Immaterielle Zeugnisse: Synagogen in Deutschland. Potentiale digitaler Technologien für das Erinnern zerstörter Architektur [1. Aufl.] 9783839407295

Dieses Buch zeigt am Beispiel von Synagogen in Deutschland Potentiale und Grenzen von 3D-Computer-Rekonstruktionen und d

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German Pages 606 [605] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Kapitel 1. Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung
1.1 Begriffsklärungen
1.2 Typologie der Erinnerungsformen
1.2.1 Erinnerungsformen am authentischen Ort
1.2.2 Translokationen – Nachbildungen an anderer Stelle
1.2.3 Ortsunabhängige Erinnerungsformen
1.2.3.1 Modelle
1.2.3.2 Zeichnungen und malerische Darstellungen
1.2.3.3 Filme
1.3 Wirksamkeiten der Erinnerungsformen
1.4 Akteure und Adressaten
1.5 Intentionen
Kapitel 2. Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen
2.1 Geschichte der Synagoge
2.1.1 Ursprünge und Entwicklung des Synagogenbaus
2.1.2 Synagogen in Deutschland
2.1.2.1 Von den Anfängen bis zu den Zerstörungen 1933 – 1945
2.1.2.2 Was blieb 1945?
2.2 Typologie der Erinnerungsformen
2.2.1 Authentischer Ort
2.2.1.1 Gedenktafeln, Hinweise an Straßenschildern
2.2.1.2 Gedenksteine, Mahnmale, Gedenkanlagen, Spolien
2.2.1.3 Vermittlung ursprünglicher Dimensionen
2.2.1.4 Wiederanknüpfung an jüdische Gemeindenutzung
2.2.1.5 Restaurierungen / Wiederherstellungen als Gedenkorte
2.2.2 Haptische Modelle
2.2.3 Ausstellungen
2.2.4 Buch, Broschüre, Katalog
2.2.5 Audio-visuelle Medien
2.3 Stärken und Defizite traditioneller Erinnerungsformen
2.4 Zusammenfassung
Kapitel 3. Erinnerungskultur und digitale Technologien Eine Einführung
3.1 Begriffsklärungen und Forschungsstand
3.2 3D-Computer-Rekonstruktionen
3.2.1 Produktion digitaler Modelle
3.2.2 Präsentation – Vorberechnung und Echtzeit
3.2.3 Neue Formen der Wahrnehmung – Immersion und Präsenz
3.2.4 Digitale Modelle vs. traditionelle Rekonstruktionen
3.2.4.1 Anschaulichkeit
3.2.4.2 Emotionalisierung, Involvierung und neue Möglichkeiten der Rezeption
3.2.4.3 Verbreitung, Medienattraktivität und Diskussionspotential
3.2.4.4 Erstellungs-, Präsentations- und Erhaltungsaufwand
3.3 Internet als neues Medium der Erinnerung
3.3.1 Typlogische Übersicht – Selbstverständnisse und Betreiber
3.3.1.1 Selbstdarstellungen von Institutionen
3.3.1.2 Spezielle Thematik – Informativer Charakter
3.3.1.3 Spezielle Thematik – Sinnlich, künstlerischer Charakter
3.3.1.4 Portale
3.3.2 Internet vs. traditionelle Formen der Vermittlung
3.3.2.1 Erstellungsaufwand, Seriosität und Aktualisierungspotential
3.3.2.2 Verbreitung und Verfügbarkeit
3.3.2.3 Kapazität und Erzielen von Aufmerksamkeit
3.3.2.4 Neue Möglichkeiten der Rezeption – Hypertext, Kommunikation, Interaktivität, Zielgruppenvariabilität
3.3.2.5 Beständigkeit und Erhaltungsaufwand
3.3.2.6 Sinnlichkeit und künstlerische Gestaltung
3.4 Zusammenfassung und Resümee
3.4.1 3D-Computer-Rekonstruktionen
3.4.2 Internet
Kapitel 4. Synagogen in Deutschland Erinnerung mit 3D-Computer-Rekonstruktionen und Internet
4.1 3D-Computer-Rekonstruktionen
4.1.1 Das Projekt: „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“
4.1.1.1 Anlass, Zielsetzung, Durchführung
4.1.1.2 Ausstellungen
4.1.1.3 Publikationen
4.1.1.4 Medienresonanz
4.1.2 Sonstige 3D-Computer-Rekonstruktionen von Synagogen
4.1.3 Resümee – Ausgleich von Defiziten, Umsetzung der Potentiale und Grenzen
4.1.3.1 Anschaulichkeit
4.1.3.2 Emotionalisierung
4.1.3.3 Medienattraktivität – Reichweite – Diskurspotential
4.1.3.4 Erstellungs- und Präsentationsaufwand
4.1.3.5 Erhaltungsaufwand
4.2 Die Erinnerung im Internet
4.2.1 Typlogische Übersicht – Betreiber und Zielsetzungen
4.2.1.1 Aktuelle Nutzer
4.2.1.2 Lokale Institutionen und Initiativen – Synagogen vor Ort
4.2.1.3 Forschungsinstitutionen – Auswahl deutscher Synagogen
4.2.1.4 Institutionen und Initiativen – Informationen zu Synagogen in thematisch weiter gefassten Webauftritten
4.2.2 Neue Möglichkeiten der Rezeption – Hypertext, Kommunikation, Interaktivität, Zielgruppenvariabilität
4.2.3 Suchen und Finden
4.2.4 Besuchszahlen
4.2.5 Resümee
4.2.5.1 Ausgleich von Defiziten traditioneller Erinnerungsformen
4.2.5.2 Umsetzung der Potentiale und Grenzen
4.3 Zusammenfassung
Kapitel 5. Das „Synagogen-Internet-Archiv“ – Ein Experiment
5.1 Konzeptbeschreibung und Zielsetzungen
5.2 Navigation und Funktionserläuterungen
5.3 Technische Beschreibungen
5.4 Vorgehensweise und Verlauf der Realisierung
5.5 Arbeitsthesen, Fragestellungen, Untersuchungsfelder
5.6 Auswertung
5.6.1 Qualität, Art und Umfang der externen Beteiligung
5.6.2 Informationsgeber und Besucher
5.6.3 Herstellen von Öffentlichkeit
5.7 Zusammenfassung und Resümee
Ausblick und Schlussbemerkungen
Literaturverzeichnis
Abbildungsnachweise
Anhang
Adressen der analysierten Websites zum Thema Synagogen
Medienspiegel Synagogen-Ausstellung TU Darmstadt – Bonn
Medienspiegel Synagogen-Ausstellung TU Darmstadt – Tel Aviv
Interviews
Leiter der Abteilung „Technische Medien“, KAH
Ausstellung „Vatikan“, KAH
Pädagogische Leitung, KAH
Pressesprecherin der KAH
Ausstellungen „Azteken“ und „Troia“, KAH
Generaldirektor des DHM
Sammlungsleiterin „Dokumente I“, DHM
Direktor (a. D.) des Jüdischen Museums Frankfurt (JMF)
Ausstellung „Fragmente und Rekonstruktion“, JMF
Ausstellung Computer-Rekonstruktionen, Synagogen, KAH
Head of Exhibitions & Visitor Communication, JMB
Neuzeitliche Synagogen, Dauerausstellung JMB
Stellvertretende Direktorin, JMB
Centrum Judaicum, Ausstellung Holzmodelle, TU Braunschweig
Diaspora-Museum, Tel Aviv – Ausstellung Synagogen
Jüdische Gemeinde Mannheim
Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland
Danksagung
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Immaterielle Zeugnisse: Synagogen in Deutschland. Potentiale digitaler Technologien für das Erinnern zerstörter Architektur [1. Aufl.]
 9783839407295

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Marc Grellert Immaterielle Zeugnisse Synagogen in Deutschland. Potentiale digitaler Technologien für das Erinnern zerstörter Architektur

2007-05-14 13-41-57 --- Projekt: T729.typo.kum.grellert / Dokument: FAX ID 02c0147124179336|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 147124179344

Marc Grellert (Dipl. Ing.) lehrt an der TU Darmstadt und ist Mitgründer der Firma »Architectura Virtualis«. Seine Forschungsschwerpunkte sind Computer-Rekonstruktionen und Erinnern mit digitalen Medien.

2007-05-14 13-41-57 --- Projekt: T729.typo.kum.grellert / Dokument: FAX ID 02c0147124179336|(S.

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) T00_02 vakat.p 147124179352

Marc Grellert

Immaterielle Zeugnisse Synagogen in Deutschland. Potentiale digitaler Technologien für das Erinnern zerstörter Architektur

2007-05-14 13-41-57 --- Projekt: T729.typo.kum.grellert / Dokument: FAX ID 02c0147124179336|(S.

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) T00_03 innentitel.p 147124179384

Darmstadt D17

Gefördert durch die Georg und Franziska Speyer’sche Hochschulstiftung. Mitherausgegeben vom Deutschen Architekturmuseum (DAM).

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © TU Darmstadt, FG IKA, Manfred Koob, 2007 Korrektorat: Adele Gerdes, Bielefeld Lektorat & Satz: Marc Grellert Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-729-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2007-05-14 13-41-58 --- Projekt: T729.typo.kum.grellert / Dokument: FAX ID 02c0147124179336|(S.

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) T00_04 impressum.p 147124179464

Inhalt

Einleitung.............................................................................................. 11

Kapitel 1 Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung 1.1

Begriffsklärungen.................................................................. 22

1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.3.1 1.2.3.2 1.2.3.3

Typologie der Erinnerungsformen....................................... 29 Erinnerungsformen am authentischen Ort............................... 30 Translokationen – Nachbildungen an anderer Stelle................ 38 Ortsunabhängige Erinnerungsformen...................................... 42 Modelle..................................................................................... 42 Zeichnungen und malerische Darstellungen............................ 47 Filme........................................................................................ 52

1.3

Wirksamkeiten der Erinnerungsformen............................... 58

1.4

Akteure und Adressaten........................................................ 64

1.5

Intentionen.............................................................................. 67

Kapitel 2 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.2.1 2.1.2.2

Geschichte der Synagoge..................................................... 75 Ursprünge und Entwicklung des Synagogenbaus................... 75 Synagogen in Deutschland...................................................... 77 Von den Anfängen bis zu den Zerstörungen 1933 – 1945....... 77 Was blieb 1945?....................................................................... 84

2.2 2.2.1 2.2.1.1 2.2.1.2 2.2.1.3 2.2.1.4

Typologie der Erinnerungsformen....................................... 97 Authentischer Ort..................................................................... 97 Gedenktafeln, Hinweise an Straßenschildern.......................... 98 Gedenksteine, Mahnmale, Gedenkanlagen, Spolien............. 105 Vermittlung ursprünglicher Dimensionen............................... 107 Wiederanknüpfung an jüdische Gemeindenutzung................ 108

2.2.1.5 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5

Restaurierungen / Wiederherstellungen als Gedenkorte....... 110 Haptische Modelle.................................................................. 130 Ausstellungen......................................................................... 137 Buch, Broschüre, Katalog...................................................... 145 Audio-visuelle Medien............................................................ 150

2.3

Stärken und Defizite traditioneller Erinnerungsformen... 153

2.4

Zusammenfassung.............................................................. 159

Kapitel 3 Erinnerungskultur und digitale Technologien Eine Einführung 3.1

Begriffsklärungen und Forschungsstand.......................... 162

3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.4.1 3.2.4.2 3.2.4.3 3.2.4.4

3D-Computer-Rekonstruktionen......................................... 175 Produktion digitaler Modelle . ................................................ 176 Präsentation – Vorberechnung und Echtzeit.......................... 178 Neue Formen der Wahrnehmung – Immersion und Präsenz......................................................... 185 Digitale Modelle vs. traditionelle Rekonstruktionen................ 196 Anschaulichkeit...................................................................... 197 Emotionalisierung, Involvierung und neue Möglichkeiten der Rezeption.................................................. 203 Verbreitung, Medienattraktivität und Diskussionspotential.............................................................. 209 Erstellungs-, Präsentations- und Erhaltungsaufwand............ 213

3.3 3.3.1 3.3.1.1 3.3.1.2 3.3.1.3 3.3.1.4 3.3.2 3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.2.3

Internet als neues Medium der Erinnerung....................... 225 Typlogische Übersicht – Selbstverständnisse und Betreiber.......................................... 229 Selbstdarstellungen von Institutionen.................................... 229 Spezielle Thematik – Informativer Charakter......................... 233 Spezielle Thematik – Sinnlich, künstlerischer Charakter....... 235 Portale.................................................................................... 236 Internet vs. traditionelle Formen der Vermittlung.................... 237 Erstellungsaufwand, Seriosität und Aktualisierungspotential......................................................... 238 Verbreitung und Verfügbarkeit................................................ 240 Kapazität und Erzielen von Aufmerksamkeit.......................... 247

3.3.2.4 3.3.2.5 3.3.2.6

Neue Möglichkeiten der Rezeption – Hypertext, Kommunikation, Interaktivität, Zielgruppenvariabilität............ 250 Beständigkeit und Erhaltungsaufwand................................... 257 Sinnlichkeit und künstlerische Gestaltung.............................. 258

3.4 3.4.1 3.4.2

Zusammenfassung und Resümee...................................... 272 3D-Computer-Rekonstruktionen............................................ 272 Internet................................................................................... 280

Kapitel 4 Synagogen in Deutschland Erinnerung mit 3D-Computer-Rekonstruktionen und Internet 4.1 4.1.1 4.1.1.1 4.1.1.2 4.1.1.3 4.1.1.4 4.1.2 4.1.3 4.1.3.1 4.1.3.2 4.1.3.3 4.1.3.4 4.1.3.5

3D-Computer-Rekonstruktionen......................................... 285 Das Projekt: „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“...................................................................... 286 Anlass, Zielsetzung, Durchführung........................................ 286 Ausstellungen......................................................................... 289 Publikationen.......................................................................... 301 Medienresonanz..................................................................... 304 Sonstige 3D-Computer-Rekonstruktionen von Synagogen...................................................................... 322 Resümee – Ausgleich von Defiziten, Umsetzung der Potentiale und Grenzen ............................... 335 Anschaulichkeit...................................................................... 335 Emotionalisierung................................................................... 339 Medienattraktivität – Reichweite – Diskurspotential............... 344 Erstellungs- und Präsentationsaufwand................................. 345 Erhaltungsaufwand................................................................ 349

4.2 4.2.1 4.2.1.1 4.2.1.2 4.2.1.3 4.2.1.4 4.2.2 4.2.3 4.2.4

Die Erinnerung im Internet.................................................. 357 Typlogische Übersicht – Betreiber und Zielsetzungen........... 358 Aktuelle Nutzer....................................................................... 358 Lokale Institutionen und Initiativen – Synagogen vor Ort....... 359 Forschungsinstitutionen – Auswahl deutscher Synagogen.... 361 Institutionen und Initiativen – Informationen zu Synagogen in thematisch weiter gefassten Webauftritten......................... 364 Neue Möglichkeiten der Rezeption – Hypertext, Kommunikation, Interaktivität, Zielgruppenvariabilität............ 377 Suchen und Finden................................................................ 379 Besuchszahlen....................................................................... 385

4.2.5 Resümee................................................................................ 391 4.2.5.1 Ausgleich von Defiziten traditioneller Erinnerungsformen...... 391 4.2.5.2 Umsetzung der Potentiale und Grenzen................................ 393 4.3

Zusammenfassung.............................................................. 396

Kapitel 5 Das „Synagogen-Internet-Archiv“ – Ein Experiment 5.1

Konzeptbeschreibung und Zielsetzungen......................... 400

5.2

Navigation und Funktionserläuterungen........................... 404

5.3

Technische Beschreibungen............................................... 412

5.4

Vorgehensweise und Verlauf der Realisierung.................. 413

5.5

Arbeitsthesen, Fragestellungen, Untersuchungsfelder.... 414

5.6 5.6.1 5.6.2 5.6.3

Auswertung.......................................................................... 417 Qualität, Art und Umfang der externen Beteiligung................ 418 Informationsgeber und Besucher........................................... 426 Herstellen von Öffentlichkeit................................................... 441

5.7

Zusammenfassung und Resümee...................................... 447

Ausblick und Schlussbemerkungen . .............................................. 451 Literaturverzeichnis .......................................................................... 459 Abbildungsnachweise ...................................................................... 471

Anhang Adressen der analysierten Websites zum Thema Synagogen.......... 478 Medienspiegel Synagogen-Ausstellung TU Darmstadt – Bonn........ 484 Medienspiegel Synagogen-Ausstellung TU Darmstadt – Tel Aviv . ... 491

Interviews Ulrich Best Leiter der Abteilung „Technische Medien“, KAH ........................... 495 Lothar Altringer Ausstellung „Vatikan“, KAH............................................................ 501 Hanns-Ulrich Mette (†) Pädagogische Leitung, KAH............................................................ 506 Maja Majer-Wallat Pressesprecherin der KAH.............................................................. 513 Susanne Kleine Ausstellungen „Azteken“ und „Troia“, KAH...................................... 518 Hans Ottomeyer Generaldirektor des DHM.............................................................. 523 Heidemarie Anderlik Sammlungsleiterin „Dokumente I“, DHM......................................... 528 Georg Heuberger Direktor (a. D.) des Jüdischen Museums Frankfurt (JMF)............... 532 Fritz Backhaus Ausstellung „Fragmente und Rekonstruktion“, JMF........................ 540 Agnieszka Lulinska Ausstellung Computer-Rekonstruktionen, Synagogen, KAH.......... 547 Nigel Cox (†) Head of Exhibitions & Visitor Communication, JMB......................... 556 Maren Krüger Neuzeitliche Synagogen, Dauerausstellung JMB............................ 566 Cilly Kugelmann Stellvertretende Direktorin, JMB...................................................... 571 Chana Schütz Centrum Judaicum, Ausstellung Holzmodelle, TU Braunschweig... 575 Sarah Harel Hoshen Diaspora-Museum, Tel Aviv – Ausstellung Synagogen................... 578 Orna Marhöfer, David Kessler Jüdische Gemeinde Mannheim....................................................... 585 Salomon Korn Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland................ 591 Danksagung........................................................................................ 603   

KAH = Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn DHM = Deutsches Historisches Museum, Berlin JMB = Jüdisches Museum Berlin



Einleitung

Architektur gehört seit jeher zu den großen kulturellen Leistungen der Menschheit. Sie ist gebaute Gesellschaftsordnung und Spiegelbild des Denkens und Handelns. Bauwerke mit religiöser, politischer oder profaner Nutzung verkörpern gleichsam einen wichtigen Teil des kulturellen Erbes von menschlichen Gesellschaften. Repräsentationsbauten stellen dabei oft diejenigen kulturellen Leistungen dar, für die am meisten Aufwand betrieben wird und die meisten materiellen Ressourcen zu Verfügung gestellt werden. Nicht selten werden sie an Orten mit symbolischer Aufladung errichtet oder verleihen den Standorten nach ihrer Errichtung eine besondere Symbolik. Blickt man in die Menschheitsgeschichte, dann ist der Verfall oder die mutwillige Zerstörung solcher symbolträchtiger Architekturen genauso eine Konstante wie die Versuche, an sie zu erinnern, um an die verlorene Symbolik anzuknüpfen oder um die Orte mit einer neuen Symbolik aufzuladen. Die bauliche Rekonstruktion ist hier zwar die konsequenteste und wirksamste Form der Erinnerung, bleibt aber die Ausnahme. Andere Formen überwiegen, so die Erinnerung in Form von Riten, die Erinnerung in mündlichen Überlieferungen, in Texten und in Bildern. Als den Methoden des Fachs Architektur nahestehend können diejenigen Erinnerungsformen angesehen werden, deren Schwerpunkt auf der visuellen Darbietung der zerstörten Erscheinungsform liegt, in erster Linie Zeichnungen und haptische Modelle. Für eine breite Öffentlichkeit stellten sie lange Zeit die einzige Möglichkeit dar, wenn es galt, an Bauwerke, die nicht mehr existierten oder von denen nur wenige Reste geblieben waren, zu erinnern. Die Weiterentwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie hat die Möglichkeiten der Darstellung zerstörter Architektur und deren Vermittlung revolutioniert. Die grafische Datenverarbeitung als Teil der Informationstechnologie hat eine Anschaulichkeit bei der Darstellung zerstörter Bauwerke erreicht, insbesondere bei Innenräumen, die mit anderen Mitteln bis jetzt nicht erzielt worden ist. Mit dem Internet hat sich ein gänzlich neues Medium entwickelt, das eine bislang zwingend notwendige Präsenz an und ein Aufsuchen von realen Orten in Frage stellen könnte. Neue Formen der Kommunikation sind ent-

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Immaterielle Zeugnisse

standen, die einen interaktiven Austausch in Echtzeit ermöglichen und traditionelle Medien mit ihrer einseitigen Kommunikation von Sender zu Empfänger als überholt erscheinen lassen. Sowohl mit den 3D-Computer-Rekonstruktionen als auch mit dem Internet gehen neue Formen der Informationsspeicherung einher. In der vorliegenden Studie wird untersucht, wo genau die Potentiale dieser Technologien für die Erinnerung an zerstörte Bauwerke liegen, welche Vorteile und Nachteile gegenüber traditionellen Formen der Erinnerung, aber auch, welche Grenzen und Randbedingungen bestehen. Am Beispiel der in der NS-Zeit zerstörten Synagogen Deutschlands sollen diese Fragestellungen vertiefend behandelt werden. Mit den Synagogen lassen sich sowohl in architekturhistorischer als auch in gesellschaftlicher Hinsicht relevante Fragestellungen des Themas Erinnerung vereinen. Als zerstörte – kulturell bedeutende – Gebäude werfen sie die prinzipielle Frage nach der Erinnerung an gewaltsam zerstörte Architektur auf. Gleichzeitig berührt der Umstand ihrer Zerstörung einen der relevantesten, gesellschaftlich am heftigsten diskutierten und sensibelsten Bereiche des Erinnerns – die Erinnerung an den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen. Kernthesen der Studie sind, dass 3D-Computer-Rekonstruktionen gegenüber traditionellen Rekonstruktionsformen wie Zeichnung und Modell ein höheres Maß an Anschaulichkeit, eine größere Kraft zur Emotionalisierung der Rezipienten und eine größere Wirksamkeit hinsichtlich der Herstellung von Öffentlichkeit besitzen und dass das Internet für die Erinnerungskultur gerade hinsichtlich einer Partizipation der Rezipienten neue, interessante Potentiale aufweist. Die Studie ist mit der Hoffnung verbunden, dass nicht nur Erkenntnisse für den Bereich der Architektur zu erzielen sind, sondern darüber hinaus für die Erinnerung an den Holocaust und für Erinnerungskultur im Allgemeinen. Ausgangspunkt für diese Forschungsarbeit ist die langjährige Tätigkeit bei der 3D-Computer-Rekonstruktion zerstörter deutscher Synagogen. Dieses Projekt wurde 1994 als Reaktion auf einen Anschlag von Neo-Nazis auf die Synagoge Lübeck vom Verfasser am Fachgebiet Informations- und Kommunikationstechnologie in der Architektur der TU Darmstadt initiiert. Dabei sollte nicht nur an die zerstörten Gotteshäuser erinnert werden, sondern gleichsam an die Entrechtung, Vertreibung und Ermordung ihrer Nutzer. Unter gemeinsamer Leitung mit Manfred Koob entstanden Publikationen, Filme und Ausstellungen, die die Ergebnisse der Öffentlichkeit präsentierten. In Darmstadt sind in zwölf Jahren 22 Synagogen rekonstruiert worden. Die Studie hat auch das Anliegen, diese Projekte zu dokumentieren und zu reflektieren sowie den Rahmen und das Echo systematisch aufzuarbeiten.

Einleitung

Die vorliegende Publikation umfasst fünf Kapitel. Das erste Kapitel beinhaltet eine Einführung zum Thema Architektur und Erinnerung anhand der Betrachtung traditioneller Erinnerungsformen. Das zweite Kapitel behandelt diese traditionellen Formen der Erinnerung am Beispiel der Synagogen, das dritte Kapitel gibt eine Einführung in das Thema Erinnerungskultur und Informations- und Kommunikationstechnologie mit Schwerpunkt 3D-Computer-Rekonstruktionen und Internet. Das vierte Kapitel beinhaltet eine Bestandsaufnahme und Bewertung der Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen und Internet am Beispiel der Synagogen. Das letzte Kapitel dokumentiert den empirischen Teil der Studie, der die Entwicklung und Auswertung einer experimentellen Internetanwendung zum Gegenstand hat. Das Fehlen von Forschungsergebnissen zu Beginn der Untersuchungen hatte Auswirkung auf Methodik und Gliederung. Grundlagen mussten zunächst erarbeitet werden. Methodisch wird mit einem Vergleich zwischen traditionellen Formen der Erinnerung und solchen, die auf Informations- und Kommunikationstechnologien basieren, gearbeitet. Neue Formen der Erinnerung sind besser einzuschätzen und zu entwickeln, wenn man sich der Stärken und Schwächen des Traditionellen bewusst ist. In der Gegenüberstellung von Neuem und Traditionellem lassen sich die Potentiale und Grenzen des Neuen gut aufzeigen. Mit eigens generierten Kriterienkatalogen werden traditionelle und computerbasierte Erinnerungsformen verglichen, erörtert und bewertet – sowohl in einem übergeordneten Sinn als auch am konkreten Beispiel der Synagogen. Ein Schwerpunkt der vergleichenden Betrachtung beim Thema Synagogen ist die Gegenüberstellung zweier universitärer Projekte aus Braunschweig und Darmstadt. Das Fachgebiet Baugeschichte der TU Braunschweig beschäftigt sich seit 1995 mit dem Thema der synagogalen Architektur vor 1945 und hat hierzu Publikationen veröffentlicht und eine Sammlung von Holzmodellen deutscher Synagogen aufgebaut, die auch Kern einer Wanderausstellung ist. An der TU Darmstadt, Fachgebiet Informations- und Kommunikationstechnologie, werden seit 1994 Synagogen, die in der NSZeit zerstört wurden, als 3D-Computermodelle rekonstruiert. Auch hier konnten mehrere Ausstellungen realisiert werden. In die Untersuchung fließen sowohl eigene Erfahrungen als auch Erkenntnisse von Experten ein, die im Rahmen dieser Studie befragt wurden. Dass hierbei eine Reihe von Projekten – vor allem im Bereich der 3D-Computer-Rekonstruktion – thematisiert werden, bei denen der Autor selbst beteiligt war, birgt prinzipiell die Gefahr mangelnder Objektivität. 

Dies betrifft Projekte der TU Darmstadt, FG IKA, Informations- und Kommunikationstechnologie in der Architektur (Manfred Koob) sowie Projekte der Ar-

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Immaterielle Zeugnisse

Auf der anderen Seite steht der Vorteil, tiefere Einblicke in solche Projekte vermitteln zu können. Die Befragungen der Experten und Expertinnen sind gerade unter dem Aspekt des Anspruchs auf Sachlichkeit und „Neutralität“ konzipiert und mitaufgenommen worden. Sie sind in ganzer Länge im Anhang dokumentiert. Zur Einführung in die Thematik der Forschungsarbeit widmet sich das erste Kapitel zunächst den Begriffsbestimmungen der Bereiche Erinnerung sowie Erinnerung im Kontext von Architektur. Als erste Grundlage für die vergleichende Betrachtung erfolgt dann die Behandlung traditioneller Formen der Erinnerung an zerstörte Bauwerke. Vier Aspekte gliedern das erste Kapitel. Erstens eine typologische Aufstellung der Erinnerungsformen mit den Schwerpunkten bauliche Rekonstruktion, haptisches Modell und Zeichnung, jeweils mit einem Blick in die Geschichte dieser Rekonstruktionsformen. Zweitens die Frage nach der Wirksamkeit dieser Erinnerungsformen, drittens die Frage nach den verschiedenen Akteuren und Adressaten und viertens die Frage nach den verschiedenen Intentionen. Für die Beurteilung der Wirksamkeit von Erinnerungsformen ist ein Kriterienkatalog entwickelt worden, der auch den späteren Kapiteln als Grundlage dient. Er beinhaltet die Punkte: die Fähigkeit, zerstörte Architektur zu veranschaulichen, die Fähigkeit, Rezipienten zu emotionalisieren und zu involvieren sowie die Fähigkeit, Erinnerungsdiskurse auszulösen und zu beeinflussen, viele Menschen zu erreichen und letztendlich anregend zu wirken für eine Erinnerungskultur. Das zweite Kapitel greift die Thematik der traditionellen Erinnerungsformen am Beispiel der Synagogen wieder auf. Dabei liegt der Fokus auf den Synagogen, deren Standorte sich auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland befinden. Am konkreten Beispiel erfolgt eine typologische Übersicht der verschiedenen traditionellen Formen der Erinnerung. Behandelt werden die Erinnerungsformen am authentischen Ort – Gedenktafeln, Gedenksteine, Mahnmalanlagen, Wiedernutzung durch jüdische Gemeinden und Wiederherstellungen zu Gedenkorten – sowie die „ortsunabhängigen“ Erinnerungsformen Modell, Ausstellung, Buch, audiovisuelle Informationsträger. Ein Schwerpunkt dieses Kapitels liegt auf der Betrachtung des universitären Projektes aus Braunschweig und der dort entstandenen haptischen Modelle. Die Betrachtung dieses Projektes bildet eine Basis für einen Vergleich mit den 3D-Computer-Rechitectura Virtualis GmbH, Darmstadt, die von Manfred Koob (Wissenschaftliche Leitung) und dem Verfasser geleitet wird. Neben der Rekonstruktion zerstörter Synagogen umfasst dies u.a. die Beteiligung an den 3D-ComputerRekonstruktionen des Vatikanischen Palastes zur Zeit der Hochrenaissance, des Moskauer Kremls, des Berliner Schlosses, der Bojana-Kirche in Sofia und des Templo Mayor in Mexiko City.

Einleitung

konstruktionen von Synagogen der TU Darmstadt. Aufgrund der wenigen Forschungsergebnisse zum Thema Erinnerung und Synagogen schien es ratsam, neben eigenen Erkenntnissen und der Verwendung der bis jetzt vorliegenden Literatur, eine Befragung von Experten mit Hilfe von Fragebögen und Interviews durchzuführen. Es wurden die Landesdenkmalbehörden, die Landeszentralen für politische Bildung, die Jüdischen Landesverbände sowie mit dem Thema vertraute Einzelpersonen angesprochen und darum gebeten, für die einzelnen Bereiche beispielhaft gelungene Formen der Erinnerung zu nennen. Die Antworten der Institutionen deckten bis auf Bremen und das Saarland alle Bundesländer ab. Die Bestandsaufnahme endet mit einem Resümee über die Stärken und Defizite der traditionellen Erinnerungsformen. Zum besseren Verständnis des Themas beginnt das zweite Kapitel mit einem kurzen Abriss der Geschichte der Synagogen mit Schwerpunkt auf architektonische Zusammenhänge, auf die Umstände ihrer Zerstörung in der NS-Zeit und auf die Frage, was von der Architektur der Synagoge nach 1945 in Deutschland erhalten blieb. Nachdem in den ersten beiden Kapiteln traditionelle Erinnerungsformen thematisiert wurden, stellt das dritte Kapitel eine Einführung in die Thematik der Potentiale und Grenzen von Informations- und Kommunikationstechnologie für die Erinnerungskultur dar. Hier erfolgen zunächst die Begriffsklärungen und die Darlegung des Forschungsstandes. Dann werden die beiden Schwerpunkte der Studie – die 3D-Computer-Rekonstruktionen als Teil der Informationstechnologie und das Internet als Teil der Kommunikationstechnologie – behandelt. Das dritte Kapitel soll deutlich machen, welche Potentiale, Grenzen und Randbedingungen in den 3D-Computer-Rekonstruktionen und im Internet für die Erinnerungskultur im Allgemeinen zu sehen sind, und dient als Basis für das vierte Kapitel, das die Erinnerung an Synagogen mittels dieser Technologien zum Thema hat. So ist es möglich, die computerbasierten Erinnerungsformen im Bereich der Synagogen in einen allgemeinen Kontext einzuordnen und die im dritten Kapitel entwickelten Thesen am konkreten Beispiel der Synagogen zu überprüfen. Die Betrachtung des ersten Schwerpunkts des dritten Kapitels – der 3D-Computer-Rekonstruktionen – beginnt mit den grundlegenden Aspekten Produktion, Präsentation und Wahrnehmung. In einem anschließenden Vergleich werden die im ersten Kapitel entwickelten Kriterien zu den Wirksamkeiten von Erinnerungsformen – Anschaulichkeit, Emotionalisierung und Involvierung der Rezipienten sowie Diskurspotential – um die Aspekte Erstellungs-, Präsentations- und Erhaltungsaufwand ergänzt. Für die Bewertung wurden die Ergebnisse der Interviews mit Museumsfachleuten der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik

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Immaterielle Zeugnisse

Deutschland in Bonn (KAH bzw. Bundeskunsthalle) und des Deutschen Historischen Museums in Berlin (DHM), die in ihrer beruflichen Tätigkeit sowohl mit haptischen Modellen als auch mit 3D-Computer-Rekonstruktionen gearbeitet haben, hinzugezogen. Die Bundeskunsthalle zählt zu den Museen mit der größten Erfahrung hinsichtlich digitaler Modelle. Begünstigt durch ein stets wechselndes Programm sind 3D-Computer-Rekonstruktionen immer wieder Bestandteil von Ausstellungen. Beispielhaft sind zu nennen: „Hochrenaissance im Vatikan“ (1998), „Troia – Traum und Wirklichkeit“ (2002), „Azteken“ (2003) oder „Der Kreml – Gottesruhm und Zarenpracht“ (2004). Bei der im Jahre 2000 durchgeführten Ausstellung „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ standen die Computermodelle selbst im Mittelpunkt der Ausstellung, waren deren Hauptexponate. Die Computermodelle in diesen Ausstellungen decken auch eine repräsentative Bandbreite ab – vom interaktiv geführten Modell über den geführten interaktiven Film bis zum Simulationsfilm. Auch das Deutsche Historische Museum in Berlin besitzt eine langjährige Erfahrung mit digitalen und haptischen Rekonstruktionsmodellen. Der zweite Schwerpunkt des dritten Kapitels thematisiert das Internet als neues Medium der Vermittlung und Kommunikation für die Erinnerungskultur. Da aufgrund des kurzen Bestehens des erst Mitte der 90er Jahre eingeführten World Wide Webs keine relevanten Forschungsergebnisse vorlagen, wurde im Rahmen eines universitären Seminars eine eigene Untersuchung durchgeführt. Um einen möglichst breiten Überblick über Erinnerung und Gedenken im Internet zu erhalten, wurde das World Wide Web gezielt nach den traditionellen Inhalten und Institutionen des kulturellen Gedächtnisses abgesucht. So beinhaltete die Suche zum einen historische Ereignisse, berühmte Persönlichkeiten, bedeutende Ideen sowie zerstörte Bauwerke, zum anderen die immateriellen Abbilder der Institutionen des kulturellen Gedächtnisses wie Museen, Archive und Gedenkstätten. Es wurden beispielsweise gezielt alle Websites der bekannten Gedenkstätten von Konzentrations- bzw. Vernichtungslagern in Augenschein genommen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind in Form eines typologischen Überblicks dargelegt. Dessen Gliederung richtet sich nach der Frage, wer die entsprechende Internetpräsentation­ mit welchem Selbstverständnis und welcher Zielsetzung betreibt. Im Anschluss folgt der Versuch, die Chancen und die Grenzen dieses Mediums für die Erinnerungskultur anhand einer Gegenüberstellung mit den Möglichkeiten traditioneller Formen der Erinnerung zu skizzieren. Auf eine quantitative Untersuchung wurde verzichtet, da das dritte Kapitel nur eine erste Sichtung und Annäherung darstellt, die Prinzipielles anhand von konkreten Beispielen deutlich machen soll. Der Vergleich mit den traditionellen Erinnerungsformen beleuchtet sechs Aspekte: erstens Erstellungs-

Einleitung

aufwand, Seriosität und Aktualisierungspotential, zweitens Reichweite und Verfügbarkeit, drittens Kapazität und Erzielen von Aufmerksamkeit, viertens neue Möglichkeiten der Rezeption – Hypertext, Interaktivität, Kommunikation, Multimedialität, Zielgruppenvariabilität –, fünftens Beständigkeit und Erhaltungsaufwand sowie sechstens Sinnlichkeit und künstlerische Gestaltung. Nach den prinzipiellen Einführungen zum Thema Erinnerungskultur und Informations- und Kommunikationstechnologie erfolgt im vierten Kapitel die Betrachtung digitaler Technologien am konkreten Beispiel der Synagogen. Analog zum vorherigen Kapitel und der Differenzierung der Fragestellung entsprechend, gliedert sich auch das vierte Kapitel in die zwei Teilaspekte 3D-Computer-Rekonstruktionen und Internet. Beiden folgt nach einer Bestandsaufnahme die Bewertung hinsichtlich folgender Fragestellungen: Inwieweit können die im zweiten Kapitel festgestellten Defizite traditioneller Erinnerungsformen bei dem Thema Synagogen durch den Einsatz digitaler Technologien ausgeglichen werden? Inwieweit wurden die Potentiale und Randbedingungen der Informations- und Kommunikationstechnologie, die im dritten Kapitel in allgemeiner Form aufgezeigt wurden, beim konkreten Beispiel der Synagogen umgesetzt bzw. bestätigt. Welche Grenzen der digitalen Technologien sind festzustellen? Bei den 3D-Computer-Rekonstruktionen steht das Projekt „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ im Mittelpunkt der Betrachtung. Entstanden am Fachgebiet IKA der Technischen Universität Darmstadt, ist dieses Projekt das erste und das umfangreichste, das zerstörte deutsche Synagogen zum Inhalt hat. Seit über zehn Jahren umfasst es Forschungsarbeiten mit der Fragestellung, wie mittels digitaler Technologie die Erinnerung an die zerstörten deutschen Synagogen zu erzielen ist. Die Ergebnisse wurden unter anderem in Form von Büchern, Katalogen, Ausstellungen und Internetpräsentationen veröffent­ licht. Neben dem Darmstädter Projekt, an dem der Verfasser maßgeblich beteiligt war, widmet sich ein zweiter Abschnitt weiteren 3D-ComputerRekonstruktionen von Synagogen. In der abschließenden Bewertung liegt ein Schwerpunkt auf dem Vergleich des Darmstädter Projektes mit dem der TU Braunschweig und den dort erstellten haptischen Modellen und durchgeführten Ausstellungen. Wiederum kommen hier Museumsfachleute, aber auch Vertreter und Vertreterinnen jüdischer Institutionen zu Wort, die in Interviews ihre jeweilige Erfahrung und Sichtweise zu den 3DComputer-Rekonstruktionen einerseits und den traditionellen Rekonstruktionsformen andererseits darlegen. Die Bewertung orientiert sich an den Kriterien, die in den vorherigen Kapiteln bereits entwickelt worden sind: Anschaulichkeit, Emotionalisierung und Involvierung der Rezipienten, Medienattraktivität und Verbreitungsgrad sowie Erstellungs-, Präsenta-

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Immaterielle Zeugnisse

tions- und Erhaltungsaufwand. Der zweite Teil des vierten Kapitels behandelt die Frage nach der Erinnerung an Synagogen im Internet. Bei der Recherche zu Internetangeboten wurde versucht, alle Websites, die sich explizit einer oder einer Auswahl von Synagogen widmen, zu erfassen. Hierbei handelt es sich in der Regel um Internetauftritte zu Forschungsprojekten, zu Gedenkstätten oder von Bürgerinitiativen, die sich um die Erinnerung an eine bzw. mehrere Synagogen bemühen. Darüber hinaus wurden exemplarisch Websites erfasst, die eine Synagoge als Teilaspekt eines weiter gefassten Themas beinhalten. Hierzu zählen beispielsweise lokale Websites zum Thema Nationalsozialismus oder kommunale Internetauftritte, die Synagogen unter den Aspekten Kultur, Geschichte, Sehenswürdigkeiten etc. aufführen. 134 Websites wurden in der Bestandsaufnahme untersucht. Sie geht den folgenden Fragestellungen nach: Welche typologische Einteilung der Websites kann bezogen auf Betreiber und Zielsetzungen erfolgen? Inwieweit kommen die neuen Möglichkeiten der Rezeption – Hypertextualität, neue Formen der Kommunikation, Interaktivität und Multimedialität – bei den verschiedenen Webpräsentationen zum Thema Synagogen zur Anwendung? Wie sind die Projekte aus Darmstadt und Braunschweig im Internet vertreten? Wie gut sind Informationen zu Synagogen im Internet zu finden, welche Ergebnisse liefern Suchmaschinen? Welche Besucherzahlen sind bei Websites zum Thema Synagogen festzustellen? In der abschließenden Bewertung wurde gefragt, inwieweit die Defizite traditioneller Erinnerungsformen durch das Medium Internet auszugleichen waren, inwieweit die Potentiale genutzt wurden und welche Grenzen festgestellt werden konnten. Die ersten Untersuchungen des Internets zum Thema „Erinnerung an die zerstörten Synagogen“ machten schnell klar, dass die Potentiale, wie sie gerade in Hinsicht einer Partizipation der Rezipienten gesehen werden können, von den bestehenden Websites nicht umgesetzt werden. Ähnliche Ergebnisse ergaben sich auch bei den Analysen im dritten Kapitel. Um zu klären, ob diese Potentiale dennoch umzusetzen bzw. unter welchen Randbedingungen sie umzusetzen sind, erfolgte die Aufstellung eines „Experiments“, das Gegenstand des fünften Kapitels ist. In einer zweijährigen Entwicklungszeit wurde eine Datenbank erstellt, die Informationen zu über 2.100 Synagogen beinhaltet und mit dem Internet verknüpft ist. Konzept der Internetanwendung ist es, einen Grundstock an Daten für jede Synagoge bereitzuhalten und Nutzern des Webs zu ermöglichen, dieses Archiv durch das Hinzufügen von Bildern, Kommentaren, Links und Zeitzeugenberichten weiter auszubauen. Diese externen Beiträge sind sofort online, um die Attraktivität für die Nutzer zu erhöhen. Die Grundinformationen in diesem „Synagogen-Internet-Archiv“ entstammen der Literatur. Für jede Synagoge ist die verwendete Literatur auf-

Einleitung

geführt. Von 2002 bis 2004 wurde die Nutzung und Frequentierung des Internet-Archivs untersucht und dokumentiert. Das Hauptgewicht bei der Untersuchung lag auf der Frage, ob es gelingt, mit Hilfe des Internets partizipative Formen des Erinnerns an die zerstörten Synagogen zu verwirklichen. Gibt es überhaupt eine nennenswerte Anzahl an eingegangenen Beiträgen und an Personen, die sich beteiligen? Wie ist die Qualität und Seriosität dieser externen Beiträge zu beurteilen und wie lässt sich die Verifizierung und Kontrolle gewährleisten? Welcher Aufwand an Kontrolle, aber auch an Pflege der Informationen ist sinnvoll und unter welchen Rahmenbedingungen realisierbar? Darüber hinaus ergaben die Analysen und Thesen aus Kapitel drei und vier eine Reihe weiterer Fragestellungen: Wer sind die Personen, die sich beteiligen? Gelingt es Zeitzeugen, welche die Synagogen noch aus eigener Anschauung kennen, in nennenswerter Zahl zu erreichen und zur Mitarbeit zu bewegen? Wie erfolgt der Prozess der Bekanntmachung? Welche Rolle spielen hierbei traditionelle Medien? Wieviele Menschen besuchen die Website? Wie groß ist ihre Verweildauer und wie verteilen sich die Besuche über das Jahr? Bleibt Internationalität im Sinne von World Wide Web ein Schlagwort oder ist tatsächlich eine weltweite Nutzung zu verzeichnen? Neben der Beantwortung dieser Fragen beinhaltet das fünfte Kapitel die Konzeptbeschreibung, die Erläuterung der Vorgehensweise und der Realisierung, Aussagen zur Navigationsstruktur der Website, technische Beschreibungen sowie ein Fazit. Die Schlussbemerkungen beinhalten auch einen Ausblick auf zukünftige Chancen digitaler Technologie für die Erinnerungskultur. Angesprochen werden u.a. Möglichkeiten, die im Rahmen der Einführung des Satelliteninformationssystems Galileo und in Kombination mit schnellen Daten-Übertragungsraten für mobile Computer im Internet zur Anwendung kommen könnten oder die Erzeugung haptischer Modelle aus digitalen Datensätzen und deren Kombination mit Computermodellen in Museumsexponaten.

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Kapitel 1 Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung

Architektur gehört seit jeher zu den symbolträchtigsten kulturellen Leistungen menschlicher Gesellschaften. In ihr verkörpern sich politische und religiöse Weltanschauungen und Identitäten. Genauso ist die Zerstörung solcher symbolträchtiger Architektur in Folge von Kriegen und innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen eine Konstante in der Menschheitsgeschichte und die Zerstörung der Bauwerke zielte allzu oft auf die Vernichtung der Symbolik, auf die Zerstörung der Identität ihrer Benutzer. Neben einer gewaltsamen Zerstörung verfielen oder verschwanden bedeutende Bauwerke aber auch immer wieder, weil die Gesellschaft, die sie erbaut hatte, sich auflöste oder in eine neue Gesellschaft überging, die wiederum neue symbolträchtige Architektur schuf. Genauso wie der Verlust von Architektur eine Konstante der Kulturgeschichte ist, so ist der Wiederaufbau und die Erinnerung an sie eine Konstante. Erinnerung an Architektur heißt immer auch die Erinnerung an die verlorene Symbolik, ein Anknüpfen an eine frühere Identität und das kulturelle Erbe vergangener Zeiten. Es bildeten sich so im Laufe der Zeit Formen und Praktiken heraus, an zerstörte Architektur zu erinnern. Die Betrachtung dieser traditionellen Formen der Erinnerung und deren Begleitumstände sind Gegenstand des ersten Kapitels. Der Fokus liegt dabei auf dem authentischen Ort und den ortsunabhängigen Erinnerungsformen Zeichnung und Modell. Behandelt werden weiter die Akteure und Adressaten sowie die unterschiedlichen Intentionen der Erinnerung. Im ersten Kapitel werden darüber hinaus Kriterien entwickelt, anhand derer die Wirksamkeiten der verschiedenen Erinnerungsformen zu diskutieren sind. Dieser Kriterienkatalog dient allen späteren Kapiteln als Basis der Bewertung für die analysierten Erinnerungsformen, für die traditionellen genauso wie für die Formen der Erinnerung, die auf Informations- und Kommunikationstechnologien basieren. Hierbei werden wichtige Fragestellungen hinsichtlich des Umgangs mit zerstörter Architektur angesprochen, die es möglich machen, die Formen der Erinnerung an Synagogen in einen Gesamtkontext einzuordnen. Am Anfang steht zunächst die Klärung der zur Anwendung kommenden Begriffe und eine Bezugnahme zum Erinnerungsdiskurs, der in den letzten Jahren eine enorme Auswei-

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Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung

tung erfuhr und auf den sich eine zunehmende Zahl wissenschaftlicher Disziplinen bezieht. Die vorliegende Forschungsarbeit soll aus der Sicht der Architektur hier einen Beitrag leisten.

1.1 Begriffsklärungen Wenn von Erinnerung im Kontext von Architektur die Rede sein wird, dann geschieht dies auf dem Hintergrund interdisziplinärer Diskurse, die sich um die Begriffe „Erinnerungskultur“ und „Kulturelles Gedächtnis“ bewegen und die die gesellschaftliche Funktion des Erinnerns thematisieren. Deswegen beginnt die Klärung der Begriffe mit einer allgemeinen Sicht auf das Thema Erinnerung. In einem zweiten Schritt folgt die Anwendung der Begriffe auf die Architektur. Erinnerung ist als Ausdruck und „Ergebnis“ sozialer „Prozesse“ zu verstehen, die das Anliegen haben, an etwas zu erinnern. Es geht in diesem Sinne um das „Erinnern an“ und nicht um ein „sich Erinnern“. Thomas Will unterscheidet genau dies im Kontext der Architektur, indem er auf der einen Seite von Architektur als „Inhalt“ der persönlichen Erinnerung spricht und von Architektur als „Medium“ der Erinnerung, als „Träger kultureller Zeichen, als Übermittler von Geschichte“ auf der anderen Seite. Es geht damit um die gesellschaftliche Dimension des Erinnerns, um eine Kultur des Erinnerns und nicht um den individuellen Vorgang. So wird von dem Begriff der Erinnerungskultur die Rede sein: Mit Jan Assmann gesprochen handelt es sich bei Erinnerungskultur „um die Einhaltung einer sozialen Verpflichtung. Sie ist auf die Gruppe bezogen. Hier geht es um die Frage: ‚Was dürfen wir nicht vergessen?‘“

und weiter:



Siehe hierzu die Ausführungen von Astrid Erll: A. Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart / Weimar 2005, S. 1-4.  Vgl. Erll 2005, S. 7, „Über die Disziplinen hinweg besteht weitgehend Einigkeit, dass Erinnern als ein Prozess, Erinnerungen als dessen Ergebnis [...] zu konzipieren ist“.  T. Will: Projekte des Vergessens? Architektur und Erinnerung unter den Bedingungen der Moderne, in: H.-R. Meier / M. Wohlleben: Bauten und Orte als Träger von Erinnerung, Zürich 2000, S. 118. Will spricht in diesem Zusammenhang auch von der direkten Erinnerung und der indirekten Erinnerung (S. 117-118).  J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis – Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999, S. 30.

Begriffsklärungen „Gesellschaften imaginieren Selbstbilder und kontinuieren über die Generationenfolge hinweg eine Identität, indem sie eine Kultur der Erinnerung ausbilden; und sie tun das [...] auf ganz verschiedene Weise“.

Die Frage, was nicht vergessen werden darf und an was und wie erinnert werden soll, bleibt in einer Gesellschaft, in der in der Regel verschiedene Interessen existieren, umstritten. Und nicht nur der Gegenstand der Erinnerung ist umstritten, auch die Intentionen derjenigen, die erinnern.10 Erinnerung ist im gesellschaftlichen Kontext immer als Konstruktion anzusehen, sie ist nicht objektiv. Vergangenheit wird in der Gegenwart rekonstruiert11, um eine Botschaft zu vermitteln, die sowohl gegenwärtiges wie auch zukünftiges Handeln tragen bzw. legitimieren soll. „Gegenwartsbezug und konstruktiver Charakter“ sind zwei zentrale Merkmale von Erinnerung, um mit Astrid Erll zu sprechen.12 Jan Assmann spricht bezugnehmend auf Maurice Halbwachs von Vergangenheit als: „soziale Rekonstruktion, deren Beschaffenheit sich aus den Sinnbedürfnissen und Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwarten her ergibt. Vergangenheit steht nicht naturwüchsig an, sie ist eine kulturelle Schöpfung.“13

Erinnerungskultur kann demnach als die Gesamtheit und Vielfalt von Äußerungen und Handlungen einer sozialen Gruppe verstanden werden, die etwas Vergangenes thematisieren und eine gesellschaftliche Funktion im Sinne einer Selbstvergewisserung und Identitätsstiftung darstellen. Sie dient der Legitimierung gegenwärtigen Denkens und Handelns. In diesem Sinne wird auch „Erinnerung an Architektur“ verwendet, als ein planmäßiges Bewusstmachen nicht mehr existenter Bauwerke und Stadtanlagen, welches im gesellschaftlichen Kontext der Gegenwart einen selbstvergewissernden und identitätsstiftenden Charakter aufweist. Die Darstellung zerstörter Bauwerke und Stadtanlagen erhält umso mehr „erinnernden“ Charakter, je mehr das „planmäßige Bewusstmachen“ dieser Architektur über das reine Informieren, über das Vermitteln von Wissen hinaus reicht. Wenn beispielsweise in Mexiko-City an den  J. Assmann 1999, S. 18. 10 Ein gutes Beispiel ist die Auseinandersetzung um die Legitimierung des Einsatzes deutscher Soldaten im Kosovo-Krieg durch Außenminister Joschka Fischer. Er erfolgte unter Rückgriff auf vermeintliche Lehren aus Auschwitz. Überlebende von Auschwitz verwahrten sich daraufhin in einem Aufruf in deutschen Tageszeitungen gegen eine solche Instrumentalisierung. 11 Vgl. J. Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: J. Assmann / T. Hölscher: Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 13. 12 Erll 2005, S. 7. 13 J. Assmann 1999, S. 48.

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ehemaligen Haupt-Tempel der Azteken erinnert wird, der im Zuge der spanischen Eroberung zerstört worden ist und an dessen Stelle sich die heutige Kathedrale befindet, dann geschieht das auch im Kontext eines stärker werdenden Bezugs auf die indigenen Wurzeln und im Kontext eines Identitätswandels der mexikanischen Gesellschaft. Auch das Thematisieren der zerstörten Synagogen hat durch die Umstände der Zerstörung eine Bedeutung, die weit über das Architektonische, das Informierende hinausweist und die Aktualität einer Beschäftigung mit der NS-Zeit für die heutige bundesrepublikanische Gesellschaft reklamiert. Hier ordnet sich dieses Thema in einen Gesamtkomplex „NS-Zeit“ ein, der im nationalen Diskurs identitätsstiftend war und ist. Die Frage, ob Darstellung von Architektur erinnernden Charakter hat und sich von reiner Wissensvermittlung abgrenzt, kann anhand der oben angeführten Definition diskutiert werden. Prinzipiell erschließt sich ein solcher erinnernder Charakter aber nicht allen Rezipienten und Rezipientinnen gleichermaßen. Er ist vielmehr auch abhängig von ihren Kenntnissen über die jeweilige spezifische Erinnerungskultur einer Gesellschaft und dem Bezug, den sie zu ihr haben. In einem universelleren Sinne ist auch unter dem Stichwort „culture heritage“ von Erinnerung an Architektur die Rede. Architektur gehört seit jeher zu den großen kulturellen Leistungen der Menschheit. Sie ist gebaute Gesellschaftsordnung und Spiegelbild kulturellen Handelns. In ihrer Bandbreite von Alltagsgebäuden bis Repräsentationsbauten einer Gesellschaft verkörpert sie einen wichtigen Teil des kulturellen Erbes menschlicher Gesellschaften. Sich dieses kulturelle Erbe bewusst zu machen und an nicht mehr vorhandene Bauwerke und Stadtanlagen zu erinnern, hat in den letzten Jahren unter dem Stichwort „Kulturerbe“ Bedeutung gewonnen. Große internationale Kongresse wie zum Beispiel die Tagung „Sacred Buildings and Historical Sites“, 1998 organisiert von der Kultursektion der Weltbank in Washington, zeugen davon.14 Dabei wird auf die Bedeutung von Architektur als Träger von kultureller Identität hingewiesen, ein Umstand, der besonders für Staaten des Trikonts eine Bedeutung aufweist, da sie mit einer Überformung ihrer Gesellschaften durch westliche Werte samt deren architektonischen Manifestationen konfrontiert waren und sind. Neben „erinnern“ (an), „Erinnerung“ und „Erinnerungskultur“ wird im Folgenden auch von dem „kulturellen“ und „kommunikativen Gedächtnis“ die Rede sein, Begriffe, die von Jan und Aleida Assmann geprägt wurden. Unter dem Begriff „kulturelles Gedächtnis“ fasst Jan Assmann 14 Siehe hierzu die gleichnamige Publikation: I. Serageldin / E. Shluger / J. Martin-Brown (Hg.): Historic Cities and Sacred Sites, Washington, D. C., 2001.

Begriffsklärungen

„den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt“.15 Das kommunikative Gedächtnis speist sich aus den direkten Erinnerungen der Lebenden, den „Zeitgenossen“, und entspricht einem „Erinnerungsraum“ von „3 – 4 Generationen“.16 Inhaltlich stehen sich die Begriffe „Erinnerungskultur“ und „kulturelles Gedächtnis“ nahe, der Begriff der Erinnerungskultur transportiert aber deutlicher den gesellschaftlichen Prozess von Erinnerung, während der Begriff des Gedächtnisses die Assoziationen mit dem Komplex „Speicherung“ auf sich zieht. So erhält der Begriff der Erinnerungskultur an vielen Stellen den Vorzug. Nichtsdestotrotz sind die hinter dem Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“ stehenden Arbeiten von Jan und Aleida Assmann ein wichtiger Bezugspunkt. In ihnen werden das „kulturelle Gedächtnis“ und das „kommunikative Gedächtnis“ als die zwei Formen gesellschaftlicher „kollektiver Erinnerung“ definiert (kollektives Gedächtnis17).18 An dieser Stelle sei auf ein weiteres Begriffspaar im Kontext des kulturellen Gedächtnisses eingegangen, das in die Studie Eingang fand und von Aleida Assmann entwickelt wurde: Speichergedächtnis und Funktionsgedächtnis.19 Das Funktionsgedächtnis hat die Aufgabe der „Legitimation“ oder „Delegitimation“20 politischer, gesellschaftlicher Machtkonstellationen und der Herausbildung „kollektive[r] Identität“21 und weist einen „vitalen Bezug zur Gegenwart“ auf.22 Hauptmerkmale sind „Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung“23. Es ist

15 J. Assmann 1988, S. 15. 16 Siehe J. Assmann 1999, S. 50. 17 In der Diskussion um das kulturelle Gedächtnis wird auch oft der Begriff „kollektives Gedächtnis“ verwendet. Ihm haftet aber etwas von einer imaginierten Homogenität des vermeintlichen Kollektivs an. Er kommt deshalb hier nicht zur Anwendung. Allerdings hat Astrid Erll eine weit gefasste Definition vorgenommen, die sich dieser Problematik entzieht und hier nicht unerwähnt bleiben soll: „Das ‚kollektive Gedächtnis‘ ist ein Oberbegriff für all jene Vorgänge organischer, medialer und institutioneller Art, denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenem und Gegenwärtigem in soziokulturellen Kontexten zukommt.“ Erll 2005, S. 5/6. 18 Vgl. J. Assmann 1999, S. 48. 19 Siehe hierzu auch die Zusammenfassung bei Erll 2005, S. 31. 20 A. Assmann: Erinnerungsräume – Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 138. 21 Ebd., S. 139. 22 Ebd., S. 134. 23 Ebd.

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der Teil des kulturellen Gedächtnisses, von dem in der Gesellschaft aktuell Gebrauch gemacht, ein „Sinn“24 konstruiert wird. Das Funktionsgedächtnis weist „bedeutungsgeladene[]“ Elemente, das Speichergedächtnis hingegen „bedeutungsneutrale[] Elemente[]“ auf.25 Letzteres enthält das „unbrauchbar, obsolet und fremd Gewordene, das neutrale, identitäts-abstrakte Sachwissen, aber auch das Repertoire verpasster Möglichkeiten, alternativer Optionen und ungenutzter Chancen“.26 Es dient als „Reservoir zukünftiger Funktionsgedächtnisse“ und als deren „Korrektiv“.27 Hierfür ist allerdings eine „hohe Durchlässigkeit der Grenze zwischen Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis“28 von Nöten. Die Bedeutung dieser Begrifflichkeit unterstreicht Astrid Erll treffend in einer Gegenüberstellung mit dem Begriff der Tradition: „Das ‚kulturelle Gedächtnis‘ besteht im Gegensatz zur ‚Tradition‘ sowohl im ‚Modus der Potentialität als Archiv, als Totalhorizont‘ als auch im ‚Modus der Aktualität‘ (J. Assmann 1988, S. 13). Mit dem Traditionsbegriff bekommt man nur die Aktualität, also den Funktionsbereich des kulturellen Gedächtnisses, in den Blick. Damit bezeichnet der Assmann’sche Begriff des kulturellen Gedächtnisses als Gesamtheit von Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis nicht nur einen größeren Objektbereich, als dessen Teilmenge Traditionen zu begreifen wären. Mit ihm kann auch beschrieben werden, woraus sich Traditionen speisen und was bei ihrer Konstitution in Vergessenheit gerät“.29

Bezieht man die Begriffe Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis auf die Architektur, dann gehören zum Funktionsgedächtnis all diejenigen zerstörten oder existenten Bauwerke sowie authentischen Orte, die in der Konstruktion von Selbstbild und Identität einer Gesellschaft eingebunden sind. Als Beispiele sind das Heidelberger Schloss, das Berliner Schloss, die Frauenkirche in Dresden, aber auch die Berliner Synagoge in der Oranienburger Straße zu nennen. Zum Speichergedächtnis zählen hingegen all die Bauwerke und Orte, die von der Gesellschaft „vergessen“ und verdrängt sind. Gerade Architektur und authentische Orte sind eine wichtige Teilmenge des Speichergedächtnisses, da sie zum einen durch ihre Größe und Materialität eine lange Haltbarkeit aufweisen und zum anderen selbst bei völliger Zerstörung etwas erhalten bleibt – die geografische Koordinate. Der Ort, an dem 24 25 26 27 28 29

Ebd., S. 137. Ebd., S. 135. Ebd., S. 137. Ebd., S. 140. Ebd. Erll 2005, S. 33.

Begriffsklärungen

sie standen, ist einmalig und kann als solcher nicht verloren gehen, nur unkenntlich gemacht, überbaut werden. Der Ort als geografischer Bezugspunkt hat somit immer die Potenz zum Funktionsgedächtnis. Das unterscheidet Architektur von anderen Dingen. Hier existiert eine Gemeinsamkeit zu den geografisch verortbaren historischen Ereignissen – Kriegsschauplätze, Orte der Verfolgung und Ermordung etc. –, die ebenfalls ein hohes Potential für das Funktionsgedächtnis haben. Die zerstörten Synagogen sind ein gutes Beispiel für den Übergang von Speichergedächtnis in Funktionsgedächtnis. Hier gab es gerade bei den ländlichen Synagogen viele kleine, nicht oder nur zum Teil zerstörte Bauwerke, die jahrzehntelang ein Dasein als Werkstätten, Lager und Viehställe fristeten und dann irgendwann „entdeckt“ und einer würdevollen Nutzung zugeführt wurden. Die Heraushebung aus dem Speichergedächtnis in das Funktionsgedächtnis erfolgt nicht von selbst. Sie ist ebenso wie das kulturelle Gedächtnis Resultat von Erinnerungskultur. Das Ergebnis ist Form gewordene Erinnerung. Jan Assmann folgend ist die „Geformtheit“ prägend für das Verständnis von kulturellem Gedächtnis und markiert gemeinsam mit einer „Zeremonialität seiner Anlässe“ den „Hauptunterschied“ zum „kommunikativen Gedächtnis“.30 Erinnerung ist „anders als über kulturelle Formung nicht an die nächste Generation weiterzugeben“31. Ulrich Borsdorf und Heinrich Theodor Günther sprechen in diesem Zusammenhang das Denkmal, die Gedenkstätte und das Museum als „Formen der vergegenständlichten Erinnerung“32 an. Diese Vergegenständlichung kann verschiedenste Formen annehmen. Nicolas Berg, Jess Jochimsen und Bernd Stiegler thematisieren darüber hinaus Augenzeugenberichte, Romane und Kunstwerke als „Erinnerungsformen“33. In diesem Sinn wird von Formen der Erinnerung bzw. Erinnerungsformen die Rede sein. Hiermit sind die verschiedenen Ausprägungen von Handlungen gemeint, die – eingebettet in einer jeweiligen Erinnerungskultur – Erinnerung zur Intention haben und sich unter anderem in Form von Denkmälern, Texten, Bildern, Veranstaltungen, Ausstellungen oder in Form von Zeichensetzungen und Ritualen an authentischen Orten konkretisieren, im Zusammenhang mit zerstörter Architektur zum Beispiel in Form einer Zeichnung, eines Modells oder eines Wiederaufbaus. Im Kontext der Erin30 J. Assmman 1999, S. 58. 31 J. Assmann: Kollektives und kulturelles Gedächtnis, in: U. Borsdorf / H. T. Grütter: Orte der Erinnerung – Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt am Main 1999, S. 32. 32 Borsdorf / Grütter 1999, S. 6. 33 N. Berg / J. Jochimsen, B. Stiegler: Shoah, Formen der Erinnerung. Geschichte, Philosophie, Kunst, Literatur, München 1996, S. 7.

