringerer als Virchow. Dass ein Liechtensteiner diesen Berlin-Krimi riskiert hat, merkt man kaum, allenfalls an der deplatzierten „Serviertochter“. 25.11.2019

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Litauen Jurga Ivanauskaité – Placebo. Roman. 2003. A. d. Litau. v. ­Markus Roduner (dt. EA TB 2005).

Vilnius. Die vierzigjährige Wahrsagerin Julija Kronberg hat sich offenbar erschossen. Wir verfolgen die allmähliche Auflösung des Individuums nach dem physischen Tod. Hintergrund: Eine gigantische Verschwörung der totalitären Geheimfirma Placebo, für die auch die selbstbewusste Kartenlegerin arbeitete, gegen die Weltbevölkerung, am Beispiel Litauens, dessen postsowjetische Menschen saturiert, desillusioniert, konsumorientiert sind. Im Zentrum eine Handvoll Personen: Jonas, litauischer Chef der Organisation, und Leo, sein machistischer Angestellter, manipulieren die Frauen nach Belieben. Das Brüderpaar Maksas, charismatischer Fernsehmoderator, und Tadas, Heiler und Schutzengelbildhauer, stehen beide in fataler Beziehung zu der attraktiven Julija, deren gleichaltrige Freundin, die Enthüllungsjournalistin Rita, ihre Midlife-Crisis mit radikalen Mitteln überwindet. Julijas Katze Bastet wird alles ausgebreitete Pseudowissen über Spiritualität, Seelenwanderung und Jenseits zugeschrieben. Denn das Buch ist, wenngleich ironisch formuliert, esoterischer Schmonzes, der nicht ergiebiger wird, weil er medien- und konsumkritisch fuchtelt. Die eigentliche Botschaft: Ich liebe Katzen, bin selbst eine, schreibe aber jetzt ein ernstzunehmendes Buch über Litauen und die Welt, dessen Wert darin besteht, der dekadenten Gegenwart den satirischen Spiegel vorzuhalten. Das Ganze will aber zu viel, wird dadurch redundant, bemüht meist alle Vergleiche oder Beispiele oder Assoziationen, die sich üblicherweise einstellen, und baut auch intertextuelle Bezüge nicht behutsam ein, sondern sagt sie einfach. Katzenkrimi einer kartenlegenden Bulgakow-Leserin. 7.6.2020

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Luxemburg Marc Graas – Das Theaterstück von Norvik. Roman. 2010.

In Norvik, einer kleinen, heruntergekommenen Walfängerstadt irgendwo in Skandinavien, wird seit einigen Jahrzehnten jedes Jahr von der Bevölkerung ein schlichtes Theaterstück aufgeführt, das abstrakt den realen Konflikt der beiden angesehensten Familien inszeniert, welcher in den 1960er Jahren mit einem Mord endete. Jedesmal kommt es in der Bevölkerung zu Gewaltexzessen; deshalb erhält 2008 der Kulturanthropologe Torre von der Hauptstadt-Universität die Chance, über dieses Phänomen seine Habilitation zu schreiben. Als er der Sache auf den Grund gehen will, wird er mehrfach überfallen, seine Tante wird getötet; er selbst aber kann das Gewirr aus Dünkel, Wahnsinn und Zwängen der beschänkten Ortsgesellschaft durch Gespräche mit den alten Menschen von Norvik auflösen und erfährt am Schluss, dass er selbst das uneheliche Kind ist, dessen Geburt Ursache der meisten Missetaten und Vertuschungen war. Leider ist die weitgehend auf zwei Zeitebenen erzählte, atmosphärisch suggestive Story recht durchschaubar. Schade auch, dass das titelgebende Theaterstück nur schemenhaft sichtbar wird; weder geht es um den Autor noch um die Akteure, auch nicht um den Text, und die einzige Aufführung, der der Protagonist beiwohnt, wird nur summarisch beschrieben. Das Buch wirkt wie eine ortlose Allegorie im Stile Buzzatis, entpuppt sich dann aber doch als Mischung aus Familienfluch, „Shutter Island“ und Verbrechensaufklärung. 30.9.2019

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Madagaskar Michèle Rakotoson – Die verbotene Frau. Roman. 1988. A. d. Frz. übers. v. Nys Barbara Eggert (dt. EA TB 2000).

Eher eine Novelle mit Vorspann. Der Cutter Rija schneidet einen Film, den der im Ausland ausgebildete, aus der Hauptstadt stammende Ranja vor Jahren im Westen Madagaskars gedreht hat: Im Auftrag eines Stammesfürsten filmt er in einem verarmten Dorf ein religiös-ekstatisches Ritual, bei dem Reliquien im Wasser gereinigt, Zebus geschlachtet, besessene Frauen in Trance versetzt werden. Seine Ehe ist abgekühlt, weshalb seine Frau in Antananarivo zurückgeblieben ist. Während der Zeremonie, die er schon als Kind einmal miterlebt hat, wird Ranja von einer geheimnisvollen Frau erotisch provoziert. Er hat Sex mit ihr und erfährt tags darauf aus der Reaktion der anderen, dass er mit der Verlobten eines Gebietsherrschers ein Tabu gebrochen hat, so dass sein eigener Opfertod nun vorprogrammiert ist. Die dunklen, rätselhaften Regeln und Vorgänge, die stumme Abweisung durch die Dorfbewohner, die im Hintergrund lauernden Erinnerungen an Massaker früherer Zeiten sind durch die unvollständige Erzählung adäquat abgebildet; hingegen macht es sich der Text durch zahllose Fragen, Ellipsen und abgekürzte erlebte Rede zu einfach. So entstehen zwar ein Stimmungsbild des unterentwickelten, perspektivlosen postkolonialen Madagaskar und auch ein Eindruck von der Verelendung der Bevölkerung in den 1980er Jahren, aber die Ursachen erscheinen nebulös, und das Geschehen bleibt für Ausländer ohne Kommentar teilweise unverständlich. 15.8.2020

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Malawi Samson Kambalu – Jive Talker. Roman. 2008. A. d. Engl. v. ­Marlies Ruß (dt. EA TB 2011).

Ein Roman ist das sicher nicht. Einfach die amüsante, exzentrische Autobiografie eines malawischen Multitalents bis zur Heirat mit einer Schottin und der Emigration in deren Heimat. Ob Pointen und Eskapaden, Niederlagen und Erfolge, Trauermomente und Erleuchtungen wahr, erfunden oder vielleicht überpegelt sind – wer weiß es? Das Geburtsdatum 23. November 1975, Personennamen, Orte und historische Umstände sind jedenfalls authentisch, vermutlich ebenso die häufigen Umzüge innerhalb des Landes. Kambalu also, denn er ist es doch wohl, ist Sohn eines hochrangigen Arztes, dessen gelegentliche Anfälle von konfuser Großsprecherei ihm den Beinamen ‚Jive Talker‘ eingetragen haben und dessen Erbe der Verfasser offenbar selbstironisch antritt. Der Vater und viele Verwandte, zuletzt, am Erzählschluss, auch die Mutter, sterben an der neuen Seuche AIDS. Samson selbst ist sich zwar indigener Traditionen bewusst, macht sogar einen Initiationsritus mit, genießt jedoch in dem autokratisch regierten kleinen Land eine Eliteausbildung an der vom Staatsoberhaupt gegründeten Kamuzu Academy. Er will im Fahrwasser Michael Jacksons Popmusiker werden, studiert aber auch bildende Kunst und betätigt sich zugleich als nietzscheanischer Gott-isttot-Aktivist, indem er Bibeln ausweidet und die Seiten auf Fußbälle klebt. Sogar die überwiegend positiven Reaktionen von Betrachtern dieses ‚Holyballismus‘ nimmt er in seine Lebenszwischenbilanz auf. Wie gesagt: Ein Roman ist das sicher nicht. 18.12.2019

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Malaysia Tan Twan Eng – Der Garten der Abendnebel. Roman. 2012. A. d. Engl. v. Michaela Grabinger (dt. EA 2015/TB 2016).

Eine hohe malaysische Richterin wird pensioniert. Da sie durch Krankheit Sprache und Gedächtnis verlieren wird, kehrt sie an den Ort einer entscheidenden Episode ihres Lebens zurück und schreibt: Erinnerungen an die jahrelange Internierung während der japanischen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, die Misshandlung ihrer Eltern, den Tod der Schwester, ebenso aber an ihre Gartenkunstlehre bei und Liebe zu dem japanischen Künstler Aritomo, der eines Tages verschwand. Mehrere Zeitschichten wechseln: die Jugend der Schreiberin als britische Kolonialuntertanin, die brutale Gefangenschaft, das Leben auf einer Teeplantage mit der Anlage eines Erinnerungsgartens nahebei während der Bürgerkriegsdekade vor der Unabhängigkeit, die Rückkehr Jahrzehnte später mit traurigem Wiedersehen und dem Besuch eines japanischen Kunsthistorikers. Eigentlich müsste dies also ein anrührendes Buch sein wegen des Leids und der Ich-Perspektive, aber die Erzählerin erscheint kalt, die Erinnerungskultur zu kultiviert, die historischen Informationen wirken angelesen oder allenfalls gut abgelauscht. Das gilt erst recht für die Teilgebiete der von den Besatzern importierten Ästhetik: Innenarchitektur, Gartenbau, Teezeremonie, Holzschnitt, Bogenschießen, Tätowierkunst. Es ist ein wenig zu sehr nach dem erwartbaren Schema, was die Substanz des Romans ausmacht, und man spürt das Lehrbuchartige. So bleibt die Geschichte, obgleich es um Gedenken und Nichtvergebung geht, eigentümlich kühl und, wie schon der Titel, wenig individuell. 26.1.2020

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Mali Yambo Ouologuem – Das Gebot der Gewalt. Roman. 1968. A. d. Frz. v. Eva Rapsilber (dt. EA 1969).

Ein umstrittener, aber kanonischer Roman, der sich mit zahlreichen, je nach Lesehintergrund nicht offensichtlichen intertextuellen Anleihen dem fiktiven afrikanischen Reich Nakem widmet, mit dem Mali gemeint sein dürfte, aber nicht muss. Von vorne gelesen, ist es die fast mythologische, märchenhafte, abstrakte Langzeitchronik eines riesigen Gebietes, in dem sich immer schon indigene schwarze Bevölkerung und Eroberer, Muslime zunächst, später die Europäer, gegenüberstehen. Eine gleichsam unsterbliche Dynastie von El Heït-Herrschern versklavt die Eingeborenen und arrangiert sich schlau und meuchelmörderisch mit den französischen Kolonisatoren. Analog laviert sich der Roman zwischen Islam und ein wenig Christentum hindurch, mit zahllosen ironischen Gottesanrufungen. Vom Ende betrachtet, ist es die Lebensgeschichte Kassoumis im frühen 20. Jahrhundert, eines von fünf Brüdern, die offiziell von einem Sklaven, eigentlich jedoch wohl qua jus primae noctis von einem der Herrscher abstammen und deren Mutter ermordet und quasi weggeworfen wurde. Er darf in Paris studieren, wo er zunächst den Halt verliert, später dank einer homosexuellen Beziehung seinen Lebensunterhalt großzügig verdient und eine glänzende Qualifikation erwirbt. Er macht nach seiner Heimkehr in Afrika politische Karriere, doch der Roman endet mit einer Schachpartie zwischen dem aktuellen Dynasten Saïf und dem Bischof Henry, den eigentlichen Machthabern. Bekanntermaßen ist das skandalöse Buch brutal, erotisch, poetisch, spöttisch, pessimistisch. 15.1.2021

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Malta Oliver Friggieri – Das Feuerwerk. Kurzgeschichten. 2004. A. d. Engl. v. Tina Aschenbach (dt. EA TB 2004).

Kurzgeschichten sind häufig eine Feier von Schlichtheit und Einsilbigkeit. Verdächtig sind sie, weil es ihrer Poetik gemäß tendenziell unmöglich ist, das Unbeholfene vom Raffiniert-Lakonischen zu unterscheiden. In dubio pro reo, drückt die Literaturkritik seit jeher beide Augen zu. Die Literaturgeschichte hat aus dieser Ratlosigkeit dank einiger echter Großmeister die Apotheose der Short Story vollzogen. − Dieser Band kommt mit vierzehn Skizzen oder Beobachtungen oder Geschichtchen oder Parabeln, wie wir sie auch nennen wollen, aus dem Kleinleben Maltas: Einfache Leute, oft alt, extrem religiös meist, sterben unbemerkt oder erleben Zäsuren, auch positive. Stille familiäre Beziehungen, verschwiegene Peinlichkeiten, aber immer wieder Menschen, die aus der Gemeinschaft nebenher verschwinden. Und eine Grundangst vor der bedrohlichen Natur. Literarhistorisch ein stark verspätetes Opusculum, sicher das Gegenteil von durchtrieben oder hintergründig, aber in seiner Bescheidenheit und dem bewusst kleinen Format authentisch, und weil alles, aber nicht geschwätzig, ohne auffälliges Scheitern. Insofern passt diese Literatur sogar zu dem vor einigen Jahrzehnten noch recht schweigsamen Malta. Die kargen Erzählungen verzichten auf Pointen, sogar auf die berüchtigten offenen Schlüsse der Nachkriegskurzgeschichte. Eher könnte man meinen, dass sie unten auf der Seite einfach aufhören. Und auch diese leise Art, wenig mehr als nötig sagen zu wollen, ist nicht das Schlechteste. 11.3.2020

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Maori Patricia Grace – Potiki. Roman. 1986. A. d. Engl. v. Helmi Martini-­Honus u. Jürgen Martini (dt. EA 1993/TB 2012).

Eine Maori-Großfamilie an der neuseeländischen Küste im Konflikt mit kulturellem, wirtschaftlichem, ökonomischem und juristischem Druck, den Geschäftemacher aufwenden, um sie von ihrem ererbten Territorium zu verjagen. Dass urupa, wharenui und marae, Bestattungsort, Gemeinschaftshaus und Versammlungsplatz, unverrückbare heilige Stätten sind, die keiner Golfanlage weichen, ist den Vertretern des Investitionskapitals nicht vermittelbar. Das komplexe Schnitzwerk der traditionellen Maori-Häuser vereint aber Mythologie und Genealogie, stiftet Familienidentität und verarbeitet Erfahrungen, die einen eigentümlichen, Situationen, Ereignisse und Naturphänomene einbeziehenden Begriff von „Geschichten“ erfüllen. Typisch erscheint die liebevolle Allverbundenheit der indigenen Bevölkerung, die sich in Gastfreundschaft, Solidarität und Fürsorge äußert und der natürlichen Lebensumgebung, Meer, Fluss, Hügeln, Ackerland mit bewahrendem Respekt begegnet. Daher sind außer der Tochter Tangimoana fast alle kompromissbereit; indes kann ein Blick von außen den mit freundlicher Beharrlichkeit vorgetragenen Widerstand als passive Aggressivität auffassen. So scheinen die gewaltsamen Vertreibungsversuche beinahe vorhersagbar, auch die Kriminalisierung der sich zaghaft, dann entschiedener Wehrenden. Im Mittelpunkt stehen der verwachsene, hellsichtige Toko, der als Potiki, als jüngstes Kind, bei einem Brandanschlag stirbt, dessen Wissen aber in die Zukunft weist, seine geistig beeinträchtigte, warmherzige Mutter Mary, die nach ihrem Studium heimgekehrte Roimata und ihr Mann Hemi. Aus ihren Perspektiven wird mit Maori-Vokabular erzählt, doch meist im alle einschließenden Wir-Modus. 22.1.2021 146

Marokko Saphia Azzeddine – Bilqiss. Roman. 2015. A. d. Frz. v. Birgit Leib (dt. EA 2016/TB 2017).

Der wohl mehrdeutig gedachte Schluss scheint irgendwie misslungen. Wohl mit Absicht undeutlich, aber weder phantastisch noch als Erzählperspektivenexperiment; irgendwie überzeugt die Lösung nicht, die raffinierter sein müsste, um das Erzählen durch die Frau, die immerhin zu ihrer Steinigung eingegraben ist, plausibel zu machen. Diese Frau ist Bilqiss, Witwe eines brutalen Ehemanns, den sie, was erst nebenher zutage tritt, mit einer Bratpfanne erschlagen hat. Nun ist sie zahlreicher Verstöße gegen islamische Sitten angeklagt, formal zu Recht, was sie nicht bestreitet. Die Geschichte spielt in einem Dorf irgendwo in einem muslimischen Land, wo die Scharia herrscht, wo sich auflehnenden Frauen die Todesstrafe droht. Eine Handlung wird ausgelöst durch den Skandal, dass Bilqiss, da der Muezzin betrunken ist, vom Minarett zum Gebet ruft, durch den Richter, der sich in Bilqiss verliebt und den Prozess hinauszögert, bis sie ihn beleidigend ablehnt und er eigenhändig die Steine für ihre Hinrichtung sammelt, und durch eine amerikanische Journalistin, die, nachdem heimliche Filmaufnahmen des Prozesses sie in New York erreicht haben, eine Karrierechance in der Story sieht, von der Muslimin aber schroff entlarvt und in ihre kulturellen Schranken gewiesen wird und am Ende in einer Burka der Steinigung beiwohnt. Ein Stein fliegt, der Richter verblutet, die Verurteilte spricht. 4.6.2019

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Mauretanien Mohamed Yehdhih Ould Breideleil – Von Menschen und ­Kamelen. Maurische Geschichten. 2003. A. d. Frz. übers. u. hrsg. v. Helmut Wüst (dt. EA TB 2021).

Selten traf ein Buchtitel so genau. Von zwei Erzählungen die erste: Aoueïliyène gehört zu den Aznaga, von Landsleuten verachteten und ausgebeuteten Nomaden, die mit ihren Kamelen in der mauretanischen Sahara notdürftig, buchstäblich nur mit den Kleidern am Leib, überleben. Er verliert zuerst seinen Vater, dann seine Frau, was ihn zu einem freien Einzelgänger macht, der mit seiner Tochter die Wüste durchstreift, bis sich die Spur der beiden irgendwann irgendwo verliert. Die andere: Der Erzähler reitet mit Kamelhirten und ihrer Herde von Wasserstelle zu Wasserstelle, immer auf der Suche nach Weide, in Angst vor tödlichem Durst, vor allem immer abhängig von der Großzügigkeit der meist abweisenden Hüter des Wassers oder der korrupten lokalen Autoritäten. Was man lernt: Ein schattenarmes Leben in Hitze und Wind, dessen eisige Nächte oft dem Kameltränken gewidmet sind, angewiesen auf Vertrautheit mit dem erratischen Verhalten fremder Beduinen, das hochdifferenzierte Vokabular, soweit es um Kamele geht, die Sprichwörter aus der Lebenswelt eines reduziert praktizierten Islam. Die Erzählung sagt, zeigt und ist zugleich eine nie endende Reise, immer ins Ungefähr der nächsten, hoffentlich Wasser führenden, hoffentlich wiedergefundenen Station. Eigentümlich die gelegentlichen Abschweifungen in Informationen und Bildungsanspielungen auf abendländische Philosophen und französische Schriftsteller, durch die der Sprecher seine Identität andeutet. 20.5.2021

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Mauritius Nathacha Appanah – Blue Bay Palace. Roman aus Mauritius. 2003. A. d. Frz. v. Yla M. von Dach (dt. EA 2006/TB 2013).

Eine Kombination aus Sexkurzroman und Edgar Allan Poe, das Geständnis eines Totschlags aus Eifersucht. Mauritius, umgeben vom Meer, erscheint seinen Bewohnern offenbar eher als Gefängnis denn als Paradies: Maya, eine junge einheimische Frau niederer Herkunft, Tochter eines kleinen Hotelangestellten und seiner frustrierten, gleichgültigen Frau, lebt in einem tristen Dorf und arbeitet als Rezeptionistin in einer Ferienanlage. Dort lernt sie den ebenfalls einheimischen, aber wohlhabenden jungen Dave kennen, der im selben Hotel eine leitende Position ausfüllt und später die Firma seines dominanten Vaters erben soll. Die beiden beginnen eine ideale Liebesbeziehung. Bis ihr Liebhaber aus brahmanischer Familienräson ein anderes Mädchen heiratet. Die beiden treffen sich weiter regelmäßig in einem Hotel; zugleich spioniert Maya dem jungen Ehepaar nach. Zufällig trifft sie auf den Gärtner des Familienanwesens, der ohne Kenntnis des Hintergrunds ein Verhältnis mit ihr beginnt. Immer wenn sie ihn aufsucht, um mit ihm zu schlafen, lässt er sie auch heimlich in das große Haus seiner Herrschaft. Bis er den Zusammenhang entdeckt und alles eskaliert. Die Ich-Erzählung ist schlicht im Ton und macht durch die Perspektive das Handeln des betrogenen Mädchens plausibel. Dass sie wiederholt von pulsierenden Schmerzen und dem Gefühl unablässigen Tropfens in ihrem Kopf spricht, ist beinahe schon zu viel. 13.11.2019

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Mexiko Fernanda Melchor – Saison der Wirbelstürme. Roman. 2017. A. d. mexikan. Span. v. Angelica Ammar (dt. EA 2019/TB 2019).

In einem gottverlassenen mexikanischen Dorf, Kilometer von einer abgelegenen Kleinstadt entfernt, töten zwei junge Burschen auf extrem brutale Weise eine „Hexe“ in deren Behausung. Ein verkrüppelter Mann hat sie zu der Tat chauffiert und geholfen, die Leiche an einem Wasserlauf zu beseitigen. Die Täter werden bald gefasst und in der Haft schwer misshandelt, ihre Geschichten analytisch nachgetragen. Hintergrund ist die traditionelle Außenseiterposition des Opfers, dessen Aktivität bei einer für die minderjährige schwangere Freundin eines späteren Mörders lebensgefährlichen Abtreibung, vermutete versteckte Reichtümer, aber auch untergründige homosexuell-homophobe Motive. Der gewaltvertraute, explizite, verdichtende Roman leuchtet in eine untere Bodenfalte menschlicher Existenz, in der Jugenddelinquenz, Missbrauch, Promiskuität, Drogensucht und Kulturferne einen primitiven Gewaltcocktail bilden. Machorituale, Aberglaube und konservative Mütterrollen zementieren das Ganze, ebenso die zusammenwirkenden Gewaltmonopole der grausamen Narco-Kartelle und der korrupten Polizei. Gerade dadurch beeindruckt das Buch so: dass es in schonungsloser Sprache den Teufelskreis der ganz selbstverständlichen extremen Verwahrlosung schildert. Unterfüttert wird die Überzeugungskraft durch die Lebensumgebung am Rande der Zivilisation, in der niemand irgendeine Kontrolle über das eigene Handeln ausübt. Genau dies mag, wer will, auch als Lücke betrachten: dass die Symptome ausgebreitet werden, ohne jede politische Analyse, ersetzt durch die in der lateinamerikanischen Literatur fast vorgeschriebene fatalistische Suggestion des Tropischen. 10.2.2020

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Moldawien Pyotr Magnus Nedov – Zuckerleben. Roman. 2013 (TB 2014).

Als Roadmovie beworben, und, falls verfilmt, zu Recht. Eigentlich eine simple postsowjetische Geschichte, aber komplex erzählt, erstens durch Aufschüttelung der Chronologie, was jeder mittlere Krimiautor kann, zweitens aber, indem viele sehr konkrete Details zunächst unerklärt gelassen sind, mit der Folge, dass sich alle Puzzleteile erst gegen Schluss zusammenfügen. Situationen, die nur Menschen kennen, welche in einem plurikulturellen Winkel des Ostblocks aufgewachsen sind, skurrile Typen und eine nicht so richtig wahrscheinliche, aber programmkinotauglich unterhaltsame Handlung: Ein moldawischer Automobilist trifft 2011 im von Finanzkrise und Massenentlassungen labilisierten Italien auf ein suizidales Pärchen, mit dem er in einem abgelegenen Hotel landet. Zwanzig Jahre zuvor hat er in der moldawischen Stadt Donduşeni, nahe der ukrainischen Grenze, begonnen, seinen Traum von der Auswanderung nach Westen umzusetzen, mit dem finanziell erheblichen Nachlass des ermordeten schwarzbrennerischen Leiters einer Zuckerfabrik, gegen das Gewaltpotential eines örtlichen Ethno-Syndikats, mit Hilfe einiger Freunde, einer hellseherischen Tante und einer jungen, hübschen Italienischlehrerin. Die Story ist nicht ohne Tragik, aber ebenso voll Komik, und soll auch so wirken, alle Zutaten sorgsam gemixt, gespickt mit herrlich absurden Twists, gepfeffert mit schwarzem Humor. Einer der stärkeren Nachwendetexte ohne analytischen Anspruch, der über die Mentalität einer kleineren Sowjetrepublik hinausginge, aber Anschaulichkeit ist ja auch nicht wenig. 24.11.2019

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Monaco Armand Gatti – Kleines Handbuch der Stadtguerilla. Vier Stücke. 1971. A. d. Frz. (dt. EA TB 1971).

Ein tiefer Blick in das spontanistische Schauspielgetriebe der Pariser 68er-Bewegung. Die kurzen Skripte sind teilweise mehr Handlungsrahmen für Improvisationstheater in einer Abfolge von Szenen oder Bildern als konsequent durchgeführtes, dramatisiertes Geschehen. Sparsames Bühnenbild, viel Dokumentation, eine hohe Wette auf Interaktion mit dem Publikum. Zuschauerreaktionen werden erhofft, ja minutiös eingeplant, nach Optionen differenziert. Dagegen bleiben die Personengruppen bewusst schematisch. Es geht um den Vietnamkrieg als Schulstoff, um kapitalistische Betriebsführung mit Durchleuchtung der Beschäftigten, auch lesbar als Staatsallegorie, um einen kubanischen Guerilla-Trupp, dessen Anführer seine französische Geliebte über sein Himmelfahrtskommando in Brasilien täuscht, um eine durchschnittliche, politisch desinteressierte Krankenschwester, erkennbar repräsentativ für „arbeitende Bevölkerung“. Episch-agitatorisches Ausprobiertheater natürlich, erträglicher, wo es nicht versucht, der Ubu des Königs zu sein. Schauspieler sagen ihre Figuren auf, ihre Texte verhehlen schriftliche Quellen kaum, scheinen aus dem gesellschaftskritischen Journalismus ausgeschnitten. Habituell wird der Bühnenraum nach Himmelsrichtungen abstrakt gegliedert; die Semantik von Süd oder Ost beschränkt sich aber auf die Handlungsanweisungen. Bucht man die seinerzeit aktuelle linke Themenpalette als selbstverständlich, so bleibt die Frage, wie viel vom Modus dieser Theatervariante sich als fruchtbar erwiesen hat. Da werden die Meinungen zwischen „enorm“ und „minimal“ extrem auseinandergehen, doch gilt dies bekanntlich für die gesamte engagierte Literatur jener stark vergangenen Epoche. 4.12.2020 152

Mongolei Galsan Tschinag – Gold und Staub. Roman. (EA 2012/TB 2015)

Sehr fremd, gefühlsbetont, aber anschaulich und nachvollziehbar, weil der Autor, der zu seiner eigenen Figur wird, deutsch schreibt, ein idiosynkratisches, farbiges, erfindungsreiches, kein falsches Deutsch, und weil er ohne Scham tief in sein Seelenleben, seinen Glauben und seine Emotionen blicken lässt. Sein Projekt: Mit dem am europäischen Wohnort verdienten Geld die Begräbnisstätte seiner Familie und des Tuwa-Stammes in eine gartenähnliche Anlage mit weißem Schotter und zahlreichen, genau gezählten Bäumen zu verwandeln. Als Häuptling führt er dies mit Hilfe einer zupackenden Schamanin und eines seelenverwandten kasachischen Fahrers zum Ziel. Zugleich verfolgt er skeptisch, voller Gewissensbisse, aber wehrlos den Beginn devastierender Goldschürfarbeiten, die eine junge reiche Witwe mit seiner Zustimmung initiieren will. Zerrissen zwischen der Verliebtheit eines alternden, hochrespektablen Mannes und der Verantwortung für die unberührte Natur des Altai fährt der Erzähler zwischen den einsamen Schauplätzen, Bergen, Seen, Wüstenebenen, Weideflächen und Jurtensiedlungen auf endlosen Staubpisten in Jeeps hin und her und versucht, seine spirituelle Integrität zu wahren. Viel wird geträumt, viel Tee getrunken, viel Schnaps auch, viel gesprochen und viel geschwiegen, streng und sensibel nach den Gebräuchen gehandelt: Nomadenzelte sind extrem ritualisierte Räume. Man spürt förmlich die Wellen des immerzu das Gras bewegenden und den Staub aufwirbelnden Windes über der leeren Landschaft. 9.11.2020

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Montenegro Andrej Nikolaidis – Der ungarische Satz. Ein Trauerspiel. ­[Roman]. 2016. A. d. Bosn. v. Margit Jugo (dt. EA 2018).

Das eigenbrötlerische Leben eines hochbegabten bosnischen Schriftstellers, der einen sehr langen Roman publiziert, ein Walter-Benjamin-Fragment fingiert, von den Balkan-Kriegen traumatisiert ist und dem Literaturbetrieb weitgehend aus dem Weg geht, wobei er gelegentlichen Exzessen nicht abgeneigt ist und sich einen Charakterzug zurechtgelegt hat, den man nicht mögen muss (er lässt stets den Erzähler für sich zahlen und sogar alle Probleme und Formalitäten nach seinem Ableben erledigen, wofür der ebenfalls professionell schreibende Berichterstatter sich mit einer umfangreichen Appropriation von dessen Renommee zu entschädigen scheint), der schließlich, dies der Aufhänger der Geschichte, in Budapest freiwillig aus dem Leben scheidet, was als Erinnerung auf einer Zugfahrt nach Wien dargeboten wird; das alles untergebracht, gleichsam ein oulipistisches Bravourstück, in einem einzigen Satz (ungarisch, weil, wie es heißt, das Ungarische solch endlose Sätze begünstige), dank einiger Tricks auch wie dem gerade nachgeahmten, selbständige Perioden durch andere Satzzeichen als den Punkt zu verknüpfen, und trotzdem ein großartiges eigensinniges Experiment, das den bernhardesken Spirit des erfundenen „Joe“ besser einfängt als die explizite fiktionale Lebensbeschreibung es könnte, und das den Lesesog, den es ja erzwingen zu wollen scheint, faktisch erzeugt, wenn man einmal hineingefunden und den Schreibmodus inklusive kursiver Äußerungen des Protagonisten akzeptiert hat. Das musste jetzt natürlich sein. 12.3.2021

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Mosambik Mia Couto – Das Geständnis der Löwin. Roman. 2012. A. d. Portugies. v. Karin von Schweder-Schreiner (dt. EA 2014/TB 2016).

Kulumani, ein Dorf in Mosambik, wird von drei Löwen heimgesucht, die nach und nach über zwanzig Menschen töten. Darum wird der Jäger Arcanjo beauftragt, die Raubkatzen zu erlegen. Er trifft in Begleitung des Schriftstellers Gustavo, des politischen Verwalters Florindo und von dessen Ehefrau Naftalinda ein, stößt aber auf ein Konglomerat aus Misstrauen, Angst, Gewalt, Frauenhass, Aberglauben und Stammesritualen. Erzählt wird abwechselnd aus Sicht des Jägers bzw. der Dorfbewohnerin Mariamar, deren Schwestern ebenfalls zu den Opfern gehören. Sie ist gelähmt, unfruchtbar, radikale Außenseiterin und hatte offenbar vor vielen Jahren eine kurzzeitige Wunschbeziehung zu Arcanjo. Ihr Großvater ist ein magischer Schwadroneur, ihr Vater, der Fährtensucher, ein brutaler Trinker, ihre Mutter eine auf Rache sinnende Übersinnliche. Am Ende sind zwei Löwen tot; sie sei die dritte. Eine lineare Handlung zusammenzusetzen, ist schwer, denn die Figuren gelten teils als verrückt, nicht nur Mariamar, sondern auch Rolando, der Bruder des Jägers, teils gehört das übertreibende Erzählen zum kulturellen Erbe, teils hat sich das animistische Bedeutungssystem in der technisierten Kultur konserviert; Menschen kommunizieren wie Tiere, Tiere wie Menschen. Regeln, die selbst der Ethnologie nur mühevoll durchschaubar sind, scheinen selbstverständlich. Der Text ist zwar von außen geschrieben, versucht aber, in die Haut einer indigenen Logik zu schlüpfen. 4.7.2019

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Myanmar Ma Thanegi – Pilgerreise in Myanmar. 2000. A. d. Engl. v. ­Diethelm Hofstra (dt. EA 2002/TB 2012).

Die reale Autorin, Bewohnerin der damaligen birmanischen Hauptstadt Yangon, begibt sich unbegleitet auf zweiwöchige Pilgerfahrt über Mandalay bis zur chinesischen Grenze. Als einheimische Touristin wählt sie die Form einer Busreise. Das Eigentümliche: Der Text versucht sich auf keine Weise belletristisch, will aber auch kein Reiseführer sein, und selbst in den vertrauten Horizont humoristischer Reiseerlebnisliteratur passt er nicht, denn trotz manch subjektiver ironischer Bemerkung und einiger komischer Details ist er weder Lachlektüre noch kritische Reportage. Er ist einfach die aufgeschriebene, von einigen Handskizzen moderat illustrierte Reise von Yangon nach Ruili, in Bussen, hin lang, Tag für Tag, Station für Station, Mahlzeit für Mahlzeit, und zurück kurz, einfach per Zug. Sein Wert besteht also im Authentischen: Ohne Gags mit sparsamen Reisemitteln in bescheidenen Unterkünften oder Klöstern durch halb Birma. Kurios: Die Verfasserin zeichnet schlicht tagebuchartig alles ungefiltert auf, über sympathische und nervtötende Mitreisende, besuchte Familienangehörige, funktionierende und unterbrochene Straßen, geplante und ungeplante Zwischenhalte, Tagesziele, Märkte, Einkäufe, bestürzend billige Preise, und immer wieder oder hauptsächlich Kulinarisches. Sitten, Gebräuche, Schicklichkeitsregeln, Klosterrituale, Sprache in Minimaldosierung. Gerade weil sie keinen Reiseführer schreibt, generiert sie eine Alltagsanleitung. Essen, waschen, mitten in der Nacht aufstehen, Pagoden, treppauf, opfern, treppab, Nat-Gottheiten, Buddha liegend, stehend, seine Fußabdrücke, Pagoden, Stupas, Pagoden. 31.5.2020

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Namibia Margie Orford – Blutrose. Roman. 2007. A. d. Engl. v. Christoph Göhler (dt. EA TB 2009).

Ein namibischer Krimi, der auf touristischen Blick oder klassische postkoloniale Anklage verzichtet, und siehe da: Deutsche spielen kaum eine Rolle. Denn Schauplatz ist Walvisbay, die einst britische, dann südafrikanische Enklave in Südwestafrika. Zur Klärung einer Kette von Morden an halbwüchsigen schwarzen Straßenkindern wird ein spezialisiertes Ermittlerpaar aus Kapstadt herbeordert, hin- und hergerissen zwischen professioneller Überlegenheit, diplomatischer Zurückhaltung und privaten Paarproblemen. Die Lösung des Falls beruht auf beinahe zu vielen Ingredienzien, überschreitet daher die handelsübliche Glaubwürdigkeit ein wenig, bleibt aber spannend, actionaffin und anschaulich. Dies ist wohl die größte Stärke des Buches: seine Vertrautheit mit der eigentümlichen Atmosphäre einer leeren Hafenstadt aus breiten Straßen und flacher Bebauung, von der man nicht einmal weiß, ob sie bessere Tage gesehen hat, auf der einen Seite von der kompakten Kälte des dunkel­blauen Atlantik begrenzt, auf der anderen unmittelbar von der weißgelben Namib-Wüste, und weite Teile des Tages bedeckt von Nebel. Die soziale Realität Namibias, auch seine politische Vergangenheit und Gegenwart klingen an, vor allem aber die Existenzform von Menschen verschiedener Ethnien und Berufe in einer strukturell bevölkerungsarmen Ansiedlung, einer Stadt von fünfzigtausend Einwohnern fast ohne Nachbarschaft, wo jeder jeden kennt und die ab und zu ein Flugzeug verlässt oder ein verdächtiges Schiff nach Angola. 10.2.2020

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Nepal Manjushree Thapa – Geheime Wahlen. 2001. A. d. Engl. v. ­Philipp P. Thapa (dt. EA 2007/TB 2009).

Ein immens aufschlussreicher, anschaulicher, ausführlicher, aber durch das Sujet zeitlich zielgerichteter und insofern verfilmbarer Roman. Der Aushilfsgeschichtslehrer Rishi, die junge Witwe Binita, ihre heranwachsende Nichte Madhu und ihr Schwager Nayan Raj, Schauspieler und Spitzenkandidat der neuen Teetassenpartei, der am Alkohol scheiternde Lokalpolitiker Giridhar, sein altruistischer Freund Om, dessen anfangs desorientierter, verwahrloster und unterentwickelter Pflegesohn Harsha und viele weitere Figuren bevölkern eine nepalesische Kleinstadt, in der über Monate die Parlamentswahl angebahnt wird. Es werden gezeigt: Optimismus, Korruption und Gewalt im Hinterland einer sich gerade etablierenden Demokratie, der Alltag einfacher Menschen in der Spannung zwischen ländlicher Provinz und der fernen, anonymen Hauptstadt Kathmandu, vor allem aber die meist völlige Verwurzelung, Umstrickung und Fesselung des Individuums in einer traditionellen, multiethnischen, weitgehend hinduistischen Kastengesellschaft, in der ein Mann ohne große Familie quasi inexistent ist, erwachsene Frauen ganz unfrei, beinahe stumm, physischer, auch sexueller Aggression ausgesetzt, junge Männer genauen, zwingenden materiellen Erwartungen der Eltern und junge Frauen, oft noch illiterat, einem starren Körperregime und einem vieläugigen Sittensystem unterworfen sind. Die Gesellschaft entwickelt sich langsam, und das ist gut für die Geschichte, die auf diese Weise genau und kritisch, aber unideologisch und unlehrhaft vorgetragen wird, gemischte Schicksale, Glücksmomente und Versagen, im allgegenwärtigen Griff des Prinzips Familie. 19.11.2019

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Neuseeland Lloyd Jones – Die Frau im blauen Mantel. Roman. 2010. A. d. Engl. v. Grete Osterwald (dt. EA 2012/TB 2014).

Wunderbar, anrührend, klug konstruiert, weitgehend glaubhaft. Eine namenlose junge Afrikanerin lernt als Hotelangestellte in Tunesien den farbigen Berliner Jermayne kennen, der ihre Unwissenheit ausnutzt und sie als Leihmutter missbraucht. Als er mit dem Baby verschwindet, prostituiert sie sich im Hotel und bricht nach drei Jahren als Bootsmigrantin auf. Schiffbrüchig überlebt sie am Strand Siziliens, trampt als Illegale nach Norden und macht den verheirateten Vater ihres Kindes ausfindig. Obdachlos, in der Obhut eines Straßenkünstlers, als Betreuerin eines Blinden beschafft sie durch Entwendungen und sexuelle Dienste das Geld, das Jermayne für kurze Treffen mit dem Jungen verlangt. Bis sie verhaftet, nach Italien überstellt und wegen Totschlags verurteilt wird. Denn sie hat, wie sich herausstellt, im Affekt eine Frau getötet, die sie vermeintlich verraten wollte, und deren Namen Ines übernommen. Spannend durch die Konstruktion: Es folgen einander Protokolle lückenhafter Zeugenaussagen, bis sie selbst aus dem Gefängnis und ganz am Schluss die erstaunlich versöhnliche Adoptivmutter ihres Kindes zu Wort kommen. Reich durch die Intensität anderer Themen – Isolation, Menschlichkeit, Gefühlskälte, Geschäftsdenken, Kriegsverbrechen –, auch durch das erratische Verhalten der Protagonistin, die von Männern Gewalt leidet und Männer ausnutzt, die alles dem Muttersein unterordnet und scheinbar emotionslos sogar das Tabu bricht, systematisch einen Blinden zu bestehlen. 27.10.2019

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Nicaragua Gioconda Belli – Die Republik der Frauen. Roman. 2010. A. d. nicaraguanischen Span. v. Lutz Kliche (dt. EA 2012/TB 2015).

Im mittelamerikanischen Staat Faguas übernehmen nach korrupten männerdominierten Regimes die Frauen die Macht. Die „Partei der erotischen Linken“ gewinnt die Wahl, bildet eine Regierung aus Freunderlinnen, entfernt alle Männer aus öffentlichen Ämtern und Beamtenpositionen, schickt sie zum Blumenanbau, zum Kinderbetreuen, zur Haushaltspflege, löst das Militär auf. Das Experiment kann nur gelingen, weil Faguas unter dem weltpolitischen Radar liegt. Dann: Übler Ex-Richter veranlasst Schusswaffenattentat auf Präsidentin Viviana Sansón; die liegt Monate im Koma und rekapituliert in einem visionären Raum verlorengegangener Gegenstände ihr Leben. Nicht, weil das Buch einen blind männerfeindlichen Banalfeminismus mit stupidesten Vorurteilen repetiert, geschenkt, nicht, weil schlichteste Spontanpolitprogramme zu Abtreibung, Bildung, Ökonomie undurchdacht propagiert werden, denn das Experiment ist einen guten utopischen oder realistischen Roman allemal wert, nicht, weil das Ganze auch noch – beinahe entmutigend – von einem reichen Mann finanziert werden darf, sondern wegen der spannungslosen, dünnen Handlung, der peinlich durchschaubaren Selbststilisierung der Autorin und der unterirdischen Idee, dass ein Vulkanausbruch den Testosteronspiegel der Männer plötzlich gesenkt habe und sie deswegen alles geschehen ließen, weil die Unbekümmertheit, mit der in einer Welt des Holzhammeraktivismus schwarzweiß gemalt wird, nur die Wahl zwischen Ärger und Fremdschämen lässt, ist „Die Republik der Frauen“ leider, ja leider, wirklich ein geradezu irrwitzig schlechtes Buch. 5.12.2019

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Niederlande Joost Zwagerman – Duell. Novelle. 2010. Übers. a. d. Niederl. v. Gregor Seferens (dt. EA 2016/TB 2018).

Feine Kulturbetriebssatire, nicht zu hochgehängt, nicht zu breitgewalzt. Jelmer Verhooff, noch junger, allseits beneideter Chef des fiktiven Hollands Museum in Amsterdam, wird Opfer einer raffinierten Kunstaktion. Als er zwanzig zeitgenössische Künstler zum „Duell“ mit Klassikern der Moderne einlädt, bietet Emma Duiker ein scheinbar kleinformatiges Projekt: Sie kopiert – perfekt – ein Gemälde von Mark ­Rothko und schafft sogar weitere Replikate. Der gängige Fälschungsdiskurs so weit. Heimlich aber entwendet sie den echten Rothko, schickt das Bild auf eine Reise durch obskure Stationen in Europa und lässt diese Befreiung von der Musealität, so ihre Intention, bildlich dokumentieren und textlich kommentieren von einem prominenten Kunsttheoretiker, dem sie die Anregung verdankt. Als der Tausch auffällt, reist Verhooff mit einem schrulligen Restaurator nach Ljubljana, wo das millionenschwere Original unauffällig in einer Schule hängt und bei der nötigen gewaltsamen Rückentwendung beschädigt wird. Da die Reparatur Jahre dauern wird und geheim bleiben muss, lässt der Direktor stattdessen ein Replikat hinter Glas ausstellen. Dazu muss er Emma, die er insgeheim mag, ihr Gesamtprojekt für einen Euro abkaufen. So weit gerettet. Doch die Stadtverwaltung verlängert seinen Vertrag nicht; zugleich wird seine Nachfolgerin vom MoMa bekniet, genau diesen auratischen falschen ­Rothko zum Hauptstück einer Ausstellung in New York zu machen. Und nun? 31.5.2019

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Niger Abdoua Kanta – Lelee, das Hirtenmädchen. Eine afrikanische Geschichte. 1987. A. d. Frz. v. Annelies Burckhardt u. Anna ­Katharina Ulrich (dt. EA 1994).

Ein illustriertes Jugendbuch aus dem Niger; die Geschichte eines elfjährigen Mädchens, im Original zunächst Halimatouyelle geheißen, aus der Fulbe-Population, bis zu ihrer ersehnten Verlobung mit dem attraktiven Cousin Alto. Die hübsche, intelligente Hirtin leidet darunter, dass sie als Erstgeborene von Mutter und Großmutter keine sichtbaren Zeichen der Zuneigung erfahren darf. Sie trägt bereits Verantwortung: für die Herde, den Verkauf eines Tieres im Dorf und die Einkäufe, die sie von dort zurücktragen muss. Die Familie wächst, als der Vater nach vielen Jahren mit seiner Zweitfrau zurückkehrt, was mit einem Fest begangen wird. Der Kreis scheint sich zu schließen, als Lelee sich verliebt. Sie wird das Leben der Erwachsenen nachleben; bisher zeichnet sich Unzufriedenheit mit den zahllosen Gebräuchen, aber keine Auflehnung gegen die rituellen Vorschriften und Einschränkungen ihrer Ethnie ab. Der Verfasser schildert diesen ländlichen Alltag ohne Pathos, aber erkennbar aus lebendiger Erfahrung, und ermöglicht so Einblicke in die kulturellen Normen und Praktiken und auch in das kollektive Traditionsrepertoire, etwa, wenn die Großmutter das komplexe Märchen von der Kürbisflasche erzählt, die zerstörerischen Wind birgt. So entsteht ohne belehrende ethnologische Geste namentlich für Nicht-Afri­ kaner eine Einsicht in das teils sehr fremde Gefühlsregime und das nicht ohne weiteres durchschaubare Regelwerk, nach dem Familien­verbände funktionieren. 15.4.2021

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Nigeria Chimamanda Ngozi Adichie – Blauer Hibiskus. Roman. 2003. A. d. Engl. v. Judith Schwaab (dt. EA/TB 2015).

Eine reiche nigerianische Familie in einer westafrikanischen Großstadt befreit sich von ihrem bigotten und gewalttätigen Oberhaupt. Isoliert erzogene Kinder lernen schuldbewusst das normale Leben kennen. Eine Vierzehnjährige erzählt, wie sie durch abrupte Ablösung vom übermächtigen Vater einer besseren Zukunft entgegensehen kann. Nach einem Militärputsch hält der aufgrund einer Missionserziehung strenge, unbeherrschte, aber überaus wohltätige und religiöse Fabrikant und Verleger Eugene Achike den Anforderungen durch Diktatur und liberales Aufbegehren seiner Schwester nicht mehr stand und stirbt an seinem Schreibtisch. Die gehemmte Musterschülerin Kambili berichtet, wie der vom Vater lange unterbundene Kontakt mit der Tante und dem als heidnisch gemiedenen Großvater ihre Emotionen freisetzt, so dass sie sich in einen jungen Priester verliebt. Ein aufgrund seiner Großzügigkeit allseits geschätzter Arbeitgeber bestraft seinen Sohn und seine Tochter bei den geringsten Verstößen gegen christliche Vorschriften oder Tagespläne so brutal, dass das Mädchen eines Tages beinahe stirbt. Die Hinterbliebenen eines dominanten Familienoberhaupts bleiben in Afrika, während dessen intellektuelle, warmherzige Schwester mit ihren kritisch erzogenen Kindern nach Amerika auswandert. Die misshandelte und unterjochte Frau eines respektablen, aber gegen sie und die beiden Kinder überharten afrikanischen Katholiken vergiftet heimlich ihren Mann, eine Tat, die der halbwüchsige Sohn auf sich nimmt und im Gefängnis büßt. Trockenheit, Regen, Blüten. 28.3.2019

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Nordkorea Bandi – Denunziation. Erzählungen aus Nordkorea. 2014. A. d. Korean. v. Ki-Hyang Lee (dt. EA 2017/TB 2019).

Der Verfasser des deutschen Vorworts legt sich nicht fest, offenbar für den Fall, dass die sieben schlichten, mit überdeutlicher Semantik aufgeladenen und mit technisch wenig raffinierten Rückblenden konstruierten Geschichten sich doch noch als südkoreanischer Fake entpuppen sollten. Vermutlich ist das ein ungerechter Verdacht, aber das Nachwort hütet aufwendig die Identität des Autors, während es ihn durch Nennung von Wohnort, Geburtsjahr und biografischen Details demaskiert, so dass sich Misstrauen einstellen muss. Alle Erzählungen, zwischen 1989 und 1995 datiert, handeln von einfachen Menschen an irgendwelchen Orten Nordkoreas, die der Ideologie des totalitären Regimes geopfert, von Kadern missbraucht oder in Sippenhaft genommen werden, die sich nach Freiheit sehnen, eine Flucht planen, in Verbannung geraten, Zwangsarbeit leisten, angeklagt und bestraft werden, sich verstellen, sich arrangieren, von ihrer Loyalität verhöhnt werden, aus den Unzumutbarkeiten eines solchen Lebens in den Tod gehen. Symbole und Metaphern sind simpel: der rote Giftpilz des Parteigebäudes und des Kommunismus, das Theaterspiel der Kulturgruppe und der täglichen Verstellung, der Baum vor dem Haus, umgehackt als Bild eines gescheiterten Lebensentwurfs, die Furcht des Kindes vor den überlebensgroßen Porträtplakaten von Marx und Kim Il-Sung in der Haupstadt, die vergebliche Reise zur sterbenden Mutter und die lebensgefährliche Bahnfahrt während einer Inspektionsfahrt des großen Führers. 30.3.2019

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Nordmazedonien Vlada Urošević – Meine Cousine Emilia. Roman in achtzehn Erzählungen. 1994. A. d. Mazedon. v. Benjamin Langer (dt. EA TB 2013).

Eine eigentümlich verwunschene, auch verwunschenseinwollende Kette von Phantasie-Erinnerungen, die analog funktionieren: Der Erzähler denkt an das Skopje der Jahre im und nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, als zu seiner Großfamilie das begehrenswerte jüdische Mädchen Emilia gehörte. Mit ihr durchstreift er in einer immer wieder durch Aufträge der Erwachsenen eröffneten Parallelwelt, die den kauzigen Großeltern, Onkeln und Tanten nur bedingt zugänglich scheint, die geheimnisvolle, sich stets wandelnde alte Stadt, erkundet die meist unmittelbar benachbarte Kehrseite seiner Alltagsorte und gerät immer wieder in vergangene oder erträumte sommerliche oder nächtliche Erlebnisräume: das labyrinthische Hotel Lissabon, die abgründige Schule, das verbotene Hamam, ein mysteriöses Schiff, das vom Nebel ins Binnenland gezaubert scheint, eine aus der Zeit gefallene Gewürzhandlung. Das Übernatürliche und das Nichtexistente wirken möglich: Einhörner und andere phantastische Tiere, unverhoffte Schätze, nicht mehr verkehrende Züge, geisterhafte Passagiere oder Hotelgäste. Überall, im allgegenwärtigen Nebel, in der rätselhaften Nachtdroschke, im Gewitter, begegnet der junge Mann seiner Cousine, mit der ihn eine aufkeimende komplizenhafte Erotik verbindet. Der begehrenswerten Emilia eignet, so scheint es zeitweise, auch eine phantasmagorische Existenz, bis die Trennung das Buch in eine traurig nachgeholte Adoleszenzphantasie verwandelt. Die erkennbar konstruierten hintergründigen Korrespondenzen schränken das Überraschende ein; insofern war das vorsichtige Genrekonzept eine kluge Wahl. 18.12.2020

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Norwegen Per Petterson – Pferde stehlen. Roman. 2003. A. d. Norweg. v. Ina Kronenberger (dt. EA 2006/TB 2008).

Der Norweger Trond Sander ist 1933 geboren, also aufgewachsen während der deutschen Besatzung. Als er 67 Jahre alt ist, sind seine zweite Frau und seine Schwester gestorben, zu seinen zwei Töchtern hat er wenig Kontakt. So hat er, dem es im Leben gutgegangen ist, beschlossen, seine restlichen Jahre als Einsiedler mit Hund in einem Waldhaus nahe der schwedischen Grenze zu verbringen. Die grandiose spätherbstliche Natur, Wald, Fluss, Jahreszeiten sind der Rahmen einer tiefgreifenden Erinnerung, ausgelöst dadurch, dass er seinen Hüttennachbarn Lars nach über 50 Jahren wiedererkennt: als Nachbarskind, das durch einen Unfall seinen Zwillingsbruder erschoss. Damals, im Sommer 1948, hatte Trond aufgrund der Tragödie die Verbindung zu einem weiteren Kind der Nachbarsfamilie, seinem Spielkameraden Jon verloren. Damals hatte er mit seinem als Kameraden geliebten, vorbildlichen, moralisch integren Vater Holz gefällt und war über die Grenze geritten. Damals hatte dieser Vater, der ein von Trond bemerktes Verhältnis zur Nachbarsfrau unterhielt, unangekündigt seine Familie verlassen. Er hatte nur einen Abschiedsbrief nach Oslo geschickt und eine Anweisung auf einen kleinen Geldbetrag bei einer Bank in Schweden. Das ist alles, naturverbunden erzählt, beinahe wortkarg, obwohl das nur so scheint. Es duftet nach Wald und Pferden und Kaffee und reiner Luft. Ein Buch zum Tiefdurchatmen. 26.6.2019

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Österreich Petra Piuk – Toni und Moni oder: Anleitung zum Heimatroman. 2018 (TB 2019)

Klassisches, funktionierendes Beispiel akademisch konditionierter Metafiktion. Soll heißen: Alles, was in einer Lehrveranstaltung über den Roman im Roman, die Illusionsstörung oder die Persiflage auf eine Gattung mit deren Mitteln vorkommt, ist verarbeitet, vor österreichischem Hintergrund und am österreichischen Objekt. Ein Meta-Heimatroman aus Schöngraben an der Rauscher, mit jugendlichem Liebes- oder jedenfalls Paar, dessen Figuren natürlich dumpf und triebgesteuert, dessen Welt inzestuös, machistisch, eng und bräunlich ist, ein einziges Missbrauchsspielfeld, und dessen Handlung so vorprogrammiert, dass die bösen Pointen und der brachiale Schluss unbedingt auch vorherzusehen waren. Man vegetiert zwischen Kirche und Wirtshaus, Tourismus und Fremdenfeindlichkeit, Gewaltneigung und Kopulation; anders kann und darf man in der Alpenrepublik über Dörfer wohl kaum schreiben. Natürlich kommt die Autorin unter Klarnamen vor, ebenso eine Frau Schriftstellerin, die Lektorin und eine junge Frau aus der Stadt, die einen Heimatroman schreiben will und der es damit ungut ergeht. Innerhalb des metanarrativen Schemas keinerlei Überraschung, und doch gelungen, weil extrem kleinteilig, also kurzweilig vorgetragen und ohne jedes Herumreiten auf einem einzelnen Kunstgriff, allenfalls auf der Schlagerwelt und gegen Ende auf der Metaebene des Buchkosmos, sowie darauf, dass das dumme Dorfbiotop dominant männlich und der Ausbruch daraus gegebenenfalls weiblich sei. Na gut, so verkauft es sich vermutlich leichter. 27.1.2020

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Pakistan Mohsin Hamid – So wirst du stinkreich im boomenden Asien. Roman. 2013. A. d. Engl. v. Eike Schönfeld (dt. EA 2013/TB 2015).

Man könnte ironiefrei und ein gelungenes Konzept anerkennend sagen: In Pakistan wird die Postmoderne neu erfunden, denn der kurze, aber lebenslange Roman präsentiert sich metafiktional als Ratgeber für ein materiell erfolgreiches Leben und erzählt durchgehend in der zweiten Person. Auch reflektiert er explizit die Optionen des Schreibenden, der Lesenden, der gewählten narrativen Form. Dessen ungeachtet konstruiert er unterhaltsam und gelungen die Vita – von der Geburt in armen bis zum Tod in verarmten Verhältnissen – eines fiktiven Du. Weder Orte noch Personen haben Namen. Die Geschichte eines durchschnittlichen, finanziell reüssierenden Mannes ist Gebrauchsanweisung nur, insofern sie idealtypisch abläuft. Die kurzen Kapitel beleuchten die entscheidenden Situationen aller Lebensphasen. Der männliche Pakistani also zieht mit seinen Eltern vom Dorf in die aufstrebende, aber stets chaotische, von Gewalt und Korruption geplagte Großstadt, beginnt mit Gelegenheitsjobs, illegalem Kleingewerbe, bis er durch Bestechung zum stinkreichen Wasserhändler aufsteigt. Zwar heiratet er, hat einen schwulen Sohn, der in die USA auswandert, und seinen Familienclan, doch seine Liebe gilt einem Mädchen, mit dem er als Jugendlicher einmal geschlafen hat. Nie haben sie ganz den Kontakt verloren, doch erst im Alter ziehen sie zusammen. Sie stirbt in seinen Armen und er, du, dann bei gemindertem Bewusstsein im Spital. Ende. 11.8.2019

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Palästina Sahar Khalifa – Heißer Frühling. 2004. A. d. Arab. v. Regina Kara­ chouli (dt. EA 2008/TB 2010).

Eine Familie in Nablus: Der zum zweitenmal verheiratete Vater Journalist, Madschid, der gutaussehende ältere Sohn, poetisch und musikalisch, will Sänger werden und hat die Wahl zwischen zwei Freundinnen, Achmed, der jüngere, schüchtern und schlichten Gemüts, künstlerisch begabt und leidenschaftlicher Fotograf, verliebt sich in das Mädchen Mira aus einer benachbarten israelischen Siedlung. Beide geraten durch Zufall oder Missverständnis unfreiwillig in den bewaffneten Kampf gegen die Besatzer: Madschid als gesuchter Attentäter, Achmed als Häftling wegen Grenzverletzung. Als sich der Konflikt zuspitzt, erlebt Madschid in Arafats Miliz die Belagerung Ramallahs, während Achmed als Sanitäter die Toten und Verwundeten birgt. Der Ältere entfernt sich immer weiter von seinen Wurzeln und beginnt abgehoben eine Politkarriere, der Jüngere trifft bei einer Demonstration Mira wieder und steuert, nachdem sein Elternhaus an der Demarkationslinie von Bulldozern eingerissen wird, in einer Art Wut-Kurzschluss seinen Krankenwagen in die israelischen Soldaten. Das traurige Schicksal einer per­ spektivlosen Generation junger Palästinenser, die abgeschnitten ist von der Außenwelt, vom Wohlstand, vom Meer sogar, und sich vergessen fühlt im Schatten der Weltgeschichte. Insofern natürlich eine wichtige Stimme, die auch den weiblichen Blickwinkel repräsentiert und dokumentierte Historie emotional abbildet. Das Buch verarbeitet erkennbar Augenzeugenmaterial, tut sich aber schwer mit Dialogen und der Konstruktion einer schlüssigen Geschichte. 18.1.2021

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Panama Ramón Fonseca Mora – Der Tanz der Schmetterlinge. Roman. 1995. A. d. Span. v. Lisa Grüneisen (dt. EA TB 2000).

Ein eigentümlicher, nämlich eigentümlich unentschiedener, im Nachklang erstaunlich blasser Roman. In Santa Lucía, offenbar Hauptstadt eines mittelamerikanischen, erst seit wenigen Generationen unabhängigen Staates, scheint der bürgerlich lebende, ledige, genügsame und disziplinierte Richter Anselmo Fuentemayor einer der wenigen Aufrechten zu sein, während das Land abwechselnd von den Militärs unter psychotischen Obristen oder skrupellosen Hauptleuten regiert wird. Belagert von seiner wohlmeinenden, penetranten Schwester und deren korruptem Ehemann, wird der Richter Ziel eines Komplotts, das von einer, eigentlich zwei abgeschmackten Geheimgesellschaften inszeniert wird und ihn durch etwas verführt, was an erotische Erfüllung grenzt. Nun kennt man den lateinamerikanischen Diktatorenroman, dessen Muster die ersten Seiten zunächst folgen. Das wäre vielleicht nicht originell, aber möglicherweise ehrenhaft, progressiv und von Nutzen für das eigene Land. Doch das Buch entscheidet sich nicht zwischen Politsatire, Gruselthriller, Familiengemälde und Liebesabenteuer und ebenso wenig zwischen philosophischem Tiefsinn, riskantem Polit-Engagement und fundierter Machtanalyse, denn im Grunde bleibt alles eine ärgerliche Familienintrige, die vor Haushälterin, Krankenschwester und Sekretär auch erzählerisch nicht haltmacht. Geheimbünde, Zwölferkreise, Kapuzen und abgelegene Villen gibt es in der Literatur mehr als genug, und weder die Kerkertiefpunkte der Story noch die Auflösung sind mit dem nötigen dramaturgischen Geschick in Szene gesetzt, um zu beeindrucken oder auch nur zu überzeugen. 21.6.2020

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Papua-Neuguinea Albert Maori Kiki – Ich lebe seit 10000 Jahren. 1968. Übertr. a. d. Engl. v. Margarete Spitzer (dt. EA 1969/TB 1982).