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nerung an Architektur wird von dem Begriff der Rekonstruktion die Rede sein. Unter Rekonstruktion ist die bewusste Nachbildung eines Bauwerks zu verstehen. Die Rekonstruktion kann sehr verschiedene Formen annehmen. Es kann sich um eine bauliche Rekonstruktion handeln, bei der ein zerstörtes Bauwerk wieder aufgebaut wird, in der Regel an Ort und Stelle. Gerade im religiösen Kontext lassen sich auch Fälle aufzeigen, in denen Nachbildungen von Bauwerken an anderer Stelle errichtet wurden, hier kommt der Begriff der Translokation zur Anwendung. Von Rekonstruktion ist auch zu sprechen, wenn die dargestellte Architektur in verkleinerter Form zeichnerisch oder modellhaft dargestellt wird. In der vorliegenden Studie wird von traditionellen und computerbasierten Formen der Erinnerung die Rede sein. Traditionell ist hier im Sinne von „seit langem bzw. längerem gebräuchlich“, aber auch im Sinne von „bewährt“ zu verstehen. Traditionelle Erinnerungsformen wie das Denkmal blicken zum Teil auf eine sehr lange Entwicklungsgeschichte zurück. Unter computerbasierten Erinnerungsformen sollen in Anlehnung an eine Definition von Stefan Bollmann für den Begriff der „Neuen Medien“ und im Kontext einer vergleichsweise langen Entfaltungszeit traditioneller Erinnerungsformen solche Erinnerungsformen verstanden werden, „die mit Hilfe digitaler Technologie, also computerunterstützt, bislang nicht gebräuchliche Formen von Informationsverarbeitung, Informationsspeicherung und Informationsübertragung, aber auch neuartige Formen von Kommunikation“34 im Kontext von Erinnern ermöglichen. Als „neue“ Form der Informationsverarbeitung sind für den Bereich der Architektur die 3DComputer-Rekonstruktionen, als „neue“ Form der Kommunikation das Internet zu sehen. Wesentlich bei der Unterscheidung zwischen „traditionell“ und „computerbasiert“ ist nicht, ob an irgendeiner Stelle des „Produktionsprozesses“ einer Erinnerungsform digitale Technik zum Einsatz gekommen ist, sondern die Frage, ob durch diesen Einsatz eine neue Qualität entsteht. Wenn mit Hilfe von Computern und grafischer Datenverarbeitung eine Vorlage für eine Gedenktafel entsteht, die – später in Bronze gegossen – ihre erinnernde Wirkung erzielen soll, dann ist dadurch noch keine neue Qualität im Kontext der Erinnerung entstanden. Von computerbasierten Erinnerungsformen ist dann die Rede, wenn auf Basis des Einsatzes von digitaler Technologie oder genauer ausgedrückt von Informations- und Kommunikationstechnologie neue Möglichkeiten bei der Aufarbeitung, Rezeption, Präsentation und Verarbeitung von erinnerungsrelevanten Inhalten entstehen. Diese Ausführungen mögen 34 S. Bollmann (Hg.): Kursbuch Neue Medien, Hamburg 1998, S. 12. In der vorliegenden Studie kommt der Begriff der „Neuen Medien“ in der Regel nicht zur Anwendung, Siehe Kapitel 3.

Typologie

hier genügen. Im dritten Kapitel, das eine Einführung zum Thema Erinnerungskultur und digitale Technologien zum Inhalt hat, wird auf die Begrifflichkeiten in diesem Kontext näher eingegangen.

1.2 Typologie der Erinnerungsformen Den Schwerpunkt der Betrachtung bilden Rekonstruktionen und damit Erinnerungsformen, die den Methoden der eigenen Disziplin Architektur nahe stehen. Thematisiert werden Erinnerungsformen, die bewusst an ein Bauwerk erinnern möchten. Auf Formen, bei denen diese Absicht nicht bestand und die erst im Laufe der Zeit eine Bedeutung im Kontext der Erinnerung an ein zerstörtes Bauwerk bekamen, wie zum Beispiel zeitgenössische Fotografien, Postkarten, Entwurfszeichnungen, soll hiermit hingewiesen werden – dies mag genügen. Auch Abbildungen von Architektur im Kontext ihrer Stifter, Bastelmodelle und andere Miniaturdarstellungen35 sowie Souvenirs und literarische Formen der Erinnerung an Architektur bleiben unberücksichtigt. Typologisch sind die Erinnerungsformen wie folgt gegliedert: – Erinnerungsformen, die am authentischen Ort zur Anwendung kommen, beispielweise ein Wiederaufbau, – Translokationen, Nachbildung von Bauwerken an anderer Stelle, – ortsunabhängige Erinnerungsformen, bei denen Medien im Sinne von Hilfsmitteln die Aufgabe übernehmen, die zerstörte Architektur nachzubilden, hier behandelt: Modelle, zweidimensionale Darstellungen und Filme. Die Ausführungen bei den einzelnen Erinnerungsformen unterscheiden sich wiederum erheblich, macht man die Ursache der Zerstörung und den Zeitpunkt der Rekonstruktion zum Ausgangspunkt. Zu unterscheiden sind Zerstörungen in Folge kriegerischer Handlungen, Zerstörungen in Folge innergesellschaftlicher Auseinandersetzungen und der Verlust von Bauwerken in Folge von Verfall und Auflösung der Gesellschaft, die sie errichtete. Unter dem Gesichtspunkt des Zeitraums sind Erinnerungsformen zu unterscheiden, inwieweit sie innerhalb oder außerhalb des Zeitraums 35 Walter Grasskamp widmet sich unter dem Titel „Sentimentale Modelle“ diesen Erinnerungsformen. W. Grasskamp: Sentimentale Modelle – Architektur und Erinnerung, in: Kunstforum Band 38, 2/1980, S. 54-79.

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des kommunikativen Gedächtnisses liegen, also, ob Menschen noch leben, die die Bauwerke aus eigener Anschauung kennen. Auf diese Aspekte wird im Einzelnen bei der nachfolgenden typologischen Übersicht eingegangen, die die Erinnerungsformen jeweils mit einem kurzen Blick in die Geschichte und dem Bezug auf zeitgenössische Beispiele vorstellt.

1.2.1 Erinnerungsformen am authentischen Ort Die Erinnerungsformen am authentischen Ort stehen in Abhängigkeit von dem Grad der Zerstörung des Bauwerks und der Existenz von Nachfolgebauten. Eine vollständige Beseitigung ergibt eine andere Ausgangssituation als das Vorhandensein von Resten, ein unbebauter Ort lässt andere Möglichkeiten zu als der überbaute. Aus diesen Überlegungen lassen sich die Erinnerungsformen am authentischen Ort in vier Bereiche einteilen: erstens Wiederaufbau gänzlich zerstörter Bauwerke, zweitens Restaurierung, Konservierung, Kommentierung baulicher Reste, drittens Markierung im Stadtgefüge als Leerfläche und viertens Zeichensetzungen. Behandelt werden hier die beiden ersten Aspekte, die auch die beherrschenden Formen in der öffentlichen Diskussion, in Forschung und Litera­ tur bilden. Auf das Thema der Zeichensetzung wird im nächsten Kapitel am konkreten Beispiel der Synagogen ausführlich eingegangen. Auf das Spektrum dieser Form der Erinnerung von Gedenktafeln, Gedenksteinen, künstlerisch gestalteter Mahn- und Denkmale über die Verwendung von Spolien bis hin zu der Errichtung aufwendigerer Gedenkanlagen sei an dieser Stelle bereits hingewiesen. Authentische Orte haben im Kontext von Erinnerungskultur auch Bedeutung als Orte von Ritualen. Das Zusammenkommen bedeutender Repräsentanten, das Zusammenkommen vieler Menschen markiert die gesellschaftliche Bedeutung, die dem zerstörten Bauwerk bzw. den Umständen und der Symbolik der Zerstörung beigemessen wird. Es soll hier genügen auf diese Bedeutung hinzuweisen. Wiederaufbau gänzlich zerstörter Bauwerke Der Wiederaufbau zerstörter Bauwerke fand in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen statt, macht man die Ursache der Zerstörung und den Zeitpunkt der Rekonstruktion zum Ausgangspunkt. Zunächst ist die Rekonstruktion kriegszerstörter Gebäude und Stadtteile zu nennen. Beispiele lassen sich hier bereits in antiker Zeit belegen. Erwähnt sei der Salomonische Tempel, der im Jahre 586 v. Chr. durch die Perser zerstört und nach der Rückkehr der Juden aus dem babylonischen Exil wieder errichtet wurde.

Typologie – Authentischer Ort

Im 20. Jahrhundert hat der Zweite Weltkrieg durch das immense Ausmaß an Zerstörung eine besondere Situation geschaffen. In Deutschland und Europa wurden nicht nur viele bedeutsame Bauwerke, sondern ganze, jahrhundertealte Stadtgefüge zerstört, so dass man sich in vielen Ländern die Frage stellen musste, was kann, was will man aufbauen. In Deutschland lassen sich hierbei zwei Phasen beobachten. Zum einen Rekonstruktionen, die kurz bis mittelfristig nach dem Krieg erfolgten, wie die bedeutender Kirchen und Profanbauten. Zum anderen relativ späte Rekonstruktionsvorhaben wie die Dresdner Frauenkirche, die Frankfurter Römerbergzeile oder das Berliner Schloss. Diese Beispiele stehen auch für die große Spannweite hinsichtlich des Umfangs von baulichen Rekonstruktionen. Während es bei der Dresdner Frauenkirche darum ging, sie innen und außen so originalgetreu wie möglich zu errichten, steht das Berliner Schloss oder die Frankfurter Römerbergzeile für Rekonstruktionen, bei denen in erster Linie die Wiederherstellung der äußeren Erscheinungsform und Fassade im Blickpunkt stehen. Es wird dabei keineswegs der unmittelbare Zustand vor der Zerstörung als verpflichtend angesehen. In Frankfurt trugen die Fassaden vor der Zerstörung Schindeln, bei der rekonstruierten Häuserzeile ist Fachwerk zu sehen (Abb. S. 32). Auch Dethard von Winterfeld bemerkt hinsichtlich der Rekonstruktion deutscher Residenzschlösser, dass „fast keines der wiederaufgebauten Denkmäler jene Gestalt erhalten hat, die es vor der Zerstörung besaß“.36 Neben wiederaufgebauten kriegszerstörten Bauwerken sind als eine zweite Gruppe solche Nachbauten anzusprechen, deren Original­ substanz­ innergesellschaftlichen Machtverschiebungen oder Aus­­­­­­ein­ ander­setzungen­ zum Opfer fiel. In diese Gruppe sind die zerstörten Synagogen in Deutschland einzuordnen und deren wenige bauliche Rekonstruktionen. Als ein weiteres Beispiel ist die Erlöserkathedrale in Moskau zu nennen, die nach der russischen Revolution im Kontext der Verfolgung der russischen Kirche abgerissen wurde, um an gleicher Stelle den Palast der Sowjets zu errichten. Wegen finanzieller Schwierigkeiten wurde dieses Projekt nicht verwirklicht und der Ort jahrelang als Freibad genutzt. In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts erfolgte ein Wiederaufbau der Erlöserkirche.

36 D. von Winterfeld: Deutsche Residenzschlösser nach 1945, in: D. Bingen / ­­H.-M. Hinz: Die Schleifung – Zerstörung und Wiederaufbau historischer Bauten in Deutschland und Polen, Wiesbaden 2005, S. 125.

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Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung

Römerbergzeile, Frankfurt am Main 1905

Römerbergzeile, Frankfurt am Main Rekonstruktion in den 1980er Jahren

Typologie – Authentischer Ort

Rekonstruktion des Römerkastells Saalburg im Taunus (Hessen) Südtor

Rekonstruktion des Römerkastells Saalburg Große Halle im Stabsgebäude (Principia)

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Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung

Eine dritte Gruppe von baulichen Rekonstruktionen erfolgt an Orten, an denen die Bauwerke schon lange nicht mehr existieren. Beispielhaft sei der „Wiederaufbau“ des römischen Kastells Saalburg im hessischen Taunus in den Jahren 1897 bis 1907 genannt (Abb. S. 33). 37 Ein Beispiel aus jüngerer Zeit für diese Art der Rekonstruktionen ist der „Archäologische Park“ in Xanten, der 1977 eröffnet wurde. Auf dem Grund der römischen Stadt Colonia Ulpia Traiana, im 4. Jahrhundert von ihren Bewohnern verlassen, können Besucher unter anderem eine rekonstruierte römische Herberge sowie ein teilrekonstruiertes Amphitheater und einen teilrekonstruierten Hafentempel besichtigen. Die Beispiele stehen für den Trend, an historischen Orten Bildung und Freizeit zu vereinen. Als Freizeitparks weisen sie – neben den baulichen Rekonstruktionen, den Ausstellungsräumen und den Exponaten – Gastronomiebetriebe sowie Museumsshops auf und bieten auf ihrem Gelände Kulturveranstaltungen an. Trotz ihrer unterschiedlichen Hintergründe vereint alle baulichen Rekonstruktionen die Fragestellung, was eigentlich rekonstruiert werden kann, was und wie bei fehlender Quellenlage zu rekonstruieren ist. Im Kontext von Erinnerungskultur ist zu fragen, welchen Wert ein Wiederaufbau hat, wenn zwischen Original und Rekonstruktion keine Differenz wahrnehmbar ist. Deshalb ist der Begriff der Differenz für die Wechselwirkung Rekonstruktion – Erinnerung als zentral anzusehen und kommt auch in den folgenden Kapiteln immer wieder zur Anwendung. Die erkennbare Differenz ermöglicht es, die Tatsache und die Umstände der Zerstörung als potentiell identitätsstiftendes Moment bewusst einzusetzen. Bei den Bauwerken, die schon länger zerstört sind, scheint die Frage, ob und inwieweit man zwischen Original und Rekonstruktion unterscheiden kann, mehr eine Frage nach der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit bauhis­ torischer Rekonstruktionsmethoden zu sein. Je näher der Zeitpunkt der Zerstörung an die Jetztzeit reicht, je mehr die Mitglieder einer Gesellschaft emotional, politisch verstrickt sind, sich verstrickt fühlen als Opfer oder Täter, desto mehr ist dies eine politische Frage. Differenz im radikalen Sinne kann sogar das bewusste Verneinen von Wiederaufbau bedeuten. Eine Position, wie sie auch Werner Durth bei deutschen Architekten nach Ende des Zweiten Weltkriegs festgestellt hat – prägnant formuliert von Walter Dirks zum Goethehaus Frankfurt am Main: „Das Haus am Hirschgraben ist nicht durch einen Bügeleisenbrand oder durch einen Blitzschlag oder durch Brandstiftung zerstört worden; [...] es hatte seine bittere Logik, dass das Goethehaus in Trümmer sank. Es war kein Versehen, das man 37 Siehe hierzu die Homepage des Saalburgmuseums: http://www.saalburg museum.de/home.htm, vom 04.09.2004.

Typologie – Authentischer Ort zu berichtigen hätte, keine Panne, die der Geschichte unterlaufen wäre: Es hat seine Richtigkeit mit diesem Untergang. Deshalb soll man ihn anerkennen.“38

Und in einem Aufruf namhafter deutscher Architekten mit dem bezeichnenden Titel „Mut zum Abschied“ ist 1947 zu lesen: „Das zerstörte Erbe darf nicht historisch rekonstruiert werden, es kann nur für neue Aufgaben in neuer Form erstehen.“39 So führte in Deutschland das Bewusstsein über die Schuld an Krieg und Zerstörung durch Nazi-Deutschland und die Erkenntnis, dass die Zerstörungen in Deutschland ihren Ausgangspunkt im eigenen Land hatten, auch zu Positionen der Akzeptanz von kulturellem Verlust. In Polen, zum Vergleich, etablierte sich in den ersten Nachkriegsjahren eine breit getragene Auffassung, den kulturellen Verlust nicht zu akzeptieren. Dem Versuch der Deutschen, Polen und seine Kulturdenkmäler zu zerstören, sollte mit dem Wiederaufbau begegnet werden. Konstanty Kalinowski: „Es herrschte damals in allen Schichten der Gesellschaft die allgemeine Überzeugung, dass die zerstörten historischen Zentren polnischer Städte wiederaufgebaut werden sollten, samt all ihren Denkmälern, so wie sie vor dem Kriege bestanden hatten: als Zeugen der nationalen Geschichte und als Symbol des Wiederauflebens Polens, als Zeichen der Unzerstörbarkeit Polens – eine emotional bedingte und symbolische, aber auch eine politisch motivierte Geste.“40

Abschließend ist zu dem Aspekt der Differenz zu bemerken: Je banaler die Zerstörungsumstände sind oder je mehr es einen Konsens gibt, „Opfer“ zu sein, desto weniger scheint eine Rekonstruktion ohne Differenz Diskussionen auszulösen. Bei dem Brand in der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar hat es keine Diskussion darüber gegeben, ob die Ursache der Zerstörung bei der Rekonstruktion des Barock-Saals thematisiert wird. Bei dem Brandanschlag von Neo-Nazis auf eine Baracke im Konzentrationslager Dachau wurde dagegen diskutiert, in welcher Form die Baracke wieder entstehen soll und inwieweit Spuren dieser Zerstörung sichtbar bleiben.

38 W. Dirks in: Frankfurter Hefte 15/1947, S. 826f., zitiert nach W. Durth: „Utopia im Niemandsland: Stadtplanung als Vernichtung“ in: Bingen / Hinz 2005, S. 51. 39 Abdruck in: U. Conrads (Hg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Gütersloh 1964. Zitiert nach W. Durth in: Bingen / Hinz 2005, S. 52. 40 K. Kalinowski: Rückgriff auf die Geschichte. Der Wiederaufbau der Altstädte in Polen – das Beispiel Danzig, in: Bingen / Hinz 2005, S. 81.

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Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung

Restaurierung, Konservierung und Kommentierung baulicher Reste An den Orten mit baulichen Resten zerstörter, historisch symbolhafter Gebäude stellt sich nicht die Frage nach der Gestaltung oder Herbeiführung von Differenz zum unzerstörten Zustand. Differenz ist vorhanden. Trotzdem ergeben sich im Kontext des Erinnerungsdiskurses ähnliche Fragen wie bei der baulichen Rekonstruktion eines gänzlich zerstörten Bauwerks. Soll alles wieder so hergerichtet werden, als ob nichts gewesen sei, soll die sichtbare Differenz unsichtbar gemacht werden? Restaurierung in diesem Sinne verhindert das Ablesen von Zerstörungsspuren, von Spuren der Geschichte, Spuren, die Erinnerung transportieren können. Wie beim Wiederaufbau ist auch hier Differenz sinnvoll. Werner Durth beschreibt, wie in diesem Sinne Hans Döllgast die kriegszerstörte Ruine der Münchner Pinakothek wieder als Museum nutzbar macht: „Helle, lichte Räume entstanden im alten Bestand, und doch blieb die Spur der Zerstörung sichtbar, blieb die Erinnerung an die Katastrophe des Krieges gewahrt – gegen das Bedürfnis nach schnellem Vergessen durch Abbruch und Neubau ebenso wie gegen die Einwände der gebildeten Bürger, von ihm [Hans Döllgast] im fiktiven Dialog ironisch die ‚Gelehrten‘ genannt, die eine originalgetreue Rekonstruktion befürworteten“.41

Für Hans-Ernst Mittig bergen originalgetreue Rekonstruktionen gar die Gefahr, den „durchschnittlichen Intelligenzquotienten“ zu senken, da „diese Bauten nach einiger Zeit für echt gehalten werden“ und die These unterstützen kann, dass die „Folgen eines Krieges [...] reversibel“ sind.42 So wundert es nicht, dass man sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch dafür entschied, bauliche Reste als Mahnzeichen gegen den Krieg nicht zu restaurieren, sondern die Zerstörung deutlich ablesbar zu lassen. Die Berliner Gedächtniskirche oder über lange Zeit auch die Ruine der Dresdner Frauenkirche können als deutsche Beispiele herangezogen werden. Aber auch außerhalb Deutschlands sind solche Lösungen der Konservierung zu finden, wie die Ruine der Kathedrale von Coventry zeigt. Die Diskussion über den richtigen Umgang mit bedeutenden Ruinen ist keineswegs ein Resultat der verheerenden Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Es fanden bereits in früherer Zeit leidenschaftliche Diskussionen statt. Hans Wilderotter verweist in diesem Zusammenhang auf das Heidelberger Schloss, das Ende des 17. Jahrhunderts durch französische Truppen zerstört wurde, und führt die unterschiedlichen Positionen vom 41 W. Durth in: Bingen / Hinz 2005, S. 51. 42 Diskussionsbeitrag von Hans-Ernst Mittig in: Bingen / Hinz 2005, S. 134.

Typologie – Authentischer Ort

Wiederaufbau bis zu dem Belassen als Ruine als Zeichen „deutscher Ohnmacht und Zerrissenheit“43 und „gellenden Aufruf zur Einigkeit“44 auf. Die damals geführten Diskussionen sind heute für uns schwer nachvollziehbar, sie passen nicht mehr zu den aktuellen Diskursen. Die damaligen, politisch intendierten Debatten haben das Heidelberger Schloss aus dem Speichergedächtnis in das Funktionsgedächtnis überführt. Heute hat es für die Erinnerungsdiskurse wiederum keine Bedeutung mehr, sondern verkörpert eine romantische Vorstellung von einem „vergangenen“ Deutschland. Das Beispiel zeigt die Vergänglichkeit der Erinnerungsdiskurse und ihre Konstruiertheit. In Deutschland und den im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebieten haben NS-Zeit und Krieg zu einer ganz neuen Fragestellung hinsichtlich des Umgangs mit symbolisch aufgeladenen baulichen Resten geführt: Was geschieht mit den Bauten, die für Verfolgung, Folter und Vernichtung standen? Hier hat sich die Auffassung von Konservierung und Musealisierung durchgesetzt, die diese Orte als Mahn- und Erinnerungsstätten erhalten möchte und didaktisch mit Ausstellungen begleitet. Das Vernichtungslager Auschwitz, das KZ Buchenwald, das Parteitagsgelände in Nürnberg und das Olympiagelände mit einer 2006 in der Langemarckhalle eröffneten Dauerausstellung können hier unter zahlreichen Beispielen genannt werden. Das Bedürfnis der Betreiber dieser Erinnerungsorte nach „kritischer Distanz“45 führte auch dazu, Mahnmale zu errichten und mit architektonischen Maßnahmen diese Distanz zu verdeutlichen. So lassen sich an fast allen bedeutenden Vernichtungs- und Konzentrationslagern aufwendig gestaltete Mahnmale finden (Auschwitz, Dachau, Buchenwald, ...).46 Als Beispiel für architektonische Formen der Distanz kann das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg herangezogen werden. Die Planung sah hier sowohl den Einsatz „konträrer Bauteile“47 vor wie das bewusste Belassen der unfertigen NS-Architektur. Die von Günther Domenig entworfene Architektur für die Ausstellungsräume durchbricht die symmetrische Anlage der nicht fertiggestellten Kongresshalle und setzt damit einen architektonischen Kontrapunkt. Im Inneren wird die Raumstruktur und der unvollendete Rohbau übernommen. Franz Sonnenberger: „Es soll in keiner Weise ,vollendet‘ werden, wozu die nationalsozialistischen Bauherren nicht mehr im Stande waren. 43 Adolf von Oeckelhaeuser, zitiert nach H. Wilderotter: Kein Stein wird auf dem anderen bleiben, in: Bingen / Hinz 2005, S. 31. 44 Cornelius Gurlit, zitiert nach ebd. 45 H.-E. Mittig: Marmor der Reichskanzlei, in: Bingen / Hinz 2005, S. 175. 46 Siehe hierzu: J. E. Young, (Hg.): Mahnmale des Holocaust – Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens, München 1994. 47 H.-E. Mittig: Marmor der Reichskanzlei, in: Bingen / Hinz 2005, S. 175.

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Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung

Das rohe unverputzte Backstein-Mauerwerk soll vielmehr – jenseits aller Mythen und Verklärungen – die Banalität des Größenwahns zum Ausdruck bringen.“48 Am authentischen Ort führen die unterschiedlichen Symboliken der zerstörten Bauwerke und die verschiedenen Umstände der Zerstörung zu äußerst unterschiedlichen Ergebnissen. Neben den Rekonstruktionen am authentischen Ort lassen sich darüber hinaus auch Nachbildungen zerstörter Gebäude an geografisch anderer Stelle finden, auf die nachfolgend eingegangen wird.

1.2.2 Translokationen – Nachbildungen an anderer Stelle Bei den Rekonstruktionen an geografisch anderer Stelle lassen sich drei Hauptgruppen ausmachen. Nachbildungen im religiösen Kontext, Nachbildungen, deren Motivation die Faszination für vergangene Zeiten und Epochen ist, sowie die Nachbildung historisch bedeutsamer Bauwerke an anderer Stelle, da der authentische Ort als Standort nicht mehr zur Verfügung steht. Letztere Gruppe berührt in vielen Bereichen Fragestellungen, wie sie bei den Rekonstruktionen am authentischen Ort bereits erörtert wurden. Im Unterschied zu ihnen verlieren diese Translokationen aber den Bezug zu ihrer Umgebung, so dass ein historisches Ensemble auseinander gerissen wird und die städtebauliche Bedeutung des Bauwerks nicht mehr nachvollzogen werden kann – weder an dem einstigen Standort noch an dem neuen. Bei geringfügigen Translokationen, wie etwa bei der Frankfurter Hauptwache, die gedreht, aber etwa an gleicher Stelle aufgebaut wurde, ist diese Problematik geringer zu beurteilen. Nicht selten findet man Translokationen mehrerer Bauwerke an einem Ort. Als Beispiel sei der Hessenpark in Ansbach genannt, wo aus verschiedenen Orten Bauwerke zusammengewürfelt wurden, die nie zueinander gehörten. Es ist zu fragen, inwieweit eine Bedeutung als Erinnerungsträger in Bauten liegt, die ihres ursprünglichen Umfelds beraubt sind. Als Beispiele für Rekonstruktionen mit religiösem Hintergrund seien die Nachbildungen des Jerusalemer Heiligen Grabes und der Sacro Monte bei Varallo (Italien) angeführt. Aus der zentralen Bedeutung von Tod und Auferstehung Jesu Christi in der christlichen Religion ergab sich, dass das Heilige Grab unter der Christenheit eine große Beachtung fand.

48 F. Sonnenberger: Faszination und Gewalt. Leitlinien für die Konzeption der neuen Dauerausstellung des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände, in: F. Sonnenberger: Die Zukunft der Vergangenheit, Nürnberg 2000, S. 91-92.

Typologie – Translokationen

Es war seit dem 4. Jahrhundert Anziehungspunkt von Pilgerbesuchen und diente auch zur Legitimation der Kreuzzüge. Um das Heilige Grab ganzjährig und unabhängig vom Aufenthalt in Jerusalem und der dortigen Herrschaftsverhältnisse verehren zu können, wurden im christlichen Abendland zahlreiche Nachempfindungen geschaffen, sei es als eigenständige Bauwerke, architektonische Einbauten in Kirchenräumen oder figürliche, malerische Abbildungen. Da das Original im heutigen Israel immer wieder in Mitleidenschaft gezogen bzw. Opfer von Zerstörungen wurde, sind die Nachbildungen somit stets auch als Rekonstruktionsversuche anzusehen.49 Als ältester Nachbau ist S. Stefano in Bologna (431 – 450) bekannt und nördlich der Alpen „gilt die Michaelskapelle in Fulda (822) als die älteste erhaltene Heiliggrab-Kirche“50. Für Deutschland ist auch das Ensemble in Görlitz mit seinen Hauptbauten, der doppelstöckigen Kalvarienbergkapelle und der Grabkapelle zu erwähnen, das 1542 errichtet wurde.51 Als weiteres Beispiel für Rekonstruktionen im religiösen Kontext sei der Sacro Monte bei Varallo angeführt. Hier wurde der Lebensweg Christi an 11 Stationen mit 47 Bauwerken und 17 Bildräumen nachempfunden. Als frühen Versuch „virtueller“ Rauminszenierung beschreibt Oliver Grau den Sacro Monte: „In der Überzeugung, daß die mit eigenen Augen erfahrene Anschauung die Glaubenskraft unabweisbar stärke, und – neben anderen politischen Erwägungen – nicht zuletzt im Bewußtsein, daß das Vordringen des Osmanischen Reiches vermutlich bald schon Pilgerreisen in Palästina erschweren oder gar verwehren würde, wurde das Großvorhaben einer topographischen Simulation der Heiligen Stätten begonnen. [...] Kern der Darstellungsmethode wurde eine illusionäre Ver-

49 Siehe hierzu A. Feuchtmayr: Kulissenheiliggräber im Barock, München 1989. Die Geschichte des Heiligen Grabes beginnt zur Zeit Kaiser Konstantins. Einen römischen Tempel, der über das Felsengrab Jesus gebaut wurde, ließ Konstantin abreißen und einen Baukomplex, bestehend aus einer fünfschiffigen Basilika, einem Atrium, das den sogenannten Golgathafelsen einschloss, sowie einem Rundbau mit dem heiligen Grab, errichten. Der Komplex wurde im Laufe der Zeit mehrmals zerstört und wieder aufgebaut. 1099 eroberten christliche Kreuzritter die Stadt. In dieser Zeit wurde die Basilika zwar wieder errichtet, aber nicht im ursprünglich byzantinischen, sondern im romanischen Stil. An Stelle des umschließenden Atriums wurde eine doppelstöckige Kapelle gebaut. Siehe hierzu auch G. Hoffmann: Das Heilige Grab in Görlitz, in: Das Münster 2 / 2002, S. 138. 50 Feuchtmayr 1989, S. 6. 51 Siehe hierzu: G. Hoffmann, Das Heilige Grab in Görlitz in: Das Münster 2 / 2002, S. 137-140.

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Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung schmelzung des farbigen, vollplastischen Vordergrundes mit seinen Figuren – eine Art Faux Terrain – und dem zweidimensionalen Fresko.“52

Neben religiösem Interesse entstanden Translokationen auch aus nostalgischem Interesse an der Vergangenheit. Als wichtiger Zeitraum muss hier das 19. Jahrhundert genannt werden. Zum einen entstanden Rekonstruktionen historischer Gebäude an landschaftlich reizvollen Orten. Meist wurden solche Nachbildungen von Fürsten unterstützt. Als Beispiel sei der Nachbau eines antiken Hauses aus Pompeji in Aschaffenburg genannt, das zwischen 1841 und 1850 von Ludwig I. von Bayern in Auftrag gegeben wurde53 (Abb. S. 41). Zum anderen wurden solche Nachbildungen im Rahmen eines sich entwickelnden Ausstellungswesens einem breiten­ Publikum zugänglich gemacht. In Bezug auf Ausstellungen nennt Jan Pieper in seinem Aufsatz „Architektur als Exponat“54 mehrere Beispiele: Nachbau eines deutschen Dorfes und einer rekonstruierten Straße aus Alt-Wien in der Weltausstellung in Chicago 1893, Nachbildung von „AltAntwerpen“ 1894 in Antwerpen, Nachempfinden des Berliner Schlosses Charlottenburg 1904 in St. Louis, Nachbildung einer romanischen Burganlage in Verbindung mit einem Kloster in der bayerischen Landes-, Industrie- und Kunstausstellung in Nürnberg 1896.55 Als Höhepunkt sieht Pieper die Millenniums-Ausstellung in Budapest 1896, bei der man auf einer Insel ein Ensemble an Kulissenbauten von einer mittelalterlichen Brücke, einem romanischen Kloster bis hin zu gotischen Bauwerken und Gebäuden der Renaissance errichtete. Nicht die Rekonstruktion eines tatsächlichen Gebäudes sei hier die Intention, sondern eine Inszenierung von Erinnerung an die vermeintlich gute alte Zeit. Mit Aufkommen der Moderne verzeichnet Pieper allerdings ein Verschwinden der nostalgischen Architekturnachbauten auf den Ausstellungen, auch wenn auf der Ersten Deutschen Bauausstellung 1900 in Dresden der Nachbau eines RömischGermanischen Lagers noch zu finden war. Translokationen stehen für die Möglichkeit, eine zerstörte Architektur an einem anderen Ort in Erinnerung zu rufen. Genau jene Fähigkeit, die in 52 O. Grau: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2001, S. 41. Mit Faux Terrain wird ein Bereich bezeichnet, der dreidimensionale Gegenstände oder Figuren aufweist und einen Übergang zu einer zweidimensionalen Abbildung schafft. 53 Siehe hierzu: V. Kockel: Ansicht Plan Modell – Zur Darstellung antiker Architektur am Beispiel von Pompeji und Herculaneum, Augsburg 1996, S. 16. Es handelt sich um das sogenannte Dioskurenhaus, das 1839 von Friedrich von Gärtner in Pompeji ausgemessen wurde. 54 Siehe hierzu: J. Pieper: Architektur als Exponat, in: Kunstforum Band 38, 2/1980, S. 32–37. 55 Ebd.

Typologie – Translokationen

Pompejanum, Aschaffenburg Atrium und Außenansicht

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Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung

abstrakterer Form eine Stärke ortsunabhängiger Erinnerungsformen ist, die im Folgenden betrachtet werden.

1.2.3 Ortsunabhängige Erinnerungsformen Unter ortsunabhängigen Erinnerungsformen werden Modelle, Zeichnungen und malerische Darstellungen sowie die Nachbildungen nicht mehr vorhandener Architektur im Medium Film behandelt. Den Anfang der Betrachtung bilden die Modelle.

1.2.3.1 Modelle Architekturmodelle sollen schon in der Antike verwendet worden sein. Franz Bischoff erwähnt „Detailmodelle für einzelne Bauglieder und Schmuck­ elemente“56 sowie Berichte des griechischen Philosophen Plutarch über Entwurfsmodelle verschiedener Künstler für Tempelbauten.57 Trotz solcher Hinweise zu Entwurfsdarstellungen sind aus antiker Zeit allerdings nur solche Architekturmodelle erhalten geblieben, denen religiöser bzw. kultischer Charakter zugewiesen wird.58 Möglicherweise kannte auch das Früh- und Hochmittelalter den Einsatz von Architekturmodellen als Planungshilfe, allerdings sind diese weder quellenmäßig bezeugt noch vorhanden. Das früheste schriftlich nachweisbare Entwurfsmodell stammt aus dem Jahr 1353 und bezieht sich auf den Campanile in Florenz.59 Das älteste erhaltene Entwurfsmodell der Neuzeit besteht aus drei Teilen eines in seiner Gesamtheit nicht mehr vorhandenen Holzmodells und zeigt die Kuppel und zwei Tribune des Florentiner Doms. Es wird um 1420 datiert.60 56 Siehe hierzu: F. Bischoff: „... das verkleinert opus recht vor Augen gestelt“ – Zur Geschichte und Bedeutung des Architekturmodells von der Frühzeit bis zur Gegenwart, in: W. Helmberger / V. Kockel: Rom über die Alpen tragen: Fürs­ten sammeln antike Architektur: Die Aschaffenburger Korkmodelle, Landshut / Ergolding 1993, S. 33. 57 Ebd. 58 Als Beispiel sind eine reliefartige Darstellung eines römischen Bühnenhauses oder ein in Vulci gefundenes Tempelmodell aus dem 1. Jh. v. Chr. zu nennen. Ebd. 59 Ebd. S. 34, siehe hierzu auch den Artikel von Andres Lepik: Das Architekturmodell der frühen Renaissance, in: B. Evers: Architekturmodelle der Renaissance, München / New York 1995, S. 10-20. Lepik schreibt, dass Architekturmodelle als „Planungsmedium“ erst ab 1350 nachweisbar sind (S. 11). „Die Bezeichnung ‚modello‘ taucht denn auch erstmals in der korrekten Verwendung als proportional verkleinertes Modell in den Mailänder Dombauakten kurz vor 1400 auf.“, S. 12. 60 Siehe hierzu Andres Lepik im Katalogteil: Drei Modellteile eines Gesamtmo-

Typologie – Ortsunabhängige Erinnerungsformen

Als erstes erhaltenes Modell für Deutschland gilt das Modell des Augsburger Perlachturms von 1503.61 Modelle, die an zerstörte Architektur erinnern, sind erst ab der Neuzeit bekannt. Sie entstanden in unterschiedlichen Zusammenhängen. Hervorzuheben sind der religiöse Kontext, die Thematisierung / Erinnerung vergangener Zeiten, insbesondere die der Antike, und die hieraus entstandenen Modellsammlungen sowie ihr musealer Einsatz ab dem 19. Jahrhundert. Als erste Rekonstruktionsmodelle sind die verschiedensten Versuche zu sehen, sich ein Abbild der heiligen Stätten in Jerusalem zu verschaffen und Bauwerke sowie die gesamte Stadt der biblischen Zeit zu rekonstruieren. Auch wenn diese im Kontext der religiösen Einbettung entstandenen Modelle Sonderfälle darstellen, sollten sie nicht unerwähnt bleiben. Als erhaltene Beispiele seien ein Idealmodell der Stadt Jerusalem (Jakob Sandtner zugeordnet, ca. 1570, Abb. S. 56) und eine Rekonstruktion des Salomonischen Tempelbezirks von 1680 genannt.62 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts finden im Kontext der Hinwendung zur Antike Modelle, die in der Absicht angefertigt wurden, an zerstörte Architektur zu erinnern, vermehrte Verbreitung.63 Insbesondere sind Modelle aus Kork zu nennen, die den Baubefund antiker Ruinen zeigen. Franz Bischoff hierzu: „Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts füllten sich die fürstlichen Schauund die akademischen Lehrsammlungen mit einer neuen Spezies von Modellen: den Nachbildungen antiker Ruinen in Kork – ein Material, mit dem sich in idealer Weise die poröse Oberflächenstruktur der aus Travertin und Tuff geformten Überreste antiker Bauwerke imitieren ließ. Der verbreitete Erwerb solcher Korkmodelle steht in direktem Zusammenhang mit der neuentfalteten Antikenbegeisterung des Zeitalters der Aufklärung, die auch zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der antiken Baukunst und zu ihrer wissenschaftlichen Erforschung führte. Für die dells zum Florentiner Dom: Kuppel und zwei Tribunen, um 1420, in: Evers, 1995, S. 264-265. Franz Bischoff schreibt, dass „für den Zeitraum vor 1500 außerhalb Italiens bisher keine Modelle überliefert sind.“, in: Helmberger / Kockel 1993, S. 36. 61 F. Bischoff in: Helmberger / Kockel 1993, S. 36. Siehe auch: H. Reuther: Wesen und Wandel des deutschen Architekturmodells, in: H. Reuther / E. Berckenhagen: Deutsche Architekturmodelle – Projekthilfe zwischen 1500 und 1900, Berlin 1994, S. 11-13. 62 Hierfür dienten Zeichnungen des Jesuiten J. B. Villalpando (1552 – 1608) als Vorlage. F. Bischoff in: Helmberger / Kockel 1993, S. 42. 63 Anita Büttner erwähnt, dass die „Nachbildung“ antiker Bauten schon aus dem 16. Jahrhundert bekannt ist, nennt allerdings keine Beispiele. A. Büttner: Korkmodelle, in: Gercke, Peter / Staatliche Museen Kassel (Hg.): Antike Bauten in Modell und Zeichnung um 1800, Katalog Nr. 14 der Staatlichen Kunstsammlungen Kassel, Kassel 1986, S. 17.

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Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung fachkundigen Architekten ebenso wie für den interessierten Laien waren neben den Veduten eines G. B. Piranesi besonders die Korkmodelle römischer Ruinen von Antonio Chichi hervorragende Studienobjekte, die eine Betrachtung der Monumente auch außerhalb Italiens zuließen.“64

Und Valentin Kockel bemerkt zu der Verbreitung der Korkmodelle: „Ein aktuelles, durch reiche Käufer vertretenes Interesse an den Ruinen römischer Architektur führte im Verein mit geschickten Kunsthändlern und spezialisierten Handwerkern zu einem neuen Produkt. Die Korkmodelle antiker Ruinen konnten sich in Europa verbreiten.“65

Als bekanntester dieser sogenannten „Korkbildner“ gilt Antonio Chichi66. Seine heute noch vorhandenen Korkmodelle römischer Bauten, angefertigt Ende des 18. Jahrhunderts, fanden als Kleinserien ihre Abnehmer an europäischen Adelshöfen, so in St. Petersburg 1769 – 1778, Kassel 1777 – 1782 und in Darmstadt 1790 – 1791. Chichis Angebot umfasste 36 Bauwerke.67 Diese „Erinnerungs- und Anschauungsmodelle“68 sollten nicht nur die „Fantasie“69 der Betrachter ansprechen, sondern dienten auch als „Anschauungs- und Lehrmaterial“70. In vielen Akademien wurden Korkmodelle gesammelt, so u.a. in London, Paris und Kassel. Vielen Modellen gingen Rekonstruktionszeichnungen voraus.71

64 F. Bischoff in: Helmberger / Kockel 1993, S. 44. 65 V. Kockel: Rom über die Alpen tragen, in: Helmberger 1993, S. 15. Zu den spezialisierten Handwerkern gehörten zunächst die Italiener Agostino Rosa (1738 – 1784), Giovanni Altieri und Antonio Chichi (1743 – 1816). 66 Siehe zu der Bedeutung der Korkmodelle von Chichi: Ebd. S. 11-31. 67 Die Serie beinhaltete u.a. das Colosseum, das Pantheon, die Triumphbögen des Konstantin und des Augustus und die Basilika des Maxentius und des Konstantin. 68 A. Büttner in: Gercke 1986, S. 19. 69 Ebd. 70 N. Zimmermann-Elseify: Zur Geschichte der Kasseler Modellsammlung, in: Gercke 1986, S. 10. 71 Valentin Kockel weist in dem Zusammenhang von Zeichnung und Modell darauf hin, dass die Modelle wohl nur unter Beihilfe zeichnerischer Vorlagen in Form von orthogonalen Grundrissen, Ansichten und Schnitten entstanden sind. Für Arbeiten des Korkbildners Altieri sind solche Vorlagen auch überliefert, so ein Schnitt als Vorlage für das Modell des Kolosseums. Kockel geht weiter davon aus, dass zwar alle drei genannten italienischen Korkbildner in der Lage gewesen seien, selber auch Bauaufnahmen durchzuführen, allerdings nicht für die ganze Fülle ihres Werks, so dass von bereits früher angefertigten zeichnerischen Grundlagen auszugehen sei – so etwa solche des Franzosen Antoine Desgodetz. Siehe hierzu V. Kockel in: Helmberger / Kockel 1993, S. 17-19. Auch Anita Büttner bemerkt hierzu, dass die Modelle Chichis

Typologie – Ortsunabhängige Erinnerungsformen

Während die meisten Modelle Chichis als Befunddarstellungen zu sehen sind, weist ein kleiner Teil seiner Arbeiten darüber hinaus und lässt sich eher als frühe Form von Rekonstruktionsmodellen begreifen. Anita Büttner weist darauf hin, dass drei Modelle Chichis, die von ihr als „Rekonstruktionsmodelle“ bezeichnet werden, einen „durch moderne Freilegungen und Restaurierungen nie erreichten Idealzustand“72 darstellen. Als Beispiel sei das Modell des Pantheons (Abb. S. 56) erwähnt. In Hinblick darauf, dass sich Chichi bei einigen Modellen bemüht hat, die Bauwerke in ihrem ursprünglichen Zustand, frei von Zutaten späterer Epochen, abzubilden, bemerkt Ekaterina Sawinowa, dass in den „Arbeiten von Chichi einer der ersten und in vollem Maße überzeugenden Versuche der Rekonstruktion antiker Denkmäler“73 zu sehen sei. Der Erfolg der ersten italienischen Korkbildner inspirierte sowohl Handwerker aus Italien als auch aus anderen Ländern. Abgesehen von Arbeiten aus der jüngsten Zeit sind in Deutschland Korkmodelle mit zwei Namen verbunden: Carl und Georg May.74 Im Gegensatz zu der ersten Generation von Korkbildnern aus Italien sind die Modelle der zweiten Generation „archäologischer, größer, systematischer“75. Als Beispiel sei hier die Serie von über 40 Kork-Modellen von griechischen und römischen Bauwerken genannt, gefertigt von Auguste Pelet in den 1820er Jahren, bei der alle Modelle im gleichen Maßstab (1:100) hergestellt wurden. Die verschiedenen Bauwerke waren so in Proportion und Größe vergleichbar.76

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ohne detaillierte zeichnerische Vorarbeiten kaum entstanden sein könnten. Vgl. dazu: A. Büttner in: Gercke 1986, S. 18. A. Büttner in: Gercke 1986, S. 19. E. Sawinowa: Die Petersburger Korkmodelle von Antonio Chichi, in: Gercke 1986, S. 33. Carl May (1747 – 1822) gelang es als Autodidakt, Korkmodelle in ähnlicher Qualität wie Chichi herzustellen. May kopierte hierbei die Arbeiten Chichis, die ihm in Kassel zugänglich waren. Sein Werk umfasste 39 antike Bauwerke, davon die 36, die zur Serie von Chichi gehörten. Die 1792 aufgenommenen Arbeiten von Carl May beinhalteten auch drei Modelle deutscher Bauwerke: das Schloss Mühlberg, die Ruine der Klosterkirche Paulinzella sowie das Heidelberger Schloss. Letzteres konnte er nicht mehr vollenden. Sein Sohn Georg May (1790 – 1853), der Carl May bereits in frühen Jahren beim Modellbau geholfen hatte, brachte die Arbeit zu Ende und setzte insgesamt das Werk seines Vaters fort. Im Mittelpunkt seiner Arbeiten standen 10 Modelle römischer Bauwerke, die er im Auftrag des Bayerischen Königs Ludwig I. anfertigte und zu deren Studium ihm auch eine Reise nach Rom finanziert wurde. Georg Mays Arbeiten bestechen durch ihre „Größe“ und eine „Detailfreude“ (V. Kockel in: Helmberger / Kockel 1993, S. 23), die auch heute noch in Aschaffenburg zu bewundern und bereits seit dem „zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts“ für die Öffentlichkeit „zugänglich“ sind (W. Helmberger / V. Kockel in: Helmberger / Kockel 1993, S. 120). V. Kockel in: Helmberger / Kockel 1993, S. 21. Vgl. ebd., S. 22.

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Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung

Während die Korkmodelle in der Regel den Baubefund darstellen, entstanden im 19. Jahrhundert immer mehr Rekonstruktionsmodelle. So stellte Carlo Lucangeli 1810 ein Holzmodell des Kolosseums her. Bemerkenswert ist, dass Lucangeli selbst an den Ausgrabungen beteiligt war. Für das 1806 eröffnete Architekturmuseum von Louis-Francois Cassa in Paris fertigten Jean-Pierre Fouquet und dessen Sohn Francois weiße Architekturmodelle von 76 antiken Bauwerken an, die auch den Nahen Osten und Kleinasien einschlossen.77 Diese Modelle beabsichtigten, den ursprünglichen, unzerstörten Zustand zu zeigen. Auch jenseits des Themas Antike entstanden Rekonstruktionsmodelle. Für Deutschland erwähnt Hans Reuther unter anderem Modelle für die Marienburg (Anfang des 19. Jahrhunderts, ehem. Westpreußen)78, für die Coburger Veste (Mitte oder drittes Viertel 19. Jahrhundert)79, für die Wiener Hofburg (um 1860)80 und für das Heidelberger Schloss.81 Mit der Verbreitung der Institution Museum konnten ab dem 19. Jahrhundert mehr Menschen Rekonstruktionsmodelle zugänglich gemacht werden. Die Modelle entstanden immer weniger für die Sammlungen der Akademien und Fürsten und immer mehr für die Verwendung in Museen und Ausstellungen. Heute ist hierin der Haupteinsatz zu sehen, der in die drei Bereiche lokalgeschichtlich, architekturgeschichtlich und themenspezifisch unterschieden werden kann. Unter dem Aspekt der Lokalgeschichte sind Modelle Bestandteil von Dauerausstellungen städtischer Museen und zeigen dort nicht mehr existente bedeutsame lokale Bauwerke oder den früheren Zustand der Stadtanlage. Als Beispiel sei das Altstadt-Modell der Stadt Frankfurt am Main im Historischen Museum Frankfurt genannt. Gerade die Zerstörungen des Krieges haben das Bedürfnis geweckt, das frühere Erscheinungsbild mit Hilfe von Modellen in Erinnerung zu rufen. Unter architekturgeschichtlichen Aspekten werden Modelle ausgestellt, die stellvertretend bestimmte bauhistorische Entwicklungen verdeutlichen sollen. In der 2006 eröffneten Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin sind beispielsweise die Marburger Burg in ihren Entwicklungsstufen, das noch nicht kriegszerstörte Magdeburg, das Kloster Doberan (heute Ruine) und die nur teilweise noch erhaltene Einhardskapelle in Steinbach als Modell dargestellt.82 77 Siehe ebd., S. 26. 78 H. Reuther: Über Materialien und Arten, in: Reuther / Berckenhagen 1994, S. 17. 79 H. Reuther / E. Berckenhagen: Katalog der deutschen Architekturmodelle (A-Z), in: Reuther / Berckenhagen 1994, S. 61. 80 Ebd., S. 151. 81 Ebd., S. 85. 82 Siehe Anhang, Interviews: H. Ottomeyer, S. 523.

Typologie – Ortsunabhängige Erinnerungsformen

Als Beispiele von themenspezifischen Architekturdarstellungen sind Modelle zu nennen, wie sie in den Wechselausstellungen der Bundeskunsthalle anzutreffen sind. So sind unter anderem Modelle für die „Hethiter“-Ausstellung (Abb. S. 57), die „Troia“-Ausstellung und die „Vatikan“Ausstellung neu angefertigt bzw. bereits vorliegende Modelle ausgestellt worden. Sie sollten für eine bestimmte historische Situation die nicht mehr vorhandene bzw. stark veränderte Architektur veranschaulichen und den Gesamtkontext bereichern.

1.2.3.2 Zeichnungen und malerische Darstellungen Bei der Erinnerung an zerstörte Architektur mittels zweidimensionaler Darstellungen lassen sich zwei Hauptgruppen ausmachen: erstens „technische“, abstrahierende Darstellungen wie Risszeichnungen in Form von Grundriss, Schnitt und Ansichtsdarstellung und zweitens atmosphärisch wirkende, malerische Darstellungen – als Sonderform ist hier das Panoramagemälde zu sehen, dem auch ein eigener Abschnitt gewidmet ist. Für die Entstehung zweidimensionaler Darstellungen von zerstörter Architektur ist die Zeit der Renaissance mit ihrer Hinwendung zur Antike von hoher Bedeutung. Zum einen entstanden im 16. Jahrhundert Befunddarstellungen83 antiker Bauwerke, die den damaligen Zustand dokumentieren. Diese umfassten sowohl atmosphärische Zeichnungen als auch Bauaufnahmen in Grundriss und Aufriss und hatten insofern eine erinnernde Funktion, als dass sie die Absicht transportierten, die Bauwerke an räumlich anderer Stelle sichtbar zu machen.84 In der Zeit der Renaissance entstanden zum anderen aber auch erstmals Rekonstruktionszeichnungen, die den ursprünglichen Zustand zeigen sollten.85 Als Beispiele mögen hier eine Rekonstruktionszeichnung des Marcellustheaters in Rom (Abb. S. 53) von Sebastiano Serlio86 und

83 Mit Befunddarstellung ist die Abbildung eines Istzustandes gemeint. Bei den Rekonstruktionen handelt es sich um Abbilder eines vom Istzustand sich unterscheidenden rekonstruierten ursprünglichen Zustands. 84 Für die atmosphärische Darstellung ist beispielsweise Marteen van Heemskerck zu nennen. Risszeichnungen antiker römischer Bauwerke wurden u.a. angefertigt von Raffael, Antonio da Sangallo, Baldassare Peruzzi. Siehe hierzu: Katalogbeiträge von Michaela Hermann, Ursula Kleefisch-Jobst, Christoph Jobst: Die Wiederentdeckung der Antike, in: Evers 1995, S. 126-159. 85 Siehe C. Jobst: Das Vorbild der antiken Baukunst in der italienischen Renaissance, in: Evers 1995, S. 50-55. 86 C. Jobst in: Evers 1995, S. 147.

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Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung

eine Zeichnung des Tempels des Portunus (Abb. S. 53) von Andrea Palladio87 (1570) dienen. Das Interesse am Altertum, insbesondere an Rom und dessen wissenschaftlicher Erforschung, verstärkte sich im Kontext von Aufklärung und Bildungsbürgertum weiter und fand auch in dieser Zeit in atmosphärischen Darstellungen und Risszeichnungen seinen Ausdruck. Als Beispiele seien die Arbeiten von Piranesi (1720 – 1778) und die 1866 entstandenen Rekonstruktionszeichnungen von Constant Moyaux zum Forum Romanum88 (Abb. S. 53) genannt. Eine Vergegenwärtigung von zerstörter Architektur durch Zeichnung oder Gemälde war allerdings lange Zeit ein Erlebnis, das Wohlhabenden oder Personen, die zur Bildung Zugang hatten, vorbehalten war. Die Massen wurden dabei nicht erreicht. Stephan Oettermann schreibt hierzu: „Es dürfte kaum zu hoch geschätzt sein, daß ca. 50 % der deutschen Bevölkerung um 1800 in ihrem Leben niemals ein Gemälde sahen – sieht man von dem bildlichen Schmuck der Kirchen ab. Die einzigen visuellen Medien, die für die breite Masse real erreichbar waren, waren die Bildtafeln der Bänkelsänger und die von den wandernden Schaustellern herumgetragenen Guckkästen“.89

Und noch mal Oettermann: „[...] im Zuge der Verbürgerlichung [gab es] das immer dringender werdende und immer breitere Bevölkerungsschichten erfassende Bedürfnis nach optischer Information. Wer wie wir heute von Bildern umstellt ist (Photos, Film, Fernsehen, Plakate, Illustrierte etc.), kann sich nur schwer die Bilderarmut vorstellen, unter der damals die Bildungswilligen gelitten haben müssen. Bilder, selbst die bescheidensten Kupferstiche, waren verhältnismäßig unerschwinglich.“90

Mit der Entwicklung der Archäologie, der Kunstgeschichte und der Denkmalpflege im 19. Jahrhundert stieg zwar das Interesse an der Vergegenwärtigung nicht mehr vorhandener Bauwerke weiter an und das aufkommende Bildungsideal legte die Grundlagen für eine Verbreiterung dieses Interesses, was aber fehlte, waren Medien, die die Masse auch erreichten.

87 Siehe dazu: W. Helmberger: Carl Joseph May (1747 – 1822) in: Helmberger / Kockel 1993, S. 78 und S. 251-255. 88 Siehe Helmberger / Kockel 1993, S. 90. 89 S. Oettermann: Das Panorama – Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt 1980, S. 178. 90 Ebd., S. 177.

Typologie – Ortsunabhängige Erinnerungsformen

Als ein solches erstes Massenmedium kann das Panorama91 bezeichnet werden. Unter Panorama ist „eine besondere Form von landschaftlichem Gemälde, das einen 360°-Ausblick wieder[gibt] und das um 1787 von verschiedenen, unabhängig voneinander arbeitenden Malern entwickelt wurde“92, zu verstehen. Es stellte zwar vor allem Landschafts- und Stadtansichten sowie berühmte Schlachten dar, es befanden sich unter den Panoramagemälden aber auch Rekonstruktionen antiker Städte und Gebäude. Mit dem Panoramagemälde entstand eine eigenständige Bautypologie – das Panoramagebäude. Diese Gebäude waren in der Regel so aufgebaut, dass die Besucher über einen Kassenraum durch einen abgedunkelten Gang auf eine im Zentrum des Gebäudes befindliche Plattform hinaufstiegen. Wie in dem Inneren eines Zylinders konnte man von dieser Plattform nun das Panoramagemälde in einem 360°-Rundumblick betrachten93 (Abb. S. 54). Diese Gemälde hatten den Anspruch auf eine äußerst realitätsnahe Darstellung und versuchten den Betrachtern die Illusion zu vermitteln, auf eine tatsächlich vorhandene Landschaft zu blicken. Mehrere Komponenten unterstützten diesen Anspruch. Zunächst sorgte man für eine spezielle natürliche Lichtführung. Ein Schirm über der Plattform verhinderte die Sicht auf das obere Ende des Gemäldes und verhinderte somit eine allzu schnelle Desillusionierung. Dreidimensionale Figuren und Gegenstände wurden so geschickt vor dem Gemälde plat91 Oettermann spricht vom ersten optischen Massenmedium im strengeren Sinne. (Ebd., S. 9) Er stellt das Panorama in den Zusammenhang mit der „Entdeckung des Horizonts“ (ebd., S. 11) und der Abkehr des zentralperspektivischen Blickes, wie er im Theater für die fürstliche Loge inszeniert wurde. Mit dem Theater im Zeitalter des Bürgertums geht die Forderung nach der Ausrichtung auf ein „zahlende[s] Publikum“ einher und nicht auf einen Einzelnen, der das Theater mit seinen Zuwendungen am Leben erhält. (Ebd., S. 21) „So wird [das Panorama] zum Muster, nach dem sich von nun an die Seherfahrungen organisieren.“ Ebd., S. 19. 92 Ebd., S. 7. 93 Die Panoramen hatten oft gleiche Dimensionen. Üblich waren 32 m im Durchmesser und eine Höhe von 15 m (ebd., S. 49), denn dies erlaubte den Gebrauch an verschiedenen Orten und damit eine effektivere finanzielle Ausbeute. Das Panorama war neben der Etablierung einer neuen Kunstform und dem zum Teil leidenschaftlichen Engagement der beteiligten Künstler immer auch ein Geschäft mit einem zahlenden Publikum. Oettermann charakterisiert die „Panoramenmalerei“ aufschlussreich „als ‚bürgerlich‘, als Versuch, Kunst und Kunstbesitz profitabel zu machen.“ (Ebd., S. 176) Nur erfolgreiche, das heißt beliebte Panoramen konnten sich über längere Zeit halten und versprachen, die hohen Investitionskosten zu amortisieren. Manche finanziellen Erwartungen von Künstlern oder Geschäftsmännern wurden wegen mangelnden Interesses der Besucher oder eines Unglücks, bei dem das Panorama beschädigt oder vernichtet wurde, jäh enttäuscht, manchen trieb es in den finanziellen Ruin. In der Regel waren aber die Investitionen lohnend.

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Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung

ziert, dass ein fließender Übergang von dieser Dreidimensionalität zu der Zweidimensionalität des Gemäldes entstand.94 Als Beispiele für Rekonstruktionsgemälde, die in Panoramen zum Einsatz kamen, sind vor allem Darstellungen des antiken Roms95 (Abb. S. 54) sowie von Jerusalem samt Tempelanlage zur Zeit Jesu zu nennen. Als weitere Rekonstruktion sei ein halbrundes Panorama, das die antike griechische Stadt Pergamon zeigte, erwähnt. Dem 60 Meter breiten und 14 Meter hohen Bild, das in fünf Monaten angefertigt und 1886 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, lagen Rekonstruktionszeichnungen zugrunde, die ein Mitglied der 1878 begonnenen archäologischen Ausgrabungsexpedition angefertigt hatte. Eine Vorstellung von dem Aufwand, der für die Herstellung von Panoramen geleistet wurde – gerade auch in Hinsicht einer realistischen Darstellung –, gibt Oettermann am Beispiel des Jerusalem-Panoramas: „Um etwa ein Panorama von Jerusalem mit der Kreuzigung Christi darstellen zu können, hielt sich eine mehrköpfige Expedition monatelang im Heiligen Land auf, um an Ort und Stelle das Gelände topographisch getreu aufzunehmen. Dann wurden die Ergebnisse archäologischer Forschung ausgewertet, um ein möglichst präzises Stadtbild von Jerusalem im Jahre 30 n. Chr. rekonstruieren zu können. Das Studium der entsprechenden Bibelstellen legte Art, Anzahl und Konstellation der Figuren des Bildes fest.“96 94 Nach dem Panorama entstanden noch ähnliche Einrichtungen, die auch darauf abzielten, einem zahlenden Publikum illusionistische Landschafts-, Stadtoder Architektureindrücke zu vermitteln. Zu nennen sind u.a. das Längenpanorama und das Diorama. Beim Längenpanorama (moving panorama) stiegen die Besucher in ein „Fahrzeug“ ein, an dessen Fenster eine auf Papierstreifen aufgemalte Landschaft vorbeizog. Es gab Einrichtungen, die eine solche „Reise“ zu See anboten und andere, die die Besucher in „Eisenbahncoupés“ oder „Kutschen“ einsteigen ließen (ebd., S. 53-54). Auch das Diorama lässt sich als Überwindung der Starrheit von Panoramen begreifen. Kernstück eines Dioramas ist ein transparentes Gemälde, bei dem durch geschickte wechselweise Bestrahlung von hinten und von vorne Effekte erzielt werden konnten. Bei den einfachen Dioramen wurde so der Tagesablauf von Lichtstimmungen simuliert. Auch das Diorama wurde in einem eigens hierfür geschaffenen Gebäude gezeigt. J. L. M. Daguerre eröffnete 1822 ein erstes solches Diorama in Paris mit zwei Motiven und einem drehbaren Zuschauerraum. Die Besucher konnten so bequem in ihren Sitzen verweilen. 22 x 14 Meter betrugen die Abmessungen der Gemälde (ebd., S. 60-64). Im sogenannten DoppeleffektDiorama gelang Daguerre durch beidseitige Bemalung und den Einsatz von Farbfiltern die Darstellung von Bewegung. Bei dem Gemälde der Kirche SaintEtienne-Du-Mont entstand so die Illusion, eine Gruppe von Mönchen zöge in das Kirchenschiff ein (ebd., S. 65). 95 Das Panorama von Rom zur Zeit Kaiser Konstantins hatte in den ersten 4 Monaten 17.000 – 20.000 Besucher (ebd., S.192). 96 Ebd., S. 44.

Typologie – Ortsunabhängige Erinnerungsformen

Dieses Panorama, gemalt von Bruno Pilgheim, wurde im Mai 1886 zum ersten Mal in München gezeigt. Hier verblieb es drei Jahre, bevor es fast zwei Jahre in Berlin zu sehen war, um von dort nach Wien zu gelangen, wo es Opfer eines Brandes wurde. Der Erfolg dieses Bildes führte zu zahlreichen Neuanfertigungen, insgesamt sollen mindestens 13 oder 14 Jerusalem-Panoramen entstanden und in Deutschland, Europa und in den USA zu sehen gewesen sein. Allein in London wurden täglich 1.500 bis 2.000 Besucher gezählt. Panoramen mit der Darstellung Jerusalems samt den speziell dafür errichteten Gebäuden befinden sich heute noch in den Wallfahrtsorten Alt-Ötting und Einsiedeln (Schweiz). Für das Panorama in Einsiedeln haben nach Angaben Oettermanns bis 1977 3.500.000 Be­sucher Eintritt bezahlt.97 Das Panorama war allerdings nur eine vorübergehende Erscheinung. Als Institution ist es heute so gut wie verschwunden. Rund 100 Jahre lang bot es einem an Bildung und Kontemplation gleichsam interessierten bürgerlichen Publikum Bilder von fernen Gegenden und vergangenen Zeiten. Die Entwicklung der Transportmittel und die Erfindung von Fotografie und Film läuteten das Ende des Panoramas ein. Wenn heute Menschen über zeichnerische oder malerische Darstellungen an Architektur erinnert werden sollen, dann erfolgt das in der Regel durch Ausstellungen und Museen oder über Buchpublikationen. Als Beispiel einer Rekonstruktionszeichnung im Ausstellungskontext sei die Darstellung einer Marktszene im römischen Nida (heute Frankfurt am Main) erwähnt, die sich im Archäologischen Museum Frankfurt befindet (Abb. S. 55). Für Publikationen seien zwei Beispiele hier vorgestellt: Zum einen die Illustrationen einer idealtypischen mittelalterlichen Stadt des Künstlers Jörg Müller, die für die Ausstellung „Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch“ – 1992/93 in Zürich und Stuttgart gezeigt – angefertigt wurden und auch in einer Publikation98 veröffentlicht sind. Zu der Fülle der Themen, die diese Illustrationen veranschaulichen, bemerken Judith Oexle und Jürg E. Schneider: „Hausbau und Architektur, Ernährung, Handwerk und Handel, Frömmigkeit und Lebensgefühl, Krankheit und Tod, Wachstum und Veränderung der Stadt, die Rolle der Bettelorden, Fragen der Versorgung und Entsorgung bis hin zum Umweltschutz – all diese Aspekte mittelalterlichen städtischen Lebens sind Inhalt der ‚Lebenskreise‘, die sich um den eigens für diese Ausstellung geschaffenen Gemäl-

97 Ebd., S. 220. 98 M. Flüeler / N. Flüeler (Hg.): Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch – Die Stadt um 1300, Stuttgart 1992. Die Publikation ist als Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Landes Baden-Württemberg und der Stadt Zürich erschienen.