Keine Fiktion, sondern der Lebensbericht eines Aktivisten und Politikers, der noch unter den Bedingungen des traditionellen Stammeslebens in Neuguinea aufwuchs, aufgrund der Herkunft seiner Eltern teils in der Küstenkultur, teils in einem Dorf im kaum zugänglichen Landesinneren. Der größte Teil der Autobiografie behandelt das Erwachsenenleben Kikis, der sich, nachdem er einmal eine Schulausbildung durchlaufen hat, als britischer Kolonialbürger auf Fidji weiterbilden kann und sich schließlich für die Emanzipation der Bewohner von Papua-Neuguinea einsetzt, als Verwaltungsbeamter, Gewerkschafter, Parteipolitiker. Natürlich ist die offenbar authentische Schilderung des Alltagslebens und der Gebräuche, die gemeinhin als neolithisch etikettiert werden, der spannendste Teil. Der Verfasser berichtet über Dorf- und Nomadenleben, Initiationsriten, Jagd, Naturreligion, Magie, über die berüchtigten Arten der Blutrache. Seine Autorpersönlichkeit wird dabei zwangsläufig zu einem Konstrukt, das ihn als einen Zeitreisenden modelliert, der noch in einer unendlich fernen, schwer verständlichen und überdies wenig respektierten Kultur wurzelt, zugleich aber westliche, moderne Normen anstrebt und beansprucht. Die daraus resultierenden Widersprüche ließen ihn einerseits als unterlegenen Empfänger von Wohltaten erscheinen, andererseits als Feind der Australier, als undankbaren, aggressiven Eingeborenen, der eben doch nur halbzivilisiert war. So könnte der auf einem englischen Original basierende Buchtitel, der die Steinzeitmetapher paraphrasiert, bei aller guten Absicht eine zweifelhafte Wirkung ausgeübt haben. 18.8.2020

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Paraguay Susana Gertopán – Die dunkle Gasse. Roman. 2010. A. d. paraguayischen Span. v. Stefan Degenkolbe (dt. EA TB 2012).

Problematischer Text. Die gute Absicht, die eigentümliche Existenzweise jüdischer Emigranten in Paraguay nach dem Zweiten Weltkrieg fühlbar zu machen, dringt durch. Nur leider ist er entsetzlich schlicht ausgeführt, mit hölzerner Rahmenkonstruktion, und nichts kann davon überzeugen, dass sich dies einer ironischen, absichtlichen Strategie verdankt. Auf Bitten seines seit Jahrzehnten ausgewanderten Cousins Ariel schreibt der in Asunción aufgewachsene José Erinnerungen nieder: an die überbehütete, isolierte, von den Erwartungen der eingeschränkt lebenden Eltern unterdrückte Jugend in den Hinterzimmern eines kleinen Ladengeschäfts, an die heimlichen Exkursionen über die Straße hinüber zum belebten Markt, an sein Coming-of-Age und die stumme Ablösung von der in ihrer jiddischen Sprachkultur befangenen Kleinfamilie, indem er nicht studiert, sondern in der unterweltartigen dunklen Gasse, einem Rotlicht-Appendix des Marktes, einen Stand als Kräuterkundiger und Naturheiler betreibt, bis diese ganze Elendswelt allmählich der Modernisierung selbst der rückständigen Stroessner-Diktatur weicht. Natürlich, Dialoge, simpel zum Steinerweichen, veranschaulichen zwingend auch Monotonie, unbeholfen-doppeltes Sagen und Zeigen passt gleichermaßen zu Josés Lesewut und Bildungsverweigerung, Cluster verunglückter Metaphern repräsentieren die aussichtslose Sehnsucht des Schreibers nach Höherem. Und das vorhersagbare Hinsteuern auf ein düsteres Geheimnis, welches bloß eine weitere Anschauungsform der Misere ist, soll Struktur erzeugen und den Gedächtnisverlust der beiden Verwandten durch Schock motivieren. Aber, wie gesagt: 31.1.2020

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Peru Mario Vargas Llosa – Das böse Mädchen. Roman. 2006. A. d. Span. v. Elke Wehr (dt. EA 2006/TB 2007).

Eine klassische, seriell konstruierte Femme-­fatale-Geschichte. Der Peruaner Ricardo Somocurcio berichtet rückschauend, wie er in seiner Jugend die verführerische Lily kennenlernt, die er später in Paris wiedertrifft, von wo sie, als Untergrundkämpferin ausgebildet, nach Kuba reist. Seitdem sucht das böse Mädchen, das unter verschiedenen Identitäten auftritt und erst am Schluss seinen wahren Namen – Otilia – erhält, den gutmütigen und ihr rettungslos verfallenen Ricardo regelmäßig wieder auf, lässt sich von ihm lieben, beansprucht seine Hilfe und verschwindet dann wieder, um mit immer mächtigeren Männern zusammenzuleben, einem Guerillaanführer, einem französischen Beamten, einem britischen Pferdezüchter, einem sadistischen japanischen Drogenhändler, zuletzt einem betagten Franzosen, der ihr wenigstens Geld bieten kann. Die liebesunfähige, nach der Sicherheit des Wohlstands süchtige Hochstaplerin aus kleinsten Verhältnissen ist schwer traumatisiert, trägt auch irreparable physische Verletzungen davon und stirbt, nachdem sie Ricardo ein letztes Mal in Madrid aufgespürt hat, als seine Frau an Krebs. Ist das ein Buch, das man mag? Die Geschichte kann so passieren. Der durchschnittliche Erzähler, der nur als Zwischenstation gut genug ist, läuft Illusionen hinterher: der von der irgendwann doch funktionierenden Liebe, der vom kleinen Glück in Paris, der von der intakten Kindheit in einem Lima, das es lange schon nicht mehr gibt. Eine Lebenssumme aus traurigen Episoden. 14.10.2019

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Philippinen Francisco Sionil José – Gagamba, der Spinnenmann. 1991. A. d. philippin. Engl. v. Markus Ruckstuhl (dt. EA 2014).

Die Titelfigur ist ein Krüppel, der vor dem Luxusrestaurant „Camarin“ mit angeschlossenem Bordell in Manila geparkte Autos bewacht und Lose verkauft. Mit seiner Existenz will zwar niemand tauschen, aber er überlebt am 15.  Juli 1990 ein Erdbeben, das ansonsten alle Betreiber und Gäste des renommierten und beliebten Etablissements bei dessen Einsturz in den Sekundentod reißt: Inhaber, Kellner, Prostituierte, Geschäftsmänner und Politiker bei ihren konspirativ-korrupten Mittagessen, aber auch ein obdachloses Tagelöhnerpaar aus der Provinz, einen Amerikaner auf Besuch bei seiner philippinischen Halbschwester, einen im Stich gelassenen Mann, einen wider Willen eingeladenen Priester, einen bisher unbestechlichen Offizier, der nun einem unablehnbaren Angebot widerstehen muss, einen regimekritischen Journalisten. Diese und andere sterben in den Trümmern, so dass ihre Geschichten abbrechen, ihre Probleme sich abrupt lösen. Schicksal, Vorsehung, Ungerechtigkeit, Absurdität, diese klassischen Deutungsmuster offerierte schon der berühmte Vorgängertext von Thornton Wilder. Das zentrale Verdienst der Konstruktion ist sicher der Querschnitt durch die Gesellschaft der Philippinen nach der Marcos-Diktatur, die sich auf der Suche nach der Befreiung von deren Erbe befindet, auch von der amerikanischen Hegemonie, auf dem Weg zur Modernisierung und implizit zur erhofften echten Demokratie. Der blinde Zufall einer Naturkatastrophe erlaubt es, die natürlich sorgsam komponierte Auswahl der Figuren als objektives Sample auszugeben. 26.7.2020

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Polen Sczepan Twardoch – Drach. Roman. 2014. A. d. Poln. v. Olaf Kühl (dt. EA 2016/TB 2017).

Herausragender Vielpersonen-Roman in großem Familienzusammenhang, angesiedelt um das heutige Gliwice. Im Mittelpunkt einige durch Generationen getrennte Männer, die Großepoche zwischen dem späten 19. und dem frühen 21. Jahrhundert, namentlich der Erste Weltkrieg, die oberschlesischen Aufstände, der Zweite Weltkrieg. Grenzziehung, Gräueltaten, Morde, andere gewaltsame Tode, das harte Leben der Bergleute, das moderne, zunehmend wohlhabende Polen, stummes Leiden der Frauen früher, Geschlechterkonflikt heute, im Irrenhaus endende Männer: Zechenarbeiter, Soldat, Architekt. So weit traditionell, aber das stimmt nicht, denn: Es erzählt die Erde, ein Drache, über dessen Körper die Menschen krabbeln, so sagt es ein prophetischer Irrer, die selbst wieder Erde werden. Aus ihrer Sicht hat nichts Bedeutung, auch die vergehende Zeit nicht, Menschen unterscheiden sich nicht substantiell von Tieren, die Familie nicht vom namenlosen Rehrudel im Grenzwald. Jegliches ist kurzlebig, die politische Geschichte Oberschlesiens erst recht. Alles geschieht zur gleichen Zeit, nur früher oder später. Allenthalben temporale Sprünge, Rückstürze, knappe Ausblicke auf Leben und Tod der vielen Figuren. Jedes Kapitel berührt zahlreiche Zeitschichten; statt Kapitelüberschriften Ketten von Jahreszahlen, ohne weitere Markierung. Man will den Sätzen oder Abschnitten die Jahre am Rand zuordnen. Zugleich „roman muet“ à la Doderer, denn die meisten wissen das meiste nicht, auch nicht, was sie schicksalhaft miteinander verbindet. 19.5.2019

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Portugal António Lobo Antunes – Gestern in Babylon hab ich dich nicht gesehen. Roman. 2006. A. d. Portugies. v. Maralde Meyer-Minnemann (dt. EA 2008/TB 2018).

Streng komponiert, sechsmal eine Stunde von Mitternacht bis sechs Uhr, Bewusstseinsstrom von jeweils vier Personen. Die Uhrzeit teils präzise indiziert, weil die Schlaflosen sie kontrollieren; die UhrZeit aber auch durchlässig für analoge Momente der Vergangenheit. Gegenstand sind jahrzehntelange private Lebenserfahrungen kleiner Leute in Lissabon, die sich assoziativ erinnern, den sich herausschälenden Personenprofilen allmählich zuzuordnen durch Kennmarken wie das Ostinato zwanghaft sich aufdrängender Gesprächsfetzen. Da ist etwa der kinderlose, spät heimkommende Mann, der, von seiner Frau unbefragt, in der Gefängnisfestung Peniche Folterknecht und Henker im Auftrag des faschistischen Regimes war und dies auf seine unglückliche Kindheit zurückführt, die Frau eines Opfers, das von diesen Sicherheitskräften gedemütigt wurde, ein 85-Jähriger, hartherzig-feudal. Stummheit der Paare untereinander, Frustration und Trauer. Meist alternde Menschen, die sich am Ende des Lebens fühlen. Am Schluss redet die Tochter eines Paars, die sich in einem Apfelbaum erhängt. Das Bewusstsein schlüpft in andere Personen, in Tiere, Traum und Memoria vermischen sich. Die Segmente wiederholen sich lyrisch-hypnotisch. Durchgehend innerer Monolog, der Fiktion nach teils erinnernd, teils aufschreibend. Erstaunlicherweise verdichten sich ab Romanmitte diese metafiktionalen Illusionsbrüche – die Figuren wissen von ihrer Sterblichkeit, ihrem Vergessenwerden, ja, ihrer Gefangenschaft im Roman, schreiben auf Wunsch, bis sich endlich sogar der empirische Autor einmal bekennt. 13.1.2020

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Quechua José Maria Arguedas – Fiesta des Blutes. 1941. Ins Dt. übertr. v. Juliane Bambula-Diaz (dt. EA 1980).

Die Ambition: Quechua als Literaturidiom ernstzunehmen und in den spanischen Erzähldiskurs so einzubinden, dass ein überzeugendes Bild der Mischkultur im gebirgigen peruanischen Hinterland entsteht. Das Dorf Puquio besteht aus vier Indio-Gemeinden, wird jedoch von hispanischen Grundbesitzern regiert, während die Mestizen respektiert im Ort leben oder in die Hauptstadt abwandern. Die Handlung konzentriert sich auf die vom Subpräfekten befohlene, kultivierend gedachte Ablösung des blutrünstigen lokalen Stierkampfes, bei dem üblicherweise die Tiere mit Dynamit attackiert werden und betrunkene Indios ums Leben kommen, durch eine europäische Corrida mit einem aus Lima engagierten Torero. Ein gefürchteter, in der kollektiven Phantasie mythisch vergrößerter Stier wird mit gewaltigem Aufwand und auf Kosten eines Menschenlebens in den Bergen gefangen und herbeigeschafft. Als die Indios sich am Festtag nicht in ihre passive Rolle zwingen lassen, gibt der Bürgermeister spontan wieder das traditionelle Schlachtfest frei, womit der Roman abrupt endet. Dies wird weitgehend wertungsabstinent berichtet, mit scharfem Blick auf die korrupten, unterwürfigen, gewalttätigen Principales, aber auch aus genauer Kenntnis der von ihnen unterdrückten indigenen Kultur, die sich in dem Ausschnitt, den der Roman beleuchtet, zu ihrem eigenen Nachteil durchsetzt. Auffallend das häufig und bewusst gleichmäßig, ja monoton eingesetzte Quechua-Vokabular und die nicht diskriminierenden, aber markanten Dialoge in gebrochenem Spanisch. 16.5.2021

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Roma Matéo Maximoff – Die Ursitory. 1946. A. d. Frz. v. Walter Fabian (dt. EA 1957/TB 2001).

Der erste Roma-Roman ist eine kurze, fast mythische Geschichte. Arniko ist Enkel der Zauberin Dunicha, die von den Angehörigen eines anderen Stammes getötet wird, zuvor aber das Leben des Neugeborenen an ein wunderkräftiges Holzscheit knüpfen kann. Die drei überirdischen Ursitory, die das Schicksal zuteilen und deren Spruch die Großmutter verstehen kann, weisen seiner Mutter Tereina nur vierzig Jahre zu; er aber bleibt unverletzlich, bis das Holz gänzlich verbrennt, was erst geschieht, als der erwachsene, zum kampferprobten Stammesanführer gereifte, allseits geliebte und gefürchtete Arniko seine Frau Orka zugunsten seiner Jugendliebe Helena, der Tochter eines rumänischen Barons, verlassen will und Orka, die Hüterin des Holzes, sich rächt. So wird die Lebensweise einiger Roma-Stämme, die untereinander nach strengen Regeln Todfeindschaften und Verschwägerungen austragen, als Hintergrund eines biografischen Spannungsbogens geschildert, der sich ganz auf die übergroßen und einfachen Emotionen beschränkt. Namentlich die Rituale des Zusammenlebens, des Umgangs mit Außenseitern, der christlichen Feste und des Volksglaubens, der Konfliktbewältigung wie Richtspruch, Abstimmung, Duell, machen den Text zu einer Selbstvergewisserung ohne ethnische Idealisierungen, aber auch ohne direkten Bezug zum unmittelbaren Zeitkontext seiner Entstehung. Gleichwohl liegt der Schluss nahe, dass das animistisch-totemistische Welterleben und die magischen Titelgestalten auch die Frage nach dem Schicksalsspruch über das verfolgte Roma-Volk implizieren. 2.7.2021

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Ruanda Gilbert Gatore – Das lärmende Schweigen. 2008. A. d. Frz. v. Katja Meintel (dt. EA 2014).

Zwei Traumageschichten ineinandergeschachtelt: die der aus Ruanda stammenden Waise Isaro, die, adoptiert und in Paris erzogen, ihre Pflegeeltern verlässt, um in ihrem Heimatland ein großangelegtes Erinnerungsprojekt durchzuführen, und die von ihr geschriebene, von Niko handelnde, einem stummen Schmiedegesellen, der als phantasiebegabter Außenseiter aufwächst und 1994 im Genozid als Anführer einer Mördertruppe zahlreiche Gräueltaten begeht. Niko verlässt eines Tages sein Dorf und sucht auf einer Insel die Höhle der Mannbarkeitsrituale auf, wo er in einer Affenkolonie Unterwerfung und Vergessen übt und schließlich zugrunde geht. Isaro hingegen scheint sich mit ihrem Schicksal ausgesöhnt zu haben, doch ist der Schluss nicht offen genug, um Zweifel an ihrem Selbstmord zu lassen. Die Konstruktion ist vielfach spiegelbildlich-antithetisch; überzeugend wirken die Einblicke in das animistische Seelenleben eines Täters, der zu seinem ersten Mord gezwungen wird und dann einem Macht- und Tötungsrausch verfällt. Das Danach ist kollektives Schweigen; Aufarbeitung scheint übermenschlich schwer. Moralische Fragen nach der Möglichkeit von Widerstand, nach der Substanz des Mörderseins und nach der Überwindbarkeit des Misstrauens werden durch die Geschichten selbst gestellt, ohne theoretischen Diskurs oberhalb. Die Details sind so brutal wie die Ereignisse, die Abgründe erschrecken, Güte bleibt hilflos, Rätseln über die menschliche Psyche führt nur in Ausweglosigkeit, und Schreiben hilft bedingt. 16.4.2020

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Rumänien Radu Ţuculescu – Metzgerei Kennedy. Roman. 2017. A. d. ­Rumän. v. Peter Groth (dt. EA TB 2019).

Humoristischer, episodischer Roman aus der siebenbürgischen Kleinstadt „Untermond“ nordnordöstlich von Klausenburg. Die Originale des Orts begegnen dem begrenzten Alltag mit Optimismus und Phantasie. In der Hitze des Sommers entwickeln sich skurrile Plots und erotische Eskapaden. Da sind der tatkräftige Metzger Flavius Kasian, der unfreiwillig pfeifende Bürgermeister, der letzte im Ort verbliebene Jude, der den Friedhof bewahren will, der Massenvortragskünstler, der auf einer Waldbühne auftritt, der Redakteur des Radiosenders in der Großstadt, der ein glühendes Verhältnis zu einer attraktiven Frau pflegt, der vegetarische Dichter und Metzgereigeselle, der gescheiterte Fußballer und manche mehr. Man kennt sich, man hilft sich. Viel Alkohol wird getrunken, viel Fleisch gegessen. Wenn es eine Pointe gibt, besteht sie darin, dass nach dem Wochenende nicht, wie erwartbar, die modesten Handlungsstränge in einem Feuerwerk oder einer Großkatastrophe konvergieren, sondern das meiste irgendwie implodiert oder verpufft: Die sprechenden Störche weggezogen, die totale Sonnenfinsternis nicht richtig zu sehen, die Metzgerei, kurioserweise nach Präsident Kennedy benannt, eröffnet wohl nicht, weil der Inhaber zufällig von einem Amokschützen verletzt wurde, aber nicht lebensgefährlich, so dass seine Frau, die den ganzen Roman verschläft, in Ruhe liegenbleiben kann. Kleine Literatur, gewiss, hin und wieder auf ebenfalls kleine Art schlüpfrig, wie in Ostblockfernsehfilmen aus den 1970er Jahren. 4.2.2020

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Russland Vladimir Sorokin – Der Schneesturm. Roman. 2010. A. d. Russ. v. Andreas Tretner (dt. EA 2012/TB 2014).

Russland zu einer anderen Zeit – es gibt Silberrubel, Hologrammradio, geometrische Halluzinogene, riesenhafte und kleinwüchsige Menschen und Pferde. Durch Ansteckung mit der bolivianischen Pest können Menschen zu vampirischen Untoten mutieren. Es gibt deutsche Erfahrungen und asiatische Nomaden. Und das bekannte ländliche Russland mit seinen verlorenen Bauerndörfern. Anklänge an das realistische Dem-Volk-aufs-Maul-Schauen und an Kafka bestimmen die Handlung: Der Landarzt Platon Garin muss einer Dorfbevölkerung dringlich die zweite Pest­ impfung bringen, doch auf seiner vorletzten Station sind die Postpferde erschöpft und andere nicht zu bekommen. Bis der Brotausfahrer mit dem Spitznamen Krächz sein Mobil samt fünfzig Kleinpferden zur Verfügung stellt und den Arzt durch den anwachsenden Schneesturm kutschiert. Doch immer wieder unterbrechen Missgeschicke, Unfälle, Kufenbrüche, Schneewehen die Fahrt. Man hält bei einem bösartigen zwergenhaften Müller, mit dessen Frau der Doktor schläft, und bei kasachischen Drogenhändlern, wo Garin die grauenhafte Vision erleidet, in einem Ölkessel zu Tode gesotten zu werden, wonach er freilich euphorisiert erwacht. Die beschwerliche Irrfahrt geht weiter, bis schließlich kurz vor Erreichen des Ziels, an dem auf die Retter möglicherweise durch schon Erkrankte eine tödliche Bedrohung gewartet hätte, der ebenso geistesschwache wie tatkräftige Besitzer des Fahrzeugs erfriert und der halberfrorene Arzt von plündernden Chinesen verschleppt wird, wer weiß wozu und wohin. 25.7.2019

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Sambia Ellen Banda-Aaku – Patchwork. Roman. 2011. A. d. Engl. v. Indra Wussow (dt. EA 2014).

Die Titelmetapher meint das zusammengestückelte Familienleben eines politisch ambitionierten Sambiers und dessen Folgen für die Erzählerin, die zunächst, 1978, neunjährige, später erwachsene Pezo, genannt Pumpkin. Sie ist uneheliche Tochter des wohlhabenden, verheirateten Familienvaters Joseph Sakavungo, lebt mit ihrer alkoholkranken Mutter in einer Wohnsiedlung, wird eines Abends wegen deren Zustand vom Vater auf seine Farm geholt, wo sie fortan gegen den Willen der bösen Stiefmutter unter der Obhut einer Wirtschafterin bleibt, die aus dem Bürgerkriegsnachbarland Rhodesien stammt. Nach vielen Jahren hat Pezo selbst Familie, trifft ihre Jugendfeindinnen wieder und muss erfahren, wie sich der Wille zur Aufklärung traumatischer Erlebnisse und mysteriöser Beziehungen ihres Tata immer noch als Fehler erweist. Guter Roman, weil er nicht primär versucht, Europäern Afrika zu erklären, sondern hauptsächlich schildert, wie ein Mann durch seine – in der sambischen Gesellschaft allenfalls noch akzeptierte – Neigung zu jungen Frauen in außerehelichen Beziehungen trotz immer wieder übernommener Verantwortung das Leben seiner Tochter kaputtmacht. Ist er also an allem schuld? Wegen der gebundenen Erzählperspektive ist das schwer zu beurteilen, denn Pumpkin erweist sich mindestens auch als lügnerisches, diebisches, boshaftes und aggressives Miststück, das sie, aus frustrierter Fixierung auf den Vater, selbst als erwachsene, in Großbritannien ausgebildete Frau und Mutter geblieben zu sein scheint. 21.6.2020

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Samoa Albert Wendt – Die Blätter des Banyanbaums. Roman. 1979. A. d. Engl. v. Doris Pfaff (dt. EA 1982/TB 1998).

Samoa vor und nach der Unabhängigkeit. Tauilopepe, Haupt einer Großfamilie in einem fiktiven Dorf, geht mit der Zeit, rodet Urwald für eine Plantage, in deren Mitte der für sein Leben symbolische Banyan stehenbleibt, erwirbt Wohlstand, verliert aber seine Töchter, seine Frau, seinen Sohn Pepe, der kriminell wird, jedoch charismatisch ist und nach seinem frühen Tod das personifizierte schlechte Gewissen des Vaters bleibt. Alles die Schuld des Helden – und seiner hartherzigen Mutter –, weil er kirchenfromm und materialistisch die traditionelle Lebensweise abstreift, aber nicht nur, denn die anderen Würdenträger, Geistlichen, Verwandten, Dorfbewohner, Prostituierten, rassistischen Neuseeländer, bis zu einem jungen Mann, der ihn am Schluss durch Testamentsfälschung um sein Lebenswerk betrügt, nutzen ihn aus und stellen sich nicht wirklich sympathischer dar. Das ist Stärke und Schwäche des Buchs: Die Charaktere erscheinen in ihren Widersprüchen; niemand ist Vorbild, jeder gewalttätig oder Alkoholiker, oberflächlich, bigott, träge, freilich auch ehrgeizig, uneigennützig, solidarisch. Die Frauen sind noch sehr abhängig, eben Samoa im Übergang. Die Lebenslinie ist eher traditionell aberzählt, ausführlich und chronologisch, gelegentlich sprunghaft. Exakt datierte Briefe lassen durchblicken auf autobiografisches Basismaterial, historische Eckdaten sollte man vorbereitet haben. Konzeptionell, poetologisch, stilistisch nicht typisch kolonial, aber auch nicht postkolonial; möglicherweise deshalb gerade für das nicht-amerikanische Samoa authentisch. 20.11.2020

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São Tomé und Principé Miguel Sousa Tavares – Am Äquator. Roman. 2003. Dt. v. ­Marianne Gareis (dt. EA TB 2008).

Üppiger historischer Roman aus bzw. über São Tomé und Príncipe. Die tragische Geschichte des attraktiven, alleinstehenden Geschäftsmanns Luís Bernardo Valença aus Lissabon, der 1905 vom damals noch regierenden König aufgefordert wird, als Gouverneur der Inselgruppe vor der afrikanischen Küste dafür zu sorgen, dass der Kakaoanbau nicht mehr unter sklaverei-analogen Bedingungen stattfindet. Faktisch leben dort Zigtausende angolanischer Zwangsarbeiter, denen nach einem rezenten Gesetz offiziell Gehalt, Vertrag und eine Rückkehroption zustehen, doch haben sich die unmenschlichen Verhältnisse nicht gewandelt. Höhepunkt ist die Visite des Kronprinzen. Doch die Isolation zermürbt Valença, die Plantagenbarone sabotieren ihn, der seinerseits aus Indien strafversetzte britische Konsul David Jameson und seine wunderschöne, unabhängige, skrupellose Frau Ann setzen ihn unter Druck. Das kann nicht gutgehen. Spannend erzählt, natürlich exotisch und auch im Dienste lohnender historischer Aufklärung. Allerdings sind die erotischen Passagen arg trivial, die Vorstellungen von der sexuellen Verfügbarkeit der farbigen Bevölkerung klischeehaft und die Schilderungen von Anns Weiblichkeit geradezu paläolithisch. Dass die Menschenrechte vor einem Jahrhundert bereits Instrument der Handelspolitik waren, ist die zynische Pointe, die wiederum, je nach kultureller Zugehörigkeit zu einer Ex-Kolonialmacht, die Rezeption des Romans steuern dürfte. Aus portugiesischer Sicht wohl das Epos eines Untergangs, der vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs schon vollzogen war. 28.4.2021

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Saudi-Arabien Rajaa Alsanea – Die Girls von Riad. Roman. 2005. A. d. Arab. v. Doris Kilias (dt. EA TB 2008).

Seien wir ehrlich: Ohne das exzeptionelle Faktum, dass das Buch von einer sehr jungen Autorin aus Saudi-Arabien gegen die Einengung, Entmündigung, Unterdrückung aller Frauen, auch und vielleicht sogar gerade der aus der Upperclass, angeschrieben ist, als Serie von Kettenmails, nachträglich zum Buch zusammengefasst, wäre die Publikation ohne Bedeutung, denn sie versucht zwar, durch ausführliche Motti Struktur zu erzeugen, erreicht aber kein künstlerisches Niveau. Doch darum geht es nicht: Lamis, Sadim, Kamra und Michelle sind gebildete, behütete, überwachte, materiell bestens versorgte Frauen Anfang zwanzig in Riad. Sie studieren und machen Praktika, reisen ins Ausland, ihr Hauptbezugsland sind die USA, ihre Bedürfnisse sind die aller jungen Menschen, und sie arrangieren sich schlecht und recht mit den strengen Regeln von Familie und Gesellschaft. Die Mailschreiberin scheint alle vier gut zu kennen, sieht die scheiternden Liebesbeziehungen, ihre Ungleichheit als Frauen, die ihnen bis zur Ehe zugestandenen beruflichen Ambitionen, den Spagat aller Saudis: den der nur von außen hinzutretenden Männer, Raschid oder Faisal oder wie sie heißen mögen, zwischen Machismo und individueller Sehnsucht nach einer Gefährtin, den der Freundinnen zwischen Heiratsobjekt und teils westlich, teils verhüllt gestylter selbstbewusster Frau. Scharia, Homophobie, religiöser Hass gegen die Schiiten werden am Rande angesprochen, das ist wohl das Maximum. 20.6.2019

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Schottland Ali Smith – Es hätte mir genauso. Roman. 2011. A. d. Engl. v. Silvia Morawetz (dt. EA 2012/TB 2019).

Geniestreich in Greenwich. Wer die Hauptfigur ist, liegt daran, wie man das trickreiche Buch hält. Miles Garth, ein irgendwie human-witziger Typ, wird zur Dinnerparty eines Spießerehepaars mitgenommen. Als die Tischgespräche quälend-peinlich werden, schließt er sich in einem Zimmer ein und verlässt dieses monatelang nicht mehr. Mit allen fatalen Folgen: Die Gastgeberin verliert völlig die Nerven und ihren Gatten, die kuriose Selbstinhaftierung eskaliert bis zum Medienhype, die Kontaktpersonen werden auf ihre Resilienz getestet und kommen erstaunlich gut weg. Ein zweiter Überraschungsgast ist die fast zehnjährige Brooke Bayoude, von ihren Eltern mitgebracht, ein hochbegabtes, hyperaktives, extrem sprachvirtuoses Kind. Fast alle haben irgendwie mit fast allen zu tun, aber auch wieder nicht. Einige sind grauenhaft unsensibel, andere bestürzend empathisch. Situationskomik wird großgeschrieben, schwärzeste Lebenstrauer aber auch. Highlights die mäandernden Phantasien des Mädchens, die Erinnerungsexpeditionen der älteren Erwachsenen, die subjektiv erzählte Episode um eine greise Ausreißerin kurz vor ihrem Tod, die elend detaillierte Aggro-Unterhaltung beim prätentiösen Abendessen. Man sieht es verfilmt vor sich, Notting Hill-artig, nur, trotz Sympathien für diverse Minderheiten, nicht so versöhnlich. Perfekte Alltagssprachkunst, Mittelschichtsatire, Perspektivspiel, bei dem alles und jedes hinterfragt wird und nichts selbstverständlich bleibt, erst recht keine ungeschriebenen Erzählregeln. Es kann so schön sein, intelligenten Autorinnen beim Intelligentsein zuzuschauen. 7.5.2021

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Schweden Lena Andersson – Widerrechtliche Inbesitznahme. Roman. 2013. A. d. Schwed. v. Gabriele Haefs (dt. EA 2015/TB 2017).

Die 31-jährige Stockholmer Schriftstellerin Ester Nilsson verliebt sich bei einem Schreibauftrag blitzartig rettungslos in den bekannten bildenden Künstler Hugo Rask, einen großen Mann mittleren Alters, der bei Frauen Erfolg hat, obwohl oder weil er selbst weitgehend passiv bleibt. Ester verlässt ihren Partner, bemüht sich um Hugos Aufmerksamkeit und Sympathie, schläft dreimal mit ihm – oder er mit ihr, wie sie sagen würde –, doch eine Beziehung entsteht nicht. Hugo hat kein wirkliches Interesse, antwortet nicht auf Briefe, Anrufe, SMS, gibt ihr aber bei mehreren Gelegenheiten doch immer ein wenig Hoffnung. Jedenfalls ist das ihre Sicht. Nach eineinhalb Jahren und längerer Pause sucht Ester ihn noch einmal auf und muss sich damit abfinden, dass er gerade eine andere junge Frau erwartet. Psychologisch ausgezeichnete Analyse, raffiniert vor allem dank der Perspektive der verliebten Frau, die, obwohl hellsichtige Autorin, aus Befangenheit ignoriert, dass, trotz des Buchtitels, der besitzergreifende Mann, der offenbar auch irgendwo außerhalb der Hauptstadt verheiratet ist, vielleicht nur, wie jeder Geliebte, überschätzt, und einfach ein schlechter, skeptischer Kommunikator ist, der genau davon profitiert. Als Taktik wäre Hugos Verhalten böse, doch womöglich schützt sein unzugänglicher Charakter ihn nur. Der Mann bleibt ein turmhohes, kaltes Rätsel; die Marathonläuferin muss vor dem unerreichbaren Ziel kapitulieren. 4.9.2019

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Schweiz Lukas Bärfuss – Hundert Tage. Roman. 2008 (TB 2010).

Ein schweizerisches Buch, weil der an einem heimatlichen Wintertag berich­ tende Protagonist der ehemalige Schweizer Entwicklungshelfer David Hohl und weil der Grundtenor Skepsis, Ablehnung, auch Hass gegen die schweizerische Afrikapolitik ist. Hohl hat zu Anfang der neunziger Jahre lange in Ruanda gearbeitet, Projekte koordiniert, mit anfänglichem Optimismus europäisches Geld verteilt. Eigentlich bleibt er aber im Äquatorland, weil er dort die Einheimische Agathe wiedertrifft, die ihn in Brüssel gedemütigt hat und die er deshalb liebt. Zwar kann er sie sexuell erobern, dringt aber nie zum Kern ihrer zugleich arroganten und libidinösen Persönlichkeit vor. Auch als der Bürgerkrieg ausbricht, bleibt Hohl, sogar während der drei Monate schlimmster Massaker, vor denen er sich in seinem Haus versteckt. Seine Haushälterin wird vom Gärtner ermordet, dieser wieder von marodierenden Jugendlichen, die hingegen den Schweizer schützen und bei der Flucht vor den anrückenden Rebellen ins hernach berüchtigte Flüchtlingslager Goma mitnehmen. Auf der Flucht begegnet er auch Agathe letztmals, als sie an Cholera stirbt. Zuvor hat David begreifen müssen, dass seine Geliebte als Anführerin einer Miliz Massenmörderin ist, und dass es gerade ihr sadistischer Gewalttrieb war, der ihn anzog. Desillusioniert kehrt er ins sichere Europa zurück. Eher eine Reportage; nur die emotionale Selbsterfahrung macht halbwegs einen Roman daraus. 4.8.2019

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Senegal Fatou Diome – Der Bauch des Ozeans. Roman. 2003. A. d. Frz. v. Brigitte Große (dt. EA 2004/TB 2006).

Heißt Roman, ist aber allenfalls durchsichtige Autofiktion einer namenlosen Autorin, die ihre Heimat Senegal vor der Jahrtausendwende verlassen hat und seit Jahren in Straßburg lebt. In ihrem Dorf Niodior im Flussdelta der senegalesischen Küste ist sie inzwischen fremd, gilt als Egoistin, die ihre Familie entweder in Afrika ernähren oder nach Europa nachholen müsste. Familie, das ist in erster Linie ihr jüngerer Bruder Madické, fußballverrückt wie alle, aber als Einziger nicht Fan der französischen Nationalmannschaft, sondern der Italiener, was ihm den Spitznamen Maldini eingetragen hat. Erst am Ende verfolgt er nicht mehr das Ziel Emigration, sondern eröffnet daheim, mit dem Geld der Schwester, einen kleinen Laden. Eine Geschichte entsteht allenfalls durch die Europameisterschaft, deren Matches rekapituliert werden; sonst sind Episoden über andere scheiternde oder gelingende Lebensprojekte männlicher Ortsbewohner oberflächlich vernäht, das Ganze erkennbar als Verarbeitung eines intellektuellen Lebens zwischen den Kulturen und als eine Art Botschaft an die autochthone Jugend. Aber welche? Bekenntnis eigener Orientierungslosigkeit, Plädoyer für afrikanische Autonomie und Lokalpatriotismus, Warnung vor französischem Rassismus und einer Existenz als ungewollter Bootsmigrant, vor dem Optimismus der Fußballlegionäre, viel Appell, viel Pathos, und leider, leider eine frisch und unbekümmert gemeinte, aber ziemlich furchtbare, unsichere und formschwache Stilbruchweltmeisterschaft auf bei jeder Gelegenheit wuchernden Metaphernschlachtfeldern. 1.3.2020

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Serbien Dragan Velikić – Das russische Fenster. Roman. 2007. A. d. Serb. v. Bärbel Schulte (dt. EA TB 2008).

Rudi Stupar aus einer serbischen Kleinstadt will Schauspieler werden, studiert aber Germanistik, arbeitet als Lagerarbeiter und Leichenwäscher, befasst sich mit Heinrich Vogeler, reift zum Schriftsteller, geht nach dem Tod seines Vaters mit einem kleinen Erbe nach Belgrad, Budapest, München, Hamburg, holt nach kontaktarmen, schüchternen Jugendjahren mit vielen jungen Frauen viel nach und kehrt schließlich vorerst in seinen Geburtsort zurück. Das wäre eine banale Selbstfindungsstory unter der Leitmetapher Zugfahrt. Es ist jedoch ein weitgehend tiefgründiges, sensibles und stellenweise großes Buch, vor allem dort, wo die Hauptfigur oder ihre wichtigsten Kontaktpersonen aus dem Bühnenmilieu, Mutter, Freundinnen, ein Autor und andere ihre Lebensprinzipien reflektieren. Das Beste ist aber der Anfang: autobiografische Beobachtungen eines fremden Mannes im Rollstuhl, den Rudi betreut und interviewt, die durch ihre Klugheit als das Eigentliche haftenbleiben. Auch die abrundende Wiederaufnahme der Charaktere durch eine Reihe abschließender, widersprüchlicher Resümees und Ratschläge an Rudi ist gelungen. Trotzdem war es kaum möglich, aus dem fragmentierten ersten Lebensdrittel eines jungen Steppenwolfs eine ganze Geschichte zu machen. Immer wieder wird erfunden, fingiert und ausprobiert, wie sich so ein Leben erzählt. Exzeptionell ist der Roman, wo er in proustischer Qualität das Funktionieren des Alltags, die Bewegung im städtischen Raum, die kleinen Obsessionen normaler Menschen analysiert. 31.3.2020

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Sierra Leone Ishmael Beah – Das Leuchten von morgen. 2014. A. d. Engl. v. Susann Urban (dt. EA 2016).

Nicht ganz homogen, aber hochinteressant, typisch für neueste afrikanische Texte mit Bürgerkriegshintergrund. Der ehemalige Kindersoldat Beah entwickelt keine geschlossene Geschichte, sondern ein Porträt fiktiver Personen, die je nach Generationszugehörigkeit verschieden mit dem Desaster ihres Landes umgehen. Neun Jahre nach den Massakern kehren sukzessive Menschen in das zerstörte, voller Leichen zurückgelassene Dorf Imperi zurück, bemüht um Optimismus und sogar Aussöhnung. Doch die Korruption lebt auf, der gerade wiederaufgebaute Ort muss schließlich ganz dem Abbau von Bodenschätzen weichen, die von Weißen dirigierte Wirtschaft geht über verheimlichte Leichen. Während die Alten ihre angestammte Erde nicht verlassen, zieht die eigentliche Hauptfigur, der ehemalige Lehrer Bockarie mit Frau und Kindern in die Hauptstadt Freetown, wo man radikale Enttäuschungen erfährt, aber dank der Solidarität eines jungen Mannes auch das Licht am Ende des Tunnels ahnt. Die Heranwachsenden, einst zu unsagbaren Grausamkeiten gezwungen, sind um Wiedergutmachung bemüht; positive Werte sind alte Bräuche, gemeinsames Erzählen, geteiltes Essen, Familienglück, der Wissensdurst der Kinder, die kein Geld für die Schule haben. Parabel? Märchen? Sozialroman wie von Ignazio Silone? Selbstprojektion auf die Jugendlichen, die die Dinge in die Hand nehmen? Jedenfalls die zutiefst sympathische Schilderung eines Staates, in dem alles aus dem Ruder lief und das Wenigste wieder in Ordnung ist. 20.4.2020

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Simbabwe NoViolet Bulawayo – Wir brauchen neue Namen. Roman. 2013. A. d. amerikan. Engl. v. Miriam Mandelkow (dt. EA TB 2014).

Geteilt in Kindheit und Teenagerjahre der Erzählerin namens Darling, die in einer Blechhüttensiedlung Simbabwes mit dem Namen Paradise aufwächst und dann zu ihrer Tante in die USA übersiedelt. Zuerst: Das zehnjährige Mädchen arrangiert sich seinen chaotischen, hungrigen Alltag mit seiner Clique unreifer Nicht-mehr-Kinder, erlebt den AIDSTod des Vaters und die gewalttätige Ablösung von weißer Hegemonie in einem formal längst unabhängigen Land, die die Mehrheitsbevölkerung größtenteils orientierungs- und arbeitslos zurücklässt. Jeder träumt von der Ausreise nach Südafrika, Botswana, Namibia oder Übersee. Dann: In Detroit alles schneekalt, unvertraut, feindlich, Essen, Sprache, westliche Verhaltensnormen. Aber Darling scheint sich durchzusetzen, gegen das Mobbing in der High School, gegen die Ausbeutung bei der Lohnarbeit, auf dem Weg zu Ausbildung und Prestigeberuf. Nur eine Heimkehr, einen Besuch bei Mutter, Großmutter und Freunden kann sie mit ihrem ursprünglichen Visum nicht riskieren. Internet und Skype machen die Distanz fühlbarer. Einige starke Kapitel nehmen übergreifende Blickwinkel ein, wenn das Ganze auch manchmal etwas zu lektoriert herüberkommt, die obligaten indigenen Sprachelemente, die Fremdheitspassagen, das pittoreske Chaos, die Gewaltszenen, die absichtlich rohe Straßenbeobachtung am Schluss. Die Leserschaft darf sich spiegeln in der bemühten Selbstgefälligkeit der NGOs und dem Bemutterungsgestus der weißen Amerikanerinnen, als kämen alle Schwarzen aus demselben diffusen afrikanischen Staat. 5.10.2019

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Singapur Kevin Kwan – Sex & Vanity. Inseln der Eitelkeiten. Roman. 2020. A. d. Amerikan. v. Lisa Kögeböhn u. Anna-Christin Kramer (dt. EA TB 2020).

Die in New York lebende Halbchinesin Lucie Churchill verliebt sich, mit dem üblichen Hin und Her einer ChickLit-Lovestory, in den Halbasiaten George Zao, dessen Familie aus Hongkong stammt. Der erste Akt langweilt sich auf Capri, bei einer einwöchigen Extremluxushochzeit, das Drama spitzt sich fünf Jahre später in Manhattan und Long Island zu, inklusive aufgelöster Verlobung mit einem selbstredend kreuzunsympathischen Society-Erben, und für das Happy Ending wurde die Blaue Grotte gemietet. Das Ganze spielt also im Milieu der Archimilliardäre, namentlich des internationalen Jetsets aus peinlich neureichen Asiaten versus bornierte Ostküstenamerikaner. Ihnen allen gemeinsam: dekadente Verschwendung, exzessiv-narzisstischer Mode- und Kunstgebrauch, verzweifelte Suche nach Abwechslung oder wahlweise Authentizität, unendliche Statusspiele samt sinnlos teurer Erziehung. Ein völlig überzeichneter romantic comedy-Textfilm, dessen einzige Stärken sichere oder vorgetäuschte (wer kann das schon beurteilen?) Insiderkenntnis des geschilderten Lifestyles und ein vielleicht nur naiv diskontierter satirischer Abstand dazu sind. Flaubert hätte sein Vergnügen gehabt an diesem Wörterbuch der Aufspielerei, des Namedroppings, der teuren Marken und geheimen Erkennungszeichen, der Welt aus Hochzeitsplanerinnen und best friends forever in beengenden Siebenzimmerwohnungen auf der 5th Avenue. Das Schreibrezept arg schlicht, Exploitation eines allbekannten Erfolgsmodells, das seit Sex und der Innenstadt davon lebt, Figuren zu karikieren und sie trotzdem um ihre Schuhe zu beneiden. 25.2.2021 193

Slowakei Michal Hvorecky – City: Der unwahrscheinlichste aller Orte. Roman. 2005. A. d. Slowak. v. Mirko Kraetsch (dt. EA 2006/TB 2007).

Eine dystopische, unkomische Satire auf so etwas wie Pornokapitalismus. Irvin Mirsky aus Bratislava ist Mitte zwanzig, Fotograf. Nach der Totgeburt eines Bruders erhielt er denselben Vornamen, die verantwortlichen Eltern leben nicht mehr, als Kind wurde er von Lehrern sexuell missbraucht, das Material landete im Internet. Kurz: Irvin ist traumatisiert, kontaktarm und nun als Erwachsener schwer pornosüchtig. Alle Therapien schlagen fehl, eine eineinhalbjährige Flucht in mittelasiatische Regionen ohne Netzzugang endet, als er ein Stipendium in der deutschen Hauptstadt „City“ erhält, einem weitergedachten megalomanen Berlin, der wichtigsten Metropole „Supereuropas“. Dort lernt er die Asiatin Lina kennen, die offenbar als Sexkolumnistin „Erika Erotička“ hyperpopulär ist. Ein Blackout legt das hochsommerliche City lahm. Ohne Strom verrottet die Stadt, während ihre Bewohner sich entkleiden und kopulieren; Irvin als messianischer Rebell und andere Sexsüchtige sehen in der Vernichtung der Elektrizität ihre Chance auf Befreiung, doch das Ganze entpuppt sich aufgrund eines verräterischen Zitats, das Lina beim Liebesspiel verwendet, als gigantische Netzverschwörung. Irvin verlässt City Hals über Kopf, wird aber an der europäischen Außengrenze erkannt und mit seinem vermeintlich privaten Passwort konfrontiert. Das Buch ist eine Kombination aus zwiespältiger Deutschlanderfahrung, Zukunftstadtphantasie, slowakischem Minderwertigkeitskomplex, Sexsuchtthematik, Digitalitätskritik und peinlich-handelsüblicher Vision einer Welt, in der die entindividualisierten Menschen Produktnamen tragen. 23.12.2019

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Slowenien Aleš Šteger – Preußenpark. Berliner Skizzen. 2007. A. d. Slowen. v. Ann Catrin Apstein-Müller (dt. EA TB 2009).

Junger slowenischer Autor als Stipendiat in Berlin – das erzeugt erwartbarerweise einen Text vom Typ Stadtminiaturen. Diesfalls entstanden dreißig kurze Beobachtungen, flankiert von Fotos des Verfassers, die zumeist die temporäre Wilmersdorfer Wohnumgebung charakterisieren, aber auch das Literarische Colloquium am Wannsee. Die meisten Momentaufnahmen sind gewissermaßen Standards, als da wären: Alltagserfahrungen, Nationaltypologie, Verkehrssystemerlebnisse, Einkaufsbefremdlichkeiten, Eindrücke beim touristischen Programm eines Schriftstellers, der allem Touristischen ausweicht und dazu auch mehr Zeit als nötig hat, aber doch Pflichtvisiten absolviert, Versuche, dem je Einzelnen, Friedhof, Park, Museum, Kaufhaus, Bahnhof, eine Bedeutung zu entlocken, ohne die Dinge aufdringlich symbolisch zu sehen. Diese zwangsläufige Offenheit führt dann aber zur Verwandtschaft mit den eingekastelten Reiseführer-Quodlibets, die auch gerne mit Anekdotisch-Historischem angereichert werden, das in endloser Kette schon jemand anders in entsprechenden Büchern vorbereitet hat. So ist die Gattung der Skizze immer im Dilemma: radikal individuell und unverbindlich, ja unverständlich, oder anschaulich, aber dadurch auch austauschbar. Der Schreibende wird hier kaum sichtbar; seine Fremdheit als Ausländer scheint unproblematisch, sein Sicheinlassen auf die werdende Stadt geht weit, wenn auch mit Vorbehalten. Ihn interessieren Menschentypen, das Partikuläre der Stadtbezirke. So generiert sich, wenn auch nur an wenigen Orten, ein geschriebener Stadtplan aus Namen. Am besten funktionieren kleine Einblicke ins Vergehen der Zeit. 11.12.2019 195

Somalia Nadifa Mohamed – Der Garten der verlorenen Seelen. Roman. 2013. A. d. Engl. v. Susann Urban (dt. EA 2014/TB 2016).

Somalia, Bürgerkrieg 1987/88 in der nordwestlichen Stadt Hargeisa. Drei weibliche Hauptfiguren aus drei Generationen: Das obdachlose Flüchtlingsmädchen Deqo, die ehrgeizige, frustrierte Offizierstochter und Regierungssoldatin Filsan und Kawsar, selbstbewusste ältere Witwe eines einflussreichen Mannes, werden vom Schicksal zusammengewürfelt. Bei einer Massenparade der Revolutionsregierung wird das Mädchen misshandelt. Kawsar setzt sich für sie ein, wird verhaftet und beim Verhör von der Korporalin schwer verletzt. Mit gebrochener Hüfte liegt sie fortan in ihrem kleinen, von einem Gartenidyll umgebenen Haus, während ihre Freundinnen das Land verlassen oder, als es zu spät ist, von den gegen die Rebellen vorrückenden Truppen massakriert werden. Filsan, die bei einer Kommandoaktion spontan getötet hat, überlebt als Einzige einen Hinterhalt der Guerilla, desertiert aus dem Spital und flieht zufällig in Kawsars Stadtviertel, wo sich bereits Deqo um die Bewegungsunfähige kümmert. Zu dritt verlassen sie die Stadt, in deren stinkenden Straßen zahllose Leichen liegen, und erreichen ein Flüchtlingslager auf äthiopischem Territorium. – Der Roman beschreibt nicht nur von außen die Brutalität des Regimes und des Krieges, sondern auch von innen die widersprüchlichen Optionen, am Elend des in Anarchie versinkenden Landes beteiligt zu sein, ohne Beschönigung, ohne Illusionen, und, da ein Vierteljahrhundert nach den Ereignissen bei unverändertem Sachstand geschrieben, auf erschreckende Weise perspektivlos. 21.3.2020

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Sorbisch Jurij Brězan – Krabat oder Die Verwandlung der Welt. Roman. 1976.

Leider schwer nervtötend, wenngleich ein sorbischer Klassiker. Wäre es doch nur die Lebensgeschichte des Handrias Serbin oder eine Sammlung sorbischer Schwänke, Legenden und Lokalsagen oder eine poetische Liebeserklärung an die Oberlausitz oder eine vorsichtig-parabelhafte Auseinandersetzung mit der DDR-Obrigkeit. Aber der Autor wollte alles auf einmal: Faust Krabat vs. den Teufel Reissenberg, Adam und Eva, hier Smjala, die gesamte Menschheitsgeschichte, aber marxismuskompatibel, und die Überhauptgesamtlösung durch die Genformel des Nobelpreisträgers Jan Serbin, und das alles abwechselnd und durcheinander und mit solchem Willen zum mythologischen Passendmachen, dass die häufigsten Denkfiguren die rhetorische Gleichsetzung – Krabat oder auch irgendjemand – und die Relativierung – so genau wisse man das nicht – sind, verbunden mit einem fatalen Hang zum Universalwissen und Universalsagen. Die Ähnlichkeit zum Genre des Zweiten Faust oder Peer Gynt, aber in einem Erzählkonstrukt, das in mancher Hinsicht an die Grass’sche Kaschubei erinnert, man denke nur an den ewigen trompetenden Müller Jakub Kuschk, legt die Messlatte so hoch, dass der Autor sich keine Erfolgschance mehr ließ, es sei denn, er hätte auf den letzten Metern nicht nur ein klein wenig gelinderte Alterseinsamkeit rührend für sich wirken lassen, sondern die Menschheitsfragen auch wirklich eben mal rasch beantwortet. Symbolisch-allegorisches Triptychon, Mischtechnik aus Neonacrylfarben auf zum Zerreißen gespannter Großleinwand. 19.9.2020

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Spanien David Trueba – Die Kunst des Verlierens. Roman. 2008. A. d. Span. v. Peter Schwaar (dt. EA 2011/TB 2012).

Eine normale Familie in Madrid. Nicht ganz: Während Großmutter Aurora langsam an einer tödlichen Krankheit dahinsiecht, verfällt ihr Mann, der 73-jährige Klavierlehrer Leandro, einer nigerianischen Prostituierten und opfert dieser Sucht seinen ganzen Besitz. Nachdem der arbeitslose Vater Lorenzo, von der Mutter Pilar kürzlich verlassen, im Affekt seinen früheren Geschäftspartner Paco getötet hat und sich in eine Ersatzbeziehung stürzt, die ihn unbedingt enttäuschen muss, verliebt sich die sechzehnjährige Tochter Sylvia dank eines Unfalls in den hübschen, zwanzigjährigen argentinischen Fußballprofi Ariel, dessen Saison trotz eines astronomischen Einkommens durchwachsen verläuft und nur durch diese Liaison emotional auszuhalten ist. Verlieren können ist das richtige Motto des umfangreichen, aber abschüssigen Romans, der nicht nur wunderbar ist, weil er alltägliche Affekte durchschnittlicher Menschen exploriert, Begehren, Liebe, Wut, Frustration, die unausweichlich in ausweglose Lagen führen, sondern vor allem, weil er bei aller analytisch-unparteiischen Beschreibung trauriger und peinlicher Begebenheiten ein zügiges Grundtempo erzeugt, was einem dem kompletten Roman unterlegten unauffälligen Erzähltrick – sehr indirekt an die Dante’sche Verkettungstechnik erinnernd – zu verdanken ist, der darin besteht, in kürzeren Kapiteln den Hauptfiguren mit weitgehender Innensicht abwechselnd zu folgen, aber im nächsten diese betreffenden Kapitel auf das übernächste Erzählelement zu springen und das Ereignis, auf das sich die Minicliffhangerspannung gerichtet hatte, nachzutragen. 4.5.2020

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Spokane Sherman Alexie – Das absolut wahre Tagebuch eines Teilzeit-­ Indianers. Roman. 2007. A. d. Engl. v. Katharina Orgaß u. Gerald Jung (dt. EA 2009/TB 2011).

Klassisches Jugendbuch: Der Spokane Arnold Spirit, genannt Junior, wächst in einem Reservat des US-Nordwestens inmitten der üblichen Tristesse aus Arbeitslosigkeit, Armut und Alkoholismus auf. Trotz der großartigen Natur ringsumher sind selbst die nicht-indigenen Siedlungen außerhalb tiefste Provinz. Die Lebensfrage ist also: Bleiben oder gehen? Von Kindheit an Außenseiter, setzt Junior durch, dass er eine Schule in einer nahen Kleinstadt besuchen darf. Dadurch wird er für die anderen, namentlich seinen besten Freund Rowdy, zum Verräter, umso mehr, als er sich im Basketballteam der „weißen“ Schule durchsetzt. Junior ist nicht feige, reagiert bei Bedarf aggressiv, schließt Freundschaft mit einem intelligenten Kameraden, verliebt sich in ein hübsches weißes Mädchen, das ihm eigentlich fremd bleibt. Der furchtbare Tod der Schwester und der Mord an einem Bekannten stürzen ihn zugleich in eine Depression, in der ihm auch die innige Beziehung zu den Eltern nur bedingt helfen kann. Der Stil ist selbstironisch, lässig, schnoddrig, wie halt ein überdurchschnittlich intelligenter, unterprivilegierter Jugendlicher schreibt, dessen oberstes Ziel es ist, sich vor weiteren Verletzungen zu schützen. Die eingefügten Zeichnungen, Cartoons und Minicomics stützen die Fiktion des angehenden Comiczeichners Junior. Der Außenseiter eignet sich evidenterweise ausgezeichnet zur Identifikation und Auseinandersetzung mit jeder anderen Art von Marginalisierung, die Jugendliche erfahren können. 21.6.2020

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Sri Lanka Anuk Arudpragasam – Die Geschichte einer kurzen Ehe. Roman. 2016. A. d. Engl. v. Hannes Meyer (dt. EA 2017/TB 2019).

Bürgerkrieg in Sri Lanka. Der junge Dinesh, der auf der Flucht seine Mutter verloren hat, erlebt in einem Flüchtlingslager täglich das Grauen der Bombardements mit Granaten, die um ihn herum Menschen töten oder verstümmeln. In einem Zelt vegetiert Herr Somasundaram, der gerade den Tod seiner Frau und seines Sohnes betrauert, mit seiner skeptischen, aber schicksalsergebenen Tochter Ganga. Um sie zumindest formell zu versorgen, bevor er selbst ins Ungewisse fortgeht, bietet er sie Denish zur Frau an und verheiratet, da der Priester soeben auch getötet wurde, die beiden selbst. Sie haben einen halben Tag, sich behutsam kennenzulernen, dann reißt ein Granatsplitter Gangas Körper entzwei; der zitternde Dinesh bleibt zurück. – Eine Episode um das Aufrechterhalten von Reinheit, Gebräuchen und Menschenwürde, mit letzten Habseligkeiten, in Zelten, jeder für die Seinen sorgend, im blutigen Chaos von abgerissenen Gliedern und unbestatteten Leichen. Ein halboffenes Ende, eine zärtliche Geschichte in klarer, detailreicher Sprache anschaulich gemacht aus der Sicht des jungen Mannes, der einen aufmerksamen Blick für die Dinge hat, erdverbunden, mitleidig, auf seinen Körper horchend, ohne Erfahrung mit einer Frau und ohne die Chance, seine aufkeimende Liebe, sein fürsorgliches Bedürfnis nach einer Lebensbindung zu erfüllen. Ein tief berührendes Buch ohne Zweifel, fatalistisch, ausweglos, ohne heftige Anklagegeste. 5.4.2019

200

St. Kitts und Nevis Caryl Phillips – Auf festem Grund. Roman. 1989. A. d. Engl. v. Eike Schönfeld (dt. EA TB 1997).

Addieren sich drei unverbundene, in ihrem Einfühlungsvermögen grandiose Erzählungen zu einem Roman? Die letzte dreht sich um die schwer traumatisierte Jüdin Irina/Irene, die, aus Polen vor den Nazis geflohen, in England nicht heimisch wird und ebenso kurz wie folgenlos den beeindruckenden, wenngleich alltäglich diskriminierten Farbigen Louis kennenlernt, der am nächsten Tag heimreist in die Karibik. Die mittlere besteht aus den Briefen, die der Afroamerikaner Rudolph Leroy Williams aus der Haft, die er wegen eines Überfalls verbüßt, von Anfang 1967 bis Mitte 1968 an Vater, Mutter, Anwältin, Schwester und Freund schreibt, bis er, zum dritten Mal im Einzelhaftbunker, den Verstand verliert. Die erste berichtet aus der Sicht eines Afrikaners, der weißen Sklavenjägern als Dolmetscher und Berater dient, sich in ein Mädchen verliebt, das geraubt und vergewaltigt wurde, vergeblich mit ihr ein freies Leben erhofft, entdeckt und bestraft wird und als verkaufter alter Sklave endet. Eine hoffnungsvolle Entwicklung ließe sich ablesen, vom machtlosen, desorientierten, auch opportunistischen Sklaven über den ohnmächtig-aggressiven, allen politischen Theorien vom Marxismus zu den Black Muslims verfallenden, vom weißen Gefängnispersonal immer wieder erfolgreich provozierten Häftling bis zum gelassen körperbewussten Außenseiter, der beobachten kann, dass es auch weiße Opfer gibt, und sein Heil nicht in einer Heimkehr nach Afrika sucht. 26.7.2020

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St. Lucia Derek Walcott – Das Königreich des Sternapfels. Gedichte. 1979–1986. Dt. v. Klaus Martens (dt. EA 1989).

Über Walcotts Gedichte kann man kaum schreiben. Berechtigter Nobelpreisträger. Repräsentant einer am Literaturmarkt unterrepräsentierten Weltregion, aber auch in den globalen Zentren der englischsprachigen Textproduktion heimisch, daher mit allen Wassern der für das 20. Jahrhundert typischen Lyrik gewaschen, vor allem mit allgegenwärtiger Codierung, gehäuften Metaphern, immer am helldunklen Rand. Also moderne Weltlyrik. Post- und antikolonial, nostalgisch und zeitgenössisch, nachträglich und nachtragend, aufbauend auf eine Handvoll Vorgänger und darum radikal einzig wie ein Fingerabdruck. In der Regel sind es lange Gedichte, thematisch und bildlich untereinander verkettet. In Zyklen resonieren die sich wiederholenden Bilder, Symbole wie der Sternapfel, in denen Vegetation und Meer anklingen. Die Natur ist mythischer Urgrund; oft ist der archaische mediterrane Raum als Substrat gegenwärtig, nicht statisch, sondern erfahren wie eine Reise, als Imagination, Bildsprache und gebrochenes tropisches Metaphernreservoir eines Mannes, der die Karibik, Nordamerika und Großbritannien als Heimat betrachtet. Topografien seiner Herkunftsinsel, aber auch nordamerikanischer Städte. Erinnerung erscheint in der Färbung ihrer Medien. Viele Anspielungen − intertextuelle Referenzen und Reverenzen − übersetzen sich zurück in regionale Historie, zuweilen auch in den Holocaust, meist aber in die Geschichte der Kolonisierung und kulturellen Dispersion des karibischen Archipels. Eine Auswahl späterer Gedichte, aus drei Sammlungen extrahiert, sachkundig, umsichtig und nicht überambitioniert übersetzt. 23.5.2020

202

Südafrika Yewande Omotoso – Die Frau nebenan. Roman. 2016. A. d. Engl. v. Susanne Hornfeck (dt. EA 2017/TB 2018).

Leider das Übliche: Die Verfasserin maskiert notdürftig eigene biografische Details. Schnell ist klar: Zwei alte Frauen prallen aufeinander, Marion weiß, mit allen Vorurteilen und Routinen aufgewachsen, Hortensia schwarz, mit allen Reflexen und Vorbehalten. Problematisch ist die Konstruktion, weil der Roman von einer Schwarzen geschrieben ist, für die Hortensia unweigerlich als Statthalterin fungiert, weil diese als frustriert und aggressiv in die Handlung eintritt, weil der Leser zuerst bei ihr ist und daher automatisch trotzdem mit ihr sympathisiert. Ein Widerspruch, der dazu führt, dass beide Personen befremden. Es geht um die in den Köpfen noch existente Apartheid, um Restitution, um Misstrauen, um die Miseren des vergangenen 20. Jahrhunderts. Die vierfache Mutter Marion muss nach dem Tod ihres Gatten feststellen, dass sie verarmt ist, Hortensia, die selbst keine Kinder hat, dass ihr untreuer Mann das Vermögen einer unehelichen Tochter vermacht hat, die sie erst jetzt kennenlernt. Diese Gegenwartshandlung in einer weiß dominierten Vorstadtsiedlung bei Kapstadt wird immer wieder durchbrochen von Rückblenden auf zwei unglückliche Ehen, die sich die Feind-Freundinnen wechselseitig erzählen. Die Kompromissbereitschaft der weißen Frau macht sie nur weiter zur Schuldnerin, die – vielleicht selbstironisch gedachte, doch nirgendwo komische – Verbitterung der schroffen, sozial inkompatiblen Hortensia wird wegerklärt: Schuld sind die toten weißen Männer. 24.5.2019

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Sudan Leila Aboulela – Der Seele Raum geben. Erzählungen. 2001. A. d. Engl. v. Jutta Himmelreich (dt. EA TB 2002).

Eine Sammlung von elf Erzählungen, schlicht, alltäglich, bis auf die letzten zwei, die einen märchenhaft-mythologischen Tonfall annehmen. Die Verfasserin stammt aus dem Sudan und hat in London und Aberdeen gelebt; entsprechend spielen die Stories entweder in Aberdeen oder London oder Khartoum. Sie handeln von Menschen aus dem Sudan, die in Großbritannien fremd bleiben, vom Afrika-Bild der Ex-Kolonialisten, von schüchternen Kontaktversuchen junger Frauen, von Ehen, die mal aus Liebe, mal pro forma geschlossen wurden, und ihrem desillusionierenden Alltag. Von der Kluft zwischen jungen muslimischen Frauen, die an ihrer traditionellen Erziehung festhalten, und solchen, die von der westlichen Freiheit deklassiert werden. Vom scheiternden Ausprobieren des Nichteinhaltens der Speisevorschriften. Aber auch von der kaum vorstellbaren Armut im Sudan und dem damit kollidierenden Wohlstand einiger Weniger. Sie sind arrangiert in wechselnden Erzählperspektiven. Dadurch sind sie lehrreich, erzeugen Einfühlung. Freilich sucht man elaborierte Handlungen vergebens, ab und zu eine stumme Pointe muss genügen, eher wägt man Miniaturen aus einer aufmerksamen interkulturellen Erfahrung in der Hand. Das Thema der Konfrontation wird dann doch als Gefälle abgehandelt; die Araber, selbst jene, die sich einen noblen britischen Studienplatz leisten, schauen auf zu sozial mediokren Einheimischen. Das schüchterne Buch selbst ist, schon aufgrund der Sprachwahl, irgendwo im Dazwischen angesiedelt. 21.1.2020

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Südkorea Han Kang – Menschenwerk. Roman. 2014. A. d. Korean. v. ­Ki-Hyang Lee (dt. EA 2017/TB 2019).

Im Mai 1980 kommt es in der südkoreanischen Großstadt Gwangju zu Protesten gegen das Militärregime. Der Aufstand wird brutal niedergeschlagen; Hunderte von Menschen werden getötet, viele weitere inhaftiert und gefoltert. 33 Jahre später versucht die Verfasserin, dem Geschehen auf den Grund zu gehen und stellt in den Mittelpunkt den Tod des erst fünfzehnjährigen Dong-Ho. Die Annäherung an die Ermordung eines unschuldigen Schülers erfolgt über die individuellen Geschichten seiner Brüder und seiner Mutter sowie junger Frauen und Männer, die bei dem Massaker teilweise ebenfalls ums Leben kamen. Die Naivität der Protestierenden, das Phänomen von Gewalt und Grausamkeit aus der Masse der Soldaten heraus, die Mengen toter Körper, grauenhafte Details systematischer Misshandlungen – aus diesen Komponenten wird die Historie rekonstruiert. Das Leben der Hinterbliebenen erweist sich als unrettbar zerstört. Die Perspektivwechsel verleihen der im Grunde einfachen Handlung eine gewisse Komplexität; die anfänglich über der Leiche schwebende Seele des Jungen repräsentiert buchstäblich eine Sicht von oben. Ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung koreanischer Geschichte nach einer Generation, sicher, präzise und nüchtern geschrieben, zweifellos, und doch: von der notwendig fiktionalisierenden Erzähltechnik abgesehen, beinahe eher eine Einfühlung in reale Ereignisse als ein Roman, der das Buch auch gar nicht sein müsste. Eine reine Faktendokumentation würde mehr leisten. 30.4.2019

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Surinam Cynthia McLeod – Die Schwestern von Surinam. 1987. A. d. ­Niederl. v. Martina den Hertog-Vogt (dt. EA 1996/TB 1998).

Mit dem Zeltboot zwischen Paramaribo und Hebron hin und zurück, hin und zurück. Wäre dies kein für Europäer mehrfach lehrreicher historischer Roman aus der 2.  Hälfte des 18.  Jahrhunderts der niederländischen Kolonie Guyana, dessen Handlung sich in der heute verlassenen jüdischen Siedlung Savannah, auf diversen Plantagen im Urwald und im Hauptort Paramaribo abspielt, dann müsste man von einem schlicht gestrickten Trivialschmöker sattsam bekannter Machart sprechen, der durch das Hin und Her zwischen weißen Pflanzern, niederländischen Militärkommandos, wohlhabenden, ursprünglich aus Portugal stammenden jüdischen Außenseitern und ausgebeuteten, oft brutal misshandelten schwarzen Sklaven an das klassische Südstaatenszenario erinnert. Aus der Generationenfolge der Familie Fernandez werden besonders die Halbschwestern Elsa und Sarith beleuchtet, erstere aufgeklärt, tolerant, bald mit einem passend humanen Mann verehelicht und Mutter mehrerer Kinder, letztere schön, verwöhnt, intrigant, grausam, nur aus Standesbedürfnissen verheiratet, also untreu. Demnach hält nicht Elsa, sondern Sarith die Handlung in Gang, bis eine Gelbfieberepidemie die Bevölkerung so dezimiert, dass sich im Schatten der Katastrophe sogar eine Versöhnung abzeichnet. Leider ist die durchaus komplexe Story gleichsam im Zeitraffer erzählt; alles geschieht am Schnürchen und wirkt wie seine eigene Summary. Die vielfach eingesetzte erlebte Rede macht die simple Innensicht der Figuren noch schematischer, als ihre schablonenartige Erfindung ohnehin bewirkt. 10.4.2020

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Swahili Aniceti Kitereza – Die Kinder der Regenmacher. Roman. 1981. A. d. Suaheli übers. v. Wilhelm J. G. Möhlig (Kerewe/Swahili-­Arab.Dt. EA TB 1991).

Klassiker der tansanischen Besinnung auf eigene ethnische Wurzeln, Familiengeschichte vor der Kolonisierung, angesiedelt auf einer Insel im Victoriasee. Im Mittelpunkt das Ehepaar Myombekere und Bugonoka, die zunächst kinderlos bleiben, aber zusammenhalten. Eine ausführlich dargestellte Behandlung bei einem traditionellen Heiler bringt Erfolg: einen Sohn und später eine Tochter. Ntulanalwo, der drei Frauen heiratet, übernimmt das Gehöft und die Hauptrolle bis zu seinem Tod. Erzählt wird in mündlichem Stil das Leben der Viehzüchter und Fischer mit seinen Höhepunkten Geburt, Brautwerbung, Hochzeitsfeier, Bestattung, mit der ständigen Bedrohung durch Krankheiten und Dürre, mit permanenter Furcht vor den Tieren des Waldes, Schlangen oder Elefanten, vor Verhexung durch neidische Nachbarn, mit der Zuflucht zu Wahrsagern und Heilern, mit Ritualen, Gebräuchen, Gesängen, Lebensweisheiten und Redensarten. Die Gemeinschaft prägen Verwandtschaftsbeziehungen, Hilfsverpflichtungen, Tauschhandel in den Größenordnungen Rinder, Ziegen, Eisenhacken, Bananenbier. Die Handlung ist streng linear und primär in Dialogen, aber auch festgelegten Handlungen und Reaktionen extrem detailorientiert. Es wird nicht belehrt, sondern geschildert, allenfalls erklärt, den eigenen Nachfahren, der nicht-einheimischen Leserschaft. Gewinn: narrative ethnografische Selbstbeschreibung. Preis: Lebenserzählung in gefühlter Echtzeit und eine gewisse Sättigung mit großen Fleisch- und Fischportionen, Hirseklößen und Krügen voll süßer gegorener Alkoholika. Mithin ein langsames Buch, auch wenn die Lebensspannen schlussendlich doch im Zeitraffer dahinziehen. 9.7.2021 207

Syrien Fawwaz Haddad – Gottes blutiger Himmel. Roman. 2010. A. d. Arab. v. Günther Orth (dt. EA 2013/TB 2014).

Ein schwer verletzter Mann, der sein Gedächtnis verloren hat, wird aus dem Irak nach Damaskus transportiert. Ein Freund und eine Frau, wie sich herausstellt, seine schwangere Lebensgefährtin, kümmern sich um ihn. Allmählich erinnert er sich an das Geschehene: Er selbst ist desillusionierter, geschiedener syrischer Intellektueller, dessen erwachsener Sohn Samer sich dem gewalttätigen Islamismus zugewandt hat und inzwischen Gebietsanführer der Al-Khaida-Organisation ist. Die Vorgeschichte dazu verläuft so: Der Vater lässt sich mit Hilfe amerikanischer Militärs zur Grenze schleppen und von dort in den Irak entführen, um Kontakt zu seinem Sohn aufzunehmen und ihn zur Rückkehr zu bewegen. Das riskante Vorhaben ge- und misslingt zugleich, denn er gewinnt unfreiwillig Einsicht in die unglaublichen Grausamkeiten der Terroristen, muss sich aber damit begnügen, bei einem Angriff sein eigenes Leben zu retten. Der Sohn entscheidet sich bewusst für die Welt der Morde und Suizidattentate, die den Männern das Paradies garantieren sollen. Interessant ist der offensichtlich stark dokumentarisch fundierte Roman besonders wegen seiner retrospektiv-rekonstruktiven Bauart: Die Hauptfigur vertritt eine authentische, aber aufgeklärte orientalische Identität und ist selbst, wie etwa westliche Leser, mit der Aufgabe konfrontiert, den Fanatismus und das Unbegreifliche, auch die Paradoxie der Präsenz fremder Truppen, deren Schuld einige der Amerikaner auch einsehen, zu verstehen. 21.6.2020

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Tadschikistan Andrej Wolos – Churramobod. Stadt der Freude. Roman in punktierter Linie. 1999. A. d. Russ. v. Alfred Frank (dt. EA 2000).

Ein technisch, deskriptiv und stilistisch großartiger Roman aus zwölf unaufdringlich untereinander verketteten Geschichten der Bürgerkriegsphase nach der Unabhängigkeit Tadschikistans: Ein mühsamer Fußweg von Großmutter und Enkel zum Friedhof. Elternbesuch und Abschied eines Studenten in der fiktiven Metropole Churramobod. Ein Bursche aus Russland volontiert bei einem berittenen Geologenteam. Das Parallelschicksal der exmittierten aserbaidschanischen Armenier, nebenher erzählt bei der Aussetzung einer Hausschildkröte. Ein Russe mutiert zum lupenreinen Tadschiken und wird doch beim Pogrom ermordet. Ein anderer stirbt einen absurden Tod bei Plünderungen. Eine Frau bereitet das endgültige Verlassen ihrer Wohnung vor. Ein Mann sucht vor seiner Auswanderung einen Grabstein für den Vater. Ein brutaler Warlord entführt Russen und Reporter als Geiseln. Ein Neureicher enteignet beinahe ein Haus mit Gewalt. Emigranten warten einen Monat auf den Zug. Emigrierte werden in der neuen Heimat angefeindet. Die Figuren begegnen teils mehrfach, die meisten vertriebene Russen, die im Dorf Sawrashje neu anfangen werden. Die Wanderung ihrer Vorfahren nach Mittelasien klingt an. Neben den unterirdischen Verbindungen, neben der zeitlichen Verschachtelung, die eine Sortierung provoziert, fallen gemeinsame Nenner kaum auf: Tiere, die immer wieder eine Nebenrolle spielen, kleine und große Besitztümer, die verlorengehen. Eine lakonische, bittere Bilanz, die ethnische Russen als missbrauchte Opfer des Zerfalls der Sowjetunion sieht. 10.9.2020

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Taiwan Jade Y. Chen – Die Insel der Göttin. Roman. 2004. Übers. a. d. Chines. v. B. Trogen, Jade Y. Chen u. Ricarda Solms (dt. EA 2008/ TB 2010).

Die Erzählerin rekonstruiert die tragödienreiche Chronik ihrer Familie, die zwischen Okinawa, Japan, Festlandchina und vor allem Taiwan zerrissen ist, vermutlich so autobiografisch, dass das Romanhafte nicht im Fiktionalen steckt, sondern im Erzählmodus. Denn die Familiengeschichte greift in weiten Teilen vor die Geburt der Erzählerin oder auch an ihr fremde Orte zurück, so dass die Erinnerungen, Reflexionen, Erlebnisse, Emotionen mindestens rekonstruiert sein müssen, während die Details, Namen, Lokalitäten vermutlich stimmen. Ausgangspunkt ist die späte Familiengründung der Frau mit einem Deutschen, der ihre Mutter und ihre Tante nach Jahrzehnten des wortlosen Streits versöhnt. Das Ganze ist ein dichtes Gewebe tragischer Lebensläufe aus Zwangsheirat, Beziehungswirrwarr, Kommunikationsunfähigkeit, Konventionen, Opferbereitschaft, politischen und anderen Katastrophen im Horizont der japanischen Besetzung Taiwans und des chinesischen Bürgerkriegs. Eine aus der Fremde stammende Großmutter, ein soldatischer Großvater, ein in Nanjing schon verheirateter Vater, eine unterdrückte Mutter, ein nach Brasilien ausgewanderter Guerilla-Onkel und viele andere personifizieren auf Familienebene, was die große Historie als Teilung Chinas kennt. Was auf den ersten Blick wie Verarbeitung einer Privatangelegenheit wirkt, ist durch die zeitlich und personell aufgespaltenen Einzelberichte ein anspruchsvolles, komplexes, anschauliches und berührendes, nebenher sogar an die parallele deutsche Geschichte angebundenes Panorama mit einer leisen, aber kontinuierlichen religiösen Note und sacht beharrlichem Optimismus. 17.3.2020 210

Tamilisch Perumal Murugan – Zur Hälfte eine Frau. Roman. 2010. A. d. Tamil. übers. v. Torsten Tschacher (dt. EA TB 2018).

Südindien vor über siebzig Jahren: Kaali und Ponna, ein glücklich verheiratetes Paar im bäuerlichen Milieu, bleibt kinderlos, in der ländlichen Gesellschaft eine Katastrophe, die zu täglichen Demütigungen führt. Erniedrigende Marginalisierungen und Spottreden der kinderreichen Nachbarinnen, aber auch gutgemeinte Ratschläge und Heilungsprozeduren der engeren und weiteren Familien stellen die beiden vor eine nie endende Zerreißprobe. Verwandte mischen sich ein und verschwören sich; schließlich wird Ponna vorgespiegelt, ihr Mann sei einverstanden, wenn sie sich beim Tempelfest einem beliebigen Fremden, den der gefeierte hermaphroditische Lokalgott sendet, hingäbe, während Kaali zu einem Trinkgelage entführt wird. Die Parallelhandlung lenkt zu einem offenen, aber bedrohlichen Schluss. Der Text entwickelt eindringliche Stärke in der Schilderung der sozialen Zwänge, die dem einzelnen Paar keine Chance lassen, den Mann bloßstellen, die Frau sogar der Verstoßung oder sexueller Gewalt aussetzen. Fruchtbarkeit, Erbfolge, Konformität sind innerhalb der tamilischen Kastengesellschaft dominante Motive, die mit einer teilweise ekstatischen Religiosität verschmelzen. Da die realitätsnahe, kritische Zuspitzung eines im Grunde alltäglichen Problems provozierte, entstand unter massivem Druck eine passagenweise entschärfte Version, die mit partiellen Rekonkretisierungen übersetzt wurde. Eindringlich wird der kurze, geschlossen komponierte Roman durch authentische Dialoge und dichtgetaktete Kapitel, die eine permanente Klimax bewirken und jegliche Rückwendungen so integrieren, dass der Spannungsbogen nicht abreißt. 12.6.2021

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Tansania Abdulrazak Gurnah – Ferne Gestade. Roman. 2001. A. d. Engl. übertr. v. Thomas Brückner (dt. EA 2002).

Wenn es je einen offenen Schluss gab, dann hier. Die Story ist aus den Per­ spektiven der zwei Protagonisten erzählt: Ein 65-jähriger Mann aus Sansibar trifft am Flughafen Gatwick ein und beantragt, des Englischen nur scheinbar nicht mächtig, mit gestohlener Identität Asyl. Durch aufdringliche Hilfe der wohlmeinenden Aktivistin Rachel wird ihm eine bizarr-inakzeptable Notunterkunft, dann eine Wohnung in einer tristen Stadt an der britischen Küste zugewiesen. Der ursprünglich beschaffte Dolmetscher Latif Mahmud, ein ebenfalls aus Ostafrika stammender Londoner Literaturdozent, erweist sich ausgerechnet als Sohn von Rajab Shaaban Mahmud, dem eigentlichen, inzwischen verstorbenen Namensträger und Erzfeind des Emigranten. Nach anfänglichem Misstrauen erzählen sie einander ihre Geschichten: Der Jüngere ist nach dem Auseinanderbrechen seiner Familie, wofür Naivität des Vaters, Ehebruch der Mutter und homosexuelle Verführung des Bruders durch den dämonischen Kaufmann Hussein verantwortlich waren, zum Studium in die DDR gegangen und von dort in den Westen geflohen. Der Ältere, Möbelhändler, dessen Familie durch Heirat zu Wohlstand gekommen war, geriet während der tansanischen Diktatur durch Intrigen in langjährige Haft, während seine Frau und seine Tochter starben, so dass ihn nach der Entlassung nichts mehr in der Heimat hielt. Man sieht: Eigentlich zwei Ketten beinahe traditioneller orientalischer Abenteuerepisoden, verknüpft durch einen Kunstgriff und die Asylthematik. 12.2.2021

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Thailand Rattawut Lapcharoensap – Sightseeing. Erzählungen. 2005. Dt. v. Ingo Herzke (dt. EA TB 2006).

Sieben Stories, meist aus der Sicht verschiedener heranwachsender Thais. Ein junger Mann unternimmt einen erotischen Elefantenritt mit einem US-Girl, das nur ihren Freund eifersüchtig machen will. Ein kleiner Junge begleitet seinen älteren Bruder auf dem Motorrad in ein trostloses Bordell. Ein Wehrpflichtiger, dessen Eltern die Behörden bestochen haben, ist mit einem unbemittelten Freund bei der Einberufungslotterie; hier trennen sich ihre Wege. Ein Sohn fährt mit seiner Mutter per Zug und Boot in Urlaub auf eine Andamaneninsel, bevor die erblindende Frau ihr Augenlicht ganz verliert. Zwei Freunde erleben, wie kambodschanische Flüchtlinge verjagt werden, nachdem sich ein zu diesen gehöriges Mädchen ihren Respekt erworben hat. Ein älterer Amerikaner, nach einem Schlaganfall im Rollstuhl, ist zu seinem Sohn und dessen Familie nach Thailand gezogen und reagiert gedemütigt, aggressiv, geht aber auch Kompromisse ein. Die Tochter eines Arbeiterpaars muss zusehen, wie die Ehe ihrer Eltern zerbricht, weil der machtlose Vater sich mit seinen Kampfhähnen sinnlos in einen aussichtslosen Konflikt mit lokalen Gangstern verstrickt. Bangkok und Provinz, Einheimische gegen Touristen, innerasiatische Verständigungsprobleme, landestypische Gebräuche oder Allerweltsprobleme, die nur zufällig in Südostasien angesiedelt sind, Geschichten ohne markierte Pointen, in sparsamer Selbstverständlichkeit vorgetragen, ohne peinlich altersgemäße Rollensprache, doch mit farbiger Anschaulichkeit, die gerade durch das Nicht-Erklären entsteht. 21.9.2019

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Tibet Alai – Ferne Quellen. Roman. 2002. A. d. Chines. v. Marc Hermann (dt. EA 2009/TB 2011).

Der Erzähler wächst in einem tibetischen Dorf auf, dem durch die chinesische Zentralisierung der Horizont verbaut wird. Man reitet nicht mehr, gehorcht den anreisenden Kadern und geht, wenn möglich, fort. Gongba, physisch entstellter Outsider und willkommene Zuflucht, kommt auf traumatisierende Weise ums Leben. Auch der Schreibende – ehrlicherweise sollte man das von der Literaturtheorie allzu wohlfeil und automatisch angebotene Versteckspiel mit Romanform, Fiktionalitätsvorbehalt und Autofiktion hier gar nicht mitmachen, sondern von Alai sprechen, den ja auch einmal japanische Kollegen so anreden – bleibt kein schüchterner Hirte, sondern wird Fotograf, der die typische Verklemmtheit der neuen Generation am liebsten in Aktaufnahmen naiver Landschönheiten ausleben würde und das in einer irgendwie dann doch nicht frivolen Szene auch versucht, schließlich offenbar erfolgreicher Autor. Als Erwachsener trifft er den ehemaligen Kameraden Tschampa wieder, mit dem er schon damals zerstritten war und der nun ein unsympathischer Parteibonze ist. Dieser hat auch die bauliche Zerstörung einer Naturlandschaft aus heißen Quellen zu verantworten, die für den jugendlichen Erzähler eine Art Sehnsuchtsziel und Phantasmagorie jenseits der Berge waren und die nun das triste Resultat des aufgezwungenen Kulturwandels symbolisieren. Und das ist es eigentlich: Eine stellenweise sehr poetische, im Übrigen anekdotische, durch das Motiv der scheinbar unerreichbaren Schwefelquellen einigermaßen zusammengehaltene Desillusionierung. 6.9.2020

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Timor-Leste Luis Cardoso – Chronik einer Überfahrt. Roman. 1997. A. d. Portugies. (Timor) v. Karin von Schweder-Schreiner (dt. EA 2001).

Ein rätselhaft-aromatischer blend aus pri­vat-autobiografischer und historisch-­ politischer Erinnerung. Der Erzähler stammt von der zu Osttimor gehörigen Insel Ataúro, hat die vielsprachige frühere portugiesische Kolonie durch häufige Wohnortwechsel seines Vaters gründlich kennengelernt, auch die konkurrierenden Unabhängigkeitsbewegungen, und emigriert bei der indonesischen Invasion 1975 nach Lissabon. Dort erlebt er eine überraschend bunte Exilantenkultur, die ihm seine „Maubere“-Identität näherbringt. Die reale Passage zur Hauptinsel Timor spendet die Titelmetapher, welche sein Leben im Heimat-, dann im Mutterland mehr andeutet als erklärt, aber auch die Biografie des geliebten Vaters bezeichnet. Überhaupt schält sich heraus, wie sehr das von Station zu Station und Figur zu Figur gleitende Buch eigentlich diesem in Portugal sterbenden Vater gewidmet ist, der zwischen Erinnerungen an Besatzung und Befreiung im Zweiten Weltkrieg, Demenz, Heimweh und multiplen Sprachreminiszenzen hin- und hergerissen ist. Timor-Leste ist so unbekannt, dass der Verfasser es absichtlich nicht systematisch vorstellt. Auch sonst wahrt er weder strenge Chronologie noch penible Ordnung, wenngleich die Kapitelschwerpunkte das memoriale Abarbeiten im Nachvollziehbaren halten: Familiengeschichte, Anekdoten um Verwandte, abgebrochene geistliche Ausbildung, indigener Aberglaube, der zusammen mit vertrauten Gebräuchen das Ich konstituiert. Jeder Leser behält das „Rain-fila“ in Erinnerung, eine Irreführung durch die verkehrte Natur, die man nur durch ein Ritual des Alles-umgekehrt-Tuns bekämpfen kann. 1.6.2021 215

Togo Kangni Alem – Cola Cola Jazz. Roman. 2002. A. d. Frz. v. Gudrun u. Otto Honke (dt. EA 2004).

TiBrava ist eigentlich Togo. Klappentext: Ein dort heimischer erfolgreicher Bestattungsunternehmer, Selfmademan, Selbstdarsteller, Aufschneider, Frequenzreisender, hat Kinder von vielen verschiedenen Frauen, darunter von einer weißen Französin die Tochter Heloise. Diese lädt er unvermutet nach Afrika ein, wo sie aber zuerst ihre mögliche Halbschwester trifft, mit der sie ein Verhältnis beginnt. Parisette, so deren Name, wirkt mit an einem kleinen Rentenbetrug, geht jedoch dabei einem perversen Oberst in die Falle. Sie befreit sich, verletzt ihn, wofür er sich rächt, indem er das Anwesen des Vaters in Brand steckt. Der wiederum hatte den Sturz des Diktators mitgeplant und flieht nun mit Heloise außer Landes. Verstanden? Es ist gar nicht so kompliziert, ab und zu etwas zufällig, etwas magisch, etwas unrealistisch, etwas erotisch, etwas musikalisch, etwas sprunghaft. Und noch etwas postmodern angehaucht mit einem mehrfach hervortretenden Erzähler ohne Eigenschaften und einem auktorialen Epilog, der darauf beharrt, ein paar Rätsel unaufgelöst zu lassen. Eine Menge weiterer Figuren belebt das Porträt der Großfamilie; alle möglichen Kleinverwicklungen kommen nebenher kurz ins Bild oder in den erzählerischen Rückspiegel. Und natürlich ein denkbar kaputtes Westafrika: schwül, laut, schmutzig, korrupt, was so alles auf der postkolonialen Karte steht. Etwas herausgehauen, aber gar kein übles Buch, nein, gar kein übles Buch. 28.8.2020

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Tonga Epeli Hau’ofa – Rückkehr durch die Hintertür. 1983. A. d. Engl. v. Ina Boesch, Renate v. Gizycki, Irene Knauf u. Johano Strasser (dt. EA TB 1998).

Merkwürdige Sanftsatiren über typische Eigenschaften der Bevölkerung von Tonga, das hier Tiko heißt und eine Hauptstadt namens Tulisi hat, von angeblich pazifischer Gelassenheit, was leider auch bedeutet, dass der Humor nur mit gutem Willen herauszuschmecken ist, denn die Kurztexte bleiben ohne Biss, ohne Lacheffekt und, obgleich einige Charaktere untereinander verbunden sind, ohne erzählenswerte Handlung. Weshalb sollte man die Miniaturen also lesen? Sie handeln immer wieder von fehlgeleiteter Entwicklungshilfe, sinnlosen Investitionen, gutgemeinter Bevormundung durch Australier und Neuseeländer, von Korruption und den allgegenwärtigen christlichen Missionskirchen. Da gibt es das Phänomen, dass auf Tiko die Woche sechs Ruhetage hat, aber nur einen Arbeitstag, den Sonntag, an dem bis zur Erschöpfung gebetet wird. Buchstäblich an allen Straßenecken werben kirchliche Jugendgruppen. Predigerväter unterdrücken ihre Gemeinde, ihre Kinder, ihre Frauen, und wer sich berufen fühlt, gründet eine lukrative neue Kirche. Doppelmoral, Vetternwirtschaft, Arbeitsscheu, Übergewicht, Kirchentreue, Regierungshörigkeit, sind die Themen, die ein Einheimischer seinen Landsleuten kritisch, antiklerikal und desillusioniert vorhalten kann. Alle Texte, eine kuriose Parabel um einen religiösen Kettenraucher, die Kurzbiografie eines allseits ausgebeuteten Sanftmütigen oder die sicher am besten gelungene Titelgeschichte um einen Aufsteiger, der zu seinem Entsetzen den ehemaligen kolonialen Chef als scheinbar dekolonisierten Untergebenen wiederfindet, haben eine erahnbare Stoßrichtung, aber keine zündenden Pointen. 3.6.2020 217

Transnistrien Jefim Berschin – Wildes Feld. Eine dokumentarische Erzählung zum transnistrischen Krieg. 2002. A. d. Russ. Hrsg. u. Einf. Kai Ehlers (dt. EA TB 2016).

Keine Erzählung, allenfalls ein textgewordenes Narrativ oder besser: ein – aus nachvollziehbaren Motiven – parteiischer Bericht über Gräueltaten und Kampfhandlungen zwischen den zu Russland neigenden Sezessionisten in der Dnjestr-Region Ost-Moldawiens und der von Rumänien unterstützten, durch den Zerfall der Sowjetunion autonomen Republik Moldau. Bekanntlich ist seit dem Waffenstillstand 1992 Transnistrien ein halbstabiles politisches Gebilde ohne internationale Anerkennung. Der Sprecher, in der Hauptstadt Tiraspol geboren, aber in Moskau berufstätig, geißelt die Untätigkeit des sowjetischen Militärs und den Nationalismus der Moldawier und rühmt Toleranz, Multikulturalität und Heimatliebe seiner Landsleute. Er schildert miterlebte Kriegshandlungen um Bendery und Dubossary und steigert deren Absurdität durch die Einblendung schweizerischer Kollegenfreunde, welche bei aller journalistischen Neugier eher die europäische Außenwelt verkörpern, die die postsowjetischen Regionalkonflikte weder verstehen noch in ihr saturiertes Weltbild integrieren können. Das Buch entwickelt indes keine fiktionale oder sonstwie von der politischen Geschichte abweichende Handlung, sondern diskutiert mit stets eindeutigem Plädoyer und einer markanten fundamentalen Skepsis die wesentlichen Aspekte, Vorgeschichte, Sprach- und Kulturkampf, Landschaft und Lebensweise, Rivalitäten und nicht zuletzt Eskalationsstufen eines Unabhängigkeitsprozesses, der sogleich einen Gegenprozess auslöste und zu einer Blockade geführt hat, die bis heute anhält, weil das umstrittene Gebiet klein und die Aufmerksamkeit der Welt gering ist. Pessimistisch, drastisch, lakonisch besser als poetisch. 19.9.2021 218

Trinidad und Tobago V. S. Naipaul – Ein halbes Leben. Roman. 2001. A. d. Engl. v. Sabine Roth u. Dirk van Gunsteren (dt. EA 2001/TB 2003).

Doppeldeutiger Titel: Willie Chandran, Inder, in den 1950er Jahren zum Studium nach London gegangen, heiratet mit Anfang zwanzig die portugiesischstämmige Ana, die ihre bisherige Vita als der seinen analog betrachtet, und lebt mit ihr 18 Jahre in Mosambik. Mit 41 Jahren trennt er sich von ihr, weil er seine erste Lebenshälfte als nur halb gelebt empfindet. Der Sohn eines passiv lebenden, distanzierten Brahmanen und einer Paria, deren Geschichte rückblickend eingebaut wird und offenbar als Deutungsmuster dienen soll, hat in London außenseiterisch im Intellektuellenund Immigrantenmilieu von Notting Hill gelebt, für das Radio geschrieben und einen erfolglosen Erzählungsband veröffentlicht. Erst in Afrika entdeckt er durch fremde Frauen die Sinnlichkeit, bleibt aber im Land und in seinem eigenen Leben fremd, anders als seine das rebellische Lebensmuster der Mutter nachlebende Schwester. Den bisherigen Lebensabschnitten ist gemeinsam, dass sie von der Schlussphase des Kolonialismus geprägt werden. Mehrere längere Erzählblöcke, Lebensphasen, Episoden, Erlebnisse anderer, kein chronobiografischer Roman, sondern ein von dem Entschluss zur Ehescheidung ausgehendes, teils retrospektives Konglomerat, flüssig, anschaulich, aber genauso unnachvollziehbar, wie dem Protagonisten seine eigene Vita erscheint. Eine gut erzählte Geschichte ohne Logik erzählt gut ein Leben ohne Logik, das als Leben und als Erzählung auf eine vermutlich ebenso inkonsequente Fortsetzung hinausläuft. 13.2.2020

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Tschad Koulsy Lamko – Der Schmetterlingshügel. 2000. A. d. Frz. v. Yvonne Speck (dt. EA 2010).

Der Autor stammt aus dem Tschad, arbeitet aber den Genozid in Ruanda auf, nach dem tatsächlich sogar Geistliche für Teilnahme an Untaten verurteilt wurden. In einer Kirche wurden Tausende Menschen auf grauenhafte Weise getötet, darunter die Königin, eine ältere Frau, die von einem Priester vergewaltigt und deren Vagina mit einem Holzkreuz durchbohrt wurde. So ist ihr Leichnam in einer Gedenkstätte ausgestellt. Das Buch phantasiert die Seele des Opfers als über dem Ort schwebenden Schmetterling, der den Besuch der Nichte Pelouse, die in Paris Model und Schauspielerin ist, als Mitglied einer das Gedenken an den Massenmord visitierenden Reisegruppe beobachtet. Sie wohnt im „Hotel der Tausend Hügel“, verkehrt im „Café der Muse“, besucht Nyanza, den Hauptort des früheren rwandischen Königreichs. Pelouse sieht Verwandte, dokumentiert aber nicht, sondern bleibt, nachdem sie mit dem aggressiv-extrovertierten Poeten Muyango, der als einziger seine Familie überlebt hat, symbolisch auf einem Friedhof geschlafen hat, spontan im Land. Daneben wird von Fred R. erzählt, dessen Eltern ebenfalls grausam ermordet wurden. Das Buch ist metaphernreich, teilweise weitschweifig, ungezügelt, leider oft banalphilosophisch. Erkennbar wurde Heterogenes aus diversen Literaturprojekten (Puppenspiel, Filmskript, ausdrucksstarke, anklagende Lyrik) eingebaut, bis zu ausgedehnten Wortfeldern, wie bei Oulipo, aber ohne diese systematisch weiterzuverarbeiten. Gefeiert: Weiterleben, Afrika, Sexualität, Frauen. 24.6.2020

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Tschechien Jaroslav Rudiš – Die Stille in Prag. Roman. 2007. A. d. Tschech. v. Eva Profousová (dt. EA 2012/TB 2014).

Temporeicher, zugleich leiser Metropolenroman, genreeinschlägig dank Blick von oben auf das Stadtbild, Nachtleben, Flughafen, Fernsehturm, Straßenbahnnetz. Hauptfiguren: Die 17-jährige Vanda, die 30-jährige Hana, der Amerikaner Wayne, Anwalt, überfordert, sexuell ziellos, der seit dem Tod seiner Frau geisteskranke, im braunen Mantel umhergeisternde Vladimír, Petr, der romantische, bei einer Autotour durch Europa von seiner großen Liebe verlassene Teilzeittramfahrer mit Sympathie für Außenseiter, in einer ererbten altmodischen Wohnung hausend, aber kein Nerd. Kurzkapitel schneiden vom einen zur anderen. Aufblende Petr im Bett mit Vanda, Abblende Hana nach Trennung von Wayne mit Petr. Der traurige Witwer plant seinen Selbstmord, zu dem er den Mut nicht findet, bastelt an einer Entlärmungsmaschine, schneidet Lautsprecher- und Kopfhörerkabel durch, um die Stille zu retten. Wayne, dessen Bruder möglicherweise im Irakkrieg getötet wurde, lebt in der Illusion einer Liebe, die selbst ihn nicht erfüllt, ist in Prag fremd geblieben; seine Freundin, in einem EU-Job, fliegt nach Lissabon, betrügt ihn und zwingt sich damit zum Schlussmachen. Vanda durchlebt noch ihre Punktattookokainrockbandphase und lässt sich trotz schwieriger Beziehung von den getrenntlebenden Eltern alimentieren. Finale bei einem Gig ihrer Gruppe „Kill Barbie“ mit Strom- und Drogenblackout, Schlägerei, Partnerwechsel. Der melancholische arme Held mit gesunder Einstellung zum Leben dürfte dann wohl Petr sein. 21.6.2019

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Tschetschenien Musa Achmadow – Und die Kerze brannte im Wind. Erzählungen und Novellen. Übers. v. Marianne Herold u. Ruslan Bazgiew (dt. EA TB 2011).

Ein zutiefst deprimierendes Buch aus der differenzierten Sicht eines nationalstolzen Tschetschenen, der die zwei postsowjetischen Kriege, die extreme Explosion von Gewalt auf beiden Seiten, die Vertreibung der russischen Bevölkerung, die Zerstörung Grosnys, den Tod vieler einheimischer Kämpfer und das Elend der Zivilbevölkerung miterlebt hat, aber auch auf den Zweiten Weltkrieg und den Stalinismus zurückblickt. Er erzählt beispielsweise: den Widerstandskampf eines Dorfes gegen die Bolschewiki voller Opfermut, Hinterlist, aus dem Ideal des Heldenepos, die Trauer einer gealterten, vereinsamten Frau um ihre drei Brüder, die nacheinander gefallen oder vermisst sind, Rivalität und Kriegsschicksal dreier Jugendfreunde. Oder: Ein Kriegsinvalide wird nicht geehrt, weil seine Papiere verlorengingen, ein Großvater erzählt dem Enkel den bösen Grund für das Aussterben seines Dorfes, ein Flüchtling kehrt aus Südfrankreich in den Kaukasus zurück, ein vereinsamter Mann bietet einer Witwe mit Kind seine Hand. Kurz: Lichtflecken aus Menschlichkeit und Respekt vor Sitten und Brauchtum, aber auf einem tiefschwarzen Vorhang aus Hass, Rache, unnachgiebigem Fanatismus und innerer wie äußerer Entfremdung. Die schlichten Texte mit einfacher, unmissverständlicher Metaphorik öffnen den Blick auf eine sehr isolierte Mentalität, und darin liegt kein geringer Wert. Sie entstammen Kontexten, die dem Verfasser selbstverständlich sein, auf ein europäisches Publikum aber entfernt, rätselhaft, ja abweisend wirken müssen. 1.11.2020

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Tschuktschen Juri Rytchëu – Alphabet meines Lebens. 2008. A. d. Russ. v. ­Antje Leetz (dt. EA 2010/TB 2012).

Formal originelle Autobiografie des bekannten tschuktschischen Schriftstellers, der zahlreiche Bücher publizierte und kurz vor seinem Tod auf sein Lebenswerk, hauptsächlich aber Episoden seiner Vita und die traditionelle Lebensweise seines Volkes zurückblickt. 1930 am äußersten Rand der Sowjetunion, in der Siedlung Uëlen an der Beringstraße geboren, wuchs er unter den typischen Bedingungen des kleinen Wal- und Robbenfängervolkes auf, bevor er in Leningrad studierte und eine Autorenkarriere, teils in indigener Sprache, größtenteils aber auf Russisch begründete. Die anekdotischen, oft humorvollen Episoden über ethnologische Kategorien wie Kleidung, Ernährung, Familienleben, Gebräuche, Religion, aber immer wieder auch über die Konfrontation mit der russischen Quasi-Kolonialmacht, den sowjetischen Uniformisierungsbestrebungen und europäischer Technik wie Strom und Telefon, profitieren davon, dass sie unchronologisch, undokumentarisch, nicht argumentativ und ohne Ambition auf intellektuell-ironische Absicherung verfahren, sondern einfach ein nach dem russischen Alphabet sortiertes, mit allfälligen Sprachpendants der Tschuktschen ergänztes Repertorium aus 73 mehrseitigen Einträgen anbieten, die man also auch permutativ lesen kann und die durch die Erläuterung spezifischer Vokabeln und ihrer Etymologie einen sensiblen Einblick in die Fremdheit einer fernen Kultur gewähren. Besonders anschaulich und glaubhaft, weil der Verfasser seine Identität, seine in der Kindheit verwurzelte Prägung durch den Schamanismus oder seine Speisevorlieben persönlich vermittelt: nicht als staunenswert, sondern als selbstverständlich. 25.8.2020

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Tuareg Mano Dayak – Geboren mit Sand in den Augen. 1996. A. d. Frz. v. Sigrid Köppen (dt. EA TB 1997).

Keine Fiktion, sondern Autobiografie eines 1995 ums Leben gekommenen Rebellenführers der Tuareg im Niger. Dennoch in der ersten Hälfte ein anschauliches, nachgerade poetisches Buch, in dem der Autor rückblickend seine Kindheit als jüngster Sohn einer Nomadenfamilie schildert, die vergebliche Flucht vor der abergläubisch gefürchteten Schulpflicht, die traditionellen Lehren des Vaters, die emotionale Wärme der Mutter, das Aufgehobensein in der Stammesgemeinschaft, vor allem aber das Erlebnis der Wüste, des Nachthimmels, der Ritte durch die Einsamkeit. Doch Ausbildung und Militärdienst führen zu einer breiteren Perspektive, zu Reisen nach Paris, zur Heirat mit einer Ausländerin, zu Geschäftsgründung, sogar Beteiligung an der Organisation der Rallye Paris–Dakar, aber primär zu politischer Bewusstseinsbildung. So wird der offenbar charismatische Verfasser, dem es, so ist zwischen den Zeilen zu lesen, allenfalls an diplomatischer Erfahrung und strategischer Konstanz mangelt, zu einer Führungsperson für die Wahrung der Tuareg-Interessen und zum Kontrahenten der nigrischen Zentralregierung. Die zweite Hälfte des Buches rekapituliert somit, teils in erheblichen Sprüngen, private Episoden, Freundschaften, politische Aktivitäten, Taktikwechsel, bis hin zu einem noch nicht wirksam implementierten Friedensschluss. Dadurch erscheint der Text unabsichtlich zerrissen oder zumindest nicht perfekt komplettiert. Indes ist er ideal geeignet, Identität, Alltagsleben, Probleme und Chancen der Tuareg nachzuvollziehen, für die Staatsgrenzen keine Rolle spielen. 26.3.2021

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Tunesien Habib Selmi – Meine Zeit mit Marie-Claire. Roman. 2008. A. d. Arab. v. Regina Karachouli (dt. EA 2010/TB 2013).

Machfûdh Trâki, Tunesier in Paris, Lehrbeauftragter für Arabistik und Hotelportier, und Marie-Claire Sarre, Exstudentin und Postangestellte, leben einige Jahre zusammen. Die rundgesichtige, sommersprossige gebürtige Pariserin und der schmale, mit seinem Körper unvertraute Maghrebiner sind ein ungleiches Paar, das von Beginn an Kompromisse schließen muss. Er zurückgezogen, bedächtig, intellektuell, sie kontaktfreudig, sinnlich, Typ Aktivurlaub, zuletzt sogar Motorrad. Erzählt aus der Sicht des Mannes, in dörflichem Milieu Nordafrikas aufgewachsen, aber an das europäische Frauenbild weitgehend angepasst. Um den Preis, dass er in der Beziehung der Passive, Abhängige, Häusliche, ja Weibliche ist. Seine sexuellen Wünsche werden über die Jahre eher wenig erfüllt, Albträume verraten seine Komplexe, die temperamentvolle Frau sucht irgendwann ein Leben abseits. Schauplatz ist die Wohnung des Mannes, in die die Frau einzieht und die sie am Schluss unspektakulär wieder verlässt. Ein paar Rückblicke zum besseren Verständnis, beide befragen einander, kommunizieren aber unterschiedlich, enthüllen fremdes Verhalten, sehr fremde Kindheiten. Das Nichtzusammenpassen zweier Kulturen trotz besten Willens beim Begründen eines gemeinsamen Haushalts ist natürlich allegorisch lesbar. Der seiner traditionellen Rolle entfremdete Mann bleibt trotz aller Zugeständnisse unverstanden zurück, Marie-Claires Sicht ist konsequenterweise ein unerzähltes Rätsel. Ein stilles, einsames Buch wie von einem Migranten, der seit Stunden alleine an einem Pariser Bistrotisch sitzt. 9.3.2020

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Türkei Ece Temelkuran – Stumme Schwäne. Roman. 2015. A. d. Türk. v. Johannes Neuner (dt. EA 2017/TB 2018).

Ein ganzer Roman aus der Sicht zweier Kinder, Ayşe, Tochter bürgerlich-liberaler Eltern mit Berufen im Umkreis des Parlaments, Ali, Sohn eines links-proletarischen Paars. Angesiedelt in Ankara in den Wochen vor dem Evren-Putsch im September 1980 und ständig rekurrierend auf die Militärintervention neun Jahre zuvor. Die Familien geraten in Berührung, als Aliye Akgün, Mutter des in sich gekehrten, schweigsamen Ali, im Haushalt der Familie Bakar, der auch eine hyperemotionale Großmutter angehört, als Putzhilfe engagiert wird. Die phantasievollen, in ihrem assoziativen Denken harmonierenden Kinder verfolgen, wie sich die Eltern zur Zuspitzung der politischen Lage positionieren: Aydın Bakar vorsichtig, seine untreue Frau Sevgi risikobereit, Hasan Akgün und seine Frau solidarisch, aktiv teilnehmend an Waffenschmuggel und subversiven Aktionen ihrer Nachbarn, in der Folge extremer Polizeigewalt ausgesetzt. Im Zentrum der Romankonstruktion steht ein Denkbild: Den Schwänen eines Parks der türkischen Hauptstadt sollen die Flügel gestutzt werden; dies als Freiheitsbeschränkung zu lesen, liegt auf der Hand. Die Kinder schließen einen spielerischen Pakt, die Schwäne zu retten, nachdem sie Schmetterlinge ins Parlament geschmuggelt haben. Am Ende kann wenigstens ein Schwan entführt, aus der Stadt gebracht und im Schwarm freier Zugvögel freigelassen werden. Die kindliche Perspektive macht düstere Geschichte leichter erzählbar, nur die Schwanenmetapher wird denn doch überstrapaziert. 11.12.2019

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Turkmenistan Berdy Kerbabajew – Ein Tropfen Wasser − ein Körnchen Gold. Roman. 1972. A. d. Russ. v. Heinz Kübart (dt. EA 1977).

Ein Paradebeispiel des Sozialistischen Realismus: 1955 wird in der Turkmenischen Sowjetrepublik der Karakumkanal gebaut, der mit dem Wasser des Amudarja die Wüste bewässern soll. Held des typischen Produktionsromans ist der Ingenieur Babaly Artyk, Sohn eines hochangesehenen Frontkämpfers und Patrioten, der als Leiter eines Bauabschnitts die Werktätigen diszipliniert, die Kolchosbauern zu Sonderopfern motiviert, Zweifler überzeugt, Mutlose aufrichtet, Außenseiter integriert, die wenigen auch vorhandenen Schurken ausschaltet, die Courage nicht verliert und seine ethnische Identität mit der russisch dominierten Kollektivkultur des Sowjetstaats versöhnt. Der Haupterzählstrang folgt einem halben Jahr aus der Projektchronologie und mündet in Babalys Heirat mit einer jungen Ärztin, flankiert von einer weiteren, signalhaft allegorischen Hochzeit eines Einheimischen mit einer Weißrussin. Alle Berufs- und Charaktertypen werden charakterisiert, aber im Zentrum stehen die Schrapper- und Baggerführer in ihren empfindlichen Riesenmaschinen; um die wichtigsten Repräsentanten ranken sich Episoden und Intrigen, deren Spannungsbögen meist nur wenige Seiten dauern. Konflikte werden mit Beharrlichkeit und Humor bewältigt, denn der verdiente Schriftsteller des Volkes lässt natürlich nichts schiefgehen, aber das Buch funktioniert tatsächlich wie kulturelle Begleitmusik pannenfrei und liest sich als Apotheose des Vielvölkerstaates, der seinen Bewohnern Bräuche und Glauben lässt, doch alles im Rahmen Lenin’scher Vernunft. Und: Ein Sprichwort pro Seite gibt dem Roman erst Weite. 13.8.2020

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Uganda Moses Isegawa – Abessinische Chronik. Roman. 1998. A. d. Niederl. v. Barbara Heller (dt. EA 2000/TB 2001).

Titel irreführend: Spielt in Uganda, wo der Erzähler Mugezi in einem Dorf aufwächst, bevor er ein Priesterseminar besucht, von einer eigennützigen Migrationsorganisation in die Niederlande eingeladen wird, sich dort unabhängig macht. Offenbar stark autobiografisch, mit Pointen und zahlreichen Episoden angereichert, humorvoll oder tragisch. Aufgefächert wird die Geschichte einer typischen Großfamilie jenseits strenger Bindungen an traditionelle ostafrikanische Riten, aber innerhalb weiterbestehender Konventionen. Auffällig, dass der Erzähler seinen schwachen Vater, mehr noch seine unfrohe, bigotte Mutter abgrundtief ablehnt, natürlich auch die eitlen Missionare in den vielen Schulanekdoten. Die Familienchronik mit ihren teils sprechenden Namen wird durch Rückgriffe auf die Biografien des Großvaters und dessen anderer Kinder sowie der Großtante plastisch entwickelt. Dem Autor mangelt es nicht an erzählerischem Atem; indes verlangt der Figurenreichtum einen Preis: Außer dem faktischen CV des Protagonisten sucht man vergebens nach einem roten Faden oder gar einem Plot, einer Aussage. Das ist bemerkenswert für ein umfangreiches und die unter Idi Amin aufgewachsene Generation repräsentatives Werk, das die Zerrissenheit Ugandas in Katholiken, Anglikaner und Muslime, in Nord- und Südethnien ausführlich darstellt, die vergebliche Hoffnung auf Demokratisierung, die vielen gewaltsamen Tode im engsten Umkreis. Der sozusagen vorläufige Schluss, die Erlebnisse eines Fremden im Amsterdamer Getto Bijlmermeer, hinterlässt vergleichsweise blasse Eindrücke. 5.8.2021

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Ukraine Serhij Zhadan – Hymne der demokratischen Jugend. 2006. A. d. Ukrain. v. Juri Durkot u. Sabine Stöhr (dt. EA 2009/TB 2011).

Eines von vielen Umbruchsbüchern aus Osteuropa, in denen eine hoffnungslose Generation jüngerer Männer, San Sanytsch und Goga und die Oschwanz-Brüder und andere, in Nebenrollen auch Frauen wie Vika oder Eva, ihre Zukunft im Business sucht, und natürlich, was dasselbe sein kann, in Alkohol, Drogen, Sex, Gewalt. Kein Roman, sondern eine Serie von erzählenden, mündlich anmutenden, ungeputzten, abschweifenden Texten. Man erkennt die Handelnden irgendwie wieder, aber ein vollständiger Zusammenhang besteht nicht. Drei Monologe oder Phantasien oder Herzensergießungen funktionieren weniger gut, besser drei, trotz der versickernden Schlüsse, relativ geschlossene Erzählungen, die auf absurde Weise vom Aufbau abseitiger Geschäftsideen berichten. Da soll in der markant machistischen Gesellschaft von Charkiw der beste, weil einzige Schwulenklub eröffnet werden, wofür natürlich Schutz der Behörden und der Unterwelt nötig sind, Know-how und eine Klientel beschafft werden müssen. Das erweist sich als zu schwer. Da wollen zwei stadtbekannte Gewaltganoven ein professionelles Bestattungsunternehmen aufziehen, geraten in ausländische Konferenzabstrusitäten, und an einem Güterbahnhof soll heiße Ware abgeholt werden. Was schiefgeht. Da setzt sich ein Mädchen nach Westen ab; ihr Freund versucht, ohne Visum hinterherzureisen und verfängt sich in grotesken Grenzhändeln. An den schlechteren Stellen austauschbar, die besseren Episoden gut verfilmbar, an die Coen-Brüder erinnernd, und das soll das Ganze auch. 4.9.2019

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Ungarn László Krasznahorkai – Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluß. Roman. 2003. A. d. Ungar. v. Christina Viragh (dt. EA 2005/TB 2007).

Der Titel zitiert die traditionelle Vorschrift für die Wahl des Orts einer buddhistischen Klosteranlage. In einer unbestimmten Gegenwart ist der Enkel des Prinzen Genji, ein scheinbar unsterblicher älterer Mann in traditionellem Gewand, seinem betrunkenen Gefolge entkommen und verlässt mit der Bahn das Zentrum von Kyoto. Aus dem menschenleeren Stadtlabyrinth schreitet er zu einem, wie es scheint, ebenfalls menschenleeren Kloster, erleidet dort aber einen Schwächeanfall und übersieht deshalb das kleine, unauffällige, unendlich harmonische Ziel seiner langjährigen Reise, den hundertsten von „Hundert schönen Gärten“. Alleine kehrt er um. Die parabolische Nicht-Handlung ist umgeben von detaillierten Beschreibungen des Klosters, der Tempel, Schreine, Schriftrollen, Gärten, von der Geschichte seiner Gründung bis zum botanischen und mineralogischen Urgrund der Gartenstiftung. Praktiken des Holzbaus werden plastisch, die überkommene Herstellung von Papier, implizite Bekleidungsnormen, Riten des Respekts. Und natürlich die borgesianischen Fiktionen, das alles auslösende Gartenbuch und die zweitausendseitige monomanische Widerlegung der Unendlichkeit aus der Feder eines Sir Wilford Stanley Gilmore. Leise, langsam, eine magische Japanminiatur mit der erwarteten Andacht zum Kleinen, eine Phantasieprojektion, deren Auslöser ein schlichter Spaziergang gewesen sein mag. Wie Risse im homogenen Gewebe irritiert Fremdes und Befremdliches: ein totgeprügelter Hund, festgenagelte Goldfische, das schlampig-westlich-moderne Privatgemach des abwesenden Abts, das angedeutete schlimme Geheimnis am Schluss. 22.9.2019 230

Uruguay Mercedes Rosende – Krokodilstränen. Kriminalroman. 2016. A. d. Span. v. Peter Kultzen (dt. EA TB 2018).

Ein Krimi aus Uruguays Hauptstadt, hardboiled, lakonisch, gewalttätig, desillusioniert, irgendwie auch komisch, ein erzählter Film zwischen „Hundstage“ und „Fargo“, der sich um den absurden Zufall einer Namensgleichheit von Opfer und Täterin konstruiert. In den Hauptrollen eine verlebte, abergläubische, aber hartnäckig-geduldige Kommissarin, die von ihren korrupten Kollegen planvoll am Ermitteln gehindert wird, ein ängstlicher Kleinkrimineller, der nach einer schiefgegangenen Entführung von einem Mafia-Anwalt traumatisiert aus dem Knast geholt wird, um beim Überfall auf einen Geldtransport zu helfen, ebendieser kettenrauchende, audifahrende, granatwerfende, bigotte Jurist, dann ein überdrehter, stinkender Killer, mit ultrabrutal unzureichend beschrieben, schließlich eine mittelalte, übergewichtige, psychopathische Mehrfachmörderin, die sich in das kriminelle Geschehen energisch einmischt. Sie verdankt ihre Obsessionen den drakonischen Strafen ihres Vaters, der in ihrer Kindheit Heißhungerattacken mit Dunkelhaft beantwortete und den sie dafür tötete, erste, aber nicht letzte Leiche auf dem Pflaster ihres Lebenswegs. Montevideo ist ein Stadtplan für Autofahrten mit und ohne Millionenbeute, eine südamerikanische Großstadt wie andere auch, in der arme Anwohner mit Minimalbeträgen von der Straße ferngehalten werden, wenn keine Zeugen gefragt sind, in der einsame Menschen in anonymen Wohnungen wachliegen oder sich gegenseitig beobachten, wo man hinter der bröckelnden Fassade der Justiz aus baufälligen Gerichten und Gefängnissen leichter herauskommt als in sie hinein. 4.11.2019

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USA Teju Cole – Open City. Roman. 2011. A. d. amerikan. Engl. v. Christine Richter-Nilsson (dt. EA 2012/TB 2013).

Der halb deutschstämmige Nigerianer Julius, nach New York ausgewandert, ist mit Anfang dreißig ausgebildeter Psychiater und schickt sich an, die Forschungsklinik gegen eine Praxis-Niederlassung zu tauschen. Von seiner Freundin hat er sich getrennt; nun reist er im tristen Winter auf halbherziger Spurensuche nach Brüssel, kehrt nach Manhattan heim, wandert durch die Straßen, besucht Museen, Konzerte und Lokale. Seine Liebe gilt der klassischen Musik und der Literatur. Er hat eine rationale, unaufgeregte Grundeinstellung zu seinem Beruf, zu Umwelt, Politik und ethnischen Konflikten. Als Humanist hört er seinen Mitmenschen zu, einem intellektuellen Marokkaner in Europa, dessen extremes Denken ihn abschreckt, aber fasziniert, seinem sterbenden früheren Professor, seinen wenigen Freunden. Für einen veritablen NewYork-Roman sind, trotz der detailreich ausgearbeiteten Topografie und der exzellenten Stimmungsskizzen, der Abstecher nach Belgien und der Anteil nigeranischer Reminiszenzen zu umfangreich. Gegen Ende des Buches zwei Tiefschläge: Julius wird von Jugendlichen zusammengeschlagen. Und eine junge Emigrantin aus seinem Heimatland, von der er sich angezogen fühlt und die ihn zu einer Party bei ihrem jetzigen Partner einlädt, konfrontiert ihn mit dem Vorwurf, sie als Jugendlicher vergewaltigt zu haben. Der Leser erfährt nicht, ob die Anschuldigung zutrifft, ob der Erzähler sich verteidigt, ob er sie wiedersieht, seine Geschichte bleibt dezidiert offen. 20.4.2019

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Usbekistan Uchqun Nazarov – Das Jahr des Skorpions. Roman. 1990. A. d. Usbek. v. Ingeborg Baldauf (dt. EA TB 2002).

Angeblich der erste Teil einer Trilogie; das erklärt den offenen Schluss. Taschkent und usbekische Kleinstädte der Umgebung während des Zweiten Weltkriegs: Viele Menschen verarmen in der Kolchoswirtschaft bis an den Rand des Hungerns. Für die wenigen Gewinnler steht der bigotte Kaufmann Murod Khoja, der durch Beziehungen Personen an die Front, in die Verbannung oder ins Gefängnis bringen, aber auch seinen Sohn vor dem Kampfeinsatz bewahren kann. Fast alle Hauptfiguren werden Opfer des vom allgegenwärtigen Schergen Schnauzbart-Shukur verkörperten erbarmungslosen Stalinismus, als Volksfeinde verleumdet, willkürlich inhaftiert, deportiert, enteignet, entlassen. Repressive Sowjetgesellschaft und traditioneller Islam gehen eine böse Allianz ein, die jedes einzelne Leben erdrückt. Der realistische Dissidentenroman führt einige Charaktere bis zum Tod: den mächtigen Murod, seinen ambitionierten Sohn, dessen selbstbewusste Freundin, während die junge Witwe Oynisa und ihr zweiter Mann, der rechtschaffene Qayum, der Frontheimkehrer Ölmas und seine Geliebte Muqaddas, trotz einer Häufung von Schicksalsschlägen und Intrigen offenbar noch für eine Zukunft aufbewahrt werden. Dasselbe gilt für den dämonischen Hoshim, der dank eines perfiden Doppelspiels Murods Erbfolge antritt. Im Alltag beweisen viele Menschen ihre Güte, aber Zivilvourage bringen die wenigsten auf; sie nützt, so scheint der Roman zu argumentieren, auch nichts. Ob am Ende doch noch jemanden eine moralische Belohnung erwartet? 20.8.2020

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Vatikan Benedikt XVI. – Letzte Gespräche (mit Peter Seewald, EA 2016)

Redigierte Gespräche, die noch einmal Leben, Lehren, Wirken des Papa emeritus durchdeklinieren. Sein Gesprächspartner liefert die passenden Stichworte. Stationen der Biografie von der katholisch geprägten bayrischen Kindheit über Theologiestudium, Professuren, Erzbischofsamt, Präfektur der Glaubenskongregation bis zur beinahe vorhersagbaren Papstwahl 2005 und dem völlig unerwarteten Rücktritt 2013 werden in Fragen nach Hintergründen, Motiven, Reaktionen angesprochen. Heikles wie Versäumnisse, Skandale und aufgetretene oder ungelöste Probleme kommen mindestens zur Sprache. Der besonnene schreibgewohnte Schriftgelehrte und Kirchendiplomat gibt natürlich nichts Ungewolltes preis, öffnet sich aber persönlich sehr glaubhaft. Das eigentlich Bewegendste an diesen Erinnerungsnachträgen sind die authentisierenden Beschreibungen von Ratzingers Gesten: „Papst lacht“, „lacht lauthals“, und seine klaren Antworten: „schon, ja“, „kann man sagen“, „Nein. In keinster Weise“. Und die durch ihre Einmaligkeit berührende Emotion, als der Abschied aus dem Papstamt und von den Gläubigen zur Sprache kommt: „Stimme wird brüchig“ und „der Papst weint“ sind wohl als lapidare Notizen so intensiv, gerade weil es sich um eine bloß referierte, keine gefilmte Reaktion handelt, die man nur imaginieren kann und deshalb automatisch aus dem Verhalten aller anderen Menschen ergänzt, von denen freilich niemand lebend behaupten kann, er sei einmal Papst gewesen. Sicher keine fiktionalen oder poetischen Texte, aber autobiografische Selbstbetrachtungen ohne erkennbar markante Modellierung. 11.11.2020

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Venezuela Karina Sainz Borgo – Nacht in Caracas. Roman. 2019. A. d. Span. v. Susanne Lange (dt. EA 2019).