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Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung dezyklus zu den vier Jahreszeiten in einer mittelalterlichen Stadt von Jörg Müller, Biel, gruppieren.“99

Das zweite Beispiel behandelt Illustrationen zum antiken Leben in Rom und Athen, 1999 in einer Publikation erschienen (Abb. S. 55).100 Auch hier stellen farbige Rekonstruktionszeichnungen anschaulich das städtische Leben und zerstörte Bauwerke dar.

1.2.3.3 Filme Das Interesse an vergangenen Zeiten und deren Bauwerken erfasste Ende des 19. Jahrhunderts auch das gerade erst entstandene neue Medium Film. Nachdem 1895 die ersten Streifen das Kinopublikum in ihren Bann schlugen, dauerte es keine 20 Jahre, bis mit enormem Aufwand die Kulissen antiker Städte nachgebaut und so einem breiten Publikum eine bis dahin nicht gekannte Vorstellung urbaner Vergangenheit vermittelt wurde. Judith Stallmann-Steuer nennt als Beginn die 1910er Jahre, in denen die ersten Historienfilme wie „Quo Vadis“ entstanden.101 Rom, Troia, Pompeji und Karthago waren die Schauplätze. Als Blütezeit dieser Monumentalfilme sind die 50er und 60er Jahre zu sehen. Hollywood-Produktionen wie Ben Hur (1959) oder Cleopatra (1963), gedreht in der italienischen Filmstadt Cinecittá, gehören zu den Filmlegenden und versuchen mit aufwendigen Kulissen ein farbenprächtiges Bild der Antike zu vermitteln. So wurde für den Film Ben Hur der Circus Maximus nachgebaut, für Cleopatra u.a. das Forum Romanum102. Die Kulissen verschwanden wieder, die bewegten Bilder sind geblieben. Auch wenn die große Epoche der Historienfilme vorbei ist, entstehen bis in die jüngste Zeit immer wieder Produktionen, die antike Welten im großen Stil in Szene setzen. Als Beispiel sei der Film Gladiator103 aus dem Jahre 2000 genannt.

99 J. Oexle / J. E. Schneider: Zur Ausstellung und zu diesem Katalog, in: Flüeler 1992, S. 7. 100 P. Connolly / H. Dodge: Die antike Stadt – Das Leben in Athen & Rom, Köln 1998. 101 Siehe hierzu: J. Stallmann-Steuer: Roms Architektur im Spielfilm, Weimar 2001, S. 25. 102 Ebd., S. 130. 103 Siehe hierzu die Filmdatenbank „mediabiz“, http://www.mediabiz.de/ Direktlink: http://www.mediabiz.de/firmen/kinofilm.afp?Nr=1458&Ti=52678&Biz=me diabiz&Premium=N&Navi=00000000, vom 08.07.2004.

Typologie – Ortsunabhängige Erinnerungsformen

Marcellustheater in Rom Rekonstruktionszeichnung von Sebastiano Serlio (1540)

Tempel des Portunus Rekonstruktionszeichnung von Andrea Palladio (1570)

Rekonstruktionszeichnung des Forum Romanum Constant Moyaux (1866)

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Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung

Schnitt durch ein Panoramagebäude: A. Eingang / Kasse, B. Verdunkelter Gang, C. Betrachterplattform, D. Sehwinkel des Betrachters, E. Rundleinwand

Inneres einer Panoramarotunde kurz vor der Fertigstellung des Bildes

Panorama von Rom 1880 in Magdeburg erstellt

Typologie – Ortsunabhängige Erinnerungsformen

Marktszene in der römischen Stadt Nida Rekonstruktionszeichnung Archäologisches Museum Frankfurt

Athen zur Mitte des 4. Jh. v. Chr. Buchillustration

Rom der frühen Kaiserzeit Buchillustration

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Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung

Modell von Jerusalem, 16. Jahrhundert Bayerisches Nationalmuseum München

Antonio Chichi Korkmodell des Pantheons, 1782

Typologie – Ortsunabhängige Erinnerungsformen

Modell und aktuelle Fotografien von Hattuscha Hethiter-Ausstellung, Bundeskunsthalle Bonn

Modell von Hattuscha Hethiter-Ausstellung, Bundeskunsthalle Bonn

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Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung

1.3 Wirksamkeiten der Erinnerungsformen Die Bandbreite der Erinnerungsformen lässt es interessant erscheinen, nach der Wirksamkeit der einzelnen Erscheinungsformen zu fragen. Wirksamkeit soll hier anhand dreier Aspekte beleuchtet werden: erstens die Frage nach der Fähigkeit, die zerstörte Architektur abzubilden, zweitens nach der Fähigkeit zu emotionalisieren und die Rezipienten zu involvieren sowie drittens die Frage nach der Fähigkeit Erinnerungsdiskurse auszulösen, zu pointieren, sich Gehör zu verschaffen, viele Menschen zu erreichen, letztendlich anregend zu wirken für eine Erinnerungskultur. Dieser Aspekt wird von den beiden vorherigen mitbeeinflusst. Die Betrachtung an dieser Stelle soll einführend sein und die genannten drei Aspekte als prinzipielle Kriterien einführen. Im dritten Kapitel, das einen Vergleich ­zwischen 3D-Computer-Rekonstruktionen und traditionellen Rekonstruktionsformen beinhaltet, wird das Thema der Wirksamkeit der Erinnerungsformen und des hier entwickelten Kriterienkatalogs wieder aufgegriffen. Die größte Fähigkeit zerstörte Architektur zu veranschaulichen, besitzt zweifelslos die bauliche Rekonstruktion, was allerdings noch nichts über ihren Wahrheitsgehalt aussagt. Dimension, Materialität, Form und Konstruktion sowie Farbigkeit sind besser zu vermitteln als etwa bei Modellen und Zeichnungen. Zusätzlich bieten bauliche Rekonstruktionen das Erleben der Räumlichkeit. Sollte es nicht möglich oder aus irgendeinem Grund nicht beabsichtigt sein, eine „originalgetreue“ Rekonstruktion vorzunehmen, bieten Modell und zweidimensionale Zeichnungen allerdings eine Alternative, das Abbild des ursprünglichen Zustands zu vermitteln. Modelle sind wiederum gegenüber zweidimensionalen Darstellungen im Vorteil, wenn es darum geht, den Baukörper und die Räumlichkeit schnell zu erfassen. Die Möglichkeit, ihre Dreidimensionalität durch Umschreiten zu erfahren, machen sie gerade für Laien wesentlich anschaulicher als zweidimensionale Darstellungen. In der Detaillierung, bei der atmosphärischen Darstellung und bei der Thematisierung des städtebaulichen Umfeldes sind Modellen allerdings handwerkliche Grenzen bzw. Grenzen bei dem zur Verfügung stehenden Platz gesetzt. Hier bieten malerische Darstellungen eine Chance, zusätzliche visuelle Informationen über die Kultur vergangener Zeiten zu vermitteln, wie die Beispiele der Buchpublikationen zum Mittelalter und zum antiken Rom gezeigt haben. Ihnen ist gegenüber Risszeichnungen beim Einsatz für eine breite Öffentlichkeit der Vorzug zu geben, da Laien in der Regel nicht in der Lage sind, Pläne zu lesen.104 Risszeichnungen sind deswegen hauptsächlich für Ex104 Dies wird auch von Museumsfachleuten geteilt. Hans Ottomeyer, Generaldirektor des DHM bemerkt hierzu: „Wir wissen von eigenen Ausstellungen

Wirksamkeiten

perten als wissenschaftliches Hilfsmittel zur Darstellung zerstörter Architektur von Bedeutung. Den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit haben die zweidimensionalen Rekonstruktionen mit dem Verschwinden des Panoramas allerdings bereits überschritten. Eine solche Faszination und große Zahl an Rezipienten ist heutzutage nur noch über das Medium Film herstellbar. So sind für den Großteil der Menschen Filme prägend, wenn es darum geht, an nicht mehr existente Architektur zu erinnern. Der Wahrheitsgehalt dieser Kulissenfilme steht auf einem anderen Blatt, ihre Wirksamkeit für die Erzeugung von Bildern im Kopf der Menschen ist vermutlich höher als bei jedem anderen Medium. Hinsichtlich einer Breitenwirkung, einem Erzielen von Aufmerksamkeit und einem Anregen von Diskussionen weisen bauliche Rekonstruktionen mit Abstand das größte Potential auf. Bauwerke sind zum einen im Gegensatz zu Zeichnung und Modell in der Lage, die symbolische Aufladung eines zerstörten Gebäudes wieder zu übernehmen bzw. eine neue Symbolik widerzuspiegeln, sei es eine Botschaft im Kontext der Umstände der Zerstörung, sei es eine völlig neue Botschaft. Zum anderen können reale Gebäude nicht ignoriert werden, wie es eine Zeichnung oder ein Modell in einem Museum werden könnte. Bauliche Rekonstruktionen beanspruchen im Gegensatz zu Zeichnung oder haptischem Modell einen realen Standort im Stadtraum. Hier materialisieren sich konkurrierende politische und kulturelle Vorstellungen, die durch die hohen Kosten bei einer baulichen Rekonstruktion (z.B. bei der Dresdner Frauenkirche ca. 180 Mio. Euro105) zusätzlich Diskussionsstoff erhalten. Das führt in der Regel zu Auseinandersetzungen in der Frage, ob ein solcher Nachbau Sinn macht. In diesem Zusammenhang kann auf die Diskussion um den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses verwiesen werden. Weder

und von der Beobachtung in anderen Ausstellungen, dass Modelle eines der wirksamsten Mittel sind, um die Aufmerksamkeit von Besuchern zu fangen und sie dort zu halten. Das liegt ganz einfach daran, dass der Besucher in der Regel keine Risse und Aufrisse mit der Klarheit lesen kann, wie das vielleicht bei Architekturhis­torikern, Kunsthistorikern und Architekten der Fall ist.“ Siehe Anhang Interviews, S. 523. Ergänzend Ulrich Mette, Leiter der Pädagogischen Abteilung der Bundeskunsthalle zu dem „Problem bei einer traditionellen Darstellungsform wie einer Zeichnung. Nehmen wir zum Beispiel Baupläne von St.-Peter. Ein normaler Mensch, der nicht geschult ist im architektonischen Denken und dem Lesen von Plänen, kann sich nicht merken, dass der Plan, der zwei Exponate vorher hing, beim nächsten fast deckungsgleich ist – lediglich eine andere Ansicht zeigt. Er kann nicht identifizieren, dass dieser Vorsprung genau der Treppenturm am Vatikanpalast ist, sondern denkt, das ist ein anderer Turm, weil er da nur noch das Dach von oben sieht..“ Siehe Anhang Interviews, S. 507. 105 http://www.mdr.de/frauenkirche/2188020.html, vom 10.02.2006.

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Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung

Zeichnung noch haptisches Modell hätten auch nur ansatzweise eine solche Welle von Diskussionen auslösen können, wie das die Vorschläge für eine bauliche Rekonstruktion vermögen. Die größere Bedeutung der baulichen Rekonstruktionen spiegelt sich auch in der Berichterstattung der Medien wider, Zeichnungen oder Modelle besitzen bei weitem nicht so eine Attraktivität. Durch die höhere Präsenz baulicher Rekonstruktionen in den Medien verstärkt sich ihr Bedeutungsvorsprung gegenüber Modellen und Zeichnungen noch weiter. Nicht nur über die Medien erreichen die baulichen Rekonstruktionen mehr Menschen als Modell und Zeichnung. Auch beim realen Aufsuchen der Objekte weisen sie eine größere Attraktivität auf. Ein einzelnes Modell, eine Zeichnung wird kaum ausreichen, um zum Besuch eines Museums zu motivieren. Dagegen werden die authentischen Orte von vielen aufgesucht. Beispielsweise besuchten von 1977 bis 1994 4,5 Millionen Menschen den archäologischen Park in Xanten.106 Von den ortsunabhängigen Erinnerungsformen erreichen nur die Rekonstruktionen im Medium Film ein ähnlich großes Publikum, sei es in den TV-Dokumentationen oder in den großen Historienfilmen. Als Beispiel aus jüngster Zeit ist der Film Gladiator mit 3,5 Millionen Kinobesuchern zu nennen107. Bauliche Rekonstruktionen können auch als Orte für Rituale genutzt werden und so durch die Anwesenheit von Repräsentanten einer Gesellschaft oder einer „großen“ Anzahl von Personen eine Funktion in der Erinnerungskultur darstellen – im Gegensatz zu Modellen und Zeichnungen. Dem Aufsuchen authentischer Orte kommt des Weiteren eine Bedeutung durch ihre „Konkretisation und Verifikation“ des Geschehenen zu.108 Dies ist ein Umstand, der gerade in der politischen Bildungsarbeit nicht zu unterschätzen ist. Auch das unterscheidet die bauliche Rekonstruktion am authentischen Ort von Modell und Zeichnung. Abschließend kann gesagt werden, dass haptische Modelle und zweidimensionale Rekonstruktionen zwar in der Lage sind, ein Abbild zerstörter Architektur zu vermitteln, bei nicht wieder herstellbaren Bauwerken und Stadtstrukturen lange Zeit die einzigen zu realisierenden Möglichkeiten darstellten, einen Beitrag für die Erinnerungskultur im Sinne des Beein-

106 http://www.lvr.de/kultur/apx/index.htm, vom 17.07.2004. Weitere Informationen auch in der vom Landschaftsverband Rheinland 1994 herausgegebenen Broschüre „Führer durch den Archäologischen Park Xanten“, Köln 1994. Hier befinden sich auch Informationen zu Besucherzahlen. 107 Siehe hierzu die Filmdatenbank „mediabiz“, http://www.mediabiz.de/ Direktlink: http://www.mediabiz.de/firmen/kinofilm.afp?Nr=1458&Ti=52678&Biz=me diabiz&Premium=N&Navi=00000000, vom 14.03.2006. 108 Siehe hierzu auch: Aleida Assmann: Das Gedächtnis der Orte, in: Borsdorf / Grütter 1999, S. 77.

Wirksamkeiten

flussens oder des Auslösens identitätsstiftender, gesellschaftlicher Diskurse im Vergleich zu den baulichen Rekonstruktionen aber nur schwer leisten können. Ihre Bedeutung liegt eher in der Veranschaulichung nicht mehr existenter Architektur für Laien in Ausstellungen und Büchern und im Kontext der wissenschaftlichen Diskussion und der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen. Das haptische Modell besitzt dabei grundsätzlich das größere Diskussionspotential, da es das gesamte Bauwerk in einer einheitlichen Darstellungsqualität wiederzugeben versucht. Zu Unklarheiten, die sich in der Zweidimensionalität der Zeichnung noch verbergen lassen, muss im dreidimensionalen Modell eine exakte Aussage getroffen werden. Das zwingt zu Interpretationen und Vorschlägen, die Diskussionen anregen. Als letzter Aspekt im Kontext der Wirksamkeiten der Erinnerungsformen soll die Frage beleuchtet werden, inwieweit das Vermögen einer Architekturnachbildung, Erinnerung anzuregen, von der Beziehung Betrachter – Rekonstruktion beeinflusst wird. Wenn man Untersuchungen zum Thema „Gedächtnis und Gehirn“ Glauben schenken darf, dann besteht eine Beziehung zwischen Emotion und Erinnerung. Niels Birbaumer, Professor für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der medizinischen Fakultät der Universität Tübingen, drückt es sehr einfach und kurz aus, in dem er sagt, je stärker der emotionale Gehalt dessen sei, was wir erleben, desto besser würden wir es uns merken.109 Salomon Korn bemerkt im Zusammenhang mit Erinnern am authentischen Ort: „Um die Aufmerksamkeit der Menschen, die an eine solche Stelle kommen, auf sich zu ziehen, müssen Sie versuchen, etwas zu schaffen, was Aufmerksamkeit anregt. Das ist weniger das, was Sie mit dem Verstand erfassen, sondern es ist das, was Sie mit den Sinnen erfassen oder aber auch nicht erfassen – die Abwesenheit von Sinnlichkeit. Aber zunächst sprechen Sie Menschen auf der primär sinnlichen Ebene an, auch wenn es am Ende eine unsinnliche Ebene ist. Erst auf der zweiten Ebene kommt dann das Rationale hinzu. Also erst Gefühl und dann Verstand, das ist die Reihenfolge, die man in der Regel bei Gedenkstätten und Mahnmalen einhalten sollte. Anders geht es gar nicht. Jede Erinnerung, die nur vom Verstand beherrscht ist, ist eine schwierige Erinnerung, eine, mit der man sich wesentlich länger, komplexer und komplizierter auseinandersetzen muss als mit etwas, was mit Widerwillen verbunden ist. Dinge bleiben eher im Gedächtnis, wenn sie gefühlsbegleitend sind, als wenn sie sich gefühlsneutral darstellen“.110

109 N. Birbaumer: Gedächtnis, Gehirn und Verkümmerung von Erinnerung, in: C. Deußen / Deutsche UNESCO-Kommission, (Hg.): Geschichte und Erinnerung – Gedächtnis und Wahrnehmung, Bonn 2000, S. 27. 110 Siehe Anhang Interviews, S. 598.

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Hypothetisch könnte also davon ausgegangen werden, dass, je besser eine Emotionalisierung des Rezipienten bei einer Architektur-Rekonstruktion gelingt, desto mehr die Intentionen derjenigen, die erinnern möchten, zum Tragen kommen könnten. Es müsste demnach gefragt werden, welche Faktoren und sinnlichen Ausdrucksmittel bei einer Emotionalisierung eine Rolle spielen und welche Formen der Rekonstruktion für welche Intention am besten geeignet sind. Empirische Untersuchungen hierzu liegen bis jetzt nicht vor. Dieser Hypothese nachgehend sollen verschiedene Faktoren, die für eine Emotionalisierung der Rezipienten bedeutend sein können, angedeutet und Fragen aufgestellt werden – auch in der Hoffnung, für die weitere Forschung Anregungen zu liefern. 1. Über die Architekturdarstellung hinaus bedarf es der Vermittlung begleitender inhaltlicher Informationen und/oder den Hintergrund von öffentlich wirksamen Erinnerungsdiskursen, um eine Emotionalität kognitiv einzubinden. Solche begleitenden Informationen sind zum Beispiel die Umstände der Zerstörung. Diese Informationen sind die eigentlichen Träger der Emotionen. Es ist zu fragen, welche unterschiedlichen Qualitäten hier die verschiedenen Rekonstruktionsformen aufweisen? Modelle und Zeichnungen sind hier vom Platz her beschränkt. Für sich alleine genommen können sie begleitende Informationen nur in geringem Maße aufnehmen und benötigen zusätzliche Informationsträger. Bauliche Rekonstruktionen weisen mehr Raum für solche Informationen auf. Jene sind darüber hinaus – wie oben beschrieben – auch eher Diskussionspunkt in der Öffentlichkeit, so dass hier begleitende Informationen auch über medial vermittelte Erinnerungsdiskurse zum Tragen kommen. 2. Im Kontext von Architektur-Rekonstruktionen sind als wichtige Faktoren einer Emotionalisierung die Umstände der Zerstörung und deren Interpretation, die zeitliche Nähe zu diesem Ereignis sowie die Symbolik, die mit der Rekonstruktion verknüpft wird, zu sehen. Steht die Zerstörung von Bauwerken mit der Diskriminierung oder dem Tod von Menschen in Beziehung (z.B. Zweiter Weltkrieg, Zerstörung der Synagogen), ist von einer weitaus stärkeren Emotionalisierung der erinnerten Architektur auszugehen, als bei einem Unglück, bei dem zudem keine Personen zu Schaden kommen (z.B. bei einem fahrlässig verursachten Brand). In diesem Kontext bekommt auch eine zeitliche Nähe zur Zerstörung Bedeutung. Zum einen leben unter Umständen noch Zeitzeugen, welche die Gebäude aus eigener Anschauung kennen, oder es gibt Menschen, die mit diesen Zeitzeugen direkten Kontakt hatten. Diese Personen können sich in Diskussionen zu Wort melden, sich in Entscheidungsprozesse einmischen und von den eigenen oder erzählten Erinnerungen aus der Zeit vor bzw.

Wirksamkeiten

während der Zerstörung berichten. Gerade von Zeitzeugen kann dabei eine hohe Autorität und eine Emotionalisierung ausgehen. Zum anderen bedeutet eine zeitliche Nähe in der Regel auch eine andere Präsenz des Geschehens in der Gesellschaft und in den Familien, als Zerstörungen, die länger her sind. Im Fall des Nationalsozialismus hat sich eine solche Präsenz oft in erregten Debatten sowohl im gesellschaftlichen wie auch im familiären Rahmen gezeigt. Bauliche Rekonstruktionen haben gegenüber dem Modell und der Zeichnung im Kontext der Umstände der Zerstörung das größere Potential zu emotionalisieren. Bei „banalen“ Ursachen der Zerstörung kann Freude über die Wiederherstellung entstehen. Bei Ursachen mit dramatischen Hintergründen wird deutlich, dass die bauliche Rekonstruktion von Architektur nicht die Begleiterscheinungen wie beispielsweise den Tod von Menschen ungeschehen machen kann. Haptisches Modell und Zeichnung erzeugen durch ihre Abstraktion, durch ihre im Maßstab verkleinerte Darstellung eine solche Assoziation erst gar nicht. Sie bewahren eine Distanz. Bei baulichen Rekonstruktionen finden wir dagegen „Wiedereröffnungen“, die gleichzeitig Gedenkfeiern sind, wie das Beispiel der Dresdner Frauenkirche zeigt. Solche Feierlichkeiten als Ausdruck gesellschaftlicher Trauer sind im Kontext der Präsentation von Zeichnungen und Modellen unwahrscheinlich. Auf die Bedeutung von baulicher Rekonstruktion als Symbolträger wurde bereits im letzten Abschnitt eingegangen. In diesem Zusammenhang sind beispielsweise das Aufladen eines wiedererrichteten Bauwerks mit nationaler Symbolik und ein Ansprechen des Nationalgefühls der Rezipienten zu nennen. 3. Im Kontext von Emotionalisierung ist auch zu fragen, welche Bedeutung der Grad der Anschaulichkeit der rekonstruierten Architektur und die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit der Rezipienten zu binden, haben. Bauliche Rekonstruktionen scheinen in dem Punkt Anschaulichkeit gegenüber Modellen und Zeichnungen im Vorteil zu sein. Allerdings ist die Frage des letzten Abschnitts zu wiederholen, wo der Beitrag zur Erinnerungskultur liegt, wenn zwischen Original und Rekonstruktion keine Differenz mehr besteht. Bewusstes Herbeiführen von Differenz oder der Einsatz von abstrakteren Formen wie Modell oder Zeichnung zeigen den Verlust unter Umständen deutlicher und wirken so nachhaltiger für die Erinnerung. Die Thematisierung von Emotionalisierung soll nicht suggerieren, dass Emotionalisierung an sich eine Qualität ist. Sie kann eine gute Grundlage für die Sensibilisierung des intendierten Inhalts sein. Emotionalisierung könnte im negativen Sinne auch eine freudige Zustimmung zur Zerstörung von repräsentativen Bauwerken einer gesellschaftlichen Minderheit

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zum Inhalt haben. Deshalb sind begleitende Informationen, ist der gesellschaftliche Hintergrund und die Bezugnahme auf Erinnerungsdiskurse wichtig und notwendig, um einer Emotionalisierung einen Rahmen zu geben, in der sie sich beispielsweise als Trauer oder Empathie ausdrücken kann.

1.4 Akteure und Adressaten Die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Formen der Rekonstruktion zerstörter Architektur spiegelt sich auch in einer Vielfalt von Akteuren wider. Zu nennen sind unter anderen: politische Institutionen, Denkmalschutzbehörden, Museen, Forschungseinrichtungen, Verlage, Bürgerinitiativen. Gleichzeitig werden unterschiedliche Adressaten angesprochen. Dabei unterscheiden sich die Erinnerungsformen am authentischen Ort deutlich von anderen Formen der Erinnerung, da hier zum einen hoheitliche Rechte staatlicher Institutionen tangiert werden – nämlich die Verfügungsgewalt über den öffentlichen Raum –, zum anderen haben Erinnerungsformen am authentischen Ort eine weitaus höhere Symbolwirkung. Somit kommen hier im Vergleich zu den Erinnerungsformen, die vom Ort abstrahieren, andere bzw. zusätzliche Akteure ins Spiel. Wir haben es hier eher mit einem politischen Handlungsrahmen zu tun. Haptische Modelle werden in der Regel im Kontext von Ausstellungen oder im Rahmen von Forschungsvorhaben erstellt. Akteure sind Museumsfachleute, Kunsthistoriker, Archäologen, Bau- und lokale Geschichtsforscher. Gleiches gilt für die zeichnerischen oder malerischen Darstellungen. Auch hier haben wir es mit denselben Akteuren zu tun, eventuell ergänzt um Fachleute aus dem Verlagswesen oder der Filmbranche. Die Erstellung solcher Erinnerungsformen ist in den seltensten Fällen umstritten und Streitpunkt einer politischen, öffentlichen Auseinandersetzung – ganz im Gegensatz zu Erinnerungsformen am authentischen Ort. Das Berliner Schloss ist hierbei sicher das prominenteste Beispiel. Bei den Rekonstruktionen und Restaurierungen am authentischen Ort lassen sich zwei Hauptakteure ausmachen. Auf der einen Seite handeln politische Gremien und Behörden, auf der anderen Seite Bürgerinitiativen. Bekannte Rekonstruktionen wären nicht oder nicht zu diesem Zeitpunkt entstanden, hätten nicht Einzelpersonen und Bürgerzusammenschlüsse engagiert gehandelt. Sowohl der Bundestagsbeschluss für den Wiederaufbau der Berliner Schlossfassade als auch der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche wäre ohne das Engagement von Wilhelm von Boddien bzw. ohne die „Bürgerinitiative für den Aufbau der Frauenkirche“ nicht erfolgt. Weitere Beispiele sind in Dethard von Winterfelds Aufsatz über die Re-

Akteure und Adressaten

konstruktion deutscher Residenzschlösser nach 1945 zu finden. Er nennt die Wiederherstellung des Goldenen Saals in Augsburg (Bürgerinitiative) und den Wiederaufbau der Schlösser in Bruchsal sowie in Mannheim (engagierte Einzelperson).111 Auch die Diskussionen in jüngster Zeit zu einer möglichen Rekonstruktion von kriegszerstörten Gebäuden der Frankfurter Altstadt zwischen Römer und Dom werden von einer Bürgerinitiative, die einen solchen Wiederaufbau propagiert, mit geprägt. Dagegen steht die Errichtung der Römerbergzeile in Frankfurt als Beispiel für eine Entscheidung städtischer Kommunalpolitik – hier als Ausdruck einer „nostalgischen Kompensationsästhetik“ in der „Standortkonkurrenz unter den Metropolen“, wie Werner Durth es formulierte.112 Neben den explizit politischen Akteuren sind die Denkmalschutzbehörden zu nennen, deren Aufgabe es ist, Erinnerungswürdiges zu erhalten. Ihr Interesse gilt den authentischen Orten besonders dann, wenn bauliche Reste vorhanden sind. Hier kann es zu Konflikten mit anderen Akteuren kommen, wenn diese etwa eine weitgehende Rekonstruktion und Benutzung anstreben, was in der Regel dazu führt, dass authentische Bausubstanz unzugänglich gemacht oder zerstört wird. Andrzej Tomaszewski stellt hinsichtlich der Authentizität einen interessanten Vergleich an. Während in westlichen Kulturen – so führt er aus – die Authentizität über die „Authentizität der Substanz“ hergestellt wird, zeigen fernöstliche Kulturen ein anderes Verständnis. „Die Authentizität eines Denkmals, so wie sie in Japan, China oder Korea verstanden wird, ist die Authentizität der Form, der Funktion, der Tradition, der Technik, aber nicht der Substanz, weil die Baumaterialien in Fernost – überwiegend ist es Holz, manchmal Lehm – keine lange Dauer haben.“ So ist für „diesen Kulturkreis“ der „Wiederaufbau“ eines zerstörten Bauwerks „kein Problem“, im Westen hingegen ist „nur ein Denkmal, welches seine authentische Bausubstanz erhalten hat, [...] eine authentische historische Quelle. Ein wieder errichtetes Denkmal ist dagegen nur eine ikonographische Quelle. Man kann es nicht mit dem Wissen der Archäologie studieren und erforschen.“113 Aus dieser denkmalpflegerischen Sicht ist die Rekonstruktion eines gänzlich zerstörten Bauwerks uninteressant. Aus kunsthistorischer Sicht können die wiederhergestellten Bauwerke aber die Funktion übernehmen, sowohl „ästhetische[] Werte“ als auch „Idee“ und „Gesamtform“ zu vermitteln, wie

111 Siehe D. v. Winterfeld: Deutsche Residenzschlösser nach 1945, in: Bingen / Hinz 2005, S. 120, 123, 129. 112 W. Durth: „Utopia im Niemandsland: Stadtplanung als Vernichtung“, in: Bingen / Hinz 2005, S. 62. 113 Diskussionsbeitrag von Andrzej Tomaszewski in: Bingen / Hinz 2005, S. 140.

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Winterfeld es formuliert.114 Der prinzipielle Konflikt über die Bedeutung der authentischen Bausubstanz aus wissenschaftlicher Sicht sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Frage der Erinnerungsformen am authentischen Ort eher eine politische ist und von den politischen Akteuren entschieden wird. So stellt auch Dethard von Winterfeld fest: „Die Entscheidung für oder gegen vollständige Reproduktionen, Denkmalkopien oder Modelle im Maßstab 1:1 ist nicht kunstgeschichtlich-wissenschaftlich, sondern politisch-öffentlich, und es gewinnt, wer die stärkeren Bataillone besitzt.“115 Bei diesen Entscheidungsfindungen kommt einem weiteren Akteur eine wesentliche Rolle zu: den öffentlichen Medien. Wie bei anderen Erinnerungsdiskursen sind die öffentlichen Medien unverzichtbare Akteure. Erst durch sie kann die Botschaft, die eine Rekonstruktion haben soll, kann die Diskussion darüber viele Menschen erreichen und so gesellschaftlich wirksam werden. Verlagert man abschließend den Blick von den Akteuren hin zu den Adressaten, so lässt sich sagen, dass bauliche Rekonstruktionen am authentischen Ort sich von anderen Formen der Rekonstruktion auch hinsichtlich der Adressaten unterscheiden. Bauliche Rekonstruktionen wenden sich explizit an „alle“. Die Dimension einer solchen Gesamtheit von Adressaten richtet sich allerdings nach der symbolischen Bedeutung von Bauwerk und Zerstörung und reicht von lokaler Anrufung – die Gesamtheit einer Bevölkerung eines Ortes – über regionale und nationale Adressierung bis hin zur Ansprache an die Weltgemeinschaft in Form der Zugehörigkeit zum Weltkulturerbe. Es geht dabei immer auch um bewusste Förderung entsprechender Identität der so angesprochenen Individuen, von lokaler und regionaler Verbundenheit bis zur Förderung nationaler Identität.116 Eine solche Bedeutung erreichen Rekonstruktionen in Form von Modellen und Zeichnungen nicht. Gerade im Kontext nationaler Identität müssen ältere Bauwerke oft als vermeintliche Zeugen einer langen Tradition herhalten, als steinerne Zeugnisse einer konstruierten Nation – ganz im Gegensatz zu der Tatsache, dass Nationen relativ junge Gebilde sind und die meisten kaum mehr als anderthalb Jahrhunderte existieren.117

114 D. v. Winterfeld: Deutsche Residenzschlösser nach 1945, in: Bingen / Hinz 2005, S. 124. 115 Ebd., S. 133. 116 Zwar ist die nationale Identität eine der wirksamsten, dennoch haben auch religiöse oder ethnische Identitätskonstruktionen ihre Bedeutung und stellen Verbindungen zu Bauwerken her. 117 Siehe hierzu auch Etienne Balibar: Die Nation-Form: Geschichte und Ideologie in: E. Balibar / I. Wallerstein: Rasse Klasse Nation: ambivalente Identitäten, S.107-130.

Intentionen

Neben einer Identitätsbildung im eben beschriebenen Sinne transportieren Rekonstruktionen weitere Inhalte, intendieren weitere Botschaften. Diese Frage nach den unterschiedlichen Intentionen ist Gegenstand des nächsten Abschnitts.

1.5 Intentionen Allen vorgestellten Erinnerungsformen gemeinsam ist die Absicht, ein Abbild von zerstörter Architektur zu geben. Darüber hinaus unterscheiden sich Entstehungshintergründe allerdings deutlich und es lassen sich verschiedene Intentionen ausmachen, deren Betrachtung in vier Gruppen gegliedert ist: erstens Anknüpfen an frühere und das Schaffen neuer Identitäten, zweitens Unzufriedenheit mit der modernen Architektur, drittens Wissensvermittlung und Unterhaltung und viertens das Anknüpfen an bereits bestehende Erinnerungsdiskurse. Diese Unterteilung ist allerdings nicht als scharfe Trennlinie zu verstehen. Man muss eher davon ausgehen, dass durch eine Vielschichtigkeit der Symbolik eines zerstörten Bauwerks und durch eine Vielzahl von Akteuren ein Geflecht von verschiedenen Intentionen vorhanden ist. Die Einordnung von Beispielen in die vier Bereiche soll dennoch einen jeweiligen Hauptaspekt verdeutlichen. Identitätsbildung Als erste Gruppe der Erinnerungsintentionen soll die Identitätsbildung angesprochen werden. „Zur Kultur- und Gesellschaftsgeschichte gehört die bewusste Zerstörung, die Überformung von Strukturen, Bauwerken und Objekten von symbolischer, politischer oder religiöser Bedeutung mit dem Ziel der Identitätszerstörung. [...] Der Umgang mit den zerstörten Gebäuden und Strukturen spiegelt die Absichten, neue Identitäten zu schaffen bzw. an frühere anzuknüpfen“. 118 So beginnt das Vorwort zu einem Textband, der sich mit „Zerstörung und Wiederaufbau historischer Bauten in Deutschland und Polen“ beschäftigt. Von einer lokalen / regionalen / nationalen Ebene der Förderung entsprechender Verbundenheit war oben schon die Rede. Für die Erinnerungsdiskurse sind solche Rekonstruktionen von zerstörten Bauwerken und Stadtteilen von besonderer Wichtigkeit, die in einen Kontext nationaler Identität gestellt werden. Hier geht es um Identitätsbildung, die die gesamte Gesellschaft tangiert, und das bedeutet eine erhöhte Aufmerksamkeit der gesellschaftlichen Akteure.

118 D. Bingen / H.-M. Hinz: Vorwort, in: Bingen / Hinz 2005, S. 7.

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Das Schaffen neuer und das Anknüpfen an frühere nationale Identitäten gehört zu den zentralen Intentionen bei baulichen Rekonstruktionen. Als Beispiel für das Anknüpfen an frühere Identität kann die Situation Polens nach den Zerstörungen durch Deutschland im Zweiten Weltkrieg genannt werden. Konstanty Kalinowski beschreibt den Zusammenhang zwischen Rekonstruktion und nationaler Identität sehr anschaulich – gerade anhand von Originalzitaten polnischer Denkmalpfleger.119 Der Generalkonservator von Polen, Jan Zachwatowicz im Spätsommer 1945: „Die Erfahrungen der letzten Jahre haben uns deutlich die Bedeutung der Denkmäler für die Nation gezeigt. Die Deutschen, die uns als Nation vernichten wollten, zerstörten auch Denkmäler unserer Geschichte [... i. Orig.] Wir dürfen nicht erlauben, dass man uns unsere Kulturdenkmäler raubt. Wir werden sie rekonstruieren, wir werden sie von Grund auf wieder aufbauen, um den nächsten Generationen, wenn schon nicht die authentische Substanz, so doch wenigstens die genaue Form dieser Denkmäler, die in Dokumenten und in unserem Gedächtnis noch leben, zu übermitteln [...] Um jeden Preis müssen wir die Reste unseres Kulturgutes vor der Vernichtung bewahren. Aber damit dieser Rest einen Sinn hat und die Rolle spielen kann, die wir den Denkmälern im Leben der Nation zuweisen, müssen wir ihnen eine Form geben, die ihrer originalen Gestalt möglichst nahe steht. Die Denkmäler sind nicht für Feinschmecker da, sie sind suggestive Dokumente der Geschichte im Dienste des Volkes. Auch ohne ihren Altertumswert werden sie weiterhin einen didaktischen und emotional-architektonischen Beitrag leisten. Die Aussage der architektonischen Form ist unabhängig von der Zeit, in welcher der Bau entstanden ist. [...] Das Bewusstsein unserer Pflicht gegenüber den jüngeren Generationen erfordert die Wiederherstellung dessen, was vernichtet wurde, die volle Wiederherstellung, allerdings durchaus der Tragik dieser denkmalpflegerischen Fälschung bewusst.“120

Die Situation in Deutschland war im Vergleich zu Polen heterogener. „Mut zum Abschied“ und Bekenntnis zur Kontinuität – wie die vielen Rekonstruktionen zeigen. Letzteres vielleicht als den Wunsch zu interpretieren, an eine Identität Deutschlands als Kulturnation anzuknüpfen (Goethehaus).

119 K. Kalinowski: Rückgriff auf die Geschichte. Der Wiederaufbau der Altstädte in Polen – das Beispiel Danzig, in: Bingen / Hinz 2005, S. 80-96. 120 J. Zachwatowicz: Progam i zasady konserwacji zabytków [Das Programm und die Regeln der Denkmalpflege], in: Biuletyn Historii sztuki i kultury 1946, Nr. 1/2, S. 48-52. Zitiert aus K. Kalinowski: Rückgriff auf die Geschichte. Der Wiederaufbau der Altstädte in Polen – das Beispiel Danzig, in: Bingen / Hinz 2005, S. 85-86.

Intentionen

Für das Aufladen rekonstruierter Gebäude mit neuer Symbolik im Kontext nationaler Identität stehen beispielsweise der Templo Mayor in Mexiko, dessen Bedeutung im Kontext der Bezugnahme auf die indigenen Wurzeln der mexikanischen Gesellschaft bereits angesprochen wurde, und die Erlöserkathedrale in Moskau. Hans Wilderotter verdeutlicht eine solche symbolische (Neu-)Aufladung für die Erlöserkathedrale, die ursprünglich in Erinnerung an den Sieg über Napoleon 1883 errichtet wurde. „Die Erlöserkathedrale sollte jetzt ein Denkmal für beide Vaterländische Kriege sein, also nicht nur für den Sieg über Napoleon, sondern auch für den Sieg über Hitler, und zwar in Zusammenhang mit einer extremen Idealisierung des vorrevolutionären Russlands. 1989 wurde ein Fonds für den Wiederaufbau der Erlöserkathedrale eingerichtet, und es wurde erklärt, dass diese Kathedrale ein Nationalheiligtum werden würde – ein symbolischer Katalysator der Wiedergeburt Russlands. Bei der Grundsteinlegung 1994 erklärte der damalige Präsident Boris Jelzin: ‚Russland braucht heute die christliche Erlöserkathedrale, dies ist ein russisches Nationalheiligtum, und es muss wieder auferstehen, so wie die russische Nation wieder auferstehen muss.‘“121

Wie vielschichtig die angestrebten Identitätsstiftungen sein können, zeigt das Beispiel der Dresdner Frauenkirche. „Wir wollen uns nicht damit abfinden, daß dieses einmalige und großartige Bauwerk Ruine bleiben soll oder gar abgetragen wird. Wir rufen auf zu einer weltweiten Aktion des Wiederaufbaues der Dresdner Frauenkirche zu einem christlichen Weltfriedenszentrum im neuen Europa. In diesem Gotteshaus soll in Wort und Ton das Evangelium des Friedens verkündet, sollen Bilder des Friedens gezeigt, Friedensforschung und Friedenserziehung ermöglicht werden. Damit würde der Weltkultur ein architektonisches Kunstwerk von einzigartiger Bedeutung wiedergeschenkt, das mit dem Namen des genialen Erbauers, George Bähr, aber auch mit dem Namen Gottfried Silbermann, Johann Sebastian Bach, Heinrich Schütz und Richard Wagner verbunden ist. Damit würde ein steinernes Zeugnis des christlichen Glaubens wieder erstehen; ein Gotteshaus, das sich die evangelische Bürgerschaft auf den Fundamenten der ältesten Kirche Dresdens errichtete. Damit würde eines der schönsten Städtebilder im Herzen Europas wieder seine beherrschende Krönung, die ‚Steinerne Glocke‘, erhalten, ohne die der Wiederaufbau Dresdens Stückwerk bliebe. Wir rufen auf zur Bildung einer internationalen Stiftung für den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche, die in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen werden soll. Wir wenden uns besonders an die Staaten, 121 H. Wilderotter: Kein Stein wird auf dem anderen bleiben, in: Bingen / Hinz 2005, S. 17.

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Architektur und traditionelle Formen der Erinnerung die den zweiten Weltkrieg geführt haben. Es ist uns dabei schmerzlich bewußt, daß Deutschland diesen Krieg entfesselt hat. Dennoch: Wir wenden uns auch an die Siegermächte und die vielen Menschen guten Willens in den USA, in Großbritannien und in aller Welt: Ermöglicht dieses europäische ‚Haus des Friedens‘! Wir wenden uns an die Dresdner in der Ferne: Dankt Eurer Heimatstadt durch ein Opfer zur Wiedererrichtung der Frauenkirche. 45 Jahre nach ihrer Zerstörung ist auch für uns die Zeit herangereift, die Frauenkirche als einen verpflichtenden Besitz der europäischen Kultur wiedererstehen zu lassen.“122

Die Intentionen sprechen in ihrem Aufruf gleich mehrere Ebenen an: Symbol für ein wiedererstarktes (evangelisches) Bürgertum im ehemaligen Arbeiter- und Bauern-Staat, Wiederherstellung als europäisches Kulturgut und als Welterbe sowie als Symbol der Versöhnung von Tätern und Opfern des Zweiten Weltkriegs und eines christlichen Friedensverständnisses. Unzufriedenheit mit moderner Architektur Eine zweite Gruppe von Intentionen speist sich aus einer Unzufriedenheit mit der modernen Architektur, die nach dem Zweiten Weltkrieg an Stelle sowohl kriegszerstörter als auch intakter Altbauten entstand. Hier ist mit der Rekonstruktion von Bauwerken und Stadtensembles die Intention verbunden, der jeweiligen Stadt neue (alte) Qualität zu verleihen. Propagiert werden solche Rekonstruktionswünsche oft von Bürgervereinen, wie in den Fällen der Frankfurter Altstadt, des Dresdner Neumarkts oder des Berliner Schlosses. In Frankfurt wird der Abriss des Technischen Rathauses gefordert und die Ersetzung durch rekonstruierte Fachwerkhäuser. Zu der Bebauung am Dresdner Neumarkt schreibt die Gesellschaft Historischer Neumarkt Dresden: „[Wegen des] Stellenwert[s] von Kultur und Tourismus für unsere Stadt [...] tritt die Gesellschaft Historischer Neumarkt Dresden e.V. kompromisslos für die weitgehende Rekonstruktion des Neumarktes ein. Der wiedererrichtete Neumarkt wird für Dresdner und Touristen ein Anziehungspunkt von großer Bedeutung sein, wovon die Schaffung vieler dauerhafter Arbeitsplätze zu erwarten ist. Auch für die Industrieansiedlung mit hochqualifizierten Arbeitskräften spielen die sogenannten weichen Standortfaktoren mittlerweile eine entscheidende Rolle. [...] Nachdem im Neumarktgebiet zwei Neubauten entstanden sind, CoselpalaisAnbau mit überdimensionierter Tiefgarageneinfahrt, sowie der Advantariegel, von

122 Bürgerinitiative für den Aufbau der Frauenkirche, http://212.227.220.31/fkdd/ erinnerung.php?i=000014&p=000012&pp=000001&l=de (Direktlink), oder http://www.frauenkirche-dresden.com/ unter den Menüpunkten: ORT DER ERINNERUNG / Wiederaufbau-Idee / „Ruf aus Dresden“, vom 05.04.2006.

Intentionen den städtischen Entscheidungsträgern als ‚angepasste‘ Neubauten bezeichnet, regt sich zunehmend Widerstand in der Dresdner Bevölkerung. Auch der Entwurf für den Neubau an der Frauenstraße widerspricht in allen Gestaltungsmerkmalen (Grundriss, Fassadengestaltung, Materialität und Dachform) der vom Stadtrat gebilligten Gestaltungskonzeption für den Neumarkt. Wir fordern die Einhaltung der gebilligten Konzeption, indem die Parzelligkeit des Gebietes gewahrt wird, um die angestrebte kleinteilige Nutzung zu gewährleisten. Neben den zu erstellenden Leitbauten (Rekonstruktionen) müssen sich die Füllbauten in handwerklich traditioneller Bauweise mit Putzfassaden und Sandsteineinfassungen, ziegelgedeckten Sattel- und Mansarddächern, mit stehenden Gaupen, Dachhechten, den Rekonstruktionen unterordnen bzw. anpassen, sie dürfen sich nicht in den Vordergrund spielen. Nach Umfragen in unserem Informationspavillon am Neumarkt ist ein großer Teil der Dresdner Bevölkerung und der Dresdenbesucher für die Rekonstruktion und gegen modische Architektur im Neumarktgebiet, zwischen Schießgasse, Brühlscher Terrasse, Taschenbergpalais und Wilsdruffer Straße. Wir fragen uns, warum ausgerechnet der Neumarkt durch experimentelles Bauen zum Architekturlaboratorium entwickelt werden soll, während an der Prager Straße bzw. am Wiener Platz, wo geeignetes Terrain zur Verfügung steht, Gebäude in konventioneller Ras­ terarchitektur entstehen. In der Zeit seit 1989 ist in Dresden nur eine Handvoll guter Neubauten entstanden, und ausgerechnet am Neumarkt glaubt sich moderne Architektur profilieren zu müssen, mit dem Ziel, an der rekonstruierten Frauenkirche zu partizipieren.“123

Die Beispiele aus Frankfurt, Dresden und Berlin stehen nicht für den Wiederaufbau von Ruinen (wie beispielsweise die Frauenkirche in Dresden) oder die Rekonstruktion zerstörter Bauwerke auf offen gelassen Plätzen, sondern für die Beseitigung moderner Architektur und Ersetzung durch historische Vorgängerbauten. Andrzej Tomaszewski bringt es in einem Vergleich zwischen dem Warschauer und dem Berliner Schloss auf den Punkt: „Das Warschauer Königsschloss wurde auf den eigenen Ruinen wiederaufgebaut. Das Berliner Schloss dagegen ist eine Alternative zum Palast der Republik.“124 Von der Ersetzung „modischer Architektur“ erhofft man sich nicht nur die Befriedigung nostalgischer Wünsche, sondern auch eine bessere Position im Konkurrenzkampf der Städte um „Touristen“ und „hochqualifizierte Arbeitsplätze“, wie das Zitat aus Dresden zeigt. 123 Presseerklärung der Gesellschaft Historischer Neumarkt Dresden e.V. vom 19.09.2002 anläßlich der Initiierung eines Bürgerbegehrens zur Gestaltung des Dresdener Neumarktes. http://www.neumarkt-dresden.de/buergerbegeh ren1.html (Direktlink), oder http://www.neumarkt-dresden.de/ unter den Menüpunkten: News / Archiv / Bürgerbegehren, vom 05.04.2006. 124 Diskussionsbeitrag von Andrzej Tomaszewski in: Bingen / Hinz 2005, S. 141.

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Wissensvermittlung und Unterhaltung Als dritte Gruppe seien Intentionen genannt, die unter die Stichworte Wissensvermittlung und Unterhaltung gefasst werden können. Beispielhaft hierfür stehen eher diejenigen Rekonstruktionen, deren Zerstörung länger her ist und die emotional und symbolisch nicht so aufgeladen sind. Es handelt sich hier um Formen, bei denen das kommunikative Gedächtnis keine Rolle mehr spielt. Als Beispiele baulicher Rekonstruktionen können das römische Kastell Saalburg oder der Archäologische Park in Xanten dienen. Als weitere Erinnerungsformen sind der Einsatz von Modellen und Zeichnungen in Museen, Filmdokumentationen und Büchern zu nennen, die zerstörte Architektur thematisieren. Auch Spielfilme, die in nachgebauten Kulissen heute nicht mehr existierender Stadtanlagen und Bauwerke spielen, lassen sich in diese Kategorie fassen. Letztlich sind auch die Rekonstruktionen, die aus wissenschaftlichem Interesse und zur Darstellung von Forschungsergebnissen entstehen, in diese dritte Gruppe einzuordnen. Hier kommen in erster Linie zeichnerische Darstellungen und in zweiter Linie haptische Modelle zum Tragen. Anknüpfung an bestehende Erinnerungsdiskurse Als vierte und letzte Gruppe sind Rekonstruktionen und Erinnerungsformen anzusprechen, die an bereits bestehende Erinnerungsdiskurse anknüpfen. Gemeinsam ist den Beispielen dieser Gruppe ein Einbeziehen des übergeordneten spezifischen Diskurses bei der Suche nach den möglichen Erinnerungsformen und deren Gestaltung. So können sich Lösungen, die bei allgemeinen Themen durchaus möglich wären, bei spezifischen Themen ausschließen und umgekehrt. Für Deutschland stellen die Diskurse zur NS-Zeit und zur Wiedervereinigung die wichtigsten Bezugspunkte dieser Gruppe von Intentionen dar. Die Frage des Umgangs mit den NS-Bauten, den Konzentrationslagern, der Berliner Mauer und den Bauten der ehemaligen DDR sind zu nennen. In dieser Gruppe sind ebenfalls die Erinnerungsformen für die zerstörten Synagogen anzusiedeln, die sich in die Gesamtheit der Erinnerungen an den Holocaust, an die Entrechtung, Vertreibung und Ermordung der Juden eingliedern. Eine Besonderheit dieses Diskurses ist hierbei, dass es nicht nur an den Verlust von Menschen und an Kulturgut zu erinnern gilt, sondern auch an die im gesellschaftlichen Sinne „eigene“ Verstrickung und Täterschaft. So leitet sich Erinnerung an Synagogen auch aus dem Bewusstsein der Verantwortung für einen „richtigen“ Umgang mit der Geschichte im Kontext eines „Nie Wieder“ ab, der wiederum identitätsbildend sein kann.

Kapitel 2 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Das zweite Kapitel vertieft am konkreten Beispiel der Synagogen die Frage, was traditionelle Erinnerungsformen leisten können. Hierbei werden diejenigen Synagogen in die Betrachtung mitaufgenommen, deren Standorte sich auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland befinden.125 Auf einen expliziten Forschungsstand konnte dabei nicht zurückgegriffen werden. Bis jetzt existiert weder eine Publikation, die sich speziell mit Erinnerungsformen an Synagogen befasst, noch gibt es eine bundesweite Zusammenstellung zu ehemaligen jüdischen Gotteshäusern, die solche Informationen beinhaltet. Sicher liegt das auch daran, dass selbst die Übersicht über die zerstörten und erhaltenen Synagogen immer noch Forschungslücken aufweist und, dass das Thema Synagogen erst ab den 80er Jahren mehr Interesse hervorrief. Georg Heuberger, ehemaliger Leiter des Jüdischen Museums Frankfurt, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass dieses Phänomen insgesamt für die Beschäftigung mit dem Thema Judentum und jüdische Persönlichkeiten gilt und sich aus der deutschen Geschichte erklärt: „Die 50er Jahre waren Jahre der bewussten Verdrängung. Der bedeutende Soziologe und Philosoph Lübbe hat gesagt, dass ohne diese Verdrängung die Bundesrepublik gar nicht möglich gewesen wäre. Es gab nicht die Auseinandersetzung, gleichzeitig war Antisemitismus sanktioniert. Vor 1970 konnte so gar nichts passieren. Erst dann begann es langsam. Es waren Initiativen, die vor Ort entstanden sind, viele lokale Initiativen, regionale Initiativen. Da hat man sich dann erst mit dem Bereich deutsch-jüdischer Geschichte beschäftigt. So sind die 80er Jahre die Jahre gewesen, in denen die ersten Ergebnisse dieser Beschäftigungen in den 70er Jahren veröffentlicht wurden. Insofern trifft das nicht nur bei den Synagogen zu, sondern in allen anderen Bereichen genauso. Mit den jüdischen Professoren an den Universitäten hat man sich auch erst in den Ringvorlesungen 68/69/70

125 Das bedeutet zwangsläufig, dass sowohl Synagogen, die vor 1933 zu Deutschland gehörten, wie auch Synagogen in den von Nationalsozialisten besetzten Ländern nicht berücksichtigt werden. Eine Behandlung dieser Synagogen bleibt anderen Forschungsarbeiten vorbehalten.

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Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen beschäftigt. Die ersten Publikationen über Juden im deutschen Geistesleben gab es dann in den 80er Jahren.“126

Diese späte Beschäftigung spiegelt sich auch in Presseveröffentlichungen wider. Michal Bodemann, der die Darstellung des Novemberpogroms in der Presse untersuchte, kommt zu dem Ergebnis, dass erst ab 1978, dem vierzigsten Jahrestag des Novemberpogroms, in großen Tageszeitungen der Ereignisse am 9./10. November 1938 gedacht wurde.127 Der fehlende gesamtdeutsche Überblick zu Erinnerungsformen beim Thema Synagogen wird zum Teil durch Forschungsergebnisse auf Ebene der Bundesländer kompensiert. Ab Ende der 80er bzw. Anfang der 90er Jahre erschienen zu den meisten Ländern Publikationen, die eine landesbezogene Übersicht von Synagogen zum Inhalt hatten und auch Hinweise zu Erinnerungsformen gaben. Auch auf regionaler und lokaler Ebene liegen inzwischen viele Publikationen vor. Letztere konnten aber nur im Ausnahmefall berücksichtigt werden, um eine quantitative Bearbeitung zu gewährleisten. Informationen zu Erinnerungsformen am authentischen Ort lieferten auch die Veröffentlichungen der Bundeszentrale für politische Bildung zu „Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus“128 sowie die „Heimatgeschichtlichen Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 – 1945“, herausgegeben vom Studienkreis deutscher Widerstand.129 Da die Hinweise in der Literatur zu den Erinnerungsformen zum Teil auf Untersuchungen zurückgingen, die über zehn Jahre alt waren, schien es ratsam, zu versuchen, aktuellere Erkenntnisse mit einzubeziehen. Mit einem Fragebogen, der eine typologische Aufstellung von Erinnerungsformen am authentischen Ort in Bezug auf Synagogen zum Inhalt hatte, wurden die Landesdenkmalbehörden, die Landeszentralen für politische Bildung, die Jüdischen Landesverbände sowie mit dem Thema vertraute Einzelpersonen angesprochen. Es wurde darum gebe126 Siehe Anhang, Interviews, S. 532-533. 127 Siehe hierzu: M. Bodemann: Gedächtnistheater – die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung, Hamburg 1996, S. 80-128. 128 Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung werden in zwei Bänden Gedenkstätten zum Thema Nationalsozialismus dokumentiert. Band 1 umfasst die alten Bundesländer: U. Puvogel / M. Stankowski / U. Graf (Mitarbeit): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus – Band 1, Bonn 1995. Band 2 widmet sich den neuen Bundesländern: U. Puvogel (Redaktion) / S. Endlich / N. Goldenbogen / B. Herlemann / M. Kahl / R. Scheer: Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus – Band 2, Bonn 1999. 129 Die „Heimatgeschichtlichen Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 – 1945“ werden vom Studienkreis deutscher Widerstand heraus­gegeben und befassen sich jeweils mit einem Bundesland. Bis jetzt sind zu folgenden Bundesländern Dokumentationen erschienen: Baden-Württemberg, ­Bremen, Hessen, Niedersachsen, Saarland und Schleswig-Holstein.

Geschichte der Synagoge

ten, für die verschiedenen Formen der Erinnerung gelungene Beispiele zu nennen. Die Antworten der Institutionen deckten bis auf Bremen und das Saarland alle Bundesländer ab. Mit nur rund 30 Synagogen ist eine Betrachtung dieser beiden Länder anhand der Literatur und der eigenen Kenntnisse als ausreichend anzusehen. Für die anderen Bundesländer haben jeweils eine oder mehrere Institutionen Informationen übermittelt, aus denen beispielhafte Formen der Erinnerung hervorgingen. Aus den Literaturhinweisen, den Ergebnissen der Fragebögen und den eigenen Kenntnissen konnte schließlich in einer Bestandsaufnahme analysiert werden, welche unterschiedlichen Erinnerungsformen sich bezüglich der zerstörten Synagogen entwickelt haben. Dabei ging es um eine typologische Aufstellung, nicht um eine Erfassung sämtlicher Beispiele. Die Bestandsaufnahme beginnt – analog dem ersten Kapitel – mit der Betrachtung der Erinnerung am authentischen Ort, gefolgt von der Behandlung der „ortsunabhängigen“ Erinnerungsformen Modell, Ausstellung, Buch und audio-visuelle Informationsträger. Bei Modellen und Ausstellungen liegt der Fokus auf dem Projekt „Synagogenarchitektur in Deutschland – Vom Barock zum ‚Neuen Bauen‘“ der TU Braunschweig und den dort erstellten haptischen Synagogenmodellen, die im Mittelpunkt einer Wanderausstellung stehen. Die Betrachtung dieses Projektes bildet eine Grundlage für einen Vergleich mit den 3D-Computer-Rekonstruktionen von Synagogen der TU Darmstadt. Die Bestandsaufnahme endet mit einem Resümee über die Stärken und Defizite der traditionellen Erinnerungsformen. Zum besseren Verständnis der Thematik wird dem Kapitel ein kurzer Abriss der Geschichte der Synagogen vorangestellt. Hierbei wird der Schwerpunkt auf architektonische Zusammenhänge, auf die Umstände der Zerstörungen in der NS-Zeit und auf die Frage gelegt, was blieb von der Architektur der Synagoge nach Ende des NS-Regimes erhalten, wie umfangreich ist der Verlust, an den es zu erinnern gilt.

2.1 Geschichte der Synagoge 2.1.1 Ursprünge und Entwicklung des Synagogenbaus Die Geschichte der Synagoge beginnt in der Antike. Archäologische Funde in Palästina, dem heutigen Israel, bezeugen die Existenz von Synagogen aus dieser Epoche, so die Synagoge von Delos aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. oder die Synagoge von Kfar Naum, 300 n. Chr. (Abb. S. 87). Allerdings gingen der Vielzahl der antiken Synagogen zwei einzelne religiöse Bauwerke voraus, das Stiftszelt und der Tempel in Jerusalem.

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Sowohl Stiftszelt als auch Tempel beherbergten das „Allerheiligste“ der jüdischen Religion, jene zwei Steintafeln, auf denen die Zehn Gebote geschrieben standen und die Moses, der biblischen Überlieferung nach, von Gott am Berg Sinai empfangen hatte. Zur Aufbewahrung der Tafeln diente ein hölzerner Schrein, die Bundeslade. Dem Stiftszelt als temporärem Bauwerk folgte der im 10. Jahrhundert v. Chr. unter König Salomon errichtete Jerusalemer Tempel. Es existiert zwar keine bildliche Überlieferung des Salomonischen Tempels, doch befindet sich in der Bibel eine genaue Beschreibung seines Aussehens, seiner Baumaße und der Einrichtung. So ist bekannt, dass im Tempel die Menora, ein siebenarmiger Leuchter, Verwendung fand, der auch heutzutage in Synagogen aufgestellt wird. Im 6. Jahrhundert v. Chr. wurde der Tempel in Jerusalem im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen zerstört, die Bundeslade geraubt. Seitdem gilt sie als verschollen. Nach dem Wiederaufbau bestand der Tempel bis in die Zeit der römischen Besatzung Palästinas. Die Auflehnung gegen die Herrschaft Roms führte in den Jahren 70 und 135 n. Chr. zu Aufständen, die von den Römern niedergeschlagen wurden. In Folge wurde auch der zweite Tempel zerstört und dem Erdboden gleichgemacht, den Juden das Betreten Jerusalems verboten. Bereits vor der Zerstörung des Tempels sind im antiken Palästina Synagogen zu finden.130 Sie dienten neben dem Jerusalemer Heiligtum als Mehrzweckbauten für Versammlungen, Gebet, Lehre und Rechtsprechung. Im architektonischen Sinne waren sie Nachbildungen von Profanbauten und orientierten sich stilistisch an römischen Basiliken. Erst nachdem der Tempel nicht mehr existierte, erlangten sie ihre heutige Bedeutung als zentrale religiöse Bauwerke. Der im Tempel von Priestern praktizierte Opfergottesdienst wurde in den Synagogen nicht mehr übernommen. An seine Stelle trat ein Gebetsgottesdienst, in dessen Mittelpunkt die Verlesung eines Abschnittes aus den Fünf Büchern Moses, der Tora, stand. Noch heute ist die Lesung aus der Tora zentraler Bestandteil des Gottesdienstes, auch die Erscheinungsform der Tora hat sich kaum verändert. Sie besteht wie zu frühen Zeiten aus einer handgeschriebenen Pergamentrolle, die um zwei reich verzierte Stäbe gewickelt ist. Die Torarollen sind der wichtigste und kostbarste Besitz jeder jüdischen Gemeinde. Genau wie die Erscheinungsform annähernd gleich geblieben ist, hat sich auch die Liturgie erhalten. Die Torarolle wird während des Gottesdienstes dem Toraschrein entnommen und feierlich zu einem Lesepult, dem Almemor (Bima) gebracht. Dieses Lesepult befindet sich in der Mitte des Raumes. Von dort liest ein Mitglied der Gemeinde einen 130 Siehe hierzu: H. Künzl: Der Synagogenbau in der Antike, in: H.P. Schwarz: Die Architektur der Synagoge, Stuttgart 1988, S. 45-60.

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Textabschnitt aus der Torarolle, die dann im Verlauf des Gottesdienstes zurück zu dem Toraschrein getragen wird. Mit Almemor und Toraschrein weisen bereits die antiken Synagogen die zwei zentralen Elemente auf, die noch heute den Innenraum von Synagogen bestimmen. Ab dem 6. Jahrhundert n. Chr. lassen sich in Palästina Synagogen nachweisen, in denen eine spezielle Nische für den Toraschrein ausgebildet wurde (Abb. S. 87). In Erinnerung an den zerstörten Tempel wurden Synagoge und Nische in Richtung Jerusalem ausgerichtet. Synagogen, die im Süden Palästinas lagen, wiesen eine Nische in der Nordwand des Gebäudes auf. Synagogen, die westlich von Jerusalem errichtet wurden, orientierten sich nach Osten.

2.1.2 Synagogen in Deutschland 2.1.2.1 Von den Anfängen bis zu den Zerstörungen 1933 – 1945 Mit der Zerstörung Jerusalems und der Versklavung eines Teils der jüdischen Bevölkerung durch die Römer verlor Palästina als traditionelles jüdisches Siedlungsgebiet an Bedeutung. Die letzten nachweisbaren antiken Synagogen auf dem Gebiet des heutigen Israels datieren aus dem 7. Jahrhundert. Das Zentrum jüdischen Lebens verlagerte sich immer mehr nach Europa. In Ostia, der antiken römischen Hafenstadt, finden sich bauliche Reste einer Synagoge aus dem 1. Jahrhundert n. Chr.131 Auch auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands sollen sich bereits in der Zeit der römischen Besiedlung Synagogen befunden haben. Eindeutig belegbare archäologische Reste stammen allerdings erst aus dem Mittelalter.132 Das Zentrum jüdischen Lebens war damals das Rheinland, die bedeutendsten Gemeinden waren die zu Worms, Speyer und Mainz. In Worms befand sich bis zu ihrer Zerstörung 1938 eine vollständig erhaltene, seit dem Mittelalter kontinuierlich genutzte Synagoge. Während sich in Mainz keine Reste erhalten haben, beherbergt Speyer eine Ruine mit dem ältesten aufrechtstehenden Mauerwerk aller Synagogen in Deutschland sowie eine vollständig erhaltene Mikwe. Reste mittelalterlicher Synagogen sind auch in Erfurt, Marburg, Köln und Regensburg zu finden. Der Hauptraum dieser mittelalterlichen Synagogen war entweder stützenfrei

131 Siehe hierzu: U. Fortis: Juden und Synagogen, Venezia 1999, S. 123-136. 132 Eine aktuelle Zusammenfassung zu aschkenasischen Synagogen im Mittelalter liefert Simon Paulus in einem bis jetzt unveröffentlichten Manuskript. S. Paulus: Jüdisches Alltagsleben im Lichte neuer archäologischer Funde, unveröffentlichtes Manuskript, Braunschweig 2003.

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wie in der Synagoge zu Speyer oder zweischiffig mit Säulen wie in Worms und Regensburg konzipiert (Abb. S. 88, 333 u. 334 ).133 In ihm befanden sich Toraschrein und Almemor und hier saßen die Männer. Der Almemor hatte einen festen Platz in der Mitte des Innenraumes. Der liturgische Mittelpunkt erfuhr somit eine architektonische Würdigung. Für die Frauen war ein separater Raum vorgesehen; sie konnten durch kleine Wandöffnungen dem Gottesdienst folgen (Abb. S. 88). Judenfeindliche Pogrome und Maßnahmen führten im Mittelalter zu Vertreibungen und Vernichtungen von jüdischen Gemeinden in ganz Europa.134 Im Jahre 1290 werden die Juden aus England verwiesen, 1394 aus Frankreich. Die Rückeroberung des Jahrhunderte lang von Mauren beherrschten Spaniens durch christliche Herrscher führte auf der Iberischen Halbinsel ebenfalls zu Vertreibungen der Juden. Auch in Deutschland sind die Juden bis auf wenige Ausnahmen aus den Städten vertrieben worden. Doch anders als in Frankreich und England konnten sie sich wieder in kleineren Ortschaften ansiedeln. Das Klima der latenten Anfeindungen veranlasste viele jüdische Gemeinden allerdings, Synagogen und Beträume zu errichten, die sich nach außen hin von der nichtjüdischen, nichtsakralen Nachbarbebauung kaum unterschieden. Nur winzige Details, wie die etwas größer dimensionierten Fenster (Abb. S. 89) oder eine in der Ostwand des Gebäudes sich abzeichnende Apsis für den Toraschrein, deuteten auf eine besondere Nutzung hin. Erst im Zeitalter der Aufklärung verbesserte sich die gesellschaftliche Lage der jüdischen Bevölkerung. So entstanden zunächst in kleineren Städten wieder Synagogen, die auch nach außen ihre sakrale Nutzung zeigen konnten. Als Beispiel sei die Synagoge in Ansbach von 1745 genannt (Abb. S. 89). Die beginnende gesellschaftliche Gleichstellung ermöglichte es, dass Juden sich erneut in den größeren Städten ansiedeln konnten. 1798 entstand in Karlsruhe mit der Synagoge von Friedrich Weinbrenner erstmals wieder ein Neubau im Zentrum einer großen Stadt (Abb. S. 89). Doch war der eigentliche Sakralbau noch nicht im Straßenbild wahrnehmbar, sondern befand sich in einer Hofsituation. Im Zuge des allgemeinen Bevölkerungswachstums im 19. Jahrhundert wuchsen auch die jüdischen Gemeinden. Größere Gotteshäuser wurden notwendig. Die gesellschaftliche Situation erlaubte nun, repräsentativere Synagogen zu errichten, die auch im öffentlichen Raum der Innenstädte als Sakralbauten deutlich in Erscheinung treten konnten. So entstanden in den deutschen Städten imposante Gebäude, deren städte133 In der Synagoge Worms finden sich zwei Säulen, in der Synagoge Regensburg drei. 134 Siehe: H. Künzl: Der Synagogenbau im Mittelalter, in: Schwarz 1988, S. 61.

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bauliche Bedeutung der christlicher Sakralarchitektur ebenbürtig war und die Bestandteil einer gemeinsamen Kultur von Juden und Nicht-Juden in Deutschland darstellten. Sie prägten das Stadtbild entscheidend mit. Die Vielzahl der im 19. und 20. Jahrhundert bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten entstandenen Synagogen in Deutschland lassen sich in drei Gruppen gliedern: Synagogen mit neo-islamischen bzw. orientalischen Stilelementen, Synagogen im Stil der Neo-Romanik und Synagogen, die zeitgenössischen bzw. regionalen Baustilen folgten. Der neo-islamische Stil entsprach dem Wunsch, „dem jüdischen Kultbau einen eigenen Charakter zu verleihen, ihn aus dem Bereich der Profanbauten und des christlichen Sakralbaus herauszuheben“135. Bei nichtjüdischen Architekten findet sich ebenfalls der Verweis auf die orientalische Herkunft der jüdischen Religion. Dieser Stil demonstrierte auch ein neues Selbstbewusstsein der jüdischen Gemeinden und deren Eigenständigkeit. Beispiele hierfür sind die Synagogen Köln (Glockengasse), Leipzig, Kaiserslautern und Nürnberg (Abb. S. 90, 91). Diejenigen Synagogen, die im neo-romanischen Stil errichtet wurden, betonten dagegen die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur deutschen Nation. Man griff bewusst einen Baustil auf, dem auch die ersten großen Dome in Deutschland, zum Beispiel in Speyer, verpflichtet waren. So konnte an eine architektonische Tradition mit sakralen Konnotationen angeknüpft, gleichzeitig aber die Nähe zu der in christlichen Gotteshäusern dominierenden Gotik vermieden werden. Zu dieser Gebäudegruppe gehörten unter anderem die Synagogen in Hannover und München (Abb. S. 92, 93). Die dritte Gruppe umfasst Synagogen, die den verschiedenen zeitgenössischen oder regionalen Baustilen folgten. Als Beispiele sind die neo­ klassizistische Synagoge Berlin, Kottbusser Ufer, oder die Synagoge in Plauen (Abb. S. 94) im Stil des „Neuen Bauens“ zu nennen. Diese Gruppe stellt sicherlich keine homogene Einheit dar, gilt es doch hier kleinere Untergruppen von Stilen zu verzeichnen. Im Vergleich zu den beiden dominierenden Baustilen, die auch die intellektuelle Debatte beherrschten, ist es eben diese Heterogenität, welche diese dritte Gruppe jüdischer Sakralbauten charakterisiert. Sie spiegelt die architektonische Gesamtsituation im Spannungsfeld von Historismus und Aufbruch zur Moderne wider, wie sie bei anderen zeitgenössischen Bauaufgaben auch zu finden war. Die große Vielfalt der zur Anwendung gekommenen Stilrichtungen wirft die Frage nach gemeinsamen architektonischen Charakteristiken auf. Nach außen tretende Toranischen und am Bau angebrachte Sym135 H. Hammer-Schenk: Die Architektur der Synagoge von 1780 – 1930, in: Schwarz 1988, S. 195.

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bole wie Davidstern oder steinerne Gesetzestafeln sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Charakteristische einer Synagoge sich im Inneren des Bauwerks befindet. Das, was die Synagoge architektonisch charakterisiert, ist das Arrangement von Toraschrein und Almemor. In den aschkenasischen136 Synagogen des deutschen Sprachraums wird bis ins 19. Jahrhundert die Anordnung dieser Elemente durch die orthodoxe Liturgie bestimmt. Sie sah eine Stellung des Almemors in der Mitte des Innenraums vor. Daraus ergab sich ein räumliches Spannungsverhältnis zwischen der Betonung der Mitte des Innenraums durch den Almemor, oftmals unterstützt durch eine zentrale Kuppel, und der Betonung der Ostwand mit dem Toraschrein. Die Ostwand war in der Regel der am aufwendigsten gestaltete Bereich einer Synagoge. Dieses räumliche Spannungsverhältnis ist in Synagogen, in denen der Gottesdienst nach der im 19. Jahrhundert aufkommenden liberalen Liturgie abgehalten wird, nicht mehr zu finden. Der Almemor rückte aus der Mitte des Raumes vor den Toraschrein zur Ostwand hin. Das führte zu einer architektonischen Betonung der Längsachse. In den Synagogen des 19. und 20. Jahrhunderts kann als weiteres charakteristisches Erscheinungsbild des Innenraums die Gestaltung der räumlichen Trennung von Männern und Frauen genannt werden, die über die Ausbildung von Frauenemporen gelöst wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das äußere Erscheinungsbild der Synagoge weniger die Baugattung definiert, als über die gesellschaftliche Situation der jüdischen Minderheit, ihr Selbstverständnis und die Toleranzfähigkeit der Mehrheitskultur Auskunft gibt. Die Synagogen waren durch die Jahrhunderte hinweg architektonische Seismographen für gesellschaftliche Verhältnisse. So spiegelt auch der Umgang mit Synagogen in der NS-Zeit auf fatale Weise die Situation der Juden im „Deutschen Reich“ wider. Der Entrechtung und Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft in den Jahren 1933 – 1938 folgte mit den Pogromen vom 9./10. November 1938 die flächendeckende Beseitigung jüdischer Kultur aus dem deutschen Stadtbild (Abb. S. 95) – rückwirkend betrachtet ein Sinnbild für die spätere Vernichtung. Es bedurfte scheinbar nur eines Anlasses, um gegen Juden und ihr Eigentum auch physisch vorzugehen. Dieser Anlass war das Attentat von Herschel Grünspan auf den Botschaftssekretär Ernst vom Rath in Paris

136 Neben den aschkenasischen Synagogen sind auch sephardische Synagogenbauten zu nennen. Diese, vorwiegend auf der iberischen Halbinsel vorkommenden, Sakralbauten unterscheiden sich vor allem durch eine andere Position des Almemors im Innenraum. In der Regel befindet er sich an der Westwand.

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am 7. November 1938.137 Grünspan demonstrierte mit seiner Tat gegen die Ausweisung seiner Eltern aus Deutschland, die als staatenlos erklärt, mit 17.000 anderen Juden polnischer Abstammung Ende Oktober 1938 „in das Niemandsland“138 zwischen Polen und Deutschland abgeschoben wurden. Die polnische Regierung hatte beschlossen, „polnischen Juden die Rückkehr aus den Gebieten unter deutscher Herrschaft nicht mehr zu gestatten“.139 Am Abend des 9. Novembers, Jahrestag des gescheiterten Putsches Hitlers von 1923 und Datum der alljährlichen Zusammenkunft von Anhängern der NSDAP, gab Goebbels den Tod Ernst vom Raths bekannt. Unter Anspielung auf bereits erfolgte judenfeindliche Kundgebungen in Hessen und Magdeburg-Anhalt, bei denen jüdische Geschäfte und Synagogen demoliert wurden, wies er an, dass die Partei solche Aktionen nicht vorbereiten oder organisieren, allerdings ihnen auch nicht entgegentreten solle. „Die mündlich gegebenen Weisungen des Reichspropagandaleiters sind wohl von sämtlichen anwesenden Parteiführern so verstanden worden, dass die Partei nach außen nicht als Urheber der Demonstrationen in Erscheinung treten, sie in Wirklichkeit aber organisieren und durchführen sollte.“140

Die Anweisungen Goebbels wurden „von einem großen Teil der anwesenden Parteigenossen fernmündlich an die Dienststellen ihrer Gaue weitergegeben“141. So konnten dank der Parteistruktur der NSDAP innerhalb weniger Stunden landesweit Aktionen gegen Juden durchgeführt werden. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 und an dem darauffolgenden Tag wurden 7.500 Geschäfte demoliert, zahllose Wohnungen geplündert, über 91 offizielle Tote gezählt. Ca. 30.000 jüdische Männer wurden verhaftet und in Konzentrationslager verbracht. Von den ca. 2.800 Synagogen und Betstuben142, die es im Deutschen Reich gegeben haben

137 Zu den Ereignissen am 9./10. November siehe: W. Benz: Der Novemberpogrom 1938, in: W. Benz (Hg.): Die Juden in Deutschland 1933 – 1945, München 1988, S. 499-544. 138 E. Jäckel / P. Longerich / J. H. Schoeps (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust, München 1995, S. 1205. 139 Ebd. 140 Bericht des obersten Parteigerichts an Göring, 13. Februar 1939, Nürnberger Dokumente PS 3063. Zitiert nach Benz 1988, S. 510. 141 Ebd. 142 Diese Zahl wird in neueren Publikationen genannt: S. Korn: Deutsche Synagogen – Eine Einführung, in: M. Grellert / M. Koob / S. Korn / A. Lulinska / S. Wirtz / TU Darmstadt, Fachgebiet CAD in der Architektur, Manfred Koob (TUD) / Institut für Auslandsbeziehungen (IFA) / Kunst- und Ausstellungs-

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muss, sollen laut Meir Schwarz über die Hälfte alleine bis Ende 1938 zerstört bzw. geschändet worden sein.143 Das im Rahmen dieser Studie aufgebaute und im fünften Kapitel näher beschriebene „Synagogen-Internet-Archiv“ und die bisherige Auswertung der dem Archiv zu Grunde liegenden Datenbank bestätigen für das Gebiet der Bundesrepublik die Schätzungen aus Jerusalem, auch wenn nicht zu allen Bundesländern umfassende Informationen vorliegen. Die folgenden Zahlen sind nur als vorläufige und minimale Angaben zu betrachten.144 Im Synagogen-Internet-Archiv sind für das Gebiet des heutigen Deutschlands 2.102 Synagogen aufgeführt, die 1933 noch in Benutzung oder als Gebäude existent waren. 1.136 sind in der NS-Zeit zerstört oder geschändet worden. Das entspricht ca. 54 Prozent. Bei 843 Synagogen ist eine Zerstörung/Schändung im November 1938 belegbar, von weiteren 256 der Zeitraum 1938. So ergeben sich mindestens 1.099 Synagogen, die 1938 zerstört bzw. geschändet wurden. Die Zerstörung jüdischer Sakralbauten begann aber nicht erst im November 1938. So sind mindestens 67 Synagogen schon vor dem 9. 11. 1938 von den Nazis geschändet bzw. zerstört worden. Als frühes Beispiel ist die Synagoge in Hildburghausen (Thüringen) zu nennen, die 1933 von den Nazis enteignet und im gleichen Jahr abgerissen wurde. In Hamburg erfolgte 1934 der Abbruch der Synagoge Kohlhöfen unter dem Vorwand der Stadtsanierung. 1938, jedoch vor dem Novemberpogrom, wurden mindes­ tens 31 Synagogen zerstört oder geschändet. Im Sommer 1938 sind vier große Gotteshäuser auf Veranlassung der Nationalsozialisten abgerissen worden. Es waren die Hauptsynagogen in München (Abb. S. 95), Kaiserslautern, Nürnberg und Dortmund. Beachtenswert sind Ausschreitungen in Hessen, die bereits am 7. und 8. November 1938 stattfanden. Von mindes­ tens zehn Synagogen sind Schändungen und Zerstörungen aus diesem halle der Bundesrepublik Deutschland (KAH) (Hg.): Synagogen in Deutschland – Ein virtuelle Rekonstruktion, Basel / Boston / Berlin 2004, S. 27; M. Schwarz in: M. Brocke / M. Schwarz (Hg.): Feuer an dein Heiligtum gelegt, Bochum 1999, S. XIV; M. Schwarz in: List of Germany’s Synagogues, Synagogue Memorial – Beth Ashkenaz, Jerusalem 2003, Foreword. Diese Zahl schließt die Synagogen in Österreich, des Sudentenlandes (heute Tschechische Republik), Schlesiens (heute Polen), sowie West- und Ostpreußens (heute Russland) ein. Eine genauere Zahl ist noch nicht bekannt. Es fehlen nach wie vor zu einigen Bundesländern bzw. Regionen detaillierte oder aktuelle Untersuchungen. 143 M. Schwarz, in: List of Germany’s Synagogues, Synagogue Memorial – Beth Ashkenaz, Jerusalem 2003, Foreword. 144 Die Zahlen beziehen sich zur Zeit lediglich auf Literatur, die Synagogen auf der Ebene von Bundesländern und Regionen beschreibt. Die Auswertung von Literatur, die auf lokaler Ebene einzelne Synagogen behandelt, ist für die Zukunft wünschenswert und würde sicherlich ein genaueres Bild abgeben.

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Bundesland bekannt. Natürlich werfen die Zerstörungen vor dem 9. November, explizit jene in Hessen am 7. und 8. November sowie das landesweit organisierte Vorgehen in der Pogromnacht, die Frage auf, inwieweit diese Aktionen schon länger geplant waren. Wolfgang Benz und Hans Mommsen gelangen zu der Meinung, dass der Pogrom nicht von langer Hand geplant wurde.145 Wolf-Arno Kropat schreibt hierzu: „Der Novemberpogrom 1938, der als ‚Kristallnacht‘ in die Geschichte eingegangen ist, war nicht die Folge eines fatalen Zufalls. [...] Vielmehr diente das Attentat als Vorwand für einen kaltblütig kalkulierten ‚Racheakt‘, mit dem die im Jahr 1933 begonnene und im Jahr 1938 verschärfte Politik der Entrechtung und Austreibung der Juden aus Deutschland ihren Höhepunkt erreichte. [...] Die Entscheidung, daß das Attentat auf vom Rath den Anlaß einer großen ‚Vergeltungsaktion‘ bilden sollte, war vermutlich bereits am 7. November gefallen, bevor das Reichspropagandaministerium gegen 21.25 Uhr die Parole an die deutsche Presse herausgab, auf der ersten Seite in großer Aufmachung über das Attentat zu berichten und schwerste Folgen für die Juden in Deutschland anzudrohen.“146

Und weiter: „Alles dies spricht dafür, daß die Rede von Goebbels am Abend des 9. November nicht auf einem spontanen Entschluß beruhte, den er unter dem Eindruck des Eintreffens der Nachricht vom Tode vom Raths Hitler abgerungen hatte, sondern daß die ‚Vergeltungsaktion‘ bereits vor dem Bankett im Alten Rathaus in München beschlossen und die ganze Führungsspitze – neben Hitler und Goebbels auch Himmler, Heydrich und Göring – eingebunden war.“147 „Insoweit der ‚Racheakt‘ der NS-Führung ein konkretes politisches Ziel hatte, war es das Bestreben, die Juden zur Auswanderung aus Deutschland zu veranlassen, wie es die Partei- und Staatsführung spätestens seit 1936 beabsichtigte.“148

Historische Belege für eine lange vor dem 9. November 1938 geplante Zerstörung der Synagogen scheinen bis jetzt nicht zu finden zu sein. Die planmäßigen Zerstörungen von Synagogen ab 1933, gerade der Abriss in den großen Städten Dortmund, Kaiserslautern, München und Nürnberg

145 Wolfgang Benz spricht vom „Geschenk des Schicksals zum richtigen Zeitpunkt“ (W. Benz, in: Benz 1988, S. 542). Hans Mommsen schreibt: „Es handelte sich beim Novemberpogrom nicht um eine von langer Hand geplante Aktion.“ (H. Mommsen: Die Pogromnacht und ihre Folgen, in: Schwarz 1988, S. 32). 146 W. A. Kropat: „Reichskristallnacht“: Der Judenpogrom vom 7. – 10. November 1938, Wiesbaden 1997, S. 172. 147 Ebd., S. 176. 148 Ebd., S. 179.

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im Jahre 1938, sind reichsweit sicher nicht unbeachtet geblieben. Sie sind zum Teil von oberster Stelle angeordnet worden (Synagoge München auf Befehl Hitlers selbst) und stellten somit einen Test dar, wie weit gegangen werden konnte. Jede einzelne Enteignung, jeder Abriss muss als fortwährendes Vorbild angesehen werden, zumal die Durchführung ohne Probleme erfolgte. Es bleibt offen, ab wann, inwieweit und bei wem sich diese Synagogenzerstörungen als Bild, als Phantasie einer zukünftigen reichsweiten Aktion, festgesetzt haben. Die Zerstörungen und Schändungen von Synagogen waren aber nicht gleichbedeutend mit Beendigung jeglicher Gottesdienste. In Städten, in denen nicht alle Synagogen zerstört wurden, konnten diese Bauwerke für Gottesdienste weiter genutzt werden. So wurden zum Beispiel in Berlin mit seinen über 100 Synagogen und Betstuben in einigen der verschont gebliebenen bzw. nicht zerstörten Synagogen weiterhin Gottesdienste abgehalten. Im jüdischen Nachrichtenblatt waren für Pessach 1939 und auch noch für den 13. November 1942 Gottesdienste in mehreren Berliner Synagogen angekündigt.149 Mit der angeordneten Auflösung der letzten jüdischen Organisationen, allen voran die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ und die „Jüdische Kultusvereinigung in Berlin“, erlosch am 10. Juni 1943 das offizielle jüdische Leben in Deutschland.150

2.1.2.2 Was blieb 1945? Trotz Vertreibung und Vernichtung begann in Deutschland nach Kriegs­ ende jüdisches Leben von Neuem. Die wenigen Juden, die in Deutschland versteckt überlebten, diejenigen, die rechtzeitig Deutschland verlassen konnten und wiederkehrten, und die Überlebenden der Konzentrationsund Vernichtungslager bildeten die ersten jüdischen Gemeinschaften. Von den rund 200.000 Juden, die in sogenannten DP-Camps151 auf eine Weiterreise in andere Länder warteten, blieben einige aus den unterschiedlichsten Gründen doch in Deutschland. „Als die meisten DPs zu Beginn der fünfziger Jahre Deutschland verlassen hatten, blieb eine Restgruppe von etwa 15.000 Juden zurück. Sie setzte sich zum überwiegenden Teil aus zugewanderten osteuropäischen Juden und zu einem kleineren

149 V. Bendt: Synagogen unter dem Nationalsozialismus, in: R. Bothe (Hg.): Synagogen in Berlin – Teil 2, Berlin 1983, S. 72, 77. 150 W. Benz: Überleben im Untergrund, in: Benz 1988, S. 690-691. 151 DP steht für Displaced Person.

Geschichte der Synagoge Teil aus deutschen Juden zusammen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland auf etwa 70, in der DDR auf etwa zehn Gemeinden verteilten.“152

In einigen Städten konnten Synagogen, die nicht völlig zerstört worden waren, für die Gottesdienste wieder hergerichtet werden, so zum Beispiel in Bad Nauheim, Berlin (Rykestraße), Frankfurt (Westendsynagoge), Köln (Roonstraße) oder München (Reichenbachstraße).153 Bis Anfang der 70er Jahre wurden auch eine Reihe von Neubauten realisiert: Saarbrücken (1951), Stuttgart (1952), Aachen (1953), Dortmund (1956), Offenbach (1956), Düsseldorf (1958), Minden (1958), Essen (1959), Berlin (1959, neues Gemeindezentrum), Bonn (1959), Paderborn (1959), Hamburg (1960), Bremen (1961), Münster (1961), Hannover (1963), Würzburg (1970), Karlsruhe (1971). In den 80er Jahren ist eine weitere Phase der Bautätigkeit zu verzeichnen, was auch dem Anwachsen der Jüdischen Gemeinden auf 28.000 Mitglieder (1988) entsprach. Synagogen entstanden in Nürnberg (1984), Freiburg (1987), Mannheim (1987), Darmstadt (1988). In Frankfurt wurde 1986 ein größeres Jüdisches Gemeindezentrum errichtet.154 Die vermehrte Einwanderung von Juden nach Deutschland vor allem aus den ehemaligen GUS-Staaten in Folge der Veränderungen in Ost­ europa Ende der achtziger Jahre hatte auf die Jüdischen Gemeinden große Auswirkungen. Innerhalb von nur 15 Jahren verdreifachte sich die Zahl ihrer Mitglieder auf rund 100.000.155 Dies regte seit den 90er Jahren den Bau jüdischer Einrichtungen erneut an. Es entstanden so unter anderem Synagogen und Gemeindezentren in Aachen, Kassel, Dresden (Abb. S. 96), Duisburg. Entwürfe für Bochum, Mainz und München sollen in den nächsten Jahren umgesetzt werden. Die vielen neuen Projekte können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass jüdisches Leben mit seiner jahrhundertenlangen Tradition nur noch in vergleichsweise wenigen Orten wieder Fuß fassen konnte. Der „Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege 1932/33“ gibt 3.175 Orte mit jüdischer Bevölkerung an. In 1.605 Orten bestanden noch jüdische Gemeinden.156 Heute beträgt die Zahl der Gemeinden in Deutschland 86.

152 S. Korn: Synagogenarchitektur in Deutschland nach 1945, in: Schwarz 1988, S. 293. 153 Siehe ebd., S. 292. 154 Siehe zu Nachkriegssynagogen ebd., S. 292-343. 155 www.zentralratderjuden.de, vom 15.11. 2003. Der Zentralrat der Juden gibt die Anzahl der Mitglieder für Ende 2002 mit 98.335 Mitgliedern an. Stand 12.12. 2002. 156 Siehe S. Zacharias: Synagogengemeinden 1933, Berlin 1988, S. 24.

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An den über 2.200 Standorten, an denen im heutigen Deutschland einst Synagogen und Betstuben existierten, waren 1945 noch mehr als 1.200 Bauwerke vollständig oder in Teilen vorhanden. Von diesen Gebäuden sind aber nachweislich nach Ende des Zweiten Weltkrieges 350157 abgerissen worden und bei vielen der verbliebenen Standorten ist durch Umbauten die frühere sakrale Nutzung nicht mehr erkennbar, wie das Beispiel der Synagoge Genthin (Abb. S. 96) zeigt. Dennoch können rund 200 Bauwerke gezählt werden, bei denen die äußere Bausubstanz weitgehend erhalten ist oder Restaurierungen erfolgten. Bei etwa der Hälfte ist auch der Innenraum oder sind Teile des Innenraums noch vorhanden. Ein vermehrtes Bewusstsein über die kulturelle Bedeutung der Synagogen hat in den 80er und 90er Jahren örtliche Initiativen entstehen lassen, die sich für den Erhalt, die Sanierung und für eine würdige, zumeist kulturelle Nutzung der ehemaligen Gotteshäuser engagieren. Synagogen in Essen, Kippenheim, Michelstadt können beispielhaft genannt werden. Für jüdische Gottesdienste wurden nur wenige der übrig gebliebenen Bauwerke wie die Synagoge Freiherr-vom-Stein-Straße in Frankfurt am Main oder die Synagoge Rykestraße in Berlin wieder genutzt. Nur an wenigen Orten erfolgte der Wiederaufbau einer zerstörten Synagoge. Die mittelalterliche Synagoge in Worms oder die Synagoge Köln Roonstraße sind zu nennen. Gerade in den größeren Städten hat der Nationalsozialismus das Städtebild radikal verändert, Synagogen sind so gut wie gar nicht mehr zu finden. Es ist somit zu fragen, was an die synagogale Architektur noch erinnert und welche Bedeutung dabei den traditionellen Erinnerungsformen einerseits und den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien andererseits zukommt bzw. zukünftig zukommen könnte.

157 Siehe den Menüpunkt „Erweiterte Suche“ beim Synagogen-Internet-Archiv, http://www.synagogen.info, vom 25.05.2006.

Geschichte der Synagoge

Synagoge Kfar Naum, 300 n. Chr. Grundriss

Synagoge Beth Alpha 6. Jhd. n. Chr. Grundriss

Synagoge Kfar Naum, 300 n. Chr. Rekonstruktionsmodell

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Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Mittelalterliche Synagoge Worms, Zwei-Stützen-Typus Computer-Rekonstruktion

Mittelalterliche Synagoge Speyer, Saal-Typus Computer-Rekonstruktion

Geschichte der Synagoge

Synagoge Lengfeld 18. Jahrhundert errichtet

Synagoge Ansbach 1744 / 45 errichtet

Synagoge Karlsruhe 1798 errichtet

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Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Synagoge Nürnberg, Hans-Sachs-Platz 1874 errichtet

Synagoge Nürnberg, Hans-Sachs-Platz Innenansicht

Geschichte der Synagoge

Synagoge Kaiserslautern, Luisenstraße 1886 errichtet

Synagoge Kaiserslautern, Luisenstraße Innenansichten

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Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Synagoge Hannover, Bergstraße 1870 errichtet

Synagoge Hannover, Bergstraße Innenansicht

Geschichte der Synagoge

Hauptsynagoge München, Herzog-Max-Straße / Maxburgstraße 1887 errichtet

Hauptsynagoge München, Herzog-Max-Straße / Maxburgstraße Innenansicht

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Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Synagoge Plauen 1930 errichtet

Synagoge Plauen Innenansicht

Geschichte der Synagoge

Synagoge Darmstadt, Bleichstraße 10. November 1938

Abriss der Hauptsynagoge München, Herzog-Max-Straße / Maxburgstraße Juni 1938

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Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Synagoge Genthin 1928 erbaut

Synagoge Dresden 2001 eingeweiht

Synagoge Genthin nach Umbau zum Wohnhaus

Authentischer Ort

2.2 Typologie der Erinnerungsformen Die traditionellen Formen der Erinnerung an Synagogen lassen sich analog dem ersten Kapitel in Erinnerungsformen am authentischen Ort und in ortsunabhängige Erinnerungsformen wie zum Beispiel Modelle oder Zeichnungen gliedern. Während am authentischen Ort eher die politischen Akteure – politische Gremien und Bürgerinitiativen – das Feld bestimmen, sind es bei den ortsunabhängigen Erinnerungsformen eher Institutionen des kulturellen Gedächtnisses, wie Museen, Forschungseinrichtungen und Archive sowie engagierte Wissenschaftler und Laien, die sich der Forschung über Synagogen widmen. Bei den Forschungsinstitutionen sind neben dem Fachgebiet Baugeschichte der TU Braunschweig mit seinen Dokumentationen, Modellen und Ausstellungen das Center for Jewish Art und das Synagogue Memorial in Jerusalem zu nennen. Das Center for Jewish Art bemüht sich seit vielen Jahren weltweit, die noch bestehenden jüdischen Sakralbauten zu dokumentieren. Ziel ist eine Datenbank, die neben den architektonischen Zeugnissen auch künstlerische Ausdrucksformen des Judentums beinhalten soll. Das Synagogue Memorial hat das Ziel, eine Dokumentation ehemaliger jüdischer Gemeinden und deren Bauten zu erstellen. Unter der Leitung von Meier Schwarz und verschiedenen Partnern in Deutschland erschienen Dokumentationen zu Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz/Saarland. Publikationen zu Bayern, Baden-Württemberg und Hessen sind in Bearbeitung.

2.2.1 Authentischer Ort Die Bestandsaufnahme der Erinnerungsformen an den authentischen Orten ergibt ein sehr vielfältiges Bild, das in einer typologischen Übersicht vorgestellt wird. Die aus den verschiedenen Informationsquellen gewonnene Übersicht diente allerdings nicht nur der Aufstellung der Typologie und der Ermittlung repräsentativer Beispiele, sondern alle Hinweise wurden auch in das im Laufe dieser Studie entwickelte „Synagogen-Internet-Archiv“ (siehe Kapitel 5) integriert, das auf der Grundlage einer Datenbank Informationen zu über 2.100 Synagogen bereithält. So können auch quantitative Aussagen getroffen werden, die Tendenzen deutlich machen, auch wenn es sich bis jetzt nur um vorläufige Einschätzungen handelt.158

158 Die Einarbeitung der Ergebnisse von kürzlich erschienenen bzw. in den nächs­ ten Jahren zu erwartenden Publikationen bezüglich der Bundesländer BadenWürttemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz, die ak-

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Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

2.101 Synagogen und Beträume159, die 1933 noch in Benutzung waren oder zumindest als Bauwerke existierten, wurden erfasst. Diese Zahlen beziehen sich auf das Gebiet des heutigen Deutschland. Bis jetzt konnten an 925 Standorten160 1.278 Mal Erinnerungszeichen, Gedenkstätten etc.161 verzeichnet werden, die sich wie folgt gliedern: – Gedenktafeln, Hinweise an Straßenschildern; – Gedenksteine, Mahnmale, Gedenkanlagen; – Gedenkstätten, die über textliche und künstlerische Darstellungen hinaus Dimensionen der ehemaligen Bauwerke vermitteln; – Wiederanknüpfungen an eine jüdische Gemeindenutzung; – bauliche Rekonstruktionen, Restaurierungen oder Instandsetzungen einer ehemaligen Synagoge als Gedenkort ohne Nutzung durch eine jüdische Gemeinde.

2.2.1.1 Gedenktafeln, Hinweise an Straßenschildern Die untersuchten Beispiele unterscheiden sich in der Art und der Menge der dargestellten Informationen, insbesondere in Gedenktafeln mit vorwiegend Textinformation und solchen Gedenktafeln und Bodenplatten, welche auch eine Abbildung der zerstörten Synagoge zeigen. Von den 925 Synagogen-Standorten, zu denen im Synagogen-Internet-Archiv Eintragungen zu Gedenkformen vorhanden sind, verweisen 543 Eintragungen auf Gedenktafeln, 16 auf in den Boden eingelassene Gedenkplatten und drei auf Hinweise zu den Synagogen an Straßenschildern (Abb. S. 114). Hervorzuheben sind die wenigen Gedenktafeln, die versuchen,

tualisierte Angaben zu einzelnen Standorten enthalten, wird diese Aussagen weiter präzisieren. 159 http://www.synagogen.info, unter „Synagogen Suchen“: Deutschland als Land ausgesucht, vom 10.12.2004. 160 http://www.synagogen.info unter „Synagogen Suchen“: Erweiterte Suche, Synagogen in den heutigen Bundesländern Deutschlands. Die Zahl ergibt sich aus der Differenz zwischen den erfassten Synagogen (2.102) und der Zahl der Synagogen, zu denen keine Angaben über Erinnerungsformen vorliegen (1.176), vom 02.02.2005. 161 Ebd., die Zahl ergibt sich aus der Summe aller verzeichneten Gedenk formen.

Authentischer Ort

auch eine bildliche Vorstellung des nicht mehr vorhandenen Bauwerks zu vermitteln. An mindestens 29 weiteren Standorten existieren Gedenktafeln oder Bodenplatten mit dem Abbild einer Synagoge.162 Das Spektrum dieser Abbildungen umfasst historische Fotografien der Synagoge und künstlerische Darstellungen.163 Bei letzteren überwiegen Reliefdarstellungen, welche die Synagoge perspektivisch wie in Eppingen oder als Fassadenansicht wie in Bretten zeigen (Abb. S. 115). Daneben gibt es auch reine Umrisszeichnungen (z.B. Eberswalde, Abb. S. 115). Unter den künstlerischen Darstellungen tritt die Gedenktafel zur Synagoge in Berlin Spandau hervor. Ein „zerbrochene[r] Davidstern aus Edelstahl“ fasst ein „in Fragmente zersplittertes Bild der historischen Synagoge“ ein – „als Sinnbild der Zerstörung“ (Abb. S. 115).164 Fotografische Darstellungen sind allerdings die Ausnahme, obwohl sie am genauesten das frühere Erscheinungsbild der Synagoge wiedergeben könnten. Genannt sei hier noch der Standort der ehemaligen Synagoge Berlin Lindenstraße. Dort findet man Fotografien und Texte zu der Synagoge in einer gewerblich genutzten Hofeinfahrt, die zu dem Standort des ehemaligen Gotteshauses führt. Zu Geschäftszeiten ist es möglich, die dort bestehende Gedenkstätte zu besuchen. Nicht nur die Gestaltung von Gedenktafeln ist sehr verschieden, auch die Inschriften variieren in Umfang und Aussage erheblich. Sie lassen sich gliedern in: – Texte, die entweder die Existenz einer Synagoge gar nicht erwähnen oder über die Erwähnung der Existenz hinaus lediglich Angaben zur Nutzungsdauer geben; – Texte, die die Existenz und die Zerstörung der Synagoge benennen; – Texte, die auch über die Umstände der Zerstörungen berichten; – Texte, die den Gesamtkontext der Reichspogromnacht erwähnen.

162 http://www.synagogen.info: Erweiterte Suche, Gedenken am Standort, „Gedenkbild / Gedenkstein mit Bild“ auswählen, vom 02.02.2005. Hier sind 26 Gedenktafeln und 3 Bodentafeln mit Abbildungen von Synagogen verzeichnet. 163 Bei den 26 in den Informationsquellen gefundenen Beispielen von Gedenktafeln sind dreizehnmal Reliefs, viermal Umrisse, zweimal fotografische Abbildungen und einmal eine herausragende künstlerische Umsetzung zu verzeichnen. Des Weiteren sind nicht näher beschriebene Ansichten (2), Grundrisse (1) und Abbildungen (3) zu finden. 164 Siehe: Puvogel / Endlich/ Goldenbogen / Herlemann / Kahl / Scheer 1999, S. 163.

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100 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen Die geringste Informationsstufe stellen Inschriften dar, die nicht erwähnen, dass dort eine Synagoge stand oder, wenn doch, nicht erwähnen, dass diese zerstört wurde. Exemplarisch seien hier einige Beispiele aufgeführt: Bad Bentheim, Synagogenstiege Nicht sterb ich, nein, ich lebe!165

Gladenbach, Bergstraße O Erde, decke mein Blut nicht zu, mein Schreien finde keine Ruhestatt.166

Albersweiler, Kirchstraße Den Opfern der Gewaltherrschaft zum Gedenken – Den Lebenden zur Mahnung167

Stadtlauringen, Friedrich-Rückert-Straße 13–19 (Ortsteil Oberlauringen) An diesem Platz stand die Synagoge der Jüdischen Gemeinde Oberlauringen.168

Niederwerrn, Schweinfurter Straße 23 Dieses Gebäude wurde 1786 erbaut und diente der Jüdischen Kultusgemeinde als Synagoge. Zur Erinnerung und zur Mahnung.169

165 Puvogel / Stankowski / Graf 1995, S. 376. 166 Ebd., S. 308. 167 Ebd., S. 648. 168 Ebd., S. 193. 169 Ebd., S. 178.

Authentischer Ort 101

Wächtersbach, Bleichgartenstraße 6 Synagoge 1895 – 1938170

Limburg, Schiede 25 – 27 Ehemaliger Standort der Synagoge Limburg 1903–1938171

Auch an den über 350 Standorten, an denen erst nach 1945 die Synagogen abgerissen wurden172, oder an Standorten, an denen das Synagogengebäude durch die spätere Nutzung in seiner Erscheinung stark verändert wurde, finden sich Beispiele von Gedenktafeln, die eine solche späte Zerstörung als bloße Datumsangabe erwähnen: Schwalmtal, Pumpenstraße 90 (Ortsteil Waldniel) In dieser Straße stand von 1809 bis 1958 die Synagoge der Jüdischen Gemeinde Waldniel. Durch nationalsozialistischen Terror wurden jüdische Bürger von Waldniel geächtet, verfolgt, deportiert und getötet. Den Opfern zum Gedenken – den Lebenden zur Mahnung.173

Muhr am See, Judenhof 25 (Ortsteil Altenmuhr) Hier stand bis 1968 eine Synagoge. 1985 zum Gedenken an die Jüdische Gemeinde die über 300 Jahre in Altenmuhr bestand.174

170 Ebd., S. 359. 171 Ebd., S. 339. 172 Siehe hierzu: http://www.synagogen.info: Erweiterte Suche, Abriss, nach 1945 auswählen, vom 02.02.2005. 173 Puvogel / Stankowski / Graf 1995, S. 616. 174 Ebd., S. 177.

102 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen Wallerstein, Hauptstraße 61 HIER STAND BIS 1979 DAS GEBÄUDE DER



EHEMALIGEN SYNAGOGE175

Oberwesel, Am Schaarplatz Dieses Haus war die letzte Synagoge von Oberwesel. Erbaut 1886 – geschändet 1938 – umgebaut 1957. Zum Gedenken an die Juden von Oberwesel. 9. November 1988176

Altenstadt an der Iller, Memminger Straße 47 Hier stand die im Jahre 1802 erbaute Synagoge der Israelitischen Kultusgemeinde Altenstadt. Sie wurde bei den Verfolgungen unserer jüdischen Mitbürger im November 1938 beschädigt und im Jahre 1955 abgebrochen. Gras verdorrt Blume verwelkt Aber das Wort unseres Gottes besteht ewiglich.177

Als informativer sind Gedenktafeln zu bewerten, die eine gewaltsame Zerstörung des Bauwerks erwähnen. Diese Gruppe stellt die Mehrheit der in der Literatur vorgefundenen Inschriften dar. Ein typisches Beispiel ist die Gedenktafel für die Synagoge der ehemaligen Jüdischen Gemeinde Nieder-Wöllstadt. Hier stand die Synagoge der Jüdischen Gemeinde Nieder-Wöllstadt, sie wurde im November 1938 zerstört.178



175 I. Schwierz: Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern, München 1992, S. 279. 176 Puvogel / Stankowski / Graf 1995, S. 681. 177 Ebd., S. 112. 178 Ebd., S. 367.

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Darüber hinaus gibt es Beispiele von Inschriften, welche die Umstände der Zerstörung, die Verstrickung Einheimischer oder das Schicksal der jüdischen Bevölkerung thematisieren. Wesseling, Am Markt 3 Seit dem 17. Jahrhundert gab es in Wesseling eine kleine Jüdische Gemeinde. Ihre Synagoge stand seit 1850 am Markt 3. Sie wurde am 9. 11. 1938 in Brand gesteckt. Die Mitglieder der Gemeinde kamen fast alle in nationalsozialistischen Konzentrationslagern ums Leben. Wir gedenken unserer jüdischen Mitbürger. Wesseling, den 9.11. 1978179

Düsseldorf, Kasernenstraße Hier stand die Synagoge der Jüdischen Gemeinde zu Düsseldorf. Sie wurde am 9. November 1938 ein Opfer des Rassenwahns. Von der stolzen Gemeinde kehrten von 5.056 nur 58 jüdische Mitbürger zurück. Den Toten zum ehrenden Gedenken den Lebenden zur Mahnung. Die Stadtgemeinde Düsseldorf

9. November 1946180

Regensburg, Am Brixener Hof 2 Hier stand die Synagoge/ Das Gotteshaus der Jüdischen Gemeinde Regensburg/ Erbaut 1912, zerstört am 9. November 1938/ durch die Nationalsozialisten./ Am 10. November 1938 wurden jüdische Bürger/ in einem beispiellosen Schandmarsch/ durch die Stadt getrieben./ Am 2. April 1942 wurden hier auf dem Platz/ der abgebrannten Synagoge/ 179 Ebd., S. 633. 180 Ebd., S. 530.

104 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen 106 jüdische Bürger zusammengetrieben/ und in die Konzentrationslager deportiert./ Am 15. Juli und 23. September 1942/ folgten weitere Opfer/ dem Leidensweg von Millionen Juden/ die wegen ihres Glaubens litten und starben./ Noch in den letzten Kriegstagen/ fanden Deportationen von Regensburg aus statt.181

Schwäbisch Hall, Neustetterstraße 34 (Ortsteil Steinbach) An dieser Stelle stand die Steinbacher Synagoge. In der Nacht vom 9. auf 10. November 1938 plünderten und brandschatzten Haller Nazis dieses jüdische Gotteshaus.182

In der Regel erfahren die Leser der Inschrift nur von dem Schicksal der jeweiligen Synagoge vor Ort. Hinweise auf die landesweiten Zerstörungen, die erst die Dimension des 9. und 10. November 1938 deutlich machen würden, sind die absolute Ausnahme: Büren, Detmarstraße 16 Hier stand von 1862 bis 1938 die Synagoge der Jüdischen Kultusgemeinde. Am 10. XI. 1938 während der Judenverfolgung in Deutschland wurde – unter vielen anderen – diese Synagoge niedergebrannt.183

181 Ebd., S. 185. 182 Ebd., S. 81. 183 Ebd., S. 510.

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2.2.1.2 Gedenksteine, Mahnmale, Gedenkanlagen, Spolien Von den 925 Synagogen-Standorten, bei denen im Synagogen-InternetArchiv Erinnerungsformen aufgelistet sind, wurden 155 Mal einfache Gedenksteine und 19 Mal Gedenksteine mit Abbildungen der zerstörten Synagogen verzeichnet. An mindestens 108184 Standorten sind künstlerisch bzw. räumlich aufwendigere Erinnerungsmale in Form von Gedenkstätten, Plastiken und Mahnmalen zu finden und an mindestens 25 Standorten wurden auch Spolien aufgestellt. Gedenkbrunnen sind in drei Orten nachgewiesen. Bei den Gedenksteinen lassen sich einfache geometrische, ungeformte und künstlerisch bearbeitete Steine und Stelen unterscheiden. Neben Inschriften finden sich auch jüdische Symbole wie Menora oder Gesetzestafeln eingearbeitet, wie beispielhaft am Standort der ehemaligen Synagoge Emden (Abb. S. 116). Vergleichbar mit den Gedenktafeln sind Abbildungen in Form von Reliefs, Ansichten und dergleichen eine Ausnahme. Positiv hervorzuheben ist die Gedenkstele für die Synagoge Kottbusser Ufer, heute Fraenkel-Ufer (Abb. S. 119), die verschiedene Fotos und Textinformation beinhaltet und sehr auffällig auf dem Gehsteig platziert wurde. Von den Gedenksteinen setzen sich künstlerisch aufwendiger gestaltete Mahn- und Erinnerungsmale ab, die neben freien Plastiken auch Installationen und größere Mahnmalanlagen umfassen. Auch hier lassen sich oft jüdische Symbole finden. Als Beispiele seien das in rostigem Stahl gehaltene Mahnmal in Magdeburg (Abb. S. 116), bei dem unter einem in der Mitte gebrochenen Rahmen zwei schief stehende Gesetzestafeln ausgebildet sind, und das Erinnerungsmal in Dresden mit dem Relief einer Menora genannt (Abb. S. 116). Nachfolgend soll auf einige als besonders gelungen befundene Beispiele von Erinnerung am authentischen Ort eingegangen werden. In Bensheim errichteten die Architekten Wandel / Hoefer / Lorch am Standort der zerstörten Synagoge ein Erinnerungsmal in Form eines schwarzen, liegenden Quaders, in dessen geöffneten Stirnseiten die Besucher ein großformatiges Bild der Synagoge vor der Zerstörung und ein Bild der zerstörten Synagoge sehen können. (Abb. S. 118) Am Standort der zerstörten Synagoge Berlin, Levetzowstraße (Stadtteil Moabit), die ab 1941 von den Nazis als Deportationslager für Juden umfunktioniert wurde, steht eine sehr aufwendige Gedenkanlage. Auf dem Gehsteig befindet sich ein stilisierter Eisenbahnwaggon aus Cortenstahl, auf den eine Rampe führt. Auf der Rampe und im Waggon sind 184 http://www.synagogen.info: Erweiterte Suche, Gedenken am Standort, „Mahnmal, Gedenkstätte, Gedenkplastik“ auswählen, vom 02.02.2005.

106 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen behauene Steinblöcke zu sehen, die in abstrakter Form Menschen darstellen. Ein etwa 8 Meter hohes und 2 Meter breites Stahlblech, ebenfalls aus Cortenstahl, in das die Daten der Deportationen gestanzt wurden, steht am anderen Ende der Rampe. Davor befinden sich Bodenplatten, die Abbildungen und Inschriften zu zerstörten Berliner Synagogen zeigen und damit auch auf den Zusammenhang der Synagogenzerstörungen aufmerksam machen. (Abb. S. 117) Ebenfalls in Berlin findet man in unmittelbarer Nähe der früheren Steglitzer Synagoge eine eindrucksvolle Installation von Wolfgang Göschel und Joachim von Rosenberg. Auf einem freien Platz errichteten die Künstler eine „Spiegelwand“, auf der die Namen von deportierten Juden aus Steglitz und Abbildungen der Synagoge zu finden sind. (Abb. S. 120) Ein sehr gelungenes Beispiel für die Verwendung von Spolien weist das Jüdische Gemeindezentrum Berlin in der Fasanenstraße auf. Das Eingangsportal der in der NS-Zeit zerstörten Synagoge, die bis zu ihrem Abriss 1955 als Ruine bestand, wurde als Eingangssituation wiederverwendet. (Abb. S. 120) In Frankfurt ist die Gedenkstätte Börneplatz von 1988 zu erwähnen. Neben der Markierung der Grundfläche der ehemaligen Synagoge Börneplatz (siehe auch nächster Abschnitt) wurden in die Mauer des angrenzenden jüdischen Friedhofs kleine Metallschilder für die ermordeten jüdischen Einwohner Frankfurts eingelassen. Jeder Namensblock steht für eine Person. So weit bekannt, beinhaltet die Inschrift den Namen, den Geburtsort und das Geburtsdatum, den Todesort und das Sterbedatum. In der Mitte des Börneplatzes, der an die Grundfläche der Synagoge und die Friedhofsmauer angrenzt, wurde ein Quader errichtet, der aus mehreren, bei Ausgrabungen des früheren jüdischen Ghettos gefundenen Steinen besteht. Sieben Straßenschilder, dicht hintereinander gestellt, welche die unterschiedlichen Bezeichnungen dieses Platzes und deren jeweilige Gültigkeitsdauer benennen, markieren ihn als Ort der geschichtlichen Auseinandersetzung. (Abb. S. 121) In der Leipziger Gottschedstraße, am Standort der ehemaligen Synagoge, wurde auf dem freigehaltenen Platz im Jahre 2001 eine neue Gedenkstätte eingeweiht. An der Stelle, an der sich früher der Bereich, in dem die Männer saßen, befand, wurden nach Entwürfen der Leipziger Architekten Sebastian Helm und Anna Dilengite bronzene Stühle aufgestellt, die an das Fehlen der Menschen erinnern sollen und beim Vorbeigehen durch die Irritation Aufmerksamkeit erzielen (Abb. S. 122). Die gestalterisch äußerst gelungene Gedenkstätte am Standort der ehemaligen Synagoge Wuppertal-Elberfeld steht für eine größere Mahnmalsanlage, bei der auch Gebäude errichtet wurden, die als Ort für Information und Veranstaltungen genutzt werden.

Authentischer Ort 107

Abschließend sei auf ein Beispiel ephemerer Erinnerungsformen hingewiesen. In Leipzig installierte die Künstlerin Nina K. Jurk vor 15 Synagogen temporäre Gedenkplastiken in Form von 1,6 m hohen Lichtinstallationen. Sie erinnern an Torarollen. Auf ihnen stand die „Todesfuge“ von Paul Celan geschrieben. Die Installationen waren vom 10. bis zum 30. November 2002 in Leipzig zu sehen. (Abb. S. 119) Im Gegensatz zu den zweidimensionalen Erinnerungsmalen, bei denen die Inschriften in der Regel der Hauptbestandteil des Erinnerns ist, treten bei den dreidimensionalen Erinnerungsmalen und vor allem bei denjenigen, die über die Erscheinungsform des Gedenksteins hinausreichen, die Inschriften zurück. Auf eine weitere Untersuchung und Darstellung wurde deswegen verzichtet. Die typologische Bandbreite der Textinformation entspricht in etwa der Bandbreite der Textinformationen bei Gedenktafeln. Allerdings sind den Inschriften in der Regel mehr und detailliertere Informationen zu entnehmen.

2.2.1.3 Vermittlung ursprünglicher Dimensionen Unter „Vermittlung ursprünglicher Dimensionen“ sind alle diejenigen Erinnerungsformen im öffentlichen Raum zu verstehen, welche die Intention haben, Dimensionen der ehemaligen Bauwerke im Stadtraum zu vermitteln. An mindestens 19 Orten ist eine solche Erinnerungsform nachzuweisen.185 In 16 Fällen kam dabei das „Nachzeichnen“ des Grundrisses zum Ansatz. Hierbei wurde überwiegend mit Bodenmarkierungen durch unterschiedliche Pflasterungen oder andere Formen des Bodenbelagwechsels gearbeitet (Abb. S. 123). Eines der gelungensten Beispiele ist der Standort der ehemaligen Synagoge Börneplatz (Abb. S. 121). Die Bodenflächen, die an den Grundriss angrenzen, sind mit kleinen Steinen belegt, die beim Laufen knirschen. Die Grundfläche der Synagoge selber ist hingegen als fester Bodenbelag ausgeführt, hier sind die Schritte geräuschlos. Beim Durchqueren des Platzes ist so ein Geräuschwechsel deutlich zu vernehmen. An anderen Orten markieren niedrige Mauern (Abb. S. 122), Fundamentfreilegungen oder Hecken den früheren Grundriss. In Kaiserslautern ist der Grundriss durch eine Heckenbepflanzung nachgezeichnet (Abb. S. 123). Es lassen sich auch Mahnmale finden, die versuchen, die ursprüngliche Größe in der dritten Dimension anzudeuten. Als Beispiel sei das teilrekonstruierte Seitenportal der Synagoge Kaiserslautern, das auch 185 http://www.synagogen.info: Erweiterte Suche, Gedenken am Standort, „Architektonische, räumliche Erinnerungsformen“ auswählen, vom 02.02.2005.

108 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen die Namen von ermordeten Kaiserslauterer Juden aufnimmt, genannt (Abb. S. 124). Ein weiteres interessantes Beispiel, allerdings außerhalb Deutschlands, befindet sich in Wien. Am Standort der Synagoge Tempelgasse markieren vier mächtige Säulen die Eingangsfront des ehemaligen Bauwerks (Abb. S. 124). Stärker als die Grundrisslösungen sind diese Formen der Erinnerung durch ihre Höhe im Stadtraum auffällig und von weitem sichtbar. Sie deuten an, wie auch die Synagogen mit ihren Silhouetten den Stadtraum einst mitbestimmten.

2.2.1.4 Wiederanknüpfung an jüdische Gemeindenutzung Nur insgesamt 32 Mal wurde im Synagogen-Internet-Archiv an einem Standort der schätzungsweise über 1.700 im Jahre 1933 noch benutzten Synagogen und Betstuben wieder eine jüdische Einrichtung registriert.186 An 13 Standorten wurde eine Synagoge bzw. ein Gemeindezentrum neu errichtet.187 An 19 Standorten wurden nicht-zerstörte oder nicht völlig zerstörte Bauwerke wieder als Synagogen genutzt.188 Die bedeutende mit186 http://www.synagogen.info: Erweiterte Suche, Nutzung am Standort, „Synagoge – Betraum Jüdisches Gemeindezentrum“ auswählen, vom 02.02.2005. Hinzugefügt werden muss der Zahl von 31 Standorten die Synagoge Berlin Oranienburgerstraße, mit dem Centrum Judaicum. Die Bedeutung dieses Ortes liegt in erster Linie in der Gedenkstätte und den Ausstellungsräumen und erst in zweiter Linie in der Tatsache, dass dort auch in einem kleinen Umfang Räumlichkeiten für Gottesdienste vorhanden sind. Am Standort Mainz, Hindenburgstraße, ist ein Neubau eines Gemeindezentrums mit Synagoge geplant. Im Synagogen-Internet-Archiv liegen von den 2.101 verzeichneten Synagogen und Betstuben an 1.802 Standorten Informationen zum Nutzungsende vor. Zu 299 Standorten konnten aus den Informationsquellen keine Angaben ermittelt werden. Von den 1.802 Standorten ist für 1.386 Synagogen und Betstuben das Nutzungsende in der NS-Zeit verzeichnet, von weiteren 88 ist es zu vermuten. Das sind zusammen 1.474 Synagogen oder 81,8 %. Überträgt man dieses Verhältnis auf die Gesamtzahl der verzeichneten Synagogen von 2.101, erhält man eine geschätzte Anzahl von 1.718 Standorten. 187 Neubau einer Synagoge bzw. eines Gemeindezentrums: Aachen (Promenadenstraße), Berlin (Atilleriestraße 31, heute Tucholskystraße 40), Berlin (Fasanenstraße), Bremen (Schwachhauser Herrstraße 117, Gemeindezentrum), Dresden (vor der Carolabrücke, Brühlscher Garten), Erfurt (Juri-Gagarin-Ring 16, früher Kartäuser-Ring), Konstanz (Sigismundstraße 19, in dem Wohn-/ Geschäftshaus wurde 1964 ein Betraum eingerichtet), Mainz (Hindenburgstraße 44 / Josefstraße, in Planung), Minden (Kampstraße 6), Münster (Klostergasse), Regensburg (Am Brixener Hof), Stuttgart (Hospitalstraße 36), Wiesbaden (Friedrichstraße 33). 188 Wiedernutzung als Synagoge: Amberg (Salzgasse 5), Augsburg (Halderstraße 6 – 8), Bad Nauheim (Karlstraße 34), Bayreuth (Münzgasse 2), Berkach (Mühlfelderstraße 7), Berlin (Joachimstaler Straße 13), Berlin (Kottbusser Ufer, heute Fraenkelufer 10, Ortsteil Kreuzberg, Wiedernutzung von Teilen

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telalterliche Synagoge Worms, in der NS-Zeit abgerissen, wurde wieder aufgebaut. Bei den 20 ehemaligen Synagogen, die als solche wiedergenutzt werden, wurde meist versucht, das Äußere der Synagoge originalgetreu zu restaurieren.189 Mit der Erinnerung an die einstigen Innenräume ging man sehr unterschiedlich um. An einigen Standorten war die Innenraumgestaltung weitgehend erhalten bzw. diese wurde wiederhergestellt. Beispiele sind die Synagogen Berlin Rykestraße und Augsburg (Abb. S. 125). An anderen Orten war die Innenraumgestaltung nur noch zum Teil erhalten und es wurde keine Restaurierung im Sinne eines Abbildes des früheren Zustands vorgenommen. Als Beispiel sei hier die Frankfurter Synagoge Freiherr-vom-Stein-Straße genannt. An weiteren Standorten erfolgte ein umfangreicher Umbau, wie bei der Synagoge Köln Roonstraße. Auf der Höhe der früheren Frauenempore wurde eine Zwischendecke eingezogen. Unterhalb befanden sich Gemeinderäume, oberhalb der Betraum. Bei den Überlegungen zur Ausgestaltung des Innenraums spielte neben dem Erhaltungsgrad, den Kosten für die Instandsetzung und der Überlieferung des ursprünglichen Zustands auch die Frage nach dem richtigen Umgang mit der Geschichte eine zentrale Rolle. Die Frankfurter Westendsynagoge in der Freiherr-vom-Stein-Straße mag hier stellvertretend ein Beispiel sein. Die Synagoge blieb in der Pogromnacht von außen nahezu unbeschädigt. Nach dem Krieg entschied man sich gegen eine getreue Rekonstruktion, reduzierte die Ornamentik in Form und Ausmalung erheblich und gab ihr einen „moderneren“ Charakter. Von 1988 bis 1992 restaurierte man die Synagoge von neuem und versuchte, auch einen Teil der originalen Ornamentik wieder zu vermitteln. Die ohnehin schwierige Frage, ob man die Originalgestaltung wieder herstellen soll und damit in Kauf nehmen will, dass die Zerstörungen der NS-Zeit unsichtbar werden, wird hier noch ergänzt durch die Frage, ob die Ausmalung von nach 1945 erhaltenswert ist. Man entschied sich, die verschiedenen Abschnitte des Bauwerks sichtbar zu lassen (Abb. S. 126). Salomon Korn schreibt zu Beginn der Restaurierungsmaßnahmen von 1988: des Baukomplexes), Berlin (Oranienburger Straße 28 – 30), Berlin (Pestalozzistraße 14 – 15, Ortsteil Charlottenburg), Berlin (Rykestraße 53, Ortsteil Prenzlauer Berg), Frankfurt am Main (Freiherr-vom-Stein-Straße), Fürth (Dr. Hallemann-Straße 2), Herford (Komturstraße 23), Köln (Roonstraße 50), Leipzig (Keilstraße 4), Lübeck (St. Annen Straße), München (Reichenbachstraße), Straubing (Wittelsbacher Straße 2), Weiden (Ringstraße 17), Worms (Judengasse, die Synagoge wurde nach ihrer Zerstörung wieder aufgebaut). 189 Im Synagogen-Internet-Archiv sind hierzu folgende Angaben zu finden: dreizehnmal äußeres Erscheinungsbild wieder hergestellt bzw. weitgehend wieder hergestellt, einmal teilweise hergestellt, einmal umgebaut und fünfmal keine Angaben. http://www.synagogen.info, vom 02.02.2005.

110 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen „Es bleibt zu hoffen, daß als Ergebnis der zu planenden Maßnahmen sowohl eine Teilrekonstruktion des einstmals sinnlich-eindrucksvollen Innenraums gelingt als auch die Erhaltung der 1950 geschaffenen, inzwischen selbst schon Geschichte gewordenen nüchtern-sachlichen Innenraumgestaltung. In diesem Nebeneinander von sich widersprechenden Stil- und Architekturauffassungen könnte der schmerzliche Bruch zwischen großer jahrhundertealter jüdischer Vergangenheit vor dem Völkermord und kurzer Geschichte der immer noch um ihr Selbstverständnis ringenden vierten jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main seinen sinnfälligen Ausdruck finden.“190

Am Beispiel dieser Frankfurter Synagoge wird sehr anschaulich, welche Vorteile die Herstellung von Differenz, wie sie bereits im ersten Kapitel beschrieben wurde, aufweist.

2.2.1.5 Restaurierungen / W   iederherstellungen als Gedenkorte Wiederherstellungen von ehemaligen Synagogen im Sinne von Wiederaufbau, Restaurierung oder Instandsetzung ohne Nutzung durch eine jüdische Gemeinde erfolgten in der Regel im Kontext einer geplanten öffentlichen Nutzung als Begegnungsstätte, Dokumentationszentrum, Museum oder Veranstaltungsraum. Diese konnte bis jetzt in 71 Fällen im Synagogen­-Internet-Archiv verzeichnet werden. Die in den letzten 10 – 20 Jahren erhöhte Aufmerksamkeit für Synagogen, die vermehrte Gründung von Bürgerinitiativen, die sich um den Erhalt und für eine sinnvolle Nutzung ehemaliger jüdischer Gotteshäuser engagieren, und letztlich der für einige Bundesländer veraltete Stand der Literatur als Grundlage der Erfassung lässt vermuten, dass diese Zahl inzwischen signifikant höher liegt. Im Kontext anderer Nutzungen erfolgten Restaurierungen und Annäherungen an das ursprüngliche Erscheinungsbild nur in wenigen Fällen. In Großropperhausen beispielsweise bemühten sich die jetzigen Besitzer, das Gebäude, welches als Wohnhaus genutzt wird, dem ursprünglichen Aussehen der Synagoge anzugleichen.191 In Boppard hat ein Optiker das Synagogengebäude, das lange Jahre als Schreinerei genutzt wurde, renoviert und betreibt dort sein Fachgeschäft und eine Galerie. Nach Angaben auf der eigenen Website habe er darauf geachtet,

190 Salomon Korn, Synagogen und Betstuben in Frankfurt am Main in: Schwarz 1988, S. 395. 191 Siehe hierzu: T. Altaras: Synagogen in Hessen – Was geschah seit 1945?, Königstein i. Ts. 1988, S. 51.