Neun Uhr, acht auf den Kanaren, meldet das Radio, als die erzählende Exilantin in Madrid eintrifft. Halb elf, berichtet diese zwei Seiten später, auf den Kanaren halb neun. Wäre es nicht der vorletzte Satz, der auf den pathetischen Schluss lossteuert, die metaphorische immerwährende Nacht in Caracas, würde der Widerspruch nicht so verstören. − Diktatur, Straßenkämpfe, Entführung, Folter, Korruption, Elend in Venezuela. Nach dem Tod von Adelaida Falcón wird deren gleichnamige Tochter, Lektorin, von einer gewalttätigen regimetreuen Frauengruppe aus der Eigentumswohnung verdrängt. Zufällig ist nebenan die Tochter einer spanischen Immigrantin gestorben. Adelaida entsorgt die Leiche, beherbergt zwischenzeitlich einen jungen Mann, Opfer und Täter zugleich, eignet sich Hinterlassenschaft und Identität der Nachbarin an und emigriert nach Europa, um dort fortan als die wesentlich ältere Köchin Aurora Peralta zu leben. Ein emotionales, kräftiges Buch, in dem Männer nur marginal vorkommen. Aus ihm sprechen eine idealisierende Sehnsucht nach dem aufstrebenden, modernen Lateinamerika von früher und ein von unbezwingbarem Ekel an den primitiven, körperlich widerwärtigen Menschen, die von der sogenannten Volksrevolution profitieren, genährter Hass auf diese Parteigängerinnen und Schlägertrupps des Comandante Presidente Eterno, dessen Name nicht genannt wird. Vermutlich vereinfachend und Widerspruch einkalkulierend, aber suggestiv und imaginierbar. Sicher parteilich, ob gerecht? Man weiß so wenig. 11.12.2020

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Vereinigte Arabische Emirate Mariam Al-Saadi – Mariam und das Glück. 2009. A. d. Arab. v. Bashar Humeid u. Evelyn Agbaria (dt. EA TB 2009).

Offiziell sind es Kurzgeschichten, bei denen nicht immer eine erzählbare Handlung zum Vorschein kommt, eher aber schlichte Alltagsbeobachtungen aus Sicht einer berufstätigen arabischen Frau, deren Nähe zur Autorin wohl kaum beim Namen haltmacht. Das Trinken von Kaffee oder von Tee wird bewusstgemacht. Eine beduinische Frau bleibt im Alter bei den gewohnten primitiven Lebensumständen. Ein junges Mädchen verliebt sich erfolgreich. Eine Beziehung zerbricht an der Entfernung. Eine Hommage an drei Lehrerinnen. Das Minutenglück einer gleichgestimmten Uni-Bekanntschaft. Die unfreiwillige Unselbständigkeit auch der gebildeten arabischen Frauen. Die banale Langeweile unter Freundinnen. Die Einsamkeit in Europa. Die unerwartete Wärme Europas. Menschen, die im Leben falsche Prioritäten setzen. Menschen, die nutzlose Opfer bringen. Dagegen die Auflehnung des Nicht-ans-Telefon-Gehens. Rituale absolvieren, lächeln lernen, Komplimente einschätzen können. Immer auf wenigen Seiten, immer mit leiser, lakonischer Stimme, sozusagen im Drei-Pünktchen-Stil, der leider aus sich selbst die allzu nachdrückliche Suggestion des unausgeführten Bedeutungsvollen nicht ablegen kann und der von kulturell konditionierten, überraschend blumigen Passagen abgelöst wird. Idiomatische Metaphern wie das Zwiebelschälen oder das vor die Füße fallende Herz werden wörtlich genommen. Das sind reizvolle Minimaleinblicke und aufmerksame Augenblicksschilderungen, allerdings noch nicht mehr. Der diskrete Mut, der hinter diesen Kurztexten sozusagen verschleiert ist, bleibt unaufgefordert wartend auf der Türschwelle stehen. 3.8.2020 236

Vietnam Kim Thúy – Der Klang der Fremde. Roman. 2009. A. d. Frz. v. Andrea Alvermann u. Brigitte Große (dt. EA 2010/TB 2015).

Heißt Roman, ist aber keiner, allenfalls Autofiktion, eigentlich eine Sammlung autobiografischer Miniaturen mit, wenn überhaupt, ausgetauschten Namen. Es wäre spannend, wenn es nicht so wäre, sondern nur so wirkte. Aber es ist so: Die Verfasserin selbst, die sich anders nennt, kam während der Tet-Offensive als Tochter wohlhabender, intellektueller Eltern in Saigon zur Welt. Die Familie floh einige Jahre nach dem Sieg der Kommunisten aus Vietnam nach Kanada. Die existentiellen Erfahrungen als geächtetes bourgeoises Mädchen in der besiegten Südhauptstadt, als Bootsflüchtling in einem malaysischen Elendslager, als Neubürgerin des gastfreundlichen Kanada haben ihre Weltsicht geprägt, so dass sie sensibel und warmherzig den Alltag ihrer neuen Heimat beobachtet und sich, auch durch Reisen, mit der asiatischen Erstheimat und den dort lebenden Menschen konfrontiert. Die teils sehr persönlichen oder die Familie tangierenden Konfessionen sind auf zahlreiche kurze Abschnitte verteilt, die weniger eine Geschichte erzählen als Aspekte des Lebens zwischen den Kulturen ansprechen und von Fall zu Fall anekdotisch illustrieren. Human und authentisch, aber offen bis aleatorisch, wenngleich sich eine Mikrostruktur durch die häufige Kopplung zweier konsekutiver Kurzkapitel andeutet. Dennoch ein eigentümlich leichtgewichtiger, unepischer Text, der mangels Erzählstrecken, vielleicht auch aufgrund eines lakonischen Verzichts auf Dramatisierung, nicht haftenbleibt. Mit Sympathie ausgedrückt: moralisch große kleine Literatur. 24.10.2019

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Wales Angharad Price – Das Leben der Rebecca Jones. Roman. 2002. A. d. Engl. v. Gregor Runge (engl. EA 2012; dt. EA TB 2014).

Die weit über neunzigjährige Rebecca Jones erzählt ihr Leben, das sie ohne Unterbrechung in einem isolierten Tal des ländlichen Wales verbracht hat, Tochter eines Landwirts unter patriarchalen Bedingungen, für eine Familie sorgend, die neben den als Schafzüchter und Ackerbauern hart arbeitenden Eltern aus fünf weiteren Geschwistern bestand, darunter drei blinden Brüdern, die aufgrund des angeborenen Handicaps eine Ausbildung im urbanen England erhielten. Rebecca hat nie geheiratet und zieht sich gegen Mitte ihres Lebens in ein einsames Haus am Talende zurück, wo sie kontemplativ und naturverbunden am Bach lebt. Sie ist literarisch begabt und berichtet über ihr eigenes 20. Jahrhundert in Erwartung des nahen Todes. Der aus einer realen Familiengeschichte entwickelte Roman feiert in anschaulichen Episoden die traditionelle walisische Lebensweise und in zitierten Beispielen aus der frommen Lebensweisheit und Hymnenpoesie der Vorfahren die authentische kymrische Sprachkultur. Seine Topografie, schlicht, überraschungsarm, zeichnet die Umrisse einer gleichmäßigen Biografie, die sich zwischen dem verfallenden Hof in Tynybraich und dem hügelauf gelegenen Cwm Maesglasau bewegt. Alles Übrige ist Phantasie der Schreibenden, Reisen, die Außenwelt, das Leben überhaupt. Was das bedeutet, entschlüsselt erst ein plot twist am Ende, doch der entwertet die durch einige historische Fotos im Sinne von Barthes bis Sebaldt angereicherte Erinnerung überhaupt nicht. 6.6.2021

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Zentralafrikanische Republik Bambote Makombo – Tagebuch eines Bauern aus Zentralafrika. 1983. A. d. Frz. v. Elfriede Czurda (dt. EA TB 1983).

Der unprätentiös, aber kunstvoll fabrizierte fiktionale Text ist kein eigentliches Tagebuch  – er verfährt vielmehr im Modus der Mündlichkeit, ohne präzises Kalenderbewusstsein, und besteht hauptsächlich aus innerem Monolog der Hauptfigur. Es spricht, denkt, erinnert und phantasiert Kpasa, ein älterer, unverheirateter, kinderloser, sich weitgehend selbst versorgender Bauer aus einem aussterbenden Dorf der Zentralafrikanischen Republik, einem Staat, in dem inzwischen weiße Baumwollhändler und Diamantenschürfer die Ökonomie bestimmen und die Menschen in die Hauptstadt abwandern, während das traditionelle agrarische Leben dem Untergang geweiht scheint. Ba-o heißt das Dorf, Ba-o heißt der Fluss beim Dorf, Ba-o heißt sogar der Hund des Mannes, der selbst der Naturreligion verbunden bleibt, während sein Bruder sich dem Christentum zugewandt hat. Die frühere Sozialstruktur war eine autoritäre, gewaltgewohnte Sklavenhaltergesellschaft; Kpasas Familie war nicht mächtig, hatte aber ihren Platz darin. Nun verbringt der alternde Mann seine Tage mit dem Bekämpfen seiner Gebrechen, mit kleineren Arbeiten für die Dorfgemeinschaft, mit Subsistenzwirtschaft im kleinsten Umfang. Er verlässt seine Hütte für kürzere Jagdausflüge und einmal für eine längere Reise in die Umgebung, bei der, wie sich herausstellt, ein Bekannter ums Leben kommt. Überhaupt ist der Tod allgegenwärtig, auch in der Gedankenwelt des Protagonisten, der schlicht, aber nicht primitiv, unablässig über sein eigenes Ende nachsinnt. 15.8.2020

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Zypern Panos Ioannides – Eine Familie mit Tieren. Erzählung. 2006/2014. A. d. Griech. v. Brigitte Münch (dt. EA TB 2016).

Was soll man sagen? Sicher nichts Kritisches, Abwertendes, Zurückweisendes. Zu sympathisch ist das Buch, zu normal, offensichtlich geschrieben aus Sicht durchschnittlicher, lebhafter, humaner, gebildeter Zyprioten. Wahrscheinlich ist es eigentlich eine selektive Geschichte der eigenen Sippe, deren Mitglieder umbenannt wurden, denn der Sprecher ist Rundfunkdirektor, und auch sonst scheinen die Familienverhältnisse nicht frei erfunden. Poetik-offiziell heißt der Text Erzählung, was er schon deshalb nicht ist, weil er lose Episoden aneinanderreiht: Vater Petros, Mutter Olia, Tochter Elina und Sohn Alexandros leben bei Nikosia. Weitere Mitglieder der Familie Theocharous, Bekannte, Kollegen treten auf, wie in einer nahe am Alltag gescripteten TV-Sitcom, nur ohne Lacher vom Band. Denn die Kleingeschichten um Ziegen und Igel, mit Namen und ohne, sind vermutlich die reine Wahrheit, einfach erzählt, nicht pointenlos, aber weder lustig noch traurig; heiter also. Beide heranwachsenden Kinder haben ein angeboren enges Verhältnis zu Haustieren aller Art. Dadurch ist der Text bevölkert von Katzen, Hunden, Vögeln, wieder Hunden und Katzen, von Veterinären und tierfeindlichen Nachbarn, auch einer allergischen Schriftstellerin, die zur Tierfanatikerin mutiert, animal hoarding als Beinahe-Scheidungsgrund, aber die Frau stirbt dann eh. Familie Liebtier reist auch nach To­ ronto. Dort gleichfalls liebe Kalamitäten um Hundkatzemaus. Bis die Kinder erwachsen sind und weiter. Viele gute Wünsche! 15.1.2021

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Zu den Autor:innen

Leila Aboulela wurde 1964 in Kairo als Tochter einer ägyptischen Mutter und eines sudanesischen Vaters geboren und wuchs in Khartum (Sudan) auf, wo sie Englisch lernte und später Ökonomie studierte. 1990 zog sie nach Schottland, wo sie mit dem Schreiben begann, während sie als Dozentin am Aberdeen College und später an der Universität Aberdeen tätig war. 1999 erschien ihr erster Roman The Translator (Die Übersetzerin, 2001). Aboulela lebte mit ihrer Familie einige Zeit in Jakarta, Dubai, Abu Dhabi und Doha und wohnt heute wieder in Aberdeen. Sie veröffentlichte fünf Romane, zwei Erzählungsbände und Hörspiele. Ihre Werke wurden mehrfach international ausgezeichnet und in diverse Sprachen übersetzt. Abu Bakr Khaal wurde 1961 in Eritrea geboren und lebt nach vielen Jahren in Libyen heute in Dänemark. Er war lange Zeit Mitglied der Eritreischen Befreiungsfront und kämpfte in vielen Schlachten gegen die äthiopische Besatzung. Er schreibt auf Arabisch, u. a. für verschiedene arabische Zeitungen und Magazine und veröffentlicht auch Artikel online. Sein Roman African Titanics (2008) ist als eines der wenigen fiktionalen Werke eines eritreischen Autors übersetzt worden. Die Familie von Musa Achmadow gehörte zu den zahlreichen Tschetschenen, die unter Stalin deportiert wurden. Er wurde daher 1956 im Exil in Kirgisien geboren. Im folgenden Jahr konnte seine Familie in ihre Heimat in der Region Shatoy zurückkehren, wo Musa Achmadow die Schule absolvierte. 1979 graduierte er an der Philologischen Fakultät der Universität Grosny und war bis zum Ausbruch des Zweiten Tschetschenien-Krieges 1999 als Lehrer, Redakteur, Dramaturg, Leiter der Pädagogischen Abteilung des Kulturministeriums und Dozent an der Universität Grosny tätig. Von 2000 bis 2002 arbeitete er in der französischen Organisation „Doctors of the World“ als Ethnopsychologe und ist seit 2004 Chefredakteur der Literatur- und Kunstzeitschrift Vainakh. Sein Stück Wölfe wurde 2002 in Paris auf Französisch veröffentlicht.

Zu den Autor:innen

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Der 1936 in Simpherapol/Ukraine geborene Norajr Adaljan ist Literaturwissenschaftler und lebt heute in der armenischen Hauptstadt Jerevan. Von 1982 bis 1986 war er Chefredakteur der armenischen Literaturzeitung Grakan Tert, außerdem war er zweiter Vorsitzender des Schriftstellerverbandes in Armenien. Adaljan ist Verfasser von über 30 Büchern. Viele seiner mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichneten Werke wurden ins Russische, Englische, Spanische, Slowenische, Rumänische, Persische übersetzt; zwei seiner Romane erschienen auch auf Deutsch: Schuld und Liebe (2008) und Der Embryo – Zwei Perlen aus Armenien (2021). Die 1968 in Nairobi, Kenia, geborene Yvonne Adhiambo Owuor studierte Anglistik und Geschichte an der Kenyatta University in Nairobi sowie Kreatives Schreiben an der University of Queensland in Australien und machte ihren MA-Abschluss an der University of Reading in England. Von 2003–2005 leitete sie das Zanzibar Film Festival. Ihre Kurzgeschichten erschienen in internationalen Literaturmagazinen. Für die Geschichte The Weight of Whispers erhielt die Autorin 2003 den Caine Prize for African Writing. Der Ort, an dem die Reise endet (engl. Titel Dust) ist ihr erster Roman, stand auf der Shortlist für den Folio Prize und wurde 2015 mit dem Jomo Kenyatta Prize for Literature ausgezeichnet. Adhiambo Owour ist Beiträgerin der Anthologie New Daughters of Africa von Margaret Busby (2019). Die 1977 in Nigeria geborene Chimamanda Ngozi Adichie begann zunächst ein Medizinstudium in ihrer Heimat, ging aber dann mit 19 Jahren in die USA und studierte dort Kommunikations- und Politikwissenschaften. 2008 erhielt sie einen Masterabschluss in Afrikanistik an der Yale-University. Sie lebt in Nigeria und den USA und gilt als eine der einflussreichsten afrikanischen Schriftstellerinnen der vergangenen Jahre. Ihre auf Englisch verfassten Werke (ihre Muttersprache ist Igbo) wurden in über 30 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. 2012 erschien ihr einflussreiches Buch We should all be Feminists (Mehr Feminismus! Ein Manifest und vier Stories). 2019 wurde Adichie in Margaret Busbys Anthologie New Daughters of Africa aufgenommen. Zu ihren auch in Deutschland erfolgreichen Werken gehören Blauer Hibiskus (2003), Die Hälfte der Sonne (2006), Americanah (2013) und Trauer ist das Glück, geliebt zu haben (2021). 242

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José Eduardo Agualusa wurde 1960 in Huambo, Angola, geboren, fing während seines Studiums der Land- und Forstwirtschaft in Lissabon mit dem Schreiben an und veröffentlichte 1989 seinen ersten Roman A conjura. Er lebt in Portugal, Angola und Brasilien. Sein breitgefächertes Werk umfasst Romane, Kurzgeschichten, Lyrik, Theaterstücke, Kinder- und Jugendliteratur sowie journalistische Texte und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zudem moderiert er eine portugiesische Radiosendung über afrikanische Musik und Literatur. Von Agualusa sind bislang fast 50 Romane erschienen, die in über 25 Sprachen übersetzt wurden, davon allerdings erst sechs auf Deutsch (Ein Stein unter Wasser, Das Lachen des Geckos, Die Frauen meines Vaters, Barroco tropical, Eine allgemeine Theorie des Vergessens, Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer). 1993 veröffentlichte er den dokumentarischen Band Lisboa Africana. Einige seiner Romane entstanden während Stipendienaufenthalten in Goa, Berlin und Amsterdam. 2006 gründete José Eduardo Agualusa den Verlag Língua Geral, der nur auf Portugiesisch verfasste Werke herausgibt. Tschingis Aitmatov, 1928 im Norden Kirgisiens geboren, lernte in seiner Kindheit noch die dortige Nomadentradition kennen, bevor die Familie 1935 nach Moskau zog. Nach der Hinrichtung des Vaters während der stalinistischen Repressionen 1938 floh die Familie zurück nach Kirgisien. Aitmatov holte nach dem Krieg seine Schulausbildung nach und begann ein Studium der Veterinärmedizin. 1956 belegte er einen Autorenlehrgang am Moskauer Maxim-Gorki-Institut und erlangte mit seiner Abschlussarbeit, der Erzählung Dshamilja, weltweiten literarischen Ruhm. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit war er journalistisch tätig (u. a. als Korrespondent der Prawda), engagierte sich in literarischen Gremien und ab 1989 auch politisch als Abgeordneter des Obersten Sowjets und Berater Gorbatschows. 1990 wurde er der letzte sowjetische Botschafter in Luxemburg, 1995 Botschafter des unabhängigen Kirgisistan in Brüssel. Für sein umfangreiches literarisches Werk, in dem die kirgisischen kulturellen Traditionen eine tragende Rolle spielen, erhielt er u. a. den Lenin-Preis für Literatur und Kunst 1963, den Staatspreis der UdSSR 1968, 1977 und 1983 sowie zahlreiche internationale Preise. Der Schneeleopard ist sein letzter Roman. Tschingis Aitmatov starb 2008 in Nürnberg und wurde in Kirgisistan beigesetzt.

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Der 1987 in Tabuk, Saudi-Arabien geborene Galal Alahmadi studierte Bauingenieurswesen und Literatur im Jemen. Er schrieb dort für verschiedene arabische Zeitungen und für ein Magazin der Revolutionsbewegung, bevor er aufgrund der politischen Situation zunächst nach Jordanien und dann in den Libanon floh. Er wurde 2011 mit dem ersten Preis im nationalen Dichterwettbewerb des Jemen ausgezeichnet und erhielt 2017 in Kairo den renommierten Afifi-Matar-Preis für Poesie. 2016 kam er als Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung nach Deutschland und lebt jetzt in Berlin. Galal Alahmadi hat vier Gedichtbände auf Arabisch veröffentlicht; 2020 erschien mit Die Leere der Vase sein erster arabisch-deutscher Gedichtband. Der 1959 in Nord-Sichuan geborene Alai durchlief eine Ausbildung als Chinesischlehrer und arbeitete auch kurz in diesem Beruf. Anfang der achtziger Jahre begann er, Gedichte und Erzählungen in einer Zeitschrift für tibetische Literatur zu veröffentlichen und erhielt 1985 einen tibetischen Literaturpreis für eines seiner Gedichte. Alai, der hier die tibetische Literatur repräsentiert, schreibt chinesisch, da während der Kulturrevolution Tibetisch in den Schulen nicht gelehrt wurde. 1996 zog er nach Chengdu und wurde dort Chefredakteur eines Science-Fiction-Magazins. Für seinen 1998 erschienenen Debütroman Roter Mohn, der zunächst von einigen chinesischen Verlagen wegen der politischen Thematik abgelehnt worden war, erhielt er 2000 die renommierteste chinesische Literaturauszeichnung, den Mao-Dun-Preis. Kangni Alem wurde 1966 in Lomé/Togo geboren und machte 1990 an der Université du Bénin (heute Université de Lomé) einen Abschluss in moderner Literatur. 1989 gründete er die Theaterkompanie Atelier Théâtre de Lomé und wurde für sein Theaterstück Chemins de Croix 1990 mit dem Tchicaya-U’Tamsi-Preis von Radio France International ausgezeichnet. Er setzte seine Studien in Frankreich fort und promovierte 1999 an der Universität Bordeaux III. Alem lebt in Frankreich, wo er als als Stückeschreiber, Theaterregisseur, Schriftsteller und Übersetzer arbeitet. Gegenwärtig ist er Dozent für Literaturwissenschaft an der Universität Bordeaux und unterrichtet zudem an weiteren Universitäten, darunter auch der Universität von Lomé. 2003 erhielt er für seinen Roman Cola Cola Jazz den Grand Prix littéraire de l’Afrique noire.

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Der Schriftsteller, Humorist und Drehbuchautor Sherman Alexie stammt von den Stämmen der Spokane und Cœur d’Alene ab und wurde 1966 im Spokane-Reservat im US-Bundesstaat Washington geboren. Die Bedingungen in den Reservaten und die oft triste und schwierige Lebensrealität der amerikanischen Ureinwohner sind Thema in vielen seiner Werke. Sherman, der selbst jahrelang mit exzessivem Alkoholkonsum zu kämpfen hatte, studierte zunächst Medizin an der Washington State University in Pullman und wechselte dann zu Englischer Literatur. 1992 veröffentlichte er seinen ersten Kurzgeschichten- und Gedichtband The Business of Fancydancing. Stories and Poems und widmete sich fortan komplett dem Schreiben. Alexies Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet: Für seinen ersten Roman Reservation Blues erhielt er 1996 den American Book Award, für den Jugendroman The Absolutely True Diary of a Part-Time Indian bekam er den National Book Award for Young People’s Literature. Seine Kurzgeschichtensammlung War Dances erhielt den PEN/Faulkner Award for Fiction. Sherman Alexie ist seit 2015 Mitglied der American Academy of Arts and Letters. Gemeinsam mit dem befreundeten Journalisten und Schriftsteller Jess Walter betreibt Alexie seit 2014 den Literaturpodcast A Tiny Sense of Accomplishment. Der 1966 in Sulaimaniya (Nordirak) geborene Bachtyar Ali engagierte sich 1983 in den Studentenprotesten und geriet dadurch in Konflikt mit dem Regime Saddam Husseins. Sein Geologiestudium brach er ab, um sich der Poesie zu widmen, und veröffentlichte 1992 seinen ersten Gedichtband Gunah w Karnaval (Sünde und Karneval). Bekannt ist Ali vor allem für seine vom Magischen Realismus inspirierten Romane sowie seine offene Kritik an den politischen und sozialen Verhältnissen in seiner Heimat. Obwohl seine Werke unter den irakischen Kurden, in Syrien und in der Türkei sehr bekannt sind, wurde erst 2016 eines seiner Werke ins Deutsche übersetzt: Der letzte Granatapfel gilt als erste Übertragung eines kurdisch-irakischen Romans ins Deutsche, womit Ali der Durchbruch in der deutschsprachigen Literaturwelt gelang. Drei weitere seiner Romane wurden bislang ins Deutsche übersetzt: Die Stadt der weißen Musiker (2017), Perwanas Abend (2019) und Mein Onkel, den der Wind mitnahm (2021). Seit Mitte der neunziger Jahre lebt er in Deutschland und wurde 2017 mit dem Nelly-Sachs-Preis ausgezeichnet.

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Der 1945 auf der Insel Boa Vista, Caboverde, geborene Germano Almeida gehört zu den bekanntesten Schriftstellern des portugiesischsprachigen Raumes außerhalb Portugals und Brasiliens und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er studierte Rechtswissenschaften in Lissabon und wurde nach der Unabhängigkeit der Kapverdischen Inseln 1976 zum dortigen Generalstaatsanwalt ernannt. 1983 gründete er die Zeitschrift Ponto & Vírgula. Almeida begann vergleichsweise spät mit dem Schreiben: Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1989, O Testamento do Sr. Napumoceno da Silva Araújo, ein satirisches Werk über die kapverdische Gesellschaft, das später für das Kino adaptiert und als bislang einziger Roman neben Der treue Verstorbene (O Fiel Defunto, 2018) auch ins Deutsche übersetzt wurde. 2010 ehrte ihn der kapverdische Staatspräsident Pedro Pires mit einer Auszeichnung für literarische Exzellenz, und 2018 erhielt Almeida als zweiter kapverdischer Autor nach dem Lyriker Arménio Vieira den jährlich vergebenen Prémio Camões, den wichtigsten Literaturpreis des portugiesischsprachigen Raums. Mariam Al-Saadi (geb. 1974 in Al-Ain, Abu Dhabi), studierte Englische Literatur an der Universität der Vereinigten Arabischen Emirate in ihrer Heimatstadt sowie Stadtplanung an der American University of Sharjah und Jerusalem Studies an der Universität von Aberdeen/Schottland. Derzeit arbeitet sie für das Verkehrsministerium von Abu Dhabi sowie als Schriftstellerin. Sie veröffentlicht – wie die meisten Autor:innen ihrer Generation in der Golfregion – ihre Arbeiten vorwiegend im Internet und in Zeitschriften. Für die Geschichte The Old Woman wurde sie 2008 mit dem 3. Platz des Emirates Women Creativity Prize ausgezeichnet und im gleichen Jahr auch in die englischsprachige Anthologie In a Fertile Desert – Modern Writing from the United Arab Emirates (2009) aufgenommen. Mariam Al-Saadis zweiter Kurzgeschichtenband Nawares Che Guevara erschien 2012. Rajaa Alsanea wurde 1981 in Saudi-Arabien geboren und wuchs in Riad als Tochter einer Familie von Ärzten auf. Sie selbst studierte Zahnmedizin in ihrer Heimat. Nach dem Bachelorabschluss 2005 setzte sie ihre Ausbildung in den USA fort und erhielt 2008 einen Master of Oral Sciences von der University of Illinois am Chicago College of Dentistry. Ihr Roman Banat-al-Riyadh (Die Girls von Riad) löste 2005 in Saudi-Arabien wegen 246

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der Thematisierung von u. a. weiblicher Sexualität, Untreue und Homosexualität einen Skandal aus, wurde sofort nach seinem Erscheinen verboten und erschien dann im Libanon. Gegen die Autorin wurde ein Verfahren beantragt, das aber vom Gericht abgelehnt wurde. Der Roman wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und war 2009 auf der Longlist des International Dublin Literary Award. Trotz des großen Erfolges entschied sich Rajaa Alsanea dafür, weiterhin hauptberuflich in der zahnmedizinischen Forschung zu arbeiten. Sergio Álvarez wurde 1965 in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá geboren. Er studierte Philosophie, schloss aber sein Studium nicht ab. Stattdessen verbrachte er einige Jahre im Orinoco-Tiefland und begann nach seiner Rückkehr mit dem Schreiben. In seinen Werken greift er die vielschichtigen sozialen Probleme Kolumbiens auf: In seinem Jugendbuch Mapaná (2000) beschreibt er den Generationenkonflikt und die Umweltprobleme im Amazonasgebiet; La Lectora (2001) thematisiert den Drogenhandel in Kolumbien und erzählt die Geschichte einer Entführung. Der Roman wude mit dem Silverio-Cañada-Preis ausgezeichnet und für das kolumbianische Fernsehen verfilmt. Sein Roman 35 Tote (2011) enstand aus einer zehnjährigen Reise- und Recherchetätigkeit. Álvarez lebt in Bogotá und Barcelona. Er ist auch als Journalist tätig und schreibt für die spanischen Tageszeitungen La Vanguardia und El País. Ramón Amaya-Amador (geb. 1916 in Olanchito, Honduras), arbeitete auf den Bananenplantagen entlang der nördlichen Karibikküste, engagierte sich politisch und wurde im Auftrag der Plantagenarbeiter Gewerkschaftsorganisator. Seine Karriere als Schriftsteller begann er als Journalist für die Zeitung El Atlántico in den frühen 1940er Jahren. 1943 gründete AmayaAmador die Wochenzeitung Alerta, die als Sprachrohr für die Interessen der honduranischen Arbeiterklasse diente. Seine linken Ansichten führten zur Verfolgung durch das Regime von General Tiburcio Carías Andino, und so floh er 1944 nach Guatemala. In seinen zehn Jahren im dortigen Exil schrieb er für verschiedene Zeitungen und verfasste sein bekanntestes Werk, den Roman, Prisión verde (1950; Das grüne Gefängnis), der lange Jahre in Honduras verboten war. Nach dem Sturz der Árbenz-Regierung in Guatemala fand er Zuflucht in der Argentinischen Botschaft und erhielt Asyl in Argentinien. 1957 kehrte er kurzzeitig nach Honduras zurück, beZu den Autor:innen

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vor er mit seiner Familie nach Prag übersiedelte. Insgesamt verfasste er über 30 Bücher, von denen 15 veröffentlicht wurden. Amaya-Amador starb 1966 bei einem Flugzeugabsturz in der Nähe von Bratislava. 1977 wurde sein Sarg in die honduranische Hauptstadt Tegucigalpa überführt. Die schwedische Schriftstellerin Lena Andersson wurde 1970 in Stockholm geboren. Sie wuchs in einem Vorort auf, zog dann nach Torsby und war Leistungssportlerin im Skifahren. Für ihr Studium kehrte sie nach Stockholm zurück. Sie studierte Englisch, Politikwissenschaften und Deutsch und war zunächst als Sportjournalistin tätig. Heute arbeitet sie frei für verschiedene schwedische Zeitungen und Magazine und schreibt Literaturkritiken und Kolumnen. Ihr Debütroman Die Idylle von Stensby (Var det bra så?) erschien 1999; die Geschichte ihrer Protagonistin setzte sie 2017 in dem Roman Unvollkommene Verbindlichkeiten (Utan personligt ansvar) fort. Für ihren Roman Widerrechtliche Inbesitznahme (Egenmäktigt förfarande) gewann Lena Andersson 2013 den August-Preis in der Kategorie Belletristik sowie den Literaturpreis der Zeitung Svenska Dagbladet. Die Vorfahren von Nathacha Appanah kamen Ende des 19. Jahrhunderts als Vertragsarbeiter aus Indien nach Mauritius. Dort wurde sie 1973 geboren und wuchs auf Mauritius und Mayotte auf. Ihre erste Sprache ist daher Morisyen, eine mauritische Kreolsprache. Im Alter von 17 Jahren gewann Nathacha Appanah den Literaturwettbewerb einer Lokalzeitung und studierte anschließend Literatur und Journalismus. 1998 ging sie für ein Stipendium nach Grenoble und zog anschließend nach Lyon. Als Journalistin arbeitete sie u. a. für die Zeitschrift GEO, für France Culture und RFI. Ihr erster Roman, Les Rochers de Poudre d’Or (2003) hat autobiografische Züge und erzählt die Geschichte der Inder, die nach Mauritius kamen, um auf den Zuckerrohrfeldern zu arbeiten. Auch ihr im Folgejahr erschienener Roman Blue Bay Palace spielt auf Mauritius. Nathacha Appanahs Œuvre umfasst inzwischen sieben Romane und mehrere Essays und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Prix FNAC 2007, dem Prix des lecteurs de L’Express 2008, dem Prix Patrimoines 2016 und dem Prix France Télévision 2017. Ihr Roman Der letzte Bruder (2007), die Geschichte eines jüdischen Waisenjungen in der Tschechoslowakei während des Nationalsozialismus, wurde in 16 Sprachen übersetzt. Für Tropique de la violence (2016, Das grüne Auge), einen Roman über das Leben der Ju248

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gendlichen auf den Straßen von Mayotte, war sie für den Prix Goncourt nominiert. Fernando Aramburu (geb. 1959 in San Sebastián im Baskenland) studierte Spanische Philosophie in Saragossa. In seiner Heimatstadt war er Gründungsmitglied der surrealistischen Künstlergruppe CLOC, die zwischen 1978 und 1981 eine Zeitschrift herausgab. Auf seinen Erfahrungen mit dieser Gruppe basiert sein Roman Fuegos con limón (1996). Seit Mitte der achtziger Jahre lebt Aramburu in Hannover, wo er viele Jahre als Spanischlehrer für die Nachkommen von Emigrantenfamilien arbeitete. Den Terror der ETA im Baskenland thematisiert er 2006 in seinem Kurzgeschichtenband Los peces de la amargua. 2009 gab er seine Lehrtätigkeit auf, um sich ausschließlich seiner Arbeit als Schriftsteller und Journalist zu widmen. Seine Bücher wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, und er ist ein häufiger Autor in der spanischen Presse, wo er u. a. eine wöchentliche Kolumne für El País schreibt. Sein Roman Patria (2016) wurde in Spanien von über einer Million Menschen gelesen, in zahlreiche Sprachen übersetzt und als Fernsehserie für HBO verfilmt (2020). Der Roman erhielt den Premio Nacional de la Crítica, den Premio Nacional de Narrativa und den Premio Strega Europeo. Auch für seine weiteren Werke wurde Aramburu mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Premio Vargas Llosa, dem Premio Biblioteca Breve und dem Premio Euskadi. José Maria Arguedas wurde 1911 in Andahuaylas in Peru geboren. Er wuchs unter Indios auf, lernte gleichzeitig Quechua und Spanisch und war von Kindheit an mit den Riten und Bräuchen der Indios ebenso vertraut wie mit ihrer unterdrückten sozialen Stellung. Als Schriftsteller verfasste er seine Werke in beiden Sprachen: seine Romane auf Spanisch, seine Lyrik auf Quechua. Arguedas studierte in Lima zunächst Literatur und promovierte 1939 in Ethnologie mit einer vergleichenden Arbeit zu spanischen und indigenen Dorfgemeinschaften. Er arbeitete als Ethnologe und Dozent für Quechua und studierte daneben Anthropologie; 1962 erhielt er eine Professur in Lima. Er veröffentlichte zahlreiche Untersuchungen zur Quechua-Kultur und übersetzte als erster das berühmte Huarochirí-Manuskript aus dem 16. Jahrhundert ins Spanische. Als Autor wurde Arguedas 1958 mit dem autobiografisch geprägten Roman Los ríos profundos (Die tiefen Flüsse) bekannt, der die Quechua-Kultur und die Natur des AndenZu den Autor:innen

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hochlands schildert. Insgesamt schrieb er sechs Romane (die bis auf einen alle ins Deutsche übersetzt wurden), vier Gedichtbände und zahlreiche Erzählungen, von denen Diamantes e perdenales (1954) als Diamanten und Feuersteine 2002 auch auf Deutsch erschien. Arguedas starb nach langer Depression 1969 durch Suizid. Sein unvollendeter letzter Roman El zorro de arriba y el zorro de abajo wurde posthum 1971 veröffentlicht und 2019 ins Deutsche übertragen (Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten). Die Universidad Nacional José María Arguedas (UNAJMA) mit Sitz in seiner Geburtsstadt Andahuaylas ist nach ihm benannt. Elizabeth Arthur, die hier gleichsam symbolisch die Antarktis repräsentiert, wurde 1953 als Tochter eines Schriftstellerpaars in New York geboren und lebt nach Stationen in Vermont, Michigan, Wyoming und British Columbia (Kanada) jetzt in Indiana. Bereits als Schülerin verbrachte sie viel Zeit in Naturschutzgebieten und -reservaten. Ihr 1971 begonnenes Englischstudium an der Universität von Michigan brach sie ab, um an der National Outdoor Leadership School in Wyoming zu unterrichten. 1976 nahm sie ihr Studium an der University of Victoria in Kanada wieder auf und beendete es 1978. Elizabeth Arthur gewann ein Stipendium des National Endowment for the Arts, das es ihr erlaubte, ihre ersten beiden Romane Beyond the Mountain (1983) und Bad Guys (1986) zu schreiben. 1989 erschien ihr dritter Roman Binding Spell. 1990 nahm Elizabeth Arthur als einzige Schriftstellerin am Programm der „Antarctic Artists and Writers“ teil, eine Erfahrung, aus der ihr bekanntester Roman Antarctic Navigation (1994, Eislandfahrt, 1996) entstand. Anuk Arudpragasam wurde 1988 geboren, ist in Colombo, Sri Lanka, aufgewachsen, und lebt heute abwechselnd in Indien und Sri Lanka. Mit achtzehn Jahren zog er in die USA, um an der Stanford University zu studieren; er promovierte anschließend in Philosophie an der Columbia University. Arudpragasam schreibt auf Tamil und Englisch. Sein Debütroman The Story of a Brief Marriage (2016) machte ihn bekannt. Der Roman wurde ins Französische, Deutsche, Tschechische, Niederländische, Italienische und Chinesische übersetzt, gewann den DSC Prize for South Asian Literature und war auf der Shortlist für den Dylan Thomas Prize und den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt. 2018 war er Gast des Literarischen Colloqiums in Berlin. 2021 erschien sein zweiter 250

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Roman A Passage North (Nach Norden, 2022), der für den Booker Prize nominiert wurde. 2022 erhielt er ein Stipendium des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Der 1981 in Benin geborene Ryad Assani-Razaki stammt aus einer wohlsituierten Familie. 1999 ging er in die USA und begann ein Studium der Informatik an der University of North Carolina. 2004 wanderte er nach Québec aus und beendete sein Studium an der Université de Montréal. Zur Zeit arbeitet er als Informatiker in Toronto, besucht aber regelmäßig seine Heimat Benin. Assani-Razaki schreibt auf Französisch. 2009 veröffentlichte er ein bisher nicht ins Deutsche übersetztes Buch mit Kurzgeschichten, Deux cercles, für das er mit dem Trillium Book Award geehrt wurde. 2011 erschien sein erster Roman La main d’Iman (Iman 2014), für den er den kanadischen Prix Robert-Cliche für das beste Debüt gewann. Seine Kurzgeschichte Olaosanmi wurde 2017 in die deutsche Anthologie L’Amour Toujours L’Amour. Junge französische Liebesgeschichten aufgenommen. Akram Aylisli wurde als Akram Najaf oglu Naibov 1937 in dem aserbaidschanischen Dorf Aylis geboren, nahe den Grenzen zu Armenien und Iran. Seine Mutter war die Geschichtenerzählerin des Dorfes, dessen bäuerliche Welt in vielen seiner Werke eine Rolle spielen sollte. Er studierte Literatur am Maxim-Gorki-Institut in Moskau und wurde einer der erfolgreichsten und bekanntesten Schriftsteller Aserbaidschans und der Sowjetunion. Sein Werk umfasst zahlreiche Romane und Dramen; zudem übersetzte er u. a. Werke von García Márquez, Böll, Turgenjev, Tschechov, Rushdie und Aitmatov ins Aserbaidschanische. Akram Aylisli wurde u. a. als „Schriftsteller der Nation“ und mit dem höchsten Orden Aserbaidschans ausgezeichnet. 2005–2010 war er als Vertreter seiner Heimatregion Mitglied des Parlaments. Mit der Veröffentlichtung von Daş Yuxular (Steinträume) 2012, das die antiarmenischen Pogrome in Baku 1989 und den türkischen Völkermord an den Armeniern am Beispiel eines Massakers in seinem eigenen Dorf 1918 literarisch aufgreift, wurde Aylisi vom gefeierten Schriftsteller zum verfolgten Autor. Titel, Orden und Pension wurden ihm aberkannt, seine Werke aus Schulbüchern gestrichen und die Aufführung seiner Stücke in Theatern verboten. Bei Demonstrationen wurden seine Bücher öffentlich verbrannt. Zahlreiche internationale Organisationen setzten sich für ein Ende der Kampagnen gegen Aylisli ein. Zu den Autor:innen

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Saphia Azzeddine wurde 1979 in Agadir, Marokko geboren. Als sie neun Jahre alt war, wanderte ihre Familie nach Ferney-Voltaire in Frankreich (nahe der Grenze zur Schweiz) aus. Sie studierte Soziologie und arbeitete als Journalistin und Drehbuchautorin, bevor sie 2008 ihren ersten Roman veröffentlichte, Confidences à Allah (2013 als Zorngebete ins Deutsche übersetzt). Ihr 2009 erschienener zweiter Roman Mon père est femme de ménage (Mein Vater ist Putzfrau, 2015) wurde 2011 unter ihrer Regie verfilmt und erhielt den ersten Publikumspreis beim Internationalen Comedy-Filmfestival Alpe d’Huez. 2018 kam ihr zweiter Film heraus, die Komödie Demi-sœurs. Für ihren Roman Bilqiss (2015), in dem sie das Frauenbild des Islam thematisiert, erhielt sie den Prix Littéraire des Lycéens et Apprentis de Bourgogne in Dijon. Ihr bislang letzter Roman, Mon père en doute encore, erschien 2020. Saphia Azzeddine lebt in Genf. Über den nordkoreanischen Autor Bandi ist nur sehr wenig bekannt; es ist nicht einmal zweifelsfrei nachweisbar, ob er tatsächlich existiert oder ob es sich um ein literarisches Konstrukt handelt. Nach den vorliegenden Informationen wurde er 1950 in der Provinz Hamgyong in Nordkorea geboren, ist seit den 1970er Jahren als Schriftsteller tätig und Mitglied des nordkoreanischen Zentralkomitees der Chosun-Schriftsteller-Vereinigung. Als Dissident schreibt er unter dem Pseudonym „Bandi“ („Glühwürmchen“). Als erstem Autor aus Nordkorea gelang es ihm, seine Schriften über die Grenze in den Süden zu schmuggeln: Ein umfangreicher Erzählband mit sieben Kurzgeschichten, die vom Leben in dem abgeschotteten Land erzählen, erschien 2014 in Südkorea. Die Rechte an diesem Band wurden in mehr als 20 Länder verkauft; im Mai 2017 erschien die deutsche Ausgabe unter dem Titel Denunziation (im englischen Sprachraum unter Accusation). Eine Sammlung politischer Gedichte wurde 2018 in Südkorea veröffentlicht und erschien 2019 auf Englisch unter dem Titel The Red Years. Ellen Banda-Aaku wurde 1965 in Surrey/England geboren, wuchs in Sambia auf und lebt heute in London. Sie studierte Öffentliche Verwaltung an der Universität von Sambia in Lusaka und besitzt zudem MA-Abschlüsse in Finanzmanagement (Universität von Middlesex) und Kreativem Schreiben (Universität Kapstadt). Für ihr erstes Kinderbuch, Wandi’s Little Voice, wurde sie 2004 mit dem Macmillan Writer’s Prize for Africa ausgezeichnet; ihre Kurzgeschichte Sozi’s Box gewann 2007 die Common252

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wealth Short Story Competition. Banda-Aakus erster Roman Patchwork erhielt 2010 den Penguin Prize for African Writing und war 2012 auf der Shortlist für den Commonwealth Book Prize. Im gleichen Jahr erhielt sie auch den Zambia Arts Council Ngoma Award für herausragende literarische Leistungen. Ihre Kurzgeschichten sind in zahlreichen Anthologien veröffentlicht, u. a. auch in New Daughters of Africa (2019). 2022 erschien ihr zusammen mit James Patterson geschriebenes Kinderbuch The Elephant Girl. Der Schweizer Lukas Bärfuss wurde 1971 in Thun geboren. Er lebt als Schriftsteller, Bühnenautor, Theaterregisseur und Dramaturg in Zürich. Nach neun Jahren verließ er die Schule, arbeitete in Teilzeitjobs und war zwischen seinem 16. und 20. Lebensjahr immer wieder obdachlos. Nach dem Wehrdienst arbeitete er als Buchhändler in Bern und Fribourg. Seit 1997 ist Lukas Bärfuss als freier Schriftsteller tätig; von 2009 bis 2013 wirkte er auch als Dramaturg am Schauspiel Bern. Er unterrichtet an verschiedenen Hochschulen in den Bereichen zeitgenössische Kunst, Theater und Poetik. Bärfuss wurde als Theaterautor bekannt mit der Groteske Meienbergs Tod (2001). Für das Drama Die sexuellen Neurosen unserer Eltern (2005) wurde er von Theater heute zum „Nachwuchsautor des Jahres“ gewählt; das Stück wurde 2015 auch verfilmt. Für Der Bus – Das Zeug der Heiligen (2005) wurde Bärfuss mit dem Mühlheimer Theaterpreis ausgezeichnet. Bärfuss beschäftigt sich in seinen Dramen immer wieder mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Themen wie Sterbehilfe (Alice Reise in die Schweiz, 2005), Rohstoffe (Öl, 2009), Transsexualität (Frau Schmitz, 2016) oder dem politischen Erbe Helmut Kohls (Der Elefantengeist, 2018). In der Schweiz umstritten war sein 2012 in Zürich uraufgeführtes Drama Zwanzigtausend Seiten, das die schweizerische Mitschuld am Holocaust durch die Zurückweisung von Flüchtlingen thematisiert. Als Prosaist trat Bärfuss erstmals 2002 mit der Novelle Die toten Männer hervor. Neben mehreren Essaybänden hat er bislang drei Romane veröffentlicht: Hundert Tage (2008), Koala (2014) und Hagard (2017). 2018 veröffentlichte Bärfuss seinen ersten englischsprachigen Lyrikband Contact. Bärfuss ist auch als Übersetzer tätig: 2016 übertrug er z. B. gemeinsam mit Muriel Pic die Literaturbriefe Walter Benjamins ins Französische. Seit 2015 ist er Mitglied der Akademie für Deutsche Sprache und Dichtung; 2019 wurde ihm der Büchner-Preis verliehen. Zu den Autor:innen

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Ishmael Beah wurde 1980 in Mogbwemo, Sierra Leone, geboren und war elf Jahre, als der Bürgerkrieg ausbrach, in dem seine Eltern sowie seine beiden Brüder getötet wurden. Im Alter von 13 Jahren wurde er von der Armee Sierra Leones zwangsweise als Kindersoldat rekrutiert. Nach über zwei Jahren konnte Ishmael mit Hilfe von UNICEF befreit und in einem Heim in Freetown betreut und rehabilitiert werden. 1996 sprach er im Ersten Internationalen Kinderparlament der Vereinten Nationen vor Kindern aus 23 Nationen über den Bürgerkrieg in Sierra Leone. Nach dem erneuten Ausbruch von Kämpfen in seiner Heimat verließ er das Land 1996 und ging in die USA, wo er die United Nations International School in Manhattan besuchte und 2004 am Oberlin College einen Abschluss in Politikwissenschaften machte. Seine Erfahrungen als Kindersoldat verarbeitete Beah in seinem ersten Roman A Long Way Gone – Memoirs of a Boy Soldier (2007). 2014 erschien Radiance of Tomorrow, sein neuester Roman Little Family 2020. Ishmael Beah setzt sich seit seiner Zeit am College aktiv gegen den Missbrauch von Kindern als Soldaten ein. Er ist UNICEF-Botschafter, Mitglied des Beratungsausschusses der Kinderrechtsabteilung von Human Rights Watch und gründete 2007 eine Stiftung mit dem Zweck, kriegsgeschädigte Kinder wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Er lebt mit seiner Familie in Los Angeles. Gioconda Belli wurde 1948 in Managua/Nicaragua geboren. Sie besuchte zunächst das Colegio de La Asunción in Managua, anschließend das Real Colegio de Santa Isabel in Madrid, wo sie 1965 auch graduierte. Nach einem Pressestudium in den USA kehrte sie 1967 nach Managua zurück. 1970 schloss sie sich der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront FSLN an. In diesem Jahr veröffentlichte sie auch ihren ersten erotischen Gedichtband und löste im katholischen Nicaragua einen Skandal aus. 1975 ging Gioconda Belli ins Exil, zunächst nach Mexiko, dann nach Costa Rica. Wegen „subversiver Tätigkeit“ wurde sie in Abwesenheit zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. 1978 kehrte sie nach Nicaragua zurück. Heute lebt sie im Exil in Madrid. Im Februar 2023 wurde ihr zusammen mit anderen Regimekritikern die nicaraguanische Staatsbürgerschaft entzogen. Von ihren 15 Gedichtbänden liegen sechs auch auf Deutsch vor; von ihren acht Romanen wurden bislang sieben ins Deutsche übersetzt. Für Ihren Lyrikband Línea de Fuego wurde sie 1978 mit dem kubanischen Premio Casa de las Américas ausgezeichnet. 1989 erhielt sie den Preis „Das politische 254

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Buch“ der Friedrich-Ebert-Stiftung und 2018 den Hermann-Kesten-Preis des deutschen PEN-Zentrums für ihren Einsatz für die Meinungsfreiheit. Papst Benedikt XVI. wurde als Joseph Ratzinger 1927 in Marktl am Inn geboren. Sein Vater war Gendarmeriemeister, seine Mutter Köchin. Ab 1929 lebte die Familie in Tittmoning an der Salzach, ab 1932 in Aschau am Inn. Trotz der finanziellen Belastung schickten die Eltern nach seinem Bruder Georg auch ihn auf das erzbischöfliche Studienseminar St. Michael in Traunstein, in das er 1939 eintrat. Mit 16 Jahren wurde er 1943 als Luftwaffenhelfer eingezogen. Von 1946 bis 1951 studierte Ratzinger Katholische Theologie und Philosophie in Freising und ab 1947 in München, wo er 1953 promovierte. 1958 trat der damals 31-Jährige eine Professur für Dogmatik und Fundamentaltheologie in Freising an und wurde zu einem der bedeutendsten Konzilsberater. Seine akademische Karriere führte ihn auf Professuren in Bonn, Münster, Tübingen und Regensburg. 1977 ernannte Papst Paul VI. ihn zum Erzbischof von München und Freising. Nach dem Tod Johannes Pauls II. wurde Joseph Kardinal Ratzinger 2005 zum Papst gewählt und nahm den Namen Benedikt XVI. an. Im Februar 2013 trat er überraschend von seinem Amt zurück und lebte bis zu seinem Tod am Silvestertag 2022 im Kloster Mater Ecclesiae im Vatikan. Als Papst veröffentlichte er neben einer größeren Anzahl apostolischer Schreiben die drei Enzykliken Deus caritas est (2006), Spe salvi (2007) und Caritas in veritate (2009). Die von ihm begonnene Enzyklika Lumen fidei wurde von seinem Nachfolger Franziskus beendet. Von seinen zahlreichen wissenschaftlichen und theologischen Veröffentlichungen wurden vor allem seine Trilogie Jesus von Nazareth und die 2016 erschienenen Letzten Gespräche einem breiten Publikum bekannt. Jefim Berschin wurde 1951 in Tiraspol geboren, der Hauptstadt der international nicht anerkannten „Transnistrischen Moldauischen Republik“ innerhalb der Republik Moldau. Er studierte an der Moskauer Lomonossov-Universität Journalismus, arbeitete nach 1979 einige Zeit im Norden des Landes als Korrespondent und kehrte dann nach Moskau zurück. 1988 war er Mitgründer der Wochenzeitung Sowjet-Zirkus, in der während der Perestroika zahlreiche Texte sowjetischer Dissidenten und Emigranten erstveröffentlicht wurden. Von 1990 bis 1999 war Berschin einer der führenden Publizisten der Literaturnaja Gazeta. Als 1992 der Krieg zwischen Zu den Autor:innen

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Moldau und Pridnestrowien, der späteren Dnjestr-Republik, ausbrach, musste er Moskau verlassen und kehrte in seine Heimat zurück, wo er Augenzeuge der blutigen Auseinandersetzungen wurde. Als Berichterstatter nahm er am abchasisch-georgischen und danach am tschetschenischen Krieg teil. Heute arbeitet er als freier Schriftsteller und Publizist. Seine eigenen Gedichte erschienen 1988 in der Zeitschrift Die Jugend. Seitdem hat Berschin mehrere Lyriksammlungen und zwei Romane veröffentlicht, außerdem die dokumentarische Erzählung Wildes Feld. In Zusammenarbeit mit dem deutschen Schriftsteller Kai Ehlers entstand sein Buch Russland – Herzschlag einer Weltmacht (2009). Viele seiner Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt und erschienen u. a. in den USA, Deutschland, in der Schweiz, Israel und Argentinien. Die Europäische Akademie für Sozialwissenschaften ehrte ihn mit der Friedrich-Schiller-Medaille. Laurent Binet (geb. 1972 in Paris) arbeitete nach seinem Literaturstudium in Paris an der Luftwaffenschule im slowakischen Košice als Französischlehrer und pendelte einige Jahre zwischen Paris und Prag. Basierend auf seinen Erfahrungen als Lehrer im Pariser Umland veröffentlichte er 2004 La Vie professionnelle de Laurent B. Sein Roman HHhH wurde 2010 mit dem Prix Goncourt für den besten französischsprachigen Debütroman des Jahres ausgezeichnet. HHhH („Himmlers Hirn heißt Heydrich“, ein Göring-Zitat) behandelt die ‚Operation Anthropoid‘, ein Attentat auf den SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich. Auch seine zwei anderen bis jetzt ins Deutsche übersetzten Romane Die siebte Sprachfunktion (2018) und Eroberung (2019), das auch als Serie verfilmt wurde, wurden wohlwollend aufgenommen und mehrfach prämiiert. Binet schreibt gerne metafiktional und kontrafaktisch. Buddhaveda Bose wurde 1908 geboren, in Comilla im damaligen British India, heute in Bangladesh gelegen, und von seinen Großeltern aufgezogen. An der Universität von Dhaka studierte er Englische Sprache und Literatur und arbeitete schon während seiner Studienzeit als Redakteur für literarische Zeitschriften. Bereits mit 17 Jahren veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband; 1930 erschien mit SaDa der erste seiner über zwanzig Romane, von denen Tithidore (1949) besonders bekannt wurde und zu einem modernen Klassiker avancierte. Buddhaveda Bose schrieb neben Gedichten und Romanen auch Kurzgeschichten, Dramen und Essays und 256

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unterrichtete an zahlreichen Hochschulen in Bangladesh und den USA. Auch als Übersetzer war er tätig und übertrug 1961 eine Auswahl von Gedichten Baudelaires ins Bengalische. 1956 gründete er das Department für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität von Jadavpur/Kalkutta, dessen Lehrstuhl er selbst bis 1963 innehatte. Über 25 Jahre lang leitete er das von ihm gegründete literarische Magazin Kavita. Buddhaveda Bose, der für sein literarisches Werk mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, starb 1974 in Kalkutta. Jurij Brězan wurde 1916 in der sächsischen Gemeinde Räckelwitz (sorbisch Worklecy) geboren. Auf seinem Geburtsschein ist die eingedeutschte Namensform Georg Bresan verzeichnet; er selbst führte jedoch zeitlebens seinen sorbischen Namen. Vom Bautzener Gymnasium wurde er 1936 ausgeschlossen und legte das Abitur deshalb 1938 in Polen ab. Während dieser Zeit begann er mit der illegalen Arbeit für eine sorbische Widerstandsgruppe und wurde mehrfach in Dresden inhaftiert. Seine ersten literarischen Versuche veröffentlichte er teilweise unter dem Pseudonym Dušan Šwik. Von 1942 bis 1944 war er Soldat der Wehrmacht; 1946 kehrte er aus der Kriegsgefangenschaft in die Lausitz zurück. Ab 1949 arbeitete Brězan als freischaffender Schriftsteller und veröffentlichte sein umfangreiches Werk regelmäßig in Deutsch und Sorbisch. Zu seinen bekanntesten Werken gehört die Romantrilogie Felix Hanusch (1958–64). Viele Jahre befasste er sich mit der sorbischen Sage vom Zauberer Krabat. 1955 übersetzte er Mišter Krabat von Měrćin Nowak-Njechorński unter dem Titel Meister Krabat, der gute sorbische Zauberer ins Deutsche und verarbeitete den Stoff mehrfach weiter in Die schwarze Mühle (1968), Krabat oder Die Verwandlung der Welt (1976) und Krabat oder Die Bewahrung der Welt (1993). 1964 wurde er Mitglied des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West, 1965 Mitglied der Deutschen Akademie der Künste und war von 1969–1988 Vizepräsident des Schriftstellerverbandes der DDR. Brězan, der mit zahlreichen bedeutenden Preisen der DDR ausgezeichnet wurde, lebte bis zu seinem Tod 2006 in der Nähe seines Geburtsortes. Heðin Brú wurde als Hans Jákup í Stovuni 1901 in Skálavík am östlichsten Zipfel der Färöer-Insel Sandoy geboren. Als junger Mann fuhr er zur See und arbeitete nach einer Ausbildung in Dänemark als Landwirtschaftsberater auf den Färöer Inseln. 1930 erschien Heðin Brús erster Roman Logn­ Zu den Autor:innen

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brá. Heðin Brú schrieb neben einigen kurzen Romanen zahlreiche Erzählungen, war Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Varðin und übersetzte zahlreiche Werke der Weltliteratur ins Färöische, u. a. von Shakespeare, Ibsen, Hamsun, Dostojewski, den Brüdern Grimm, Astrid Lindgren und Emily Brontë. Sein 1940 veröffentlichtes Buch Feðgar á ferð (Des armen Mannes Ehre, 1966) wurde von den Färöern zum „Buch des 20. Jahrhunderts“ gewählt. Zwischen 1959 und 1974 gab er unter dem Titel Ævintýr eine sechsbändige Sammlung färöischer Märchen heraus, die als Standardwerk gilt. Für seine Verdienste um das Färöische als Literatursprache erhielt er mehrere Auszeichnungen, u. a. 1964 den Färöischen Literaturpreis und 1982 die Holberg-Medaille. Heðin Brú starb 1987 in Tórshavn. Tobias S. Buckell wurde 1979 in Grenada geboren und wuchs auf einem Boot auf. Nachdem er 1999 den Clarion Science Fiction Writers’ Workshop besucht hatte, verkaufte er seine erste Kurzgeschichte Fish Merchant an das Magazin Science Fiction Age. 2006 veröffentlichte er seinen Debütroman Crystal Rain, den ersten von insgesamt vier Bänden der Xenoworld-Reihe. Seine Romane und bislang fast hundert Kurzgeschichten wurden in 19 verschiedene Sprachen übersetzt und international verkauft. Als Autor des sechsten Teils der erfolgreichen Halo-Reihe (Halo: The Cole Protocol) erreichte er 2008 die Bestsellerliste der New York Times. 2019 wurde Bucknell für die Sammlung The Tangled Lands mit dem World Fantasy Award augezeichnet. Sein bislang letzter Roman, The Stranger in the Citadel, kam 2021 heraus. Derzeit lebt er mit seiner Familie in Bluffton, Ohio, und unterrichtet am Stonecoast MFA Program in Creative Writing. Der georgische Schriftsteller Lasha Bugadze wurde 1977 in der Hauptstadt Tbilissi geboren und studierte dort Kunst an der Kunsthochschule und der Staatlichen Universität sowie Drama an der Universität für Theater und Film. Seit 1998 wurde er als Autor von Theaterstücken, Romanen und Kurzgeschichten bekannt. Inzwischen hat er über ein Dutzend Theaterstücke und fünf Romane veröffentlicht, zeichnet Cartoons und moderiert im georgischen Fernsehen. Seine Werke wurden u. a. ins Französische, Englische und Deutsche übersetzt. Von seinen Romanen liegen Der Literaturexpress (2016), Lucrezia515 (2017) und Der erste Russe (2019) auch auf Deutsch vor. Er lebt in Tbilissi und ist dort bekannt für seine Literatursendungen in Radio und Fernsehen. Bugadze wurde mehrfach ausgezeichnet, 258

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u. a. gewann er mit der englischen Fassung seines Theaterstücks The Navigator 2011 die BBC International Radio Playwriting Competition. NoViolet Bulawayo wurde unter dem Namen Elizabeth Zandile Tshele 1981 in Tsholotsho, Simbabwe geboren. Sie verbrachte ihre Kindheit in Bulawayo, emigrierte mit 18 Jahren zu ihrer Tante in die USA und begann dort zu studieren. In Erinnerung an ihren Herkunftsort und ihre Mutter änderte sie ihren Namen. Sie absolvierte ein Englischstudium in Stanford und an der Cornell University einen Master of Fine Arts in Kreativem Schreiben. Ihre Texte schreibt sie sowohl auf Englisch als auch auf Ndebele. 2011 erhielt ihre Kurzgeschichte Hitting Budapest (2010) den Caine Prize for African Writing; zwei Jahre später wurde ihr Roman We Need New Names (2013) für den Booker Prize nominiert. Als Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin lebte NoViolet Bulawayo ein Jahr lang in der deutschen Hauptstadt. Ihr zweiter Roman Glory war 2022 auf der Longlist des Booker-Preises und 2023 für den Women’s Prize for Fiction nominiert. Der 1947 in Barcelona geborene Jaume Cabré studierte Katalanische Philologie an der Universität seiner Heimatstadt und ist Studienrat und Professor an der Universität Lleida (UdL) und Mitglied an der Philologischen Abteilung des Institut d’Estudis Catalans (IEC). Er schreibt auf Katalanisch. Seine ersten Veröffentlichungen waren die Erzählbände Faules de mal desar (1974) und Toquen a morts (1977). Cabré hat bislang zehn Romane, fünf Erzählbände sowie Essays, Kinderbücher, ein Theaterstück und zahlreiche Drehbücher verfasst, darunter La Granja (1988–92), die erste katalanische Fernsehserie. International bekannt wurde er 1991 mit seinem Roman Senyoria, der 2009 auch ins Deutsche übersetzt wurde und für den er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, u. a. dem Spanischen Kritikerpreis 1992 und dem Prix Méditerranée 2004. Mehrfach prämiiert wurden auch sein Roman L’ombra de l’eunuc von 1996 (Eine bessere Zeit, 2018) und sein Erzählband Viatge d’hivern (2000). Für Les veus del Pamano (2004, Die Stimmen des Flusses 2007) erhielt Cabré 2005 erneut den Spanischen Kritikerpreis. 2011 erschien sein bislang letzter Roman Jo confesso (Das Schweigen des Sammlers). Luis Cardoso wurde 1958 in Cailaco im damaligen Portugiesisch-Timor, dem heute unabhängigen Staat Timor-Leste, als Sohn eines Sanitäters Zu den Autor:innen