Authentischer Ort 111 „dass das Gebäude in seiner ursprünglichen Bestimmung wieder erkennbar wird. [...] Hierzu gehören Verglasungen, die die markanten Bögen der drei Synagogenraumfenster in Erinnerung bringen, gemeißelte Schlusssteine mit Davidstern, Jahreszahl der Einweihung und der Zerstörung sowie die Menora über den heutigen Fenstern der Galerie.“ 192

Die interessante Frage, die sich gerade bei einer Nutzung als Begegnungsstätte oder Museum stellt, ist ähnlich gelagert, wie bei dem schon im letzten Abschnitt am Beispiel der Frankfurter Westend-Synagoge beschriebenen Konflikt: Inwieweit lässt man alle Spuren der Geschichte sichtbar und bekennt sich zu einem Konzept der „Differenz“ oder versucht man, das ursprüngliche Erscheinungsbild wieder herzustellen. Es ist ein Spannungsfeld zwischen kompletter Restaurierung, wie sie beispielsweise in der ehemaligen Synagoge Michelbach a. d. Lücke (Abb. S. 127) vorgenommen wurde und einem „Sichtbarlassen der Spuren“, wie es in der ehemaligen Synagoge Baisingen (Abb. S. 127) beabsichtigt war, festzustellen. Konrad Pflug beschreibt diesen Konflikt anschaulich bei seiner typologischen Aufstellung der Synagogen in Baden-Württemberg und spricht von einem „grundsätzliche[n] Wandel“, der sich in den „letzten drei Jahrzehnten“ vollzogen hat:193 „Sah man anfänglich in einer möglichst vollständigen, sozusagen ‚bezugsfertigen‘ Rekonstruktion das Ideal (z.B. 1984 in Michelbach a. d. Lücke), also in einer Art ‚baulicher Wiedergutmachung‘, als könne man jederzeit die Rückkehr der Gemeinde erwarten, so änderten sich die Konzepte zunehmend [...] Das frühe Michelbacher Konzept von 1984 wurde in seiner umfassenden Form nicht wiederholt. Alle folgenden Restaurierungen bis zur Lösung für Baisingen (1998) stellten zwar die innere und äußere Architektur und den Dekor wieder her, verzichteten aber auf die Rekonstruktion von Thoraschrein, Almemor und Gestühl. Meist wurde die Mauernische des Schreins in ihrer seit 1938 bestehenden Zerstörung sichtbar gelassen, vergleichbar einer Wunde in einer ansonsten wieder vollendeten Form.“194

Zum Restaurierungskonzept für die ehemalige Synagoge Baisingen: „Man entwickelte eine Form, die nicht ‚wiederherstellen‘, ‚renovieren‘, sondern vielmehr das Übriggebliebene bewahren will. Mit der fast unveränderten Konservierung

192 Siehe hierzu http://optiker-holz.de, vom 06.01.05. 193 K. Pflug: Ehemalige Synagogen als Gedenkstätten, in: U. Schellinger (Hg.): Gedächtnis aus Stein – Die Synagoge in Kippenheim 1852 – 2002, Heidelberg / Ubstadt-Weiher / Basel 2002, S. 294. 194 Ebd., S. 294-296.

112 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen der Verwüstung und Vernachlässigung des Gebäudes soll das Schicksal seiner Besitzer und Besucher, das der jüdischen Gemeinde, die gezielte Schändung durch die Nazis und die anschließende Nutzung als Stall und Scheune nachdrücklich bewusst gemacht werden. [...] Selbst auf die Herrichtung des Gebäudes für die Durchführung von Veranstaltungen wurde deshalb ausdrücklich verzichtet.“195

An anderer Stelle ist zu lesen: „Mit diesem Konzept wird ein neuer Weg im Umgang mit dem Erbe des südwestdeutschen Landjudentums versucht: Die ‚ganze‘ geschichtliche Wahrheit, soweit sie das Bauwerk vermitteln kann, erfahrbar zu machen, spüren zu lassen in der unmittelbaren Begegnung mit dem Denkmal.“196

Ein weiteres Beispiel für das Sichtbarlassen geschichtlicher Spuren stellt die ehemalige Synagoge Oranienburger Straße dar (Abb. S. 128, 129). Chana Schütz vom „Centrum Judaicum“, das in den verbliebenen Räumen des ehemaligen Gotteshauses seinen Sitz hat: „Man hat sich darüber Gedanken gemacht, ob der noch vorhandene Teil so rekonstruiert wird, dass er vollständig ist – wie zum Beispiel der Martin Gropius Bau restauriert wurde – oder soll man im Mauerwerk, in der Innengestalt, in der Ausstellung auch die Wunden und die Zerstörung zeigen.“197

Und Hermann Simon, Leiter des „Centrum Judaicum“: „Von Anfang an waren denkmalpflegerische Aspekte zu berücksichtigen. Auch die Ruine, wie sie sich uns 1988 darbot, wurde als Denkmal empfunden, ‚der verletzte Baukörper als Mahnmal rezipiert‘, schreibt der für die Neue Synagoge von Anfang an zuständige Denkmalpfleger Robert Graefrath in seinem Aufsatz ‚Die Ruine der Neuen Synagoge in Berlin – konservieren oder rekonstruieren?‘ Er fährt weiter fort: ‚Der baukünstlerische Aspekt ... war ... hinter den zeitgeschichtlichen zurückgetreten ... Die Möglichkeit, diese beiden Aspekte des Denkmalcharakters gegeneinander aufzuwiegen und im Ergebnis isoliert zu betrachten, hat zu konträren Positionen hinsichtlich des Umgangs mit der Ruine geführt. So ist auf der einen Seite die Meinung vertreten worden, daß der Bau in seiner originalen Gestalt wiederhergestellt werden muß, und zwar komplett. Demgegenüber stand die Auffassung, jeglicher Eingriff sei ein Sakrileg, die Ruine müsse unberührt als

195 Ebd., S. 296. 196 L. Bez / J. Grosspietsch / K. Pflug (Hg.): Gedenkstätten in Baden-Württemberg, Stuttgart 1998, S. 33. 197 Siehe Anhang, Interviews, S. 577.

Authentischer Ort 113 Mahnmal erhalten bleiben.‘ Beide Positionen erwiesen sich als nicht tragbar. Wir entschlossen uns, ‚den Bau so wiederherzustellen, daß er Beleg für beide Phasen seiner Geschichte bleibt und im erlebbaren Vergleich von prachtvoller Architektur und deren gewaltsamer Zerstörung die Geschichte von Bauwerk und Bauherrn sinnlich wahrnehmbar wird.‘ (Graefrath) Dieses Konzept ist besonders bei den zu rekonstruierenden Innenräumen deutlich geworden. Es galt und gilt also, alle originalen Bauteile zu konservieren. Unbekannte Teile sollen nicht nachempfunden, sondern dadurch, daß sie nach heutigen Entwürfen ersetzt, indirekt als Verlust markiert werden. Eine gewisse Ausnahme in diesem Konzept bildet die große Kuppel; sie ist nach Zeichnungen und Fotos rekonstruiert worden, denn sie hatte und hat nun wieder Signalwirkung.“198

Bei der Synagoge Oranienburger Straße ist das Konzept der Differenz, das Sichtbarlassen der Geschichte, sehr eindrucksvoll umgesetzt, sowohl im Außen- wie Innenraum. Besucher der Gedenkstätte sind immer wieder konfrontiert mit den Spuren der Zerstörung. Besonders erwähnenswert ist der Umgang mit dem fehlenden Hauptraum. In dem zentralen Bogen der Vorhalle blickt man auf eine großformatige Schwarz-Weiss-Fotografie, die den Hauptraum aus der Perspektive zeigt, wie sie vor der Zerstörung aus der Vorhalle bestand. Gleich daneben blickt man durch ein Fenster auf die jetzt leere Fläche, bei der die Standorte der mächtigen Säulen und der Bereich des Aron-ha-kodesch angedeutet sind (siehe Abb. S. 128). Dieses Spannungsverhältnis zwischen Aufzeigen der Zerstörung und dem Wunsch nach Veranschaulichung des kulturellen Verlustes ist ein Aspekt, der sich nicht nur am authentischen Ort festmachen lässt. Er zieht sich durch sämtliche Erinnerungsformen und wird in dieser Studie immer wieder punktuell thematisiert.

198 H. Simon: Die Neue Synagoge Berlin – Geschichte Gegenwart Zukunft, Berlin 1997, S. 22-24.

114 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Gedenktafel Synagoge Mainbernheim

Standort der Synagoge Mainbernheim Gedenktafel

Gedenkplatte Synagoge Frankfurt Bockenheim

Authentischer Ort 115

Gedenktafel am Standort der Synagoge Eppingen

Gedenktafel am Standort der Synagoge Eberswalde

Gedenktafel am Standort der Synagoge Bretten

Gedenktafel am Standort der Synagoge Berlin Spandau

116 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Berlin, Münchner Straße Standort der zerstörten Synagoge

Dresden, Standort der zerstörten Synagoge

Emden, Bollwerkstraße Standort der zerstörten Synagoge

Magdeburg, Mahnmal am Standort der zerstörten Synagoge

Authentischer Ort 117

Gedenkanlage am Standort der Synagoge Berlin, Levetzowstraße

Bodenplatten am Standort der Synagoge Berlin, Levetzowstraße

118 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Bensheim – Gedenkkubus Bild der Synagoge vor der Zerstörung

Bensheim – Gedenkkubus Abriss der Synagoge 1938

Bensheim Gedenkkubus am Standort der ehemaligen Synagoge

Authentischer Ort 119

Lichtinstallationen „Torarollen“ an 15 Standorten ehemaliger Leipziger Synagogen

Gedenkstele für die Synagoge Berlin, Kottbusser Ufer heute Fraenkel-Ufer

120 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Berlin Steglitz, „Spiegelwand“ – Gedenken an die frühere Synagoge und die deportierten Juden aus Steglitz

Standort der zerstörten Synagoge Berlin Fasanenstraße Heute Jüdisches Gemeindezentrum

Authentischer Ort 121

Namensblöcke für die ermordeten Frankfurter Juden „Grundriss“ der Synagoge Frankfurt Börneplatz

Gedenken am Standort der Synagoge Frankfurt Börneplatz Historische Platzbezeichnungen und Gedenkkubus

122 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Gedenkstätte Synagoge Leipzig, Gottschedstraße Leere Stuhlreihen markieren den Bereich des früheren Männerraums

Gedenkstätte Synagoge Leipzig, Gottschedstraße Nachzeichnen des Grundrisses mit Steineinfassungen

Authentischer Ort 123

Gedenkstätte Synagoge Hamburg, Bornplatz, heute Joseph-Carlebach-Platz Nachzeichnen des Grundrisses im Straßenpflaster

Gedenkstätte Synagoge Kaiserslautern, Luisenstraße Nachzeichnen des Grundrisses mit Hecken

124 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Standort der ehemaligen Synagoge Kaiserslautern Teilrekonstruierter Torbogen

Standort der ehemaligen Synagoge Wien, Tempelgasse Die Säulen markieren die ehemalige Fassade

Authentischer Ort 125

Synagoge Augsburg Außenraum

Synagoge Augsburg Innenraum

126 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Synagoge Frankfurt, Freiherr-vom-Stein-Straße vor der Teilrekonstruktion 1994. Um 1980

Innenraum vor der Schändung 1938

Synagoge Frankfurt, Freiherr-vom-Stein-Straße nach der Teilrekonstruktion 1994

Inneres der Frankfurter Westend-Synagoge in der Freiherr-vom-Stein-Straße nach dem Umbau nach dem Krieg, vor der Teilrekonstruktion 1994. Um 1980

Authentischer Ort 127

Synagoge Baisingen

Synagoge Michelbach a. d. Lücke Nach der Restaurierung

128 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Blick auf die Fotografie des zerstörten Hauptraums, im Hintergrund die Toranische © Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum, Foto: Margit Billeb

Blick auf den Bereich der früheren Toranische Synagoge Berlin, Oranienburger Straße – Centrum Judaicum

Authentischer Ort 129

Blick auf die Eingangsfront mit rekonstruierter Kuppel © Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum, Foto: Krawutschke

Spuren der Zerstörung

Blick von der früheren Toranische Synagoge Berlin, Oranienburger Straße

130 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen 2.2.2 Haptische Modelle Durch die verstärkte Beschäftigung mit dem Thema Judentum seit den 80er Jahren entstand auch jenseits der authentischen Orte das Interesse in Deutschland, die zerstörte synagogale Architektur wieder ins allgemeine Bewusstsein zu rufen. Bevor die Möglichkeiten der 3D-Computer-Rekonstruktionen bestanden, stellten haptische Architekturmodelle die einzige Möglichkeit dar, einer architektonisch nicht vorgebildeten Öffentlichkeit einen dreidimensionalen Eindruck der verlorenen Synagogenarchitektur zu vermitteln. So gaben zum einen lokale Institutionen Modelle in Auftrag mit dem Ziel, die Synagoge des eigenen Ortes einer lokalen Öffentlichkeit zu präsentieren. In der Dauerausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt sind beispielhaft Modelle von Frankfurter Synagogen (Abb. S. 134) zu sehen oder im Centrum Judaicum Berlin das Modell der Berliner Synagoge Oranienburger Straße (Abb. S. 134). Zum anderen wurden Synagogen aus spezifischem architektonischem Interesse als Modelle nachgebildet. Als Beispiel sei im Kontext der Ausstellung „Die Architektur der Synagoge“199 die Synagoge Dresden genannt – entworfen von dem bekannten Architekten Gottfried Semper. Von dieser Ausstellung, gemeinsam gezeigt im Deutschen Architekturmuseum und im Jüdischen Museum Frankfurt, wird später noch zu sprechen sein. Schwerpunkt dieser Rekonstruktionsmodelle bildeten die in der NS-Zeit zerstörten Synagogen. Es wurden aber auch Modelle von mittelalterlichen Synagogen angefertigt, so beispielhaft von den Synagogen Worms und Wien. Insgesamt unterscheiden sich die entstandenen Modelle erheblich im Maßstab, in den Materialien, in der Detailgenauigkeit und in der Farbgebung. Neben den Modellen, die für Museen oder ihm Rahmen von Forschungsvorhaben entstanden, sind auch spezielle Bastelmodelle für Kinder entwickelt worden. Mit Schere und Kleber können zerstörte Synagogen – so zum Beispiel die Hauptsynagogen aus Dortmund und Düsseldorf – nachgebaut werden. Auch die mittelalterliche Synagoge Speyer ist als ein solches Bastelmodell im Historischen Museum der Pfalz zu erwerben. Ergänzend ist noch auf eine Modellsammlung im Diaspora Museum in Tel Aviv hinzuweisen. Diese exis­tiert seit 1981 und umfasst als Teil der Dauerausstellung 18 Synagogen aus der ganzen Welt. Sie sind äußerst detailgetreu, auch in der Farbgebung, gearbeitet und zeigen auch Innenräume (Abb. S. 136).200

199 Gezeigt 1988 im Deutschen Architekturmuseum und im Jüdischen Museum Frankfurt. 200 Siehe hierzu auch das Interview mit Sarah Harel Hoshen im Anhang.

Haptische Modelle 131

Modellsammlungen von deutschen Synagogen, die über eine lokale Bedeutung hinausreichen, entstanden bis in die 90er Jahre nicht. Hier stellt das Projekt der TU Braunschweig mit der Herstellung maßstäblicher Holzmodelle eine Neuerung dar. Der Hintergrund dieses Projektes liegt in einer langjährigen Forschung zum Thema Synagogen, die an dieser Stelle kurz dargestellt werden soll. Seit 1994 widmet sich das Fachgebiet Baugeschichte der TU Braunschweig unter der Leitung von Harmen Thies dem Thema Synagogen. Angeregt wurde dieses Forschungsfeld durch eine Initiative von Aliza Cohen-Mushlin, Leiterin des Center for Jewish Art an der Hebrew University in Jerusalem. Harmen Thies zu den Zielsetzungen: „Im Rahmen des ebenso umfassenden wie ehrgeizigen Projektes, das vielfältig erhaltene, aber weit verstreute und häufig – auch heute noch – in seinem materiellen Bestand stark gefährdete Kulturgut jüdischer Glaubens- und Lebensgemeinschaften systematisch zu erfassen, sollten auch die Reste der einst reichen Synagogenarchitektur in Deutschland benannt, aufgelistet und nach einheitlichen Kriterien dokumentiert werden.“201

Neben der Dokumentation der Überreste werden auch Hinweise zu den in der NS-Zeit zerstörten Synagogen gesammelt. So wurde zunächst mit der Dokumentation von bestehenden jüdischen Ritualbauten in Niedersachsen begonnen. In Seminaren hatten Studierende die Aufgabe, an Standorten, an denen sich noch bauliche Reste früherer Synagogen befanden, Bauaufnahmen in Form von Berichten und Bestandsplänen anzufertigen. In einer späteren Phase wurden diese durch Rekonstruktionszeichnungen und zum Teil durch Holzmodelle ergänzt, die den ursprünglichen Zustand zeigen. Dank finanzieller Zuwendungen von Stiftungen und staatlichen Institutionen konnte das Projekt auf andere Bundesländer ausgeweitet werden.202 Entsprechende Dokumentationen entstanden für Thüringen,

201 H. Thies: Zur Dokumentation jüdischer Ritualbauten, in: A. Cohen-Mushlin / H. Thies: Synagogenarchitektur in Deutschland – Vom Barock zum ‚Neuen Bauen‘, Braunschweig 2002, S. 8. 202 „Entsprechende Dokumentationen erhaltener und zerstörter Bauten entstehen in Thüringen und in Sachsen, hier unterstützt durch die German Israeli Foundation, G.I.F.. Die Zusammenarbeit des Center for Jewish Art und der Baugeschichte in Braunschweig wird in Thüringen durch Studierende der Architektur der Bauhaus-Universität in Weimar unter Leitung des Institutes für Baugeschichte, Prof. Dr. Dr. Hermann Wirth, in Sachsen durch Architekturstudenten der TU in Dresden, auch dort unter Leitung des Institutes für Baugeschichte, Prof. Dr. Georg Lippert, tatkräftig unterstützt. Geplant und mit dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Schwerin vorbereitet ist eine Dokumentation des baulichen Bestandes an Synagogen in Mecklenburg-

132 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Für Mecklenburg-Vorpommern ist eine solche Forschungsarbeit in Planung. An diesen Dokumentationsprojekten waren bisher über 160 Studierende der TU Braunschweig und je 20 der Bauhaus-Universität in Weimar und der TU Dresden beteiligt.203 In Braunschweig wurden bisher unter der Betreuung von Harmen Thies, Katrin Keßler, Ulrich Knufinke und Simon Paulus von Studierenden etwa 112 Bauten mit Aufmaßen und Rekonstruktionen dokumentiert sowie ca. 1.100 Bestands- und Rekonstruktionszeichnungen angefertigt. Die hierfür notwendigen Exkursionen wurden gemeinsam mit Mitarbeitern des Centers for Jewish Art durchgeführt. Im Rahmen der Dokumentationen entstanden außerdem eine umfangreiche Fotosammlung aktueller und historischer Zustände jüdischer Bauwerke sowie eine Sammlung historischen Quellenmaterials (Bauzeichnungen und -akten). Bislang wurden 19 ausgewählte Synagogenbauten durch die Studierenden in einheitlichem Maßstab von 1:50 als Holzmodelle gebaut (Abb. S. 135). Die Auswahl der Synagogen entspricht der Zielsetzung, die Baugeschichte der Synagogen in Deutschland vom Barock bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten zu erläutern. Die Modelle stellen Gotteshäuser aus folgenden Städten dar: Aschenhausen, Halberstadt, Berlin (Heidereutergasse), Hornburg, Wörlitz (Architekt Erdmannsdorff), Karlsruhe (Architekt Weinbrenner), Düsseldorf (Entwurf von Krahe), Seesen, Hannover (Bergstrasse, Architekt Hellner), Köln (Glockengasse, Architekt Zwirner), Breslau (Neue Synagoge, Architekt Oppler), Eisenach (Architekt Hahn), Wolfenbüttel (Architekt Uhde), Bingen (Architekt Levy), Essen (Architekt Körner), Wilhelmshaven (Architekt Freygang), Dieburg (Architekt Joseph), Altona, Dresden (Architekt Semper). Die im Laufe der Jahre gewonnenen Erkenntnisse sowie die angefertigten Holzmodelle bilden die Grundlage für eine Wanderausstellung, die seit dem Jahr 2000 in mehreren Institutionen präsentiert wurde und in einem Katalog dokumentiert ist. Als Ausstellungsorte seien hier unter anderem die Synagoge Oranienburger Straße (Centrum Judaicum Berlin), das Felix-Nussbaum-Haus, Osnabrück und die Alte Synagoge Essen genannt. Einzelne Modelle sind als Kopien auch in Dauerausstellungen zu sehen, so zum Beispiel im Jüdischen Museum Berlin, im Deutschen Historischen Museum, in der Alten Synagoge Essen und in der Wörlitzer Synagoge.

Vorpommern.“ In: Ebd., S. 8. In Brandenburg sind die Forschungsarbeiten durch die G.I.F., in Sachsen-Anhalt durch die Alfred Freiherr von OppenheimStiftung gefördert worden. 203 Ebd., S. 9.

Haptische Modelle 133

Als Abschluss der Betrachtung haptischer Modelle sei auf deren Erstellungskosten eingegangen. Dieser Aspekt wird im vierten Kapitel, das die 3D-Computer-Rekonstruktionen thematisiert, wieder aufgenommen, so dass am konkreten Beispiel der Synagogen die Erstellungskosten traditioneller und digitaler Modelle verglichen werden können und die jeweiligen Spannweiten deutlich werden. Am Anfang der Betrachtung stehen die Kosten der haptischen Modelle aus Braunschweig, die von Studierenden als universitäre Leistung im Rahmen ihres Studiums erstellt wurden. Die meisten Synagogenmodelle wurden in der fachbereichseigenen Werkstatt erstellt, ein kleiner Teil bei den Studierenden zu Hause. Die Benutzung der Werkzeugmaschinen wurde nicht in Rechnung gestellt. Durch die studentische Arbeit entstanden auch keine Personalkosten, sondern lediglich Materialkosten, die von Ulrich Knufinke beispielhaft für die Synagoge Seesen auf ca. 300 Euro beziffert wurden.204 Die Kosten für die Modelle konnten so sehr gering gehalten werden. Als Auftragsarbeit für das Jüdische Museum Berlin fertigten Studierende der TU Braunschweig ein gleiches Modell der Synagoge Seesen für ca. 8.300 Euro an. Auch Modelle der Synagoge Köln, Glockengasse (ca. 8.800 Euro) und Breslau (ca. 25.000 Euro) sind so für Berlin erstellt worden.205 Die Kosten für die Modelle der Synagoge Börneplatz und Friedberger Anlage, die für das Jüdische Museum Frankfurt angefertigt wurden, beliefen sich auf jeweils ca.15.000 Euro. Für das gleiche Museum wurde auch ein städtebauliches Modell gebaut, das das jüdische Viertel und die Hauptsynagoge Frankfurts zeigt. Hier entstanden Kosten von ca. 500.000 Euro.206 Das Schnitt-Modell der Synagoge Oranienburger Straße, das auch detailliert den Innenraum zeigt, wurde vom Centrum Judaicum für ca. 42.000 Euro in Auftrag gegeben.207 Als Beispiel für ein haptisches Modell einer mittelalterlichen Synagoge sei die Synagoge Wien genannt, die für ca. 22.000 Euro208 erstellt wurde. Die sicherlich am aufwendigsten und am detailgenauesten gestalteten Synagogenmodelle stehen im Diaspora Museum Tel Aviv. Dies spiegelt sich auch in dem Wert wider, der auf rund 100.000 Dollar pro Modell geschätzt wird.209 204 Ulrich Knufinke, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Baugeschichte der TU Braunschweig, in einem Gespräch mit dem Autor, Mai 2004. 205 Siehe Anhang, Interview mit Maren Krüger, S. 570. 206 Siehe Anhang, Interview mit Fritz Backhaus, S. 544. 207 Siehe Anhang, Interview mit Chana Schütz, S. 577. 208 Auskunft des Jüdischen Museums Wien im November 2003. 209 Siehe Anhang, Interview mit Sarah Harel Hoshen, S. 583.

134 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Modell der Synagoge Frankfurt, Börneplatz Jüdisches Museum Frankfurt

Modell der Synagoge Berlin, Oranienburgerstraße © Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum, Foto: Margit Billeb

Haptische Modelle 135

Modell der Synagoge Halberstadt TU Braunschweig

Modell der Synagoge Halberstadt TU Braunschweig

136 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Synagoge Vilna (1572), Blick in das Innere Modellsammlung Beth Hatefutsoth, Tel Aviv (Diaspora-Museum)

Synagoge Vilna (1572), Außenansicht Modellsammlung Beth Hatefutsoth, Tel Aviv (Diaspora-Museum)

Ausstellungen 137

2.2.3 Ausstellungen Ausstellungen, die sich dem Thema Synagoge widmeten, entstanden in Deutschland erst in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Zwar gab es schon Anfang der 60er Jahre Ausstellungen, die sich mit jüdischer Kultur befassten, wie zum Beispiel die Ausstellung „Synagoga“210, aber anders als ihr Titel vermuten lässt, wurden lediglich sakrale Kultgegenstände thematisiert, die Architektur der Synagoge wurde nicht behandelt. Hier setzte die Ausstellung „Synagogen in Berlin“, gezeigt vom 26. Januar bis 20. März 1983 im Berlin Museum, zum ersten Mal Akzente. Veronika Bendt und Rolf Bothe schreiben im Ausstellungskatalog: „Anliegen des Berlin Museums ist es, mit einer vorrangig auf die Baugeschichte der Synagogen bezogenen Ausstellung eine untergegangene Architekturgattung wieder ins Bewußtsein zurückzurufen. In Absprache mit den Autoren entschlossen wir uns, die Architektur der Berliner Synagogen – alle Gemeindesynagogen und einen Teil der Vereinssynagogen – katalogmäßig zu bearbeiten und jeder Synagoge außerdem Material an Schrift- und Bilddokumenten, das über die Architektur hinausgeht, beizufügen – auch wenn es noch so lückenhaft ist.“211

Im Katalog werden 12 Gemeindesynagogen, 22 Vereinssynagogen sowie drei Entwürfe zu Synagogen, die nicht realisiert wurden, ausführlich anhand von Zeichnungen und Fotografien vorgestellt. Fünf Jahre nach der Berliner Ausstellung wurde in Frankfurt das Thema Synagogen in einer umfassenden Betrachtung der Öffentlichkeit präsentiert. Vom 11. November 1988 bis zum 12. Februar 1989 war im Deutschen Architekturmuseum und im Jüdischen Museum Frankfurt die Ausstellung „Die Architektur der Synagoge“ zu sehen. Hilmar Hoffmann schreibt im Geleit des Ausstellungskataloges: „Die große Bedeutung der Synagogenarchitektur, die der lebendigen Rolle der jüdischen Tradition im öffentlichen Leben entsprach, gilt es wieder bewußtzumachen – wenigstens in der historischen Rekonstruktion.“212

Mit welchen Schwierigkeiten ein solches Unterfangen 50 Jahre nach der Pogromnacht zu kämpfen hat, charakterisieren Georg Heuberger und Peter Schwarz wie folgt:

210 Die Ausstellung „Synagoga“ wurde 1960 / 61 in Recklinghausen und 1961 in Frankfurt gezeigt. 211 Vorwort von Veronica Bendt und Rolf Bothe, in: Bothe 1983, S. 5. 212 H. Hoffmann: Zum Geleit, in: Schwarz 1988, S. 8.

138 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen „Es dürfte nicht leicht einen architekturgeschichtlichen Forschungsgegenstand geben, der für eine Ausstellung, die ja mit der Faszination des Originals argumentieren muß und will, auf den ersten Blick so wenig geeignet scheint wie die Synagogenarchitektur. Bedingt durch die zahllosen Pogrome und Gewaltakte, bedingt auch wohl durch das latente Desinteresse der kulturtragenden Institutionen, sind die für eine Ausstellung in Frage kommenden Exponate so verstreut, versteckt, versehrt wie bei kaum einem anderen Problemfeld.“213

In der Ausstellung erzählten fünf inhaltlich abgegrenzte Bereiche anhand von Video- und Rauminstallationen, Fotografien, Architekturmodellen, Bauplänen, Fragmenten und Relikten aus jüdischen Gotteshäusern die Architekturgeschichte der Synagoge. Diese fünf Stationen umfassten die Spätantike, das Mittelalter, die Phase des 17. und 18. Jahrhunderts vor der Emanzipation, die Zeit der großen Synagogenbauten im 19. und 20. Jahrhundert und Synagogen, die in Deutschland nach 1945 gebaut wurden. Eine sechste Station widmete sich, als Hommage an den Ausstellungsort, den Frankfurter Synagogen. Georg Heuberger zu der Verbindung der beiden Museen: „Die Ausstellung war eine Kooperation mit dem Deutschen Architekturmuseum und gleichzeitig die Eröffnungsausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt in seinen Räumen des Rothschildpalais. Der allgemeine Teil dieser Ausstellung – Synagogenarchitektur in Deutschland – wurde im Architekturmuseum gezeigt. Bei uns im Hause sahen die Besucher die Frankfurter Synagogenarchitektur. Die Ausstellung informierte über die Frankfurter Architekten und über die geschichtliche Entwicklung der Frankfurter Synagogen von der ältesten Synagoge in der Judengasse bis zu den großen Synagogenbauten des 19. und 20. Jahrhunderts. Es wurden auch die Renovierungsarbeiten an der Frankfurter Westend-Synagoge gezeigt, die kurz zuvor von Herrn Isenberg abgeschlossen wurden. Zwischen den beiden Museen gab es ein gestalterisch verbindendes Element. Im Deutschen Architekturmuseum konnten Besucher einen schwarzen Kasten betreten, in dem man Eisenbahnzüge rattern hörte. Man ging hindurch und sah zum Schluss einen Film zu den Deportationen. Das war eine sehr starke Inszenierung, die dann die Architekturzeichnungen, Modelle und anderes mit der Realität konfrontiert hat. Bei uns war eine Installation zu sehen, die sich durch den länglichen Ausstellungsraum hinzog. In einer Art schwarzem Tunnel haben wir innen und außen Exponate gezeigt und das korrespondierte dann mit der Architekturausstellung im Architekturmuseum. Da kam sofort die Erinnerung zu der Installation im Architekturmuseum.“214 213 G. Heuberger / H.P. Schwarz: Vorwort, in: Schwarz 1988, S. 9. 214 Siehe Anhang, Interviews, S. 532.

Ausstellungen 139

Die einzelnen Stationen der Ausstellung wurden von verschiedenen Autoren wissenschaftlich erarbeitet und die Ergebnisse zum Teil erstmals im Rahmen der Frankfurter Ausstellung und des Ausstellungskatalogs veröffentlicht.215 Sicher angeregt durch die oben genannten Ausstellungen, aber auch durch das wachsende Forschungsinteresse, dem Harold Hammer Schenk mit seiner bis dato beispiellosen, 1981 erschienenen Publikation „Synagogen in Deutschland“ den Weg ebnete, entstanden in den späten 80er und in den 90er Jahren Dauerausstellungen in restaurierten Synagogen, ehemaligen jüdischen Einrichtungen oder in neugegründeten Jüdischen Museen, die mit unterschiedlichen Mitteln versuchten, an die einstigen Synagogen vor Ort zu erinnern. Als Beispiel seien hier das Jüdische Museum Frankfurt, 1988 eröffnet, oder das Centrum Judaicum, 1995216 in der ehemaligen Synagoge Oranienburger Straße eingeweiht, genannt. In Frankfurt werden Architekturmodelle von vier Frankfurter Synagogen gezeigt, im Centrum Judaicum das des eigenen Hauses, das die größte Berliner Synagoge gewesen ist. Ausstellungen mit traditionellen Modellen, die über die Darstellung von Synagogen einer Stadt und damit einer lokalen Bedeutung hinausgingen, entstanden in Deutschland zunächst nicht. Wie beschrieben stellten die Holzmodelle aus Braunschweig ein Novum dar. Mit dem Schwerpunkt einer bauhistorischen Betrachtung organisiert die TU Braunschweig, Fachgebiet Baugeschichte, gemeinsam mit dem Center for Jewish Art der Hebrew University Jerusalem, unter dem Titel: „Synagogenarchitektur in Deutschland – Vom Barock zum Neuen Bauen“ seit dem Jahre 2000 Ausstellungen, in deren Mittelpunkt die schon angeführten Holzmodelle ausgewählter Synagogen stehen. Ziel dieser Ausstellung ist es, durch „Modelle, Tafeln und Darstellungen [...] die Jahrhunderte zurückreichende und bereits im Mittelalter bedeutende Tradition des Synagogenbaus in Deutschland anhand ausgesuchter Beispiele aus neuerer Zeit ins Bewußtsein zu bringen und dort als einen der Schätze gemeinsamer Geschichte und Kultur gegenwärtig zu halten. Besonders die erstaunliche Entfaltung der Synagogenarchitektur seit dem späten Barock und bis in das erste Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts verdient unser aller Interesse. Zum einen zeugt sie von den vielfältigen und auch widersprüchlichen, bis in die Gegenwart hinein jüdisches Leben prägenden Bemühungen und Auseinandersetzungen um Aufklärung, bürgerliche Gleichstellung,

215 Siehe hierzu: H.P. Schwarz: Die Architektur der Synagoge in Deutschland – Zur Rekonstruktion einer (fast) verschollenen Architektur, in: Schwarz 1988. 216 Siehe hierzu: Simon 1997. Die Publikation gibt einen kurzen Überblick zu einer der bedeutendsten Synagogen Deutschlands.

140 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen kulturelle Assimilation und Bewahrung des rechten Glaubens in einer eigenständig dem Gesetz folgenden Gemeinschaft. Zum anderen hat sie – mit bedeutenden Beispielen – an der allgemeinen Entwicklung der Architektur in Mitteleuropa teil und kann hier als eine der aussagekräftigsten und lehrreichsten Typologien des neuzeitlich-modernen Bauens kennengelernt werden.“217

Von den ersten Ausstellungen in Braunschweig (Technische Universität 2000), Görlitz (ehemalige Synagoge 2001), Dresden (Villa Salzburg 2001, Abb. S. 142) über die Präsentationen in Essen (Alte Synagoge Essen 2002), Osnabrück (Felix-Nussbaum-Haus 2003) und Hannover (Niedersächsischer Landtag 2003) bis hin zu der bis heute umfangreichsten Ausstellung, die in der Gedenkstätte der Synagoge Berlin, Oranienburger Straße im Centrum Judaicum 2003 (Abb. S. 143) stattfand, stehen im Zentrum der Ausstellung Holzmodelle, die von Studierenden der TU Braunschweig angefertigt wurden. Diese Modelle werden auf Sockeln präsentiert und – wenn nötig – von Plexiglashauben geschützt. Den Modellen zugeordnet sind Erläuterungstafeln mit Bildern und Texten, welche die einzelnen Synagogen in ihrer Baugeschichte beschreiben, begleitet von Anmerkungen zur Geschichte der jeweiligen jüdischen Gemeinden. Die Besucher werden an die Modelle chronologisch herangeführt, beginnend mit der Synagoge Halberstadt (1709 – 1712 errichtet) und endend mit der Synagoge Dieburg (1928 errichtet). Ergänzend zu den Tafeln, die sich auf die Holzmodelle beziehen, gliedern sich zusätzliche Tafeln zu weiteren Synagogen in die chronologische Reihenfolge ein. Diese Synagogen werden nur in Text und Bild (Zeichnungen, Fotografien) vorgestellt und sind aus Gründen des besseren Verstehens der (synagogalen) Baugeschichte entstanden. Die Texte wenden sich in ihrer Ausführlichkeit und Sprache an ein architekturinteressiertes Publikum. In Berlin waren 16 Synagogen als Holzmodelle zu sehen, weitere 20 durch Abbildungen veranschaulicht. Die Ausstellung im Centrum Judaicum 2003 in Berlin stellte in ihrer Konzeption eine Erweiterung der bisherigen Ausstellungen der TU Braunschweig und des Center for Jewish Art dar und weist neben den Holzmodellen und Informationstafeln einige weitere Ausstellungselemente auf. Im ersten Ausstellungsraum wurde den Besuchern ein Film gezeigt, der die Geschichte der Synagoge von der Antike bis zum heutigen Tage erzählt. Er beinhaltet auch eine Computer-Rekonstruktion der Synagoge Halberstadt und versucht, anhand des virtuellen Modells eine Synagoge in ihrer Funktion zu beschreiben. Die Atmosphäre des Raumes wurde zusätzlich 217 A. Cohen-Mushlin / H. Thies: Einleitung und Dank, in: Cohen-Mushlin / Thies, Braunschweig 2002, S. 6.

Ausstellungen 141

geprägt durch großflächig an die Decke projizierte Dias, die Bilder der zerstörten Synagoge Oranienburger Straße zeigten. Der anschließende zentrale Ausstellungsraum beherbergte neben den Holzmodellen und Texttafeln auch eine Dia-Projektion von Ulrich Knufinke218, die aktuelle Aufnahmen ehemaliger Standorte zeigt. Die Bilder, welche die Banalität der heutigen Situationen abbilden, stehen im krassen Gegensatz zu den einst würdigen Orten. Ein weiterer Raum widmete sich der Berliner Synagoge Heidereutergasse. Ein für diese Ausstellung angefertigtes Modell war zusammen mit Relikten wie Leuchtern und Toraschreinvorhängen ausgestellt. Erläuternde Texttafeln ergänzten das Angebot. Nach Angaben der Kuratorin Chana Schütz besuchten 2.000 Personen die Ausstellung. Das Presseecho umfasste die Berliner Tageszeitungen.219 Neben den Präsentationen der kompletten Braunschweiger Ausstellung waren zu speziellen Anlässen auch einzelne Holzmodelle zugänglich, so in Hannover in der Ausstellung „Magrepha – Die Orgel in der Synagoge“ (Landesmuseum 1999/2000), in Braunschweig in der Ausstellung „Synagoga – Ecclesia“ (Brüderkirche 2000), in Bingen in der Ausstellung „Die Binger Synagoge und ihre Zeit“ (Historisches Museum Bingen 2003). Einige Modelle wurden Exponate von lokalen Dauerausstellungen und rufen einer Öffentlichkeit vor Ort die ehemaligen Synagogen in Erinnerung. Für die Zukunft ist geplant, die Sammlung an Synagogen, sei es als Holzmodell oder als Tafel, gezielt auszuweiten bzw. Synagogen aus den Städten zukünftiger Ausstellungen mit aufzunehmen. Auch in die Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin wurden Modelle aus Braunschweig integriert. Zu sehen sind dort die Synagogen Breslau, Köln (Glockengasse) und Seesen. Während die Erinnerung an Synagogen mittels Modellen, Fotografien, Zeichnungen etc. in den Dauerausstellungen ihren festen Ort bekam, haben die temporären Ausstellungen in Berlin 1983 oder Frankfurt 1988 nur einmalig wirken können. Geblieben sind aber Kataloge, die genau wie der Ausstellungsband zu den Ausstellungen der TU Braunschweig wichtige Beiträge für die Erinnerung an Synagogen darstellen – als Teil einer Erinnerung durch gedruckte Publikationen.

218 „erinnertes vergessen“, Ulrich Knufinke 2003. 219 Siehe Anhang, Interviews, S. 577.

142 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Ausstellung TU Braunschweig Dresden, Villa Salzburg 2001

Ausstellungen 143

Ausstellung TU Braunschweig Berlin, Centrum Judaicum 2003

144 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen

Synagoge Genthin Rekonstruktionszeichnungen

Synagoge Düsseldorf Benrath Rekonstruktionszeichnungen

Synagoge Mutterstadt Aquarellzeichnung nach den Erinnerungen eines Zeitzeugen

Buch, Broschüre, Katalog 145

2.2.4 Buch, Broschüre, Katalog Unter den ortsunabhängigen Erinnerungsformen nimmt die gedruckte Publikation in Form des Buchs, des Katalogs oder der Broschüre eine wichtige Sonderstellung ein, da sie als klassische wissenschaftliche Veröffentlichungsform den Stand der Forschung widerspiegelt. Sie ist als das am besten geeignete Medium für eine tiefergehende Rezeption anzusehen. Bis in die 80er Jahre war das Thema Synagoge eher eine Randerscheinung in der Nachkriegsforschung der Architekturgeschichte. Ähnlich wie Georg Heuberger bemerkte Salomon Korn auf die Frage, warum das Thema erst so spät in den Blickpunkt geriet: „Es ist wahrscheinlich so, dass die zeitliche Distanz eine neue Generation dazu veranlasst hat, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Man hat entdeckt, dass das ein Teil der deutschen Geschichte, der deutschen Baugeschichte, ist. Wahrscheinlich ging es nicht ohne diesen zeitlichen Abstand, weil es ein sehr unangenehmes, verdrängtes Thema war.“220

1980 erschien in der damaligen DDR ein Werk, das sich mit der „Synagoge in der deutschen Geschichte“ befasste. Helmut Eschwege wollte mit der Betrachtung der Synagogen, die im 19. Jahrhundert „Formen und oft auch die Ausmaße zeitgenössischer Kirchen [...] als Ausdruck der vermeintlichen bürgerlichen Gleichberechtigung“ annahmen, „diesen Teil jüdisch-deutscher Kultur in Erinnerung rufen“.221 Wie unaufgearbeitet er dieses Thema vorfand, beschreibt Eschwege in seinem Vorwort: „Nur wenige Fotos sind uns von den Synagogen erhalten geblieben. Daß ich aus vielen großen Städten die Mitteilung erhielt, in ihren Archiven, Museen und Bildstellen seien keine Abbildungen ihrer Synagogen aufzufinden, war mir zuerst unfaßbar. Später fand ich die Ursache. Die Gestapo hatte sich aus vielen dieser Institutionen rigoros die Bauunterlagen und Fotos von Synagogen aushändigen lassen und vernichtet.“222

Nicht nur die Vernichtung der Zeugnisse ist zu thematisieren, sondern auch die fehlende Forschung, denn 20 Jahre später sind die städtischen Archive durchaus besser bestückt.

220 Siehe Anhang, Interviews, S. 592. 221 H. Eschwege: Die Synagoge in der deutschen Geschichte, Dresden 1980, S. 7. 222 Ebd., S. 8.

146 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen Für die Bundesrepublik Deutschland war das Werk „Synagogen in Deutschland“ von Harold Hammer-Schenk von 1981 eine der ersten Arbeiten, die sich umfassend und unter dem Blickwinkel der Kunstgeschichte wissenschaftlich mit der Baugattung Synagoge in Deutschland befasste und wichtige Impulse lieferte.223 Genauso, wie die Beschäftigung mit dem Thema Synagogen in den 80er Jahren die Erinnerung am authentischen Ort zunehmen ließ oder sich in Ausstellungen niederschlug, so führte sie auch zu zahlreichen Bucherscheinungen. Drei Hauptformen sind zu unterscheiden: erstens Publikationen, die sich mit einem ortsbezogenen Ansatz die Aufgabe stellen, die jeweilige(n) Synagoge(n) eines bestimmten Ortes ins Gedächtnis zu rufen, zweitens Publikationen, die unter topografischen Gesichtspunkten eine Auswahl von Synagogen behandeln; drittens sind Publikationen zu nennen, die eine Zusammenstellung von Synagogen nach bestimmten inhaltlichen Kriterien im Kontext von Forschungsprojekten und Ausstellungen beinhalten. Lokale Bezüge Stellvertretend und beispielhaft für ortsbezogene Publikationen sind Veröffentlichungen zu München224 und Kassel225 zu nennen, die sehr umfangreich die Geschichte der jeweiligen Synagogen darstellen und eigene Akzente setzten. Die Veröffentlichung zu München thematisiert neben den Synagogen und ihren Vorläuferbauten, die bis ins Mittelalter führen, auch die Persönlichkeiten, die im Mittelpunkt der Gottesdienste standen, die Rabbiner und Kantoren. Die Publikation zu Kassel bezieht die neuesten Entwicklungen und den Neubau der dortigen Synagoge ein und dokumentiert dadurch die Erstarkung jüdischen Lebens in Deutschland. Gerade in Bezug auf kleinere Ortschaften waren es oft „Heimatforscher“, Geschichtswerkstätten, Ortsansässige, am Thema Interessierte, die Publikationen auf den Weg brachten. Ein Beispiel ist die sehr umfangreiche und thematisch interessant aufgefächerte Veröffentlichung zur Synagoge Kippenheim aus dem Jahre 2002.226

223 H. Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland, Hamburg 1981. Die Auflagenhöhe beträgt nach Auskunft des Verlags vom April 2004 1.000 Exemplare. 224 E. Haß / A. Link / K.H. Wegner: Synagogen in Kassel, Marburg 2000. 225 E. Angermair / A. Heusler / E. Ohlen / B. Schmidt / T. Weger: Beth ha-Knesseth – Ort der Zusammenkunft – Zur Geschichte der Münchner Synagogen, ihrer Rabbiner und Kantoren, München 1999. 226 U. Schellinger (Hg.): Gedächtnis aus Stein – Die Synagoge in Kippenheim, Heidelberg 2002.

Buch, Broschüre, Katalog 147

Topografische Übersichten Die topografisch weiter gefassten Publikationen erstrecken sich von der Ebene der Kreise und Regionen über die Ebene der Bundesländer bis hin zu bundeslandübergreifenden Dokumentationen. Eine das ganze Bundesgebiet umfassende Bestandsaufnahme aller ehemals existenter bzw. heute noch vollständig oder in Resten vorhandener jüdischer Sakralbauten besteht in Buchform bis jetzt nicht. Für die alten Bundesländer liegt eine Publikation von 1988 vor, die eine Anfrage an diejenigen Kommunen, die im jüdischen „Gemeindeführer“ von 1932/33 als Synagogengemeinden verzeichnet waren, dokumentiert. Diese Studie wurde von Sylvia Zacharias durchgeführt und enthält je Synagoge die Antworten zu zwölf Fragen.227 Gemeinden mit mehr als einer Synagoge wurden allerdings nicht berücksichtigt. Zu den neuen Bundesländern ist 1992 eine Publikation erschienen, die auf erhaltene und zerstörte Synagogen eingeht.228 Unter Leitung von Meier Schwarz hat das „Synagogue Memorial“ in Jerusalem Ende der 90er Jahre – mit Aktualisierung im November 2002 – eine tabellarische Dokumentation erstellt, die Synagogen im ehemaligen Deutschen Reich auflistet. Enthalten sind Angaben zur Adresse, zur Größe der ortsansässigen jüdischen Bevölkerung, zum Vorhandensein eines jüdischen Friedhofs, einer Mikwe, einer jüdischen Schule sowie anderer jüdischer Einrichtungen. Außerdem wird durch eine Abkürzung kenntlich gemacht, ob die Synagoge in der NS-Zeit bzw. in der Reichspogromnacht 1938 zerstört worden ist. Diese Dokumentation ist nicht im Buchhandel erschienen, sondern nur über Jerusalem direkt zu beziehen. Sie ist jedoch inzwischen auch im Internet abrufbar (siehe Kapitel 4). Da eine das ganze Bundesgebiet umfassende Bestandsaufnahme fehlt, kommen – neben der oben angeführten Literatur – den Publikationen auf Bundesländerebene eine besondere Bedeutung zu, weil sie in ihrer Addition einen fehlenden bundesbezogen Überblick kompensieren können. Idealerweise würden sechzehn Dokumentationen dieses leisten. Allerdings ist eine solche Aufstellung erst in dreizehn Bundesländern erfolgt und benötigt zu einzelnen Ländern, wie zum Beispiel zu Hessen, eine Aktualisierung, da viele Bauten und ihr Nachkriegsschicksal nicht einbezogen sind. Zu folgenden Bundesländern sind Publikationen er-

227 S. Zacharias: Synagogen Gemeinden 1933, Berlin 1988. Verzeichnet wurden 1254 Kommunen. Als Information werden aufgeführt: Postleitzahl, Bundesland, Stadt, Stadtteil, Gebäudebestand, Gebäudenutzung, Grundstücksnutzung, Abrissdatum, Besitzer, Gedenken vor Ort, Filialgemeinde oder Jüdische Gemeinde. 228 K. Arlt, / I. Ehlers / A. Etzold / K. A. Fahning / A. Hergt / B-L. Lange / W. Madai / R. Schmook, / F. Schröder / H. Simon / C. Zimmermann: Zeugnisse Jüdischer Kultur, Berlin 1992

148 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen schienen, die umfangreich sowohl zerstörte als auch erhaltene Bauten mit Bildern dokumentieren: – Baden-Württemberg

1987, Auflagenhöhe 5.000229

– Bayern

1992, Auflagenhöhe nicht bekannt 230

– Berlin

1983, Auflagenhöhe ca. 2.500231

– Brandenburg

1995, Auflagenhöhe ca. 2.000232

– Hamburg

1984, Auflagenhöhe ca. 1.000233

– Hessen

1971, Auflagenhöhe nicht bekannt234

– Nordrhein-Westfalen

1999, Auflagenhöhe 2.000235

– Niedersachsen

2005, Auflagenhöhe nicht bekannt 236

– Rheinland-Pfalz und Saarland 2004, Auflagenhöhe 2.000237



229 J. Hahn: Synagogen in Baden-Württemberg, Stuttgart 1987. Die Angabe zur Auflagenhöhe entstammt einer Auskunft des Verlags vom April 2004. Die Publikation ist vergriffen. 230 I. Schwierz: Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern, München 1992. Der Verlag hat keine Angaben übermittelt. 231 R. Bothe (Hg.): Synagogen in Berlin, Teil 1 u. 2, Berlin 1983. Die Angabe zur Auflagenhöhe entstammt einer Auskunft des Verlags vom Mai 2004. Die Publikation ist vergriffen. 232 I. Diekmann / J. Schoeps (Hg.): Wegweiser durch das jüdische Brandenburg, Berlin 1995. Die Angabe zur Auflagenhöhe entstammt einer Auskunft des Verlags vom Mai 2004. 233 I. Stein: Jüdische Baudenkmäler in Hamburg, Hamburg 1984. Die Angabe zur Auflagenhöhe entstammt einer Auskunft des Verlags vom April 2004. 234 P. Arnsberg: Die Jüdischen Gemeinden in Hessen, Bd. 1 – 3, Frankfurt 1971. Der Verlag konnte keine Angaben zu der Auflagenhöhe machen. 235 M. Brocke / M. Schwarz (Hg.): Feuer an Dein Heiligtum gelegt, Bochum 1999. Die Angabe zur Auflagenhöhe entstammt einer Auskunft des Verlags vom April 2004. Die Publikation ist vergriffen. 236 H. Obenaus (Hg.) / D. Bankier / D. Fraenkel: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Göttingen 2005. 237 S. Fischbach / I. Westerhoff: „... und dies ist die Pforte des Himmels“, Synagogen Rheinland Pfalz – Saarland, Mainz 2005. Die Angabe zur Auflagenhöhe entstammt einer Auskunft von Joachim Glatz, Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz im Februar 2005.

Buch, Broschüre, Katalog 149 – Sachsen-Anhalt

1998, Auflagenhöhe nicht bekannt238

– Schleswig-Holstein

1995, Auflagenhöhe 3.000239

– Thüringen

1997, Auflagenhöhe 500 – 1.000240

Zu Hessen ist eine weitere, zweibändige Publikation erschienen, die sehr detailliert die erhaltenen Synagogen dokumentiert. Die Auflagenhöhe für den 1988 erschienenen Band 1 lag bei 5.000 Exemplaren, für den zweiten Band bei 3.000.241 Zu Mecklenburg-Vorpommern ist 1994 eine Publikation erschienen, die die erhaltenen Bauwerke dokumentiert.242 Für Sachsen fehlt bis jetzt eine solche Dokumentation. Ergänzend sei noch einmal auf die Publikationen „Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus“243 und „Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 – 1945“244 hingewiesen. Gegliedert nach Bundesländern dokumentieren sie nicht nur Gedenkstätten an den Standorten ehemaliger Synagogen und den Wortlaut von Inschriften, sondern enthalten für einige Synagogen auch Informationen zu ihrer Geschichte. Übersichten zu Synagogen nach bestimmten inhaltlichen Kriterien Im Kontext der ersten großen Synagogen-Ausstellung in Deutschland nach 1945 präsentierten Wissenschaftler 1988 im Katalog den neuesten Forschungsstand. Ihre Beiträge erzählen die Geschichte der Synagoge von der Antike und dem Mittelalter über die großen europäischen Synagogenbauten der Neuzeit bis hin zu den Synagogen, die nach 1945 in Deutschland errichtet wurden. Dieser Katalog ist auch als Buchhandelsausgabe in einer Auflage von 1.000 Exemplaren erschienen245.

238 H. Brülls: Synagogen in Sachsen-Anhalt, Berlin 1998. Der Verlag wollte zur Auflagenhöhe keine Angaben machen. 239 U. Dinse: Das vergessene Erbe – Jüdische Baudenkmale in Schleswig-Holstein, Kiel 1995. Die Angabe zur Auflagenhöhe entstammt einer Auskunft der Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein vom April 2004. Die Publikation ist vergriffen. 240 M. Kahl: Denkmale jüdischer Kultur in Thüringen, Bad Homburg 1997. Die Angabe zur Auflagenhöhe entstammt einer Auskunft der Autorin vom April 2004. 241 T. Altaras: Synagogen in Hessen, Teil, 1 u. 2, Königsstein 1988 u. 1994. Die Angabe zur Auflagenhöhe entstammt einer Auskunft des Verlags vom April 2004. Band 1 ist vergriffen. 242 J. Borchert / D. Klose: Was blieb... – Jüdische Spuren in Mecklenburg, Berlin 1994. Die Auflagenhöhe konnte nicht ermittelt werden. 243 Siehe S. 74. 244 Ebd. 245 Die Angabe zur Auflagenhöhe entstammt einer Auskunft des Verlags vom April 2004.

150 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen Unter dem Titel „Synagogenarchitektur in Deutschland – Vom Barock zum ‚Neuen Bauen‘“ und begleitend zur gleichnamigen Ausstellung ist im Jahre 2000 eine Dokumentation des Fachgebietes Baugeschichte der TU Braunschweig im Selbstverlag erschienen.246 Die Auflagenhöhe des 90seitigen Schwarz-Weiß-Drucks betrug bei der ersten Auflage 500, bei der zweiten überarbeiteten Auflage 1.000 Exemplare. Der Katalog erläutert anhand von sieben Essays die Synagoge architekturhistorisch und beleuchtet einzelne Epochen beginnend im Mittelalter. Eine chronologische Darstellung von 24 Synagogen in Texten, Zeichnungen, zeitgenössischen Fotografien und Abbildungen der in Braunschweig entstandenen Modelle zeichnet die Entwicklung des Synagogenbaus seit dem Barock nach.

2.2.5 Audio-visuelle Medien Den Abschluss der Bestandsaufnahme traditioneller Erinnerungsformen bilden audio-visuelle Medien. Hierunter fallen Dokumentarfilme sowie Audio-CDs und Schallplatten mit Musik, die in den Synagogen bis zu ihrer Zerstörung 1938 zu hören war und die nach Originalnoten wieder eingespielt wurde. Filme Bei der Bestandsaufnahme des Angebots an Dokumentarfilmen zu dem Thema Synagogen konnte im Gegensatz zu dem Medium Buch nicht auf zentrale Verzeichnisse zurückgegriffen werden. Weder das „Verzeichnis lieferbarer Bücher“, noch der Bestandskatalog der Deutschen Bibliothek oder Online-Bookshops führen Filme unter dem Stichwort Synagoge / Synagogen auf. Allerdings bieten die Kataloge der Landesmedienanstalten Ton- und Bildträger zum Thema Synagogen an. Diese stellen somit als einzige öffentliche Nachschlagwerke einen Bezugsrahmen dar, der auch für die vorliegende Studie maßgeblich war. Anhand der Internetkataloge der Landesmedienzentren wurde eine Analyse des Angebotes vorgenommen. In 14 Bundesländern ist eine Recherche bei Medienzentren über das Internet möglich. In den Fällen, bei denen eine solche „Landesliste“ nicht zu Verfügung stand, wurden die Angebote städtischer Medienzentren der 246 A. Cohen-Mushlin / H. Thies: Synagogenarchitektur in Deutschland – Vom Barock zum ‚Neuen Bauen‘, Braunschweig 2002. Nach Auskunft von Simon Paulus, einem der Mitautoren, ist die erste Auflage vergriffen, von der zweiten sind ca. noch 500 Exemplare vorrätig (April 2004). Anfragen des Buchhandels seien mit ungefähr zwei Anfragen im Monat zu vernachlässigen, die überwiegende Anzahl der Kataloge werde in den Ausstellungen verkauft oder als Werbung für das Projekt kostenlos abgegeben.

Audio-visuelle Medien 151

größten Städte des entsprechenden Bundeslandes herangezogen. Als Filme sind sowohl „traditionelle“ Filme als auch Filme mit Computer-Rekonstruktionen auszuleihen (siehe hierzu Kapitel 4). Das Angebot der Landesmedienzentren kann bei den traditionellen Filmen unterteilt werden in: Erinnerungen an die Synagoge(n) einer bestimmten Stadt, Erinnerungen an eine Gruppe von Synagogen und Erinnerungen an die politische, historische Situation im Kontext der Reichspogromnacht: Die Mehrzahl der in den Landesmedienzentren angebotenen Medien fokussiert sich auf den politisch-historischen Kontext der Reichspogromnacht. Die in den Medienzentren hierzu angebotenen Filmdokumentationen speisen sich immer aus dem Kreis derselben vier Filme, die zwischen 1960 und 1988 produziert wurden. Der Film „Reichskristallnacht“, der mit neun Bundesländern am häufigsten in den Landesmedienzentren zu finden ist, operiert mit veralteten und beschönigenden Zahlen, da von nur 267 zerstörten Synagogen die Rede ist.247 Filme, die an eine Synagoge einer bestimmten Stadt erinnern, sind nur für wenige, im Anschluss aufgeführte Gotteshäuser zu finden: Altenkirchen, Berlin (Oranienburger Straße), Baisingen, Rexingen, Rhina, Rödingen, Roth. Anders als naheliegend, sind diese Filme keineswegs immer in den Medienzentren der Bundesländer zu finden, in denen die entsprechende Ortschaft liegt. Filme, die an die Gesamtheit der Synagogen in Deutschland erinnern und eine Anschauung des kulturellen Verlustes vermitteln, gibt es nicht. Nur ein Filmdokument wendet sich mit der Thematisierung brandenburgischer Synagogen einer Gruppe von Synagogen zu.

247 In der Filmbeschreibung ist zu lesen: „In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 gingen im Deutschen Reich 267 Synagogen in Flammen auf oder wurden demoliert. Als Rache für die Ermordung des Botschaftssekretärs vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris durch einen jungen polnischen Juden entfesselten die Nazis ein Pogrom, das als ‚Reichskristallnacht‘ in die Geschichte einging. Rekonstruiert werden durch Filmausschnitte, Bilddokumente und Aussagen von Zeitzeugen der Hergang der Ereignisse und die Ausschreitungen, in deren Verlauf jüdische Geschäfte und Wohnungen geplündert oder zerstört, Juden mißhandelt, getötet und in Konzentrationslagern eingesperrt wurden.“ Israel 1988, abrufbar beispielsweise unter der Internetadresse des Medienzentrums Westfalens: http://www.lwl.org/LWL/Kultur/Landesmedien zentrum/. Der Link zu der Filmbeschreibung lautet: http://www.lwl.org/antares/ htdocs/record.phtml?idnr=LABI-4201149&listnr=15&PHPSESSID=ddf2c761 aeebe002ab7c2d096a9ae53b&resultnr=3&config=std, vom 9.01.2005.

152 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen Neu-Einspielungen von original synagogaler Musik Verschiedene Institutionen und Produktionsfirmen haben Chor- und Kantorengesänge, die früher in Synagogen zu hören waren, nach Originalnoten neu eingespielt und auf Schallplatte oder CD veröffentlicht. Je nach Vorbild fand dies mit oder ohne Orgelbegleitung statt. Beispielhaft ist hier die Musik aus den Synagogen Hannover, Mannheim, München und Nürnberg zu nennen. Die Neu-Einspielungen zu Mannheim und Nürnberg wurden von den jeweiligen jüdischen Gemeinden initiiert, die zu München im Kontext eines Projektes des Diaspora-Museums in Tel Aviv.248 Die Original-Musik aus der Synagoge Hannover wurde vom „Europäischen Zentrum für Jüdische Musik“ eingespielt. Diese Institution bemüht sich unter der Leitung von Andor Izsák seit 1997, die Erinnerung an die Musik der zerstörten Synagogen wach zu halten: „Eine ungebrochene jüdische Musikkultur mit jahrhundertealten Wurzeln war bis 1938 fester Bestandteil des europäischen Kulturlebens. In Deutschland und im gesamten deutschsprachigen Raum erlebte die sakrale jüdische Musik seit dem 19. Jahrhundert eine besondere Blüte. Im Zuge der jüdischen Emanzipation artikulierte sich ein starkes Bedürfnis nach einer Reformierung des synagogalen Gottesdienstes. Jüdische Kantoren und Komponisten nahmen die musikalischen Traditionen und Moden ihrer Umwelt auf. Charakteristisch wurde nun das Zusammenspiel von Männerchor (später: gemischtem Chor), Kantorsolo und Orgel. Bis zum 9. November 1938 prägte diese neue liturgische Musik den Gottesdienst der meisten jüdischen Gemeinden in Deutschland. Der 9. November 1938, die sogenannte ‚Reichspogromnacht‘, setzte dieser synagogalen Kultur ein gewaltsames Ende. Heute sind viele der Komponisten und ihre Werke unbekannt; die Orgeln, die die Kantoren in der Synagoge begleiteten, sowie alle weiteren Zeugnisse dieser Musikkultur wurden zerstört oder in alle Welt verstreut. Seit 1988 widmet sich das Europäische Zentrum für Jüdische Musik (EZJM) unter der Leitung seines Direktors Prof. Andor Izsák der Rekonstruktion und Dokumentation der Musik der zerstörten Synagogen.“249

Das Europäische Zentrum für Jüdische Musik hat bis jetzt neun CD-Veröffentlichungen herausgegeben. Sie sind über dessen Website zu beziehen oder über das Medienzentrum Niedersachsen auszuleihen. Die anderen genannten Beispiele sind über den Fachhandel oder den Auftraggeber zu erwerben.

248 Ausgewählte Musikstücke aus den Synagogen Mannheim, München und Nürnberg sind Bestandteil der entsprechenden Computer-Rekonstruktionen geworden. 249 http://www.ezjm.de/ezjm.htm, vom 09.01.2005.

Stärken und Defizite 153

2.3 Stärken und Defizite traditioneller Erinnerungsformen Die Bewertung der Stärken und Defizite traditioneller Formen der Erinnerung an Synagogen greift die Kriterien des ersten Kapitels zu der Wirksamkeit von Erinnerungsformen auf: Anschaulichkeit, Emotionalisierung, Diskurspotential. Diese drei Aspekte bilden die Grundlage für den späteren Vergleich zwischen traditionellen Erinnerungsformen zu Synagogen und computerbasierten, hier insbesondere den 3D-Computer-Rekonstruktionen. Betrachtet man zunächst die Versuche, mit den traditionellen Architektur-Rekonstruktionen Zeichnung und haptisches Modell sich dem Verlust zu nähern, dann kann gesagt werden, dass bei den angefertigten Modellen deutscher Synagogen die Anschaulichkeit der Materialität und die des Innenraums fehlt. Am Beispiel der Synagogen wird auch verdeutlicht, was im ersten Kapitel bereits zur Thematik des städtebaulichen Kontextes festgestellt wurde. Bei den haptischen Synagogen-Modellen wird in der Regel der städtebauliche Kontext nicht dargestellt. Gerade dieser Aspekt ist wichtig, um zu vermitteln in welcher zentralen Lage und in welcher exponierten städtebaulichen Situation jüdische Gotteshäuser errichtet wurden, mit welcher heute nicht mehr nachzuvollziehenden Selbstverständlichkeit sie das Stadtbild mitbestimmten. Ihre Stärke besitzen die haptischen Modelle im musealen Kontext, wo ihre direkte Erfahrbarkeit zum Tragen kommt und, wenn es um die schnelle Vermittlung der äußeren Gestalt geht. Sarah Harel Hoshen vom Diaspora Museum Tel Aviv verdeutlicht diesen Aspekt an der Modellsammlung von 18 Synagogen aus der ganzen Welt, die Bestandteil der dortigen Dauerausstellung ist : “Each model is from another country, another community, has another style, is from another period. In our presentation upstairs you have a Chinese synagogue and a Frank Lloyd Wright synagogue and so one. The aim of this presentation is to show the huge variety of synagogues and to show that the Jews, throughout the ages, took the style and the art from the society in which they lived. This underlines the whole presenta­tion of Beth Hatefutsoth. The Jews were not secluded culturally. They were part of the bigger surrounding culture. This is very much exemplified by the synagogues. The vistor just have to take a short look at the synagogues and he gets this message. For this message, the traditional model is better.”250

Auch im Jüdischen Museum Berlin wird die Verwendung dreier Synagogen-Holzmodelle in diesem Kontext gesehen. Nigel Cox hierzu:

250 Siehe Anhang, Interviews, S. 582.

154 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen “These wooden models are aesthetically nice objects and people look at them, and I suppose somehow they learn more than they know. By that I mean that if you see them, when you didn’t have a clue what a synagogue might look like – but now they have seen one whether they’ve thought about it or not. They saw it and they understood it by seeing. And that’s what’s nice about these models […] you glance once and have an impression.”251

Die Aussagen von Nigel Cox und Sarah Harel Hoshen machen deutlich, dass die haptischen Modelle im Jüdischen Museum Berlin und im Diaspora Museum Tel Aviv den Besuchern in erster Linie eine unmittelbare, leicht wahrnehmbare Vorstellung geben sollen, wie eine Synagoge ausgesehen hat. Es wird auf den schnellen kurzen Blick gezielt, der möglichst viel erfassen soll und den alle Besucher haben können. Aus Sicht der Museums­ pädagogik ist dieses Anliegen nachzuvollziehen und hat im Kontext der in der NS-Zeit zerstörten Synagogen eine nicht zu unterschätzende Wichtigkeit. Denn einer breiten Öffentlichkeit ist weder Aussehen der Synagogen, noch deren Größe oder deren städtebauliche Bedeutung bekannt. Rekonstruktionszeichnungen haben ihre Bedeutung für die Gotteshäuser, für die es keine oder nur ungenügende fotografische Überlieferungen gibt. Das sind in der Regel kleinere Synagogen. Nicht selten findet man an diesen Standorten noch Bausubstanz, die allerdings durch Umbauten kaum noch an die einstige Nutzung erinnert. So stellen die Zeichnungen oft die einzige Veranschaulichung der ehemaligen Synagoge dar. Sowohl in Ausstellungen wie in Publikationen finden diese Zeichnungen Verwendung, so beispielsweise Rekonstruktionen zur Synagoge Genthin der TU Braunschweig in Form von Grundriss- und Ansichtszeichnungen oder in Form von perspektivischen Zeichnungen wie bei der Synagoge Düsseldorf Benrath (Abb. S. 144). In nicht wenigen Fällen haben Zeitzeugen Skizzen und Zeichnungen angefertigt oder Hinweise über das einstige Erscheinungsbild gegeben. Als Beispiel sei die Synagoge Mutterstadt angeführt, für die ein ortsansässiger Maler nach den Angaben eines in Amerika lebenden Zeitzeugen Aquarellzeichnungen für den nicht fotografisch überlieferten Innenraum anfertigte (Abb. S. 144). Für die meisten Synagogen, insbesondere für die städtischen, haben Zeichnungen und malerische Darstellungen allerdings in diesem Sinne keine Bedeutung, da hier meistens noch Fotografien existieren, die wesentlich anschaulicher den Verlust verdeutlichen. Fragt man nun nach der Veranschaulichung der zerstörten Architektur am authentischen Ort, dann ist zunächst die Unterteilung in Standorte mit

251 Siehe Anhang, Interviews, S. 558.

Stärken und Defizite 155

erhaltener Bausubstanz und solche ohne bzw. ohne erkennbare Originalbausubstanz vorzunehmen. Bei den Standorten, an denen noch relativ viel Bausubstanz erhalten ist – wir können hier von etwa 200 Bauwerken ausgehen – ist ein seit den 80er Jahren einsetzendes Bemühen festzustellen, die Besonderheit des Ortes der Öffentlichkeit zu vermitteln. Dass hierbei die bauliche Rekonstruktion am besten geeignet ist, sich wieder eine Vorstellung von einer zerstörten Synagoge zu machen, ist evident. In diesem Zusammenhang sei noch mal darauf verwiesen, dass sehr unterschiedliche Konzepte existieren: Die Bandbreite erstreckt sich von der Totalrekonstruktion bis hin zu der Konservierung aller Spuren der Geschichte, seien es Spuren der Zerstörung oder Spuren der späteren Nutzungen. Unter dem Aspekt der Erinnerung scheint es sinnvoll zu sein, nicht nur die Erinnerung an das Gebäude selbst, sondern auch die Erinnerung an die Zerstörung und den Umgang nach 1945 zu fassen. In diesem Sinne sind die Teilrestaurierungen und das Sichtbarlassen der Spuren, wie sie bei den Synagogen Baisingen oder Kippenheim beispielhaft zu finden sind, als Idealfall anzusehen. Auch Salomon Korn bemerkt kritisch zu den baulichen Rekonstruktionen: „Die Rekonstruktion am authentischen Ort darf natürlich nie dazu führen, dass man etwas so rekonstruiert, als wäre nichts geschehen. Das heißt, am authentischen Ort muss klar werden, wie die Geschichte durch dieses Gebäude hindurch geflossen ist und wie sie weiter durch dieses Gebäude oder den Ort ohne Synagoge fließt. Ich war kürzlich in Augsburg. Da hat man die Synagoge nicht rekonstruiert, sie ist ja erhalten geblieben. Sie war, glaube ich, nur teilbeschädigt. Da erkennt man kaum etwas von der Zerstörung. Ich war mir nicht sicher, ob das ausreichend ist. Es gab eine kleine Ausstellung im Vorraum. Aber das Ganze sah aus, als wäre nichts geschehen – zumindest für den unvoreingenommenen Besucher. Ich denke schon, dass man auf eine Darstellung hinwirken soll, die für den Besucher erkennbar macht, was mit diesen Gebäuden geschehen ist, und dann auch auf einer zweiten Ebene, warum es geschehen ist.“252

So gesehen kann an den Standorten mit verbliebener Bausubstanz von einem Dilemma gesprochen werden. Einerseits möchte man sich möglichst an das zerstörte Original annähern und durch Restaurierungen und bauliche Rekonstruktionen zeigen, welche Pracht die Synagoge einst besaß, andererseits zerstört man eventuell dadurch die Spuren der Zerstörung und am Objekt selber kann die Geschichte nicht mehr verdeutlicht werden. Ist viel zerstört und man nimmt keine Restaurierung / Re-

252 Siehe Anhang, Interviews, S. 596.

156 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen konstruktion vor, fehlt unter Umständen die Anschaulichkeit dessen, wie die Synagoge ausgesehen hat. Eine Emotionalisierung im Sinne einer Irritation, die zu weiterreichender Auseinandersetzung führen kann, erreichen die authentischen Orte mit erhaltener Bausubstanz besonders gut, wenn die Differenz zwischen früherer Pracht und heutiger Existenz deutlich wird. Die Berliner Synagoge Oranienburger Straße ist hier als eindrucksvolles Beispiel schon beschrieben worden: So schaut man bei dieser Gedenkstätte aus einem Bogen der Vorhalle nicht in den prächtigen Hauptraum, der zerstört ist, sondern in eine Schwarz-Weiß-Fotografie mit derselben Perspektive. Die Leerstelle des fehlenden Hauptraums sieht man dann später. Die Standorte der ehemaligen Säulen sind im Grundriss markiert, der Bereich des Aron Hakodesch dreidimensional in abstrakter Form nachgebildet und der Aufgang zur Torawand durch Fragmente der originalen Steintreppe angedeutet. (Abb. S. 128, 129) An den Standorten, an denen keine Bausubstanz mehr vorhanden ist oder diese so umgebaut wurde, dass die frühere besondere Nutzung nicht mehr erkennbar ist, sind anschauliche Vermittlungen des Zerstörten eher Ausnahmen. In der Regel stehen rein textliche Informationen zur Verfügung. An den meisten Standorten ist nicht nachzuvollziehen, welche Gestalt das zu erinnernde Gotteshaus hatte. An den wenigen Standorten, an denen bildliche Informationen gegeben werden, beschränken sie sich in fast allen Fällen auf das Abbild der äußeren Gestalt. Nur an wenigen Orten vermitteln Gedenkstätten Dimensionen der früheren Gebäude, verdeutlichen Spolien die frühere Materialität der Bauwerke. Neben der geringen Anschaulichkeit sind auch Defizite im Bereich der textlichen Informationen und der Inschriften auf Gedenktafeln und Mahnmalen festzustellen. Außer auf Beschönigungen und auf mangelnde inhaltliche Aussagen sei hier nochmals auf das Fehlen einer Bezugnahme zu den landesweiten Aktionen hingewiesen, ein Umstand, der besonders deswegen ins Gewicht fällt, da die Ausmaße der Pogrome im November 1938 bis heute selbst in Fachpublikationen in ihrer Dimension völlig falsch dargestellt werden bzw. auf überholte Zahlen zurückgegriffen wird.253 Die Isoliertheit von Informationen und eine mangelnde Anschaulichkeit zieht sich insgesamt durch die verschiedenen traditionellen Erinnerungsformen. Das in den Landesmedienzentren angebotene traditionelle Filmmaterial bietet ebenfalls wenig Anschaulichkeit hinsichtlich der zerstörten 253 Als Beispiel sei die Dokumentation des Auschwitz-Prozesses vom Fritz Bauer Institut genannt. Dort ist auf Seite 188 zu lesen, dass während des Novemberpogroms 267 Synagogen zerstört worden seien. Die Publikation erschien im Jahre 2004. Wojak, Irmtrud / Fritz Bauer Institut (Hg.): Auschwitz-Prozeß - 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 27. März bis 23. Mai 2004 im Haus Gallus in Frankfurt am Main, Köln 2004.

Stärken und Defizite 157

Synagogen. Es wird sich auf die historischen Ereignisse der Pogromnacht konzentriert. Die angebotenen Filme weisen zudem oft veraltete Informationen bezüglich der Anzahl zerstörter Synagogen auf. Betrachtet man den Bereich der gedruckten Publikation, dann fällt auf, dass es bis heute keine über die üblichen Distributionswege zu beziehende Publikation gibt, welche die Gesamtheit der deutschen Synagogen erfasst. Weder über die genaue Anzahl der existenten Synagogen auf dem Gebiet des heutigen Deutschland noch über das exakte Ausmaß der Zerstörung liegen nachvollziehbare Statistiken vor, obwohl zu fast allen Bundesländern und zu vielen Kommunen Informationen vorhanden sind. Die Informationen existieren nebeneinander, ohne dass sie untereinander in Bezug gesetzt werden. Die Summe aller heutigen Publikationen zu den einzelnen Bundesländern, die in etwa zwanzig bis dreißig Büchern vorliegen, könnte bereits ein Gesamtbild ergeben, auch wenn der Informationsstand hinsichtlich der Aktualität der Veröffentlichungen sehr unterschiedlich ist. Zu einigen Bundesländern sind die Informationen 20 Jahre alt, zu anderen sind in den letzten Jahren Publikationen erschienen und zu weiteren sollen in den nächsten Jahren zum ersten Mal Übersichten entstehen. Die mangelnde Aktualität oder das Fehlen von Publikationen zu einzelnen Bundesländern ist umso bedauerlicher, da in den letzten 20 Jahren Dank vieler lokaler Initiativen neue Informationen zu Synagogen zusammengetragen wurden und auch die Situation am authentischen Ort sich vielerorts veränderte. Man kann auch von einer gewissen Schwerfälligkeit in Hinblick auf die Aktualisierung bzw. Erstveröffentlichung des Mediums „Buch“ sprechen. Neben einem spät einsetzenden Forschungsinteresse ist diese Schwerfälligkeit dem Umstand geschuldet, dass das Thema Synagogen mit nur einem kleinen Kreis Interessierter ein Randthema darstellt. Im Verhältnis zu der potentiellen Anzahl der Abnehmer sind relativ hohe Produktionskosten zu finanzieren. Die fast durchweg kleinen Auflagen bei den Buchpublikationen haben auch dazu geführt, dass einige Bücher im Handel nicht mehr erhältlich sind, so dass man zumindest für Laien von einer Hemmschwelle bei der Informationsbeschaffung sprechen kann. Weiter lassen die relativ hohen Preise um 50 Euro, wie sie beispielsweise für aktuelle Publikationen zu einzelnen Bundesländern bestehen, Gelegenheitskäufe als unwahrscheinlich erscheinen.254 Die Informationen erreichen so in der Regel nur einen kleinen Kreis schon Interessierter. Dennoch haben diese

254 Als Beispiele sind die Publikationen zu Rheinland-Pfalz / Saarland (2005, 51 Euro), zu Nordrhein-Westfalen (1999, 88 DM) oder zu Niedersachsen / Bremen (2005, 59 Euro) zu nennen.

158 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen Publikationen eine große Bedeutung als Dokumentation des Wissensund Forschungsstands. Wendet man sich dem Aspekt der Erzeugung von Öffentlichkeit zu, dann ist festzustellen, dass traditionelle Erinnerungsformen bis auf wenige Ausnahmen wie die Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt 1988 oder die Teil-Restaurierung der Berliner Synagoge in der Oranienburger Straße und die Eröffnung der dortigen Gedenkstätte keine große bundesweite Öffentlichkeit erzeugt haben. Die Buchpublikationen erreichen mit ihren kleinen Auflagen auch unter Berücksichtigung des Einsatzes in Bibliotheken nur eine kleine Leserschaft. Im Mittel kann von einer Auflage von 2.250 Exemplaren gesprochen werden.255 Gleiches gilt für Ausstellungen mit haptischen Architekturmodellen der TU Braunschweig, bei denen die Anzahl der Besucher nach Angaben der Verantwortlichen zwischen einigen Hundert und 2.000 schwankte. Rekonstruktionszeichnungen und malerische Darstellungen sind in der Regel auf eine lokale Bedeutung begrenzt. Sie finden allerdings auch Verwendung in Buchpublikationen über Synagogen einzelner Bundesländer, wie das Beispiel der Publikation zu Nordrhein-Westfalen zeigt (Abb. S. 144).256 Im Sinne der Vergleichbarkeit mit dem Projekt der 3D-Computer-Rekonstruktionen der TU Darmstadt sei an dieser Stelle auch auf die Medienresonanz des Braunschweiger Projektes insgesamt eingegangen. Das aus Braunschweig übermittelte Medienecho ergibt, dass über das Projekt unter drei Aspekten berichtet wurde: erstens Berichte im Kontext der Ausstellungen, zweitens im Kontext von Bestandsaufnahmen und Aufmaßarbeiten vor Ort und drittens im Zusammenhang mit den Forschungsvorhaben, den Informationen über die Stiftung Beth Filia und den Tagungen, auf denen Vertreter aus Braunschweig Vorträge hielten. Während die Bestandsaufnahmen vor Ort eine lokale Berichterstattung mit sich zog, konnten die Ausstellungen und das Forschungsvorhaben auch regionale Printmedien interessieren. Artikel in der „Allgemeinen Zeitung Hannover“ oder in der „Braunschweiger Zeitung“ sind als Beispiele zu nennen. Die Berichterstattung in überregionalen Blättern blieb bis jetzt mit Veröffentlichungen in der „Süddeutschen“ und der „WAZ“ eine Ausnahme. Ob auch in der ausländischen Presse oder im Fernsehen speziell über das Projekt berichtet wurde, ist in Braunschweig nicht bekannt. Außerhalb des Museums, wenn haptische Modelle auf eine zweidimensionale Abbildung reduziert werden, verlieren sie ihr Potential und scheinen für die Medien keine besondere Attraktivität zu besitzen, wie die Medienauswertung des Braunschweiger Projektes zeigt. 255 Siehe Abschnitt 2.2.4 Buch, Broschüre, Katalog. 256 Schwarz / Brocke 1999, S. 134.

Zusammenfassung 159

Wenn man abschließend versuchen müsste, die Defizite der traditionellen Formen der Erinnerung an Synagogen zusammenfassend zu skizzieren, dann könnte man von einer mangelnden Anschaulichkeit in Hinblick auf die nicht mehr existente Architektur sprechen sowie davon, dass Informationen isoliert von einander existieren und für einige Bundesländer nicht aktuell sind. Bis auf wenige Ausnahmen konnten traditionelle Erinnerungsformen keine große Öffentlichkeit erreichen. Dem Verlust des kommunikativen Gedächtnisses durch Aussterben der Zeitzeugengeneration ist in Hinsicht auf die Erinnerung an die Synagogen nur in verhältnismäßig wenigen Fällen durch Dokumentationen etwas entgegengesetzt worden. Die Fülle der Erinnerungen geht verloren, ohne dass sie genutzt werden konnte. Es ist nun zu fragen, ob die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien diese Defizite ausgleichen können, und ob sie Stärken aufweisen, die traditionelle Erinnerungsformen nicht besitzen. Bevor aber diese Fragestellungen Gegenstand der Betrachtung werden, erfolgt zunächst eine allgemeine Einführung in die Thematik „Erinnerungskultur und digitale Technologien“, in die dort verwendeten Begriffe und in den Forschungsstand.

2.4 Zusammenfassung Die Erinnerung an die zerstörten Synagogen begann in Deutschland erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in größerem Umfang. Erste Ausstellungen, vermehrte Publikationen und das Entstehen örtlicher Initiativen sind hier zu nennen. Gerade ehrenamtlichen Aktivitäten ist es zu verdanken, dass vielerorts die Geschichte der Synagogen und der jüdischen Gemeinden aufgearbeitet, an den Standorten der ehemaligen Gotteshäuser Erinnerungszeichen errichtet oder erhaltene Bauwerke gesichert und einer würdigen Nutzung zugeführt wurden. Die Bestandsaufnahme der traditionellen Formen der Erinnerung an Synagogen hat einige Defizite aufgezeigt. An erster Stelle ist eine mangelnde Anschaulichkeit zu nennen, die sowohl traditionelle Formen der Rekonstruktionen wie Zeichnung oder Modell als auch die Erinnerung am authentischen Ort und in ortsunabhängigen Medien umfasst. Dies betrifft insbesondere die Innenräume, die Materialität und den städtebaulichen Kontext. Am authentischen Ort ist bei den Standorten mit erhaltener Bausubstanz ein Dilemma festzustellen: Restauriert man die Synagogen um zu zeigen, wie sie einmal ausgesehen haben, verlieren sich die Spuren der Geschichte, die Spuren von der Zerstörung bis hin zu denen der Fremdnutzungen nach 1945. Lässt man die Spuren sichtbar, fehlt (eventuell)

160 Synagogen in Deutschland – Traditionelle Erinnerungsformen umgekehrt die Anschaulichkeit der einstigen Pracht. An den Standorten ohne erhaltene Bausubstanz – und dies stellt die überwiegende Anzahl dar – ist nicht nachvollziehbar, welche Gestalt, welche Bedeutung die jüdischen Gotteshäuser einst im Stadtraum besaßen. Eine Emotionalisierung im Sinne einer Irritation, die zu weiterreichender Auseinandersetzung führen kann, ist dort am eindringlichsten, wo gleichzeitig die eins­ tige Pracht und die Spuren der Zerstörung erfahrbar sind. Neben den im Vergleich zur Gesamtzahl der einstigen Synagogenstandorte wenigen eindrucksvollen Erinnerungsformen am authentischen Ort haben traditionelle Rekonstruktionsformen im Modell ihre größte Bedeutung. Da Modelle in Ausstellungen den Besuchern das Erscheinungsbild einer Synagoge innerhalb kürzester Zeit vermitteln können und einer breiten Öffentlichkeit das Aussehen einer Synagoge weitgehend unbekannt ist, kann hier von einer großen Effektivität gesprochen werden. Dennoch haben die traditionellen Erinnerungsformen bis auf wenige Ausnahmen insgesamt nur eine relativ geringe Publizität erreicht. Dies gilt auch für die Berichterstattung in den Medien. Bei ortsunabhängigen Erinnerungsformen wie beim Medium Buch und bei Ton- und Bildträgern waren Grenzen der Verfügbarkeit und Hürden der Informationsbeschaffung sowie eine gewisse Schwerfälligkeit hinsichtlich der Aktualisierung festzustellen. Bei der Erinnerung an die Synagogen ist weiter von einer Isoliertheit der Information auszugehen. Die Anzahl der ehemals existenten Synagogen auf dem Gebiet des heutigen Deutschland, die Zahl der zerstörten und geschändeten Gotteshäuser und das Ausmaß der Zerstörungen in der NS-Zeit sind bis heute nicht exakt bekannt. Viele Publikationen sind veraltet und nicht mehr aktuell. Die Gesamtheit der Zerstörung ist weiten Teilen der Öffentlichkeit nicht bewusst, falsche Zahlen werden auch von Seiten renommierter Institutionen bis heute publiziert. Die fehlende Gesamtperspektive spiegelt sich auch in den Informationen wider, die am authentischen Ort vermittelt werden.

Kapitel 3 Erinnerungskultur und digitale Technologien Eine Einführung

Das dritte Kapitel ist als Einführung für den Bereich Erinnerungskultur und digitale Technologien zu verstehen. Es soll deutlich machen, welche Potentiale und Randbedingungen in den 3D-Computer-Rekonstruktionen und im Internet für die Erinnerungskultur im Allgemeinen zu sehen sind und dient als Basis für das vierte Kapitel, das den Einsatz dieser Technologien für die Erinnerung an die zerstörten Synagogen zum Thema hat. Die in diesem Kapitel geschaffenen Grundlagen machen es einerseits möglich, die im Kontext des Themas Synagogen gewonnenen Erkenntnisse in einen allgemeinen Kontext einzuordnen, und andererseits können die entwickelten Thesen am konkreten Beispiel der Synagogen überprüft werden. Am Anfang stehen die Begriffsklärungen und die Darlegung des Forschungsstandes. Dann erfolgt die Behandlung der beiden Schwerpunkte der Studie – 3D-Computer-Rekonstruktion und Internet. Bei den 3D-Computer-Rekonstruktionen werden zunächst die grundlegenden Aspekte Produktion, Präsentation und Wahrnehmung angesprochen. In einem anschließenden Vergleich zwischen den traditionellen Architektur-Rekonstruktionen und der 3D-Computer-Rekonstruktion ­sollen­ die prinzipiellen Potentiale, Randbedingungen und Grenzen dieser digitalen Technologie für die Erinnerung an zerstörte Architektur aufgezeigt werden. Der zweite Teil dieses Kapitels widmet sich dem Internet als neuem Medium der Vermittlung und Kommunikation in der Erinnerungslandschaft. Neben einer allgemeinen Einleitung zum Medium Internet wird ein typologischer Überblick über Websites mit erinnerndem Charakter hinsichtlich der Frage gegeben, wer die entsprechende Internetpräsentation mit welchem Selbstverständnis und welcher Zielsetzung betreibt. Im Anschluss folgt der Versuch, die Potentiale, die Möglichkeiten und die Grenzen dieses Mediums für die Erinnerungskultur anhand einer Gegenüberstellung mit den Möglichkeiten traditioneller Formen der Erinnerung zu skizzieren.

162 Erinnerungskultur und digitale Technologien 3.1 Begriffsklärungen und Forschungsstand Es war am Anfang bereits von der prinzipiellen Unterscheidung in traditionelle Formen der Erinnerung und solchen Erinnerungsformen, die auf Informations- und Kommunikationstechnologien basieren, die Rede. Dies soll an dieser Stelle aufgegriffen und vertieft werden. „Traditionell“ ist im Sinne von „seit langem bzw. längerem gebräuchlich“ und im Sinne von „bewährt“ skizziert worden. Computerbasierte Erinnerungsformen wurden in Anlehnung an eine Definition von Stefan Bollmann für den Begriff der „Neuen Medien“ und im Kontext einer vergleichsweise langen Entfaltungszeit traditioneller Erinnerungsformen als „Verfahren und Mittel, die mit Hilfe digitaler Technologie, also computerunterstützt, bislang nicht gebräuchliche Formen von Informationsverarbeitung, Informationsspeicherung und Informationsübertragung, aber auch neuartige Formen von Kommunikation“ im Kontext von Erinnern ermöglichen, definiert.257 Als „neue“ Form der Informationsverarbeitung sind die 3D-Computer-Rekonstruktionen, als „neue“ Form der Kommunikation das Internet zu sehen. Unter 3D-Computer-Rekonstruktion ist die Nachbildung nicht mehr vorhandener oder stark veränderter Bauwerke und Stadtanlagen im Computer in Form eines dreidimensionalen Modells zu verstehen. Von computerbasierten Erinnerungsformen ist zu sprechen, wenn auf Basis des Einsatzes von digitaler Technologie oder, genauer ausgedrückt, von Informations- und Kommunikationstechnologie neue Möglichkeiten bei der Aufarbeitung, Rezeption, Präsentation und Verarbeitung von erinnerungsrelevanten Inhalten entstehen. Wichtig für das Verständnis der Digitalität ist das gestaltlose Speichern der Information in Nullen und Einsen, deren beschädigungsfreier Zerlegung und Wieder-Zusammensetzung je nach Soft- und Hardware, je nach Ausgabegerät (Interface). Erst das Interface und die entsprechende Software formen die Gestalt. Ein digitaler Text zum Beispiel kann mit dem Computer am Bildschirm angezeigt werden, er kann aber auch bei entsprechender Software „vorgelesen“ werden. Das macht den Unterschied zum Analogen aus. Dort ist Interface und 257 Vgl. hierzu Bollmann 1998, S. 12. Bollmann definiert Neue Medien als: „alle Verfahren und Mittel, die mit Hilfe digitaler Technologie, also computerunterstützt, bislang nicht gebräuchliche Formen von Informationsverarbeitung, Informationsspeicherung und Informationsübertragung, aber auch neuartige Formen von Kommunikation ermöglichen.“ In der vorliegenden Studie kommt der Begriff der „Neuen Medien“ in der Regel nicht zur Anwendung, da er nach wie vor sehr unterschiedlich definiert bzw. weit gefasst wird. Dieser Umstand, aber auch das Attribut „Neu“, führt schnell zu Missverständnissen oder anderen Ebenen der Diskussion, so zu der Frage, ob jenes Medium oder jene digitale Anwendung überhaupt als neu zu bezeichnen sei, und lenkt somit vom intendierten Thema ab.

Begriffsklärungen und Forschungsstand 163

Information eins. Das Buch kann „nur“ gelesen werden. Prinzipiell wird „digital“ als Synonym für Informations- und Kommunikationstechnologie verwendet. In diesem Sinne ist auch der Begriff der Immaterialität zu sehen. Information ist hier in ihrer Form der Speicherung mit den klassischen Sinnen nicht direkt wahrnehmbar, rezipierbar, es bedarf der Schnittstelle mit einem Interface, das die in Nullen und Einsen gespeicherte Information­ für die menschlichen Sinnesorgane wahrnehmbar macht. Die Information selber ist immateriell, gestaltlos und materialisiert sich im Interface. Das ist der Unterschied zu den materiell vorliegenden Dingen, bei denen Speicherung und Gestalt zusammenfallen. Das materiell vorliegende Architekturmodell oder die Zeichnung sind Darstellung und Speichermedium in einem. Die Begriffe „Web“, „Netz“, „online“ und „WWW“ repräsentieren den Internetdienst „World Wide Web“, der seit 1995 das Internet dominiert. Auch die Bezeichnung „Internet“ als Überbegriff kommt zur Anwendung. Als Website, Internetauftritt oder Internetpräsentation werden Veröffentlichungen von Einzelpersonen oder Institutionen im Internet bezeichnet. Diese Veröffentlichungen umfassen in der Regel mehrere (Web)Seiten und eine Startseite, welche die ersten Informationen und die Navigationsstruktur bereithält.258 Internetauftritte, deren Gegenstand die Erinnerung an ein Ereignis, eine Person oder dergleichen darstellt, werden als „Websites mit erinnerndem Charakter“ oder „Websites im Kontext von Erinnerung“ bezeichnet. Forschungsstand Bei Beginn der Recherchen zu dieser Forschungsarbeit bestand das Problem, dass für den Themenkomplex „Erinnerung und digitale Technologie“ sowohl im Allgemeinen als auch im Bezug auf Architektur nur auf wenige Forschungsergebnisse zurückgegriffen werden konnte. Im Bereich des Erinnerns an zerstörte Architektur ist eine Reflexion darüber, was neue Informations- und Kommunikationstechnologien zu leis­ten vermögen, bis heute mehr in Form von Projektbeschreibungen, Projektrezensionen, Feuilletonberichten, Kongressbeiträgen oder kürzeren Beiträgen zu verorten, als in Forschungsstudien. Meist steht ein spezielles Projekt im Vordergrund, in der Regel eine 3D-Computer-Rekonstruktion, und das Hauptaugenmerk wird auf das Ergebnis in Form von Bildern und / oder auf die Inhalte der jeweiligen Projekte gelegt, ohne dass eine explizite Bezugnahme auf Diskurse im Kontext von Erinnerungskultur und 258 Zur Unterscheidung Website und Webseite siehe auch W. Dornik: Erinnerungskulturen im Cyberspace, Berlin 2004, S. 17.

164 Erinnerungskultur und digitale Technologien kulturellem Gedächtnis erfolgt. Die Forschung steht in diesem Bereich am Anfang, sicher auch wegen der kurzen Zeitspanne, in der 3D-ComputerRekonstruktionen bis jetzt zur Anwendung gekommen sind. Eine Ausnahme bildet die Diskussion um „Culture Heritage“ und digitale Technologien, ein Themenfeld, das gerade auf Kongressen der letzten Jahre verstärkt behandelt wurde. Unter denjenigen Kunsthistorikern, Archäologen, Architekten und ITFachleuten, die eine Anwendung der 3D-Computer-Rekonstruktionen befürworten bzw. diese selbst erstellen, besteht weitgehend Einigkeit über die neuen Möglichkeiten, die diese Technologie bietet. Große Anschaulichkeit, Interaktivität, Klärung der Räumlichkeit durch Bewegung, Einbindung begleitender inhaltlicher Informationen, Möglichkeit der Simulation technischer und physikalischer Prozesse, Verdichtung von Wissen können hier vor allem genannt werden.259 Eine anschauliche, systematische Darstellung dieser Potentiale und ein konkreter Vergleich zu traditionellen Rekonstruktionsformen fehlt noch. Darüber hinaus sind weitere Aspekte wie Emotionalisierung und Diskurspotential, die in den beiden vorherigen Kapiteln im Kontext von Architektur und Wirksamkeit von Erinnerungsformen entwickelt wurden, sowie der Erstellungs-, Präsentationsund Erhaltungsaufwand kaum diskutiert. Während der langjährigen Erfahrung im Bereich der 3D-Computer-Rekonstruktionen war aus dem Kreis der Historiker, Bau- und Kunsthistoriker und Medienvertreter neben Begeisterung für die neuen Möglichkeiten auch immer wieder Skepsis gegenüber den neuen digitalen Möglichkeiten zu vernehmen gewesen. Nicht selten wurde hinter vorgehaltener Hand dem Einsatz dieser Technik per se etwas Unseriöses unterstellt. Die vorliegende Studie versucht zum einen, zu einer Versachlichung der Diskussion beizutragen und zum anderen, Bezugspunkte zum Diskurs der Erinnerungskultur zu entwickeln. Auch bei dem zweiten Schwerpunkt der Studie – Internet und Erinnerung – steht die Forschung erst am Anfang, hier ist allerdings eine verstärkte Forschungstätigkeit zu verzeichnen. Während zu Beginn der Bearbeitung Beispiele von Websites, welche die Potentiale des Mediums verwirklichen, nur in begrenzter Anzahl umgesetzt bzw. rezensiert und Untersuchungen zur Bedeutung des Internets für die Erinnerungskultur kaum auszumachen waren, schon gar nicht Studien, die auch die technischen Komponenten miteinbeziehen, finden sich in den letzten zwei bis

259 Vergleich hierzu beispielsweise die Beiträge von Marcus Frings, Marc Grellert, Hubertus Günther, Stephan Hoppe, Manfred Koob und Herrmann Schlimme in dem Tagungsband „Der Modelle Tugend: CAD und die neuen Räume der Kunstgeschichte, M. Frings (Hg.), Weimar 2001.

Begriffsklärungen und Forschungsstand 165

drei Jahren vermehrt Publikationen zu diesem Thema. Lange Zeit galt, dass selbst dort, wo sich explizit zu Erinnerung im Kontext von Internet und digitalen Technologien geäußert wurde, in der Regel die Bezugnahme auf konkrete Beispiele fehlte. Es wurde sich allgemein auf eine zu erwartende Entwicklung bezogen, bei der es zweifellos schien, dass den digitalen Technologien immer mehr an Bedeutung zukommt. Das Hauptaugenmerk wurde auf die Potenz der Speicherkapazität gelegt und auf Bezüge zu dem Begriff des „Gedächtnisses“. Aleida Assmann, hier stellvertretend genannt, kommt 1999 zu der Einschätzung, dass das „digitale Zeitalter“ möglicherweise „ganz neue Formen des Archivierens erfinden“260 wird. Hans Ulrich Reck sieht in der „Technisierung der Gedächtnisspeicher“ die „Vollendung des enzyklopädischen Ideals“, allerdings verknüpft mit dem „Alptraum“ der Datenflut261. Genau das macht Florian Rötzer zum Thema, wenn er im Zusammenhang mit dem Internet darlegt, dass es in diesem Medium in Zukunft um die Inszenierung von Aufmerksamkeit262 geht. Elena Esposito sieht im Internet die Chance eines „dynamische[n] Gedächtnisses“, das nur die „interessantesten Daten sichtet, ohne alle anderen mit in Rechnung zu stellen“ und „in dem die gegenseitigen Verknüpfungen mehr zählen als die Inhalte“. Sie misst dem Netz eine große „Vergessensbefähigung“ zu, ein Umstand, der einen „enorme[n] Wirksamkeitsgewinn“ bedeutet.263 Mit der Zunahme von Internetpräsentationen mit erinnerndem Charakter und der Weiterentwicklung bestehender Angebote in den letzten Jahren ist in Publikationen auch ein vermehrter Bezug auf konkrete Internetpräsentationen zu registrieren. Der dominante Fokus auf die Begriffe Gedächtnis und Speicher trat zurück, andere Aspekte kamen hinzu. In der Regel wurde allerdings nur ein einzelner Internetauftritt oder eine kleine Auswahl einzelner Websites analysiert. In diesem Sinne stellen Claus Leggewie und Erik Meyer fest, dass zwar „erste Forschungserträge“ vorliegen, „es fehlt aber noch die systematische Reflexion der gegenwärtigen gesellschaftlichen Organisation erinnerungskultureller Weitergabe in Bezug auf ‚neue‘, das heißt digitale und interaktive Medien“264. Auch sie 260 A. Assmann 1999, S. 21. 261 H. U. Reck: Totales Erinnern und Vergessensphobie – Aktueller Gedächtniskult und digitale Speichereuphorie in: Kunstforum International – Die aktuelle Zeitschrift für alle Bereiche der bildenden Kunst, Band 148, Dezember 1999 – Januar 2000, Ressource­ Aufmerksamkeit – Ästhetik in der Informationsgesellschaft, Köln 1999, S. 49. 262 Vgl. F. Rötzer: Inszenierung von Aufmerksamkeitsfallen, Kunstforum International, Bd. 148, Dezember 1999 – Januar 2000, S. 52-77. 263 E. Esposito: Soziales Vergessen, Frankfurt am Main 2001, S. 342. 264 C. Leggewie / E. Meyer: Visualisierung und Virtualisierung von Erinnerung: Geschichtspolitik in der medialen Erlebnisgesellschaft. Skizze des Teilprojekts

166 Erinnerungskultur und digitale Technologien konstatieren, dass die „neue Dimension“ der „Digitalisierung“ für die Erinnerungskulturen meist in Hinblick auf die „erhöhte[n] Speicherkapazitäten“ thematisiert worden ist. Wenig bearbeitet worden sind ihre „dynamischen, multimedialen und interaktiven Dimensionen, die eine neue Qualität der Inszenierung und Fiktionalisierung historischer Ereignisse herstellen.“265 In Bezug auf Websites, die den Anschlag auf das World Trade Center am 9. September 2001 zum Thema haben, kommen Meyer / Leggewie zu der Einschätzung, dass sich bei der „Online-Repräsentation des Gedenkens [...] auch andere Kollektive als die Nation in den Mittelpunkt der Kommemoration“ stellen lassen können. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von „Portale[n] der Erinnerung“, die einen „Ausblick auf die Entwicklung von ‚Medien des kollektiven Gedächtnisses‘ im Kontext kultureller Glokalisierung“ gewähren.266 Leggewie und Meyer betonen, dass zunächst für ihr Forschungsvorhaben „eine empirische Bestandsaufnahme exemplarischer Anwendungen und Artefakte aus dem Bereich digitaler und interaktiver Medien sowie deren typologische Einordnung“267 Voraussetzung sei. Neben der Untersuchung der zunehmenden Bedeutung „bildhafter Darstellungen“268 – Leggewie und Meyer sprechen hier von „Visualisierung und Virtualisierung“ von Erinnerung – geht es ihnen um die Analyse der „organisatorische[n] Trägerschaft betreffender Angebote und ihre Einbettung in existierende Strukturen entsprechender Institutionen“.269 In erster Überlegung sehen sie Veränderungen im Feld der „Akteure“. Zu den „zivilgesellschaftlichen“ und „politischadministrativen“ Akteuren einer „vornehmlich nationalstaatlich verfasste[n] Kommemoration“ kommen solche hinzu, die in „einer tendenziell marktförmigen Strukturierung“ ihre Produkte anbieten. „Diese Entwicklung entfaltet sich schließlich im Prozess kultureller Globalisierung: Über die Konkurrenz und Kooperation von tendenziell weltweit zugänglichen Angeboten und vergleichbaren Institutionen gehen internationale Standards in deren Konzeption ein.“270

E 11 im Sonderforschungsbereich ‚Erinnerungskulturen‘ an der Justus-Liebig-Universität Gießen, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1, [09.06.2004], Absatz 6, http://www.zeitenblicke.historicum.net/2004/01/leggewie/index.html, vom 05.08.2005. 265 Ebd., Abstract. 266 E. Meyer / C. Leggewie: „Collecting Today for Tomorrow“. Medien des kollektiven Gedächtnisses am Beispiel des ‚Elften September‘, in: A. Erll, / A. Nünning (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses – Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin 2004, S. 290 – 291. 267 Leggewie / Meyer 2004, Absatz 6. 268 Ebd., Abstract. 269 Ebd., Absatz 6. 270 Ebd., Absatz 10.

Begriffsklärungen und Forschungsstand 167

Rosemarie Beier legt den Fokus ihrer Betrachtungen mehr auf den Rezipienten als auf den Produzenten von Erinnerung. Sie sieht in den Neuen Medien eine „neue Sinnlichkeit“ und „Raum für die individuelle, subjektive Erinnerung [...) Die Informationen können individuell aufgerufen, kombiniert werden; Mischungen aus Text, Foto, Filmmaterial und Originaltönen schaffen neue Erlebniswelten; durch individuell bestimmte Zugriffe, Kommentare, links werden für den ‚User‘ neue Wege der Erschließung geschaffen.“271 Die Websites www.remember.org und „The Virtual Wall“ stehen für sie als Beispiele, in denen das Internet den Rezipienten „neue Dimensionen“ bietet, nämlich „die Möglichkeit, in die Position eines der Akteure zu rücken, wie die Möglichkeit, selbst repräsentierte Geschichte zu überschreiben und zu kommentieren“.272 Damit könnte allerdings gleichzeitig die „Interpretations- und Darstellungsautorität“ der Fachdisziplin Geschichtswissenschaft verloren gehen.273 Für Beier spiegeln die „Neuen Medien“ einen, auch in anderen Feldern festzustellenden, Trend zur „Verschiebung von der kollektiven Erinnerung hin zur Fülle der individuellen Erinnerung“ wider. In diesem Sinne müsse der „Begriff der Erinnerung überprüft“ werden. Zu bezweifeln sei allerdings, dass bei der Tendenz zu einem vervielfachten individuellen Gedächtnis „noch eine moralisierende Kraft liegen kann“.274 Angela Sumner geht der Frage nach der Qualität solcher individueller Erinnerung im Internet nach. Bei ihrem Vergleich der Website „The Virtual Wall“ mit dem Vietnam Memorial in Washington kommt sie zu der Auffassung, dass ein Online-Gedenken bei diesem Internetauftritt mit der Möglichkeit, eigene Beiträge zu vermissten oder getöteten Kriegsteilnehmern einzureichen, „den Bedürfnissen der Mitglieder des erinnernden Kollektivs, den Individuen auch individuell zu gedenken, womöglich eher gerecht werden“275 kann. Durch diese individuellen Beiträge könnte eine Erinnerungskultur entstehen, die sich „sehr nah an den familiären und individuellen Erinnerungen des Traumas Vietnam bewegt.“276 Dagegen schafft die Konfrontation mit anderen Erinnernden direkt am Memorial in Washington eher das Gefühl der „Zugehörigkeit zu einem erinnernden Kollektiv“.277

271 R. Beier: Geschichte, Erinnerung und Neue Medien, in: Beier, Rosemarie (Hg.): Geschichtskultur in der zweiten Moderne, Frankfurt am Main 2000, S. 301. 272 Ebd., S. 303. 273 Ebd., S. 315. 274 Ebd., S. 308. 275 A. M. Sumner: Kollektives Gedenken individualisiert: Die Hypermedia-Anwendung The Virtual Wall, in: Erll / Nünning 2004, S. 270. 276 Ebd., S. 276. 277 Ebd., S. 270.

168 Erinnerungskultur und digitale Technologien Zu den Vorteilen einer Erinnerung im Internet zählt Sumner auch die Tatsache, dass „Nutzer einer anderen Medientechnologie“ angesprochen werden und dass damit „der potentielle Kreis der Mitglieder des Kollektivs der spezifischen Erinnerungslandschaft erweitert“ werden kann.278 Auch andere Aspekte wie Zeit und Geld, die beim Besuch des Memorials Bedeutung haben, fallen beim Internet nicht ins Gewicht. Wolfram Dornik erweitert die Diskussion über Erinnerung und Internet in seiner im Sommer 2004 erschienenen Forschungsstudie „Erinnerungskulturen im Cyberspace“ um einige interessante Aspekte. Dornik sammelte 370 Websites zur österreichischen Zeitgeschichte (1917 – 1989  / 90), um eine Bestandsaufnahme der angebotenen „Themen und Strukturen“ zu erstellen und um die bisher herausgebildeten „‚virtuellen‘ Erinnerungskulturen“279 zu analysieren. Anhand der detaillierten Untersuchung von zehn Websites zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust ging er aus kulturwissenschaftlicher Sicht „zentralen Fragestellungen“280 nach: „Ist das Internet genauso ein Erinnerungsort, wie beispielsweise ein Denkmal? Trifft mehr die identitätsstiftende Funktion eines Gedächtnisspeichers, wie Museen oder Archive es sind, zu? Bilden sich bereits eigenständige ‚virtuelle‘ Erinnerungskulturen heraus? Wenn ja, wie sehen diese aus und was sind die wesentlichen Merkmale? Wie unterscheiden sie sich von den Erinnerungskulturen des ‚materiellen‘ Raumes?“281 Bei der qualitativen Untersuchung operierte Dornik mit zwei sich zunächst widersprechenden Thesen: Die erstere „Symmetrie-These [...] besagt, dass sich die Erinnerungskulturen in Methode und Darstellung an bereits lange abzeichnenden Entwicklungen des ‚materiellen‘ Raums (Internationalisierung / Kosmopolitisierung von Erinnerung und gesellschaftliche, wirtschaftliche, kulturelle und politische Globalisierung) orientieren – sich im ‚virtuellen‘ Raum deshalb ‚nur‘ spiegeln. Es bildeten sich im Internet keine eigenständigen Erinnerungskulturen heraus“.282 Die zweite These, von ihm als Autodeterminations-These bezeichnet, geht von „eigenständige[n] Formen der Erinnerungskulturen“ im Internet aus, entwickelt durch „hypertextuelle und multimediale Besonderheiten“.283

278 Ebd., S. 271. 279 Dornik 2004, S. 15. 280 Ebd. 281 Ebd. 282 Ebd., S. 109. Dornik bezieht sich hierbei hauptsächlich auf zwei Publikationen: Levy, Daniel / Sznaider, Natan: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt 2001, und Pieterse, Jan: Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural, in: Beck, Ulrich (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt 1998, S. 87-124. 283 Ebd.

Begriffsklärungen und Forschungsstand 169

Als Resultat seiner Untersuchungen stellt Dornik fest, dass weder Symmetrie noch Autodetermination in Reinform vorkommen und kommt zu dem Schluss, dass die Erinnerungskulturen im Internet von Hybridität geprägt sind. „Symmetrische und autodeterminatorische Elemente haben eine neue, eben hybride Form der Erinnerung von (Zeit)Geschichte, beziehungsweise von Nationalsozialismus und Holocaust im Cyberspace hervorgebracht.“284 Als „zentrale Charakteristika dieser hybriden Form der Erinnerung“285 sieht Dornik erstens eine Unterstützung des Internets in Richtung „Regionalisierung“, in der „regionale[n] Verortung von ‚großen‘ Themen“286, zweitens eine „starke Semiotisierung der Websites“ allerdings ohne Ausbildung einer eigenen „Ikonographie“. „Die Symbole orientieren sich also am ‚materiellen Raum‘ (Symmetrie), die konkreten Ausformungen etablieren sich aber im Kontext des Cyberspace.“287 Als dritten Punkt nennt er die Möglichkeit zur Publikation von „alternativen Vergangenheitsauffassungen“. Das Internet biete eine „sehr billige, schnelle, mittelfristig ausgerichtete und verhältnismäßig unabhängige Veröffentlichung“288, so dass „traditionelle ProduzentInnen von Erinnerung mit Hilfe des Internets umgangen werden können“289 und auch für „relativ kleine“ Institutionen eine Ausweitung über „lokale und nationale Grenzen hinweg“ möglich ist.290 In diesem Zusammenhang verweist Dornik auf die hybride Form der „eForen“. Unter eForen versteht er „Informations-Marktplätze“ zu einem Thema, die nicht nur Wissen und Inhalte vermitteln, sondern u.a. durch Links, Diskussionen, Veranstaltungshinweise, Literaturtipps, Rezensionen ergänzt werden. Sie stellen Beispiele dar, bei denen Erinnerung wie im materiellen Raum über „Vermittlung von Wissen konstituiert“ wird, sich allerdings „eigens für den Cyberspace etablierte Strukturen herausgebildet“ haben. „Dazu gehören die Verlinkungen, die zum Teil die Grenzen des geografischen Raums auflösen [und zur] Internationalisierung führen“291. Dazu gehört weiter die „Wahlfreiheit der UserInnen, welche Informationen rezipiert werden und welche nicht“. Die „BetreiberInnen leis­ten eine Vorauswahl“, „gewünscht“ ist aber explizit, eine „selbständige

284 Ebd., S. 210. 285 Ebd. 286 Ebd. 287 Ebd., S. 211. 288 Ebd., S. 212. 289 Ebd., S. 185. 290 Ebd., S. 187. 291 Ebd., S. 208.

170 Erinnerungskultur und digitale Technologien Sammlung zusätzlicher Informationen“ in den „Weiten des Netzes“, wie Dornik anmerkt.292 Dornik weist auch auf die Vorteile, die Websites gegenüber traditionellen Medien besitzen, hin. Er nennt hier u.a. die Ablösung des Vermittlungsprozesses von der „seriellen Wahrnehmung“ (z.B. Buch) durch die Hypertextualität, die Möglichkeit, die Wahrnehmung auf die „verschiedensten Rezipienten“ zuzuschneiden, die im Vergleich zu anderen Medien weitergehenderen Chancen der „Partizipation der UserInnen“293, die „internationalisierte Rezeption“294, und eine „leicht aktualisierbare Informationsvermittlung“295. Eine quantitative Untersuchung hinsichtlich der Fragestellung, ob diese Potentiale erfüllt werden, erfolgte allerdings nicht. Betrachtet man die bisherigen Forschungsergebnisse, dann sind viele Potentiale des Internets für die Erinnerungskultur bereits benannt, was aber fehlt, ist der Versuch, systematisch diese Potentiale zu beschreiben sowie zu untersuchen, inwieweit diese bis jetzt zur Anwendung kamen. Dies schließt beispielsweise auch ein, nach der Frequentierung von Websites mit erinnerndem Charakter zu fragen. Die vorliegende Publikation soll einen Beitrag dazu leisten. Für die auch von Leggewie und Meyer als notwendig erachtete systematische Untersuchung der „gesellschaftlichen Organisation“ von Erinnerungskultur im Internet, für die „typologische Einordnung“296 der Beispiele sowie für die Analyse von Betreibern und deren Selbstverständnissen liefert Dornik erste Ansätze, hier bezogen auf den Raum Österreich und das Themengebiet Nationalsozialismus. Andere topografische und inhaltliche Schwerpunkte müssen nun folgen, um zu einer umfassenderen Sicht zu gelangen. Auch hierzu will diese Publikation beitragen. Die Diskussion über die Potentiale digitaler Technologie für die Erinnerung steht auch im Kontext einer kritischen Betrachtung traditioneller Erinnerungsformen. Gleichzeitig mit dem Aufkommen neuer Möglichkeiten der Erinnerung scheinen zum einen traditionelle Gedenkformen wie das Denkmal im öffentlichen Raum durch abstrakte Formensprache an die „Grenze“ ihrer „Sprachfähigkeit“297 zu gelangen, um mit Felix Reuße zu sprechen, zum anderen scheint es an gesellschaftlicher Verständigung zu fehlen, welche Rolle traditionellen Erinnerungsformen heute noch zugestanden wird und welche Rolle digitalen Medien zukommen wird bzw. 292 Ebd., S. 209. 293 Ebd., S. 213. 294 Ebd., S. 117. 295 Ebd., S. 128. 296 Leggewie / Meyer 2004, Absatz 6. 297 F. Reuße: Das Denkmal an der Grenze seiner Sprachfähigkeit, Stuttgart 1995.

Begriffsklärungen und Forschungsstand 171

soll. Dies spiegelte sich anschaulich im Streit um das Holocaust-Denkmal in Berlin wider, der dazu führte, dass neben der künstlerischen Form auch ein „Ort der Information“ gebaut wurde. Das traditionelle Denkmal wurde als nicht ausreichend empfunden. In dieser Kontroverse finden sich auf der einen Seite Einschätzungen wie jene von Reinhart Koselleck in einem Vortag geäußert, die ausmachen wollen, dass im Zeitalter Neuer Medien mit der „Berichterstattung in Echtzeit“ das „Ende der Erinnerung eingeleitet“ wird, dass das traditionelle Denkmal aus dem „Bewusstsein der Öffentlichkeit“ verschwindet und, dass Erinnerung nicht mehr „mythisch“ zu vermitteln ist.298 Auch Claus Leggewie und Erik Meyer sehen die Bedeutung von „Vergegenständlichungen von Vergangenheit“ in Form von Denkmal, Gedenkstätte und Museum „gegenüber Formen medialer Vergegenwärtigung“ in den Hintergrund treten.299 Auf der anderen Seite spricht Aleida Assmann davon, dass angesichts der „neuen digitalen Medien“ traditionelle Erinnerungsformen in ein neues Licht rücken können: „Flimmernder Bildschirm und digitaler Zahlenkode haben ein neues Gefühl für die Materialität der Datenträger, die elektronische Flüchtigkeit hat ein neues Gefühl für ihre Langzeitstabilität, und die Beschleunigung des Informationsflusses hat ein neues Gefühl für die Beständigkeit von Nachrichten erzeugt. Unter diesen Bedingungen kommt den Institutionen des Speichergedächtnisses – den Museen, Archiven und Bibliotheken – eine ganz neue Bedeutung zu. Das Internet umfasst alles, was sich in Information transformieren lässt; dazu gehören Bilder, Texte und Töne – und darüber hinaus: nichts. Es enthält nichts, das sich dieser Transformation versagt: Das sind die Objekte selbst mit ihrer widerständig sperrigen Materialität.“300

Diese gegensätzlichen Einschätzungen, die Verunsicherung über die Wirksamkeit traditioneller Erinnerungsformen und die Möglichkeiten und Grenzen neuer digitaler Technologien für die Erinnerungskultur sind im Kontext eines „gedächtnisgeschichtlichen bedeutsamen Einschnittes“ zu sehen, der sich gerade vollzieht. Nach den Übergängen von „Mündlichkeit zur Schriftlichkeit“ und von „Schriftlichkeit zum Buchdruck“ scheint nun der Übergang vom „Buchdruck zum Internet“ anzustehen, wie Astrid Erll anführt.301 Der Wandel in der Medientechnologie steht in Relation zu gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozessen, die wiederum Auswirkung auf 298 Stuttgarter Unikurier Nr. 82/83, 1999, S. 54. 299 Leggewie / Meyer 2004, Absatz 1. 300 A. Assmann: Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses, in: A. Erll / A. Nünning: Media and Cultural Memory / Medien und kulturelle Erinnerung, Berlin 2004, S. 57. 301 Erll 2005, S. 129.

172 Erinnerungskultur und digitale Technologien die Erinnerungskultur haben. Die Aspekte Individualisierung, Globalisierung, Pluralisierung wurden bereits angesprochen. Rosemarie Beier stellt diese Bezüge anhand der Verbindungslinien zu Diskussionen in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen her, die unter den Stichworten „Zweite Moderne“ und „Sozialer Konstruktivismus“ geführt werden, und betont die Pole Individualisierung und Globalisierung. Bezugnehmend auf Arbeiten von Ulrich Beck, Anthony Giddens und Jean-François Lyotard führt sie an, dass der gesellschaftliche Wandel von der Moderne zur Zweiten Moderne Möglichkeiten individuellen Handelns hervorbringt, die so groß wie nie zuvor sind, gleichzeitig müssen aber immer mehr Bereiche auch selbst organisiert werden. Die Individuen sind immer mehr gezwungen, einen eigenen Bezug zur Geschichte herzustellen (Ulrich Beck) und müssen ihre eigene Identität selber schaffen (Anthony Giddens), da die großen Erzählungen (Lyotard) an Wirkkraft verlieren, dem Individuum Orientierung zu geben.302 Beier bemerkt weiter: „Wir leben in einer Gesellschaft, die – um mit Giddens zu sprechen – dadurch gekennzeichnet ist, dass es keine Tradition im Sinne etablierter Handlungsweisen mehr gibt, die dazu benutzt werden, die zukünftige Zeit zu organisieren. Tradition, die daran beteiligt ist, die Vergangenheit in ein bestimmtes Verhältnis zur Gegenwart zu setzen (und umgekehrt), hat nicht mehr die ihr früher (in traditionellen Gesellschaften) eingeräumte bindende moralische wie emotionale Kraft.“303 Als Gegenpart zur Individualisierung streicht Beier die im Kontext von Globalisierungsprozessen entstehende „Weltgesellschaft“ heraus, die, Ulrich Beck zitierend, dadurch gekennzeichnet ist, dass alles „was die Menschen scheidet – religiöse, kulturelle und politische Unterschiede – ... an einem Ort, in einer Stadt, immer öfter sogar in einer Familie, in einer Biographie präsent“ ist.304 Die Geschichtskultur der Gegenwart ließe sich, wie Beier weiter ausführt, in diesem Sinne auch als „auf dem Weg in eine enträumlichte große Imagination befindlich interpretieren“.305 Von einer Globalisierung der Erinnerung sprechen auch Daniel Levy und Natan Sznaider im Zusammenhang mit dem Holocaust. Auch sie beziehen sich ausdrücklich auf Ulrich Becks Konzept der Zweiten Moderne. Levy / Sznaider gehen von der These aus, „daß Erinnerungen an den Holocaust in einer Epoche ideologischer Ungewißheiten zu einem Maßstab für humanistische und universalistische Identifikationen werden“.306 Sie halten es für „möglich“, aber auch für „notwendig“, in einer globali-

302 Beier 2000, S. 11-13. 303 Ebd., S. 13. 304 Ulrich Beck, zitiert nach Beier 2000, S. 17. 305 Beier 2000, S. 18. 306 Levy / Sznaider 2001, S. 10.

Begriffsklärungen und Forschungsstand 173

sierten Welt „Erinnerungslandschaften zu finden, die den Bedürfnissen der Menschen in der Zweiten Moderne entsprechen. Nicht mehr nur ein ‚nationales Gedächtnis‘, sondern auch ein ‚kosmopolitisches Gedächtnis‘ ist gefordert. Das kosmopolitische Gedächtnis geht über das nationale hinaus, ohne es abzulösen.“307 „Der Staat und nationale Erinnerungen sind zu einer unter mehreren Quellen der kollektiven Erinnerung geworden. Der Staat und die Nation stehen in einem Wechselverhältnis mit anderen kollektiven Ausdrucksformen der Solidarität (z.B. Ethnizität, Geschlecht, Religion).“308 Individualisierung und Globalisierung führen zu einer vermehrten Pluralität von Erinnerung. In ihr lassen sich sowohl die oben angeführten größeren Spielräume für individuelles Handeln im Zuge der Zweiten Moderne einordnen, wie Dorniks „alternative Vergangenheitsbewältigungen“, die Feststellung von Leggewie / Meyer, dass „andere Kollektive als die Nation in den Mittelpunkt der Kommemoration“ rücken oder die von Beier gemachte Aussage, dass im Internet neue Akteure die Möglichkeit erhalten, selbst repräsentierte Geschichte zu überschreiben und zu kommentieren. Astrid Erll stellt die Pluralität von Erinnerung in einen explizit politischen Kontext: Mit Ende des Kalten Krieges, mit Auflösung der Sowjetunion trat eine „Vielzahl nationaler und ethnischer Gedächtnisse“ hervor, die „Dekolonialisierung und Migrationsbewegungen“ haben in westlichen Gesellschaften eine „Multi(erinnerungs-)kulturalität“ hervorgebracht, bei der mit der „Vielfalt der Ethnien und Religionszugehörigkeiten“ eine „Vielfalt der Traditionen und Geschichtsbilder[]“ einhergeht. „Die Anerkennung von Minderheiten erfordert das zu Gehör-Bringen ihrer Vergangenheitsversionen.“309 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass gesellschaftliche Tendenzen und Tendenzen der Erinnerungskultur zusammenfallen. So ist von Entnationalisierung der Erinnerung, Globalisierung der Erinnerung, Pluralisierung der Erinnerung und Individualisierung der Erinnerung zu sprechen. Gleichzeitig ist auch eine Ikonisierung der Erinnerung festzustellen. Die immer größer werdende Bedeutung von Bildern, besonders von bewegten Bildern, wirkt auf die Erinnerungskultur. Levy / Sznaider hierzu: „Die globalen Medien haben die Rezeption von Wissen, Werten und Erinnerungen ein weiteres Mal revolutioniert: Sie förderten die Visualisierung der Kultur. Wir erinnern uns anhand von Bildern. [...] Bezeichnend für diese Entwicklung ist die zunehmende Zahl sogenannter ‚Medie-

307 Ebd., S. 22. 308 Ebd., S. 47. 309 Erll 2005, S. 3.

174 Erinnerungskultur und digitale Technologien nereignisse‘.“310 Erinnerungskultur als passives Teilnehmen an Medienereignissen, vermittelt über Fernsehen und Internet? Neben dem gesellschaftlichen Wandel zur „Zweiten Moderne“ und deren Auswirkung auf die Erinnerungskultur wird mit dem Aussterben der Zeitzeugengeneration des Holocausts in den nächsten Jahren eine weitere Veränderung stattfinden, die in vielen Publikationen als großer Einschnitt beschrieben wird. Jan Assmann, hier stellvertretend genannt, spricht von einer „Epochenschwelle in der kollektiven Erinnerung“311. Angesichts dieser Tatsache stellt sich die Frage, wie die Erinnerungen der Zeitzeugen von dem „kommunikativen Gedächtnis“ in ein „kulturelles Gedächtnis“ überführt werden können, und welchen Beitrag digitale Technologien, insbesondere das Internet, zu leisten vermögen. Die Forschung steht hier erst am Anfang.

310 Levy / Sznaider 2001, S. 48. 311 J. Assmann 1999, S. 11.

3D-Computer-Rekonstruktionen 175

3.2 3D-Computer-Rekonstruktionen Mit der Entwicklung der elektronischen bzw. grafischen Datenverarbeitung begann eine neue Ära der Architekturdarstellung. Computer schufen völlig neue Möglichkeiten, nicht mehr existente Bauwerke und Stadtanlagen darzustellen und an Architektur zu erinnern. Der Rechner erlaubte es, auf real gebaute Kulissen und Modelle zu verzichten. Mittels Software konnten Bauwerke im Computer dreidimensional nachgebildet, Bilder und Filme aus der menschlichen Betrachtungsperspektive gewonnen werden. Nicht nur die Spielfilmindustrie machte sich diese neuen Technologien zu eigen und ließ parallel zu den gebauten Kulissen diese auch virtuell im Rechner entstehen, auch Architekten, Archäologen und Kunsthistoriker begannen sich dafür zu interessieren. Mit der Computer-Rekonstruktion der Klosterkirche von Cluny III312 im Jahre 1989 wurde zum ersten Mal eine großes Bauwerk im Rechner dargestellt und über das Fernsehen einer breiten Öffentlichkeit präsentiert. Die Erkenntnis, dass mittels grafischer Datenverarbeitung nicht mehr existente Architektur anschaulich gemacht werden konnte, erreichte in den 90er Jahren die Museen und die Hochschulen. In Forschung und Lehre wandten sich Fachleute vermehrt den neuen Darstellungsformen zu. Die Randbedingungen der Entstehung und des Einsatzes sowie die Qualität dieser Computermodelle verbesserten sich ständig. Lagen Ende der 80er Jahre die Investitionen für Soft- und Hardware für solche Simulationen bei weit über 50.000 Euro und waren damit nur für wenige erschwinglich, so sind heute mit 1.000 Euro und frei zugänglicher Software Ergebnisse zu erzielen, die die Darstellungsqualität der Computergrafik von damals bei weitem übertreffen. So konnte die Zahl der digitalen Rekonstruktions-Modelle spürbar ansteigen. Auch kleinere Institutionen konnten sich eine Computer-Rekonstruktion leisten. Die vermehrte Anwendung dieser Technologie schlug sich dann auch in Form von Fachtagungen nieder. Veranstaltungen wie die jährliche Tagung „Archäologie und Computer“ in Wien313, die seit 1996 abgehalten wird, oder die Tagung „Der Modelle Tugend“ an der Tech-

312 Die Klosterkirche wurde im Zuge der französischen Revolution zerstört. Sie galt bis dahin als die größte Kirche des christlichen Abendlandes. Die Rekonstruktion erfolgte im Auftrag des Südwestfunks und wurde von der asb baudat GmbH, Bensheim, unter der Leitung von Manfred Koob durchgeführt. 313 Organisiert wird der Workshop von dem Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 7 – Referat „Kulturelles Erbe“ – Stadtarchäologie. Siehe auch http:// www.magwien.gv.at/archaeologie/, vom 18.07.2004.

176 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen nischen Universität Darmstadt, Fachbereich Architektur, im April 2000314, sind nur zwei Beispiele, die deutlich machen sollen, dass in den klassischen Disziplinen Kunstgeschichte und Archäologie den digitalen Möglichkeiten immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt und Bedeutung beigemessen wird. In den nachfolgenden Abschnitten folgt eine Einführung in die Technologie der 3D-Computer-Rekonstruktion, gegliedert in erstens Produktion digitaler Modelle, zweitens Präsentation dieser Modelle und drittens Wahrnehmung durch die Rezipienten. Den Abschluss stellt der Vergleich der 3DComputer-Rekonstruktion mit traditionellen Formen der Erinnerung dar.