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geboren. Er wurde an verschiedenen Missionsschulen ausgebildet und erhielt 1974, kurz nach der portugiesischen „Nelkenrevolution“, ein Stipendium für Lissabon. Dort studierte er am Instituto Superior de Agronomia Forstwirtschaft und blieb aufgrund der indonesischen Invasion Osttimors auch nach seinem Studium in Portugal, wo er beruflich als Lehrer für Portugiesisch und seine timorische Muttersprache Tetum tätig ist. Seine literarischen Werke, die immer wieder die Geschichte Osttimors aufgreifen, schreibt er auf Portugiesisch. Luis Cardoso engagiert sich von Portugal aus im Conselho Nacional de Resistência Maubere, dem Dachverband des osttimorischen Widerstands gegen die Indonesier. Sein teilweise autobiografischer erster Roman Crónica de uma travessia – A época do ai-dik-funam (Chronik einer Überfahrt) war 1997 der erste Roman eines Osttimorers überhaupt. Inzwischen hat Cardoso sechs Romane veröffentlicht. Für O Plantador de Abóboras erhielt er in Brasilien den Oceanos-Prêmio 2021. Peter Philip Carey wurde 1943 im australischen Victoria geboren und begann seine berufliche Laufbahn als Werbetexter. Durch diese Tätigkeit kam er in Kontakt mit Autoren, die ihn mit der Welt der Literatur bekannt machten. 1964 begann er, selbst zu schreiben, allerdings wurden seine frühen Werke, darunter fünf Romane, alle abgelehnt. Erst 1974 erschien die Kurzgeschichtensammlung The Fat Man in History; 1981 folgte dann sein erster Roman Bliss (Bliss – Das Paradies umsonst, 1987). 1985 zog Peter Carey nach New York, wo er Kreatives Schreiben unterrichtete. Inzwischen lebt er abwechselnd in London und New York und hat sowohl die australische als auch die amerikanische Staatsbürgerschaft. Peter Carey gehört (mit J. G. Farell, J. M. Coetzee, Hilary Mantel und Margaret Atwood) zu den nur fünf Autoren, die bislang den Booker Prize zweimal gewonnen haben. Er erhielt die Auszeichnung 1988 für Oscar and Lucinda und 2001 für The True History of the Kelly Gang (Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang, 2002). Er ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Australian Academy of the Humanities und der American Academy of Arts and Sciences sowie Träger des Order of Australia und wurde 2010 von der Australischen Post mit einer Briefmarke geehrt. Chan Ho-Kei wurde 1975 in Hongkong geboren, studierte Informatik an der Chinese University of Hong Kong und arbeitete als Programmierer, Computerspiele-Entwickler und Manga-Lektor. Er lebt heute in Taiwan 260

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und schreibt auf Chinesisch. 2008 veröffentlichte er seine erste Kurzgeschichte The Case of Jack and the Beanstalk, die für den Mystery Writers of Taiwan Award nominiert wurde, den er dann 2009 mit seiner Geschichte The Locked Room of Bluebeard gewann. Für seinen ersten Roman The Man Who Sold the World wurde er 2011 mit dem 2nd Soji Shimada Mystery Award für klassische Detektivgeschichten in chinesischer Sprache ausgezeichnet. Besonders erfolgreich wurde er mit The Borrowed, einer Serie von sechs Geschichten um Inspektor Kwan, die vielfach ausgezeichnet wurden, u. a. mit dem Taipei International Book Fair Award 2015 und dem japanischen Booklog Grand Prize 2018 als bestes ausländisches Buch. 2017 kam sein zweiter Roman Second Sister auf Chinesisch heraus, der 2020 auf Englisch und 2021 als Die zweite Schwester auf Deutsch gedruckt wurde. Jade Y. Chen wurde 1957 in Taizhong in Taiwan in ärmlichen Verhältnissen geboren. Sie begann ihre berufliche Laufbahn als Mitarbeiterin der China Times Weekly und wechselte mit 21 Jahren als Korrespondentin der China Times nach New York. 1984 ging sie nach Paris, wo sie Schauspiel und später an der École des Hautes Études en Sciences Sociales Geschichte studierte. Seit dieser Zeit war sie als Regisseurin und Choreografin für Opern, Ballette und Theater in Paris, New York und Taipeh tätig, arbeitete als Autorin, Journalistin und Übersetzerin und unterrichtete auch ein Jahr an der Chinesischen Kultur-Universität in Taipeh. 1992 wurde sie freie Korrespondentin der taiwanesischen Tageszeitung United Daily News für Deutschland und Europa. Jade Y. Cheng hat neben Essays, Theaterstücken und Kurzgeschichten auch sechs Romane veröffentlicht, davon vier im Original auf Chinesisch und zwei auf Deutsch. Ihr Roman The Sea God Family von 2004 wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Red Chamber Award der Hongkong University als bester chinesischer Roman, und gewann 2007 den Taiwanesischen Literaturpreis. Der Schriftsteller, Fotograf und Kunsthistoriker Teju Cole wurde als Obayemi Babajide Adetokunbo Onafuwa 1975 im US-Bundesstaat Michigan als Sohn nigerianischer Eltern geboren. Kurz nach seiner Geburt kehrten seine Eltern mit ihm nach Nigeria zurück, wo er in der Hauptstadt Lagos aufwuchs. Im Alter von 17 Jahren kehrte er zum Studium nach Michigan zurück. Seinen Medizinstudiengang brach er ab, um in London Afrikanische Kunstgeschichte zu studieren, gefolgt von einer Promotion Zu den Autor:innen

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an der Columbia University. Er ist Inhaber des Gore-Vidal-Lehrstuhls für Kreatives Schreiben an der Harvard University. 2007 veröffentlichte er seinen aus einem Blog hervorgegangenen Debütroman Every Day is for the Thief (Jeder Tag gehört dem Dieb, 2015) über das Leben in Lagos, der von der New York Times als Buch des Jahres gekürt wurde. Sein 2011 erschienener zweiter Roman Open City wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem PEN-Hemingway-Award, dem New York City Book Award for Fiction und dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt. 2014 war Teju Cole writer in residence im Literaturhaus Zürich. Cole hat bislang zwei Essaybände veröffentlicht (2016 Known and Strange Things; Vertraute Dinge, fremde Dinge und 2022 Black Paper – Writing in a Dark Time), und ist Autor mehrerer Fotobücher (2017 Blind Spot, 2019 Human Archipelago, 2020 Fernweh und 2021 Golden Apple of the Sun). Seine Fotografien wurden bislang in diversen Einzelausstellungen gezeigt. Er ist ständiger Mitarbeiter u. a. der New York Times, des südafrikanischen Kulturmagazins Chimurenga und des New Yorker. Der Schriftsteller und Biologe Mia Couto wurde als António Emílio Leite Couto 1955 in Beira, Mosambik geboren. Während seine Eltern später nach Portugal zurückkehrten, lebt Couto nach wie vor in Mosambik. Er spricht Portugiesisch und die Bantu-Sprache Chissena und ist nach eigenen Angaben sowohl im europäischen wie im afrikanischen Kulturkreis zu Hause. Couto schreibt auf Portugiesisch, integriert in seine Texte aber auch Regionalismen. Während seiner Studienzeit arbeitete er als Journalist und brach 1971 im Zuge der „Nelkenrevolution“ sein Studium ab, um sich ganz dem Journalismus zu widmen. Im Alter von 21 Jahren wurde er Direktor der Nachrichtenagentur Agência de Informação de Moçambique (AIM); zudem war er bis 1981 Chefredakteur von Tempo, der größten Tageszeitung des Landes, und leitete anschließend das Wochenblatt Notícias. 1985 beendete er seine journalistische Laufbahn, studierte Biologie und ist heute Universitätsprofessor und Umweltbiologe im Limpopo Transfrontier Park. Seine vom Magischen Realismus beeinflussten literarischen wurden in mehr als 20 Ländern veröffentlicht. Sein erster von mittlerweile zehn Romanen, Terra Sonâmbula (1992, Das schlafwandelnde Land), wurde auf der Buchmesse von Zimbabwe als eines der zwölf besten afrikanischen Bücher des 20. Jahrhunderts ausgezeichnet und 2007 von der portugiesischen Regisseurin Teresa Prata verfilmt. 1998 wurde Mia Couto als erster afrikani262

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scher Schriftsteller in die Academia Brasileira de Letras aufgenommen. Für seinen 2012 erschienenen Roman A Confissão da Leoa erhielt er 2013 den wichtigsten portugiesischen Literaturpreis, den Prémio Camões. Mano Dayak wurde als Angehöriger der nomadischen Tuareg um 1950 im heute zur Stadt Tchirozérine gehörigen Tal Tidène im Niger geboren. Er wuchs in der Sahara auf, besuchte die von der französischen Kolonialverwaltung vorgeschriebene Nomadenschule und danach das Gymnasium in Agadez. Mit 20 Jahren ging er in die USA, wo er in New York und Indianapolis seine Ausbildung bis zum Hochschulstudium fortsetzte. 1973 zog er nach Paris und schrieb sich in der Abteilung für Kultur- und Sozialanthropologie der Berberwelt an der École pratique des hautes études technologiques ein, schloss sein Studium jedoch nicht ab, sondern kehrte in den Niger zurück, wo er zunächst Wüstenführer für ein Reisebüro war und dann mit seiner französischen Ehefrau eine eigene Tourismusagentur gründete. Dayak war auch als Organisator an der Rallye Paris–Dakar und an Filmdreharbeiten (u. a. für Bertoluccis Un thé au Sahara) beteiligt. 1992 veröffentlichte er Touareg, la tragédie (Die Tragödie der Tuareg, 1996). Mano Dayak war einer der wichtigsten Rebellenführer und Vorkämpfer für den Friedensvertrag, der 1995 von der nigrischen Regierung und den Tuareg-Rebellen unterzeichnet wurde. Auf der Reise zu Verhandlungen in Niamey starb er am 15. Dezember 1995, als das Flugzeug beim Start aus ungeklärter Ursache explodierte. Der Flughafen von Agadez wurde nach ihm benannt. Posthum erschien 1996 seine Autobiografie Je suis né avec du sable dans les yeux (Geboren mit Sand in den Augen, 1998). Der Flame Bram Dehouck wurde 1978 in Poperinge, Belgien geboren. Er studierte zunächst an der Kunsthochschule in Gent und wechselte dann zu einem Journalismusstudium. Dehouck arbeitet seit 2002 als Kommunikationsleiter bei einer Krankenversicherung. 2007 veröffentlichte er sein erstes Buch, den Tatsachenroman Het meisje dat vergeet über das Schicksal seiner Schwester Gertrud. Als Autor von Kriminalromanen debütierte er 2009 erfolgreich mit De Minzame moordenaar. Der Roman wurde 2010 mit dem niederländischen Literaturpreis Gouden Strop und als bester Erstlingsroman mit dem Schaduwprijs ausgezeichnet. Mit seinem zweiten Kriminalroman Een zomer zonder slaap (2011, Ein Sommer ohne Schlaf, 2014) gewann er erneut den Gouden Strop und wurde für den belgischen Zu den Autor:innen

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Hercule Poirotprijs nominiert. Zwei weitere Kriminalromane erschienen 2012 (Helleking, Der Psychopath 2016) und 2016 (Witte raaf, Weißer Rabe, 2022). Junot Díaz wurde 1968 in Santo Domingo in der Dominikanischen Republik geboren. 1976 wanderte seine Familie nach New Jersey/USA aus. Seine Muttersprache ist Spanisch, er schreibt aber auf Englisch. Junot Díaz studierte Anglistik an der Rutgers University und lernte in Kursen für Kreatives Schreiben die Nobelpreisträgerin Toni Morrison und die Autorin Sandra Cisneros kennen, die ihn zum Schreiben motivierten. Seinen Master machte Díaz, der sein Studium duch zahlreiche Aushilfsjobs finanzierte, an der Cornell University. Als Autor bekannt wurde er 1996 mit seiner Kurzgeschichtensammlung Drown, in der erstmals sein literarisches Alter Ego erscheint, die semi-autobiografische Figur Yunior. Eine zweite Sammlung mit Kurzgeschichten erschien 2012 unter dem Titel This Is How You Lose Her (Und so verlierst du sie, 2013). Für seinen ersten und bislang einzigen Roman The Brief Wondrous Life of Oscar Wao (2007), an dem er elf Jahre lang gearbeitet hatte, erhielt Díaz 2008 den Pulitzer-Preis sowie zahlreiche weitere Auszeichnungen. 2015 wurde dieser Roman aus der BBC-Auswahl der 20 besten Romane von 2000 bis 2014 als der bislang bedeutendste dieses Jahrhunderts gewählt. Die Produktionsfirma Miramax sicherte sich 2007 die Filmrechte. Junot Díaz unterrichtet kreatives Schreiben am Massachussetts Institute of Technology (MIT) und lebt in New York und Boston. Fatou Diome wurde 1968 auf der Insel Niodior im Süden des Senegal geboren und von ihrer unverheirateten Mutter zu den Großeltern abgegeben. Sie ging zunächst heimlich in die Schule, bis ihr Grundschullehrer die Großmutter überzeugen konnte, sie offiziell anzumelden. Fatou Diome verließ mit 13 Jahren ihr Dorf, um das Gymnasium in M’bour zu besuchen, und studierte anschließend in Dakar. Um ihre Ausbildung finanzieren zu können, arbeitete sie während ihrer Schul- und Studienzeit als Kindermädchen und Putzfrau. Mit 22 Jahren ging sie nach Frankreich und lebt seit 1994 in Straßburg, wo sie ein literaturwissenschaftliches Studium mit der Promotion abschloss. Sie unterrichtet heute an der Universität Straßburg und an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe. Ihr Debüt gab sie 2001 mit dem Erzählband La Préférence Nationale (Eingeborene zuerst!, 264

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2012). Ihr erster Roman Le Ventre de l’Atlantique (2003) wurde 2005 mit dem österreichischen Jugendbuchpreis der Jury der jungen Leser und dem deutschen LiBeraturpreis ausgezeichnet. 2009 wurde ihr durch das französische Kultusministerium der Titel Chevalier de l’Ordre National des Arts et des Lettres verliehen. Von ihren sechs Romanen wurde bislang neben Der Bauch des Ozeans nur Ketala (2007) ins Deutsche übersetzt. Ihr neuester Roman, De quoi aimer vivre, erschien 2021. Mahmud Doulatabadi wurde 1940 in Dowlatabad im Iran geboren. Als Kind half er seinem Vater, einem Schuster. Zunächst besuchte er nur die Grundschule und verließ mit 13 Jahren sein Heimatdorf; er arbeitete als Schafhirte, Mechaniker, in einer Baumwollfabrik und später in Teheran in einer Druckerei und als Frisör. In Maschhad besuchte er das Abendgymnasium, schloss die Schule aber nicht ab, sondern kehrte nach Teheran zurück, wo er erneut in verschiedenen Berufen arbeitete, u. a. als Kartenkontrolleur, Lagerverwalter und Souffleur. Mit 20 Jahren wurde er Schauspieler und begann zu schreiben. 1974 wurde Mahmud Doulatabadi bei einer Gorki-Aufführung durch den iranischen Geheimdienst verhaftet und verbrachte zwei Jahre im Gefängnis. Sein Schreiben umfasst mehr als zehn Romane sowie Novellen und Kurzgeschichten, darunter auch die Sage Kelidar, die das Leben einer kurdischen Nomadenfamilie erzählt. Der Roman Missing Soluch, den er nach seiner Haftentlassung schrieb, war sein erster Roman, der ins Englische übersetzt wurde. In deutscher Übersetzung liegen sechs Werke vor: Der leere Platz von Ssolutsch (1991), Kelidar (1991), Die Reise (1992), Die alte Erde (2000), Der Colonel (2010) und Nilofar (2016). Der Colonel stand auf den Shortlists für den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen Berlin 2009 und den Man Asian Literary Prize 2011 und gewann 2013 den Schweizer Jan Michalski Literaturpreis. Im Iran erhielt Mahmud Doulatabadi 2012 den Hooshang Golshiri Literary Award für sein Lebenswerk und wurde 2014 mit einer Briefmarke geehrt. 2014 wurde er mit dem Orden der französischen Ehrenlegion ausgezeichnet. Die Schriftstellerin, Rechtsanwältin, Politikerin und Menschenrechtsaktivistin Unity Dow wurde als Unity Diswai 1959 in Mochudi/Botswana geboren und wuchs in einem traditionellen Dorf in einfachen Verhältnissen als Tochter einer Schneiderin und eines Farmers auf. Ihre Eltern ermöglichten sechs ihrer sieben Kinder einen Universitätsabschluss. Nach der High Zu den Autor:innen

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School studierte Unity Dow Jura an der University of Botswana and Swaziland (UBS) sowie in Edinburgh in Schottland. 1984 heiratete sie den US-Amerikaner Peter Dow. Sie begann ihre berufliche Laufbahn als Staatsanwältin in Gabarone und gründete 1988 die erste nur von Frauen geführte Anwaltskanzlei Botswanas. Dow ist Mitbegründerin des Instituts Women and Law in Southern Africa (WLSA) und des AIDS Action Trust. 1997 wurde sie die erste Richterin ihres Landes am High Court und war dort bis 2009 tätig. 2014 wurde Dow als Vertreterin der Botswana Democratic Party Mitglied der Nationalversammlung und war von 2018–2020 Außenministerin Botswanas. Als Autorin hat sie bislang auf Englisch fünf Bücher veröffentlicht. Sie debütierte 2000 mit dem Roman Far and Beyon’, der – wie auch ihre folgenden Werke – die sozialen und gesellschaftlichen Strukturen und Probleme in Botswana thematisiert. Ihr zweiter Roman The Screaming of the Innocent (2002) wurde als Die Beichte ins Deutsche übertragen. Ihre weiteren bislang erschienenen Werke sind Juggling Truths (2003), The Heavens May Fall (2006) und Saturday is for Funerals (2010). Unity Dow wurde mit zahlreichen Ehrungen ausgezeichnet und 2010 zum Ritter der französischen Ehrenlegion ernannt. Zee Edgell wurde als Zelma Inez Edgell 1940 in Belize City im damaligen Britisch-Honduras geboren. Sie studierte Journalismus an der School of Modern Languages at the Polytechnic of Central London und setzte dann ihre Ausbildung an der University of the West Indies in Jamaika fort. Zunächst arbeitete sie für die jamaikanische Zeitung The Daily Gleaner, später wurde sie Redakteurin in Belize City und lehrte von 1966 bis 1968 an der dortigen St. Catherine Academy. Von 1981 bis 1987 war sie die erste Direktorin des Frauenbüros in der Regierung ihres Landes und später Direktorin der Abteilung für Frauenangelegenheiten. Für Entwicklungsorganisationen und das Friedenscorps arbeitete sie u. a. in Nigeria, Afghanistan, Bangladesh und Somalia. Edgell lehrte am University College in Belize und 1993–2009 an der Kent State University, Ohio. Ihr literarisches Debüt gab sie 1982, ein Jahr nach der Unabhängigkeit Belizes, mit dem Roman Beka Lamb, der den britischen Fawcett Society Book Prize gewann und in Auszügen auch in die Anthologie Daughters of Africa (1992) aufgenommen wurde. Ihre vier Romane beleuchten das Land Belize unter verschiedenen gesellschaftlichen, politischen und historischen Aspekten. 1991 erschien In Times Like These, 1997 The Festival of San Joaquin und 2007 Time and 266

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the River. 2007 wurde Zee Edgell zum Member of the Order of the British Empire ernannt. Sie starb 2020 in ihrem Haus in St. Louis, Missouri. Die jordanische Autorin Fadia Faqir wurde 1956 in Amman geboren. Sie erwarb einen BA in Englischer Literatur an der University of Jordan in ihrer Heimatstadt und wechselte 1984 für den Master in Kreativem Schreiben nach Lancaster in Großbritannien. 1990 promovierte sie an der University of East Anglia. Fadia Faqir, die auf Englisch schreibt, debütierte 1988 mit dem Roman Nisanit. 1996 folgte Pillars of Salt, das im kolonialen und postkolonialen Jordanien angesiedelt ist und ins Deutsche, Dänische, Niederländische, Rumänische und Bulgarische übersetzt wurde. Ihr dritter Roman My Name is Salma (2007) greift die Themen „Ehrenmord“, Flucht, Migration und Rassismus auf. Er wurde in 16 Ländern veröffentlicht. 2014 erschien ihr vierter Roman Willows Don’t Weep. Faqir hat auch Theaterstücke und Kurzgeschichten veröffentlicht, darunter The Separation Wall (2005). Als Herausgeberin veröffentlichte sie 1998 Autobiographical Essays by Arab Women Writers als Teil der preisgekrönten Reihe Arab Women Writers, für die Faqir die Chefredaktion übernahm. Bis 2005 war sie Dozentin und Koordinatorin für das Projekt Frauenstudien im Nahen Osten am Zentrum für Nahost- und Islamstudien der Universität Durham. Seitdem konzentriert sie sich auf Belletristik und unterrichtet Kreatives Schreiben. Derzeit ist sie Writing Fellow am St Aidan’s College der Universität Durham. Gaël Faye wurde 1982 in Bujumbura als Sohn einer ruandischen Mutter, die nach den ersten Verfolgungswellen gegen die Tutsi nach der Revolution von 1959 nach Burundi geflohen war, und eines französischen Vaters geboren. Nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Burundi 1993 und dem Völkermord an den Tutsi in Ruanda 1994 floh er im Alter von 13 Jahren zusammen mit seiner Schwester nach Frankreich, lebte zunächst in einer Pflegefamilie und traf dann seine Mutter in Versailles. Während seiner Jugendzeit entdeckte er Rap und Hip-Hop-Musik als Mittel, um seinen Exilschmerz auszudrücken. Nach dem Besuch eines Gymnasiums und einer Handelsschule machte er einen Master in Finanzwesen an der Ecole Nationale d’Assurance und arbeitete zwei Jahre lang in London für einen Investmentfonds, bevor er beschloss, sich dem Schreiben und der Musik zu widmen, und zusammen mit Edgar Sekloka die Band Milk Coffee and Sugar gründete. 2013 veröffentlichte Gaël Faye sein erstes Soloalbum Pili Pili sur Zu den Autor:innen

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un croissant au beurre, 2020 folgte Lundi méchant, das 2022 mit einer Goldenen Schallplatte ausgezeichnet wurde. 2016 veröffentlichte Gaël Faye seinen ersten, teilweise autobiografischen Roman Petit Pays, der vielfach ausgezeichnet wurde und für den Prix Goncourt nominiert war. Petit Pays wurde von Éric Barbier nach einem gemeinsam mit Gaël Faye geschriebenen Drehbuch in Ruanda verfilmt und kam 2020 in die Kinos. Gaël Faye lebt mit seiner Familie in Kigali. Ramón Fonseca Mora wurde 1952 in Panama-Stadt geboren und studierte Jura und Politik an der Universidad de Panamá und an der London School of Economics. Nach seinem Studium war er lange Experte für Internationales Recht bei der UNO in Genf. 1986 gründete er zusammen mit Jürgen Mossack die Kanzlei Mossack Fonseca, die im Zentrum des 2016 bekannt gewordenen Panama-Papers-Skandals um Geldwäsche und Steuerhinterziehung steht. Er war Ministerberater von Juan Carlos Varela und Präsident der Panameñista-Partei, bis er 2016 im Zuge des Skandals entlassen wurde. Die beiden Partner Mossack und Fonseca wurden 2017 verhaftet und gegen Kaution freigelassen; nach wie vor laufen zu den Panama Papers zahlreiche Gerichtsverfahren. Fonseca ist aber auch ein preisgekrönter Autor, der vier Romane sowie Theaterstücke und Kurzgeschichten veröffentlicht hat. Den panamaischen nationalen Literaturpeis „Ricardo Miró“ gewann er zweimal: 1994 für seinen Debütroman La danza de las mariposas (Tanz der Schmetterlinge, 2000) und 1998 für Soñar con la ciudad. Oliver Friggieri wurde 1947 in Floriana auf Malta geboren. Er studierte an der Universität Malta Italienisch, Maltesisch und Philosophie und schloss 1975 mit einem Master ab. Ab 1968 war er als Lehrer in maltesischer Sprache und Philosophie tätig und promovierte 1978 in Mailand. Von 1988 bis 2002 leitete er das Department of Maltese der University of Malta. Friggieri, der maßgeblich an der Förderung der maltesischen Literatur und des Gebrauchs der maltesischen Sprache beteiligt war, wurde 2016 mit einer Goldmedaille in der Ġieħ l-Akkademja tal-Malti’ geehrt und gewann mehrfach den Nationalen Buchpreis sowie 1988 den Premio Mediterraneo Internazionale Palermo. Er schrieb – auf Maltesisch, Englisch und Italienisch – zehn Romane, veröffentlichte aber auch in zahlreichen anderen Genres, darunter Literaturlexika, Literaturkritik, Biografien und Lyrik; zudem schrieb er 1989 die Libretti für das erste maltesische Oratorium 268

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Pawlu ta’ Malta und die Kantate L-Għanja ta’ Malta. Seine Werke wurden bisher in 16 Sprachen übersetzt. Oliver Friggieri starb 2020 auf Malta. Jorge Galán (geb. 1973 in San Salvador) begann bereits mit 19 Jahren zu schreiben, studierte nach seinem Schulabschluss Literatur an der Universidad Centroamericana José Simeón Cañas und begann erste Gedichte zu veröffentlichen. Nach frühen Erfolgen wandte er sich auch dem Schreiben von Prosa zu und begann Kurzgeschichten, Romane und Kinderbücher zu verfassen. In seinem Werk setzt sich der Autor v. a. kritisch mit der Geschichte und Gegenwart El Salvadors und Themen wie der Bandenkriminalität, Gewaltherrschaft und Migration auseinander. Nach der Publikation seines Romans Noviembre 2015, in dem Galán die Ermordung von sechs jesuitischen Pfarrern durch das Militär literarisch aufarbeitete, war er nach mehrfachen Bedrohungen gezwungen, sein Heimatland zu verlassen und suchte politisches Asyl in Spanien, wo er noch heute lebt. Galán zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Lateinamerikas, wurde ins Deutsche, Griechische, Italienische und Niederländische übersetzt und für sein Schaffen mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Premio Nacional de Poesía, dem Premio Adonáis de Poesía für Breve historia del Alba, dem Premio Nacional de Novela Corta für El sueño de Mariana sowie dem Premio Real Academia Española für Noviembre. Alissa Ganijewa (geb. 1985 in Moskau) stammt aus einer awarischen Familie und wuchs in Machatschkala in Dagestan auf. In Moskau studierte sie am Maxim-Gorki-Literaturinstitut und begann bereits während des Studiums, Artikel in renommierten russischen Tageszeitungen und Zeitschriften zu veröffentlichen. Anschließend war sie Redakteurin für die Literaturbeilage der Moskauer Tageszeitung Nesawissimaja gaseta. Sie schreibt Texte über aktuelle politische Themen sowie Literaturkritiken und wurde für ihre journalistischen Arbeiten mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. 2010 publizierte sie mit der Erzählung Salam tebe, Dalgat! ihr belletristisches Debüt, mit dem sie internationale Aufmerksamkeit erregte und für das sie mit dem Debüt-Preis des Wettbewerbs „Große Prosa“ ausgezeichnet wurde. 2012 folgte ihr erster Roman Prazdničnaja gora (Die russische Mauer), der bereits mehrfach übersetzt wurde. 2015 wurde sie für den russischen Booker-Preis nominiert. Seit 2022 lebt sie im Exil in Kasachstan.

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Gilbert Gatore (geb. 1981 in Ruhengeri, Ruanda) begann schon als Kind, Tagebücher zu schreiben, in denen er seine Erfahrungen des Konflikts zwischen Hutu und Tutsi in seinem Heimatland festhielt. 1994 floh er mit seiner Familie vor dem Genozid in den Kongo, wobei während des Grenzübertritts seine Notizbücher konfisziert wurden. 1997 ging er nach Frankreich, wo er am IEP in Lille und anschließend an der École des hautes études commerciales in Paris studierte. Seine schriftstellerische Karriere begann Gatore später vor allem mit dem Ziel, die verlorengegangenen Aufzeichnungen aus der Zeit des Krieges und der Flucht in seinem Schreiben wiederzugewinnen. Sein Debütroman Le Passé devant soi von 2008 ist eines der zentralen literarischen Werke, die sich mit dem Genozid in Ruanda befassen. Für dieses Werk wurde er für den Prix Goncourt du Premier Roman, den Prix Inter/Telerama und den Prix des cinq continents de la Francophonie nominiert sowie mit dem Prix du Roman Ouest-France ausgezeichnet. Heute lebt Gatore in Paris. Armand Gatti (geb. 1924 als Dante Sauveur Gatti in Monte-Carlo, Fürstentum Monaco) war Sohn italienischer Einwanderer von teilweise jüdischer Herkunft und besuchte die École Sainte Thérèse de l’Enfant, wo er schon früh seine Begeisterung für Literatur und Theater entdeckte und als Schüler eine Theatergruppe gründete. Aus bescheidenen Verhältnissen stammend, begann er neben der Schullaufbahn zu arbeiten und politisch aktiv zu werden. Als Jugendlicher wurde er Mitglied der antifaschistischen Résistance, 1943 in Tarnac verhaftet, zu Zwangsarbeit verurteilt und nach Deutschland deportiert. Von dort floh er später zurück nach Frankreich und lebte einige Jahre im Untergrund. Nach Kriegsende arbeitete er als Reporter und wurde für seine journalistischen Arbeiten u. a. 1954 mit dem Prix Albert Londres ausgezeichnet. Zeitgleich begann er auch Prosa, politische Theaterstücke und Drehbücher zu verfassen und Regie zu führen. 1961 machte er sich mit seinem mehrfach ausgezeichneten Filmdebüt L’Enclos in der internationalen Filmszene einen Namen. Auch für sein literarisches Werk wurde Gatti mit zahlreichen Preisen geehrt, etwa mit dem Prix Fénéon, dem Ordre des Arts et des Lettres und 2013 mit dem Grand Prix du théâtre de l’Académie française. Ab 1982 war er Leiter des Atelier de Création Populaire in Toulouse. Gatti verstarb 2017 in Saint-Mandé. Susana Gertopán (geb. 1956 in Asunción) stammt aus einer Familie russischer, polnischer und litauischer Einwanderer jüdischer Herkunft und 270

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wuchs in Asunción im jüdischen Viertel auf. Sie begann zunächst Erzählungen und Gedichte zu verfassen, die in Anthologien und Zeitschriften erschienen, und publizierte 1998 ihren ersten Roman Barrio Palestina, in dem sie sich, wie in den meisten ihrer späteren Werke, mit ihrer Herkunft, jüdischer Kultur und Erinnerung sowie Themen der Migration, Multikulturalität und des Exils befasste. Bis heute hat sie dreizehn Bücher verfasst und wurde für ihre Romane u. a. mit dem Premio Nacional de Literatura, dem Premio Literario Roque Ganoa der Sociedad de Escritores del Paraguay und dem Premio Oscar Trinidad ausgezeichnet. Außerdem verfasste sie einige Erzählungen für Kinder und wurde in zahlreiche Sprachen, darunter Deutsch, Englisch, Französisch und Bengali, übersetzt. Georgi Gospodinov (geb. 1968 in Jambol, Bulgarien) studierte Philologie an der Universität Sofia und promovierte später am Institut für Literatur der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften über neuere bulgarische Literatur. Seine eigene Schriftstellerkarriere begann 1992 mit dem Lyrikband Lapidarium (dt. 2017), der mit dem nationalen Preis für das beste Debüt ausgezeichnet wurde. Internationale Bekanntheit erlangte er durch seinen ersten Roman Estestven roman (1999; Natürlicher Roman, 2007), der in 23 Sprachen übersetzt wurde. Gospodinov lebt in Sofia, arbeitet als Kolumnist für die bulgarische Tageszeitung Dnevnik und die Deutsche Welle sowie als Redakteur der Zeitschrift Literaturen vestnik und verfasst zudem Theaterstücke und Drehbücher. Er wurde in der Vergangenheit u.a. mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis 2016 für Fizika na tagata (2011; Physik der Schwermut, 2014) sowie mit dem Usedomer Literaturpreis 2021 ausgezeichnet. Gospodinovs jüngster Roman Vremeubezhishte (2020; Zeitflucht, 2022) steht auf der Longlist für den International Booker Prize 2023. Marc Graas (geb. 1963 in Luxemburg) studierte Medizin an der Universität Innsbruck und schloss als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ab. 2003–2011 war er als Psychiater und Psychotherapeut am Centre Hospitalier in Kirchberg tätig und anschließend bis Juni 2018 Generaldirektor des Centre Hospitalier Neuro-Psychiatrique in Ettelbrück. Seither arbeitet der Sohn des Künstlers und Schriftstellers Gust Graas als freischaffender Psychiater und Psychotherapeut in Luxemburg, publiziert regelmäßig medizinische Fachartikel und verfasst nebenberuflich Kriminalromane, in welchen er psychologische Elemente verarbeitet. Sein Romandebüt Die Zu den Autor:innen

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Männer im Schatten erschien 2009 und beleuchtet nebst Mordfall die geheimen Aktivitäten einer grenzüberschreitend tätigen rechtsextremen Vereinigung. 2022 erschien sein jüngster Roman Bildnis eines jungen Mannes. Graas schreibt auf Deutsch. Patricia Grace (geb. 1937 in Wellington, Neuseeland) verarbeitet in ihren Romanen, Kurzgeschichten und Kinderbüchern traditionelle Legenden und Mythen. Sie gilt als Schlüsselfigur und Pionierin der neuseeländischen Māori-Literatur und schreibt in englischer und maorischer Sprache. Letztere erlernte die Tochter eines Māori und einer irischen Katholikin mühsam als Erwachsene, da in ihrer Kindheit nur bei formellen Anlässen und Zeremonien Māori gesprochen wurde. Sie stammt väterlicherseits von den Ngāti Toa, Ngāti Raukawa und Te Āti Awa ab und ist durch ihre Ehe mit dem Stamm der Ngāti Porou verbunden. Grace besuchte das Teachers‘ Training College in Wellington und begann mit 25 Jahren zu schreiben, während sie als Lehrerin in Nord-Auckland arbeitete. Ihr Debüt gab sie mit dem Erzählband Waiariki (1975), der ersten Veröffentlichung einer Māori-Autorin überhaupt. 1985 ermöglichte ihr ein Schreibstipendium, ihre Lehrtätigkeit aufzugeben und ihren später in sieben Sprachen übersetzten Roman Potiki (1986) fertigzustellen, der u.a. den LiBeraturpreis 1994 erhielt. Grace wurde für ihr Werk und Engagement mehrfach ausgezeichnet, darunter 2006 mit dem neuseeländischen Prime Minister’s Award for Literary Achievement, und bekam die Ehrendoktorwürde der Victoria University of Wellington (1989) sowie jene des Verbunds der World Indigenous Nations University (2016) verliehen. Zuletzt erschien ihre Autobiographie From the Centre: a writer‘s life (2021). Wendy Guerra (geb. 1970 in Havanna) veröffentlichte bereits mit 17 Jahren ihren ersten Lyrikband und besuchte im Anschluss die Kunsthochschule Instituto Superior de Arte in Havanna. In der Folge widmete sich die kubanische Schriftstellerin zunächst Film und Fernsehen. Noch während ihres Studiums an der Filmhochschule San Antonio de los Baños erhielt sie allerdings von Gabriel García Márquez den Rat, sich ganz auf die Literatur zu konzentrieren. 2006 erschien ihr Debütroman Todos se van (Alle gehen fort), für den sie international ausgezeichnet wurde. Neben dem Spanischen Bruguera-Literaturpreis erhielt sie den französischen Orden eines Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres. Ihre Romane sind in 13 Sprachen übersetzt. 272

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Ayelet Gundar-Goshen (geb. 1982 in Tel Aviv, Israel) hat einen Masterabschluss in Psychologie der Universität Tel Aviv und arbeitete während des Studiums bei der Tageszeitung Yedioth Ahronoth. Nach ihrem Abschluss studierte sie Film und Drehbuchschreiben an der Sam Spiegel Film School in Jerusalem. Heute lebt sie in Tel Aviv, wo sie sich in der israelischen Bürgerrechtsbewegung engagiert und als klinische Psychologin an der Universität sowie am Holon Institute of Technology lehrt. Daneben produziert sie Kurzfilme, verfasst Drehbücher für Fernsehen und Kino in Israel sowie gelegentlich journalistische Beiträge für BBC, Financial Times, New York Times, Time Magazine und The Daily Telegraph. Ihr in dreizehn Sprachen übersetzter Romanerstling Laila Echad, Markowitz (2012; Eine Nacht, Markowitz, 2013) wurde mit dem Sapir-Preis für das beste Debüt in hebräischer Sprache ausgezeichnet. Größere Bekanntheit im deutschsprachigen Raum erreichte sie mit ihrem zweiten Roman Leha‘ir Arajot (2014; Löwen wecken, 2015), der ebenfalls in dreizehn Sprachen übersetzt wurde. Zuletzt erschien ihr vierter, in den USA angesiedelter Roman Relocation (2020; Wo der Wolf lauert, 2021). Abdulrazak Gurnah (geb. 1948 auf Sansibar, Sultanat Sansibar, heute: Tansania) flüchtete als Angehöriger einer arabischstämmigen muslimischen Familie während der Sansibarrevolution mit 18 Jahren nach Großbritannien und studierte am Christ Church College in Canterbury. Nach Zwischenstation an der Bayero University Kano in Nigeria promovierte er über westafrikanische Belletristik an der University of Kent, wo er ab den 1980er Jahren bis zu seinem Ruhestand als Professor für Englisch und postkoloniale Literaturen lehrte. Als 20-Jähriger begann er auf Englisch zu schreiben und integriert in seinem Werk bis heute Referenzen auf seine Muttersprache Suaheli. Parallel zu seiner Doktorarbeit verfasste er seinen ersten Roman Memory of Departure (1987). Im deutschsprachigen Raum verhalf ihm die Übersetzung seines zweiten Romans Pilgrims Way (1988, Schwarz auf Weiß, 2004) zu größerer Bekanntheit. Gurnah lebt heute in Canterbury. 2006 wurde er zum Fellow der Royal Society of Literature gewählt, 2016 war er Juror beim Man Booker Prize, nachdem er 1994 mit Paradise (Das verlorene Paradies, 1996) auf der Shortlist und 2001 mit By the Sea (Ferne Gestade, 2002) auf der Longlist des Booker Prize stand. 2021 erhielt Gurnah den Literaturnobelpreis „für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus Zu den Autor:innen

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und des Flüchtlingsschicksals in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten“. Daraufhin stieg weltweit die Nachfrage nach seinen kommerziell wenig erfolgreichen und vergriffenen Büchern, die seither in Neuauflagen erscheinen. Fawwaz Haddad (geb. 1947 in Damaskus) studierte Rechtswissenschaft an der Universität Damaskus und arbeitete unter anderem als Apotheker und Kaufmann, bevor er im Zuge der Revolution 2012 seine Heimat verließ. Im Exil in Katar widmete sich der gelernte Jurist vollends dem Schreiben. Er ließ sich seither nirgends fest nieder, hielt sich zeitweise in London auf und will langfristig nach Syrien zurückkehren. Sein erster Roman Muza’ik Dimashq ’39 (zu Deutsch: Mosaik Damaskus ’39) erschien 1991 in Beirut. Bis heute publiziert Haddad seine Texte aufgrund des dort liberaleren Klimas für arabische Intellektuelle im Libanon. Bisher erschienen 14 Romane, wovon der Großteil nicht übersetzt ist. Die Zeitschrift für moderne arabische Literatur Banipal veröffentlichte Auszüge auf Englisch. Zudem druckte das US-Magazin Vice 2012 ein Exzerpt des 2009 erschienen Romans A Solo Performance on Piano in der bisher unveröffentlichten englischen Übersetzung von Max Weiss. Eduardo Halfon (geb. 1971 in Guatemala-Stadt) wanderte im Alter von zehn Jahren mit seinen Eltern in die USA aus, ging in Florida zur Schule und studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der North Carolina State University, bevor er zurückkehrte und acht Jahre lang als Literaturprofessor an der Universität Francisco Marroquín in Guatemala lehrte. 2007 wurde er beim Hay Festival in Bogotá ausgezeichnet. Es folgten internationale Auszeichnungen, darunter der guatemaltekische Nationalliteraturpreis. 2011 erhielt er ein Guggenheim-Stipendium für die Arbeit an seinem ersten auf Englisch verfassten Roman The Polish Boxer (2012). Während eines weiteren Stipendiums der Columbia University verfasste er seinen jüngsten Roman Canción (2021). Trotz Zweisprachigkeit zieht er es vor, auf Spanisch zu schreiben. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Halfon lebt in Paris. Mohsin Hamid (geb. 1971 in Lahore, Pakistan) entstammt einer muslimischen Oberschichtfamilie und wuchs ab 1974 zeitweise in den USA auf, während sein Vater an der kalifornischen Stanford University promovierte. 274

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Im Alter von neun Jahren kehrte er mit seiner Familie nach Pakistan zurück, ging jedoch nach Abschluss der Lahore American School mit 18 Jahren erneut in die USA, um Internationale Beziehungen in Princeton zu studieren. Dort belegte er Creative Writing-Kurse und schrieb die erste Fassung seines späteren Debütromans Moth Smoke (2000; Nachtschmetterlinge, 2002). Nach seinem Bachelorabschluss 1993 arbeitete er in Pakistan weiter an seinem Erstlingswerk, ging schließlich an die Harvard Law School, die er 1997 abschloss, und wurde Unternehmensberater in New York. Der Autor lebt in London, ist regelmäßig journalistisch tätig und arbeitet für eine Werbeund Beratungsagentur. Zuletzt erschien sein Roman The Last White Man (Der letzte weiße Mann, 2022). Han Kang (geb. 1970 in Gwangju, Südkorea) wuchs ab ihrem elften Lebensjahr in Seoul auf, studierte an der dortigen Yonsei University Koreanische Literatur und schloss 1993 das Studium ab. Im selben Jahr begann mit der Veröffentlichung von fünf Gedichten ihre schriftstellerische Laufbahn. 1995 erschien ihre Kurzgeschichtensammlung The Love of Yeosu; das Romandebüt folgte mit The Black Deer (1998). Die Tochter des Schriftstellers Han Seung-won wurde in ihrer Heimat mehrfach für ihre Romane und Kurzgeschichten ausgezeichnet. Internationale Anerkennung erlangte sie 2016 mit Erscheinen der englischen Übersetzung von The Vegetarian (2007), für die sie gemeinsam mit der Übersetzerin Deborah Smith den Booker Prize erhielt. Der Roman wurde unter gleichnamigem Titel verfilmt und ist in mehr als 25 Sprachen erhältlich. Kang arbeitete zunächst als Journalistin für verschiedene Zeitschriften und lehrt heute Kreatives Schreiben am Institute of the Arts in Seoul. Indrek Hargla ist das Pseudonym von Indrek Sootak (geb. 1970 in Tallinn), einem der bekanntesten und produktivsten Horror- und Science-Fiction-Schriftsteller der zeitgenössischen estnischen Literatur. Er studierte an der juristischen Fakultät der Universität von Tartu, schloss 1993 ab und arbeitete anschließend u. a. an den estnischen Auslandsvertretungen in Dänemark und Ungarn. Mit dem Schreiben begann Sootak 1989 und entschloss sich 2012, den diplomatischen Dienst zu verlassen, um sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Bislang veröffentlichte er 43 Erzählungen, elf Kurzromane und sechs Romane. Zwischen 2000 und 2020 gewann der Autor 17-mal den estnischen Stalker-Award für Science-Fiction. Größere Zu den Autor:innen

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Bekanntheit erlangte er durch seine Apotheker Melchior-Reihe über Verbrechen im mittelalterlichen Tallinn, die seit 2010 erscheint und für die er unter anderem mit dem Finnischen Krimipreis in der Kategorie „International“ ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschien eine auf den Romanen basierende estnische Filmtrilogie im Kino. Rodrigo Hasbún (geb. 1981 in Cochabamba, Bolivien) studierte Journalismus in Bolivien und Santiago de Chile. Ab 2009 arbeitete er an der Cornell University in Ithaca, New York, wo er auch promovierte. Nach einer Reihe von Kurzgeschichten erschien 2007 sein erster Roman El lugar del cuerpo. Im selben Jahr wurde der Bolivianer palästinensischer Herkunft durch das Hay Festival in Bogotá unter die 39 meistversprechenden Schriftsteller Lateinamerikas unter 40 Jahren gewählt. 2010 listete ihn zudem die Literaturzeitschrift Granta als einen der 22 besten spanischsprachigen Schriftsteller unter 35 Jahren. Der internationale Durchbruch gelang Hasbún 2015 mit Los afectos. Für den in zwölf Sprachen erschienenen Roman erhielt er den English PEN Award. Zwei seiner Erzählungen wurden aufgrund von ihm mitverfasster Drehbücher verfilmt. Sein dritter und jüngster Roman Los años invisibles erschien 2020. Hasbún lebt im texanischen Houston. Epeli Hau’ofa (geb. 1939 in Papua-Neuguinea) gilt als Klassiker der pazifischen Literatur. Als Sohn tongaischer Missionare besuchte er in Papua-Neuguinea, Tonga und Suva die Schule und studierte anschließend Anthropologie an der McGill University in Kanada sowie an der Australian National University, die er mit dem Doktorgrad verließ. Er begann eine akademische Laufbahn an der University of the South Pacific (USP), verfasste als Professor für Soziologie zahlreiche Studien über Tonga und den Pazifik und arbeitete zeitweise als Privatsekretär des Königs von Tonga, dessen Palastarchive er verwaltete. Als Gründungsdirektor des Oceania Centre for Arts and Culture an der USP war er Mentor einer neuen Generation von Kunst- und Kulturschaffenden. Er schrieb neben Sachbüchern auch Gedichte, Kurzgeschichten und Essays, war jedoch in erster Linie als Satiriker und Humorist bekannt. Hau’ofa lebte bis zuletzt auf den Fidji-Inseln und erlag dort 2009 in Suva einem Herzleiden. Rafael Ángel Herra (geb. 1943 in Alajuela, Costa Rica) studierte Klassische Philologie und Philosophie an der Universität von Costa Rica. Dank 276

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eines Stipendiums des DAAD promovierte er an der Universität Mainz. Nach seiner Heimkehr lehrte er ab 1967 als Professor für Philosophie, gab mehr als 20 Jahre lang die Revista de Filosofía de la Universidad de Costa Rica heraus und war zwischenzeitlich Gastprofessor an den Universitäten von Bamberg und Gießen. 1998 beendete er seine Lehrtätigkeit und war vier Jahre lang Botschafter Costa Ricas in Deutschland sowie zwischen 2000 und 2003 bei der UNESCO. Herra ist ordentliches Mitglied der costaricanischen Sprachakademie und verfasst Romane, Kurzgeschichten, Essays, Gedichte sowie philosophische und journalistische Artikel. Sein erster Roman La guerra prodigiosa erschien 1986. Ein Teil seines Werks wurde ins Französische, Italienische und Deutsche übersetzt. 2019 erhielt er für seine Gedichte den International Poetry Award der Alfonso Gatto Foundation. Iman Shaheen Humaidan (geb. 1956 in Ain Aanoub, Libanon) studierte als Tochter einer liberalen Familie an der amerikanischen Universität in Beirut Soziologie und Anthropologie und floh während des libanesischen Bürgerkriegs nach Paris. In ihrer Magisterarbeit befasste sie sich mit Erzählungen von Familien, deren Angehörige im Bürgerkrieg (1975–1990) verschwanden. Auch ihr literarisches Werk thematisiert die Erfahrung von Krieg, Flucht und Exil. Humaidan schreibt auf Französisch und Arabisch und arbeitet seit 1989 als freie Journalistin mit einem Schwerpunkt in den Bereichen Kultur, Soziales, Menschenrechte und Frauen. Neben Kurzgeschichten und Drehbüchern publizierte sie vier Romane, die ins Englische, Französische und Deutsche übersetzt wurden. Ihr Debütroman Ba‘ mithl bait mithl Bairut erschien 1997 (B wie Bleibe wie Beirut, 2007). Sie ist Mitbegründerin und seit 2015 Präsidentin des libanesischen PEN-Zentrums, unterrichtet Arabisch sowie Kreatives Schreiben an europäischen und nordamerikanischen Universitäten und lebt abwechselnd in Paris und Beirut. Michal Hvorecký (geb. 1976 in Bratislava) studierte Ästhetik am Institut für literarische und künstlerische Kommunikation (ÚLUK) der Philosoph-Konstantin-Universität in Nitra und verdiente sich seinen Lebensunterhalt zunächst auf Donauschiffen. Gegenwärtig gilt er als wichtigster Brückenbauer zwischen der österreichischen und slowakischen Literaturszene, wurde mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet und erhielt 2019 das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse. Hvorecký lebt als Übersetzer und freier Autor in Bratislava und engagiert sich Zu den Autor:innen

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für den Schutz der Pressefreiheit. Er verfasst regelmäßig journalistische Beiträge für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften wie die in Bratislava erscheinende Tageszeitung SME, Die Zeit und die FAZ. Bisher veröffentlichte er neben Essays und Erzählbänden fünf Romane, die alle auch auf Deutsch erschienen. Seine Bücher wurden in elf Sprachen übersetzt. 2009 wurde sein auf Deutsch verfasstes Theaterstück Slowakisches Institut. Eine Satire auf zwei Städte in weiter Ferne so nah im Theater Forum Schwechat uraufgeführt. Im selben Jahr erhielt Hvorecký in Berlin den Internationalen Journalistenpreis. Jorge Icaza (geb. 1906 in Quito, Ecuador) wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und ermöglichte sich nur unter großen finanziellen Nöten seine Studien an der Universidad Central und am Conservatorio Nacional. Nachdem er seine Eltern verloren und das Medizinstudium abgebrochen hatte, begann er seine Arbeit als Theaterautor und Schauspieler in der Compañía Dramática Nacional. Sein Einkommen verdiente er jedoch hauptsächlich als Beamter im Finanzministerium. Da 1933 sein Drama El dictador (Der Diktator) starker Zensur und Kritik ausgesetzt war, begann Icaza, vornehmlich Romane zu schreiben. Sein Debütroman Huasipungo verzeichnete einen großen Erfolg, wurde mehrfach übersetzt und gilt als wegweisendes Beispiel des indigenistischen Romans. 1935 erhielt er für die Novelle En las calles den Premio Nacional de Literatura. Icaza betätigte sich auch politisch und setzte sich für die indigene Bevölkerung ein. Er gründete außerdem die Schriftsteller- und Künstlergewerkschaft Ecuadors, arbeitete in der Casa de la Cultura Ecuatoriana und hatte mehrere diplomatische Positionen inne. Ab 1960 leitete er die ecuadorianische Nationalbibliothek. Icaza verstarb 1978 in Quito. Panos Ioannides (geb. 1935 in Famagusta, Zypern) studierte Soziologie und Massenkommunikation in den USA und in Kanada. Seit 1955 schreibt er, vor allem Prosa und Theaterstücke, arbeitete jedoch auch als Direktor für das Radio und Fernsehen bei der Cyprus Broadcasting Corporation. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er war als Vorsitzender des Repertory Committee der Cyprus Theatre Organization und als Präsident des zypriotischen PEN-Zentrums tätig. Für seinen Beitrag zur zypriotischen Literatur wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 2007 mit dem Preis der Cyprus Academy of Sciences, Letters and Arts und 2009 mit dem George-Philippe-Perides-Preis. Er lebt heute in Nikosia auf Zypern. 278

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Moses Isegawa (geboren 1963 in Kawempe, Uganda) ist auch unter seinem bürgerlichen Namen Sey Wava bekannt. In Uganda besuchte er ein katholisches Priesterseminar und studierte an der Universität von Makerere, anschließend arbeitete er für vier Jahre als Geschichtslehrer. 1990 zog er in die Niederlande, wo er sechzehn Jahre nahe Amsterdam lebte. Unter seinem Pseudonym publizierte er dort seinen Debütroman Abessijnse kronieken. Ursprünglich verfasste er den Roman auf Englisch; erstmals publiziert wurde er jedoch 1998 auf Niederländisch und avancierte zu einem sensationellen, später auch internationalen Erfolg. 2006 entschied sich der Schriftsteller für seine Rückkehr nach Uganda, wo er heute lebt. Ismail Fahd Ismail (geb. 1940 in al-Sabiliat, Irak) studierte am Higher Institute for Dramatic Arts in Kuwait Literatur und Literaturkritik. Anschließend arbeitete er sowohl als Lehrer als auch in einem Verwaltungsamt im Bildungsministerium. 1970 erschien sein Romandebüt The Sky Was Blue. Er gründete ein privates Unternehmen für künstlerische Produktion und trat 1985 von seiner Stelle im Ministerium zurück, um sich ganz seiner schriftstellerischen Karriere zu widmen. Ismail gilt als Begründer der Romankunst in Kuwait und hatte als Förderer zahlreicher kreativer, schriftstellerischer Talente maßgeblichen Einfluss auf die kuwaitische und arabische Literaturszene. 1989 erhielt er für seine Romane den State Encouragement Award. Seine Romane The Phoenix and the Faithful Friend (Der Phönix und der treue Freund) und Al-Sabiliat (Die alte Frau und der Fluss) wurden jeweils für den internationalen Preis für arabische Fiktion nominiert. Ismail verstarb im September 2018. Jurga Ivanauskaitė (geb. 1961 in Vilnius) veröffentlichte im Anschluss an ihr Grafikstudium an der Vilnius Art Academy zahlreiche Romane sowie Essays und Reiseberichte in verschiedenen Tageszeitungen. Ihre kritische Auseinandersetzung mit dem katholischen Glauben brachte der Autorin vielfach Schwierigkeiten in ihrem Geburtsland ein. Ihr erfolgreicher Roman Ragana ir lietus (Die Regenhexe) wurde 2007 von Algimantas Puipa unter dem Titel Nuodėmės užkalbėjimas (Whisper of Sin) verfilmt. Nach mehreren Reisen nach Indien beschäftigte sich Ivanauskaitė im Verlauf ihres Lebens intensiv mit dem Buddhismus und engagierte sich zunehmend für Tibet. Sie verstarb 2007 mit 45 Jahren nach längerem Krebsleiden in Vilnius. Zu den Autor:innen

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Marlon James (geb. 1970 in Jamaika) verbrachte seine Kindheit in Portmore nahe Kingston. Sein Studium an der University of the West Indies schloss er 1991 ab und arbeitete anschließend als Werbetexter, Grafiker und Artdirector. Bei einem Literaturworkshop in Jamaika wurde James’ literarisches Talent entdeckt, woraufhin er in die USA ging und an der Wilkes University of Pennsylvania ein Masterstudium in Kreativem Schreiben absolvierte. 2005 erschien sein Debütroman John Crow’s Devil, ab 2007 lehrte er am Macalester College in St. Paul Englisch und Kreatives Schreiben. Neben Romanen publizierte James auch Kurzgeschichten und Zeitungsbeiträge sowie seit 2020 den Podcast Marlon and Jake Read Dead People, zusammen mit seinem Herausgeber Jake Morrissey. 2021 begann James seine Arbeit für HBO und Channel 4, für die er die Serie Get Millie Black schreibt. Federico Jeanmaire (geb. 1957 in Baradero, Argentinien) studierte an der Universität von Buenos Aires Literaturwissenschaft. Er befasste sich insbesondere mit der Literatur des Siglo de Oro und forschte zu Miguel de Cervantes. Später war er am Lehrstuhl der Universität tätig und unterrichtete dort argentinische Literatur. Er wandte sich jedoch auch dem kreativen Schreiben zu und verfasste über zwanzig Bücher, darunter sowohl Fiction als auch Nonfiction, für die er mit zahlreichen argentinischen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, u. a. dem Premio Emecé, dem Premio Especial Ricardo Rojas und dem Premio Clarín. Als wesentlicher Beitrag zur Cervantes-Forschung gilt sein Werk Una lectura del Quijote. Erling Jepsen (geb. 1956 in Gram, Dänemark) verließ bereits mit sechzehn Jahren sein Zuhause und seine Familie. Seine Schulbildung schloss er 1975 in Aarhus ab; seitdem lebt er in Kopenhagen. Dort ist er als Hörspielautor, Dramatiker und Romanautor tätig, dessen Werke die dänische Mentalität widerspiegeln und sich mit Themen wie der Kleingeistigkeit und Gewaltbereitschaft der Gesellschaft befassen. 1977 wurde er mit seinem Debüthörspiel Kiks med kniv og gaffel bekannt, später erlangte er auch mit Romanen wie Kunsten at græde i kor (Die Kunst im Chor zu weinen) große Bekanntheit. 2004 wurde er für seinen Beitrag zur dänischen Theaterlandschaft mit der Holberg-Medaille ausgezeichnet. Bisher wurden drei seiner Romane als Film adaptiert.

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Zu den Autor:innen

Lloyd Jones (geb. 1955 in Lower Hutt, Neuseeland) arbeitete im Anschluss an sein Studium der Politikwissenschaften an der Victoria University of Wellington als Journalist und bereiste die USA, Europa und Asien. Seinen Debütroman Gilmore’s Dairy (Gilmores Milchladen) veröffentlichte er mit dreißig Jahren. Sein vielbeachteter Roman Mister Pip, 2006 erschienen, wurde mehrfach übersetzt, preisgekrönt u. a. mit dem Commonwealth Writers’ Prize und war 2007 auf der Shortlist für den Booker Prize. Der Roman wurde außerdem 2012 von Andrew Adamson mit Hugh Laurie verfilmt. 2009 erhielt Jones den Ehrendoktortitel der Victoria University. Sein Werk wurde überdies mit dem Tasmania Pacific Fiction Prize und der Deutz Medal for Fiction ausgezeichnet. Ismail Kadare (geb. 1936 in Gjiorkastra, Albanien) studierte in Tirana und in Moskau Literaturwissenschaft und begann seine literarische Karriere mit dem Schreiben von Gedichten. In seinem späteren Schaffen schrieb er vor allem gesellschaftskritische Romane. Sein Debüt Kaffeehaus Tage wurde unmittelbar nach der Veröffentlichung verboten. Mit seinem Roman Gjenerali i ushtrisë së vdekur (Der General der toten Armee) feierte Kadare seinen Durchbuch, wobei das Werk besonders von der französischen Kritik gelobt wurde. In Italien wurde der Roman 1983 verfilmt. In den 1990er Jahren suchte Kadare politisches Asyl in Frankreich, da die kommunistischen Behörden ihn aufgrund seiner kritischen Haltung zum Staatsfeind erklärt hatten. Mit seinen Werken gilt er als eine der wichtigsten Stimmen gegen den Totalitarismus. Er erhielt 2005 den Booker Prize und wurde mehrfach für den Nobelpreis nominiert. Samson Kambalu (geb. 1975 in Malawi) studierte und absolvierte zwischen 1995 und 2015 in seinem Heimatland und in England Kunst, Design und Ethnomusikologie. Von der renommierten Kamuzu Academy erhielt er ein Stipendium und organisierte die erste Konzeptausstellung in Malawi. Er erhielt außerdem Forschungsstipendien der Yale University und des Smithsonian Institute und war sowohl in den Niederlanden als auch in England artist in residence. Für seine Kunst, die oft stark autobiografisch geprägt ist, erhielt er mehrere Auszeichnungen, darunter 2004 den Decibel Visual Arts Award und 2013 den AHRC PhD Research Award. Er war auf zahlreichen internationalen Ausstellungen vertreten, u. a. 2015 auf der Biennale in Venedig. Sein wohl bekanntestes Kunstwerk ist der „Holy Ball“, Zu den Autor:innen

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ein mit Bibelseiten beklebter Fußball. Kambalu lehrt heute Fine Arts an der Ruskin School of Art in Oxford und veröffentlichte 2008 mit seinem autobiografischen Roman The Jive Talker sein erstes literarisches Werk. 2012 folgte sein zweiter Roman Uccello’s Vinyard. Abdoua Kanta (geb. 1946 in Foulatari, Niger) gehört der ethnischen Gruppe der Fulbe an und setzt sich in seinem Schaffen immer wieder mit seiner Herkunft auseinander. Nach seiner Ausbildung zum Lehrer wandte er sich einer Karriere in der Medienbranche zu und absolvierte 1965 eine Fernseh-Ausbildung in Paris. Anschließend arbeitete er als Radiomoderator und moderierte Sendungen sowohl auf Französisch als auch auf Fulfulde und Kanuri. Kanta arbeitete als Journalist, beim Fernsehen als Sport- und Sonderberichterstatter sowie als Filmregisseur und Schauspieler. Er drehte sowohl Spiel- als auch Dokumentarfilme und wandte sich, auf Anregung der Kinderbuchautorin Andrée Clair, Anfang der 1970er Jahre erstmals dem Schreiben zu. Er schrieb Kinderbücher und war Mitglied der Association des Écrivains Nigériens und der Association des Cinéastes Nigériens. Sein größter literarischer Erfolg war das Kinderbuch Halimatou (Lelee, das Hirtenmädchen), das 1987 erschien und 1995 mit dem Kinderliteraturpreis Blaue Brillenschlange ausgezeichnet wurde. Dževad Karahasan (geb. 1953 in Duvno, heute Bosnien) studierte in Sarajevo Literatur- und Theaterwissenschaft. Er promovierte an der Universität Zagreb und arbeitete seitdem als Schriftsteller, Dramaturg, Essayist und Dramatiker. 1993 musste er im Zuge des Bosnienkrieges aus Sarajevo fliehen, eine Erfahrung, die er später in vielen seiner Werke, etwa in Tagebuch der Aussiedlung, Schahrijârs Ring und Sara und Serafina, verarbeitete. Von 1986 bis 1993 lehrte er Dramaturgie und Dramengeschichte in Sarajevo, war am Theater tätig und schrieb für Literatur- und Kulturzeitschriften. Nach seiner Flucht war er Gastdozent u. a. in Salzburg, Berlin und Göttingen und außerdem als Dramaturg für die Gesellschaft für Musik und Theater ARBOS tätig. Er bearbeitete Theaterklassiker, wie etwa Woyzeck oder Der Tod des Empedokles, und übersetzte Texte Bahtins, Büchners und Rabinovics ins Bosnische. Für seine Werke erhielt Karahasan zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Herder-Preis, die Goethe-Medaille, den Jeanette-Schocken-Preis und den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung. Dževad Karahasan starb 2023 in Graz. 282

Zu den Autor:innen

Ioanna Karystiani (geb. 1952 auf Kreta) studierte in Athen Rechtswissenschaften und engagierte sich in den 1970er Jahren als Studentin gegen die griechische Militärdiktatur. Im Anschluss an ihr Studium arbeitete sie beim Fernsehen, als Drehbuchautorin und Cartoonistin und publizierte in Griechenland, Europa und den USA. Außerdem drehte sie mehrere Dokumentarfilme und begann in den 1990ern ihre ersten Prosatexte zu veröffentlichen. Ihr Debütroman Mikra Anglia (Die Frauen von Andros) wurde ein Sensationsbestseller und bald in weitere Sprachen übersetzt. 1998 wurde das Buch mit dem griechischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet, für den Aristeion-Preis nominiert und 2013 unter Mitarbeit von Karystiani von ihrem Ehemann Pantelis Voulgaris verfilmt. Für ihren zweiten Roman erhielt die Autorin den Diavaso-Literaturpreis und den Preis der Athener Akademie. Berdy Kerbabajew (geb. 1894 in Kouki-Zeren, heute Tejen, Turkmenistan) gilt als einer der Pioniere der sowjetisch-turkmenischen Literatur. Er studierte an der staatlichen Universität in Leningrad Orientalistik und betätigte sich Zeit seines Lebens politisch. Er trat den Bolschewiken bei, unterstützte die sowjetischen Reformen und war älteren Traditionen gegenüber äußerst kritisch. Auch während des Bürgerkrieges war er in der politischen Abteilung der „Transkaspischen Front“ tätig und wurde im Zuge der stalinistischen Säuberungen 1933 verhaftet. Von 1924 bis 1934 arbeitete er als Zeitungsherausgeber bei Turkmenistan und Tokmak. In den Jahren danach war er wissenschaftlicher Leiter und später Abgeordneter in der Turkmenischen SSR, außerdem Mitglied des Stalin-Preiskomitees und ab 1948 Mitglied der KPdSU. Seine literarische Arbeit begann Kerbabajew bereits 1923 und veröffentlichte insgesamt mehr als 30 Werke, darunter Theaterstücke, Libretti, Prosawerke und Gedichte. Darüber hinaus übersetzte er Werke Puschkins, Gogols, Lermontows und Tolstois ins Turkmenische. Er starb 1974. Yasmina Khadra ist das weibliche Pseudonym des Schriftstellers Mohammed Moulessehoul (geb. 1955 in Kandaza, Algerien). Bereits als Kind wurde er auf eine Militärschule in Algerien geschickt, wo er später einen hohen Offiziersrang erlangte. Zeitgleich begann er zu schreiben und seine zeitkritischen Kriminalromane zu veröffentlichen. Zunächst wurden sie unter seinem Namen auf Französisch publiziert; um später jedoch den starken Zensurbestimmungen zu entgehen, begann er ab 1997 unter den Zu den Autor:innen

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beiden Vornamen seiner Frau zu schreiben. Morituri war der erste Roman, der unter diesem Decknamen veröffentlicht wurde. Erst als er 2000 ins Exil nach Frankreich ging, lüftete er das Pseudonym, behielt es jedoch für seine weiteren Publikationen bei. Internationale Beachtung fand Khadra mit seiner Algier-Trilogie, in der er sich mit dem von Machtkämpfen, Korruption und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit geprägten Alltag in Algerien auseinandersetzte. Zwei von Khadras Werken, La Part du mort (Nacht über Algier) und L’attentat (Die Attentäterin), wurden mehrfach preisgekrönt, u. a. mit dem Prix littéraire Beur FM Méditerranée und dem Prix des Libraires. Heute lebt der Autor mit seiner Familie in Aix-en-Provence. Sahar Khalifa (geb. 1942 in Nablus, Palästina) gilt als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen Palästinas. Sie heiratete unmittelbar nach ihrem Schulabschluss am Rosary College in Amman und entdeckte während ihrer Ehe die bildende Kunst und die Literatur für sich. Nach ihrer Scheidung studierte sie Englische Literatur an der Universität in Bir Zait und anschließend mit Hilfe eines Fulbright-Stipendiums an der University of North Carolina. An der Universität von Iowa schloss sie ihr Doktorat in Frauenforschung ab. 1974 erschien ihr Romandebüt Wir sind nicht länger eure Sklavinnen, das als Manuskript zuvor bei einem Grenzübertritt von den Israelis konfisziert worden war. Mit Der Feigenkaktus gelang Khalifa 1975 der internationale Durchbruch. 1988 entschloss sie sich zur Rückkehr nach Palästina, wo sie sich seitdem für Frauenrechte einsetzt. Sie gründete ein Frauenzentrum in Nablus und kämpft für das Recht auf Scheidung, das Erbrecht für Frauen und gegen Polygamie. 2006 wurde sie für ihren Roman Die Verheißung mit der Nagib-Machfus-Medaille ausgezeichnet. Heute lebt Khalifa in Amman und Nablus und ist Mutter zweier Töchter. Abbas Khider (geb. 1973 in Bagdad, Irak) ist Sohn schiitischer Eltern und studierte nach seinem Schulabschluss ein Jahr Finanzwissenschaft in Bagdad. Im Alter von 19 Jahren wurde er aufgrund seiner politischen Aktivitäten gegen das Regime Saddam Husseins verhaftet. Nach einer zweijährigen Haftstrafe floh er 1996 aus dem Irak und hielt sich als Flüchtling in diversen Ländern auf. Währenddessen schrieb er Artikel für eine irakische Oppositions- und Exilzeitschrift, die in London publiziert wurde. Seit 2000 lebt er in Deutschland, wo er in Potsdam und München Literatur und Philosophie studierte. Er schreibt auf Deutsch, da er der Stigmatisierung 284

Zu den Autor:innen

seiner Werke als ‚Betroffenheitsliteratur‘ entgegenwirken will, wozu ihm die Fremdsprache die nötige Distanz ermöglicht. Khider erhielt zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil, den Nelly-Sachs-Preis und den Adelbert-von-Chamisso-Preis für sein Gesamtwerk. 2014 leitete er eine Schreibwerkstatt mit jungen arabischen Autor:innen in Kairo. Heute lebt er in Berlin. Lawagon Alex Romeó Ki (geb. 1982 in Burkina Faso) studierte nach seinem Schulabschluss Germanistik an der Universität in Ouagadougou. Anschließend war er zwischen 2007 und 2010 als Deutschlehrer tätig und absolvierte später von 2011 bis 2013 ein zweijähriges Dolmetsch-Studium in Stuttgart. Er entschloss sich zur Rückkehr nach Burkina Faso, in der Hoffnung, dort als Dolmetscher tätig werden zu können. 2019 erschien sein autobiografisches Romandebüt, in dem er sowohl von seinem Leben erzählt als auch Einblicke in die Kultur seines Heimatlands gewährt. In seinem Werk will er zeigen, dass eine positive Lebenshaltung zum Erfolg führen kann. Sir Albert Maori Kiki (geb. 1931 in Orokolo, Papua-Neuguinea) absolvierte in der London Missionary Society 1946 die Grundschule und arbeitete anschließend u. a. als Sanitäter im Kerema-Krankenhaus. Mit Unterstützung seines Mentors, des Australiers Albert Speer (1922–2014) konnte er ein Medizinstudium am Sogeri Education Center und an der Central Medical School in Fidji beginnen, welches er jedoch nicht abschloss. Stattdessen erwarb er ein Diplom in Pathologie und begann, politisch aktiv zu werden. Er wurde 1967 Mitbegründer der Partei Pangu Pati und veröffentlichte 1968 seine Autobiografie Kiki: Ten Thousand Years in a Lifetime. Sein Debüt wurde ein Erfolg, besonders aufgrund seiner Beschreibungen der traditionellen Kultur und seiner scharfen Kritik am Kolonialismus. 1972 hatte Kiki das Ministeramt für Land und Umwelt inne und war von 1975 bis 1977 stellvertretender Premierminister. Er starb 1993 in Port Moresby. Jamaica Kincaid (geb. 1949 in St. John’s auf Antigua) emigrierte mit 17 Jahren in die USA, wo sie zunächst als Au-Pair tätig war und später an der New York School for Social Research ein Fotografie-Studium absolvierte. Zeitgleich begann sie zu schreiben. 1973 änderte sie ihren bürgerlichen Namen Elaine Potter Richardson zu Jamaica Kincaid, um sich von Zu den Autor:innen

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ihrer Familie zu distanzieren, die ihr Schreiben missbilligte. Als 1978 im New Yorker ihre erste Erzählung Girl erschien, die aus nur einem einzigen Satz bestand, wurde Kincaid schlagartig bekannt. Sie erhielt später eine Professur für Literatur am Claremont McKenna College und ist Gastprofessorin an der Harvard University, wo sie afrikanische und afro-amerikanische Literatur und Englisch lehrt. Für ihre Werke erhielt sie u. a. den Prix Femina Étranger, den Dan-David-Preis und den Paris Review Hadada Prize. In den 2000er Jahren wurde sie außerdem in die American Academy of Arts and Letters sowie in die American Academy of Arts and Sciences aufgenommen. Heute lebt Kincaid in Vermont. Aniceti Kitereza (geb. 1896 in Sukuma-Land, Zentral-Tansania) war Enkelsohn des Königs Machunda vom Clan der Basilanga-Bahinda. Mit neun Jahren besuchte er eine Missionsschule und wurde Christ. Anschließend studierte er Theologie in einem Priesterseminar und war als Diakon für die Katholische Mission tätig. Parallel arbeitete er auch als Übersetzer, zumal er acht Sprachen beherrschte, darunter Kikerewe, Swahili, Latein, Deutsch, Französisch und Englisch. Kitereza verfasste historische Texte und begann, Volkserzählungen zu sammeln. Sein literarischer Durchbruch gelang ihm schließlich mit dem Werk Bw. Myombekere na Bi. Bugonoka na Ntulanalwo na Bulihwali (Die Kinder der Regenmacher), welches er zunächst auf Kikerewe verfasste und später in Swahili übersetzte. In dieser Fassung erschien es erstmals kurz nach dem Tod des Schriftstellers. Sein späteres Leben verbrachte Kitereza als Ujamaa-Bauer in einem Dorf in Ukerewe, wo er 1981 starb. Niviaq Korneliussen (geb. 1990 in Nuuk, Grönland) träumte schon seit ihrer Kindheit davon, Autorin zu werden. Sie begann ein Sozialwissenschaftsstudium an der Greenland University und ein Psychologiestudium in Aarhus, schloss jedoch beide Studien nicht ab und wandte sich der Literatur zu. Mit ihrem Debüt Homo Sapienne (Nuuk #ohne Filter), das sie zunächst auf Grönländisch verfasste und anschließend selbst ins Dänische übersetzte, erlangte sie 2014 in der literarischen Gemeinschaft Grönlands große Bekanntheit. Das Werk wurde in mehr als zehn Sprachen übersetzt, als Theaterstück aufgeführt und für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert. 2021 erhielt sie diesen für ihren zweiten Roman Naasuliardarpi (Das Blumental). Es war das erste Mal, dass dieser Preis an ein 286

Zu den Autor:innen

grönländisches Werk verliehen wurde. Von 2015 bis 2016 war Korneliussen Mitglied des Kulturzentrums Nordatlantens Brygge und anschließend für zwei Jahre Mitglied des Aufsichtsrats in der Nordischen Kulturstiftung. Ahmadou Kourouma (geb. 1927 in Boundali, Elfenbeinküste) war Kind muslimischer Eltern und besuchte im malischen Bamako eine französische Schule, derer er nach der Teilnahme an einer Protestaktion verwiesen wurde. Nachdem er sich weigerte, seinen Militärdienst in Algerien zu leisten, wurde er nach Indochina strafversetzt. Im Anschluss daran begann er in Lyon Mathematik zu studieren und arbeitete danach als Versicherungsmathematiker in seinem Heimatland. Nach der Uraufführung seines 1963 erschienenen einzigen Theaterstücks Le diseur de vérité (Der Wahrheitssager) fiel Kourouma bei Präsident Houphouët-Boigny in Ungnade. Er wurde inhaftiert und lebte nach seiner Freilassung für 20 Jahre im Exil in Algerien, Kamerun und Togo. Mit seinem ersten Roman Le Soleil des Indépendances (Der schwarze Fürst; Der letzte Fürst; Der Fürst von Horodougou) wurde der Autor 1968 schlagartig bekannt. 1990 wurde sein zweiter Roman Monnè, outrage et défis (Monnè: Schmach und Ärger) mit dem Grand Prix littéraire de l’Afrique noire augezeichnet; 2000 erhielt er den Prix Goncourt des lycéens und den Prix Renaudot für Allah n’est pas obligé (Allah muss nicht gerecht sein). Der Autor verstarb 2003 in Lyon. Sein unvollendetes Werk Quand on refuse, on dit non wurde 2004 posthum veröffentlicht. Seitdem wird auch in Genf der Prix Ahmadou Kourouma an Literatur verliehen, die sich mit dem Afrika südlich der Sahara auseinandersetzt. László Krasznahorkai (geb. 1954 in Gyula, Ungarn) ist Sohn jüdischer Eltern und studierte zunächst Jura in Szeged und anschließend Literatur und Ungarisch an der Universität in Budapest. Nach dem Studium begann er als freier Schriftsteller zu arbeiten und lebte in verschiedenen Ländern, u. a. in den USA, Deutschland, China, Japan und in der Mongolei. Mit seinem Debütroman Sátántangó (Satanstango) erlangte Kraznahorkai 1985 große Bekanntheit und gilt seither als einer der wichtigsten und innovativsten Schriftseller Ungarns. Besonders sein zweiter Roman Az ellenállás melankóliája (Melancholie des Widerstands) brachte ihm internationale Beachtung ein. Er war 1996 Gast des Wissenschaftskollegs in Berlin und hatte 2008 eine Samuel-Fischer- Gastprofessur an der FU Berlin inne. Krasznahorkais Werke wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. 2015 Zu den Autor:innen

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mit dem Booker Prize, 2018 mit dem National Book Award und 2021 mit dem Österreichischen Staatspreis für Literatur. Der Autor ist Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und lebt heute wieder in Ungarn. Meral Kureyshi (geb. 1983 in Prizren, heute Kosovo) wuchs als Tochter türkischsprachiger Eltern im damaligen Jugoslawien auf. Mit elf Jahren emigrierte sie mit ihrer Familie in die Schweiz und lebt seither in Bern, wo sie Literatur und Germanistik studierte. Nach ihrem Abschluss gründete sie ein Atelier für Lyrik in Bern und arbeitet als freie Schriftstellerin. Ihr Erstlingsroman Elefanten im Garten wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert; 2016 erhielt sie für das Buch den Literaturpreis des Kantons Bern und für ihren zweiten Roman 2020 den Literaturpreis „Das zweite Buch“ der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung. Im selben Jahr war sie Gast bei den 44. Tagen der Deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Eka Kurniawan (geb. 1975 in Tasikmalaya, Indonesien) studierte Philosophie an der Gadjaj Mada Universität in Yogyakarta. Mit seinem Roman Cantik itu luka (Schönheit ist eine Wunde) gelang ihm 2002 der literarische Durchbruch. Kurniawan gilt heute als einer der bedeutendsten Schriftsteller Indonesiens; er verfasst Romane, Essays, Kurzgeschichten und Drehbücher, zeichnet Comics und führt außerdem einen Blog im Internet. Seine Werke wurden bisher in 35 Sprachen übersetzt. 2016 wurde er als erster indonesischer Schriftsteller für seinen Roman Tiger Man (Tigermann) für den Booker Prize nominiert. Der Autor lebt heute in Jakarta. Kevin Kwan (geb. 1973 in Singapur) wuchs in einer wohlhabenden Familie auf. Er besuchte eine englisch-chinesische Grundschule in Singapur und ging 1984 mit seiner Familie in die USA. Dort studierte er zunächst Medienwissenschaft an der University of Houston-Clear Lake und anschließend Design und Fotografie in Manhattan. Nach Abschluss seiner Studien war er als Journalist für das Interview Magazine von Andy Warhol und das Magazin Martha Stewart Living tätig. Er eröffnete 2000 ein eigenes Creative Studio und begann sich als Autor mit seinen satirischen Romanen einen Namen zu machen. 2013 veröffentlichte er seinen ersten Roman Crazy Rich Asians, auf den 2015 und 2017 zwei Fortsetzungen folgten. Seine Trilogie belegte 2018 wochenlang die ersten Plätze der New-York-Times-Bestsellerliste und wurde auch durch ihre Hollywood-Verfilmung berühmt. Kwan 288

Zu den Autor:innen

ist heute Teil der Asian Hall of Fame, einem Projekt der Robert Chinn Foundation. Koulsy Lamko (geb. 1959 in Dadouar, Tschad) ist Erzähler, Dramatiker, Lyriker und Universitätsprofessor. Aufgrund des Bürgerkrieges floh er mit Anfang zwanzig nach Burkina Faso. Dort wurde er am Institute for Black Peoples in Ougadougou tätig, unterstützte das dortige Gemeinschaftstheater und engagierte sich für die Gründung des Internationalen Theaters für Entwicklung. Er gründete außerdem das Kaleido Culture Project und leitete dort Theaterworkshops und Konferenzen. 1994 wurden einige seiner Gedichte in der Revue Noire veröffentlicht, 1997 gab er gemeinsam mit Stéphane Scott and Rémi Stengel ein Album mit Lyrik und Musik heraus. Von 1998 bis 2002 war er Direktor des University Centre for Arts and Drama in Butare, Ruanda, und lehrte an der dortigen Universität Darstellende Kunst und Kreatives Schreiben. In seinem Roman La phalène des collines (Der Schmetterlingshügel) befasste er sich mit dem Genozid in Ruanda. Für seine Werke wurde Lamko mehrfach ausgezeichnet, und seine Theaterstücke werden in ganz Afrika sowie Europa und Kanada aufgeführt. Heute lebt der Schriftsteller in Mexiko-Stadt. George Lamming (geb. 1927 in Carrington Village, Saint Michael, Barbados) studierte an der Combermere High School bei Frank Collymoore, in dessen Literaturzeitschrift Bim er bereits einige seiner Frühwerke veröffentlichte. Nach seinem Studium ging er nach Trinidad, wo er als Lehrer arbeitete, und zog wenige Jahre später nach England. 1951 war er beim BBC Colonial Service tätig und veröffentlichte 1953 sein viel beachtetes Romandebüt In the Castle of my Skin, einen autobiografischen Bildungsroman. 1955 erhielt er ein Guggenheim-Stipendium für seine literarischen Arbeiten und widmete sich ganz dem professionellen Schreiben. 1967 begann er außerdem als writer in residence und als Dozent am Creative Arts Centre und Department of Education an der University of the West Indies in Kingston zu arbeiten. Von da an war er Gastprofessor an zahlreichen Universitäten, u. a. an der University of Texas, an der Brown University, der University of Pennsylvania und an Universitäten in Dänemark, Australien und Tansania. 1987 wurde er für sein Engagement für die Literatur und Kultur seines Landes zum Companion of Honour im Order of Barbados ernannt und 1998 mit dem Orden der Karibischen Gemeinschaft ausgeZu den Autor:innen

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zeichnet. 2011 wurde ihm für sein Lebenswerkt der Caribbean Hibiscus Award verliehen. Lamming starb 2022 im Alter von 94 Jahren in Bridgetown in Barbados. Rattawut Lapcharoensap (geb. 1979 in Chicago) wuchs als Sohn thailändischer Akademiker abwechselnd in Bangkok und den USA auf. Nach Abschluss der Triam Udom Suksa Pattanakarn School in Bangkok erwarb er zusätzlich einen amerikanischen Highschool-Abschluss, schrieb sich an der Cornell University ein und absolvierte ein Bachelorstudium in Asiatisch-amerikanischer Literatur. Auf Gelegenheitsjobs folgte ein Masterstudium in Creative Writing an der University of Michigan. Ab 2003 publizierte er eine Auswahl seiner auf Englisch verfassten Kurzgeschichten in Zeitschriften wie Granta, Zoetrope oder Best New American Voices. 2005 erschien die Sammlung Sightseeing, für die er mit dem Asian American Literary Award ausgezeichnet sowie für den Guardian First Book Award nominiert wurde. 2006 zählte die National Book Foundation den Debütanten zu ihren „5 Under 35“. Lapcharoensap lebt im Bundesstaat New York und gibt Schreibseminare am Sarah Lawrence College. Der 2015 erschienene Film How to Win at Checkers (Every Time) basiert auf zwei seiner Kurzgeschichten. António Lobo Antunes (geb. 1942 in Benfica/Lissabon) gilt als einer der bedeutendsten Autoren der portugiesischen Gegenwartsliteratur und wird oft als Nobelpreis-Kandidat gehandelt. Bereits mit 13 Jahren wollte der Nachkomme einer großbürgerlich-aristokratischen Dynastie Schriftsteller werden, studierte jedoch zunächst wie sein Vater Medizin und spezialisierte sich auf Psychiatrie. Unter der Salazar-Diktatur war er Mitglied der Kommunistischen Partei und saß einige Zeit im Gefängnis. 1970 vom Militär eingezogen, diente er während des Kolonialkrieges gegen die Unabhängigkeitsbewegungen 27 Monate lang als Militärarzt in Angola. Die Erfahrungen dieser Zeit verarbeitete er in seinem zweiten Roman Os Cus de Judas (1979; Der Judaskuß, 1987). Sein Erstling Memória de Elefante (Elefantengedächtnis, 2004) erschien ebenfalls 1979. Bis 1985 arbeitete er weiter als Psychiater und Chefarzt einer Lissaboner Nervenklinik, dann konzentrierte er sich auf das Schreiben. Sein Werk umfasst mehr als zwanzig Titel und wurde in vierzig Sprachen übersetzt. 2007 erhielt er den CamõesPreis, die höchste Auszeichnung der portugiesischen Literatur. 2008 wurde 290

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er zudem „Commandeur des Arts et des Lettres“, nachdem die französische Regierung ihn 2000 bereits zum Ritter dieses Ordens ernannt hatte. Alain Mabanckou (geb. 1966 in Pointe-Noire, Republik Kongo) studierte in der kongolesischen Hauptstadt Brazzaville Jura und anschließend von 1989–1993 Wirtschaftsrecht in Paris. Nach seinem Abschluss arbeitete er zehn Jahre als juristischer Berater im französischen Konzern Suez-Lyonnaise des Eaux und veröffentlichte zunächst einige Gedichtbände, bevor 1998 mit Bleu-Blanc-Rouge sein Debütroman erschien, für den er den Grand Prix littéraire de l’Afrique noire erhielt. Es folgten weitere Romane und Auszeichnungen. 2012 würdigte die Académie française sein Gesamtwerk mit dem Grand Prix de Littérature. 2002 wurde Mabanckou Dozent für Frankophone Literatur an der University of Michigan, Ann Arbor. Heute lebt und arbeitet er in Kalifornien, wo er seit 2007 als Professor an der University of California, Los Angeles (UCLA) Frankophone Literatur lehrt. Pierre Makombo Bamboté (geb. 1932 in Ouadda, Zentralafrikanische Republik; gest. 2016 in Montréal, Kanada) wuchs in der französischen Kolonie Ubangi-Shari auf und gilt als der produktivste Schriftsteller der Zentralafrikanischen Republik (ZAR). Er studierte in seiner Heimat und in Frankreich und erwarb Abschlüsse in Internationale Angelegenheiten, Soziologie und Journalismus. Nach seinen Studien an der Pariser Journalistenschule und der École des Hautes Études des Sciences Sociales kehrte er in die ZAR zurück, wurde 1965 Direktor für Information und ein Jahr später Direktor des Nationalmuseums Boganda in Bangui. Anschließend trat er in den auswärtigen Dienst ein und wurde 1970 UNESCO-Geschäftsträger, bevor er 1973 in Kanada Asyl beantragte. Dort lehrte er an der Universität Laval in Quebec als Professor für Afrikanische Literatur. Seine erste Veröffentlichung, La poésie est dans l’histoire (1960), besteht aus einem einzigen Gedicht, das Sklaverei und Kolonialismus kritisiert. Sein zweites Buch, Chant funèbre pour un héros d’Afrique (1962), ebenfalls ein langes antikoloniales Gedicht, schrieb er zu Ehren des ermordeten Führers der Unabhängigkeitsbewegung in Belgisch-Kongo, Patrice Lumumba. In den Jahren 1963 und 1964 verfasste Bamboté eine Reihe von Kurzgeschichten, die 1980 unter dem Titel Nouvelles de Bangui erschienen und für die er mit dem Preis der Études françaises der Universität Montréal ausgezeichnet wurde. Sein bekanntester Roman ist Princesse Mandapu (1972). Zu den Autor:innen

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Viktor Martinowitsch (geb. 1977 in Aschmjany, Belarus) studierte in Minsk Journalistik und promovierte in Kunstgeschichte mit einer Dissertation über die Witebsker Avantgarde. 2009 erschien sein erster Roman Paranoia (dt. 2014). Heute schreibt er regelmäßig für Die Zeit auf der Schriftstellerplattform „Freitext“ und lehrt Politikwissenschaften an der Europäischen Humanistischen Universität, die aus Belarus ins politische Exil nach Vilnius (Litauen) umzog. Martinowitsch selbst entschied sich bislang gegen diesen Schritt und lebt weiterhin in Minsk, obwohl sein Gesamtwerk dort faktisch verboten ist. Er schreibt auf Russisch und Belarussisch, einzelne Titel wurden ins Englische und Deutsche übersetzt. Sein Roman Revolution (2021), an dem er zwölf Jahre schrieb und dessen Manuskript er während eines Aufenthaltes als writer in residence in Zürich abschloss, wurde im Mai 2022 in einer gleichnamigen Theateradaption am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg uraufgeführt. Zuletzt erschien im März 2023 Nacht, ein dystopischer Roman über einen Blackout in Mitteleuropa. Hisham Matar (geb. 1970 in New York City) zog als Sohn eines libyschen UN-Delegierten im Alter von drei Jahren mit seiner Familie nach Tripolis, von wo aus diese 1979 nach Kairo floh. 1986 verließ er Ägypten, beendete in London die Schule und begann dort ein Architekturstudium. Vier Jahre später wurde sein Vater wegen Unterstützung des Widerstands gegen Muammar al-Gaddafi von Ägypten an Libyen ausgeliefert und verschwand. 1996 erhielt die Familie ein einziges Lebenszeichen. Matars Erinnerungsbuch The Return: Fathers, Sons and the Land in Between (2016; Die Rückkehr. Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater, 2017) wurde mit dem PEN America Jean Stein Book Award, dem Pulitzer-Preis für Biografie oder Autobiografie sowie dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Bereits in seinem Erstling In the Country of Men (2006; Im Land der Männer, 2007) kritisierte Matar offen die libysche Diktatur, woraufhin für ihn in London ein zweites Exil begann. Sein preisgekröntes Debüt stand 2006 auf der Shortlist für den Booker Prize und wurde in 22 Sprachen übersetzt. Matar schreibt auf Englisch. Matéo Maximoff (geb. 1917 in Barcelona; gest. 1999 in Romainville, Frankreich) gilt als erster Schriftsteller der Roma und Leitfigur der Internationalen Romani Union. Als er drei Jahre alt war, zog seine Familie nach Frankreich. Mit 14  Jahren wurde er Waise, verdingte sich als Kesselma292

Zu den Autor:innen

cher und musste seine vier jüngeren Geschwister versorgen. Nach einem blutigen Familienstreit kam er in Untersuchungshaft und verfasste dort 1938 seinen als Verteidigungsrede gedachten ersten Roman Les Ursitory (1946). 1939 wurde er in ein französisches Internierungslager gesperrt und schrieb später in Routes sans roulottes (1993) über diese Zeit. Nach dem Krieg klagte er bei einem deutschen Gericht die Anerkennung als Opfer der NS-Verfolgung ein und gewann nach über 14 Jahren den Prozess. Er sprach Romani, Spanisch und Französisch, verfasste als Autodidakt insgesamt elf Bücher und hielt das Leben der Roma fotografisch fest. Dazu übersetzte er das gesamte Neue Testament ins Kalderasch-Romani. Die französische Regierung unter Chirac ehrte ihn und sein Lebenswerk 1985 mit der Ernennung zum Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres. Joaquín Mbomío Bacheng (geb. 1956 in Bisobinam-Somo/Niéfang, Äquatorialguinea) gehört zur Volksgruppe der Fang und ist der erste ins Deutsche übersetzte Schriftsteller Äquatorialguineas. Er studierte in Bata Spanische Philologie und wurde, weil er bei einer Regierungsparade nicht applaudierte, als 22-Jähriger wegen Hochverrats verhaftet, gefoltert und zu lebenslanger Zwangsarbeit auf einer Kakaoplantage verurteilt. Durch den Putsch gegen Diktator Francisco Macías Nguemas 1979 kam er frei und konnte 1980 als Stipendiat der französischen Regierung in Lyon sein Studium fortsetzen, das er 1987 mit Staatsexamen in Journalismus und Publizistik abschloss. 1988 kehrte er als Nachrichten-Korrespondent zurück nach Äquatorialguinea, musste jedoch 1990 erneut ins Exil gehen, um einer Verhaftung durch das Nachfolgeregime von Teodoro Obiang zu entgehen. Seither lebt er im französischen Thonon-les-Bains. Er arbeitet als Journalist für diverse Medien und engagiert sich bei der alljährlichen „Literaturwoche Äquatorialguinea“ an der Universität Wien, wo er 2017 die Übersetzung seines Debütromans El párroco de Niefang (1996) präsentierte. Neben zwei Gedichtbänden publizierte er die Folgeromane Huellas bajo tierra (1998) und Matinga, sangre en la selva (2013). Zuletzt erschien Se fue la independencia (2018) über das Scheitern der Unabhängigkeit auf dem afrikanischen Kontinent. Imbolo Mbue (geb. 1982 in Limbe, Kamerun) war 17 Jahre alt, als ihr Verwandte eine Ausbildung in den USA ermöglichten. Sie besuchte das Rutgers College in New Jersey und zog Mitte der 2000er Jahre nach New York, wo Zu den Autor:innen

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sie einen Master in Pädagogik und Psychologie am Teachers College der Columbia University absolvierte. Mit Ausbruch der Finanzkrise 2008 verlor sie ihre Arbeit bei einem Medienunternehmen und stellte zunehmend den amerikanischen Traum in Frage. Ihre Desillusionierung verarbeitete sie in Behold the Dreamers (2016; Das geträumte Land). Der Roman, an dem sie fünf Jahre schrieb, avancierte im gesellschaftlichen Klima der US-Präsidentschaftswahlen zum New-York-Times-Bestseller und wurde mit dem PEN/ Faulkner Award ausgezeichnet. Ihr Erstling wurde in elf Sprachen übersetzt sowie zu einer Oper und einem Bühnenstück adaptiert. Zuletzt erschien ihr jüngster Roman How Beautiful We Were (Wie schön wir waren, 2021) über ein fiktives afrikanisches Dorf, das sich gegen einen US-Ölkonzern wehrt. Mbue ist seit 2014 US-Bürgerin und lebt in New York City. Tom McCarthy (geb. 1969 in London) studierte Englische Literatur am New College in Oxford und lebte einige Zeit in Prag, Berlin und Amsterdam. Er arbeitete unter anderem als Drehbuchautor für das Fernsehen, war Mitherausgeber des Mute Magazine und hatte als Kunst-Kommentator Gastauftritte im britischen Radio. Er schreibt für eine Vielzahl von Printmedien wie The Independent, London Review of Books und Another Magazine. Anfänglich hatte McCarthy Schwierigkeiten, einen Verleger zu finden. Seinen 2001 verfassten Roman Remainder (8 ½ Millionen) publizierte schließlich 2005 ein kleiner Pariser Verlag. Nach viel Lob und Beachtung erschien 2006 eine Neuauflage, und das Debüt avancierte im englischsprachigen Raum zum preisgekrönten Bestseller. Es folgten die Romane Men in Space (2007), C (2010), Satin Island (2015; dt. 2016) und zuletzt The Making of Incarnation (2021) sowie zwei Nominierungen für den Booker Prize. McCarthy ist „Generalsekretär“ der „halbfiktiven Organisation“ International Necronautical Society (INS), unter deren Namen er weltweit Kunst ausstellt. Cynthia McLeod (geb. 1936 in Paramaribo, Suriname), Tochter des ersten Staatspräsidenten von Suriname, Johan Henri Eliza Ferrier, absolvierte in den Niederlanden eine Ausbildung zur Kinderpädagogin und unterrichtete nach ihrer Rückkehr von 1969–1978 an einer Realschule in Paramaribo Niederländisch, das bis heute Amtssprache des seit 1975 unabhängigen lateinamerikanischen Staates Suriname ist. Während ihr Ehemann als Botschafter in Venezuela, Belgien und den USA tätig war, suchte sie Archive 294

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auf und studierte die Kolonialzeit. Dieses Wissen bildet die Basis ihrer historischen Romane. Ihr Debüt gab McLeod 1987 mit dem innerhalb weniger Wochen vergriffenen Roman über die Zuckerrohrplantagen im 18. Jahrhundert Hoe duur was de suiker? (Surinam, 1996). 2013 erschien in den Niederlanden eine gleichnamige Literaturverfilmung. Nachdem sie über fünf Jahre lang das ungewöhnliche Leben der Schwarzen Elisabeth Samson erforscht, eine Studie dazu publiziert und weitere acht Jahre deren historische Lebensrealität recherchiert hatte, folgte 2000 der auf Englisch übersetzte Roman De vrije negerin Elisabeth (The Free Negress Elisabeth, 2004). Fernanda Melchor (geb. 1982 in Boca del Río, Mexiko) studierte Journalismus an der Universidad Veracruzana und war dort in der Öffentlichkeitsarbeit tätig. Heute ist sie Übersetzerin, lehrt Ästhetik und Kunst an der Benemérita Universidad Autónoma de Puebla, schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften und zählt zu den wichtigsten Autorinnen Lateinamerikas. Ihre Karriere als Schriftstellerin begann 2013 mit der Publikation einer Sammlung literarischer Reportagen unter dem Titel Aquí no es Miami sowie dem zeitgleichen Romandebüt Falsa Liebre. Für ihren zweiten, in 15 Sprachen übersetzten Roman Temporada de Huracanes (2017) erhielt sie den Anna-Seghers-Preis, den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt und stand zudem auf der Shortlist des Booker Prize. Zuletzt erschien ihr Roman Páradais (2021), dessen englische Übersetzung 2022 die Longlist für den Booker Prize erreichte. Pauline Melville (geb. 1948 in Guyana) ist gemischt europäisch-indigener Abstammung und wuchs in der ehemaligen Kolonie Britisch-Guyana an der Atlantikküste Südamerikas auf, bevor sie mit ihrer Familie Anfang der 1950er Jahre in den Süden Londons zog. Als professionelle Schauspielerin wirkte sie in Fernsehproduktionen und Spielfilmen mit und begann schließlich zu schreiben. Für ihr erstes Buch Shape-Shifter (1990), eine Kurzgeschichtensammlung über das postkoloniale Leben in der Karibik und speziell in Guyana, erhielt Melville 1991 den Commonwealth Writers’ Prize (Overall Winner, Best First Book), den Guardian Fiction Prize sowie den PEN/Macmillan Silver Pen Award. Ihr erster Roman The Ventriloquist’s Tale (1997; Der Bauchredner) wurde mit dem Whitbread First Novel Award und dem Guyana Prize for Literature ausgezeichnet und stand auf der Shortlist für den Orange Prize for Fiction. Melville lebt in London, Zu den Autor:innen

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wurde 2018 zum Fellow der britischen Royal Society of Literature gewählt und publizierte zuletzt 2021 The Master of Chaos and Other Fables. Dinaw Mengestu (geb. 1978 in Addis Abeba, Äthiopien) wuchs in Peoria, Illinois und später bei Chicago auf, nachdem seine Eltern aus politischen Gründen 1980 mit ihm in die USA flüchteten. Er studierte an der Georgetown University Literatur (B.A.) sowie Creative Writing (MFA) an der Columbia University und lehrt an der Georgetown University. 2006 erhielt er ein Stipendium der New York Foundation for the Arts und veröffentlichte 2007 seinen in zwölf Sprachen übersetzten Debütroman The Beautiful Things that Heaven Bears (Zum Wiedersehen der Sterne), für den er unter anderem den Guardian First Book Award sowie den Prix du Premier Meilleur Roman Etranger erhielt. Sein zweiter Roman How to Read the Air (Die Melodie der Luft, 2010) wurde in Auszügen im New Yorker abgedruckt, der Mengestu zu einem der „20 under 40“-Autoren des Jahres zählte. Die National Book Foundation ernannte ihn zu einem ihrer „5 Under 35“ und 2014 wurde er im Projekt „Africa39“ des Hay Festivals ausgezeichnet. Mengestu lebt in New York City. Zuletzt erschien sein Roman All Our Names (Unsere Namen, 2014). Thomas Mofolo (geb. 1876 in Khojane/Mafeteng, Basutoland; gest. 1948 in Teyateyaneng, Basutoland) ist der erste bedeutende Schriftsteller aus dem heutigen Lesotho, der Romane im westlichen Stil in der südlichen Sotho-Sprache verfasste. Mofolo gehörte dem Bergvolk der Basotho an, besuchte Missionsschulen und wurde 1894 konfirmiert. Er arbeitete in der Druckerei und im Verlag der Missionsgesellschaft in Morija, ab 1896 als Lehrer und später als Korrektor. 1901 begann er zu schreiben und wurde dabei von zwei Werken beeinflusst: der Bibel und John Bunyans The Pilgrim’s Progress (1678), die von europäischen Missionaren übersetzt und verbreitet wurden. 1907 gab er mit Moeti oa Bochabela sein Debüt. Die Veröffentlichung seines Romans über den Zuluhäuptling Chaka (Chaka, 1925; Chaka der Zulu, 1953) wurde von Missionaren im Buchdepot wegen Bedenken hinsichtlich heidnischer Stammesbräuche um 15 Jahre verzögert. Mofolo gab das Schreiben auf, wurde Geschäftsmann und geriet durch Verluste in eine finanzielle Notlage. Heute gilt Chaka als bedeutendstes Stück Prosa, das je in Sesotho verfasst wurde. 1941 erlitt Mofolo einen Schlaganfall, an dessen Folgen er 1948 starb. Die Bibliothek der National University 296

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of Lesotho trägt seinen Namen; auch die südafrikanische Township Mofolo in Soweto wurde nach dem Autor benannt. Nadifa Mohamed (geb. 1981 in Hargeisa, Somalia) kam im Alter von drei Jahren mit ihrer Familie nach London und studierte in Oxford Geschichte und Politik. Ihr erster Roman Black Mamba Boy (2010; dt. 2015) schaffte es unter anderem auf die Shortlist des Guardian First Book Award sowie des PEN/Open Book Award und gewann den Betty Trask Award. Die renommierte Literaturzeitschrift Granta zählte sie 2013 zu den zwanzig „Best of Young British Novelists“. 2014 wurde sie in die „Africa39“-Liste der meistversprechenden Schriftsteller:innen unter 40 Jahren aufgenommen. Mit ihrem dritten Roman The Fortune Man (2021; Der Geist von Tiger Bay) gelangte sie als erste britisch-somalische Autorin auf die Shortlist des Booker Prize. Nadifa Mohamed lebt in London und wurde 2019 in Margaret Busbys Anthologie New Daughters of Africa aufgenommen. Tierno Monénembo (geb. 1947 als Thierno Saïdou Diallo in Porédaka, Guinea) gilt als einer der führenden Vertreter der jungen afrikanischen Literatur. 1969 flüchtete er zu Fuß vor der Diktatur von Ahmed Sékou Touré in den benachbarten Senegal, begann später an der Elfenbeinküste zu studieren, ging 1973 nach Frankreich und promovierte an der Universität Lyon in Biochemie. Er lehrte in Marokko und Algerien und ist seit 2007 Gastprofessor am Middlebury College in Vermont, USA. Sein erster Roman Les Crapauds-brousse erschien 1979. Monénembo gehörte zu den afrikanischen Autoren, die nach dem Tutsi-Hutu-Massaker von 1994 nach Ruanda eingeladen wurden, um den Völkermord ins kollektive Gedächtnis einzuschreiben. Dabei entstand sein Roman L’Aîné des orphelins (2000), mit dessen Übersetzung The Oldest Orphan (2004) er auch in der englischsprachigen Welt Bedeutung erlangte. Sein erster Roman in deutscher Übersetzung erschien 1996 mit Zahltag in Abidjan (Un attiéké pour Elgass, 1993). Monénembo hat insgesamt acht Bücher geschrieben, wurde mit dem Prix Renaudot für Le Roi de Kahel (2008) ausgezeichnet und stand mit Le Terroriste noir (2012) auf der Shortlist für den Prix Goncourt. 2017 erhielt er den Grand prix de la francophonie der Académie française. Er lebt in der Normandie. Sally Morgan (geb. 1951 in Perth, Australien) war überzeugt, ihre Familie stamme aus Indien, bis sie im Alter von 15 Jahren herausfand, dass sie Zu den Autor:innen

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Nachfahrin der indigenen Völker der Palku und Nyamal aus der Pilbara-Region in Western Australia ist. Sie absolvierte 1974 ihr Bachelorstudium in Psychologie an der University of Western Australia und setzte am Western Australian Institute of Technology ihr Postgraduiertendiplom in Beratungspsychologie, Informatik und Bibliothekswissenschaften fort. Ihre Autobiografie My Place (1987; Ich hörte den Vogel rufen, 2018) war mit mehr als einer halben Million verkaufter Exemplare ein großer Erfolg in Australien. Für ihr zweites Buch Wanamurraganya (1989), die Biografie ihres Großvaters Jack McPhee, erhielt sie den Human Rights Award. Sie schrieb fünf Kinderbücher und erwarb als Künstlerin internationale Anerkennung. 1986 stellte sie erstmals aus, heute finden sich ihre Kunstwerke u. a. in der Australian National Gallery. 1997 wurde sie Direktorin des Zentrums für indigene Kunst und Geschichte der University of Western Australia. Jack McPhee (geb. um 1905 in Moolyella/Pilbara, Australien – ein Todesdatum ist nicht gesichert) war Angehöriger des indigenen Volks der Nyamal in Western Australia. Im Laufe seines Lebens erlebte er unter anderem das Ende des Ersten und Zweiten Weltkriegs, die Einführung der Staatsbürgerschaft und der Ausnahmegenehmigung (Exemption Certificate) als Teil des „Aborigines Protection Act“ sowie die allmähliche Verbesserung der Beziehung zwischen indigenen und nichtindigenen Australiern. Als Zwangsarbeiter war er unter anderem Viehhirte sowie Gold- und Zinnschürfer im Bergbau. Später arbeitete er als Mechaniker, Schmied und Lastwagenfahrer. 1994 veröffentlichte Patricia Konigsberg seine Erinnerungen in der Biografie Bee Hill River Man. Kandulangu-Bidi. Alice Munro (geb. 1931 als Alice Ann Laidlaw in Wingham, Ontario) ist eine über ihre kanadische Heimat und den englischen Sprachraum hinaus bekannte Bestsellerautorin. 2013 erhielt die „Meisterin der zeitgenössischen Kurzgeschichte“ den Literatur-Nobelpreis für ihr Gesamtwerk. Munro wuchs als Tochter eines Fuchs- und Nerzfarmers und einer Lehrerin in der Kleinstadt Wingham auf. 1949 bis 1951 studierte sie Journalismus an der University of Western Ontario, brach jedoch aus Geldmangel ab, heiratete James Munro und gründete mit ihm eine Familie sowie eine Buchhandlung auf Vancouver Island. 1972 trennte sie sich von ihrem Mann und heiratete später den 2013 verstorbenen Geografen Gerold Fremlin. Munro begann bereits im Teenageralter zu schreiben und publizierte 298

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1950 ihre erste Kurzgeschichte The Dimensions of a Shadow. Für ihre erste Kurzgeschichtensammlung Dance of the Happy Shades (1968; Tanz der seligen Geister, 2010) erhielt sie den höchsten kanadischen Literaturpreis (Governor General’s Award for Fiction). Bisher publizierte sie in englischer Sprache 14 Erzählbände mit mehr als 150 Short Stories. 2012 erschien mit Dear Life (Liebes Leben) ihre jüngste und zugleich letzte Sammlung. Munro erklärte 2013, es werde wegen mangelnder Energie keine weiteren Bücher von ihr mehr geben. Perumal Murugan (geb. 1966 in Kootapalli/Tiruchengode, Indien) studierte als Erster seiner Familie, absolvierte einen Bachelor in Tamilischer Literatur in Erode im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu sowie einen Master in Coimbatore und promovierte ab 1988 an der University of Madras. Anschließend lehrte er als Professor für Tamilische Literatur am Government Arts College in Namakkal. Zwischen 1988 und 1991 veröffentlichte der Sohn eines Kleinbauern zahlreiche Kurzgeschichten in der Zeitschrift Manvosai, die später in einem Sammelband erschienen. Der erste Roman Eru Veyyil (zu Deutsch: Steigende Hitze) folgte 1991. Sein auf Tamil verfasstes Gesamtwerk umfasst zehn Romane, je fünf Sammlungen von Gedichten und Kurzgeschichten sowie zehn Sachbücher. Maadhorubaagan (2010; Zur Hälfte eine Frau, 2018) erregte in Indien großes Aufsehen. Nach Drohungen von seiten radikal-hinduistischer und kastenbasierter Gruppierungen musste er Namakkal verlassen. Seit 2016 ist er Leiter der Abteilung für Tamil am Government Arts College im südindischen Attur bei Salem. Forderungen nach einem Verbot seines umstrittenen Buchs scheiterten; 2018 erschienen zwei Folgeromane (auf Englisch unter den Titeln A Lonely Harvest und Trial by Silence). Im selben Jahr wurde Murugan zu einem der Vize-Präsidenten des PEN International gewählt. Fiston Mwanza Mujila (geb. 1981 in Lubimbashi, Kongo) studierte in seiner Geburtsstadt Literatur- und Humanwissenschaften und verließ 2007 den Kongo, um zunächst in Belgien, Frankreich und Deutschland zu leben. Seit 2009 ist er in Graz wohnhaft und arbeitet als freier Schriftsteller. Er verfasst Lyrik, Theaterstücke und Prosa und veröffentlichte 2014 seinen ersten Roman Tram 83, für den er 2015 den Grand Prix du Premier Roman der Société des Gens des Lettres, 2018 den internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt, sowie eine Nominierung für den Booker Zu den Autor:innen

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Prize erhielt. Das Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt und auch für das Theater adaptiert. Zwischen 2015 und 2018 lehrte Mujila an der Universität Graz Afrikanische Literatur. 2018 wurde ihm der Black Austrian Award in der Kategorie Literatur verliehen. Mujila schreibt vor allem auf Französisch und publiziert viele seiner Werke in Frankreich. Vidiadhar Suraiprasad Naipaul wurde 1932 in Changuanas nahe Port of Spain auf Trinidad als Nachfahre indischer Einwanderer geboren. 1950 ging er mit Hilfe eines Stipendiums nach England, um dort am University College of Oxford Englisch zu studieren. Unterbrochen von einigen Jahren freier Mitarbeit bei der BBC in den 1950er Jahren, widmete sich Naipaul zeit seines Lebens ausschließlich seiner schriftstellerischen Arbeit. Bereits sein Debütroman Der mystische Masseur (1957) wurde preisgekrönt, 1961 folgte mit Ein Haus für Mr. Biswas eines seiner wohl bedeutendsten Werke. Naipauls schriftstellerische Arbeit erhielt zahlreiche Preise, darunter 1971 den Booker Prize, 1983 den Jerusalempreis, 1989 das Trinity Cross und 2001 den Nobelpreis für Literatur. Im Jahr 1990 wurde er von Königin Elisabeth II. geadelt. Darüber hinaus war er Ehrendoktor des St. Andrew’s College, der Columbia University und der Universitäten in Cambridge, London und Oxford. Er starb 2018 in London. Fuminori Nakamura (geb. 1977 in Tokai, Japan) begann nach seinem Schulabschluss ein Studium der Öffentlichen Verwaltung und Staatsverwaltung an der Universität in Fukushima, welches er 2000 abschloss. Zwei Jahre später veröffentliche er sein Debüt Jū (Der Revolver), für das er noch im selben Jahr den Shinchō-Nachwuchspreis erhielt. Auch für weitere seiner Werke wurde der Autor ausgezeichnet, etwa mit dem Noma-Literaturpreis für Shakō, mit dem Akutagawa-Preis für Tsuchi no naka no kodomo (The Boy in the Earth) und dem Kenzaburo-Oe-Preis für Suri (Der Dieb). Seine Werke wurden bereits in zahlreiche Sprachen übersetzt, darunter ins Französische, Englische, Deutsche und Spanische. Nakamura, der heute in Tokio lebt, sieht sich in seinem Schaffen stark von Autoren wie Kafka und Dostojewski beeinflusst. Uchqun Nazarov (geb. 1934 in Taschkent, Usbekistan) absolvierte an der Tashkent University of Theatre and Art ein Regiestudium. 1959 arbeitete er als Regieassistent bei Usbekfilm und war später Direktor und Regis300

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seur am Theater Kokand. Er drehte zahlreiche Filme, für die er meist die Drehbücher selbst verfasste. Ab den 1960er Jahren veröffentlichte er auch Romane und Kurzgeschichten auf Russisch und Usbekisch und wurde Mitglied des sowjetischen Schriftstellerverbands. Seine Erzählung Menschen galt 1961 als eines der besten Jugendwerke und wurde verfilmt. Nazarov galt schon früh als Enfant terrible der usbekischen Literatur und sah sich aufgrund seines Engagements für Frauenrechte heftiger Anfeindung ausgesetzt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde ihm in seinem Heimatland zeitweise ein Publikationsverbot auferlegt, motiviert durch seinen Roman Das Jahr des Skorpions, in dem er viele der zeitgenössischen Fragen und Probleme offen behandelte. Heute gilt Nazarov, der 2016 in Taschkent starb, als eine der bedeutendsten Figuren Usbekistans in Film und Literatur. Pyotr Magnus Nedov (geb. 1982 in Chisinau, heute Moldawien) zog im Alter von zwölf Jahren zunächst nach Bukarest und anschließend nach Wien. Er studierte Romanistik, Keltologie, Translationswissenschaften sowie Filmwissenschaft und -regie in Wien, Paris, Moskau, Montreal und Köln. In Wien promovierte er in Filmwissenschaft mit einer Arbeit über Pierre Falardeau. Anschließend war er zu Forschungszwecken am National Film Board of Canada, an der Cinématèque québécoise in Montréal sowie als Archäologe in Österreich und Deutschland tätig. Zusätzlich arbeitete er als Dolmetscher und Übersetzer. Nedov erhielt zahlreiche Stipendien und Preise für seine Filmprojekte und sein literarisches Schaffen, etwa das Höchstbegabten-Stipendium der Universität Wien, das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium für Literatur oder den LitArena-Literaturpreis. Andrej Nikolaidis (geb. 1974 in Sarajevo) wuchs als Sohn montenegrinisch-griechischer Eltern zunächst in Sarajevo auf, zog mit seiner Familie jedoch 1992 nach Ulcinj, in die montenegrinische Heimatstadt seines Vaters, um den ethnischen Kämpfen im Zuge des Bosnienkrieges zu entgehen. Nikolaidis begann sich sehr für die montenegrinische Unabhängigkeit zu engagieren und wurde überzeugter öffentlicher Kriegsgegner und Verfechter der Menschenrechte. Auch in seinem Schreiben wurde dies deutlich, was ihm oft Kritik oder gar Drohungen einbrachte. Er publiziert Beiträge in den Nachrichtenmagazinen Slobodna Bosna, Delo, E-novine und in The Guardian. Ab 2009 hatte er ein Amt als politischer Berater für Ranko Krivokapić inne, von dem er jedoch 2014 zurücktrat. Bisher veröffentZu den Autor:innen

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lichte Nikolaidis vierzehn Bücher, sowohl Fiction als auch Non-Fiction, und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. 2011 wurde sein Roman Sin (Der Sohn) mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet und 2017 erhielt sein Werk Mađarska rečenica (Der ungarische Satz) den Meša-Selimovic-Preis. Malla Nunn (geb. in Eswatini) besuchte in ihrem Heimatland eine christliche Schule für „mixed race“-Kinder und emigrierte in den 1970er Jahren mit ihrer Familie nach Perth in Westaustralien, um der Apartheid zu entkommen. Dort absolvierte sie an der University of Western Australia ein Bachelorstudium in Geschichte und Englisch. Danach unternahm Nunn ausführliche Reisen durch die USA, wo sie ihren späteren Ehemann kennenlernte. Über diese Erfahrungen drehte sie mehrere kurze Dokumentarfilme, die mehrfach ausgezeichnet wurden. Zeitgleich begann sie zu schreiben und Kurzgeschichten zu veröffentlichen. 2009 hatte sie ihren literarischen Durchbruch mit dem Roman A Beautiful Place to Die (Ein schöner Ort zu sterben), einem Detektivroman, der im Südafrika der 1950er Jahre spielt. Das Buch wurde u. a. für den US Edgar Award for Best Novel nominiert. In dieser Krimi-Reihe hat sie bisher drei weitere Romane veröffentlicht. Für ihren Roman When the Ground is Hard (Ist die Erde hart) wurde Nunn u. a. 2019 mit dem Josette Frank Award und 2020 mit dem Los Angeles Times Book Prize for Young Adult Literature ausgezeichnet. Heute lebt die Autorin mit ihrer Familie in Sydney. Armin Öhri (geb. 1978 in Liechtenstein) verbrachte seine Kindheit in Ruggell und studierte später Geschichte, Germanistik und Philosophie an der Universität Bern. 2009 publizierte er sein Debüt Das Nachtvolk. 2010 folgte der Erzählband Die Entführung, mit dem der Autor die Entführung eines jüdischen Bruderpaares in den 1930ern literarisch aufarbeitete und einige Kontroversen auslöste. Seitdem hat der Autor zahlreiche historische Kriminal- und Abenteuerromane veröffentlicht. Für Die Dunkle Muse, den ersten Teil seiner Krimi-Reihe um den Tatortzeichner Julius Bentheim, erhielt er 2014 den Literaturpreis der Europäischen Union. Seine Werke wurden mehrfach übersetzt. Neben seinen historischen Kriminalromanen veröffentlicht Öhri auch Bücher über Liechtenstein und ist außerdem als Lehrer an einer Schweizer Berufs- und Handelsschule tätig. Darüber hinaus ist er Mitgründer des Liechtensteinischen Literatursalons, einer der Initi302

Zu den Autor:innen

atoren des Autorenverbandes IG Wort und als Literaturveranstalter tätig. Heute lebt der Autor in Grabs. Sofi Oksanen (geb. 1977 in Jyväskylä, Finnland) ist Tochter finnisch-estnischer Eltern und studierte Literaturwissenschaft an den Universitäten in Jyväskylä und Helsinki sowie Dramaturgie. Sie begann zunächst dramatische Texte zu schreiben; nach ihren ersten Erfolgen wandte sie sich auch der Prosa zu. 2003 veröffentlichte sie ihren Debütroman Stalinin lehmät (Stalins Kühe) und erlangte fünf Jahre später mit ihrem Roman Puhdistus (Fegefeuer) internationale Bekanntheit. Das Buch wurde in mehr als 38 Sprachen übersetzt und u. a. mit dem Prix du Roman Fnac, dem Europäischen Buchpreis und dem Nordischen Literaturpreis ausgezeichnet. Oksanen veröffentlicht neben Romanen und Theaterstücken auch Essays, Zeitungsartikel und Kolumnen, u. a. in der von ihr mitherausgegebenen Artikelsammlung Kaiken taka oli pelko (wörtl. „Hinter alledem stand Angst“), in der sie sich mit der estnischen Geschichte auseinandersetzt. In ihrem Schreiben bezieht die Autorin politisch Position und sieht, nach eigenen Angaben, das Schreiben historischer Romane als Aufklärungsarbeit über gegenwärtige Situationen. 2014 hielt sie die Eröffnungsrede der Frankfurter Buchmesse, in der sie gegen Totalitarismus und für die Freiheit der Kunst appellierte. Für ihren jüngsten Roman Koirapuisto (Hundepark) erhielt sie 2023 den Usedomer Literaturpreis. Heute lebt die Autorin in Helsinki. Yewande Omotoso (geb. 1980 in Bridgetown, Barbados) verbrachte ihre Kindheit in Ifẹ in Nigeria, bis ihre Familie 1992 nach Südafrika zog. Dort studierte sie an der University of Cape Town im Bachelor Architektur und im Master Creative Writing. Während sie als Architektin arbeitete, begann sie auch zu schreiben und veröffentlichte 2011 ihr Romandebüt Bomboy, für das sie 2012 den South African Literary Award First Time Author Prize erhielt und für den South African Sunday Times Fiction Prize nominiert wurde. 2014 erhielt sie für ihr literarisches Schaffen das Etisalat-Stipendium der University of East Anglia sowie das Miles Morland-Stipendium. 2017 publizierte sie ihren zweiten Roman The Woman Next Door, der 2017 für den Bailey’s Women’s Prize for Fiction und 2018 für den International Dublin Literary Award nominiert und mehrfach übersetzt wurde. Derzeit lebt Omotoso in Johannesburg, wo sie als Autorin, Designerin und Architektin tätig ist. Zu den Autor:innen

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Margie Orford (geb. 1964 in London) ist Tochter südafrikanischer Eltern und verbrachte ihre Kindheit sowohl in Südafrika als auch in Namibia. An der Universität von Cape Town studierte sie Philosophie und englische Literaturgeschichte. Als Herausgeberin der kritischen Studentenzeitung Varsity wurde sie 1985, auf dem Höhepunkt der Apartheid, inhaftiert und schrieb ihre Abschlussarbeiten, noch während sie in Haft war. Nach ihrer Freilassung begann sie zu reisen, studierte bei J. M. Coetzee und betätigte sich im Verlagswesen in Namibia. Sie arbeitet heute als Autorin, Filmschaffende und Journalistin und publiziert Artikel in britischen und südafrikanischen Zeitungen. Für ihrer journalistische Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, 1999 erhielt sie für ihre literarische Arbeit ein Fulbright Stipendium und war 2015 writer in residence an der University of York. Mit Like Clockwork (Blutsbräute), dem ersten Teil ihrer Clare-Hart-Reihe, veröffentlichte sie 2006 ihr Debüt, das sie als Krimi-Autorin schlagartig berühmt machte. Es folgten vier weitere Teile in der Reihe, die bisher in zehn Sprachen übersetzt sowie für das Fernsehen adaptiert wurden. Darüber hinaus veröffentlichte Orford einige Kinderbücher und Non-Fiction-Publikationen. 2019 war sie in der Jury des Caine Prize for African Literature; außerdem ist sie Honorary Fellow am St. Hugh’s College in Oxford und Vorsitzende des PEN-Clubs Südafrikas. Rakhymzhan Otarbayev (geb. 1956 in Kurmanghazy, Kasachstan; gest. 2018 in Atyrau, Kasachstan) studierte bis 1977 am Pädagogischen Institut Ural, arbeitete als Lehrer für kasachische Sprache und Literatur sowie als Redakteur beim Fernseh- und Rundfunkkomitee und schrieb für die Journale Kasachische Literatur und Zhalyn. Neben Erzählungen verfasste er Romane und Theaterstücke. Otarbayev war Attaché in Kirgisistan, später war er in der Präsidialverwaltung und als Generaldirektor der Akademischen Nationalbibliothek in der kasachischen Hauptstadt Astana tätig. Ihm wurde der Titel Verdienter Arbeiter Kasachstans verliehen, er war Mitglied der Internationalen Chingiz-Aitmatov-Akademie, Träger des „Parasat“-Ordens, Preisträger des Makhambet Republican Prize und Stipendiat des Präsidenten. Eine Auswahl seiner Erzählungen wurde ins Russische und Chinesische übersetzt, einzelne Geschichten ins Türkische, Arabische, Französische, Italienische und Bulgarische. Sein Roman Der Schädel ist der erste Gegenwartsroman, der aus dem Kasachischen ins Deutsche übersetzt wurde. 2022 erschien mit Der Verräter erstmals auch ein Erzählband von 304