3.2.1 Produktion digitaler Modelle Die Erstellung eines 3D-Computermodells zur Rekonstruktion historischer Bauwerke folgt in der Regel einem gleichen Schema und gliedert sich in die folgenden Phasen: Recherche und Sichtung von Quellenmaterial, Umsetzung der Quellen in zweidimensionale Computerzeichnungen als Hilfsgrundlagen, Erzeugung des dreidimensionalen geometrischen Modells, Zuweisung von Oberflächen, Erzeugung von Licht und Schatten. Die nachfolgende Beschreibung erläutert die einzelnen Schritte. Nach Zusammentragung und Sichtung des Quellenmaterials folgt dessen Übertragung in zweidimensionale Computerzeichnungen. Dort, wo historische Baupläne vorhanden sind, können diese als Bild im Computer hinterlegt werden und Nachzeichnungen erfolgen. In anderen Fällen müssen aus den vielen Einzelinformationen im Computer selbst Pläne neu erstellt werden. Diese zweidimensionalen Computerpläne stellen in zweierlei Hinsicht die Grundlage für die weitere Verarbeitung dar: Als Grundriss, Ansichts- und Schnittpläne (Schnurgerüste) werden sie im dreidimensionalen „Bauraum“ des Computers an entsprechender räumlicher Lage positioniert und dienen zur Orientierung für Größe und Position der zu erstellenden Bauteile im Computer. Als Umrisszeichnung sind sie direkte Vorlage zur Erstellung von dreidimensionalen Bauteilen. Als Beispiel sei hier das „Extrudieren“ von Flächen genannt: Eine beliebig geformte zweidimensionale Fläche, z.B. das Profil einer Stütze, wird im Computer gezeichnet. Durch Zuweisung einer Höhe als dritter Dimension entsteht dann ein räumliches, dreidimensionales Bauteil. Eine andere Möglichkeit, dreidimensionale Körper zu erzeugen, ist das Zurückgreifen auf geometrische Grundkörper wie zum Beispiel Kugel, Quader oder Zylinder. Diese 314 Hierzu erschienen ist: M. Frings (Hg.): Der Modelle Tugend – CAD und die neuen Räume der Kunstgeschichte, Weimar 2001.

Produktion digitaler Modelle 177

Körper sind als feste Bestandteile in den meisten CAD-Programmen315 integriert. Über die geometrischen Parameter sind ihre Größen einstellbar und durch Addition und Subtraktion der Körper untereinander lassen sich komplexere dreidimensionale Formen erzeugen. Die durch die verschiedenen Arten der Erzeugung entstandenen Bauteile können dann anhand der Schnurgerüste im dreidimensionalen Raum platziert werden. Identische Bauteile werden kopiert und müssen nicht nochmals erzeugt werden. Die verschiedenen Bauteile werden in einem weiteren Schritt dann zu Bau-Gruppen zusammengefasst. Alle Bau-Gruppen zusammen ergeben dann ein Gesamtmodell. Mit diesen Vorgängen ist die Erzeugung der Geometrie eines im Computer rekonstruierten Gebäudes abgeschlossen. Im nächsten Schritt erfolgt die Zuweisung von Oberflächen. Jeder geometrischen Fläche muss eine Oberfläche zugewiesen werden, sei es eine Farbe oder eine atmosphärisch wirkende Textur, z.B. eine Mauerwerksstruktur. Für solche atmosphärischen Oberflächen kommen hauptsächlich zwei Herstellungsstrategien zur Anwendung. Bei der ersten Methode wird in einem Bildbearbeitungsprogramm eine „Mustertapete“ mit der gewünschten Oberflächenstruktur erzeugt und als Bilddatei im Computer abgelegt. Dieses digitale Bild wird dann auf die gesamte Fläche projiziert. Diese Methode der Oberflächenerzeugung eignet sich besonders, wenn es sich um „einmalige“ Motive handelt. Als Beispiel sei die 3D-Computer-Rekonstruktion des Vatikanischen Palastes genannt, bei der die Stanzen und Loggien Raffaels mit ihren Wandfresken nachgebildet wurden. Das projizierte digitale Bild muss alle Informationen für die gesamte Fläche enthalten. Bei der Darstellung einer Mauerwerksstruktur muss so jeder Stein als Abbild vorhanden sein. Die andere Methode ist das Generieren von Oberflächen. Hierbei wird ein kleiner Ausschnitt der darzustellenden Struktur, zum Beispiel das Fugenbild eines Mauerwerks, verwendet und vervielfältigt. Die Wahl der Ausgangsgröße sowie die Überlagerung mit Effekten wie Farbveränderungen über einen Zufallsgenerator führen dazu, dass auch große Flächen ohne störende Wiederholungen des Musters erzeugt werden können. Nach der Erzeugung von Geometrie und Oberflächen muss Licht erzeugt werden, denn auch der immaterielle Raum im Rechner ist zunächst „dunkel“. Erst durch das Simulieren von Lichtquellen werden die erzeugten Gebäude und Innenräume sichtbar. Die Einstellung der Lichtparameter hat bei der Simulation von Architektur einen großen Stellenwert, denn sie kann die Wirkung von Räumlichkeit und Realitätsnähe enorm ver-

315 CAD = Computer Aided Design – Computer unterstütztes Entwerfen.

178 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen stärken. Bei den meisten Programmen handelt es sich allerdings nur um eine Simulation von Licht. Das heißt, durch Einstellung der Lichtparameter, durch Hinzufügen und Wegnehmen von Lichtquellen und der daraus entstehenden Schattenwirkung, wird eine Lichtstimmung simuliert, die atmosphärische Qualität haben soll, aber nicht die damalige Lichtsituation wiedergibt. Andere, spezielle Programme sind in der Lage, exakt nach den physikalischen Gesetzmäßigkeiten Lichtwirkungen mit allen Reflexionen und Absorbtionen von Lichtquellen zu berechnen und erreichen dadurch einen sehr hohen Realitätsbezug. Prinzipiell ist zu sagen, dass je atmosphärischer, je realistischer ein im Computer rekonstruiertes Bauwerk ausgeleuchtet sein soll, um so länger die Berechnung eines Bildes dauert. Die Berechnung von Licht ist für die Präsentation von 3D-Modellen­ wegen der hohen Rechenzeiten in der Regel der limitierende Faktor. Abschließend muss entschieden werden, welche Teile des Modells als Bild oder Bildfolge (Film) dargestellt werden sollen. Hierfür stehen Kameraoptionen im Computer zur Verfügung, die denen aus der materiellen Welt nachempfunden sind. Kamerastandpunkt, Zielpunkt und Brennweite können frei gewählt werden. Jede denkbare Position, jeder denkbare Blick ist darstellbar. Bei der Erzeugung bewegter Bilder existieren unterschiedliche Arten der Präsentation. Diese sind Gegenstand des folgenden Abschnitts.

3.2.2 Präsentation – Vorberechnung und Echtzeit Bei der Präsentation digitaler Modelle sind zwei Hauptformen zu unterscheiden. Auf der eine Seite Präsentationen, die auf Vorberechnung basieren – Einzelbilder oder Filme werden erzeugt und nach deren Fertigstellung verbreitet –, auf der anderen Seite Modelle, die in Echtzeit „begehbar“ sind. Vorberechnung Präsentationen, die auf Vorberechnung basieren, sind im Vergleich zu Echtzeitmodellen die einfachere Form der Präsentation – einfacher in dem Sinne, dass weitaus weniger Leistung der Hardware und Aufwand an Präsentationstechnik notwendig ist, aber auch, dass die daraus zu erzielenden Präsentationsformen mit den bisher für weite Kreise der Nutzer gewohnten Rezeptionsformen konform gehen. So werden hierbei Einzelbilder oder lineare Filme erzeugt, die über bekannte Publikationsformen wie zum Beispiel der Veröffentlichung eines Simulations-Bildes in einer Zeitung oder die Ausstrahlung einer Computer-Animation im Fernsehen verbreitet werden. Da die Räumlichkeit eines Bauwerks am besten durch

Präsentation – Vorberechnung und Echtzeit 179

Bewegung zu erfahren ist, bietet es sich an, ein Computermodell durch Bewegung zu präsentieren. Simulationsfilme haben hier gegenüber Einzelbildern einen großen Vorteil, bedeuten aber auch einen weitaus größeren Erstellungsaufwand. Genauso wie bei Filmen, die nicht auf computergenerierten Bildern basieren, werden bei Simulationsfilmen 24 oder 25 Bilder pro Sekunde benötigt, damit Bewegungen vom menschlichen Auge als flüssig wahrgenommen werden. Daraus ergibt sich, dass für eine Minute Film die Berechnung von 1.500 Einzelbildern notwendig ist. Je nach Komplexität des Modells und gewünschter Realitätsnähe dauert die Berechnung eines einzelnen Bildes Sekunden, Minuten oder Stunden. Ein Umstand, der zu sehr hohen Produktionszeiten führen, durch die Erhöhung der Anzahl der eingesetzten Rechner allerdings auch minimiert werden kann. Dabei gilt, je komplexer und feinteiliger die Geometrie, je aufwendiger die Oberflächendarstellung und vor allem, je komplexer, realistischer bzw. realistisch wirkender die Berechnung von Licht und Schatten ist, desto länger dauert die Berechnung eines einzelnen Bildes und damit die des gesamten Filmes. Bei Modellen, die auf Vorberechnung hin erstellt wurden, besteht neben der Präsentation von linear ablaufenden Filmen die Möglichkeit, mehrere vorberechnete Filme im Rechner vorzuhalten und am Ende einer Sequenz eine Auswahl an anknüpfenden Filmen anzubieten. So ist auch mit vorberechneten Filmen eine gewisse Interaktivität zu erzeugen. Haupteinsatzgebiet der Simulationsfilme ist die Einbindung in Dokumentarfilme für das Fernsehen und die Vorführung in Ausstellungen. Bei letzterem kommt in der Regel eine Projektion des Films auf eine Leinwand zur Anwendung. In der Kunst- und Ausstellungshalle der BRD in Bonn wurde 1998 bei der Ausstellung „Hochrenaissance im Vatikan“ darüber hinaus eine besondere Form der Präsentation von Simulationsfilmen entwickelt. Die Filme werden von thematisch geschulten Vorführenden (Cicerone) live kommentiert (Abb. S. 191). Bei der Präsentation des Computermodells des Vatikanischen Palastes kam zusätzlich die Möglichkeit der Teilinteraktivität zur Anwendung. Nach Ende einer Filmsequenz konnte der Cicerone zur Fortsetzung der Vorführung zwischen mehreren Filmen wählen. Allerdings wurde diese Interaktivitätsmöglichkeit während der Vorstellung so gut wie gar nicht genutzt, sondern es wurden vor Vorführungsbeginn jeweils unterschiedliche Routen ausgewählt und diese hintereinander gezeigt. Echtzeitmodelle Die zweite Form der Präsentation eines Modells sind Echtzeitmodelle. Echtzeit bedeutet hierbei, dass eine Person mit Hilfe eines Steuerungsgerätes (Interface) Bewegungen oder Blickwinkelveränderungen im Com-

180 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen putermodell vornehmen kann und dass diese Änderungen ohne wahrnehmbare zeitliche Verzögerung im Computermodell dargestellt werden. Es kann so der Eindruck entstehen, dass man sich durch diese Gebäude hindurchbewegt und gleichzeitig in beliebige Richtungen sehen kann. Voraussetzung hierfür ist, dass der angeschlossene Computer in der Lage ist, 25 Bilder in einer Sekunde zu errechnen und sie hintereinander auszugeben.316 Genau wie bei dem Simulationsfilm nimmt das menschliche Auge dann Bewegungen als flüssig wahr. Die Fähigkeit zur Echtzeit hängt somit von der zur Verfügung stehenden Rechenkapazität bzw. der Komplexität des zu errechnenden Bildes ab. Echtzeitmodelle von rekonstruierten Bauwerken kommen in zwei Formen zur Anwendung, solche mit individueller Navigation und solche mit geführter Navigation. Als Beispiel für ein interaktives Computermodell, bei dem eine individuelle Navigation vorgesehen war, sei hier die Installation zu der Ausstellung „1848 – Aufbruch zur Freiheit“ in der Frankfurter Kunsthalle Schirn genannt. Diese Ausstellung steht stellvertretend für ein Konzept, das jeweils einem Besucher die Möglichkeit bietet, sich durch eine virtuelle Umgebung zu navigieren. In der Ausstellung konnte er mit Hilfe des Joysticks die virtuellen Modelle der Frankfurter Paulskirche und des Berliner Reichstages in Echtzeit begehen. Das Bild wurde über einen Beamer auf eine Leinwand projiziert, so dass auch andere Besucher zumindest passiv teilhaben konnten. Zu beobachten war allerdings, dass sich fast nur Jugendliche an das Interface Joystick wagten. Die anderen Besucher folgten dem Geschehen auf der Leinwand, und je nach erfolgreichem Navigieren des Bedienenden bekamen sie einen Eindruck dieser Gebäude. Heidemarie Anderlik kann man nur zustimmen, wenn sie diese Installation eher als „Geschicklichkeitsspiel“ denn als Wissensvermittlung bezeichnet.317 Die Troia-Ausstellung der Bundeskunsthalle in Bonn steht für Echtzeitmodelle mit geführter Navigation. Das Modell wurde ebenfalls auf eine Leinwand projiziert. Eine Person, die sowohl thematisch wie auch in der Benutzung des Interfaces geschult war, führte durch das Gelände und die Gebäude von Troia und kommentierte live das Gesehene (Abb. S. 190). Nach Auskunft der Kuratorin wurden aber die Interaktivitätsangebote, die der Vorführende an das Publikum richtete, so gut wie gar nicht genutzt – ähnlich den Erfahrungen bei dem digitalen „Vatikan-Modell“.318 316 Neben Konfigurationen mit 25 Bildern pro Sekunde existieren auch Konfigurationen mit 24 Bildern pro Sekunde. Je niedriger die Anzahl der Bilder pro Sekunde liegt, desto unruhiger und abrupter werden die wahrgenommenen Bildveränderungen. 317 Heidemarie Anderlik in einem Interview mit dem Verfasser, siehe Anhang, Interviews, S. 528. 318 „Der Besucher hat die Chance nicht ergriffen, mitzuwirken, obwohl er vorher

Präsentation – Vorberechnung und Echtzeit 181

Vergleicht man Simulationsfilm und Echtzeitmodell, dann lässt sich sagen, dass von Beginn der Computerdarstellungen an eine „unglückliche“ Verknüpfung zwischen Echtzeitfähigkeit und Realitätsnähe bestand, denn beide wurden jeweils durch die Entwicklung von Hard- und Software verbessert. Zu jeder Zeit konnten Modelle, die in Filmen präsentiert werden, komplexer, realistischer wirken bzw. die Qualität der Bilder war deutlich besser als bei einem Echtzeitmodell. Sie können mit Berechnungen pro Bild von Minuten und Stunden operieren. Echtzeit bedeutet, dass Bilder in Millisekunden berechnet werden müssen. Im Extremfall muss bei einer stereoskopischen319 Anwendung mit 50 Bildern pro Sekunde eine Berechnung pro Bild in 0,02 Sekunden erfolgen. So sind die Anforderungen an die Rechenleistung, bei gleicher Bildqualität und gleicher Komplexität eines Modells, bei einer Echtzeitberechnung höher und damit auch die Kosten der Präsentation. Betrachtet man die Verwendung von Echtzeitmodellen und Simulationsfilmen in Ausstellungen, dann überzeugt der Einsatz von Echtzeitmodellen bis jetzt nicht. Beim geführten Echtzeitmodell können die Potentiale der Interaktivität kaum ausgeschöpft werden. Ohne Vorwissen stellen Wahlmöglichkeiten für Besucher scheinbar eine Überforderung dar. Ein weiteres Problem ist in der Koordination der unterschiedlichen Publikumswünsche zu sehen sowie in der Gewährleistung eines gewissen Erzählflusses. Echtzeitmodelle, in denen Besucher selbst navigieren können, besitzen als besondere Installationen eine Attraktivität für Museen. Doch der Einsatz im Ausstellungsbetrieb ist von einem Dilemma gekennzeichnet. immer deutlich aufgefordert worden ist. Er konnte ja sagen: Ich möchte jetzt mal nach links in das Haus schauen oder gehen Sie doch mal zurück auf die vierte Ebene, etc. Aber so wurde es nicht angenommen, es wurde eher als Vortrag aufgefasst. […] Der Besucher, so meine Erfahrung, möchte eher etwas vorgeführt bekommen; dass er sich selbst aktiv einschaltet, das macht er erfahrungsgemäß gerne an einem Touchscreen, wo er wirklich selbst etwas in die Hand nehmen / steuern kann und wo er ungestört ist. Die Unsicherheit eines Besuchers darf man nicht außer Acht lassen. Wer meldet sich schon gerne bei fünfzig Leuten und sagt, ich möchte jetzt mal gerne nach links in das Haus. Das traut sich kaum jemand.“ Susanne Kleine im Interview mit dem Verfasser. Siehe Anhang Interviews, S. 518. 319 Stereoskopie ist ein Verfahren, bei dem zwei Bilder mit einem kleinen parallelen Versatz aufgenommen bzw. aus einem Computermodell berechnet werden. Mittels verschiedener Präsentationsverfahren sind diese zwei Bilder als ein einziges, dreidimensional räumlich wirkendes Bild zu sehen. Hierzu wird dem einen Auge das eine Bild angeboten und dem anderen Auge das andere Bild. Die bekannten IMAX-Kinos basieren auf der Stereoskopie. Auf einer Leinwand werden gleichzeitig die parallel versetzen Bilder (Filme) projiziert. Eine notwendige Brille sorgt für die Trennung der Bilder durch zwei verschiedene Filter, so dass das eine Auge nur die eine Projektion wahrnehmen kann und das andere Auge die parallel versetzte.

182 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen Die Interaktion mit Echtzeitmodellen erfolgt in der Regel so, dass nur eine Person navigieren kann, gleichzeitig sollen aber möglichst viele Besucher angesprochen werden. Die Fähigkeit dieser Person, mit dem angebotenen Interface umgehen zu können, bestimmt ihr eigenes Erfolgsgefühl. Wenn mehrere zuschauen – wie beim „Paulskirchenmodell“ – bestimmt sie auch das Erfolgserlebnis des übrigen Publikums. Ein Museum dagegen ist an Hundert-Prozent-Erfolgserlebnissen aller seiner Besucher interessiert. Die Potentiale von individuell zu navigierenden Echtzeitmodellen weisen aber über die Erkundung der virtuellen Räumlichkeit und die reine Anschauung sowie das Erleben zerstörter Architektur hinaus. Sie liegen in der Verknüpfung des Modells und seiner Objekte mit abzurufenden Informationen und in der Möglichkeit, aus einer Fülle inhaltlicher Informationen eine von individuellen Neigungen und Interessen geleitete Auswahl zu treffen und spielerisch Inhalte zu entdecken. Ob für diese Potentiale eine Ausstellung der geeignetste Ort ist, ist zu hinterfragen. Vielleicht ist hier die private Anwendung am heimischen Computer geeigneter, bei der die Begehung zerstörter Architektur Bestandteil eines Computerspiels ist oder die über die Anbindung an eine Internetanwendung erfolgt. Für die Zukunft ist davon auszugehen, dass der technische Fortschritt immer neuere Formen von Interfaces hervorbringen wird und gleichzeitig die Darstellungsqualität ständig steigt. Als Trend ist bereits zu beobachten, dass das, was lange Zeit im Bereich der Echtzeitanwendungen nur mit Hochleistungsrechnern und „stand-alone“-Lösungen mit sehr hohen Kosten möglich war, zunehmend spielerisch vom Home-PC bewältigt wird. Die Entwicklung im Bereich der PC-Spiele und Gameengines ist dabei richtungsweisend. Unter Gameengine wird derjenige Teil der Software eines Computerspiels verstanden, der die Steuerung in und die Interpretation von einer im Rechner erzeugten virtuellen Welt übernimmt. So können verschiedene Computerspiele auf derselben Gameengine basieren. Einige Computerhersteller liefern beim Kauf des Spiels auch eine Gameengine mit, die es sowohl ermöglicht, dem erworbenen Spiel eigene virtuelle Landschaften und Räume hinzuzufügen, als auch selbst gänzlich eigene SpieleWelten zu erzeugen. Die grafische Darstellungsqualität dieser Welten hat sich in den letzten Jahren enorm gesteigert, auch wenn sie an die Qualität der Animationsfilme nach wie vor nicht heranreicht (Abb. S. 192). Viele Computerspiele erlauben es auch, mit mehreren320 Teilnehmern über das Internet zu spielen. Voraussetzung hierfür ist allerdings der Erwerb der Originalsoftware und die Installation des Spieles, so dass eine spontane Beteiligung x-beliebiger Internetuser nicht gegeben ist. 320 Die Höchstzahl von Teilnehmern ist abhängig von der eingesetzten Gameengine.

Präsentation – Vorberechnung und Echtzeit 183

Die Gameengines haben inzwischen den Weg in die akademischen Kreise gefunden. So stellten auf dem Kongress „Enter the Past“, 2003 in Wien, gleich mehrere Teilnehmer historische Computer-Rekonstruktionen vor, die auf der Basis einer Gameengine erstellt wurden.321 Im Rahmen eines vom BMBF geförderten Forschungsprojektes der TU Darmstadt (FG IKA) wurden die neuen Möglichkeiten von Gameengines bei der universitären Zusammenarbeit am Beispiel der Computer-Rekonstruktion des Moskauer Kremls von 1367 (Weißer Kreml) erprobt. In Darmstadt erfolgte die Erstellung des virtuellen Modells. Studierende der Geisteswissenschaftlichen Universität Moskau hatten die Aufgabe, Recherchen vor Ort durchzuführen. Die Beteiligten des Projektes aus Moskau und Darmstadt konnten sich in einem digitalen Modell des Moskauer Kremls in Form von Avataren treffen. Diese über das Internet hergestellte Echtzeitbegehung und eine Verständigung mittels Internettelefonie erlaubte die gemeinsame Erörterung der in Darmstadt erstellten Rekonstruktionen im virtuellen Modell (Abb. S. 193). Neben den Modellen, die auf Gameengines beruhen, existieren Echtzeit-Modelle auf der Grundlage von speziellen Programmiersprachen, die für die dreidimensionale Darstellung im Internet entwickelt wurden. Die bekannteste ist VRML. Als Beispiel für eine Rekonstruktion auf der Basis von VRML sei das römische Forum Flavium322 in Portugal genannt (Abb. S. 195). Bei VRML muss vorher ein Plugin für den Browser heruntergeladen werden, danach ist aber jedem Internetbenutzer die Begehung dieser virtuellen Welt möglich. Beispielhaft für andere Formen virtueller Rekonstruktions-Modelle im Internet sei die Rekonstruktion der alten Kathedrale von Uppsala (Schweden) genannt. Sie bedient sich der Dienste einer Firma, die das Implementieren von virtuellen Welten anbietet und für das Erstellen derselben eine entsprechende Software liefert.323 Die 321 Siehe hierzu: M. Meister / M. Boss: On using State of the Art Computer Game Engines to Visualize Archaeological Structures in Interactive Teaching and Research, in: Magistrat der Stadt Wien – Referat kulturelles Erbe – Stadtarchäolo­ gie Wien: „Enter the Past“, The E-way into the Four Dimensions of Cultural Heritage – CAA 2003 – Computer Applications and Quantitative Methods in Archaeology – Proceedings of the 31st Conference – Vienna – Austria – April 2003, Oxford 2004, S. 505 und M.A. Anderson: Computer Games and Archaeological Reconstruction – The Low Cost VR, in: Ebd., S. 521. Die Publikation ist eine Katalogveröffentlichung zum gleichnamigen Kongress in Wien 2003. Dieser Kongress wurde von der Forschungsgesellschaft Wiener Stadtarchäologie durchgeführt. 322 http://lsm.dei.uc.pt/forum/, vom: 2.07.2004. 323 Das Projekt wurde entwickelt von Susanne van Raalte (Chalmers University of Technology, Göteborg), Rolf Källman (Swedish National Heritage Board) und Tomas Wikström (School of Architecture, Lind University). Die Projektbeschreibung findet sich unter: http://www.design.chalmers.se/kulturarvsdialog.

184 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen Rekonstruktion zeigt den Kirchenbau aus dem 12. Jahrhundert. Die Navigation erfolgt wie bei einem Computerspiel über die Tastatur. Die eigene Person wird über einen Avatar vertreten, der zu anderen Besuchern via Textmeldung Kontakt aufnehmen kann (Abb. S. 195). Gleichzeitig können Benutzer 3D-Objekte – zum Beispiel einen Altar – anklicken und über ein Textfenster zusätzliche Informationen erhalten. In beiden Fällen bieten allerdings diese Modelle bis heute nicht den optischen Standard, den Modelle, die nicht auf das Internet ausgerichtet sind, leisten können. Bis diese interaktiven Modelle noch bessere Darstellungsqualitäten erreichen, werden auch gerade für das Internet immer wieder Anwendungen zum Tragen kommen, die einen praktikablen Kompromiss zwischen Kosten und Aufwand für Erstellung und Präsentation bieten. Eine solche Lösung ist zum Beispiel die Verwendung von Software, die virtuelle Panoramen erzeugen kann. Deren bekanntester Vertreter ist unter dem Namen „Quick Time VR“ geläufig. Bei diesen Programmen werden von virtuellen Räumen Panorama-Bilder erzeugt, die einen 360°-Rundumblick in Echtzeit ermöglichen. In der Regel ist auch ein Ein- und Auszoomen sowie das Heben und Senken des Blickes möglich. Die virtuelle Kamera ist dabei fest an einer Stelle verankert und dreht sich um die Hochachse. Die Kombination mehrerer solcher Panorama-Standorte im selben Raum oder in anderen Räumen ist mühelos über sogenannte Hot-Spots möglich. Hot-Spots sind Bereiche im Blickfeld des Betrachters, die beim Anklicken zu einem anderen Standort führen. Diese Bereiche können je nach Intention auffallend markiert sein oder müssen vom Benutzer entdeckt werden. Der Vorteil von Panorama-Anwendungen liegt darin, dass die Bilder vorberechnet sind und damit die Echtzeitmöglichkeit und die Darstellungsqualität nicht von der Komplexität des virtuellen Modells abhängt. Die Zukunft wird wahrscheinlich in Modellen liegen, die je nach Einsatz interaktiv präsentiert werden können. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Netzgeschwindigkeit ausreicht, um sich weltweit flüssig in hochkomplexen, detaillierten Modellen bewegen und begegnen zu können. Gleichzeitig ist zu erwarten, dass die bisherigen Ein- und Ausgabegeräte Maus, Tastatur und Bildschirm von intuitiveren Interfaces abgelöst werden und sich neue Formen der Wahrnehmung etablieren werden.

Die Rekonstruktion sind unter http://www.activeworlds.com im Internet zu besuchen. Nach dem Download (56 K Modem ca. 5 min) müssen die Menupunkte „advanced“ und danach „worlds“ angeklickt werden. Unter den aufgelis­teten „Welten“ verbirgt sich die Rekonstruktion unter „TimeDoc“. Siehe auch: van Raalte, Källman, Wikström, A Cultural Heritage Dialogue – IT Support for Reflections on the Present and the Future, in: Magistrat der Stadt Wien 2004, S. 518-520. Die virtuelle Welt „TimeDoc“ wurde am 2.07.2004 zuletzt besucht.

Neue Formen der Wahrnehmung – Immersion und Präsenz 185

3.2.3 Neue Formen der Wahrnehmung – Immersion und Präsenz Die faszinierenden Möglichkeiten der Interaktion in einem Computermodell führte auch zu einem neuen Forschungszweig, dem der Virtual Reality. Virtual Reality ist hier zu verstehen als „dreidimensionale, computergenerierte simulierte Umgebung, die entsprechend dem Benutzerverhalten in Echtzeit gerendert wird“. 324

Als Endziel wird die perfekte Verschmelzung von „Mensch und Bild“325 angestrebt. In einer „perfekten“ virtuellen Welt sollen dann alle Sinne erfahrbar und ein Bewegen durch diese Welt intuitiv möglich sein. Gleichzeitig soll die Interaktion mit anderen Benutzern und mit Objekten möglich sein. Hierfür wurden immer bessere Steuerungsmöglichkeiten gesucht und entwickelt. Das Interface, also das Steuerungsgerät, das die Navigationsbefehle an den Computer weitergibt und die Positions- und Blickveränderungen sowie sinnliche Reize auf den menschlichen Körper überträgt, soll im Idealfall als solche externe Gerätschaft nicht wahrnehmbar sein. Je besser das gelingt, je mehr Sinne ansprechbar sind, um so mehr gelingt das Eintauchen, die Immersion in diese virtuelle Welt, desto größer kann das Gefühl der eigenen Anwesenheit, der Präsenz, sein. In diesem Sinne werden die Begriffe Immersion und Präsenz verwendet. Immersion beschreibt die Aktion des Eintauchens in eine virtuelle Welt, während Präsenz für das Gefühl des Betrachters, im Modell anwesend zu sein, steht.326 Somit haben die Technologien zu neuen Formen der Wahrnehmung geführt. Immersion und Präsenz sind von verschiedenen Faktoren abhängig. Die Echtzeitberechnung und die damit verbundene mögliche eigenständige Navigation und Interaktion ist ein Faktor. Darüber hinaus liegt eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine gelungene Immersion in der Täuschung der Sinne, allen voran des optischen Sinns. Dies wird vor allem durch eine möglichst vollständige Ausfüllung des Sehfeldes und die Realitätsnähe der dargebotenen optischen Information erreicht. Die Mög-

324 S. Volbracht: Navigation in virtuellen dreidimensionalen Umgebungen, Dissertation an der Universität Paderborn 2002, S. 6. In ihrer Dissertation bezieht sich Vollbracht auf eine Definition von C.E. Loeffler und T. Anderson von 1994. Unter „rendern“ ist das Berechnen von Bildern aus einem Computermodell zu verstehen. 325 Grau 2001, S. 19. 326 Siehe hierzu die Dissertation von Holger Regenbrecht: Faktoren für Präsenz in virtueller Architektur, Dissertation an der Bauhaus-Universität Weimar 2002, S. 5-31.

186 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen lichkeit des eigenen Handelns erhöht dabei das Gefühl einer Präsenz. Auf diese Faktoren wird im folgenden eingegangen. Weiteren Einfluss auf Immersion und Präsenz haben der Grad der Bindung von Aufmerksamkeit, der Grad der Abgeschottetheit von der äußeren, nicht generierten Welt sowie individuelle Faktoren.327 Eigenständige Navigation und Interaktion Für das Gefühl der Präsenz spielen die eigenen Navigations- und Interaktionsmöglichkeiten innerhalb eines virtuellen Modells eine große Rolle, weil sie es erst ermöglichen – vergleichbar mit der nicht-simulierten Welt – zu agieren, sich zu bewegen, das Blickfeld zu wechseln und mit Objekten zu interagieren. Die Form der Interaktionsmöglichkeit ist dabei sehr verschieden und hängt von den verwendeten Interfaces ab. Die Basisinteraktion ist die des Bewegens im virtuellen Raum (Navigieren). Die Navigation im virtuellen Modell ist von sechs Freiheitsgraden geprägt. Die Bewegung nach rechts / links, vorne / hinten und unten / oben sowie die Veränderung des Blickfeldes durch Drehen, Neigen und Heben / Senken des Blicks. Einfache Navigationsinterfaces sind z.B. die Maus oder der Joystick. Eine intuitivere Form des Navigierens ist die des Trackings. Tracking bezeichnet die Registrierung menschlicher Bewegungen, die Weiterleitung an und die Interpretation dieser Bewegungs-Informationen durch den Computer. Der Rechner ist dann schließlich in der Lage, ohne merkliche Verzögerung, entsprechend der Bewegungen des Benutzers, jeweils neue Bilder zu erstellen. Da für die natürliche Veränderung des Blickwinkels die Bewegung des Kopfes ausschlaggebend ist, bot es sich an, Interfaces zu entwickeln, die dementsprechend das Tracking des Kopfes ermöglichen. Wird der Kopf gesenkt, wird automatisch das entsprechende Bild errechnet. Bewegt sich der Benutzer nach vorne, wird diese Positionsveränderung registriert und ebenfalls ein neues Bild berechnet. Kombiniert wurden diese Trackingsysteme oft mit speziellen Brillen, die das Bild direkt vor den Augen entstehen lassen und selbst stereoskopische Effekte ermöglichen.

327 Ebd., auf solche weiteren Faktoren für den Präsenzeffekt macht Holger Regenbrecht aufmerksam. Er weist zu Recht darauf hin, dass technische Faktoren in vielen Betrachtungen zum Thema Präsenz dominieren und nennt drei weitere Felder: „realweltliche Faktoren, also Einflüsse der real vorhandenen, physischen Umgebung auf das Erleben der virtuellen Umgebung, [...] inhaltliche Faktoren, Faktoren, die sich durch die zur Interpretation dargebotene virtuelle Welt ergeben [und die] individuellen Faktoren, der psycho-soziale und kulturelle Kontext des Nutzers einschl. seiner Haltung und Einstellung“ (S. 10-11). Wichtig sei die „Involviertheit“, der Grad der „Aufmerksamkeit auf die virtuelle Umgebung“ (S. 6).

Neue Formen der Wahrnehmung – Immersion und Präsenz 187

Außer der Basisinteraktion des Navigierens sind auch Interaktionen mit anderen Objekten möglich. Hierfür wurden ein ganze Reihe von Interfaces entwickelt. Datenanzug und Datenhandschuh sind hierbei lediglich die spektakulärsten. Ausfüllung des Sehfelds Entscheidender als Navigation und Interaktion für eine gelungene Immersion ist der Grad der Ausfüllung des Sehfeldes. Dieses sollte im besten Fall 360° in alle Richtungen aufweisen. Hierfür wurden spezielle Brillen, sogenannte Head Mounted Displays (HMDs), entwickelt, die für beide Augen die optische Information in Echtzeit bereithalten können und das gesamte Blickfeld ausfüllen. HMDs können mit Trackingsystemen,­ wie oben beschrieben, kombiniert werden. Verwendet man keine HMDs, dann muss der Effekt der Immersion über Projektionen auf einen idealerweise kugelförmigen Raum erfolgen. In der Regel wird ein solcher idealer Raum abstrahiert. Eine bekannte Form einer solchen Abstraktion ist die CAVE. Eine CAVE besteht aus einem würfelartigen Raum mit trans­luzenten Wänden in den Abmessungen von wenigen Metern. Dementsprechend können sich hier nur wenige Personen aufhalten. Vorderwand, Seitenwand und Fußboden, im besten Fall Decke und Rückwand werden von außen mit stereoskopischen Projektionen bestrahlt. Alle Personen, die sich in der CAVE aufhalten, haben eine dementsprechende Brille auf, eine Person wird zudem getrackt. Für diese Person ist der Immersionseffekt am größten. Generell kann gesagt werden: Je mehr das Blickfeld der Betrachter ausgefüllt ist, umso größer der Immersionseffekt. Je kleiner die Zahl der Betrachtenden und je zentraler deren Standpunkte, umso kleiner kann die Projektionsfläche gewählt werden. Die Realitätsnähe des virtuellen Modells Die Realitätsnähe des virtuellen Modells wird durch mehrere Faktoren erzielt. Entscheidend sind die Detailgenauigkeit der gebauten Elemente, die ausreichend gewählte Kleinteiligkeit der Polygonisierung von gebogenen und gewölbten Flächen sowie die Qualität der Oberflächen. Diese Faktoren hängen vom beabsichtigten minimalen Abstand der virtuellen Kamera zu den fokussierten Elementen ab. Weiter sind als wichtige Faktoren die realistische bzw. glaubhaft atmosphärische Darstellung von Licht und Schatten sowie die Vermittlung von Maßstäblichkeit zu nennen. Letzteres wird durch die Bereitstellung gewohnter Bildinformationen erleichtert, beispielsweise eine menschliche Figur oder ein Auto, so dass Größenverhältnisse einschätzbar werden. Für die Realitätsnähe ist weiter ein homogenes, realistisch wirkendes Gesamtbild ausschlaggebend. Bei

188 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen Innenräumen ist dies weniger problematisch, da hier meist nur das gezeigt werden muss, was interessiert. Bei der Darstellung von Außenräumen muss auch die Umgebung realitätsnah dargestellt werden, was zu nicht unerheblichem zusätzlichem Arbeitsaufwand für Objekte führt, die im wahrsten Sinne des Wortes nur am Rand von Wichtigkeit sind. Durch die Verwendung des stereoskopischen Effektes kann die Realitätsnähe nochmals gesteigert werden, was, wie oben bereits beschrieben, allerdings die Verdoppelung der Rechenzeit und damit die Notwendigkeit leistungsstärkerer Rechner bedeutet. Rückblick und Ausblick Die oben gemachten Ausführungen sollten nicht dazu führen, Immersion als eine Erfindung im Kontext der Virtual Reality zu verstehen. Oliver Grau macht anschaulich, dass Immersion schon seit langer Zeit ein menschliches Streben ist und führt hier u.a. die Villa Livia (20 v. Chr., bei Primaporta), die Sala delle Prospettive (Villa Farnesina, Rom 1516), den schon erwähnten Sacro Monte bei Varallo (um 1500), das Deckengewölbe in San Ignazio von Andrea Pozzo, Rom 1688 – 1694) und das Panorama als Beispiele an.328 Während man in der Villa Livia einen Raum findet, der versucht, die Betrachtenden in einen mit einer Mauer umschlossenen Garten zu versetzen, täuscht die Sala delle Prospettive den Besuchern eine „fiktive Säulenhalle“329 mit dahinterliegender Landschaft vor. Das Deckengewölbe in San Ignazio sei als Stellvertreter der vielen Barockgemälde genannt, die es verstehen, reale Architektur mit gemalter zu einem Illusionsraum zu verweben. Die Bedeutung des Panoramas muss hier noch mal betont werden als die bis dato perfekteste Form der Erzeugung illusionärer Räume mit explizit formuliertem Anspruch auf Immersion. Auch vorberechnete Computer-Simulationen können immersiv sein, sie sind dann aber nur passiv erlebbar. Der Grad der Immersion hängt von den schon beschriebenen Faktoren wie Ausfüllungen des Sehfelds, Realitätsnähe der angebotenen Information etc. ab. Zu unterscheiden ist so aktive (Echtzeitpräsentationen) und passive Präsenz. Am vorläufigen Ende der Entwicklung illusionärer digitaler Räume stehen Anwendungen, die das Ziel haben, virtuelle Welt und reale Welt zu koppeln. Diese sogenannte Augmented Reality – erweiterte Realität  – wurde zunächst in Hinblick auf Bedienung technischer bzw. militärischer Maschinen konzipiert. Mit Hilfe von HMDs werden reale Wahrnehmung   – das reale Bild – und ein sich darauf beziehendes Computerbild passgenau überlagert. Auch hier gibt ein Tracking-System, das sowohl die 328 Grau 2001, S. 27-65. 329 Ebd., S. 37.

Neue Formen der Wahrnehmung – Immersion und Präsenz 189

Position und die Blickrichtung als auch alle Bewegungsveränderungen, die kontinuierlich zu neuen Positionen führen, registriert, diese Informationen an einen Rechner weitergibt, der dann in Echtzeit die notwendigen Bilder berechnet. Ein Anwendungsbeispiel für eine Computer-Rekonstruktion stellt das Forschungsprojekt Archeoguide330 dar (Abb. S. 194), das für die Olympischen Spiele 2004 in Athen entwickelt wurde. In den Ruinen des antiken Olympias sollte Besuchern mittels eines HMDs eine Überlagerung der baulichen Reste vor Ort mit einer simulierten Rekonstruktion präsentiert werden. Entscheidend für eine befriedigende Überlagerung ist hierbei die Ermittlung der exakten Position und Blickrichtung. In vergleichbaren Anwendungen wird dies beispielsweise über sogenannte Marker gelöst, die von einer in das HMD integrierten Kamera erkannt werden und computergestützt Position und Blickwinkel ermitteln lassen. Da eine Aufstellung solcher Marker in Olympia nicht zugelassen wurde, musste ein anderes Verfahren zur Anwendung kommen, das allerdings das computer-rekonstruierte Bauwerk nicht vollständig erfasst, sondern lediglich an sechs ausgewählten Stellen eine Überlagerung von Realität und Computerbild anbietet. Hier wird mit Hilfe von GPS und Kompass, die Bestandteile des HMDs sind, Position und Blickwinkel grob bestimmt. Von einer integrierten Kamera erzeugte Bilder werden dann mit bereits vorhandenen Realbildern aus einer Datenbank abgeglichen, um eine exakte Übereinstimmung von Realität und Computer-Rekonstruktion zu ermöglichen. Die Beschränkung auf sechs Standorte ergibt sich durch das gewählte Verfahren. Die Zahl der in der Datenbank gespeicherten und mit der Realität abzugleichenden Bilder muss auf eine bestimmte Menge begrenzt sein, um technischen Aufwand und Kosten praktikabel zu halten. Die bis jetzt aufgezeigten technischen Möglichkeiten und Randbedingungen digitaler Modelle verstehen sich als Hintergrundinformation und Basis für den nachfolgenden Vergleich traditioneller und digitaler Rekonstruktionen.

330 Das Projekt wurde gemeinsam von Partnern aus Griechenland, Deutschland, Portugal und Italien entwickelt. Aus Deutschland waren das Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung (IGD) und das Zentrum für Graphische Datenverarbeitung e.V. (ZGDV) beteiligt. Die Forschungsarbeiten hierzu wurden 2002 abgeschlossen. Die vorliegenden Informationen entstammen auch einem Gespräch, das im Juli 2004 mit Michael Schnaider, dem damaligen Projektleiter beim ZGDV, geführt wurde. Generelle Projektinformationen unter: http://archeoguide.intranet.gr/, vom 18.07.2004. Siehe auch: http://netzspan nung.org/database/archeoguide/, vom 18.07.2004.

190 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen

Projekt Troia VR Echtzeit-Präsentation in der Bundeskunsthalle, Bonn

Troia VR, realisiert für die Bundeskunsthalle Bonn und das Bundesministerium für Bildung und Forschung von ART+COM AG, Universität Tübingen und der IXL AG

Neue Formen der Wahrnehmung – Immersion und Präsenz 191

3D-Computer-Rekonstruktion, Vatikanischer Palast lnteraktive Simulationsfilme, Cicerone-Präsentation in der Bundeskunsthalle, Bonn

3D-Computer-Rekonstruktion, Vatikanischer Palast TU Darmstadt, FG IKA

192 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen

Gameengine Cryteck, Frankfurt

Neue Formen der Wahrnehmung – Immersion und Präsenz 193

3D-Computer-Rekonstruktion, Der Moskauer Kreml im 13. Jhd. Gameengine, Projekt TU Darmstadt, FG IKA

194 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen

Projekt „Archeoguide“ – Olympia, Griechenland Tempel der Hera, heutiger Zustand und Überblendung mit der Rekonstruktion

Projekt „Archeoguide“ – Olympia, Griechenland Laufstadion, heutiger Zustand und mit virtuellen Läufern

Projekt „Archeoguide“ – Olympia, Griechenland Interface

Neue Formen der Wahrnehmung – Immersion und Präsenz 195

VRML-Modell Forum Flavium, Portugal

Interaktives Internet-Modell Kathedrale Uppsala, Schweden

196 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen 3.2.4 Digitale Modelle vs. traditionelle Rekonstruktionen Anhand eines prinzipiellen Vergleichs der 3D-Computer-Rekonstruktionen mit den traditionellen Architekturrekonstruktionen sollen nun die Potentiale und Grenzen des digitalen Modells für die Erinnerung an nicht mehr existente Bauwerke skizziert werden. Am konkreten Beispiel der Synagogen erfolgt im nächsten Kapitel eine Überprüfung der entwickelten Thesen. In dem Vergleich werden auf traditioneller Seite vier Hauptformen der Rekonstruktion nicht mehr vorhandener Architektur mit einbezogen: Die Freihandzeichnung oder malerische Darstellung, die technische Zeichnung (Grundriss, Schnitt, Ansicht), das haptische Architekturmodell und die bauliche Rekonstruktion. Auf der digitalen Seite stehen das 3DComputermodell, das Simulationsbild, der Simulationsfilm und die Echtzeitdarstellung. Der Schwerpunkt des Vergleichs liegt in der Gegenüberstellung haptisches Modell – digitales Modell. Gleichzeitig sollen auch die Unterschiede zwischen den Präsentationsformen, die auf Vorberechnung basieren (z.B. Simulationsfilm) und dem Echtzeitmodell herausgearbeitet werden. Bei der Bewertung wurden die eigenen Analysen durch die Erkenntnisse von Mitarbeitern aus Museen ergänzt, die in ihrer beruflichen Praxis sowohl mit traditionellen Rekonstruktionsformen als auch mit 3DComputer-Rekonstruktionen gearbeitet haben. Als Museen wurden die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn (KAH oder Bundeskunsthalle) und das Deutsche Historische Museum in Berlin (DHM) ausgesucht.331 Der Vergleich baut auf dem auf, was im ersten Kapitel unter dem Stichpunkt Wirksamkeiten der Erinnerungsformen entwickelt wurde. Wirksamkeit wurde definiert als erstens die Frage nach Anschaulichkeit, nach der Fähigkeit, die zerstörte Architektur abzubilden, zweitens nach der Fähigkeit, zu emotionalisieren und den Rezipienten zu involvieren sowie drittens nach der Fähigkeit, Erinnerungsdiskurse auszulösen bzw. Öffentlichkeit zu erzeugen. Der Bereich der Emotionalisierung und Involvierung wird ergänzt durch die Betrachtung neuer Möglichkeiten der digitalen Modelle. Als Abschluss erfolgt eine vergleichende Betrachtung von Er-

331 Für die KAH seien folgende Ausstellungen nochmals genannt: „Hochrenaissance im Vatikan“ (1998), „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ (2000), „Troia – Traum und Wirklichkeit“ (2002), „Azteken“ (2003) oder „Der Kreml – Gottesruhm und Zarenpracht“ (2004). Auch im DHM gibt es langjährige Erfahrung. Im Jahre 2000 wurde im Rahmen der Preußen-Ausstellung eine 3D-Computer-Rekonstruktion des Berliner Schlosses zur Barockzeit gezeigt. Für die Dauerausstellung sollen zum Thema Mittelalter die Computermodelle des Klosters Müstair, der Kaiserpfalz zu Aachen und der Stadt Straubing präsentiert werden.

Digitale Modelle vs. traditionelle Rekonstruktionen 197

stellungs-, Präsentations- und Erhaltungsaufwand. Dies macht eine Einschätzung hinsichtlich des Verhältnisses von erzielter Wirksamkeit und Aufwand möglich. Die Verdeutlichung dieser Relation ist für die Beurteilung digitaler Rekonstruktionen nicht unerheblich. Gerade für Personen, die nicht in diesem Arbeitsfeld tätig sind, erschließen sich diese Randbedingungen nicht ohne weiteres.

3.2.4.1 Anschaulichkeit Der Vergleich zwischen digitalen und traditionellen Architektur-Rekonstruktionen beginnt mit der Frage nach der Fähigkeit der verschiedenen Rekonstruktionsformen, die Räumlichkeit und Gestalt einer nicht mehr existenten Architektur anschaulich darzustellen. Dies umfasst die Fragestellung, inwieweit sie in der Lage sind, die ursprüngliche Gestalt hinsichtlich des Detaillierungsgrades der rekonstruierten Geometrie, der Oberflächengestaltung und der Atmosphäre zu vermitteln. Weiter wird nach dem Vermögen gefragt, Größe, Proportion und Raumwirkung zu vermitteln sowie räumliche Zusammenhänge und die Einbindung in den städtebaulichen Kontext darzustellen. Detaillierungsgrad – Oberflächendarstellung – Atmosphäre Unter „Detaillierungsgrad“ wird die Fähigkeit verstanden, die einst existente räumliche Struktur geometrisch exakt dem zerstörten Original nachzuempfinden. Zwischen den traditionellen Rekonstruktionsdarstellungen und einem digitalen Modell ist eine prinzipielle Unterscheidung festzuhalten. Die traditionellen Architekturdarstellungen weisen einen festen Maßstab auf, digitale Modelle nicht. Ausführungsmaßstab ist bei traditionellen Rekonstruktionen gleich Präsentationsmaßstab. Nähert man sich einer Zeichnung oder einem haptischen Modell, dann kann man Details zwar besser erkennen, der Maßstab bzw. die Detaillierung bleibt aber festgelegt. Gesamtabbildung und Detail sind im Maßstab identisch und voneinander abhängig. Soll eine genauere Detaillierung erreicht werden, ist dieser bei gleich bleibender Gesamtgröße eine praktische, handwerkliche Grenze gesetzt. Bestimmte Detaillierungsgrade sind unter Umständen nicht mehr ausführbar oder nur mit sehr hohem technischen und finanziellen Aufwand. Verdeutlichen lässt sich das Gesagte an einem zu rekonstruierenden Bauwerk, das Details wie Säulen und Kapitelle aufweist. Ein ionisches Kapitell, das eine Detaildichte wie das Original aufweisen soll, ist bei traditionellen Nachbildungen nur in Detailzeichnungen oder Detailmodellen realisierbar. Im Kontext einer Gesamtdarstellung erreicht das Detail bei

198 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen dem traditionellen Rekonstruktionsmodell aber nie einen sehr hohen Detaillierungsgrad, es sei denn, man nähert sich dem Nachbildungsmaßstab 1:1 sehr an. Freihandzeichnung, malerische Darstellung oder technische Zeichnung sind zwar in der Lage, einen hohen Detailgrad zu erreichen, indem sie die Architektur in Ausschnitten darstellen. Insoweit sind sie in diesem Punkt dem haptischen Modell überlegen, das in den seltensten Fällen als Detailmodell ausgeführt wird. Alle traditionellen Architekturrekonstruktionen im verkleinerten Maßstab sind aber einem digitalen Modell gegenüber im Nachteil, da dieses theoretisch jede beliebige Stelle in großer Detailgenauigkeit zeigen kann, ohne auf die Darstellung des Gesamten verzichten zu müssen. Zwar wird in der Regel beim Erstellungsprozess ein Detaillierungsgrad festgelegt, so dass sinnvoller Weise eine gewisse Distanz zum Objekt eingehalten wird, jedoch ist es theoretisch möglich, das komplette Bauwerk oder zumindest Teile davon in der Detaildichte 1:1 zu erstellen und dies auch zu zeigen. So kann von einem Gesamtüberblick eines Innenraums direkt auf ein kleines Detail wie ein Kapitell gezoomt werden. Die traditionellen Darstellungsformen brauchen dafür mehrere Zeichnungen oder mehrere Modelle. Ein digitales Modell kann also unendlich „groß“ sein und dennoch eine Detailgenauigkeit 1:1 aufweisen, ohne realen materiellen Raum einzunehmen. Die Informationsdichte des Modells ist unabhängig von seiner physischen Größe. Gleichzeitig bieten digitale Modelle auch gegenüber traditionellen Rekonstruktionen gänzlich neue Strategien der Detaillierung. So kann die Detaillierung in Abhängigkeit zur Entfernung des Objekts gesteuert werden. Zudem unterscheiden sich traditionelle Rekonstruktionsformen und digitale Modelle auch im Hinblick auf die Wahrnehmung der optischen Information. Bei den traditionellen Formen bewegt sich das Auge zum Objekt, um es detaillierter betrachten zu können. Beim digitalen Modell werden die Objekte näher an das Auge herangeführt – im Extremfall bis zum Hineintauchen. Eine solche Annäherung an das Detail ist den traditionellen Rekonstruktionen verwehrt. Für die Darstellung von Oberflächen kann Ähnliches gesagt werden. Das Kriterium der „Oberflächendarstellung“ beinhaltet die Fähigkeit, die einst existenten Oberflächen getreu dem verlorenen Original wiederzugeben. Malerische Darstellungen können die Originalwirkung von Oberflächen sehr gut wiedergeben, sind aber durch die jeweils festgelegte Perspektive eingeschränkt. Technische Zeichnungen sind insofern unterlegen, da sie in den seltensten Fällen Materialien und Farben beinhalten. Haptische Modelle können auch Oberflächen nachempfinden. Gerade bei der Darstellung von Innenräumen sind ihnen hier in Abhängigkeit zum Maßstab Grenzen gesetzt. Die Potentiale digitaler Modelle können bei der Darstellung von Oberflächen besonders gut zur Geltung kommen. In

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digitalen Modellen ist es möglich, Oberflächen exakt nachzuempfinden, sogar problemlos im Maßstab 1:1. Gerade für die Darstellung eines Innenraums bietet das eine Erzeugung von Anschaulichkeit, die in diesem Umfang mit dem haptischen Modell nie erreicht werden kann. Als Beispiel dafür, was ein digitales Modell mit seiner Detailgenauigkeit und Oberflächendarstellung zu leisten vermag, möge die 3D-ComputerRekonstruktion des Vatikanischen Palastes zur Zeit der Hochrenaissance mit der Abbildung der Stanzen und Loggien Raphaels dienen. Hier war es möglich, Bauwerk und Kunstwerk in einem Modell zu integrieren. Von einem Gesamtüberblick auf die Palastanlage, über den Raumeindruck einer einzelnen Stanze, bis zum Detailblick 1:1 auf ein Fresko Raphaels, ist dieses digitale Bauwerk zu betrachten. Bei historischen Bauwerken, deren Innenräume von Wandmalereien oder Gemälden geprägt sind, ist es mit Hilfe des Computers möglich geworden, fließende Übergänge zwischen Bauwerken und Kunstwerken darzustellen. (Abb. S. 191) Neben der realistischen Darstellung von Geometrie und Oberfläche ist die Vermittlung von Licht und Schatten als weiteres Kriterium anzuführen. Dieses Kriterium ist in erster Linie für den Innenraum von Bedeutung. Während die malerische Darstellung und das digitale Modell in der Lage sind, Licht atmosphärisch darzustellen, vermitteln die technischen Zeichnungen dies nicht. Auch das haptische Modell ist in der Regel nicht darauf ausgelegt, eine Lichtstimmung zu simulieren, sollte ein Innenraum überhaupt sichtbar sein. Die Lichtwirkung ist im Regelfall von der Beleuchtung des Ausstellungsraums und von den Öffnungen für die Einsicht in das Modell abhängig. Im Gegensatz dazu kann das digitale Modell hier wieder seine Potentiale zur Geltung bringen. Licht kann entweder atmosphärisch nachempfunden werden, um ein hohes Maß an Realismus zu erzielen, oder sogar nach den physikalischen Gesetzen simuliert werden. Bei letzterem nutzt man das Radiosity-Verfahren. Mit ihm ist es möglich, Bilder zu erzeugen, die die Originallichtstimmung simulieren und auch exakte historische Sonnenstände wiedergeben. Vermittlung von Räumlichkeit und räumlichen Zusammenhängen Hinsichtlich der Vermittlung der Räumlichkeit eines Bauwerks sind technische Riss-Zeichnungen, traditionell erstellt oder computergeneriert, gegenüber den anderen Formen der Architekturdarstellung benachteiligt, weil ihnen selber die räumliche Dimension fehlt. Perspektivische und malerische Darstellungen haben das Potential, das Bauwerk in seiner Räumlichkeit wiederzugeben. Im Gegensatz zum haptischen Modell, einem 3DComputermodell und der baulichen Rekonstruktion sind sie allerdings nur in der Lage, jeweils eine mögliche Perspektive darzustellen. Haptisches Modell und digitales Modell bieten unendlich viele Perspektiven an. Be-

200 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen wegungen um die Modelle herum bzw. in den Modellen ermöglichen die Erfassung des gesamten Bauwerks. Sie ist die Voraussetzung, um Räumlichkeit bestmöglichst zu klären. Der Vorteil des digitalen Modells gegenüber dem haptischen Modell liegt in der Möglichkeit, Gebäude sehr viel besser 1:1 aus der Betrachterperspektive zu erleben und damit eher einen Eindruck von der Größe des Gebäudes hervorrufen zu können. Dieser Effekt ist umso stärker, je größer die Darstellung bzw. die Projektion realisierbar ist. Dies trifft insbesondere für die Darstellung von Innenräumen zu. Weitere Vorteile sind die Vermittlung funktionaler und inhaltlicher Zusammenhänge sowie die Darstellung von Blickbeziehungen zwischen Räumen und Bauwerksteilen. Lothar Altringer zu seinen Erfahrungen mit der Computer-Rekonstruktion des Vatikanischen Palastes: „Ein Vorteil von Computer-Rekonstruktionen, zumindest in der Form, wie sie in der Vatikan-Ausstellung gezeigt worden sind, ist natürlich, dass sie einen höheren Realitätsgehalt für die Besucher vermitteln. Besonderer Reiz lag auch hier darin, dass wir versucht haben, die Räume so erlebbar zu machen, wie ein Besucher sie damals wahrgenommen hätte, das heißt dem Besucher wurde ein Rundgang vorgeschlagen durch die komplexe Baustruktur Vatikan, der damaligen Zeremonialwegen entsprochen hat. Der Besucher konnte so den Zusammenhang zwischen Kunst und Ausstattung der Räume mit der jeweiligen Funktion nachvollziehen. Gerade über den authentischen Gehalt wird für den Besucher ein Erlebniswert gewonnen, der auch einen Lernprozess unterstützt. Mit Zeichnungen hätte man das nur sehr schwer erreichen können, weil das Lesen von Architekturzeichnungen eine gewisse Erfahrung voraussetzt, vor allem, wenn man sie in die Dreidimensionalität umsetzen muss. Und hier ging es ja um eine Dreidimensionalität, insbesondere bei den Fresken Raphaels. Das ist ja auch einfach wichtig, welches Fresko welchem Fresko gegenüber ist, worauf der Blick fällt, wenn man einen Raum betritt. Das ist mit Zeichnungen gar nicht wiederzugeben. Ein haptisches Architekturmodell hätte das auch nicht leisten können, weil es hier ja nicht um die Gestalt von Außen geht, sondern auch um die Innenräume, und das hätte ein kleines Architekturmodell kaum vermitteln können. Es ging auch darum, zu verstehen, wie war Bramantes Architektur gedacht, die zum ersten Mal realisiert worden ist in CAD. So ist sie ja schließlich nicht gebaut worden, aber man konnte in der Vorführung sehen, dass der Fluchtpunkt der ganzen Architektur die Stanza della Segnatura war – damals Schlafzimmer Julius des II., des Auftraggebers. Von dort hatte man die perfekte Perspektive auf die Hofanlage Bramantes. Und diesen Blick zeigte das CAD-Modell. Ein haptisches Modell hätte das nicht so leisten können.“332

332 Siehe Anhang, Interviews, S. 501-502.

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Ein haptisches Modell ist gegenüber dem digitalen Modell gerade bei der Darstellung von Innenräumen im Nachteil, weil die Größe des Modells meistens nur ein Betrachten von außen nach innen zulässt, sollte es überhaupt den Innenraum zeigen. Das heißt, dass eine Perspektive, die die Innenraumwirkung zeigt, nur eingeschränkt möglich ist. Das Bewegen als Voraussetzung einer optimalen Raumklärung fällt im Vergleich zur Betrachtung eines Außenraummodells, das zu umschreiten ist, so gut wie weg. Die Betrachtung eines Modell-Innenraums bedeutet auch, dass hierfür eine Öffnung vorhanden sein muss, die gegebenenfalls wiederum das Fehlen einer kompletten Fassade bedeuten kann. Ein Vorteil des haptischen Modells besteht aber in seinem allgegenwärtigen Überblick. So auch Hans Ottomeyer in seiner Einschätzung: „Ich sehe da eine gewisse Überlegenheit des traditionellen, dreidimensionalen Modells, wenn es darum geht, eine Anlage zu erörtern, das Ganze und seine Teile gleichzeitig zu sehen. Wir werden zum Beispiel das Zisterzienserkloster Doberan mit seinen vielen Nebengebäuden, Hauptgebäuden und Kirche in einem ganz herkömmlichen Modell zeigen. Auch eine Stadtgründung des 12. Jahrhunderts, weil der Besucher dann die Möglichkeit hat, das Einzelne zu sehen und nie das Ganze aus den Augen zu verlieren. Bei 3D-Computermodellen sehe ich nicht immer alles gleichzeitig, sondern es sind dann Fahrten, die einen spezifischen individuellen Bezug haben, aber das zu objektivierende Ganze auf lange Strecken dann doch aus dem Fokus verlieren. Das Gittergerüst des Ganzen verlässt man zu häufig. Es wäre eigentlich eine Kunst, immer wieder zwischendurch dies als Zwischenschritt aufzuziehen und auch kurz das Ganze wieder erscheinen zu lassen, um zu zeigen, wo man gerade ist. Das Modell ist ganz dem Überblick verhaftet und verpflichtet und die 3D-Simulation kann das Einzelne im Zusammenhang erörtern, das sind die beiden spezifischen Stärken.“333

Städtebaulicher Kontext Neben der eigentlichen Gestalt des Gebäudes ist es auch wichtig, die stadträumliche Situation zu verdeutlichen, denn die Bedeutung eines Bauwerks erklärt sich auch aus der Exponiertheit der Lage, dem Bezug zur Nachbarbebauung und zum Straßenraum sowie im Verhältnis der Gebäudehöhe zur Umgebungsbebauung. Gilt es die städtebauliche Lage zu vermitteln, kann festgestellt werden, dass sie über eine Vogelperspektive in einer Zeichnung, am haptischen Architekturmodell oder im digitalen Modell annährend gleich gut darzustellen ist. Die technische Zeichnung in Form einer Dachaufsicht ist we-

333 Siehe Anhang, Interviews, S. 524.

202 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen niger aussagefähig, weil die dritte Dimension hier völlig verloren geht. In Bezug zur Gebäudehöhe dagegen kann die technische Zeichnung durch ihre Konzentration auf zwei Dimensionen den Höhenvergleich zur Nachbarbebauung in einer Ansichtszeichnung sehr gut widerspiegeln, durch das Ausbleiben perspektivischer Verzerrungen unter Umständen sogar deutlicher als die anderen Formen der Rekonstruktionsdarstellungen. Bei der Reproduktion des räumlichen Zusammenhangs ist eine Unterschiedlichkeit der einzelnen Rekonstruktionsformen hinsichtlich darstellerischer Homogenität von Umgebung und Bauwerk zu verzeichnen. Haptische und digitale Modelle konzentrieren sich in der Darstellungsqualität meistens auf das Bauwerk, der städtebauliche Kontext wird abstrakter dargestellt. In der Praxis ist es genau dieser Aspekt, der bei solchen Computermodellen oft eine gewisse Unzufriedenheit entstehen lässt. Während das einzelne Bauwerk detailliert nachempfunden ist, wird aus Kosten- und Zeitgründen auf eine Umgebungsbebauung oft verzichtet oder diese wird in reduzierter Form ausgeführt. Dieser Detailsprung oder der Eindruck, dass die Gebäude in der „Wüste“ oder auf der „Wiese“ stehen, kann die Gesamtwirkung beeinträchtigen bzw. einen falschen Eindruck des städtebaulichen Kontextes mit sich bringen. Das gleiche gilt für die Darstellung von Vegetation, die nach wie vor für digitale Modelle eine Herausforderung bedeutet, da hier zusätzlich Arbeitszeit und große Rechenleistungen nötig sind und diese meistens so nicht zur Verfügung stehen. Die malerische Darstellung eines Bauwerks mit Umgebung hat deswegen oft den höchsten Grad an darstellerischer Homogenität, ohne auf eine Detaillierung verzichten zu müssen. Die Darstellung des räumlichen Kontextes führt bei den traditionellen Rekonstruktionsformen unter Umständen auch zu Konflikten mit dem zu Verfügung stehenden Platz. Ein detailliertes Gebäudemodell beispielsweise, das groß genug sein soll, auch Einblicke in den Innenraum zu gewähren, kann auf Grund der dann zu erwartenden Größe kaum oder gar nicht mit der Umgebung dargestellt werden. Ein digitales Modell unterliegt dieser Problematik nicht. Es kennt keine physischen Größenbeschränkungen. Dies ist ein enormer Vorteil, der in einer digitalen Modellumgebung riesige Maßstabssprünge zulässt. So kann ein einziges digitales Modell ein Bauwerk detailliert von innen und außen, den Kontext im Stadtraum, aber auch die Lage der Stadt in einem noch größeren räumlichen Zusammenhang zeigen. Die traditionellen Rekonstruktionsformen können diese Maßstabssprünge nur erreichen, wenn sie selbst in andere Medien – wie zum Beispiel in einen Film – integriert werden. Hierbei verlieren sie dann jedoch ihren Reiz der unmittelbaren, atmosphärischen Erlebbarkeit. Dass eine bauliche Rekonstruktion die beste Möglichkeit darstellen kann, äußere Gestalt und ursprünglichen Raumeindruck wiederzugeben,

Digitale Modelle vs. traditionelle Rekonstruktionen 203

scheint evident. Die Ausführungen im ersten Kapitel haben aber gezeigt, dass eine komplette Nachbildung in der ursprünglichen Form in der Regel nicht stattfindet bzw. stattfinden kann. Auch wenn die Fassaden Originalität vortäuschen, befindet sich hinter ihnen oft lediglich moderner Innenraum. Beispiele derartiger Kulissen sind die bereits erwähnte Römerbergzeile in Frankfurt oder die Planungen für den Wiederaufbau des Berliner Schlosses.