Zu den Autor:innen

ihm auf Deutsch. Zuletzt war Otarbayev künstlerischer Leiter des Dramatischen Theaters Atyrau und im Januar 2017 Stipendiat des Literarischen Colloquiums Berlin. Er starb im Februar 2018 unerwartet an Herzversagen. Janis Otsiemi (geb. 1973 in Franceville, Gabun) wuchs in den Vereinigten Staaten von Abéké auf, einem Slum der Hauptstadt Libreville. Als Autodidakt begann er mit der Lektüre von Klassikern, die er kopierte, um sich den Stil einzuprägen und die französische Sprache zu perfektionieren. Während er tagsüber für eine Fluggesellschaft arbeitete, verschrieb er sich dem Kriminalroman-Genre. Für sein Debüt Tous les chemins mènent à l’autre (2000) erhielt er den Prix du Premier Roman Francophone der „Union Gabonaise des Enseignants pour la Culture Francophone“. Sein dritter Roman La vie est un sale boulot (2009) wurde 2010 mit dem Prix du roman gabonais ausgezeichnet. Otsiemi ist Secrétaire Général adjoint de l’Union des Écrivains Gabonais. 2013 verhalfen ihm französische Konsularbeamte in Libreville ungewollt zu größerer Bekanntheit, als er zum Festival Étonnants Voyageurs in Saint-Malo reisen wollte und sie ihm zunächst ein Visum verweigerten. Man bezweifelte seine Bereitschaft heimzukehren, dabei zählt Otsiemi zu jenen, die einen Wandel in ihren Herkunftsländern anstreben. Von seinen neun Krimis über die soziale und politische Realität Gabuns ist African Tabloid (2013; Libreville) der erste ins Deutsche übersetzte. Mohamed Yehdhih Ould Breideleil (geb. 1944 in Mauretanien, gest. 2021 ebendort in der Hauptstadt Nouakchott) war ein umstrittener arabischer Nationalist, der zugleich von der westlichen Kultur geprägt war. 1976 schloss er sein Studium an der École Supérieure du Journalisme in Lille (Frankreich) ab und bekleidete später Regierungsposten im islamischen Sahara-Staat, darunter ein Ministerium zur Zeit von Mohamed Khouna Ould Haidallah. Er soll zeitweise enger Berater des ehemaligen Präsidenten Mohamed Ould Abdel Aziz gewesen sein und gilt als wichtiger Theoretiker des Baathismus, einer Ideologie, die Panarabismus, revolutionären Säkularismus und arabischen Sozialismus verbindet. Nach Putschversuchen wurde Ould Breideleil 1988 gemeinsam mit weiteren Funktionären der Baath-Partei verhaftet. Er gestand, Zahlungen der Botschaft Iraks (unter Saddam Hussein) erhalten zu haben und kehrte nach einem Jahr Gefängnisaufenthalt als Generalsekretär des Militärrats (Comité Militaire de Salut National) in die Führungsriege Mauretaniens zurück. Seine Nähe zu den Zu den Autor:innen

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meisten der aufeinanderfolgenden Staatsmächte irritierte die intellektuelle Elite. In der Kritik steht er außerdem als Ideengeber des systemischen Rassismus gegen Schwarze und der ethnischen Säuberungsaktionen. Von seinen literarischen Werken erschienen bisher auf Deutsch Von Menschen und Kamelen (2021) und Mord auf der Düne (2022). Yambo Ouologuem (geb. 1940 in Bandiagara, Mali; gest. 2017 in Sévaré, Mali) genoss als Sohn eines Schulinspektors im ehemaligen Französisch-Sudan eine fundierte Bildung. Er beherrschte neben afrikanischen Sprachen Französisch, Englisch und Spanisch, studierte ab Anfang der 1960er Jahre Philosophie, Literatur und Englisch am Pariser Lycée Henri-IV und später an der École Normale Supérieure. Während er dort an einer Doktorarbeit in Soziologie arbeitete, begann er zu schreiben und unterrichtete von 1964 bis 1966 an einem Gymnasium in Charenton, Valde-Marne. Mit seinem Debüt Le devoir de violence (1968; Das Gebot der Gewalt) über die Kontinuität der Gewalt seit der vorkolonialen Zeit gewann Ouologuem als erster Afrikaner den renommierten Prix Renaudot. Spätere Plagiatsvorwürfe überschatteten die Auszeichnung und schädigten nachhaltig seinen Ruf. Da Teile des intertextuellen Romans direkt aus Werken von Graham Greene und André Schwarz-Bart stammen sollen, zog der Verlag 1972 das Buch zurück, obwohl Ouologuem erklärte, die Zitate im Manuskript markiert zu haben. Er publizierte 1969 noch zwei weitere, weitgehend ignorierte Bücher, bevor er nach Mali zurückkehrte und bis zu seinem Tod 2017 als Einsiedler lebte. In seiner Heimat unbekannt, geriet sein Werk in Vergessenheit. In Frankreich erproben Neuauflagen den Versuch einer Rehabilitation des Autors. Der gelernte Bibliothekar Per Petterson (geb. 1952 in Oslo) arbeitete zunächst als Buchhändler, Übersetzer und Literaturkritiker, bevor er sich auf das Schreiben konzentrierte. Sein erstes Buch war Aske i munnen, sand i skoa (1987), eine Sammlung von Kurzgeschichten. Für den inzwischen verfilmten Roman Ut og stjæle hester (2003; Pferde stehlen) erhielt er den norwegischen Buchhändlerpreis und gewann in englischer Übersetzung den Independent Foreign Fiction Prize sowie den mit 100.000 Euro dotierten International IMPAC Dublin Literary Award. Das Time Magazine zählte Pferde stehlen zu den zehn besten belletristischen Büchern des Jahres 2007. Daneben wurde Petterson für Jeg forbanner tidens elv (2008; Ich verfluche 306

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den Fluss der Zeit, 2009) mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates ausgezeichnet. Sieben seiner zehn bisherigen Publikationen erschienen bereits auf Deutsch, darunter zuletzt der Scheidungsroman Menn i min situasjon (2018; Männer in meiner Lage, 2019). Insgesamt wurden seine Werke in knapp 50 Sprachen übersetzt. Caryl Phillips (geb. 1958 auf St. Kitts, Karibik) wuchs in Leeds, Yorkshire, auf und studierte von 1976 bis 1979 Englisch am Queen’s College der Universität Oxford. Danach verfasste er erste Dramentexte und lebte in Edinburgh und London, wo seine Stücke uraufgeführt wurden. Mit 22 Jahren besuchte er erstmals den Inselstaat St. Kitts und Nevis, den seine Familie 1958 verlassen hatte, und schrieb daraufhin seinen Debütroman The Final Passage (1985). Er publizierte weitere Romane, verfolgte eine akademische Karriere und hatte zeitweise Parallelwohnsitze in den USA, England und St. Kitts. 1990 nahm er eine Stelle am Amherst College in Massachusetts an, wo er 1995 zum jüngsten Anglistik-Professor der USA ernannt wurde. 1998 wechselte er an das Barnard College der Columbia University, 2005 an die Yale University, wo er heute als Professor für Englisch lehrt. Neben Theaterstücken und Essays veröffentlichte er bisher zwölf Romane, darunter Crossing the River (1993), für den er mit dem Commonwealth Writers’ Prize und dem James Tait Black Memorial Prize ausgezeichnet wurde sowie auf der Shortlist für den Booker Prize stand. Er ist Ehrenmitglied des Queen’s College der Universität Oxford, wurde 2000 zum Fellow der Royal Society of Literature und 2011 zum Fellow der Royal Society of Arts ernannt. Petra Piuk (geb. 1975 in Güssing, Österreich) zog im Alter von zwei Jahren mit ihrer Familie nach Wien, wo sie später eine Schauspielausbildung absolvierte und Germanistik studierte. 2016 erschien ihr Debütroman Lucy fliegt, für den sie ein Projekt-Stipendium des Bundeskanzleramtes sowie die Buchprämie der Stadt Wien erhielt. Im selben Jahr wurde ihre Kurzgeschichte „Kinderbauernhof “ mit dem Literaturpreis des Landes Burgenland ausgezeichnet. Piuk veröffentlicht in Literaturzeitschriften wie kolik, & Radieschen, Die Rampe, Driesch und Keine Delikatessen. Ihr zweiter Roman Toni und Moni oder: Anleitung zum Heimatroman (2017) wurde ins Italienische übersetzt. Zuletzt erschienen die Novelle Wenn Rot kommt (2020) und das Kinderbuch Rotkäppchen rettet den Wolf (2022). Ihr Gemeinschaftsprojekt Verschwindungen mit Bastian Schneider wurde Zu den Autor:innen

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bei den Internationalen Literaturdialogen 2022 ausgezeichnet. Piuk lebt als freie Autorin in Wien. Edo Popović (geb. 1957 in Livno, Bosnien und Herzegowina) lebt seit 1968 in Zagreb. Er war Mitbegründer von Quorum, einer der wichtigsten Literaturzeitschriften des ehemaligen Jugoslawiens. Sein Debütroman Ponoćni boogie (1987; Mitternachtsboogie, 2010) über die Zagreber Jugend wurde zum Kultbuch seiner Generation und Popović avancierte zum Gesicht der Underground-Szene. Sein Image wechselte in den 1990er Jahren, als er mit Reportagen zum bekanntesten Kriegsberichterstatter Kroatiens wurde. Anschließend veröffentlichte er mehrere Erzählbände und Romane, von denen neun ins Deutsche übersetzt wurden. 2017 unterzeichnete er die Deklaration zur gemeinsamen Sprache der Kroaten, Serben, Bosniaken und Montenegriner. Zuletzt erschien auf Deutsch der Roman Mondmeridian (2022; Orig. Mjesečev meridijan, 2015). Popović war Stadtschreiber in Graz, wo er den 2001 publizierten Tagebuch-Essayband Kameni pas (Der Hund aus Stein) verfasste, der auszugsweise in der Literaturzeitschrift Lichtungen erschien. Angharad Price (geb. 1972 in Bethel, Wales) studierte Moderne Sprachen am Jesus College in Oxford und schloss dort mit einem Doktorgrad in Celtic Studies ab. Nach Stationen an den Universitäten Wien, Swansea und Cardiff wurde sie 2006 als Professorin für Walisisch und Kreatives Schreiben an die School of Welsh der Bangor University berufen. Neben Artikeln und Büchern über zeitgenössische walisische Literatur verfasst sie literarische Texte. 1999 erschien ihr Debütroman Tania’r Tacsi (Tanias Taxi). Ihr zweiter Roman O, Tyn y Gorchudd (O! Lüfte den Schleier; Das Leben der Rebecca Jones, 2017) gewann beim National Eisteddfod 2002 den Preis für das beste Prosastück, wurde 2003 vom walisischen Kulturrat zum Buch des Jahres gekürt und in sechs Sprachen übersetzt (Englisch, Deutsch, Rumänisch, Spanisch, Bengalisch, Katalanisch). Ihr dritter Roman Caersaint kam 2011 auf die Shortlist für das Wales Book of the Year. Für ihr Bühnenstück Nansi (Uraufführung 2015, Theatr Genedlaethol Cymru) wurde Price 2017 als Best Welsh Playwright bei den Wales Theatre Awards ausgezeichnet. Sie lebt in der Kleinstadt Caernarfon und erhielt 2014 den Glyndŵr Award für einen herausragenden Beitrag zur Kunst in Wales.

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Kwei Quartey ist geboren und aufgewachsen in Ghanas Hauptstadt Accra als Sohn einer afroamerikanischen Mutter und eines ghanaischen Vaters, zweier Universitätsdozenten, die ihm früh Zugang zu Literatur boten. Inspiriert von Agatha Christie, Dorothy Sayers und Sir Arthur Conan Doyle, schrieb er bereits als Neunjähriger Kriminalromane, die er handschriftlich verfasste oder mit der Schreibmaschine abtippte und für die er eigene Buchcover entwarf. Als Teenager geriet er wegen einer Protestaktion in Konflikt mit der Militärregierung und emigrierte, nach einem Gefängnisaufenthalt wegen „Aufwiegelung“, in die USA. Quartey studierte Medizin an der Howard University in Washington, D.C. und begann 1990 in Kalifornien als Arzt zu praktizieren. 2008 kehrte er erstmals nach Ghana zurück und reist seither regelmäßig für Recherchen dorthin. Nachdem er gut zwanzig Jahre lang nebenberuflich als Schriftsteller arbeitete, widmete er sich ab seinem Ruhestand 2018 ganz dem Schreiben. Sein Debüt Wife of the Gods (2009) bildete den Auftakt einer bisher fünfbändigen Kriminalromanserie um Inspector Darko Dawson. 2020 folgte mit The Missing American eine zweite Reihe um Privatdetektivin Emma Djan, deren dritter Ermittlungsfall Last Seen in Lapaz im Februar 2023 erschien. Atiq Rahimi (geb. 1962 in Kabul) studierte an der Universität Kabul Literatur und arbeitete zugleich als Filmkritiker. Im Zuge des Bürgerkrieges musste er nach Pakistan fliehen und ging 1984 schließlich nach Frankreich. Dort studierte er in Rouen und promovierte später an der Sorbonne in Audiovisueller Kommunikation. Anschließend arbeitete er für das französische Fernsehen und begann in den 1990ern mit dem Schreiben. 2000 veröffentlichte er seinen ersten Roman Khâkestar-o-khâk (Erde und Asche), in dem er sich mit dem Krieg in Afghanistan auseinandersetzt und den er vier Jahre später selbst sehr erfolgreich verfilmte. 2008 wurde er für seinen Roman Syngué sabour. Pierre de Patience (Stein der Geduld) mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet und verfilmte das Werk 2012 ebenfalls selbst. Seine Literaturverfilmung Notre Dame du Nil (Our Lady of the Nile) wurde 2020 mit dem Gläsernen Bär der Berlinale ausgezeichnet. 2002 kehrte Rahimi erstmals nach Afghanistan zurück, etablierte dort ein Zentrum für Autor:innen und begann mit der Moby Group, der größten Mediengruppe des Landes, zusammenzuarbeiten. Heute lebt der Autor in Paris und Kabul.

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Michèle Rakotoson (geb. 1948 in Antananarivo) studierte in ihrer Heimatstadt Literatur und anschließend in Frankreich Soziologie. In Madagaskar arbeitete sie danach als Theaterregisseurin und Lehrerin, verließ ihr Heimatland jedoch aus politischen Gründen einige Jahre später und kehrte nach Frankreich zurück. Dort begann sie am Radio und für das Fernsehen zu arbeiten und Dramen, Erzählungen sowie Prosa zu schreiben, die sie sowohl auf Französisch als auch auf Malagasy verfasste. In ihrem Schaffen spielen globale zeitgenössische Themen sowie die traditionelle madagassische Kultur stets eine wesentliche Rolle. 2012 erhielt sie für ihr Werk von der Académie Française die Grande Médaille de la Francophonie, und ihr Theaterstück Sambany gilt heute als Klassiker des madagassischen Theaters und des Frauentheaters. Das Stück wurde vielfach in Afrika, den USA und Europa aufgeführt. In Madagaskar engagiert sich Rakotoson stark für politische Zwecke und betätigt sich außerdem in der Literaturförderung. Seit 2007 ist sie Vorsitzende des Bokiko-Projekts, das das Publikationswesen in Madagaskar unterstützt. Vaddey Ratner (geb. 1970 in Kambodscha) ist Nachfahrin des König Sisowath I. und musste deshalb 1979 mit ihrer Mutter aus ihrem Heimatland fliehen, in dem die Roten Khmer die Macht ergriffen hatten. 1981 erreichte sie die USA, wo sie Englisch lernte und die Highschool besuchte. Anschließend studierte sie Südostasiatische Geschichte und Kunst an der Cornell University in New York und schloss ihr Studium mit summa cum laude ab. 2013 veröffentlichte sie ihr autobiografisches Romandebüt In the Shadow of the Banyan, das ein Bestseller der New York Times wurde und für den PEN/Hemingway Award sowie für den Indies Choice Book of the Year Award nominiert war. Für ihren zweiten Roman Music of the Ghosts wurde Ratner 2016 mit dem Editor’s Choice der New York Times Book Review ausgezeichnet und 2018 für den Aspen Words Literary Prize nominiert. Ihre Werke wurden bisher in zwanzig Sprachen übersetzt. Heute lebt die Autorin in der Nähe von Washington D.C. Sven Regener (geb. 1961 in Bremen) begann in Hamburg Musikwissenschaft zu studieren, brach das Studium 1982 jedoch ab und zog nach Berlin. Dort begann er sich seiner Karriere als Trompeter zu widmen und spielte bei der Band Zatopek. 1985 gründete er seine eigene Band Element of Crime, in der er als Gitarrist, Trompetenspieler, Sänger und Verfasser der Liedtexte 310

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tätig ist Gleichzeitig begann er als Autor zu arbeiten und publizierte 2001 seinen ersten Roman Herr Lehmann, in welchem er sich mit den Monaten unmittelbar vor dem Mauerfall in Berlin befasste. Sein Protagonist Frank Lehmann kehrte in weiteren seiner Werke wieder, etwa in Neue Vahr Süd (2004), dessen gleichnamige Verfilmung 2011 den Grimme-Preis, den Bayerischen Fernsehpreis und den Deutschen Comedypreis gewann. Für seinen Roman Wiener Straße wurde Regener 2017 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Alle seine Romane produzierte er auch als von ihm gelesene Hörbücher. Heute lebt Regener mit seiner Familie in Berlin. Jean Rhys (geb. 1890 in Roseau auf Dominica als Ella Gwendolen Rees Williams) war Tochter einer kreolischen Mutter und eines walisischen Vaters und wuchs in der Karibik auf. Mit 16 Jahren ging sie nach London, besuchte dort zunächst das Perse College for Girls in Cambridge, anschließend die Royal School of Dramatic Art und arbeitete danach als Schauspielerin und Revuegirl. Einige Jahre später zog sie nach Paris, wo sie in dem britischen Autor Ford Madox Ford einen Mentor und Förderer fand, der sie zum Schreiben bewegte. In den 1930ern begann sie einige ihrer Werke in der Transatlantic Review zu veröffentlichen und zeitgleich ihre vier Romane sowie zahlreiche Erzählungen zu verfassen. Sie geriet noch zu Lebzeiten in Vergessenheit, wurde sogar totgeglaubt, zumal sie nach ihrer Zeit in Paris sehr zurückgezogen in einem Dorf in Devon lebte. Mit der Publikation ihres Romans Wide Sargasso Sea gelangte sie jedoch 1966 wieder in das Licht der Öffentlichkeit, und das Werk zählt seitdem zu den bedeutendsten englischsprachigen Romanen des 20. Jahrhunderts. 1979 wurde Rhys als Ehrenmitglied in die American Academy of Arts and Letters aufgenommen. Sie verstarb im selben Jahr in Exeter in England. Hernán Rivera Letelier (geb. 1950 in Talca, Chile) verbrachte seine Kindheit in einer Bergbau-Siedlung im Norden Chiles. Nach der Schließung der dortigen Minen ging seine Familie nach Antofagasta, wo er sich nach dem Tod seiner Mutter 1967 als Zeitungsverkäufer und Laufbursche über Wasser hielt. Mit 17 Jahren begab er sich auf Reisen nach Peru, Ecuador, Bolivien und Argentinien. Zurück in Chile, arbeitete er in der Salpetermine Pedro de Valdivia, heiratete und begann zu schreiben. Er verfasste zunächst Lyrik, dann auch Erzählungen und erreichte bereits mit seinen frühen Werken eine gewisse Bekanntheit. Sein Debütroman La reina Zu den Autor:innen

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cantaba rancheras (Lobgesang auf eine Hure) machte ihn 1994 schlagartig berühmt und wurde auch als Theaterstück sehr erfolgreich adaptiert. Für sein Debüt erhielt Rivera Letelier im selben Jahr den Premio del Consejo Nacional del Libro, mit dem er ein Jahr später für Himno del ángel parado en una pata erneut ausgezeichnet wurde. 2010 wurde er mit dem Premio Alfaguara de Novela für seinen Roman El arte de la resurrección geehrt. Der Autor lebt aktuell mit seiner Familie in Antofagasta. Mercedes Rosende (geb. 1958 in Montevideo) studierte Integrationspolitik und Rechtswissenschaften in Uruguay und arbeitete anschließend als Juristin und Journalistin. Sie reiste viel und lebte zeitweise im Ausland. In den 2000ern begann sie zu schreiben, zunächst nicht mit der Absicht, daraus eine professionelle Karriere zu machen. 2005 publizierte sie ihren ersten Erzählband Demasiados blues, der mit dem Premio IMM ausgezeichnet wurde. 2008 veröffentlichte sie ihr Romandebüt La muerte tendrá tus ojos, für den sie den Preis des Ministerio de Educación y Cultura von Montevideo erhielt. Mit Mujer equivocada (Falsche Ursula) erschien 2011 der erste Teil ihrer erfolgreichen Krimi-Reihe um die Protagonistin Ursula, die Rosende international berühmt machte. 2017 und 2019 folgten weitere Teile, für die die Autorin 2019 mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet wurde. Aktuell ist sie Direktorin der Casa de los Escritores und leitet den Purocount-Workshop der Nationalbibliothek von Uruguay. Jaroslav Rudiš (geb. 1972 in Turnov, Tschechien) studierte Deutsch, Geschichte und Publizistik in Liberec, Zürich und Prag. Anschließend arbeitete er als Journalist und Lehrer. Dank eines Journalisten-Stipendiums kam er nach Berlin, wo er sich erstmals auch dem Schreiben widmete. 2002 veröffentlichte er seinen Debütroman Nebe pod Berlinem (Der Himmel unter Berlin), für den er den Jiří-Orten-Preis erhielt. Rudiš verfasste weitere Romane sowie Theaterstücke und ist gemeinsam mit Jaromír Švejdík Schöpfer der Comicfigur Alois Nebel. 2012 bis 2013 war Rudiš Gastprofessor an der Humboldt-Universität in Berlin. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen für sein Schaffen, darunter 2014 den Usedomer Literaturpreis, 2018 den Preis der Literaturhäuser und 2020 den Chamisso-Preis für seinen Roman Winterbergs letzte Reise. Zudem wurde er 2021 mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland für sein Wirken als Vermittler zwischen Tschechien und Deutschland geehrt und erhielt 2022 312

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den Karel-Čapek-Preis. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit ist er auch Musiker und Drehbuchautor. Er lebt heute in Berlin und Lomnice nad Popelkou. Luiz Ruffato (geb. 1961 in Cataguases, Brasilien) wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und arbeitete zunächst als Verkäufer, Schlosser und Textilarbeiter, während er Journalismus in Juiz de Fora studierte. Anschließend fand er Arbeit als Journalist in São Paulo. Mit Eles eram muitos cavalos (Es waren viele Pferde) publizierte er 2001 seinen ersten Roman, der zu einem großen Erfolg wurde und heute zu den bedeutendsten brasilianischen Romanen des 21. Jahrhunderts gezählt wird. Für dieses Buch erhielt er den Premio São Paulo. Zwischen 2005 und 2011 verfasste er seinen fünfbändigen Romanzyklus Inferno provisório (Vorläufige Hölle), in welchem er sich mit dem Leben von brasilianischen Einwanderern, Arbeitern und Binnenmigranten und der Gesellschaft Brasiliens kritisch befasst. 2013 erhielt er für dessen letzten Band Domingos sem deus (Sonntage ohne Gott) den Premio Casa de las Américas. 2016 wurde er gemeinsam mit seinem deutschen Übersetzer Michael Kegler mit dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet. Zahlreiche seiner Werke wurden u. a. ins Deutsche, Französische, Englische, Spanische und Italienische übersetzt, einige von ihnen auch verfilmt. Heute lebt der Schriftsteller in São Paulo. Dace Rukšāne (geb. 1969 in Riga) studierte zunächst Biologie und anschließend Medizin an der Universität Riga. Nach ihrem Studium war sie bei einigen Werbeagenturen tätig und begann als Journalistin zu arbeiten. Seit 2002 hat sie eine eigene Rubrik in der lettischen Tageszeitung Diena, in der sie sich mit Themen wie Sexualität und Beziehungen auseinandersetzt, und von 2004 bis 2012 war sie Chefredakteurin der lettischen Frauenzeitschrift Lilit. 2002 wurde sie mit ihrem Romandebüt Romāniņš (wörtl. Kleine Romanze) schlagartig berühmt, da die Publikation aufgrund der als freizügig wahrgenommenen Thematik und des offenen, direkten Schreibstils der Autorin einen Skandal auslöste. Neben ihren Romanen publizierte sie auch Theaterstücke, die preisgekrönt und in Lettland erfolgreich inszeniert wurden. Bisher wurde ihr Werk in neun Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt heute mit ihren Töchtern in Riga, wo sie neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit auch politisch als Abgeordnete der Partei Attīstībai/Par! tätig ist. Zu den Autor:innen

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Donal Ryan (geb. 1976 bei Nenagh/Tipperary, Irland) absolvierte ein Jurastudium an der Universität von Limerick, wo er seit 2017 Creative Writing lehrt. Bis 2014 arbeitete er für die irische Arbeitsrechtsbehörde. Seine ersten beiden Romane, The Spinning Heart (2012; Die Gesichter der Wahrheit, 2016) und The Thing About December (2013; Die Sache mit dem Dezember, 2015), wurden vor Erscheinen 47-mal abgelehnt. Heute sind Ryans Bücher in mehr als zwanzig Sprachen erhältlich. Sein Debüt gewann beim Irish Book Award als Buch des Jahres 2012, er selbst als Newcomer des Jahres. 2013 folgten der Guardian First Book Award sowie eine Longlist-Platzierung für den Booker Prize. Der Kurzgeschichtenband A Slanting of the Sun: Stories (2015) gewann den irischen Buchpreis in der Kategorie „Short Story of the Year“. Im selben Jahr erhielt Ryan als Vertreter Irlands den Literaturpreis der EU. The Spinning Heart wurde 2017 als Inszenierung des Articulate Anatomy Theatre am Gaiety Theatre in Dublin aufgeführt. 2019 adaptierte die Decadent Theatre Company The Thing About December für die Bühne, 2021 folgte eine Verfilmung unter dem Titel Foscadh. Ryan lebt in Castletroy, einem Vorort Limericks. Zuletzt erschien sein sechster Roman The Queen of Dirt Island (2022). Juri Sergejewitsch Rytchëu (geb. 1930 in Uëlen, Tschukotka; gest. 2008 in Sankt Petersburg) war der erste Schriftsteller des heute etwa 15.000 Menschen zählenden indigenen Volks der Tschuktschen und wuchs im äußersten Nordosten Sibiriens als Sohn eines früh verstorbenen Jägers bei Mutter und Stiefvater auf, die beide in der örtlichen landwirtschaftlichen Kolchose arbeiteten. In der Schule lernte er Russisch und schrieb sich nach Gelegenheitsjobs am Lehrerbildungsinstitut der regionalen Hauptstadt Anadyr ein. 1949–1954 studierte er an der Fakultät der Völker des Nordens in Leningrad, wo er u. a. Werke Puschkins übersetzte. Nach ersten in der Zeitung Sovietskaya Čukotka erschienenen Gedichten folgte 1953 der Erzählband Lyudi našego berega (Menschen von unserem Gestade, 1954). Drei Jahre später erschien sein Romandebüt Čukotskaja saga (zu Deutsch: Tschuktschische Sage). Bereits während der Sowjetzeit arbeitete er für die UNESCO. Nach der Perestroika wandte er sich vom Sozialistischen Realismus ab und kritisierte 1995 offen den „stillen Genozid an den kleinen arktischen Völkern Russlands“. Der 2014 auf Deutsch erschienene Roman Der letzte Schamane. Die Tschuktschen-Saga erzählt die Geschichte seines Großvaters Mletkin. Seine frühen Werke verfasste er auf Tschuktschisch, später schrieb er auf 314

Zu den Autor:innen

Russisch. Seine Texte wurden in etwa dreißig Sprachen übersetzt und teils verfilmt. Karina Sainz Borgo (geb. 1982 in Caracas, Venezuela) studierte an der Universidad Católica Andrés Bello in Caracas Sozialwissenschaften und emigrierte 2006 nach Madrid, wo sie 2007 ihren Master in Kommunikation und Kunst an der Universidad Complutense absolvierte. Bis 2009 studierte sie Journalismus an der Universidad CEU San Pablo in Madrid und arbeitete anschließend für El Mundo, die Literaturbeilage der venezolanischen Zeitung El Nacional sowie ab 2011 für die Online-Zeitung Vozpópuli. Als Kulturjournalistin veröffentlichte sie 2007 die beiden Bücher Caracas hip-hop über die venezolanische Jugend sowie Tráfico y Guaire über die Lage von Intellektuellen und Künstlern in Venezuela nach 1982. Ihr erster Roman La hija de la española (2019; Nacht in Caracas, 2019) über das totalitäre Regime ihres Heimatlandes wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und erreichte die Liste der 100 wichtigsten Bücher des Jahres 2019 im US-Magazin Time. Sainz Borgo lebt in Madrid und arbeitet für die Zeitung ABC. 2023 erschienen sowohl die deutsche Übersetzung ihres zweiten Romans Das dritte Land (El tercer país, 2021) als auch ihr dritter Roman La isla del Doctor Schubert. Habib Selmi (geb. 1951 in Al-Ala/Kairouan, Tunesien) gilt als einer der wichtigsten arabischsprachigen Autoren Tunesiens. Er absolvierte in Tunis die Schule sowie ein Studium mit Masterabschluss in Arabischer Sprache und Literatur. Danach unterrichtete er fünf Jahre lang Arabisch an tunesischen Gymnasien, bevor er sein Studium an der Pariser Sorbonne fortsetzte. Er lebt seit 1985 in der französischen Hauptstadt, wo er seit seiner Agrégation 1998 Arabisch in den Classes préparatoires eines Gymnasiums unterrichtet. 1977 und 1986 erschienen zwei Sammlungen seiner Kurzgeschichten, wovon einzelne ins Englische, Norwegische, Hebräische und Französische übersetzt wurden. Sein Romandebüt gab er 1988 mit Jabal-Al Anz (Der Ziegenberg). Bisher veröffentlichte Selmi elf Romane sowie Texte in der Zeitschrift für moderne arabische Literatur Banipal. 2009, 2012 und 2021 stand er auf der Shortlist für den International Prize for Arabic Fiction für: Meine Zeit mit Marie-Claire (2008; dt. 2010), Die Frauen von al-Bassatîn (2011; dt. 2013) sowie den bislang nur ins Französische übersetzten Roman Al-Ishtiyaq ila al-Jarah (2020; La voisine du cinquième, 2022). Zu den Autor:innen

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Vamba Sherif (geb. 1973 in Kolahun, Liberia) verbrachte einen Teil seiner Jugend in Kuwait, wo er auch das Gymnasium besuchte. Während des Ersten Golfkriegs floh er und ließ sich in Syrien nieder, bis die irakische Invasion ihn 1993 abermals zur Flucht zwang. Seither lebt er in den Niederlanden, wo er Jura studierte und sich schriftstellerisch mit seiner Exilerfahrung auseinandersetzte. Aus dem Bedürfnis, sich den liberianischen Bürgerkrieg zu erklären, entstand sein Debütroman Het land van de vaders (1999), der 2016 auf Englisch erschien (The Land of the Fathers). Sherif schreibt auf Niederländisch und Englisch für verschiedene internationale Zeitschriften und Zeitungen wie die New York Times, Long Cours und KulturAustausch. Er lernte früh Arabisch und Englisch; seine Muttersprache ist aber Mandingo. Durch Familienmitglieder aus Liberia, Sierra Leone, Guinea und Mali sprach er zu Hause auch westafrikanische Sprachen wie Gbandi, Kissi, etwas Lomah und Mende. Sein dritter Roman Zwijgplicht (2006; Geheimauftrag in Wologizi, 2009) landete in deutscher Übersetzung 2009 auf Platz drei der Litprom-Bestenliste „Weltempfänger“ für übersetzte Literaturen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und der arabischen Welt. Zuletzt erschien 2021 der an seine Tochter adressierte autobiografische Roman Ongekende liefde (Nie dagewesene Liebe). Abdulai Sila (geb. 1958 in Catió, Guinea-Bissau) besuchte während des Kolonialkriegs eine Missionarsschule im damaligen Portugiesisch-Guinea, zog 1970 in die Hauptstadt Bissau, um das Gymnasium zu absolvieren, studierte 1979–1985 an der TU Dresden Elektrotechnik und besuchte ab 1986 u. a. in den USA IT-Schulungen. Er ist Mitbegründer eines Computerunternehmens und des einzigen privaten Internetanbieters in Guinea-Bissau. Zeitlebens an Literatur interessiert, veröffentlichte er 1994 Eterna Paixão (Ewige Leidenschaft). Dieses Debüt gilt als erster guineischer Roman überhaupt. Neben Fachpublikationen und Kurzgeschichten folgten drei Theaterstücke, darunter Dois Tiros e Uma Gargalhada (2013; Zwei Schüsse und ein Lachen, 2021), sowie drei weitere Romane, darunter A Última Tragédia (1995; Die letzte Tragödie, 2021). Sein literarisches Werk erschien auf Portugiesisch im bissau-guineischen Privatverlag Kusimon Editora, den er 1994 mitgründete, und wurde ins Deutsche, Italienische, Französische und Englische übersetzt. Sila ist amtierender Vorsitzender des von ihm mitgegründeten PEN-Guinea-Bissau. 2013 ernannte ihn die französische Regierung zum Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres. Er lebt bei Bissau. 316

Zu den Autor:innen

Avtar Singh (geb. 1972 in Amritsar, Nordindien) studierte Englisch und Philosophie am Whittier College in Kalifornien, bevor er 1996 nach Indien zurückkehrte. Er lebte in Mumbai, Goa und Delhi, arbeitete als Redakteur der Zeitschrift Man’s World, war Mitbegründer und Herausgeber von Time Out Delhi sowie von 2013–2016 Chefredakteur des Kunst- und Kulturmagazins The Indian Quarterly. Anschließend hielt sich Singh phasenweise in China auf, schrieb neben Reiseberichten auch für The Washington Post, Foreign Policy, Nikkei Asian Review, GQ und Cosmopolitan. In The Hindu BusinessLine erschien eine regelmäßige Kolumne über sein Leben in Peking (2016–2019). Seither lebt Singh nahe Stuttgart und arbeitet dort aktuell als leitender Redakteur einer Marketingagentur. Sein Debütroman The Beauty of These Present Things erschien 2000; 2014 folgte der Kriminalroman Necropolis, den er auch für eine sechsteilige Fernsehserie adaptierte. 2018 war er MacDowell-Stipendiat und publizierte zuletzt Kurzgeschichten wie The Leopard und The Corpse Bearer. Derzeit finalisiert er einen Roman über die Delta-Welle der COVID-19-Pandemie, angesiedelt in NeuDelhi, Peking, Jakarta, Bangkok und einer deutschen Vorstadt. In Arbeit ist zudem eine Novelle (Arbeitstitel Into the Forest) über das Verschwinden von Frauen zur Coronazeit. Nalini Singh (geb. 1977 in Suva, Fidji) ist indischer Abstammung und kam mit zehn Jahren nach Neuseeland, wo sie später Jura und englische Literatur an der University of Auckland studierte. Nach ihrem Abschluss 2001 arbeitete sie zunächst als Anwältin, Englischlehrerin, Bibliothekarin, Süßwarenfabrikarbeiterin und Bankangestellte. In den 1990er Jahren begann sie an Schreibwettbewerben teilzunehmen, veröffentlichte 2003 ihr Erstlingswerk Desert Warrior und wurde danach Vollzeitschriftstellerin mit dem Schwerpunkt romantische Fantasy. Neben ihren paranormalen Romanreihen Psy Changeling (Gestaltwandler) und Guild Hunter (Gilde der Jäger) schreibt sie Thriller, von denen Quiet in Her Bones (2021; Die dunkle Stille des Waldes, 2021) für den neuseeländischen Kriminalroman-Literaturpreis Ngaio Marsh 2022 nominiert war. Im Juli 2023 erscheint mit Resonance Surge der siebte Teil der Gestaltwandler-Fortsetzungsreihe Age of Trinity. Abgesehen von einem dreijährigen Aufenthalt in Japan lebt Singh in Neuseeland. Bis heute erschienen mehr als 40 Bücher der New-York-Timesund Spiegel-Bestsellerautorin mit Übersetzungen in mehrere Sprachen, die sich weltweit über acht Millionen Mal verkauft haben. Zu den Autor:innen

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Francisco Sionil José (geb. 1924 in Rosales, Philippinen; gest. 2022 in Makati City, Philippinen) stammte von der ethnolinguistischen Gruppe der Ilokanos ab und gilt als der wichtigste philippinische Autor. Nach dem Zweiten Weltkrieg besuchte er die Universität von Santo Tomas in Manila, brach sein Literatur- und Medizinstudium jedoch ab, begann als Schriftsteller und Journalist zu arbeiten und verfasste in der Folge zahlreiche Romane, Erzählbände und Essays. Er gründete einen Verlag sowie 1958 den philippinischen Ableger der PEN-Schriftstellervereinigung. Seine englischsprachigen Werke wurden in 28 Sprachen übersetzt. Weltweit bekannt wurde José durch seine 1962–1984 verfasste fünfteilige Rosales-Saga, die fünf Generationen zweier Familien durch drei Jahrhunderte bis in die Zeit nach der philippinischen Unabhängigkeit folgt. Der Abschlussteil Mass (1974; Szenen aus Manila, 1990) brachte ihm einen seiner fünf Palanca-Preise ein. Für seine literarische Arbeit erhielt er u. a. die Ehrendoktorwürde der University of the Philippines und wurde 2000 zum Chevalier de l’Ordre des Arts et Lettres ernannt sowie 2001 zum Nationalen Künstler für Literatur. José war Inhaber der Buchhandlung Solidaridad in Padre Faura, Manila. In späteren Jahren hatte er eine Zeitungskolumne in The Philippine Star, wo er mitunter scharfe Kritik an der philippinischen Gesellschaft, Kultur und Politik übte. Ali Smith (geb. 1962 in Inverness, Schottland) studierte englische Literatur in Aberdeen und Cambridge. Zeitgleich verfasste sie erste Theaterstücke, die beim Edinburgh Festival Fringe sowie bei Cambridge Footlights aufgeführt wurden, und brach daher ihr Promotionsstudium ab. 1990 zog sie nach Edinburgh und arbeitete als Literaturdozentin an der Universität Strathclyde in Glasgow. Wegen chronischen Erschöpfungssyndroms verließ sie die Universität 1992, kehrte nach Cambridge zurück und konzentrierte sich in der Folge auf das Schreiben von Kurzgeschichten. 1995 erschien ihre erste Sammlung Free Love and Other Stories (Freie Liebe und andere Geschichten, 2017), die u. a. mit dem Scottish Arts Council Book Award ausgezeichnet wurde. 1997 folgte ihr Debütroman Like (Von Gleich zu Gleich, 2013). Mit Autumn (2016; Herbst, 2021) kam die Autorin 2017 zum vierten Mal auf die Shortlist des Booker Prize. Für Summer (2020; Sommer, 2021) erhielt sie 2021 den George Orwell Prize für politische Literatur. Smith ist Mitglied der Royal Society of Literature, wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt und erhielt 318

Zu den Autor:innen

2022 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Sie lebt mit ihrer Langzeit-Lebenspartnerin, der Filmemacherin Sarah Wood, in Cambridge und schreibt journalistisch u. a. für The Guardian, The Scotsman und das Times Literary Supplement. Vladimir Sorokin (geb. 1955 in Moskau) gilt als einer der wichtigsten Vertreter der russischen Postmoderne. 1972 debütierte er als Lyriker und studierte ab 1977 Ingenieurswesen an der Gubkin-Universität in Moskau. Anschließend arbeitete er zeitweise für die Zeitschrift Smena (Wechsel) und war als Grafiker, Konzept-Künstler, Illustrator und Maler tätig. Er verfasste Theaterstücke und Prosa, die in den 1980er Jahren zur ‚inoffiziellen Literatur‘ gezählt und im ‚Samistad‘ publiziert wurden. 1992 wuchs seine Bekanntheit in Russland durch die Veröffentlichung seines Romans Ochered‘ (Die Schlange), der zuvor bereits in Frankreich erschienen war. 1993 wurde er Mitglied im russischen PEN-Club, verließ diesen jedoch, als sich dessen politische Ansichten radikalisierten. Sorokins Werk wurde vielfach preisgekrönt, etwa 2001 mit dem russischen Booker Prize und dem Andrey BelyPreis, 2005 mit dem französischen Ordre des Arts et des Lettres und 2015 mit dem Premio Gregor von Rezzori, den er für Der Tag des Opritschniks erhielt. In seinem künstlerischen Schaffen gilt Sorokin als scharfer Kritiker des russischen Politiksystems, weshalb er mehrfach Anfeindungen von regimetreuen Gruppen ausgesetzt und im Februar 2022 zur Flucht nach Deutschland gezwungen war. Seitdem lebt der Autor im Exil in Berlin. Miguel Sousa Tavares (geb. 1952 in Porto) ist der Sohn der bekannten Dichterin Sophia de Mello Breyner Andersen und studierte, wie sein Vater, Rechtswissenschaften. Seine Karriere als Jurist gab er jedoch nach zwölf Jahren auf, um sich zunächst dem Journalismus und dann vor allem dem kreativen Schreiben zu widmen. Er war Gründer und jahrelanger Leiter der Zeitschrift Grande Reportagem, die zu einer bedeutenden Referenzpublikation im portugiesischen Journalismus avancierte, und für verschiedene Zeitungen und das Fernsehen als politischer Berichterstatter und Kommentator tätig. Für seine journalistischen Arbeiten wurde Sousa Tavares mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem portugiesischen Prémio de Jornalismo. Als Schriftsteller begann er zunächst, Sachbücher, Kinderbücher und Erzählungen zu verfassen und publizierte 2003 seinen ersten Roman Equador (Am Äquator), der zu einem Bestseller wurde und ihn schlagartig bekannt machte. Das Buch Zu den Autor:innen

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wurde in zwölf Sprachen übersetzt und für das portugiesische und brasilianische Fernsehen als Serie adaptiert. In Italien wurde es 2006 für den Premio Grinzane Cavour für das beste ausländische Buch nominiert. Aleš Šteger (geb. 1973 Ptuj, heute Slowenien) studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik in Ljubljana, wo er noch heute lebt und arbeitet. 1996 wurde sein erster Gedichtband Šahovnice ur (Schachbrettstunden) auf der slowenischen Buchmesse mit dem Preis für das beste Erstlingswerk ausgezeichnet. Seitdem veröffentlichte er zahlreiche Gedichtbände sowie Prosa, Essays und Reiseberichte und ist zudem als Übersetzer und Lektor tätig. Seit 2014 ist er Mitglied der Akademie der Künste Berlin und seit 2019 der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. In seiner Heimatstadt leitet er das jährliche Poesiefestival Dnevi poezije in vina („Tage der Poesie und des Weins“), und seit 2012 führt er ein Schreib-Performance-Projekt mit dem Titel Na kraju zapisano („Vor Ort geschrieben“). Er zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen Schriftstellern Sloweniens, wurde bereits in mehrere Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen für sein Schaffen ausgezeichnet: u. a. 1998 mit dem Veronika-Preis, 2007 mit dem Rožanc-Preis, 2011 mit dem Best Translated Book Award für Buch der Dinge, 2016 mit dem Horst-Bienek-Preis und 2021 mit dem Alfred Kolleritsch-Würdigungspreis der Stadt Graz. Tanya Tagaq (geb. 1975 in Ikaluktutiak/Cambrigde Bay, Nunavut) ist eine Inuk-Sängerin, Künstlerin und Schriftstellerin. Sie studierte bildende Kunst am College of Art and Design in Nova Scotia, wo sie eine eigene moderne Solo-Form des traditionellen Kehlkopfgesangs der Inuit entwickelte. Seitdem ist sie erfolgreich als Musikerin, Performerin und Komponistin, arbeitete mit Künstler:innen wie Björk oder dem Kronos-Quartett zusammen und veröffentlichte zahlreiche Alben, für die sie u. a. mit dem Juno-Preis, dem Canadian Aboriginal Music Award und dem Polaris Music Prize ausgezeichnet wurde. Neben ihrer künstlerischen Karriere setzt sich Tagaq auch für die Rechte der indigenen Bevölkerung Kanadas ein. 2018 publizierte sie ihren ersten Roman Split tooth (Eisfuchs), der im selben Jahr für den Scotiabank Giller Prize und 2019 für den Sunburst Award nominiert wurde. 2019 erhielt sie für ihr Debüt den Indigenous Voices Award und den Alcuin Society Award for Excellence in Book Design.

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Zu den Autor:innen

Tan Twan Eng (geb. 1972 in Pengang, Malaysia) ist chinesischer Abstammung, wuchs in Kuala Lumpur auf und spricht Englisch, Penang Hokkien und Malaysisch sowie etwas Kantonesisch. Er studierte Jura an der University of London und arbeitete, bis er Vollzeitschriftsteller wurde, als Anwalt für Geistiges Eigentum in Kuala Lumpur. Sein Debütroman The Gift of the Rain (2007) stand auf der Longlist des Booker Prize 2007. Sein zweiter Roman The Garden of Evening Mists (2012) wurde 2019 unter gleichnamigem Titel verfilmt, gelangte auf die Shortlist des Booker Prize 2012, erhielt den Asian Prize 2012 und wurde 2013 mit dem mit 25.000 britischen Pfund dotierten Walter-Scott-Preis für historische Romane ausgezeichnet. Überdies ist er Jurymitglied des Booker Prize 2023 und damit der erste malaysische Autor, der in diese Funktion berufen wurde. Seine Romane wurden in mehr als 15 Sprachen übersetzt. Tan hat den ersten Dan im Aikido und lebt abwechselnd in Kuala Lumpur und Kapstadt. Sein dritter Roman The House of Doors erscheint 2023. Ece Temelkuran (geb. 1973 in Izmir) studierte Rechtswissenschaften an der Universität in Ankara, wo sie 1995 ihren Abschluss machte. Anschließend war sie als Journalistin und Kolumnistin für Tageszeitungen wie Milliyet und Habertürk tätig. Zeitgleich moderierte sie ihre eigene Sendereihe im Fernsehen und publizierte ihr literarisches Debüt Bütün Kadınların Kafası Karışıktır (Alle Frauen sind verwirrt). Aufgrund ihrer oppositionellen Einstellung zur türkischen Regierung verlor sie 2011 ihre Stelle bei Habertürk. Viele ihrer Artikel veröffentlichte sie daher auf Internetplattformen wie Guernica, The Guardian oder der linken Plattform BirGün. Temelkuran gilt mit ihren journalistischen und investigativen Arbeiten als eine der wichtigsten politischen Kommentator:innen der Türkei und erhielt dafür zahlreiche Auszeichnungen, wie 2001 den Pen for Peace Award. Auch mit ihren belletristischen Werken erlangte sie internationales Renommée. Ihr Roman Düğümlere Üfleyen Kadınlar (Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann) etwa wurde ein Bestseller, in mehrere Sprachen übersetzt und erhielt u. a. den PEN Translates Award. Seit 2016 lebt sie im Exil in Zagreb. Ma Thanegi (geb. 1946 in Myanmar) studierte an der Rangoon State School of Fine Arts, am Rangoon Institute of Economics und am Institute of Foreign Language, wo sie Französisch und Deutsch lernte. Nach ihren Zu den Autor:innen

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Studien begann sie als Malerin und später als Schriftstellerin und Journalistin zu arbeiten. Sie befasst sich mit der Kunstgeschichte Myanmars, schreibt Artikel für die Myanmar Times und das Reisemagazin Enchanting Myanmar und setzt sich auch in ihrem belletristischen Schreiben mit der burmesischen Kultur auseinander. Ende der 1980er war sie außerdem in der Politik als Beraterin der Oppositionspolitikerin Aung San Suu Kyi tätig, bis sie in dieser Position 1989 für drei Jahre inhaftiert wurde. Auch nach ihrer Freilassung äußerte sich Thanegi weiter als kritische Beobachterin der politischen Zusammenhänge und veröffentlichte 2013 ihr Buch Nor Iron Bars a Cage, in dem sie sich mit ihrer Zeit im Gefängnis auseinandersetzt. Heute lebt Thanegi in Yangon. Manjushree Thapa (geb. 1968 in Kathmandu) wuchs in Kathmandu, Kanada und den USA auf, wo sie zunächst im Bachelor Fotografie an der Rhode Island School of Design studierte. Anschließend schloss sie ihren Master in Englisch an der University of Washington in Seattle ab und begann zeitgleich mit ihrer schriftstellerischen Tätigkeit. Ihr erstes Buch Mustang Bhot in Fragments erschien 1992; 2001 publizierte sie ihren ersten Roman The Tutor of History (Geheime Wahlen). Zu ihren bekanntesten Werken zählt u. a. Forget Kathmandu. An Elegy for Democracy, welches sie 2005 unmittelbar vor dem Königsputsch in ihrem Heimatland veröffentlichte. Anschließend verließ sie das Land, um der Zensur zu entgehen. 2006 wurde das Werk für den Lettre Ulysses Award nominiert. Thapa übersetzt nepalesische Literatur ins Englische und unterrichtet an zahlreichen internationalen Universitäten. Sie verfasst Romane, Kurzgeschichten, Essays und veröffentlicht Artikel in der New York Times, im London Review of Books, in der Hindustan Times und der Nepali Times. Guðmundur Andri Thorsson (geb. 1957 in Reykjavik) studierte Isländisch und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Island und begann anschließend bei den Zeitungen Dagblaðið Vísir und Þjóðviljinn als Literaturkritiker und für den staatlichen Rundfunk Ríkisútvarpið zu arbeiten. Ab 1986 war er drei Jahre lang Herausgeber des Literaturmagazins Tímarit Máls og menningar und begann anschließend seine Tätigkeit als Lektor und Übersetzer bei verschiedenen Verlagen. 1988 debütierte er zudem mit seinem Roman Mín káta angist und wurde im Laufe seiner Karriere als Autor mehrfach für sein Werk ausgezeichnet; u. a. 1991 mit 322

Zu den Autor:innen

dem DV Culture Award in Literature, 2008 mit dem Kinderbuchpreis des Reykjavik Education Council, mit zwei Nominierungen für den Isländischen Buchpreis und 2012 mit einer Nominierung für The Nordic Council Literary Prize. Von 2017 bis 2021 war er außerdem Abgeordneter des isländischen Parlaments. Kim Thúy (geb. 1968 in Saigon) floh mit zehn Jahren gemeinsam mit ihrer Familie aus Vietnam nach Kanada, wo sie an der Universität von Montréal Recht, Sprachwissenschaften und Übersetzung studierte. Anschließend war sie als Rechtsanwältin, Übersetzerin, Kritikerin für das Fernsehen und den Rundfunk, als Gastronomin und als Gastrokritikerin tätig. 2009 publizierte sie ihren ersten Roman Ru (Der Klang der Fremde), in dem sie sich mit ihrem Leben in Vietnam, ihrer Flucht und der Ankunft in Kanada auseinandersetzte. Für dieses Debüt wurde Thúy mit dem Governor General’s Award for French-language fiction sowie mit dem Grand Prix littéraire Archambault ausgezeichnet und für den Scotiabank Giller Prize nominiert. Weitere Auszeichnungen ihrer Werke, in denen sie sich oft mit ihrem multikulturellen Hintergrund befasst, waren u. a. der Prix des cinq continents de la francophonie, der Grand Prix der Buchmesse in Montréal sowie der Ordre national de Québec. Ahmed Khaled Towfik (geb. 1962 in Tanta, Ägypten) studierte ab 1985 an der Medizinischen Fakultät der Universität von Tanta, wo er 1997 promovierte und anschließend als Universitätsprofessor arbeitete. 1992 begann er mit dem Modern Arab Association-Verlag zusammenzuarbeiten und zu schreiben. Er gilt als der erste arabische Verfasser von Horror- und SciFi-Erzählungen und Medical-Fiction-Thrillern. 1993 veröffentlichte er den ersten Teil seiner Horror/Thriller-Reihe Ma Waraa Al Tabiaa um den Protagonisten Dr. Refaat Ismael. Zeitgleich begann er, in Online- und Print-Zeitschriften Artikel zu publizieren. Besonders mit seinen Romanen gewann Towfik große Bekanntheit und Beliebtheit beim arabischen Lesepublikum. Er starb 2018 in Kairo. David Rodríguez Trueba (geb. 1969 in Madrid) absolvierte ein Journalismus-Studium an der Universidad Complutense de Madrid, belegte 1992 einen Drehbuchkurs am American Film Institute in Hollywood und arbeitete bereits vorher als Texter sowie Journalist für El País und El Mundo. Zu den Autor:innen

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1996 gelang dem Drehbuchautor mit dem Kinofilm La buena vida der Sprung zur Regie. 2013 schrieb und realisierte er seinen erfolgreichsten Film Vivir es fácil con los ojos cerrados, mit dem er sieben Goya-Filmpreise gewann. Der Dokumentarfilm Balseros (2002), bei dem er gemeinsam mit Carles Bosch als Produzent und Drehbuchautor fungierte, erhielt eine Oscar-Nominierung. 2004–2007 war Trueba Vizepräsident der Spanischen Filmakademie. Einige seiner journalistischen Kolumnen sind in Sammelbänden erschienen, zudem ist er seit seinem Debütroman Abierto toda la noche (1995) erfolgreicher Schriftsteller. Sein dritter Roman Saber perder (2008) führte wochenlang Spaniens Bestsellerliste an, erschien in 15 Ländern, erhielt den nationalen Kritikerpreis und kam 2010 in französischer Übersetzung auf die Shortlist des Prix Médicis. Zuletzt erschien sein siebter Roman Queridos niños (2021). Galsan Tschinag (geb. 1943 als Irgit Schynykbai-oglu Dshurukuwaa im Bajan-Ölgii-Aimag/Hohen Altai, Mongolei) ist Oberhaupt eines Stammes turksprachiger Tuwiner und wurde als Fünfjähriger von seiner „Schamanen-Tante Pürwü“ ins Heilen eingeführt. Geprägt von den Gesängen und Epen seines Volkes schrieb er als Internatsschüler erste Gedichte. 1962 erhielt er ein Stipendium für ein Germanistikstudium in Leipzig, lernte in der DDR Deutsch und schloss 1968 als Jahrgangsbester summa cum laude mit einer Diplomarbeit über Erwin Strittmatter ab. Daneben arbeitete er mit der Leipziger Mongolistin Erika Taube an der Aufzeichnung, Transkription und Übersetzung tuwinischer mündlicher Folklore. Zurück in der Mongolei, war er als landesweit erster Diplomgermanist Dozent an der Staatsuniversität in Ulaanbaatar und später Regierungsdolmetscher. Nachdem er 1976 wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ mit einem Berufsverbot belegt wurde, arbeitete er als Übersetzer und Journalist. Die Titelgeschichte seines auf Deutsch verfassten Debüts Eine tuwinische Geschichte und andere Erzählungen (1981) wurde 1991 in der Mongolei verfilmt. Bisher publizierte er mehr als 40 Romane, Erzähl- und Lyrikbände in deutscher Sprache, die in zwölf weitere Sprachen übersetzt wurden. Für seine Bemühungen um interkulturelle Verständigung erhielt er 2002 das Bundesverdienstkreuz. 2021 erreichte er sein Ziel, eine Million Bäume zu pflanzen, und wurde in der Mongolei als führender Umweltschützer ausgezeichnet.

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Zu den Autor:innen

Radu Țuculescu (geb. 1949 in Târgu Mureș, Rumänien) gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Dramatiker und Romanautoren Rumäniens. Er besuchte die deutsche Schule in Reghin, die Musikgymnasien in Târgu Mureș und Cluj und absolvierte 1972 die Musikakademie „Gheorghe Dima“ in Cluj-Napoca im Fachbereich Violine. Daneben leitete er 1967–1974 den Theater- und Pantomimezirkel „Atelier“. Nach seinem Hochschulabschluss begann er als Redakteur bei Radio Cluj. Als dieses auf Anordnung Nicolae Ceaușescus 1985 geschlossen wurde, wechselte er als Geiger zur Staatlichen Philharmonie. Er schrieb journalistisch für verschiedene Zeitungen und begann nach dem Sturz des Regimes im Dezember 1989 als Redakteur und Produzent bei der Fernsehgesellschaft Televiziunea Română, wo er 1990–1996 Leiter der musikalisch-kulturellen Abteilung war. Sein literarisches Debüt gab er 1966 mit Gedichten in der Zeitschrift Steaua. Nach zwei Kurzprosa-Bänden erschien 1982 sein erster Roman Vânzătorul de aripi (Der Flügelverkäufer). Țuculescu arbeitet auch als Übersetzer aus dem Deutschen. Cuptorul cu microunde (1995; Der Mikrowellenherd: Der Roman eines Plattenbaus in zehn Aufzügen, 2008) wurde in Rumänien als Buch des Jahres ausgezeichnet, ebenso der autobiografische Roman Stalin cu sapa-nainte (2009; Stalin, mit dem Spaten voran!, 2018). 2022 erschien sein jüngster Roman Crima de pe podul Garibaldi (Mord auf der Garibaldi-Brücke). Szczepan Twardoch (geb. 1979 in Knurów, Polen) ist einer der prominentesten Schriftsteller Polens. Er schreibt auf Polnisch, bekennt sich jedoch zur schlesischen Minderheit; seine Muttersprache ist das mit Deutsch gemischte Schlesisch, auch „Wasserpolnisch“ genannt. Twardoch ging in Gliwice aufs Gymnasium, studierte Soziologie und Philosophie in Katowice und arbeitete als freier Journalist, Kolumnist und Redakteur. Er veröffentlichte zunächst Kurzgeschichten. 2007 folgten die Romane Sternberg und Epifania wikarego Trzaski. Mit Veröffentlichung seines sechsten Romans gelang ihm der internationale Durchbruch: Morfina (2012; Morphin, 2014) war in Polen ein Beststeller, wurde mit dem Pasz-port-Polityki-Preis, dem Nike-Publikumspreis und dem Kościelski-Preis ausgezeichnet sowie 2017 für den Prix du Livre Européen nominiert. Drach (2014) gewann 2016 den Deutschen Literaturpreis Brücke Berlin. Der Roman Król (2017; Der Boxer, 2018) über polnische Juden im Warschau der Zwischenkriegsjahre verkaufte sich binnen weniger Monate über 100.000-mal. 2020 erschien in Polen die gleichnamige TV-Serienadaption. Der Folgeroman Zu den Autor:innen

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Królestwo (2018; Das schwarze Königreich, 2020) spinnt die Geschichte des Unterweltkönigs Jakub Shapiro fort. 2022 erschienen sowohl die deutsche Übersetzung von Pokora (2020; Demut) als auch sein jüngster Roman Chołod. Twardoch lebt abwechselnd in Pilchowice und Warschau. 2019 erhielt er den deutsch-polnischen Samuel-Bogumił-Linde-Preis. Vlada Urošević (geb. 1934 in Skopje, Königreich Jugoslawien) gilt als einer der wichtigsten Vertreter der mazedonischen Moderne, mit thematischem Fokus auf Phantastik, Wunderbarem, Surrealität und Traum. Er studierte bis 1957 Literaturgeschichte der Völker Jugoslawiens an der Universität Skopje, wurde dort 1982 Assistenzprofessor und 1988, ein Jahr nach seiner Promotion, ordentlicher Professor am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Er übersetzte serbische, slowenische, russische sowie moderne französische Gedichte ins Mazedonische, war Mitherausgeber der Literatur- und Kulturzeitschrift Razgledi und veröffentlichte mehr als 50 Bücher, darunter Anthologien, Studien, Rezensionen und Essays. Sein literarisches Debüt gab er 1959 mit der Gedichtsammlung Eden drug grad (Eine andere Stadt), 1965 folgte das Romandebüt Vkusot na praskite (Der Geschmack von Pfirsichen), 1969 die erste Kurzgeschichtensammlung Знаци (zu Deutsch: Zeichen). Urošević ist u. a. Mitglied des mazedonischen PEN-Zentrums, der Mazedonischen Akademie der Wissenschaften und Künste sowie ordentliches Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Salzburg und korrespondierendes Mitglied der Académie Mallarmé in Paris. Für seine Verdienste um die Übersetzung und Förderung französischer Literatur wurde er zum Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres ernannt. Mario Vargas Llosa (geb. 1936 in Arequipa, Peru) wuchs in Bolivien und diversen peruanischen Städten auf. Als Schüler in Piura und Lima arbeitete er für Lokalzeitungen und brachte sein erstes Theaterstück zur Aufführung. An der Nationalen Universität San Marcos in Lima begann er ein Jura- und Literaturstudium, wovon er letzteres abschloss. Nebenbei veröffentlichte er Erzählungen und schrieb für verschiedene Printmedien. Er promovierte ab 1959 über Gabriel García Márquez an der Universität Complutense Madrid. Zeitgleich erhielt sein Erzählband-Debüt Los jefes (1959; Die Anführer, 2001) den Leopoldo-Alas-Preis. Sein erster Roman La ciudad y los perros (1963; Die Stadt und die Hunde, 1966) erschien 326

Zu den Autor:innen

noch während seines Studiums und wurde 1985 verfilmt. Nach Stationen in Paris, London und Barcelona kehrte er 1974 in seine Heimat zurück, wo er als liberaler Politiker zur Präsidentschaftswahl 1990 antrat und in der Stichwahl unterlag. Seither lebt er hauptsächlich in Madrid, 1993 erhielt er zusätzlich die spanische Staatsbürgerschaft. Neben Romanen und Erzählungen schreibt er für die Tageszeitung El País. Vargas Llosa ist Ehrendoktor verschiedener amerikanischer und europäischer Universitäten und hatte Gastprofessuren u. a. in Harvard (1992), Princeton (1993) und Oxford (2004) inne. 2010 wurde ihm der Literaturnobelpreis verliehen. Obwohl er nie in französischer Sprache schrieb, wurde er im Februar 2023 in die Académie française aufgenommen und ist Ritter der Ehrenlegion (1985), Offizier (1988) sowie Komtur (1993) des Ordre des Arts et des Lettres. 2011 erhob ihn Spaniens König als Markgraf in den Adelsstand. Seine politische Haltung ist umstritten. Dragan Velikić (geb. 1953 in Belgrad, Jugoslawien) zählt zu den weltweit bekanntesten zeitgenössischen Autoren Südosteuropas. Er wuchs in Pula auf und studierte Weltliteratur in Belgrad. Anfang der 1990er Jahre war er Kolumnist mehrerer Wochenzeitschriften, darunter einer regimekritischen. Ab 1994 war er Redakteur und später Cheflektor des Verlags B92 in Belgrad sowie Leiter des gleichnamigen Radiosenders. Während des Kosovokrieges 1999 lebte er vorübergehend in Wien, Budapest und Berlin. Er gilt als einer der mutigsten kritischen Literaten der Regierungszeit von Slobodan Milošević und kritisierte wiederholt den antidemokratischen Kurs des 2017 gewählten Präsidenten Serbiens, Aleksandar Vučić. Nach zwei Erzählbänden erschien 1988 sein Romandebüt Via Pula (1991). 2007 erhielt er mit Ruski prozor (2008) den NIN-Literaturpreis für den besten serbischsprachigen Roman, ebenso für seinen jüngsten Roman Islednik (2015; Jeder muss doch irgendwo sein, 2017). Velikić war 2005–2009 Botschafter Serbiens in Österreich, ist Mitglied der Serbischen Literaturgesellschaft und Unterzeichner der 2017 veröffentlichten Deklaration zur gemeinsamen Sprache der Kroaten, Serben, Bosniaken und Montenegriner. Seine Bücher wurden in fünfzehn europäische Sprachen und ins Arabische übersetzt. Gary Victor (geb. 1958 in Port-au-Prince, Haiti) gehört zu den meistgelesenen und subversivsten Schriftstellern seines Heimatlandes. Nach einem Studium der Agrarwissenschaften arbeitete er als Beamter u. a. in Haitis Zu den Autor:innen

327

Entwicklungsministerium, bevor er Journalist wurde sowie als Drehbuchautor für Radio, Film und Fernsehen arbeitete. Bis Juni 2004 war er Chefredakteur der Tageszeitung Le Matin. Von 1976 bis 1983 veröffentlichte Victor Kurzgeschichten in der staatlichen Zeitung Le Nouveau Monde und anschließend in der Tageszeitung Le Nouvelliste, wo er 1983–1990 Kolumnist war. Sein erster von 13 Kurzgeschichtenbänden erschien 1981 mit Symphonie pour demain; 1990 folgte sein Romandebüt Clair de Manbo. Bisher erschienen mehr als 20 weitere Romane, sechs Theaterstücke, Essays sowie 2006 eine Sammlung von Radiosketchen, die auf Radio Metropole in Port-au-Prince ausgestrahlt wurden. Bekannt ist er im deutschsprachigen Raum durch die Übersetzung seiner bisher vierbändigen Kriminalroman-Reihe rund um Inspektor Dieuswalwe Azémar. Für sein Werk wurde er u. a. 2008 mit dem Prix littéraire des Caraïbes ausgezeichnet. 2001 ernannte ihn Frankreich für seine Werke in französischer Sprache zum Ritter des nationalen Verdienstordens. Ramón Villerò (geb. 1955 in Andorra la Vella, Andorra) schloss 1976 sein Jurastudium an der Universitat de Barcelona ab und arbeitete anschließend zehn Jahre lang als Anwalt. Daneben begann er zu fotografieren und Artikel in Reisemagazinen zu veröffentlichen. Seit 1990 arbeitet er als freier Journalist und ist derzeit Mitwirkender des Radioprogramms „Gente Viajera“ beim spanischen Sender Onda Cero sowie Kolumnist für Diari d’Andorra und Herausgeber des digitalen Reisejournals Viajes Magazine. Neben Reiseführern über verschiedene Städte und Regionen der Welt schreibt Villerò Romane. Sein auf Katalanisch verfasster Erstling Leonard, l’amor ha mort a l’India erschien 1983. Abdourahman A. Waberi (geb. 1965 in Dschibuti-Stadt) ging mit zwanzig Jahren nach Frankreich, wo er Englische Literatur in Caen und Dijon studierte. 1994 publizierte er erstmals eine Sammlung Kurzgeschichten unter dem Titel Le Pays sans ombre, die mit dem Grand prix de la Nouvelle francophone und dem Prix Albert Bernard ausgezeichnet wurden. Seitdem verfasste er zahlreiche Bände mit Kurzgeschichten, Romane, Novellen und Gedichte, die ins Englische, Italienische, Spanische, Serbische, Portugiesische und Deutsche übersetzt wurden. Für Cahier Nomade erhielt der Autor 1996 den Grand Pix de l’Afrique noire. Ende der 1990er setzte sich Waberi im Zuge des Projektes Rwanda: écrire par devoir de mémoir gemeinsam mit anderen Künstler:in328

Zu den Autor:innen

nen mit dem Genozid in Ruanda auseinander. Darüberhinaus war Waberi als Lehrer und Literaturkritiker in Caen tätig und veröffentlicht journalistische Artikel u. a. in Le Monde diplomatique. 2006 war er Gast des DAAD Berlin, 2016 bis 2017 hatte er eine Samuel-­Fischer-Gastprofessur in Berlin inne und lehrt heute als Professor am Wellesley-College nahe Boston. Derek Walcott (geb. 1930 in Castries, St. Lucia) publizierte bereits in jungen Jahren erste Gedichte und brachte mit 19 Jahren seine ersten zwei Gedichtbände 25 Poems und Epitaph for the Young im Selbstverlag heraus. Mit einem Stipendium studierte er Latein, Spanisch und Französisch an der University of the West Indies und zog anschließend nach Trinidad. Dort arbeitete er als Journalist, Kritiker und Lehrer und gründete in den 1950er Jahren den Trinidad Theatre Workshop, wo er eigene und fremde Theaterstücke inszenierte. 1981 rief er an der Boston University das Boston Playwrights’ Theatre ins Leben und lehrte dort bis 2007 Literatur und Schreiben. Ab 2009 hatte er eine Gastprofessur an der University of Alberta inne und war von 2010 bis 2013 Professor of Poetry an der University of Essex. Für sein Schaffen wurde Walcott mit zahlreichen Preisen geehrt: So war er seit 1979 Ehrenmitglied der amerikanischen Academy of Arts and Letters, 1992 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, 1993 erhielt er für sein Werk das Trinity Cross, 2010 für White Egrets den T. S. Eliot Preis und 2015 den Griffin Trust for Excellence in Poetry’s Lifetime Achievement Award. Walcott verstarb 2017 auf St. Lucia. Albert Wendt (geb. 1939 Apia, Westsamoa) ist Sohn deutsch-polynesischer Eltern und zog mit 13 Jahren von Samoa nach Neuseeland, wo er mit einem staatlichen Stipendium die Highschool in New Plymouth besuchte. Nach seinem Schulabschluss studierte er bis 1959 zunächst Englisch und Kunst und danach in Wellington Geschichte. Anschließend arbeitete er als Volksschullehrer und wurde später als Universitätsprofessor für Literatur aus dem Pazifik tätig. Er gründete Whetu Moana, die erste Literaturzeitschrift Samoas, die er von 1977 bis 1982 herausgab. 1979 erschien sein wohl bekanntestes Buch Leaves of the Banyan Tree, das Wendt zu einem international renommierten Autor machte. Zudem engagierte er sich für die Geschichte, Kultur, Literatur und Erzähltradition Samoas und des pazifischen Raumes und wurde so zu einer führenden Figur in der literarischen Welt seines Heimatlandes. Vom 1988 bis zu seiner Emeritierung lehrt er Zu den Autor:innen

329

Moderne Literatur, Creative Writing und Pazifikstudien an der Universität in Auckland. Für sein Werk wurde Wendt u. a. mit einer Ehrenprofessur an der Université de Bourgogne in Dijon geehrt, erhielt den Goodman Fielder Wattie Book Award, den Commonwealth Writers’ Prize und wurde 2012 mit dem Prime Minister’s Award for Literary Achievement ausgezeichnet. Andrej Wolos (geb. 1956 in Stalinaba, heute Duschanbe, Tadschikistan) studierte in Moskau Geophysik an der Universität für Erdölchemie und Gasindustrie. Nach seinem Studium ging er zurück in sein Heimatland und begann als Geophysiker zu arbeiten, zu schreiben und Gedichte in die tadschikische Sprache zu übersetzen. 1979 debütierte er mit eigenen Gedichten im Magazin Pamir. Ende der 1980er begann er auch Prosa zu veröffentlichen; 2000 erschien sein erster Roman Churramobod, für dessen Manuskript er bereits 1998 den russischen Anti-Booker-Preis erhielt und der 2001 mit dem State Prize of the Russian Federation in Literature and Arts ausgezeichnet wurde. 2013 wurde der Autor mit dem russischen Booker Prize für Vozvrashchenye v Pandshrud und mit dem Ivan-Bunin-Literaturpreis geehrt. Wu Ming, was auf Mandarin je nach Betonung des „wu“ entweder „ohne Namen“ oder „fünf Namen“ bedeutet, ist der Name eines ursprünglich aus fünf Mitgliedern bestehenden italienischen Schreibkollektivs, das historisches Erzählen aus alternativer Perspektive praktiziert. Die Mitglieder sind medienscheu, jedoch durch Lesungen namentlich bekannt: Roberto Bui (Wu Ming 1), Giovanni Cattabriga (Wu Ming 2), Luca Di Meo (Wu Ming 3 – bis Frühling 2008), Federico Guglielmi (Wu Ming 4) und Riccardo Pedrini (Wu Ming 5). Hervorgegangen ist das Kollektiv im Jahr 2000 aus dem 1994 gestarteten Bologneser Projekt „Luther Blissett“; unter der gemeinsamen Identität dieses Medienphantoms verbreitete die Gruppe aus Künstlern und Aktivisten u. a. Fake-Meldungen über satanische Messen in Bologna und entwendete Heiligenstatuen aus Kirchen. Der 1999 unter „Luther Blissett“ veröffentlichte Roman Q (2002) entstand als finaler Beitrag des Projekts und avancierte zum internationalen Bestseller mit Übersetzungen in 18 Sprachen. In der Folge entstand die Gruppe Wu Ming. Alle Romane des Kollektivs werden unter einer Copyleft-Lizenz kostenlos als Downloaddateien ohne Urheberrecht auf seiner Website angeboten, wobei aktiv zum Plagiat aufgerufen wird. Wu Ming negiert die Idee eines Autors und vertritt die Ansicht, dass niemand Anspruch auf geistiges Eigentum erheben kann. 330

Zu den Autor:innen

Yan Ge (geb. 1984 als Dai Yuexing in Sichuan) begann schon in jungen Jahren zu schreiben und publizierte bereits mit 17 Jahren ihre erste Sammlung von Kurzgeschichten. An der Universität von Sichuan absolvierte sie ein Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft und widmete sich anschließend ihrer Karriere als Autorin. Mit May Queen gelang ihr 2008 der literarische Durchbruch. Seitdem zählt sie zu den bedeutendsten jungen Schriftsteller:innen Chinas und wurde für ihr Werk mehrfach ausgezeichnet. Ihre Texte erschienen in renommierten Zeitungen wie der New York Times, The Irish Times, Times Literary Supplement oder dem Stand Magazine und wurden bereits mehrfach übersetzt, etwa ins Deutsche, Englische und Französische. 2018/19 wurde Yan Ge mit dem UEA International Award ausgezeichnet, die englische Übersetzung ihres Romans The Chili Bean Paste Clan erhielt den PEN Translates Award, und 2020 wurde sie für den Warwick Prize for Women in Translation nominiert. Sie schreibt auf Chinesisch und Englisch und lebt heute mit ihrer Familie in Norwich. Ali Zamir (geb. 1987 in Mutsamudu auf der Insel Anjouan, Komoren) studierte als Sohn einer Analphabetin mittels Stipendium Zeitgenössische Literatur an der Universität Kairo und kehrte anschließend zurück nach Anjouan, wo er sich in der Kommunalpolitik aktiv für nachhaltige Entwicklung einsetzt und mehrere offizielle Ämter innehatte. Bis 2016 war er Generalsekretär des Collectif du Patrimoine des Comores. Im selben Jahr erschien sein auf Französisch verfasster und preisgekrönter Debütroman Anguille sous roche (Die Schiffbrüchige) der von der Zeitschrift Télérama in die Liste der besten Bücher des Jahres 2016 aufgenommen und in mehrere Sprachen übersetzt wurde, darunter Englisch, Deutsch und Niederländisch. Auf Einladung eröffnete er 2017 die Schriftstellerresidenz von Montpellier Méditerranée Métropole im archäologischen Museum Henri Prades in Lattes und wohnte dort fünf Monate lang, um seinen zweiten Roman Mon Étincelle (2017) zu schreiben. Zuletzt erschien der Roman Dérangé que je suis (2019), für den er den Literaturpreis France Télévisions erhielt. Serhij Zhadan (geb. 1974 in Starobilsk/Oblast Luhansk, Ukrainische Sowjetrepublik) wuchs in der Ostukraine und später in Charkiw auf, wo er Ukrainistik und Germanistik studierte und über die ukrainischen futuristischen Schriftsteller der 1920er Jahre promovierte. Er lehrte bis 2004 Ukrainische und Weltliteratur und arbeitet seither als freiberuflicher Zu den Autor:innen

331

Schriftsteller und Übersetzer. 1995 erschienen die ersten beiden von bisher 13 Gedichtbänden; der bekannteste darunter ist Istorija kul’tury pocatku stolittja (2003; Die Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts, 2006). Sein Romandebüt gab er mit Depeš Mod (2004; Depeche Mode, 2007), gefolgt von zahlreichen Romanen und Erzählbänden. 2006 erhielt er den Hubert-Burda-Preis für junge osteuropäische Dichter, 2014 gemeinsam mit seinen Übersetzern den Literaturpreis „Brücke Berlin“ für den Roman Vorošilovgrad (2010; Die Erfindung des Jazz im Donbass, 2012), der von BBC Ukraine zum „Buch des Jahrzehnts“ 2005–2014 gewählt wurde. Bei der Leipziger Buchmesse 2018 wurde die Übersetzung seines jüngsten Romans Internat (2017) ausgezeichnet. Zhadan war als Aktivist an der Orangenen Revolution beteiligt und nahm an der Euromaidan-Bewegung in Charkiw teil. 2022 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und wurde für seine Schilderung des (Über-)Lebens im Krieg von 2014 mit dem Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken geehrt. Zuletzt erschien: Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg (2022). Joost Zwagerman (geb. 1963 in Alkmaar, Niederlande; gest. 2015 in Haarlem) zählt zu den meistgelesenen niederländischen Autoren. Aus einer Lehrerfamilie stammend, ging er seinen Eltern zuliebe an die Pädagogische Akademie in Bergen, studierte vier Jahre in Amsterdam Niederländische Sprache und Literatur und brach kurz vor Abschluss ab, um sich aufs Schreiben zu konzentrieren. 1986 erschien sein Debütroman De Houdgreep. Den Durchbruch schaffte er mit seinem fünften Buch, dem zweiten Roman Gimmick! (1989; dt. 2018), der eine Auflage von 200.000 erreichte und als Theaterstück adaptiert wurde. Am erfolgreichsten war sein vierter Roman De buitenvrouw (1994; Die Nebenfrau, 2000). Neben Prosa schrieb er essayistische Kunstreflexionen sowie Gedichte; sein erster Lyrikband Langs de doofpot erschien 1987. Zudem war er Kolumnist verschiedener Zeitungen sowie regelmäßiger Talkshow-Gast und Moderator der TV-Sendung „Zomergasten“. 2008 wurde er mit dem Literaturpreis „Gouden Ganzenveer“ ausgezeichnet. Er litt an Morbus Bechterew und zog 2011 von Amsterdam nach Haarlem. Die Themen Depression und Selbsttötung verarbeitete er bereits ab 2000 mehrfach literarisch, ausgehend vom Suizidversuch seines Vaters 1998. 2015 wählte er selbst den Freitod.

332

Zu den Autor:innen

Tabellarische Übersicht

333

Aborigines

Afghanistan

Ägypten

Albanien

Algerien

Andorra

Angola

Antarktis

Antigua und Barbuda

Äquatorialguinea

Argentinien

Armenien

Aserbaidschan

Äthiopien

Australien

Bangladesh

Barbados

Baskenland

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9

10

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13

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15

16

17

18

Aramburu, Fernando

Lamming, George

Bose, Buddhaveda

Carey, Peter

Mengestu, Dinaw

Aylisli, Akram

Adaljan, Norajr

Jeanmaire, Federico

Mbomío Bacheng, Joaquín

Kincaid, Jamaica

Arthur, Elizabeth

Agualusa, José Eduardo

Villerò, Ramón

Khadra, Yasmina

Kadare, Ismail

Towfik, Ahmed Khaled

Rahimi, Atiq

Morgan, Sally – McPhee, Jack

Patría

Zeit der Abenteuer

Das Mädchen meines Herzens

Mein Leben als Fälschung

Zum Wiedersehen der Sterne

Steinträume

Schuld und Liebe

Richtig hohe Absätze

Ein guter Fang

Nur eine kleine Insel

Eislandfahrt

Das Lachen des Geckos

Das Lächeln der Erde

Die Schuld des Tages an die Nacht

Ein folgenschwerer Abend

Utopia

Stein der Geduld

Wanamurraganya

spanisch

englisch

bengalisch

englisch

amerikanisch

russisch

armenisch

spanisch

spanisch

englisch

amerikanisch

portugiesisch

spanisch

französisch

albanisch

arabisch

französisch

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1962

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2016

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2004

2005

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2009

2008

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2020-12-30

2021-04-05

2020-08-08

2020-01-19

2020-02-06

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2020-06-08

2019-09-19

2020-04-05

2020-04-16

2021-03-20

2019-09-02

2021-04-20

2019-11-03

2019-10-19

2019-06-30

2019-12-06

2020-09-24

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Tabellarische Übersicht (vgl. die ‚Gebrauchsanweisung‘ S. 16)

334

Tabellarische Übersicht

Burundi

Caboverde

Chile

China

Costa Rica

Côte d’Ivoire

29

30

31

32

33

34

Dominikanische Republik

Burkina Faso

28

39

Bulgarien

27

Dominica

Brasilien

26

38

Botswana

25

Deutschland

Bosnien und Herzegowina

24

37

Bolivien

23

Dänemark

Benin

22

36

Belize

21

Dagestan

Belgien

20

35

Belarus

19

Díaz, Junot

Rhys, Jean

Regener, Sven

Jepsen, Erling

Ganijewa, Alissa

Kourouma, Ahmadou

Herra, Rafael Ángel

Yan Ge

Rivera Letelier, Hernán

Almeida, Germano

Faye, Gaël

Ki, Lawagon Alex Romeó

Gospodinov, Georgi

Ruffato, Luiz

Dow, Unity

Karahasan, Dževad

Hasbún, Rodrigo

Assani-Razaki, Ryad

Edgell, Zee

Dehouck, Bram

Martinowitsch, Viktor

Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao

Die weite Sargassosee

Wiener Straße

Die Kunst im Chor zu weinen

Die russische Mauer

Allah muss nicht gerecht sein

Das göttliche Lumpenpack

Frau Duan feiert ein Fest

Die Filmerzählerin

Das Testament des Herrn Napumoceno

Kleines Land

Der Werdegang eines Deutschlehrers aus Burkina Faso. Ich gebe nicht auf.

Physik der Schwermut

Es waren viele Pferde

Die Beichte

Der Trost des Nachthimmels

Die Affekte

Iman

Beka

Der Psychopath

Paranoia

russisch

amerikanisch

englisch

deutsch

dänisch

russisch

französisch

spanisch

chinesisch

spanisch

portugiesisch

französisch

deutsch

bulgarisch

portugiesisch

englisch

bosnisch

spanisch

französisch

englisch

flämisch

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2000

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2009

1991

2016

2019

2012

2001

2002

2015

2015

2011

1982

2012

2010

2019-12-27

2020-08-30

2019-05-26

2019-09-18

2020-11-14

2020-05-31

2019-12-14

2019-04-18

2019-05-27

2020-04-22

2019-04-14

2021-06-08

2019-05-08

2019-10-10

2019-12-31

2019-08-26

2020-04-14

2020-06-28

2020-10-19

2019-09-19

2019-12-29

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Tabellarische Übersicht

335

Dschibuti

Ecuador

El Salvador

England

Eritrea

Estland

Eswatini

Färöer

Fidji

Finnland

Frankreich

Gabun

Georgien

Ghana

Grenada

Griechenland

Grönland

Guatemala

Guinea

Guinea-Bissau

Guyana

Haiti

Honduras

40

41

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43

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50

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59

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61

62

Amaya-Amador, Ramón

Victor, Gary

Melville, Pauline

Sila, Abdulai

Monénembo, Tierno

Halfon, Eduardo

Korneliussen, Nivaq

Karystiani, Ioanna

Buckell, Tobias S.

Quartey, Kwei

Bugadze, Lasha

Otsiemi, Janis

Binet, Laurent

Oksanen, Sofi

Singh, Nalini

Brú, Hedin

Nunn, Malla

Hargla, Indrek

Abu Bakr Khaal

McCarthy, Tom

Galán, Jorge

Icaza, Jorge

Waberi, Abdourahman A.

Aufstand in Tegucigalpa

Schweinezeiten

Der Bauchredner

Zwei Schüsse und ein Lachen

Cinema

Der polnische Boxer

Nuuk ohne Filter

Die Augen des Meeres

Kristallregen

Accra

Der Literaturexpress

Libreville

Die siebte Sprachfunktion

Die Sache mit Norma

Im grausamen Licht der Sonne

Vater und Sohn unterwegs

Ein schöner Ort zu sterben

Apotheker Melchior und das Rätsel der Olaikirche

Die Titanic – auf afrikanische Art

8 ½ Millionen

Mein dunkles Herz

Caballero in geborgtem Frack

In den Vereinigten Staaten von Afrika

spanisch

französisch

englisch

portugiesisch

französisch

spanisch

dänisch

griechisch

amerikanisch

amerikanisch

georgisch

französisch

französisch

finnisch

amerikanisch

färöisch

englisch

estnisch

arabisch

englisch

spanisch

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2006

2006

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2015

2019

1940

2008

2010

2008

2006

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1958

2020-05-06

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2021-05-26

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336

Tabellarische Übersicht

Hongkong

Indien

Indonesien

Inuit

Irak

Iran

Irland

Island

Israel

Italien

Jamaika

Japan

Jemen

Jordanien

Kambodscha

Kamerun

Kanada

Kasachstan

Katalonien

Kenia

Kirgisistan

Kolumbien

Komoren

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Zamir, Ali

Álvarez, Sergio

Aitmatow, Tschingis

Adhiambo Owuor, Yvonne

Cabré, Jaume

Otarbayev, Rakhymzhan

Munro, Alice

Mbue, Imbolo

Ratner, Vaddey

Faqir, Fadia

Alahmadi, Galal

Nakamura, Fumimori

James, Marlon

Wu Ming

Gundar-Goshen, Ayelet

Thorsson, Guðmundur Andri

Ryan, Donal

Doulatabadi, Mahmud

Khider, Abbas

Tagaq, Tanya

Kurniawan, Eka

Singh, Avtar

Chan, Ho-Kei

Die Schiffbrüchige

35 Tote

Der Schneeleopard

Der Ort, an dem die Reise endet

Das Schweigen des Sammlers

Der Schädel

Liebes Leben

Das geträumte Land

Im Schatten des Banyanbaums

Wie Säulen aus Salz

Die Leere der Vase

Der Dieb

Eine kurze Geschichte von sieben Morden

Manituana

Lügnerin

In den Wind geflüstert

Die Gesichter der Wahrheit

Der Colonel

Die Orangen des Präsidenten

Eisfuchs

Schönheit ist eine Wunde

Nekropolis

Das Auge von Hongkong

französisch

spanisch

russisch

englisch

katalanisch

kasachisch

englisch

amerikanisch

englisch

englisch

arabisch

japanisch

englisch

italienisch

hebräisch

isländisch

englisch

persisch

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indonesisch

englisch

englisch

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Tabellarische Übersicht

337

Kongo DR

Kongo-Brazzaville

Kosovo

Kroatien

Kuba

Kurdisch

Kuwait

Lesotho

Lettland

Libanon

Liberia

Libyen

Liechtenstein

Litauen

Luxemburg

Madagaskar

Malawi

Malaysia

Mali

Malta

Maori

Marokko

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Azzeddine, Saphia

Grace, Patricia

Friggieri, Oliver

Ouologuem, Yambo

Tan, Twan Eng

Kambalu, Samson

Rakotoson, Michèle

Graas, Marc

Ivanauskaité, Jurga

Öhri, Armin

Matar, Hisham

Sherif, Vamba

Humaidan, Iman

Rukšāne, Dace

Mofolo, Thomas

Ismail Fahd Ismail

Ali, Bachtyar

Guerra, Wendy

Popović, Edo

Kureyshi, Meral

Mabanckou, Alain

Mwanza Mujila, Fiston

Bilqiss

Potiki

Das Feuerwerk

Das Gebot der Gewalt

Der Garten der Abendnebel

Jive Talker

Die verbotene Frau

Das Theaterstück von Norvik

Placebo

Die dunkle Muse

Im Land der Männer

Geheimauftrag in Wologizi

Andere Leben

Warum hast du geweint

Chaka Zulu

Die alte Frau und der Fluss

Der letzte Granatapfel

Alle gehen fort

Ausfahrt Zagreb-Süd

Elefanten im Garten

Black Bazar

Tram 83

französisch

englisch

englisch

französisch

englisch

englisch

französisch

deutsch

litauisch

deutsch

englisch

niederländisch

arabisch

lettisch

sesotho

arabisch

kurdisch

spanisch

kroatisch

deutsch

französisch

französisch

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338

Tabellarische Übersicht

Nepal

Neuseeland

Nicaragua

Niederlande

Niger

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122

Österreich

Namibia

117

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Myanmar

116

Norwegen

Mosambik

115

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Montenegro

114

Nordmazedonien

Mongolei

113

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Monaco

112

Nordkorea

Moldawien

111

124

Mexiko

110

Nigeria

Mauritius

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123

Mauretanien

108

Piuk, Petra

Petterson, Per

Urošević, Vlada

Bandi

Adichie, Chimamanda Ngozi

Kanta, Abdoua

Zwagerman, Joost

Belli, Gioconda

Jones, Lloyd

Thapa, Manjushree

Orford, Margie

Thanegi, Ma

Couto, Mia

Nikolaidis, Andrej

Tschinag, Galsan

Gatti, Armand

Nedov, Pyotr Magnus

Melchor, Fernanda

Appanah, Nathacha

Ould Breideleil, Mohamed Yehdhih

Toni und Moni oder: Anleitung zum Heimatroman.

Pferde stehlen

Meine Cousine Emilia

Denunziation

Blauer Hibiskus

Lelee das Hirtenmädchen

Duell

Die Republik der Frauen

Die Frau im blauen Mantel

Geheime Wahlen

Blutrose

Pilgerreise in Myanmar

Das Geständnis der Löwin

Der ungarische Satz

Gold und Staub

Kleines Handbuch der Stadtguerilla

Zuckerleben

Saison der Wirbelstürme

Blue Bay Palace

Von Menschen und Kamelen: Maurische Geschichten

deutsch

norwegisch

mazedonisch

koreanisch

englisch

französisch

niederländisch

spanisch

englisch

englisch

englisch

englisch

portugiesisch

bosnisch

deutsch

französisch

deutsch

spanisch

französisch

französisch

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Tabellarische Übersicht

339

Pakistan

Palästina

Panama

Papua-Neuguinea

Paraguay

Peru

Philippinen

Polen

Portugal

Quechua

Roma

Ruanda

Rumänien

Russland

Sambia

Samoa

Sao Tomé und Principé

Saudi-Arabien

Schottland

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146

Smith, Ali

Alsanea, Rajaa

Sousa Tavares, Miguel

Wendt, Albert

Banda-Aaku, Ellen

Sorokin, Vladimir

Ţuculescu, Radu

Gatore, Gilbert

Maximoff, Matéo

Arguedas, José Maria

Lobo Antunes, António

Twardoch, Szczepan

Sionil José, Francisco

Vargas Llosa, Mario

Gertopán, Susana

Kiki, Albert Maori

Fonseca Mora, Ramón

Khalifa, Sahar

Hamid, Mohsin

Es hätte mir genauso

Die Girls von Riad

Am Äquator

Die Blätter des Banyanbaums

Patchwork

Der Schneesturm

Metzgerei Kennedy

Das lärmende Schweigen

Die Ursitory

Fiesta des Blutes

Gestern in Babylon hab ich dich nicht gesehen

Drach

Gagamba

Das böse Mädchen

Die dunkle Gasse

Ich lebe seit 10000 Jahren

Der Tanz der Schmetterlinge

Heißer Frühling

So wirst du stinkreich im boomenden Asien

englisch

arabisch

portugiesisch

englisch

englisch

russisch

rumänisch

französisch

französisch

spanisch/ quetchua

portugiesisch

polnisch

englisch

spanisch

spanisch

englisch

spanisch

arabisch

englisch

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340

Tabellarische Übersicht

Schweden

Schweiz

Senegal

Serbien

Sierra Leone

Simbabwe

Singapur

Slowakei

Slowenien

Somalia

Sorbisch

Spanien

Spokane

Sri Lanka

St. Kitts und Nevis

St. Lucia

Südafrika

Sudan

Südkorea

Surinam

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McLeod, Cynthia

Han Kang

Aboulela, Leila

Omotoso, Yewande

Walcott, Derek

Phillips, Caryl

Arudpragasam, Anuk

Alexie, Sherman

Trueba, David

Brězan, Jurij

Mohamed, Nadifa

Šteger, Aleš

Hvorecky, Michal

Kwan, Kevin

Bulawayo, NoViolet

Beah, Ishmael

Velikić, Dragan

Diome, Fatou

Bärfuss, Lukas

Andersson, Lena

Die Schwestern von Surinam

Menschenwerk

Der Seele Raum geben

Die Frau nebenan

Das Königreich des Sternapfels

Auf festem Grund

Die Geschichte einer kurzen Ehe

Das absolut wahre Tagebuch eines Teilzeitindianers

Die Kunst des Verlierens

Krabat oder Die Verwandlung der Welt

Der Garten der verlorenen Seelen

Preußenpark

City

Sex and Vanity

Wir brauchen neue Namen

Das Leuchten von morgen

Das russische Fenster

Der Bauch des Ozeans

Hundert Tage

Widerrechtliche Inbesitznahme

schwedisch

niederländisch

koreanisch

englisch

englisch

englisch

englisch

englisch

englisch

spanisch

sorbisch/ deutsch

englisch

slowenisch

slowakisch

englisch

amerikanisch

englisch

serbisch

französisch

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Tabellarische Übersicht

341

Swahili

Syrien

Tadschikistan

Taiwan

Tamilisch

Tansania

Thailand

Tibet

Timor-Leste

Togo

Tonga

Transnistrien

Trinidad und Tobago

Tschad

Tschechien

Tschetschenien

Tschuktschen

Tuareg

Tunesien

Türkei

Turkmenistan

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187

Kerbabajew, Berdy

Temelkuran, Ece

Selmi, Habib

Dayak, Mano

Rytchëu, Juri

Achmadow, Musa

Rudiš, Jaroslav

Lamko, Koulsy

Naipaul, V. S.

Berschin, Jefim

Hau’ofa, Epeli

Alem, Kangni

Cardoso, Luis

Alai

Lapcharoensap, Rattawut

Gurnah, Abdulrazak

Murugan, Perumal

Chen, Jade Y.

Wolos, Andrej

Haddad, Fawwaz

Kitereza, Aniceti

Ein Tropfen Wasser - ein Körnchen Gold

Stumme Schwäne

Meine Zeit mit Marie-Claire

Geboren mit Sand in den Augen

Alphabet meines Lebens

Und die Kerze brannte im Wind

Die Stille in Prag

Der Schmetterlingshügel

Ein halbes Leben

Wildes Feld

Rückkehr durch die Hintertür

Cola Cola Jazz

Chronik einer Überfahrt

Ferne Quellen

Sightseeing

Ferne Gestade

Zur Hälfte eine Frau

Die Insel der Göttin

Churramobod

Gottes blutiger Himmel

Die Kinder der Regenmacher

swahili

russisch a. d. Turkmen.

türkisch

arabisch

französisch

russisch

russisch

tschechisch

französisch

englisch

russisch

englisch

französisch

portugiesisch

chinesisch

englisch

englisch

tamilisch

chinesisch

russisch

arabisch

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342

Tabellarische Übersicht

Uganda

Ukraine

Ungarn

Uruguay

USA

Usbekistan

Vatikan

Venezuela

Vereinigte Arabische Emirate

Vietnam

Wales

Zentralafrikanische Republik

Zypern

188

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190

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192

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194

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200

Ioannides, Panos

Bamboté, Pierre Makombo

Price, Angharad

Thúy, Kim

Al-Saadi, Mariam

Sainz Borgo, Karina

Benedikt XVI.

Nazarov, Uchqun

Cole, Teju

Rosende, Mercedes

Krasznahorkai, László

Zhadan, Serhij

Isegawa, Moses

Eine Familie mit Tieren

Tagebuch eines Bauern aus Zentralafrika

Das Leben der Rebecca Jones

Der Klang der Fremde

Mariam und das Glück

Nacht in Caracas

Letzte Gespräche

Das Jahr des Skorpions

Open City

Krokodilstränen

Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluß

Hymne der demokratischen Jugend

Abessinische Chronik

griechisch

französisch

englisch a. d. Walisischen

französisch

arabisch

spanisch

deutsch

usbekisch

amerikanisch

spanisch

ungarisch

ukrainisch

niederländisch

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1983

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2009

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2016

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2019-11-04

2019-09-22

2019-08-31

2021-07-21

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Lesehinweise

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Abbildungsnachweis Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18 Abb. 19 Abb. 20 Abb. 21 Abb. 22 Abb. 23 Abb. 24 Abb. 25 Abb. 26 Abb. 27

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Sally Morgan – Wanamurraganya. Die Geschichte des Jack McPhee, Unionsverlag – 1. Aufl. 2019 Atiq Rahimi – Stein der Geduld, Ullstein Buchverlage – 7. Aufl. 2018 Ahmed Khaled Towfik – Utopia, Lenos – 1. Aufl. 2017 Ismail Kadare – Ein folgenschwerer Abend, Fischer – 1. Aufl. 2018 Yasmina Khadra – Die Schuld des Tages an die Nacht, Ullstein Buchverlage – 3. Aufl. 2013 Ramón Villeró – Das Lächeln der Erde, Rowohlt – 1. Aufl. 2007 José Eduardo Agualusa – Das Lachen des Geckos, Unionsverlag – 1. Aufl. 2018 Elizabeth Arthur – Eislandfahrt, Fischer – 2. Aufl. 1998 Jamaica Kincaid – Nur eine kleine Insel, Fischer – 1. Aufl. 2001 Joaquín Mbomío Bacheng – Ein guter Fang. Die Geschichte des Padre Gabriel aus Niefang, Löcker – 1. Aufl. 2017 Federico Jeanmaire – Richtig hohe Absätze, Unionsverlag – 1. Aufl. 2019 Norajr Adaljan – Schuld und Liebe, Glaré – 1. Aufl. 2008 Akram Aylisli – Steinträume. Ein Requiem, Osburg – 1. Aufl. 2015 Dinaw Mengestu – Zum Wiedersehen der Sterne, Ullstein Buchverlage – 1. Aufl. 2010 Peter Carey – Mein Leben als Fälschung, Fischer – 1. Aufl. 2006 Buddhadeva Bose – Das Mädchen meines Herzens, Ullstein Buchverlage – 1. Aufl. 2012 George Lamming – Zeit der Abenteuer, Blanvalet – 1. Aufl. 1962 Fernando Aramburu – Patría, Rowohlt – 3. Aufl. 2019 Viktor Martinowitsch – Paranoia, btb – 1. Aufl. 2017 Bram Dehouck – Der Psychopath, btb – 1. Aufl. 2016 Zee Edgell, Beka, Orlanda Frauenverlag – 1. Aufl. 1989 Ryad Assani-Razaki – Iman, Wagenbach – 2. Aufl. 2016 Rodrigo Hasbún – Die Affekte, Suhrkamp – 1. Aufl. 2017 Dževad Karahasan – Der Trost des Nachthimmels, Suhrkamp – 1. Aufl. 2018 Unity Dow – Die Beichte, Fischer – 1. Aufl. 2003, Reprint 2017 Luiz Ruffato – Es waren viele Pferde, Assoziation A – 4. Aufl. 2016 Georgi Gospodinov – Physik der Schwermut, dtv – 1. Aufl. 2016

Abbildungsnachweis

Abb. 28

Lawagon Alex Roméo Ki – Der Werdegang eines Deutschlehrers aus Burkina Faso, united p.c. – 1. Aufl. 2019 Abb. 29 Gaël Faye – Kleines Land, Piper – 1. Aufl. 2019 Abb. 30 Germano Almeida – Das Testament des Herrn Napumoceno, Unionsverlag – 1. Aufl. 2014 Abb. 31 Hernán Rivera Letelier – Die Filmerzählerin, Insel Verlag – 3. Aufl. 2013 Abb. 32 Yan Ge – Frau Duan feiert ein Fest, Heyne – 1. Aufl. 2018 Abb. 33 Rafael Ángel Herra – Das göttliche Lumpenpack, TWENTYSIX – 1. Aufl. 2016 Abb. 34 Ahmadou Kourouma – Allah muss nicht gerecht sein, Goldmann – 1. Aufl. 2004 Abb. 35 Alissa Ganijewa – Die russische Mauer, Suhrkamp – 1. Aufl. 2014 Abb. 36 Erling Jepsen – Die Kunst im Chor zu weinen, Suhrkamp – 1. Aufl. 2008 Abb. 37 Sven Regener – Wiener Straße, KiWi – 1. Aufl. 2019 Abb. 38 Jean Rhys – Die weite Sargassosee, dtv – 1. Aufl. 2017 Abb. 39 Junot Díaz – Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao, Fischer – 1. Aufl. 2010 Abb. 40 Abdourahman A. Waberi – In den Vereinigten Staaten von Afrika, Nautilus – 1. Aufl. 2008 Abb. 41 Jorge Icaza – Caballero in geborgtem Frack, Aufbau – 1. Aufl. 1968 Abb. 42 Jorge Galán – Mein dunkles Herz, Penguin – 1. Aufl. 2017 Abb. 43 Tom McCarthy – 8 ½ Millionen, Diaphanes – Neuaufl. 2012 Abb. 44 Abu Bakr Khaal – Die Titanic auf afrikanische Art, Löcker – 1. Aufl. 2018 Abb. 45 Indrek Hargla – Apotheker Melchior und das Rätsel der Olaikirche, Die Hanse – 1. Aufl. 2014 Abb. 46 Malla Nunn – Ein schöner Ort zu sterben, Aufbau – 3. Aufl. 2016 Abb. 47 Heðin Brú – Vater und Sohn unterwegs, Ullstein Buchverlage – 1. Aufl. 2017 Abb. 48 Nalini Singh – Im grausamen Licht der Sonne, Droemer Knaur – 1. Aufl. 2020 Abb. 49 Sofi Oksanen – Die Sache mit Norma, btb – 1. Aufl. 2019 Abb. 50 Laurent Binet – Die siebte Sprachfunktion, Rowohlt – 1. Aufl. 2018 Abb. 51 Janis Otsiemi – Libreville, Polar – 1. Aufl. 2017 Abb. 52 Lasha Bugadze – Der Literaturexpress, Ullstein Buchverlage – 1. Aufl. 2018 Abb. 53 Kwei Quartey – Accra, Bastei Lübbe – 1. Aufl. 2012 Abb. 54 Tobias S. Buckell – Kristallregen, Bastei Lübbe – 1. Aufl. 2007 Abbildungsnachweis

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Abb. 55 Abb. 56 Abb. 57 Abb. 58 Abb. 59 Abb. 60 Abb. 61 Abb. 62 Abb. 63 Abb. 64 Abb. 65 Abb. 66 Abb. 67 Abb. 68 Abb. 69 Abb. 70 Abb. 71 Abb. 72 Abb. 73 Abb. 74 Abb. 75 Abb. 76 Abb. 77 Abb. 78 Abb. 79 Abb. 80 Abb. 81 Abb. 82 Abb. 83 Abb. 84 Abb. 85 Abb. 86

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Ioanna Karystiani – Die Augen des Meeres, Insel Verlag – 2. Aufl. 2016 Niviaq Korneliussen – Nuuk #ohneFilter, Zaglossus – 1. Aufl. 2016 Eduardo Halfon – Der polnische Boxer, dtv – 1. Aufl. 2016 Tierno Monénembo – Cinema, Peter Hammer – 1. Aufl. 1999 Abdulai Sila – Zwei Schüsse und ein Lachen, Noack & Block – 1. Aufl. 2021 Pauline Melville – Der Bauchredner, Droemer Knaur – 1. Aufl. 2000 Gary Victor – Schweinezeiten, Unionsverlag – 1. Aufl. 2016 Ramón Amaya-Amador – Aufstand in Tegucigalpa, Tribüne – 1. Aufl. 1962 Chan Ho-Kei – Das Auge von Hongkong, Atrium – 1. Aufl. 2019 Avtar Singh – Nekropolis, Unionsverlag – 1. Aufl. 2018 Eka Kurniawan – Schönheit ist eine Wunde, Unionsverlag – 1. Aufl. 2019 Tanya Tagaq – Eisfuchs, Kunstmann – 1. Aufl. 2020 Abbas Khider – Die Orangen des Präsidenten, btb – 3. Aufl. 2013 Mahmud Doulatabadi – Der Colonel, Unionsverlag – 2. Aufl. 2015 Donal Ryan – Die Gesichter der Wahrheit, Diogenes – 1. Aufl. 2017 Guðmundur Andri Thorsson – In den Wind geflüstert, Hoffmann & Campe – 1. Aufl. 2018 Ayelet Gundar-Goshen – Lügnerin, Kein & Aber 1. Aufl. 2018 Wu Ming – Manituana, Assoziation A – 1. Aufl. 2018 Marlon James – Eine kurze Geschichte von sieben Morden, Heyne – 1. Aufl. 2018 Fumimori Nakamura, Der Dieb, Diogenes – 1. Aufl. 2017 Galal Alahmadi – Die Leere der Vase, Secession – 1. Aufl. 2020 Fadia Faqir – Wie Säulen aus Salz, Europa Verlag – Sonderedition 2003 Vaddey Ratner – Im Schatten des Banyanbaums, Unionsverlag – 1. Aufl. 2016 Imbolo Mbue – Das geträumte Land, KiWi – 2. Aufl. 2019 Alice Munro – Liebes Leben, Fischer – 1. Aufl. 2014 Rakhymzhan Otarbayev – Der Schädel, Dagyeli Verlag – 1. Aufl. 2020 Jaume Cabré – Das Schweigen des Sammlers, Insel Verlag – 4. Aufl. 2016 Yvonne Adhiambo Owuor – Der Ort, an dem die Reise endet, DuMont – 1. Aufl. 2017 Tschingis Aitmatow – Der Schneeleopard, Unionsverlag – 7. Aufl. 2018 Sergio Álvarez – 35 Tote, Suhrkamp – 1. Aufl. 2013 Ali Zamir – Die Schiffbrüchige, Unionsverlag – 1. Aufl. 2020 Fiston Mwanza Mujila – Tram 83, Unionsverlag – 1. Aufl. 2018 Abbildungsnachweis

Abb. 87 Abb. 88 Abb. 89 Abb. 90 Abb. 91 Abb. 92 Abb. 93 Abb. 94 Abb. 95 Abb. 96 Abb. 97 Abb. 98 Abb. 99 Abb. 100 Abb. 101 Abb. 102 Abb. 103 Abb. 104 Abb. 105 Abb. 106 Abb. 107 Abb. 108 Abb. 109 Abb. 110 Abb. 111 Abb. 112 Abb. 113 Abb. 114 Abb. 115 Abb.116 Abb. 117

Alain Mabanckou – Black Bazar, Heyne – 1 . Aufl. 2011 Meral Kureyshi – Elefanten im Garten, Ullstein Buchverlage – 2. Aufl. 2017 Edo Popović – Ausfahrt Zagreb-Süd, btb – 1. Aufl. 2012 Wendy Guerra – Alle gehen fort, Unionsverlag – 1. Aufl. 2017 Bachtyar Ali – Der letzte Granatapfel, Unionsverlag – 3. Aufl. 2019 Ismail Fahd Ismail – Die alte Frau und der Fluss, Schiler & Mücke – 1. Aufl. 2019 Thomas Mofolo – Chaka Zulu, Unionsverlag – 1. Aufl. 2000 Dace Rukšāne – Warum hast du geweint, Fischer – 1. Aufl. 2009 Iman Humaidan – Andere Leben, Lenos – 1. Aufl. 2017 Vamba Sherif – Geheimauftrag in Wologizi, Peter Hammer – 1. Aufl. 2009 Hisham Matar – Im Land der Männer, btb – 4. Aufl. 2009 Armin Öhri – Die dunkle Muse, Gmeiner – 1. Aufl. 2012 Jurga Ivanauskaité – Placebo, dtv – 1. Aufl. 2005 Marc Graas – Das Theaterstück von Norvik, Saint Paul – 1. Aufl. 2010 Michèle Rakotoson – Die verbotene Frau, Lamuv – 1. Aufl. 2000 Samson Kambalu – Jive Talker, Unionsverlag – 1. Aufl. 2011 Tan Twan Eng – Der Garten der Abendnebel, Droemer Knaur – 1. Aufl. 2016 Yambo Ouologuem – Das Gebot der Gewalt, Elster & Salis – 1. Aufl. 2019 Oliver Friggieri – Das Feuerwerk, Donata Kinzelbach – 3. Aufl. 2012 Patricia Grace – Potiki, Unionsverlag – 2. Aufl. 2012 Saphia Azzeddine – Bilqiss, Wagenbach – 1. Aufl. 2017 Mohamed Yehdhih Ould Breideleil – Von Menschen und Kamelen, Draupadi – 1. Aufl. 2021 Nathacha Appanah – Blue Bay Palace, Lenos – 1. Aufl. 2013 Fernanda Melchor – Saison der Wirbelstürme, Wagenbach – 1. Aufl. 2019 Pyotr Magnus Nedov – Zuckerleben, DuMont – 1. Aufl. 2014 Armand Gatti – Kleines Handbuch der Stadtguerilla, dtv – 1. Aufl. 1971 Galsan Tschinag – Gold und Staub, Unionsverlag – 1. Aufl. 2015 Andrej Nikolaidis – Der ungarische Satz, Voland & Quist – 1. Aufl. 2018 Mia Couto – Das Geständnis der Löwin, Unionsverlag – 1. Aufl. 2016 Ma Thanegi – Pilgerreise in Myanmar, Unionsverlag – 2. Aufl. 2014 Margie Orford – Blutrose, Blanvalet – 1. Aufl. 2009

Abbildungsnachweis

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Abb. 118 Manjushree Thapa – Geheime Wahlen, Unionsverlag – 2. Aufl. 2017 Abb. 119 Lloyd Jones – Die Frau im blauen Mantel, Rowohlt – 2. Aufl. 2017 Abb. 120 Gioconda Belli – Die Republik der Frauen, Droemer Knaur – 1. Aufl. 2015 Abb. 121 Joost Zwagerman – Duell, Piper – 1. Aufl. 2018 Abb. 122 Abdoua Kanta – Lelee, das Hirtenmädchen, Nagel & Kimche – 3. Aufl. 1997 Abb. 123 Chimamanda Ngozi Adichie – Blauer Hibiskus, Fischer – 5. Aufl. 2018 Abb. 124 Bandi – Denunziation, Piper – 1. Aufl. 2019 Abb. 125 Vlada Urošević – Meine Cousine Emilia, dtv – 1. Aufl. 2013 Abb. 126 Per Petterson – Pferde stehlen, Fischer – 10. Aufl. 2014 Abb. 127 Petra Piuk – Toni und Moni oder Anleitung zum Heimatroman, Kein & Aber – 1. Aufl. 2019 Abb. 128 Mohsin Hamid – So wirst du stinkreich im boomenden Asien, DuMont – 1. Aufl. 2015 Abb. 129 Sahar Khalifa – Heißer Frühling, Unionsverlag – 1. Aufl. 2010 Abb. 130 Ramón Fonseca Mora – Der Tanz der Schmetterlinge, Fischer – 1. Aufl. 2000, Reprint 2016 Abb. 131 Albert Maori Kiki – Ich lebe seit 10000 Jahren, Ullstein Buchverlage – 1. Aufl. 1982 Abb. 132 Susana Gertopán – Die dunkle Gasse, Hentrich & Hentrich – 1. Aufl. 2012 Abb. 133 Mario Vargas Llosa – Das böse Mädchen, Suhrkamp – 24. Aufl. 2017 Abb. 134 Francisco Sionil José – Gagamba, der Spinnenmann, Horlemann – 1. Aufl. 2014 Abb. 135 Sczepan Twardoch – Drach, Rowohlt – 1. Aufl. 2017 Abb. 136 António Lobo Antunes – Gestern in Babylon hab ich dich nicht gesehen, btb – 1. Aufl. 2018 Abb. 137 José Maria Arguedas – Fiesta des Blutes, (c) Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage, Berlin, 2023 – 1. Aufl. 1980 Abb. 138 Matéo Maximoff – Die Ursitory, Unionsverlag – 1. Aufl. 2001 Abb. 139 Gilbert Gatore – Das lärmende Schweigen, Horlemann – 1. Aufl. 2014 Abb. 140 Radu Ţuculescu – Metzgerei Kennedy, Mitteldeutscher Verlag – 1. Aufl. 2019 Abb. 141 Vladimir Sorokin – Der Schneesturm, KiWi – 7. Aufl. 2019 Abb. 142 Ellen Banda-Aaku – Patchwork, Das Wunderhorn – 1. Aufl. 2014 Abb. 143 Albert Wendt – Die Blätter des Banyanbaums, Unionsverlag – 1. Aufl. 1998 Abb. 144 Miguel Sousa Tavares – Am Äquator, Goldmann – 1. Aufl. 2008 Abb. 145 Rajaa Alsanea – Die Girls von Riad, Goldmann – 1. Aufl. 2008

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Abb. 146 Abb. 147 Abb. 148 Abb. 149 Abb. 150 Abb. 151 Abb. 152 Abb. 153 Abb. 154 Abb. 155 Abb. 156 Abb. 157 Abb. 158 Abb. 159 Abb. 160 Abb. 161 Abb. 162 Abb. 163 Abb. 164 Abb. 165 Abb. 166 Abb. 167 Abb. 168 Abb. 169 Abb. 170 Abb. 171 Abb. 172 Abb. 173

Ali Smith – Es hätte mir genauso, btb – 1. Aufl. 2019 Lena Andersson – Widerrechtliche Inbesitznahme, btb – 2. Aufl. 2017 Lukas Bärfuss – Hundert Tage, btb – 8. Aufl. 2010 Fatou Diome – Der Bauch des Ozeans, Diogenes – 1. Aufl. 2006 Dragan Velikić – Das russische Fenster, dtv – 1. Aufl. 2008 Ishmael Beah – Das Leuchten von morgen, Das Wunderhorn – 1. Aufl. 2016 NoViolet Bulawayo – Wir brauchen neue Namen, Suhrkamp – 1. Aufl. 2016 Kevin Kwan – Sex & Vanity. Inseln der Eitelkeiten, Kein & Aber – 1. Aufl. 2020 Michal Hvorecky – City Der unwahrscheinlichste aller Orte, Berlin Verlag – 1. Aufl. 2007 Aleš Šteger – Preußenpark. Berliner Skizzen, Suhrkamp – 1. Aufl. 2009 Nadifa Mohamed – Der Garten der verlorenen Seelen, dtv – 1. Aufl. 2016 Jurij Brězan – Krabat oder Die Verwandlung der Welt, Reclam Leipzig – 1. Aufl. 1984 David Trueba – Die Kunst des Verlierens, Rowohlt – 1. Aufl. 2012 Sherman Alexie – Das absolut wahre Tagebuch eines Teilzeit-Indianers, dtv – 11. Aufl. 2020 Anuk Arudpragasam – Die Geschichte einer kurzen Ehe, Unionsverlag – 1. Aufl. 2019 Caryl Phillips – Auf festem Grund, Fischer – 1. Aufl. 1997 Derek Walcott – Das Königreich des Sternapfels, Hanser – 1. Aufl. 1989 Yewande Omotoso – Die Frau nebenan, Ullstein Buchverlage – 1. Aufl. 2018 Leila Aboulela – Der Seele Raum geben, Lamuv – 1. Aufl. 2002 Han Kang – Menschenwerk, Aufbau – 1. Aufl. 2019 Cynthia McLeod – Die Schwestern von Surinam, Bastei Lübbe – 1. Aufl. 1998 Aniceti Kitereza – Die Kinder der Regenmacher, Peter Hammer – 1. Aufl. der Sonderausg. 2016 Fawwaz Haddad – Gottes blutiger Himmel, Aufbau – 1. Aufl. 2014 Andrej Wolos – Churramobod. Stadt der Freude, Berlin Verlag – 1. Aufl. 2000 Jade Y. Chen – Die Insel der Göttin, Münchner Frühling – 2. Aufl. 2010 Perumal Murugan – Zur Hälfte eine Frau, Draupadi – 1. Aufl. 2018 Abdulrazak Gurnah – Ferne Gestade, Edition Kappa – 1. Aufl. 2002 Rattawut Lapcharoensap – Sightseeing, KiWi – 7. Aufl. 2019

Abbildungsnachweis

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Abb. 174 Abb. 175 Abb. 176 Abb. 177 Abb. 178 Abb. 179 Abb. 180 Abb. 181 Abb. 182 Abb. 183 Abb. 184 Abb. 185 Abb. 186 Abb. 187 Abb. 188 Abb. 189 Abb. 190 Abb. 191 Abb. 192 Abb. 193 Abb. 194 Abb. 195 Abb. 196 Abb. 197 Abb. 198 Abb. 199 Abb. 200

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Alai – Ferne Quellen, Unionsverlag – 1. Aufl. 2011 Luis Cardoso – Chronik einer Überfahrt, Aufbau – 1. Aufl. 2001 Kangni Alem – Cola Cola Jazz, Peter Hammer – 1. Aufl. 2004 Epeli Hau’ofa – Rückkehr durch die Hintertür, Unionsverlag – 1. Aufl. 2019 Jefim Berschin – Wildes Feld, Book on Demand, Norderstedt – 1. Aufl. 2016 V.S. Naipaul – Ein halbes Leben, Ullstein Buchverlage – 2. Aufl. 2007 Koulsy Lamko – Der Schmetterlingshügel, Angkor – 1. Aufl. 2010 Jaroslav Rudiš – Die Stille in Prag, btb – 5. Aufl. 2014 Musa Achmadow – Und die Kerze brannte im Wind, Kitab – 1. Aufl. 2011 Juri Rytchëu – Alphabet meines Lebens, Unionsverlag – 1. Aufl. 2012 Mano Dayak – Geboren mit Sand in den Augen, Unionsverlag – 2. Aufl. 2014 Habib Selmi – Meine Zeit mit Marie-Claire, Lenos – 1. Aufl. 2013 Ece Temelkuran – Stumme Schwäne, Hoffmann & Campe/Nurten Zeren Graphic Design, zerendesign.com – 1. Aufl. 2018 Berdy Kerbabajew – Ein Tropfen Wasser − ein Körnchen Gold, Tribüne – 1. Aufl. 1977 Moses Isegawa – Abessinische Chronik, Goldmann – 1. Aufl. 2001 Serhij Zhadan – Hymne der demokratischen Jugend, Suhrkamp – 1. Aufl. 2011 László Krasznahorkai – Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluß, Fischer – 1. Aufl. 2007 Mercedes Rosende – Krokodilstränen, Unionsverlag – 1. Aufl. 2020 Teju Cole – Open City, Suhrkamp – 4. Aufl. 2016 Uchqun Nazarov – Das Jahr des Skorpions, Dagyeli Verlag – 1. Aufl. 2002 Benedikt XVI. – Letzte Gespräche, Droemer Knaur – 1. Aufl. 2016 Karina Sainz Borgo – Nacht in Caracas, Fischer – 1. Aufl. 2019 Mariam Al-Saadi – Mariam und das Glück, Lisan Verlag – 1. Aufl. 2009 Kim Thúy – Der Klang der Fremde, dtv – 3. Aufl. 2018 Angharad Price – Das Leben der Rebecca Jones, dtv – 1. Aufl. 2017 Bambote Makombo – Tagebuch eines Bauern aus Zentralafrika, Literarisches Colloquium – 1. Aufl. 1983 Panos Ioannides – Eine Familie mit Tieren, Copyright Größenwahn Verlag, Bedey & Thoms Media GmbH – 1. Aufl. 2016

Abbildungsnachweis

Zum Autor

Dr. phil. Achim Hermann Hölter, geboren 1960 in Dülken am Niederrhein, ist seit 2009 Univ.-Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien. Er war zuvor 1997–2009 für dasselbe Fach Univ.-Professor in Münster/Westfalen, 2005–2011 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und organisierte 2016 den XXI. Weltkongress der International Comparative Literature Association in Wien „The Many Languages of Comparative Literature“. Forschungsschwerpunkte: Romantikforschung, Themen- und Diskursforschung, Kunst- und Literaturhistoriografie, Ritualisierungen der Literatur, Ästhetische Selbstreferenz, Comparative Arts, Internationale Rezeptionsgeschichte, Kanonforschung, Bibliotheken und Literatur. Einige Publikationen: Ludwig Tieck: Literaturgeschichte als Poesie (1989); Die Invaliden (1995); Die Bücherschlacht (1995); (Hg.): Marcel Proust. Leseerfahrungen deutschsprachiger Schriftsteller von Theodor W. Adorno bis Stefan Zweig (1998); (Hg.): Comparative Arts (2011); (Hg. mit Rüdiger Zymner): Handbuch Komparatistik (2013); (Hg. mit Stefan Alker): Literaturwissenschaft und Bibliotheken (2015); (Hg. mit Monika Schmitz-Emans): Literaturgeschichte und Bildmedien (2015), (Hg.): The Many Languages of Comparative Literature (2020–2024). Neu abrufbar ist die Datenbank des vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) geförderten Projekts „Ludwig Tiecks Bibliothek. Anatomie einer romantisch-komparatistischen Büchersammlung“ unter https://tieck-bibliothek. univie.ac.at.

Zum Autor

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Schöpferische Autorschaft

Daniel Ehrmann Kollektivität Geteilte Autorschaften und kollaborative Praxisformen 1770–1840 978-3-205-21613-1 2022, 579 Seiten mit 25 s/w-Abb., gebunden € 93,00 (Ö) | € 90,00 (D) Auch als e-book erhältlich Um 1800 wird das Paradigma individueller Autorschaft dominant und trägt entscheidend zum Verständnis von Literatur als Kunst bei. Es lässt indes die häufig kollaborativen Praktiken des Verfassens von Texten in den Hintergrund treten. Dieses Buch rekonstruiert den kollektiven Charakter von Literatur. In der Literatur zwischen 1770 und 1840 setzen sich wichtige Neukonzeptionen durch: Autoren werden zu individuellen Schöpfern, die Werke ihr geistiges Eigentum und beide somit aufs Engste verbunden. Dennoch werden die vielfältigen Formen der Zusammenarbeit beim Schreiben und Korrigieren sowie beim Überarbeiten und Publizieren weiter gepflegt. Dieses Buch bezieht diese beiden Ebenen in einer historischen Praxeologie systematisch aufeinander und macht jene Kollektivität sichtbar, die sich als Spezifik der Literatur um 1800 verstehen lässt. Anhand literarischer, philosophischer und juristischer Texte von Goethe, Schiller und Herder über die Frühromantik bis zum Text des ersten Urheberrechts wird das Spannungsverhältnis von kollaborativer Verfasserschaft und individueller Autorschaft erkundet.