3.2.4.2 Emotionalisierung, Involvierung und neue Möglichkeiten der Rezeption Aufbauend auf den Ausführungen des ersten Kapitels soll an dieser Stelle anhand der 3D-Computer-Rekonstruktionen die Frage wieder aufgegriffen werden, inwieweit das Vermögen einer Architekturnachbildung, Erinnerung anzuregen, von der Beziehung Betrachter – Rekonstruktion beeinflusst wird und wie sich traditionelle und digitale Rekonstruktionen unterscheiden. Es soll noch mal betont werden, dass gerade bei dem Thema Emotionalisierung Hypothesen und Fragestellungen aufgestellt werden, die die weitere Forschung anregen sollen. Untersuchungen, die die Wirkung von Architektur-Rekonstruktionen auf die Rezipienten zum Gegenstand haben, fehlen bisher. Im ersten Kapitel wurde davon gesprochen, dass die begleitenden inhaltlichen Informationen die eigentlichen Träger der Emotionen sind. Hier bieten sich bei 3D-Computer-Rekonstruktionen gute Möglichkeiten, da sie in der Regel über Filme präsentiert werden und dieses traditionelle Medium es uneingeschränkt erlaubt, audiovisuelle Informationen und die filmischen Darstellungen eines Computermodells zu kombinieren. Es sind damit Verdeutlichungen zu erzielen, wie sie bei traditionellen Architekturrekonstruktionen selbst mit mündlichen Erläuterungen, etwa bei einer Ausstellungsführung, nicht möglich sind. Eine Emotionalisierung kann im Film auch durch dramaturgische Mittel erzielt werden. Beispielsweise können Überblendungen des digitalen Modells mit Fotografien von den zerstörten Bauwerken, von baulichen Resten oder von den authentischen Orten erfolgen und, bei Zerstörungen aus jüngerer Zeit, auch Zeitzeugen zu Wort kommen. Dies ist bei haptischen Modellen und Zeichnungen so nicht gegeben bzw. sie sind selten Bestandteile von Filmen. Eine ganz neue Möglichkeit der Verknüpfung von Rekonstruktion und Information ist in Echtzeitmodellen gegeben. Hier können beliebig viele, zunächst nicht sichtbare Informationen mit Elementen des Modells verknüpft und diese Informationen durch Auswahl eines Elements zur Verfügung gestellt werden. Zur Geltung können diese Möglichkeiten bei Echt-

204 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen zeitmodellen, simulierten Echtzeitmodellen (Panoramen) und programmierten Präsentationsformen mit Simulationsfilmen kommen. Auch hier ist jede Art von Information denkbar, von der Textinformation über Audiound Video-Informationen bis hin zum Verweis auf externe Informationen aus dem Internet. Auch in diesem Zusammenhang soll noch einmal auf das bereits vorgestellte Computermodell der Kathedrale von Uppsala eingegangen werden, das über das Internet in Echtzeit zu betreten ist und bei dem man Zusatzinformationen direkt aus dem Modell beziehen kann (Abb. S. 195). Durch Anklicken virtueller Hinweisschilder, die sich auf den dreidimensionalen Bauteilen, wie z.B. einer Wand, befinden oder durch Mausklick auf 3D-Objekte werden Informationen ausgegeben. Das können kurze Texte, die direkt im Bereich des angeklickten 3D-Objektes sichtbar werden, multimediale Informationen in einem extra hierfür vorgesehen separaten Fenster oder auch Audioinformationen sein. Bei traditionellen Rekonstruktionsformen sind umfangreiche Informationen nicht direkt integrierbar und beanspruchen zusätzlichen Platz. Es ist lediglich denkbar, durch Verweise, zum Beispiel mit Zahlen, zusätzliche Informationen auf Texttafeln oder über Audioguides anzubieten. Unter Umständen kann mit der Anbringung von Verweisen auf den Modellen die Anschaulichkeit gestört werden. Das Einbinden begleitender Informationen kann auch eine Bedeutung für das Ansprechen verschiedener Zielgruppen haben. Bei der Vermittlung von Wissen und Erinnerung ist die Frage, wie die unterschiedlichen Interessenten anzusprechen sind, ein wichtiger Aspekt. Es ist dabei ein prinzipieller Unterschied zwischen digitalen und traditionellen Rekonstruktionsformen zu verzeichnen. Traditionelle Rekonstruktionen sind verhaftet in der Art und Weise, wie sie erstellt wurden, und haben dann statisch immer ein und dasselbe Erscheinungsbild. Das haptische Modell behält sein Erscheinungsbild und muss gleichwohl Fachleute wie Laien, Kinder wie Erwachsene ansprechen. Die Anzahl an zusätzlichen Informationsmöglichkeiten ist begrenzt. Hier bieten digitale Modelle neue Möglichkeiten, da sie in verschiedene „Kleider“ schlüpfen können. Bei einem gleichbleibenden geometrischen Grundgerüst können sie sich verschieden präsentieren: Nutzer können über Filter einen ihrem Wissensgrad und Interesse entsprechenden Zugang wählen. So lassen sich realitätsnahe Abbildungen, aber auch komplexe wissenschaftliche Erkenntnisse in einem Modell anzeigen. Während es möglich ist, für Kinder zusätzliche Informationen sehr einfach und verständlich, spezifisch kindgerecht, anzubieten, können sie für Fachleute im wissenschaftlichen Kontext dargestellt werden. Informationen können auch in beliebig vielen Sprachen abgelegt werden. Das könnte für die Erinnerungsarbeit interessant sein, weil somit mehr und neue Personenkreise angesprochen würden.

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Im ersten Kapitel wurde auch gefragt, ob der Grad der Anschaulichkeit eine Emotionalisierung erhöht. Echtzeitmodelle, wenn sie Architektur realitätsnah abbilden und interaktiv begehbar sind, könnten dazu führen, dass den Rezipienten der Architekturraum bewusster wird, sie mehr davon eingenommen werden und so immersive Momente und ein Gefühl von Präsenz erzeugt werden. Wenn zusätzlich Informationen – wie oben beschrieben – vermittelt werden, könnte eine neue Form der Rezeption entstehen, die gerade jene Generation anspricht, die mit Computerspielen groß geworden ist. Auf eine Erfahrung mit Echtzeitmodellen im Zusammenhang mit Erinnerungskultur ist allerdings nicht zurückzugreifen, so dass hier nur Möglichkeiten skizziert werden können. Eine Steigerung der Emotionalisierung könnte sich bei der Präsentation digitaler Modelle auch durch ein Gefühl des Überraschtseins, der Überwältigung ergeben, im Sinne, dass ein real nicht mehr existierendes Bauwerk so anschaulich, realitätsnah rekonstruiert wurde. Hier besitzt das digitale Modell im Vergleich zu dem haptischen Modell und der Zeichnung andere Konnotationen. Es suggeriert die Frage, ist das eine Simulation oder gibt es das Bauwerk noch / wieder? Eine solche Berührtheit verspüren wahrscheinlich diejenigen, die die Bauwerke aus eigener Anschauung kennen, mehr. Letztendlich können diese Möglichkeiten aber nur dann zur Geltung kommen, wenn begleitende Informationen oder bestehende Erinnerungsdiskurse einen Hintergrund bilden, auf dem die Bilder einen sinnstiftenden oder zum Nachdenken anregenden Charakter erhalten. Neue Möglichkeiten der Rezeption Digitale Modelle besitzen über das Gesagte hinaus auch weitere Möglichkeiten der Rezeption und Präsentation, die traditionelle Rekonstruktionen nicht aufweisen und eventuell neue Chancen für die Erinnerungskultur bieten. Mit ihnen könnte eine größere Aufmerksamkeit, eine längere Bindung der Rezipienten erfolgen und die intendierte Erinnerung im oben beschriebenen Sinne stärker wirken. Folgende Aspekte sind hier anzusprechen: – Varianten und Zeitstufen, – Aktualisierungen, – dynamische Simulationen, – Zugänglichkeit nicht öffentlicher Bauwerke.

Varianten und Zeitstufen Das historische Quellenmaterial zerstörter Bauwerke weist in der Regel Lücken auf, sodass Teile der Bauwerke unüberliefert bleiben, Farben nicht mehr zu bestimmen oder Dekor und Einrichtungsgegenstände un-

206 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen bekannt sind. Weiterführende Quellen, wie zum Beispiel das Studium von Vergleichsbauten, können fehlende Informationen eventuell ausgleichen, aber auch mehrere denkbare Lösungen aufzeigen. Aus wissenschaftlicher Sicht kann es sinnvoll sein, die verschiedenen Varianten nachzubilden und ihre jeweilige Plausibilität zu erläutern. Des Weiteren kann es von Interesse sein, ein und dasselbe Bauwerk in seiner bauhistorischen Veränderung darzustellen. Für derartige Varianten und Zeitstufendarstellungen ergeben sich enorme Unterschiede zwischen den Möglichkeiten traditioneller Rekonstruktionsformen und denen des digitalen Modells. Bezüglich des Aufwands bedeutet eine variantenbezogene Darstellung bei den traditionellen Rekonstruktionsformen wie Gemälde, Zeichnung und Modell in der Regel eine bzw. mehrere komplette Neuerstellungen. Bei den digitalen Rekonstruktionsformen müssen nur die tatsächlichen Unterschiede neu erstellt werden. Das, was identisch ist, kann einfach kopiert werden. Sowohl die digitalen Zeichnungen als auch das digitale Modell profitieren davon. Je größer die Anzahl der Varianten und je größer die Anzahl der Variationsthemen, umso stärker sind die digitalen Reproduktionsformen den traditionellen überlegen. Hans Ottomeyer spricht in diesem Zusammenhang von der „Parallele“ als „einmalige [...] Qualität“ der „3D-Simulation“.334 Am Beispiel eines romanischen Doms soll das kurz veranschaulicht werden: Ausgehend von der Annahme, dass das Aussehen des Westwerks nicht eindeutig bestimmbar ist, vier architektonische Varianten möglich sind und zudem zwei Varianten in Bezug auf die Farbe des Außenputzes existieren, würden sich daraus acht Gestaltmöglichkeiten ergeben. Es ist kaum vorstellbar, dass hierfür acht traditionelle Modelle gebaut würden, auch die Anfertigung acht malerischer Darstellungen ist eher unwahrscheinlich. Lediglich perspektivische Schwarz-Weiß-Zeichnungen, welche die Bauformen effektiv darstellen können, scheinen sinnvoll. Bei digitalen Rekonstruktionsformen ist eine solche Anzahl von Darstellungen problemlos. Es müssten jeweils nur die architektonischen Unterschiede des Westwerks erstellt werden, der Teil des rekonstruierten Bauwerks, der identisch ist, würde kopiert. Für die Farbgebung ist der Vorteil der Digitalität noch größer. Die Farben können in wenigen Sekunden eingestellt und sofort oder nach der Berechnung eines entsprechenden Bildes angezeigt werden. Auch bei der Thematisierung von historischen Bauphasen eines Bauwerks erlaubt das digitale Modell gegenüber den traditionellen Rekonstruktionsformen eine sehr viel größere Anschaulichkeit. Verdeutlichen

334 Siehe Anhang, Interviews, S. 524.

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lässt sich das am Beispiel der mittelalterlichen Synagoge Speyer. Möchte man den ersten gotischen Bauzustand mit dem zweiten gotischen Bauzustand vergleichen, dann erlauben die traditionellen Reproduktionsformen nur die direkte Gegenüberstellung: Zeichnung / Modell erster Zustand –  Zeichnung / Modell zweiter Zustand in jeweils zwei materiell angefertigten Darstellungen. Eine größere Anschaulichkeit kann mit der Überlagerung dieser Zeitstufen in dem gleichen digitalen Modell erfolgen. Diese Überlagerungen können mit Überblendungen oder durch die Präsentation von halbtransparenten Bauteilen erreicht werden (Abb. S. 224). Durch die genaue Bestimmbarkeit des Betrachtungsstandortes und der Blickrichtung kann für jede denkbare Perspektive eine exakte Überlagerung verschiedener Modellstände, selbst in der Bewegung, erreicht werden. Digitale Modelle vermögen so Varianten nicht nur statisch wiederzugeben, sondern erlauben auch, die Veränderung von der einen zu der anderen Variante dynamisch zu vermitteln. Mit traditionellen Mitteln ist dies nicht oder nur höchst kompliziert zu bewältigen. Ulrich Mette sieht das ähnlich, betont aber auch, warum er dem haptischen Modell in bestimmten Fällen den Vorzug gibt: „Digitale Modelle sind dann besonders vorteilhaft, wenn man Prozesshaftes darstellen möchte, wenn Funktionszusammenhänge erläutert werden sollen. Auch sind die Veränderungen, die ein Bauwerk in seiner Lebenszeit erfährt, mit Hilfe des Computers sehr gut zu verdeutlichen. [...] Das Computermodell ermöglicht, ein Bauwerk – auch rein in der sukzessiven Abfolge – aus verschiedenen Sichtweisen unmittelbarer zu erfassen und durch Überlagerungen dieser Sichtweisen einen höheren Verständnisgrad zu erzielen. Ich würde immer dafür plädieren, lieber ein digitales Modell anfertigen zu lassen als eine Zeichnung. Wenn man nur einen bestimmten Zustand zeigen möchte, dann finde ich allerdings das haptische Modell besser. Weil dann der Besucher selber die räumliche Situation eines Gebäudes im Umschreiten besser erfassen kann. Wenn man z.B. vermitteln will, so sah ein bestimmtes Schloss um 1713 aus, und es nicht darum geht, was sind die Vorläufer, was wurde später verändert.“335

Sowohl bei der Darstellung von Varianten wie auch von Bauphasen gilt, dass traditionellen Architekturrekonstruktionen schneller Grenzen gesetzt sind – entweder wie angesprochen von dem Erstellungsaufwand oder aber vom Platzbedarf. Da sämtliche Darstellungen des Computermodells über das gleiche, in seiner Raumbeanspruchung unveränderbare Display erfolgen, können beliebig viele Varianten oder Bauphasen veranschau­

335 Siehe Anhang, Interviews, S. 507.

208 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen licht werden, ohne an Grenzen des zur Verfügung stehenden Platzes zu gelangen, wie das bei traditionellen Rekonstruktionsformen der Fall sein könnte. In der „Kreml“-Ausstellung der Kunst- und Ausstellungshalle in Bonn (2004), in der die 850-jährige Baugeschichte des Moskauer Kremls mittels 3D-Computermodell dargestellt wurde, konnten die Besucher beispielsweise sechs verschiedene Bauphasen-Modelle des Kremls und seiner Umgebung betrachten (Abb. S. 223). Bei der Frage der Variantenbildung ist eine bauliche Rekonstruktion 1:1 nur in sehr eingeschränktem Maße eine ernst zu nehmende Strategie. Lediglich in einem kleineren Umfang, etwa bei der Farbgebung oder bei einzelnen kleineren Bauteilen, kann es sinnvoll sein, zur endgültigen Gestaltfindung, Varianten auszubilden. Das Thema der Variantenbildung kann auch aus konservatorischen Gesichtspunkten von großer Bedeutung sein. So ist es beispielsweise bei einer Rekonstruktion historischer Fresken möglich, diese erst im Computer zu vervollständigen, entsprechende Varianten und deren Wirkung im Gesamtraum zu überprüfen und danach die Restaurierung am Original zu vollziehen. Genauso könnte eine Vervollständigung zunächst nur im Computer erfolgen und diese dann der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, um die Originalfresken des Bauwerks nicht zu verändern. Eine solche Vorgehensweise ist bei der Bojana-Kirche in der Nähe Sofias beabsichtigt, die wegen ihrer berühmten mittelalterlichen Fresken als einer der wichtigsten bulgarischen Sakralbauten gilt und Bestandteil der Weltkulturerbe-Liste ist (Abb. S. 222). Dynamische Simulationen Unter Umständen ist es interessant, ein Bauwerk nicht nur statisch nachzubilden, sondern auch technische, physikalische Prozesse abzubilden. Dies könnte beispielsweise bedeuten, Elemente zur besseren Funktionserklärung in Bewegung zu zeigen oder eine dynamische Lichtsimulation zu erstellen. Im Vergleich der Rekonstruktionsformen zeigt sich die digitale Technologie hier klar überlegen. Beim haptischen Modell sind die Darstellungen dynamischer oder physikalischer Prozesse sehr aufwendig. Zeichnung und malerische Darstellung sind per se statisch und können keine dynamischen Darstellungen hervorbringen. Allerdings besteht bei ihnen die Möglichkeit, mehrere Momentaufnahmen eines dynamischen Prozesses abzubilden. Das digitale Modell bietet dagegen gute Möglichkeiten, solche Prozesse zu simulieren, und man kann sie mühelos in die Gesamtdarstellung des Bauwerks integrieren. Als Beispiele seien die Rekonstruktion des Templo Mayor, des Haupttempels der Azteken, bei dem in einer dynamischen Simulation des Sonnenstandes im Jahresverlauf die Wechselwirkung mit den Tempelanlagen verdeutlicht wird,

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oder die Darstellung der mittelalterlichen Bausstelle des Doms zu Speyer genannt.336 Erlebbarkeit nicht öffentlicher Räume Computermodelle ermöglichen auch bei Gebäuden, die aus verschiedensten Gründen der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind, durch ihr gutes Vermögen Innenräume detailliert darzustellen, eine wesentlich bessere Anschaulichkeit als Zeichnung und haptisches Modell und bieten so die Möglichkeit, Eindrücke von solchen unzugänglichen Räumlichkeiten zu vermitteln, wie sie bis dato mit keinem anderen Mittel zu erzielen waren. Beispielhaft seien die 3D-Computer-Rekonstruktionen der Loggien Raphaels in ihrem Zustand des frühen 16. Jahrhunderts (Abb. S. 191) sowie die Bojana-Kirche bei Sofia genannt. Letztere stellt zwar ein nationales Symbol dar und hat für Bulgarien identitätsstiftende Bedeutung, sie ist aber der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Hier haben wir den Fall, dass die Erinnerung an Architektur nicht ein zerstörtes Bauwerk betrifft, sondern eines, das vom Innenraum aus nicht vor Ort rezipierbar ist (Abb. S. 222). 3D-Computer-Rekonstruktionen stellen eine neue Alternative dar, diese Bauwerke einem Publikum dennoch zu präsentieren. Gerade im Kontext der Diskussion um „Cultural-Heritage“ kann dies bedeutend sein. Abschließend ist nochmals festzustellen, dass die Fragestellung von „Erinnerung und Involviertheit“ nur angerissen werden konnte, da hierzu keine empirischen Daten vorliegen. Das Thema an sich und die hier aufgestellten Hypothesen sollen im nächsten Kapitel der Synagogen aber wieder aufgegriffen und am konkreten Thema einer weiteren Prüfung unterzogen werden.

3.2.4.3 Verbreitung, Medienattraktivität und Diskussionspotential In Hinblick auf die Wirkung von Erinnerung in die Gesellschaft hinein ist es interessant zu fragen, ob zwischen den verschiedenen Rekonstruktionsformen unterschiedliche Potentiale bestehen, mediale Aufmerksamkeit zu erzielen und Diskussionen anzuregen, und wie die Bedingungen einer Verbreitung einzuschätzen sind. Verbreitung Bei der Frage nach den Möglichkeiten der Verbreitung einer ArchitekturRekonstruktion ist zunächst der Aspekt der Vervielfältigung von Interesse.

336 Erstellt von der asb baudat GmbH, Bensheim.

210 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen Zwischen den traditionellen Formen der Rekonstruktion und den digitalen besteht hierbei ein prinzipieller Unterschied hinsichtlich der Originalität. Malerische Darstellung, haptisches Modell und technische Zeichnung, sofern nicht mit dem Computer erstellt, sind in der Regel in einem quasi handwerklichen Prozess als Unikate hergestellt worden. Bei den zweidimensionalen Rekonstruktionsformen Malerei und Zeichnung ist eine Vervielfältigung in der Regel problemlos und mit relativ geringem Aufwand über fotografische Verfahren möglich. Es geht aber die Originalität verloren, das originäre Trägermaterial verschwindet. Bei einer einfachen technischen Zeichnung ist dies sicherlich kein Verlust, bei einer handkolorierten Zeichnung oder einem Gemälde allerdings sehr wohl. Die Vervielfältigungen haben nicht mehr die Aura des Unikats. Die Kopien können allerdings in einem Bruchteil der Zeit erstellt werden, die die Erstellung des Originals gekostet hat. Bei einem haptischen Modell ist Vervielfältigung im eigentlichen Sinne nicht möglich, denn möchte man die Qualität der dreidimensionalen Erlebbarkeit beibehalten, bedeutet Vervielfältigung die Herstellung eines bzw. weiterer Originale.337 Der Aufwand für Original und Kopie ist annähernd gleich. Die Verbannung des Modells auf die Zweidimensionalität der fotografischen Abbildung führt zum Verlust der eigentlichen Qualität des Modells, eben der Wahrnehmung der dritten Dimension. Im Gegensatz zu den traditionellen Rekonstruktionen entfällt bei dem digitalen Modell die Differenz zwischen Original und Kopie, da die materielle Speicherung der Information gestaltlos in Nullen und Einsen erfolgt. Der Umstand dieser Speicherung verweist damit auf einen weiteren Unterschied. Das digitale Modell existiert zwar als Software, kann aber nur mit Hilfe von Hardware, wie zum Beispiel Rechner und Bildschirm, sichtbar gemacht werden. Das heißt, einerseits ist die Vervielfältigung des Original-Modells ohne Verlust und praktisch unaufwendig zu gewährleisten. Andererseits muss auch die Hardware ebenfalls mehrfach bereitstehen bzw. angeschafft werden. Sollte die Hardware bereits existieren, sind die Verbreitungsmöglichkeiten enorm kostengünstig. Dies ist beispielsweise beim Internet der Fall. Millionen von potentiellen Nutzern steht ein Zugang zu Hardware zur Verfügung. Medienattraktivität und Diskussionspotential Neben Ausstellungen sind Massenmedien der Verbreitungsweg, um an ein nicht mehr existentes Bauwerk zu erinnern und möglichst viele Men337 Eine Ausnahme sind Modelle, die aufgrund eines Datensatzes maschinell erzeugt wurden. Ihre Verbreitung finden solche Modelle aber weniger im Kontext von historischer Forschung und Ausstellungen, sondern mehr als Souvenirs.

Digitale Modelle vs. traditionelle Rekonstruktionen 211

schen zu erreichen. Hierbei haben die einzelnen Rekonstruktionsformen allerdings nicht die gleiche Attraktivität. Bereits im ersten Kapitel wurde ausgeführt, dass bauliche Rekonstruktionen eine weitaus größere Medienattraktivität und ein größeres Diskussionspotential aufweisen als andere traditionelle Rekonstruktionsformen. Die angeführten Gründe hierfür – Realisierung im öffentlichen Raum, Möglichkeit der symbolischen Aufladung, Diskussionsbedarf durch hohe Kosten – lassen die baulichen Rekonstruktionen auch gegenüber den digitalen Modellen als wirkungsvoller erscheinen. Gegenüber haptischem Modell und Zeichnung sind 3D­Computer-Rekonstruktionen aber wiederum im Vorteil, was die Attraktivität der Massenmedien anbelangt. Betrachtet man die Printmedien und das Fernsehen, dann wird deutlich, dass in diesen das Bild bzw. das bewegte Bild im Vordergrund steht. Dabei sind diejenigen Bilder am attraktivsten, die die größte Anschaulichkeit besitzen. Dies wird am besten von den digitalen Modellen erreicht, gerade was die Darstellung der Innenräume betrifft. Traditionelle Rekonstruktionsformen, wie die technische Zeichnung, sind hier im Nachteil. Ein detailliertes haptisches Modell kann, was das ein­zelne Bild betrifft, durchaus mit dem digitalen Modell konkurrieren. Für den Bereich Fernsehen sind die digitalen Modelle mit ihren enormen Möglichkeiten, bewegte Bilder zu erzeugen, dem haptischen Modell aber weit überlegen. Ulrich Best hierzu: „Wenn man an einem Film arbeitet, denkt man in bewegten Bildern. Wenn ich also ein schönes Papiermodell filme oder ein Holzmodell, dann ist das nicht so detailliert und nicht so realistisch wie eine Computer-Rekonstruktion. [...] Man nimmt sich die beste technische Möglichkeit und das ist eine Computer-Rekonstruktion“.338

Maja Majer-Wallat, Pressesprecherin der Bundeskunsthalle, zu der Medienattraktivität von haptischem Modell und 3D-Computer-Rekonstruktion: „CAD ist ein schnelleres Medium. Bei der Generation, die mit dem Fernsehen groß geworden ist, ist das sehr schnelle Erfassen von Bildern erwiesen, und dem begegnen solche Computermodelle in einer Form, die höchste Bildungsqualitäten hat. Darin sehe ich den besonderen Reiz der Sache. [...] Wenn ich ein interessantes haptisches Modell habe und habe davon ein brillantes Foto, dann kann ich das in den Medien genauso gut unterbringen wie Fotos von einer virtuellen Rekonstruktion. [...] Trotzdem würde ich sagen, dass eine Computer-Rekonstruktion eine größere Verführungskraft hat, Besucher anzulocken als ein haptisches Modell, auch eine größere Kraft besitzt, Medien zum Berichten zu bringen. An

338 Siehe Anhang, Interviews, S. 496.

212 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen einem Beispiel möchte ich das verdeutlichen: In der Zusammenarbeit mit Berlin haben unsere Ausstellungen in Berlin manchmal die erste Station. Die zweite Station ist dann sozusagen im Stammhaus in Bonn. Das führt medientechnisch dazu, dass von der Süddeutschen bis zum Hamburger Abendblatt alle berichten, wenn die Ausstellung in Berlin ist. In der zweiten Station der Aztekenausstellung z.B. ist für mich die Computer-Rekonstruktion, die es in Berlin vorher noch nicht gab, der Anlass, um jetzt Focus, Süddeutsche und andere zu überzeugen, darüber zu berichten und die Ausstellung in Bonn über diesen Aufhänger in das Blatt zu heben. Ein haptisches Modell hätte wohl kaum diese Zugkraft, es sei denn man würde hingehen und mit einem berühmten Architekten arbeiten, der das Modell gemacht hat. Oder man müsste sehr mit Superlativen arbeiten, aber selbst da glaube ich, hat das haptische Modell nicht diesen Reiz.“339

In der zweidimensionalen Kopie verlieren die Zeichnung und das haptische Modell ihre Aura als Unikat, das digitale Modell hingegen bleibt in seinem Element, wobei die Vorteile des Echtzeitmodells gegenüber dem Simulationsfilm aufgehoben sind.340 Auch wenn der Reiz des Neuen, des Spektakulären, inzwischen etwas abgeklungen ist, verkörpern digitale Modelle eine dem Informationszeitalter entsprechende Darstellungsform, was eine Auswirkung auf die Bewertung von Attraktivität hat. Für den Bereich der wissenschaftlichen Diskussion ist zunächst festzustellen, dass, wenn es gilt, sich verlorene Architektur zu vergegenwärtigen, Zeichnungen, malerische Darstellungen und haptisches Modell seit Jahrhunderten zur Anwendung kommen und akzeptiert sind. Das Modell besitzt dabei grundsätzlich das größere Diskussionspotential, da es das gesamte Bauwerk in einer einheitlichen Darstellungsqualität wiederzugeben versucht. Wie schon ausgeführt, reicht das Quellenmaterial oft nicht aus, um eine hundertprozentig gesicherte Rekonstruktion durchzuführen. Zu Unklarheiten, die sich in der Zweidimensionalität der Zeichnung noch verbergen lassen, muss im dreidimensionalen Modell eine exakte Aussage getroffen werden. Das zwingt zu Interpretationen und Vorschlägen, die Diskussionen anregen. Das digitale Modell hat in dieser Hinsicht noch größere Potentiale, bietet es doch die Möglichkeit, Bauwerke innen wie außen realitätsnah darzustellen. Es zwingt, genau wie das haptische Modell, zur Klärung der Räumlichkeit, bietet darüber hinaus aber auch die Möglichkeit, exakte Aussagen zu der Materialität zu treffen. Die digitalen Modelle haben damit auch eine enorme Suggestionskraft. Wenn die

339 Siehe Anhang, Interviews, S. 515-516. 340 Die Frage, ob das Moment der Echtzeit bei dem Troia-Modell im Vergleich zu einem Simulationsfilm, wie zum Beispiel beim Vatikan, eine Bedeutung bei den Medien spielte, verneinte Maja Majer-Wallat. Siehe Anhang, Interviews, S. 516.

Digitale Modelle vs. traditionelle Rekonstruktionen 213

Rekonstruktion aber nicht wissenschaftlich abgeleitet und gegebenenfalls nicht eindeutig überlieferte Bereiche als Spekulation gekennzeichnet sind, lösen solche digitalen Modelle allerdings zu Recht Skepsis aus. Sie können so auch ihr Diskussionspotential verspielen.

3.2.4.4 Erstellungs-, Präsentations- und Erhaltungsaufwand Für die Bewertung der Wirksamkeit von Erinnerungsformen ist auch interessant zu fragen, mit welchem Aufwand sie zu verwirklichen, zu aktualisieren und zu erhalten sind. Diese Randbedingungen beeinflussen mit die Entscheidung, ob eine bestimmte Erinnerungsform überhaupt verwirklicht bzw. ob sie weiter bestehen wird. Es ist im Zusammenhang mit den neuen Möglichkeiten der digitalen Technologie zu fragen, welche Potentiale zur Aktualisierung oder zur Langlebigkeit bestehen, welche Relation zwischen Wirksamkeit und Aufwand zu verzeichnen und wie dieser Aufwand im Vergleich zu traditionellen Rekonstruktionsformen zu bewerten ist. Aufwand gliedert sich dabei in die nachfolgenden drei Bereiche Erstellungs-, Präsentations- und Erhaltungsaufwand. Erstellungsaufwand Zunächst ist bei allen dreidimensionalen Rekonstruktionsformen eine Gemeinsamkeit festzustellen. Ob traditionell oder digital, ihre Erstellung ist generell arbeitsintensiv. Betrachtet man die materiellen Voraussetzungen, um die verschiedenen Rekonstruktionsformen erstellen zu können, dann ist festzustellen, dass Zeichnung und malerische Darstellung sicher die wenigsten Voraussetzungen benötigen, die geringsten Kosten verursachen und am schnellsten zu bewerkstelligen sind. Vergleicht man das haptische mit dem digitalen Modell, kann gesagt werden, dass sich in den letzten Jahren die Randbedingungen verändert haben. Die enormen Summen, die einst für die Erstellung eines digitalen Modells im Bereich von Hard- und Software zu investieren waren, sind erheblich geschrumpft. Diese Kosten sind inzwischen wesentlich geringer als die Kosten einer Werkstattausstattung für den professionellen Modellbau. Zu den Kosten für haptische Modelle in der Dauerausstellung des DHM bemerkt Hans Ottomeyer:341 „Haptische Modelle sind extrem teuer. Wir rechnen bei diesen Modellen mit Summen, die im untersten Bereich bei 20.000 Euro liegen und im oberen Bereich

341 Siehe Anhang, Interviews, S. 526.

214 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen durchaus bei 250.000 Euro. Letzteres ist ein Stadtmodell mit 1.000 Gebäuden im Maßstab 1:600.“

Genau wie bei den haptischen Modellen schwanken die Kosten bei 3DComputer-Rekonstruktionen je nach Aufwand in der Regel zwischen mehreren zehntausend Euro und mehreren hunderttausend Euro. Die Rekonstruktion des Berliner Schlosses für die Preußen-Ausstellung des DHM hatte beispielsweise rund 100.000 Euro gekostet. Das interaktive Troia-Modell, das auch mit Geldern des Bundesministeriums für Bildung und Forschung finanziert wurde, hatte ein Finanzvolumen von mehreren Millionen Euro.342 Einige bekannte Computer-Rekonstruktionen sind an Universitäten entstanden. Hier sind die realen Kosten, wie sie in der freien Wirtschaft entstehen würden, nicht angefallen, da die Arbeitszeit von Professoren und wissenschaftlichen Mitarbeitern durch die öffentlichen Haushalte gedeckt wurde und studentische Mitarbeit nicht finanziell honoriert werden musste. Die Rekonstruktion des vatikanischen Palastes zur Zeit der Hochrenaissance, die im Auftrag der KAH am FG IKA der TU Darmstadt zusammen mit Studierenden erfolgte, wurde mit 30.000 Euro bezuschusst. Im nicht-universitären Rahmen hätte diese Rekonstruktion schätzungsweise eine halbe Million Euro gekostet. Im Vergleich von haptischem und digitalem Modell ist noch einmal auf einen prinzipiellen Unterschied hinzuweisen: Da das traditionelle Architekturmodell in seiner Größe begrenzt ist, können bzw. müssen auch weniger Details geklärt werden. Das digitale Modell dagegen hat keinen Maßstab. Dieser Umstand führt in Bezug auf das digitale Modell schnell zu der Haltung der Ersteller, mehr Details zeigen zu wollen, und seitens der Betrachter zu der Erwartung, mehr Details sehen zu wollen, zumal durch die in der Filmindustrie zum Einsatz gekommenen Computermodelle breiten Teilen der Bevölkerung bewusst ist, welche Realitätsnähe zu erzeugen ist. Seit einigen Jahren schon ist zwischen realen Filmsequenzen und Computer-Animationen kaum oder gar nicht mehr zu unterscheiden. Die Kinofilme „Jurrasic Park“, „Herr der Ringe“ oder „Final Fantasy“ mögen hier als Beispiele dienen. Ulrich Mette sieht für die Museen hier ein mögliches Problem:

342 „Das Projekt ‚TroiaVR‘ lief über 2,5 Jahre von Februar 2001 bis Juli 2003. ‚Virtuelles Niltal‘ lief zunächst über 2 Jahre vom 1.8.2001 bis zum 31.7.2003. Gesamtkosten: 3,6 Millionen Euro, davon wurden 2 Millionen vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert. ART+COM sowie die IXL AG haben 50 Prozent ihres Projektanteils selbst finanziert. Die beiden Universitäten wurden zu 100 % aus den Projektmitteln bezahlt.“, http://netzspannung.org/cat/servlet/CatServlet?cmd=netzkollektor&subCom mand=showEntry&lang=de&entryId=123898, vom 02.09.2004.

Digitale Modelle vs. traditionelle Rekonstruktionen 215 „Ich denke, die Erwartungshaltung der Besucher geht immer mehr dahin, dass solche Computer-Simulationen tatsächlich angeboten werden. Es wird nicht mehr als etwas außerordentlich Exzeptionelles angesehen. Seit der Vatikan-Ausstellung hat sich da gewaltig etwas getan. Jeder Wüstenrotsparer kann zuhause sein eigenes Haus mit CAD aufbauen in wunderbarer Qualität. Die Computer-Simulation als solche ist nicht mehr die Attraktion, sondern wenn, dann wirklich die Inhalte, was damit transportiert wird. Die Erwartungshaltung produziert natürlich ein immer höheres Anspruchsniveau zum Beispiel in der Darstellung. Da besteht eine Gefahr. Das, was im Museum gezeigt wird, darf nicht hinter das zurückfallen, was die Leute an anderen Orten sehen können.“343

Diese Umstände können bei gleicher Aufgabenstellung bei digitalen Modellen schnell zu einem höheren Erstellungsaufwand führen als beim haptischen Modell.344 Trotzdem ist mit einer Ausweitung der digitalen Modelle zu rechnen, da im Vergleich zu vor zehn Jahren die Kosten für die Produktionsmittel nicht mehr entscheidend sind. Es ist so auch von einer vermehrten Aktivität von „Laien“ auf dem Gebiet der 3D-Computer-Rekonstruktionen auszugehen, da Rechner für viele zur Ausstattung ihres Haushalts gehören. Ob dies auch für Echtzeitmodelle gelten wird, bleibt abzuwarten, denn gerade umfangreiche Echtzeitmodelle bedeuten enormen Erstellungsaufwand. Während beim Simulationsfilm vorher bestimmt wird, was erstellt wird und wie detailliert etwas sein soll, muss ein Echtzeitmodell tendenziell alles zeigen. Gerade in Ausstellungen, für die Modelle oft auf bestimmte inhaltliche Aspekte hin erzeugt werden, führt das zu unnötigen Mehrkosten. Ulrich Best zu diesem Punkt: „Man hat aber in einem Echtzeitmodell zwar eine unglaubliche Menge von Informationen versteckt, kann aber immer nur das zeigen, was in einem festgelegten Zeitraum möglich ist. Wozu also der Aufwand? Das Troiamodell war vorhanden in Echtzeit, weil es vor allem für andere Zwecke erarbeitet wurde. Es sollte später ins Internet gestellt und für wissenschaftliche Forschung zugänglich gemacht werden. Einzelpersonen sollten sich zu Hause am PC durch die Bereiche klicken können, die sie interessieren. Das ist eine ganz spannende Möglichkeit zur Forschung. Für den Einsatz in unserer Troia-Ausstellung wurde dann aber eine strikte Auswahl getroffen, um es für unsere Bedürfnisse zu optimieren. [...] Ein Echtzeitmodell macht

343 Siehe Anhang, Interviews, S. 511. 344 Anzumerken ist, dass der Erstellungsaufwand nicht nur von dem jeweils gewünschten Detaillierungsgrad, sondern auch von der Grundlagenermittlung bestimmt wird. Je präziser diese bereits durchgeführt wurde, umso einfacher und schneller kann eine Umsetzung erfolgen.

216 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen keinen Sinn, weil wir dann Informationen erarbeiten ließen und bezahlen müßten, die wir für unsere Ausstellungszwecke gar nicht benötigen.“345

Neben dem Aufwand für die reine Erstellung einer Rekonstruktion ist auch der Aspekt des Aufwands für Aktualisierungen anzusprechen. Aufgrund neuer Erkenntnisse kann es sinnvoll sein, Korrekturen an bestehenden Rekonstruktionen vorzunehmen. Theoretisch können alle hier angeführten Architekturnachbildungen aktualisiert werden. Traditionelle Formen müssen allerdings in ihrer Substanz verändert werden, es muss in ihre Materialität eingegriffen werden, was selten ohne weitere Probleme durchgeführt werden kann, unter Umständen auch unmöglich ist. Eine malerische Darstellung wird kaum übermalt, bei einem haptischen Architekturmodell behindert meist die Fügetechnik eine Aktualisierung, da die einzelnen Bestandteile geklebt sind und nicht ohne Beschädigung von einander getrennt werden können. Eine technische Zeichnung hingegen kann im Detail retouchiert werden, wenn auch nicht unendlich oft. Sollte ein größerer Aktualisierungsbedarf notwendig sein, etwa wenn sich neue Erkenntnisse ergäben, dass die Geschosshöhe einen halben Meter zu niedrig, die Gebäudelänge zwei Meter zu groß, der Stützenabstand falsch abgeleitet oder die Dachform nicht richtig rekonstruiert wurde, dann kommen traditionelle Verfahren an ihre Grenzen der Aktualisierbarkeit bzw. verlangen eine Neuerstellung. Digitale Modelle erlauben, eine schon erstellte Rekonstruktion bei neuen Erkenntnissen zu aktualisieren, ohne in Gefahr zu laufen, einen „Schaden“ anzurichten. Je nachdem kann eine Aktualisierung, die bei traditionellen Architekturrekonstruktionen überhaupt nicht auszuführen wäre, bei digitalen Modellen sogar schnell zu bewerkstelligen sein. So können beispielsweise ganze Modellbereiche oder Bauteile in ihrer geometrischen Form einfach skaliert werden. Farben sind mit wenigen „Klicks“ zu verändern. Allerdings ist zu beachten, dass selbst kleinste Änderungen bei einem Modell im Fall der Präsentation mittels Simulationsfilm das Neuberechnen vieler Filmsequenzen erforderlich machen können. Eine im Umfang kleine Aktualisierung des Modells kann so mit erheblichem Zeitaufwand und Kosten verbunden sein. Dies entfällt bei den Echtzeitmodellen, die hinsichtlich einer Aktualisierung den Modellen, die über Simulationsfilme präsentiert werden, überlegen sind. Vergleicht man abschließend den Erstellungsaufwand aller bisher behandelten Rekonstruktionsformen mit dem einer baulichen Rekonstruktion, dann ist offensichtlich, dass hier die Herstellungskosten zigfach höher liegen und zwingen können, „Alternativen zur baulichen Wiederherstel-

345 Siehe Anhang, Interviews, S. 511.

Digitale Modelle vs. traditionelle Rekonstruktionen 217

lung“346 zu finden, wie es der gleichnamige Titel einer Tagung im Jahre 2004 propagiert. Präsentationsaufwand Die Frage des Präsentationsaufwandes für die einzelnen Rekonstruktionsformen soll anhand von Ausstellungen prinzipiell skizziert werden. Zunächst scheint es, dass eine Präsentation von traditionellen Rekonstruktionsformen weniger Aufwand erfordert, sind sie doch nach ihrer Fertigstellung unmittelbar wahrnehmbar und damit herzeigbar. Es kann allerdings unter Umständen notwendig sein, auf gesonderte Sicherheitsmaßnahmen gegen Diebstahl und besondere Schutzvorrichtungen gegen Beschädigungen zu achten oder zusätzliche Vorrichtungen zur Erläuterung des Modells zu installieren. Gerade Letzteres kann zu beachtlichen Kosten führen. Hans Ottomeyer erwähnt in dem mit ihm geführten Interview einen Glassturz für ein Modell der Stadt München im Bayerischen Nationalmuseum mit neun Metern Durchmesser, der auch ein System der Verortung von Information enthält und Kosten von fast 250.000 Euro verursacht hat.347 Das digitale Modell braucht im Gegensatz zum haptischen Modell und zur Zeichnung nach seiner Fertigstellung immer ein Interface, um das Modell sichtbar zu machen. Je nachdem, ob ein Echtzeitmodell zum Einsatz kommt oder lediglich ein Simulationsfilm gezeigt wird, variiert der Aufwand. Sollte ein Echtzeitmodell gezeigt werden, wird eine enorme Rechenleistung und damit eine spezielle, extrem leistungsfähige Hardware benötigt, was die Kosten für die Präsentation erhöht. Simulationsfilme sind demgegenüber die kostengünstigere Form, digitale Modelle zu präsentieren. Es werden lediglich Abspielgeräte und Displays (Monitore oder Beamer) benötigt. Letztendlich sind die Präsentationskosten bei digitalen Modellen abhängig von den Kosten für das Interface. Diese Kosten können auch gegen null gehen, denkt man an eine Präsentation im Internet. Erhaltungsaufwand In Bezug auf den Erhaltungsaufwand ist zunächst auf einen grundlegenden Unterschied hinzuweisen. Die traditionellen Rekonstruktionsformen sind Informationsträger und Präsentationsform zugleich. Bei den digitalen Modellen ist dies nicht der Fall. Das Modell liegt als Datensatz 346 Die Tagung „Rekonstruktion – Alternativen zur baulichen Wiederherstellung“ wurde von der Stadt Paderborn in Zusammenarbeit und mit Unterstützung des Förderkreises Historisches Museum im Marstall e.V. im Heinz-NixdorfMuseumsForum organisiert und von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz gefördert. 347 Siehe Anhang, Interviews, S. 524.

218 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen vor, in dem alle Informationen gespeichert sind. Die Präsentation erfolgt über ein Interface und kann unterschiedliche Formen annehmen. Während man bei traditionellen Rekonstruktionsformen somit immer nur das einzelne Objekt selbst – die Zeichnung oder das Modell – erhalten und pflegen muss, stellt sich dieser Sachverhalt beim digitalen Modell komplizierter dar. Je nach Ausgangssituation beinhaltet der Erhaltungsaufwand den Erhalt von Datensätzen und das Erhalten von spezieller Hard- und Software, wobei von zwei grundsätzlichen Ausgangssituationen zu sprechen ist. Die erste Ausgangssituation betrifft das Echtzeitmodell. Hier muss sowohl das digitale Modell erhalten werden wie auch die Original-Konfiguration von Hard- und Software, die das Modell visualisiert. Wird Hard- und Software von einer nächsten Generation abgelöst, muss die Lesbarkeit überprüft und gegebenenfalls der Datensatz aktualisiert werden. Die zweite Ausgangssituation ist der Regelfall und geht von Rekonstruktionen aus, die über Einzelbilder und Filme repräsentiert werden. Hier müssen die Einzelbilder gesichert werden, die einzeln für sich oder in ihrer Zusammensetzung als Film für das digitale Modell stehen. Allerdings ist es sinnvoll, auch den Datensatz des Modells an sich zu speichern. So können einerseits immer wieder neue Bilder gerechnet werden, andererseits lassen sich nur so die Vorzüge eines digitalen Modells nutzen, das heißt den 3D-Datensatz des Bauwerks für neue inhaltliche Aussagen und Forschungsergebnisse offen zu halten. Das hat zur Folge, dass nicht nur der Datensatz des Modells an sich gesichert werden muss, sondern auch die Originalkonfiguration bestehend aus Hard- und Software. Möchte man auch zukünftige technische Möglichkeiten nutzen, bedeutet das, die Generationswechsel von Hard- und Software im Auge zu behalten, Hardund Software gegebenenfalls zu aktualisieren und die Datensätze in die nächsten Generationen zu transformieren. Dies ist ein nicht zu unterschätzendes Problem, da hierfür Kosten anfallen, die bei der Kalkulation der Erstellung meistens nicht berücksichtigt werden. Eine weitere Voraussetzung für eine erfolgreiche Datenerhaltung ist eine vorher erfolgte Dokumentation zur Datenstruktur sowie entsprechendes Fachpersonal, das ältere Hard- und Softwarekonfigurationen noch beherrscht. Dies alles macht deutlich, dass der Erhaltungsaufwand bei den traditionellen Rekonstruktionsformen doch um einiges einfacher ist als bei den digitalen. Aufgrund der relativ kurzen Erfahrungszeit mit digitaler Technologie sowie dem extrem schnellen Wechsel von Hard- und Software, auch hinsichtlich der Speichermedien, scheint es einen enormen Erfahrungsvorsprung zu geben, was die Haltbarkeit traditioneller Modelle im Vergleich zu digitalen Rekonstruktionsformen betrifft. Bei traditionellen Formen sind zunächst nur grundlegende Regeln der Aufbewahrung und

Digitale Modelle vs. traditionelle Rekonstruktionen 219

Präsentation, wie z.B. Schutz vor direktem Sonnenlicht und Feuchtigkeit, zu beachten. So könnte ohne größeren Aufwand jahrzehntelang der Erstellungszustand annähernd gehalten werden. Hans Ottomeyer hierzu: „Ein Modell, wenn ich es nicht viel transportiere und wenn ich einen Glassturz darüber setze, erhält sich gut – ein paar hundert Jahre – es ist fast unzerstörbar. Haptische Modelle leiden natürlich sehr stark unter falschen Aufbewahrungsorten, Dachböden, Kellern. Und wenn sie durch Kriegsläufe, Depotumräumungen, egozentrische Museumsdirektoren, die sie nicht zu schätzen wissen, bewusst in so eine Abschiebesituation kommen, dann leiden sie schon immens unter Trockenheit und Nässe – sind aber häufig noch mit Klebestoffinjektionsspritze und Staubpinsel zu retten und es führt selten zu ihrer völligen Zerstörung.“348

Heidemarie Anderlik warnt: „Ich vermute, dass Baumodelle letztendlich billiger und langlebiger sind. Die schönsten Baumodelle, die wir heute bestaunen, sind drei-, vierhundert Jahre alt. Da stellt sich die Frage, ob künftige Generationen im Jahre 2400 noch begeistert digitale Modelle aus der Zeit um 2000 anschauen können. Denken Sie nur an die ersten Computer, die ein Zimmer füllten. Wenn ich heute noch Lochkarten benutzen will, muss ich in das Museum von IBM gehen, da es dort noch ein paar Spezialisten gibt, die sich damit auskennen und dieses dann realisieren können. Aber es ist die Frage, wie lange noch? Der Computer als reines Museumsstück, das nicht mehr funktioniert?“349

Dass uns Zeichnungen und Modelle, die über 500 Jahre alt sind, erhalten geblieben sind, unterstützt eine solche Annahme, beweist aber lediglich, dass die damals eingesetzten Materialien, Farben und Fügungstechniken eine lange Lebensdauer garantiert haben. Ob zum Beispiel die heute in Modellen eingesetzten Klebstoffe eine solche lange Zeit garantieren, ist ungewiss. Überraschungen, wie sie in der analogen Welt beim Buchdruck oder beim Filmmaterial mit dem Auflösen der Information zu erleben waren, mahnen zur Vorsicht, den traditionellen Reproduktionsformen in puncto Haltbarkeit einen „Persilschein“ auszustellen. Sicher ist aber die Ungewissheit bezüglich der Haltbarkeit von digitalen Speichermedien, wie zum Beispiel CDs oder DVDs. Die Haltbarkeit von CDs hängt von sehr vielen unterschiedlichen Faktoren ab, die von normalen Computerbenutzern kaum zu überblicken und schwer zu beeinflussen sind. Zu nennen sind beispielsweise die chemische Zusammensetzung des Trä348 Siehe Anhang, Interviews, S. 526. 349 Siehe Anhang, Interviews, S. 530.

220 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen germaterials, die Art und Weise des Brennvorgangs in Abhängigkeit von der Hardware und die Lagerung. Eine Sicherheit, wie lange Daten auf einer CD lesbar bleiben, gibt es zur Zeit nicht. Die Lebensdauer lasse sich allenfalls „statistisch“ voraussagen, wie Hartmut Gieselmann in einem c’tArtikel schreibt.350 Als die derzeit professionellsten Speichermedien mit Kapazitäten von 20 – 28 GB nennt Gieselmann die „Ultra Density Optical“ (UDO) und die „Professional Disc for Data“ (PDD). Die Hersteller geben die Haltbarkeit mit mindestens 50 Jahren an.351 Trotz Komplexität und Problematik, was den Erhaltungsaufwand digitaler Modelle betrifft, sollte nicht vergessen werden, dass digitale Daten nicht altern und sich nicht abnutzen. Ist ihre Vollständigkeit gewährleistet, können sie auch in 100 Jahren exakt die gleiche Qualität haben wie nach ihrer Erstellung. Da den Informationen keine unikate Trägerschaft zu Grunde liegt, kann selbst bei Datenverlust in der Regel die Information in gleicher Form wiederhergestellt werden. Dies ist „nur“ mit Zeit und Kosten verbunden und würde sich beim Eintreten eines solchen Falls an der Bedeutung der verlorenen Daten oder der wirtschaftlichen Verwertbarkeit messen lassen. Bei traditionellen Erinnerungsformen geht mit dem Verlust neben einem finanziellen Wert auch die „Patina“ verloren, die ablesbaren Spuren der Zeit, selbst wenn die reine Information auch in anderer Form vorliegt. Und es können Unikate verloren gehen wie das Beispiel des Brands im Rokokosaal der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek zeigt, der 30.000 wertvolle Bücher vernichtete. Für Christina Weiss hat damit „das literarische Gedächtnis Deutschlands schweren Schaden genommen“352 und Thomas Medicus fügt an: „[...] das kulturelle Gedächtnis dieses Landes ist an einem seiner wichtigsten nationalen Gedächtnisorte nachhaltig getroffen worden“.353 Das Beispiel aus Weimar macht deutlich, dass der Verlust traditioneller Bestandteile am kulturellen Gedächtnis nie auszuschließen ist, will man nicht das gesamte Kulturgut in hochgesicherten Bunkern verschwinden lassen. So wird, was die Beständigkeit des kulturellen Gedächtnisses betrifft, deutlich, dass auf absehbare Zeit sowohl bei traditionellen als auch bei digitalen Informationsträgern mit Unsicherheiten gelebt werden muss. Genau diese Unsicherheit, wichtige Informationen nur an einem Ort verfügbar zu haben, führte zu einer neuen technischen Entwicklung,

350 H. Gieselmann: Gegen das Vergessen, in: c’t 1, 2005, S. 44. 351 Siehe hierzu: H. Gieselmann: Blaues Gedächtnis, in: c’t 6, 2004, S. 196-200. 352 Zitiert nach T. Medicus: Kultureller Gedächtnisverlust, in: FR vom 4.09. 2004, S. 15. 353 Ebd.

Digitale Modelle vs. traditionelle Rekonstruktionen 221

die vorsah, an mehreren Orten die gleichen digital gespeicherten Daten abrufbar zu halten und eine Kommunikation zwischen diesen Orten zu ermöglichen – der Erfindung des Internets.

222 Erinnerungskultur und 3D-Computer-Rekonstruktionen

Boyanakirche in Sofia, Innenraum 3D-Computer-Rekonstruktion

Boyanakirche in Sofia, Längsschnitt 3D-Computer-Rekonstruktion

Digitale Modelle vs. traditionelle Rekonstruktionen 223

Holz Kreml 1157, Weißer Kreml 1266, Roter Kreml 1600, Roter Kreml 2000 3D-Computer-Rekonstruktion des Moskauer Kreml

Weißer Kreml 1266 3D-Computer-Rekonstruktion des Moskauer Kreml

224 Erinnerungskultur und digitale Technologien

3D-Computer-Rekonstruktion, Synagoge Speyer Frauenbau – Überblendung Phase Gotik 1 zu Gotik 2

Internet als neues Medium der Erinnerung 225

3.3 Internet als neues Medium der Erinnerung Der zweite Teil des dritten Kapitels widmet sich dem Internet als neuem Medium in der Erinnerungslandschaft. Zu Beginn der Bearbeitung war auf keine Untersuchung zurückzugreifen, die beispielorientiert Websites mit erinnerndem Charakter zum Gegenstand hatte. Im Rahmen eines Forschungsseminars an der TU Darmstadt, Fachgebiet IKA, mit dem Titel „Das Internet – Eine neue Form des kulturellen Gedächtnisses“ erfolgte eine solche Untersuchung des WWWs. Die Aufgabe bestand darin, nach bestimmten Kriterien Websites zu suchen, zu analysieren und zu bewerten. Um zunächst einen möglichst breiten Überblick über Erinnerung und Gedenken im Internet zu erhalten, wurde das WWW gezielt nach den traditionellen Inhalten und Institutionen des kulturellen Gedächtnisses abgesucht. Es erfolgte die Suche nach beispielhaften historischen Ereignissen, berühmten Persönlichkeiten und bedeutenden Ideen. In Bezug auf die Institutionen des kulturellen Gedächtnisses wurde nach den virtuellen Abbildern realer Museen, nach Archiven und Internetauftritten von Gedenkstätten an authentischen Orten – hier schwerpunktmäßig der bedeutende Bereich der NS-Gedenkstätten – gesucht. So wurden gezielt Websites der Gedenkstätten bekannter Konzentrations- bzw. Vernichtungslager besucht. Zusätzlich erfolgte die Suche nach zerstörter Architektur anhand berühmter Bauwerke. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf Internet-Präsentationen gelegt, die das Spezifische des Mediums Internet verwirklichen oder solche, die Inhalte anbieten, die nur hier rezipierbar sind, wie beispielsweise Internet-Archive oder „Virtuelle Museen“. Um einen Überblick zum Thema „Erinnerung im Web“ zu vermitteln, werden die verschiedenen recherchierten Websites in ein gemeinsames Bezugssystem gestellt. Diese Typologisierung erfolgt hinsichtlich folgender Fragen: Welche Zielsetzungen und Selbstverständnisse liegen zu Grunde und wer sind die Betreiber? In einem anschließenden Vergleich zwischen dem Internet und den traditionellen Formen der Vermittlung von Erinnerung sollen das Spezifische, die Potentiale, aber auch die Grenzen und Randbedingungen dieses neuen Mediums für das Thema Erinnerung skizziert werden. Auf eine quantitative Untersuchung wurde verzichtet, da es sich im ersten Kapitel nur um eine Sichtung und Annäherung handelt, die Prinzipielles deutlich machen soll. Eine quantitative Untersuchung von Websites erfolgt am konkreten Beispiel der Synagogen im nächsten Kapitel. Die gewonnenen Einschätzungen dieses Kapitels dienen hierfür als Grundlage. Den Anfang der Betrachtung des Themas „Internet“ bildet eine Einleitung mit einem kurzen historischen Rückblick zu diesem Medium.

226 Erinnerungskultur und digitale Technologien Geschichte des Webs Betrachtet man die Geschichte des Internets, dann ist zunächst Folgendes auffällig: Obwohl das Internet, wie wir es heute kennen, erst etwas mehr als zehn Jahre existiert, hat es eine enorme Verbreitung gefunden und die Benutzung dieses Mediums ist für viele selbstverständlich geworden. Begonnen hat die Geschichte des Internets schon in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Als einer der Startpunkte des Internets gilt das Jahr 1969. Zu dieser Zeit wurden in dem sogenannten Arpanet, einem von dem amerikanischen Verteidigungsministerium finanzierten Forschungsprogramm, vier Computer zusammengeschlossen.354 Diese Rechner befanden sich in der „University of California“ in Los Angeles, an der „University of California“ in Santa Barbara“, an der „University of Utah“ in Salt Lake City und am „Stanford Research Institute“ (bei San Francisco). Hintergrund des Forschungsprojektes war unter anderem die Suche der USA nach einem ausfallsicheren militärischen Kommunikationsnetz. 1972 hatte das Arpanet 29 Knoten.355 Im Laufe der Jahre wurde nicht nur das Arpanet weiter ausgebaut, es entstanden weitere Netze und diese wurden mit dem Arpanet zu einem größeren Netz zusammengeschaltet. 1983 erfolgte eine Trennung in ein rein militärisches und ein ziviles Netz. Am 1. Januar 1983 wurde das bis heute gültige Übertragungsprotokoll für Datenverkehr im Internet, das TCP/IP, Standard für das Arpanet.356 Wie bei anderen technischen Erfindungen auch, entstand das Internet aus einer Mischung aus visionärem Idealismus, wirtschaftlichen und militärischen Interessen sowie wissenschaftlicher Neugierde. Wolfgang Coy beschreibt diese Entwicklung sehr treffend, indem er den Erfolg des Internets neben der „offensichtlichen Nachfrage nach seinen Dienstleistungen E-mail, Dateifernzugriff (File Transfer) und Datenfernverarbeitung (remote login)“357 drei Faktorten zuschreibt: „militärische Forschungsfinanzierung“, „weltweite akademische Verbreitung im Gefolge des kostenlos verteilten Unix-Betriebssystems“ sowie „eine Unzahl von freiwilligen Arbeitsstunden im akademischen Bereich“358. Der „spezielle[], nichtmaterielle[] Charakter der Software und der Netze“ sei eine weitere Voraussetzung, denn „Software lässt sich nahezu umsonst kopieren und verteilen[,] Netze lassen sich durch die Verknüpfung über einen Knoten und ein Protokoll leicht

354 Zu den Anfängen des Internet siehe: K. Hafner / M. Lyon: Arpa Kadabra oder Die Geschichte des Internet, Heidelberg 2000. 355 Ebd., S. 213. 356 Siehe ebd., S. 294-295. 357 W. Coy: Media Control. Wer kontrolliert das Internet?, in: S. Krämer: Medien Computer Realität, Frankfurt am Main 2000, S. 133. 358 Ebd., S. 133-134.

Internet als neues Medium der Erinnerung 227

erweitern [und] Rechnernetze setzen auf bestehenden elektrischen Kommunikationsnetzen, vor allem dem Telefonnetz, auf.“359 Das, was das Netz heute allerdings ausmacht, seine Multimedialität, die Einbindung von Text, Bild und Ton sowie die netzförmige Verlinkung von Informationen, entstand erst Anfang der 90er Jahre am Genfer Institut für Teilchenphysik (CERN).360 Dort wurde das „World Wide Web“ von Tim Berners-Lee als Internet-Dienst erfunden, der die gleichzeitige Darstellung von Text und Grafik erlaubte.361 Neben dieser grafischen Erweiterung hatte Berners-Lee die Vision einer weltweiten Vernetzung von Informationen über eine Verweisstruktur. Ted Nelson prägte bereits 1965 für diese Art Informationen abzurufen den Begriff „Hypertext“362. 1990 entwickelte Berners-Lee am CERN dann das Protokoll „http“, das die Verlinkung aller im Internet erreichbaren Rechner erlaubt und die Hypertext Markup Langue (HTML), die bis heute die Formatierung für Hypertext-Dokumente vorgibt.363 Er gab ebenfalls mit der URI (Universal Resourcecode Identifier, heute URL – Uniform Resource Locater) die Form der Adressierung an, mit der Webdokumente aufgefunden werden können. Zunächst war das Programm, das Dokumente im Internet zur Verfügung stellt, der sogenannte Webserver, nur auf Computern im CERN installiert, 1991 wurde es erstmals außerhalb des CERN auf einem Rechner implementiert. Im akademischen Umfeld erfreute sich das World Wide Web immer größerer Beliebtheit und die „Entwicklung von Webbrowsern war für Studenten und Programmierer zu einem nützlichen Vehikel geworden, um ihre Programmierkenntnisse zu demonstrieren“.364 So entstanden immer wieder neue Browser wie z.B. „Mosaic“, aus dem später der Netscape-Navigator hervorging. Ganz neue Anwendungen wurden möglich. Neben dem nichtkommerziellen Charakter bekam das Netz auch immer mehr ein kommerzielles Gesicht. Aber erst seit Mitte der 90er Jahre entwickelte sich das Internet mit dem World Wide Web zu einem Massenmedium. In Deutschland waren Januar 1994 erst 1.223 de.Domains registriert, Januar 1996 waren es 7.351, Januar 1998 112.647, Januar 2000 1.554.347 und Januar 2003 6.101.690 de.Domains.365 Inzwischen sind mehr als die Hälfte der 359 Ebd., S. 134. 360 Siehe hierzu auch: T. Berners-Lee: Der Web-Report, München 1999, und J. Gillies / R. Cailliau: Die Wiege des Web, Heidelberg 2002. 361 Berners-Lee 1999, S. 46. 362 Ebd., S. 17. 363 Siehe ebd., S. 52-53. 364 Ebd., S. 107. 365 http://www.denic.de/images/diagramme/Domains_simple_de.xls, vom 05.10.2003). Die weltweite Entwicklung der Hosts (Computer mit zugewiesener eindeutiger Kennung für das Internet, die sogenannte IP-Adresse) zeigt ebenfalls diese Entwicklung an: August 1981 gab es weltweit 213 Hosts, November 1986

228 Erinnerungskultur und Internet Deutschen online.366 Bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist die Zahl derjenigen, die das Internet nutzen, noch größer. 66 Prozent der 10- bis 14-Jährigen und 84 Prozent der 15- bis 24-Jährigen nennt das Statistische Bundesamt für das Jahr 2003.367 Im Vergleich zu den traditionellen Medien der Vermittlung von Erinnerung kann das Internet aufgrund seines kurzen Bestehens nur auf eine sehr kleine Zeitspanne des Wirkens überhaupt zurückgreifen. Damit fehlt natürlich eine längere Tradition des Weiterentwickelns von Inhalten, Gestaltung, Intentionen und Potentialen. Somit steckt das Medium Internet für die Vermittlung von Erinnerung in den Kinderschuhen. Die Projekte in diesem speziellen Bereich sind in der Anzahl begrenzt, noch nicht oder wenig bekannt und noch weniger bewertet. Die Geschichte der Erinnerung im Netz muss noch geschrieben werden, dies kann und will diese Publikation nicht leisten. Mit der rasanten Ausbreitung des Internets wurde aber immer mehr Menschen, die sich dem Thema Erinnerung verschrieben haben, bewusst, dass dieses Medium zahlreiche neue Möglichkeiten bietet. Viele Institutionen des kulturellen Gedächtnisses gingen online. Es gibt kaum eine Gedenkstätte, kaum ein Museum oder ein Forschungsbzw. Dokumentationszentrum, das nicht inzwischen eine Homepage hat.

5.089 Hosts, Oktober 1990 313.000 Hosts, Januar 1994 2.217.000 Hosts, Januar 1998 29.670.000 Hosts und Januar 2003 171.638.297 Hosts. (http:// www.isc.org/ds/host-count-history.html, vom 05.10.2003. 366 http://www.tns-emnid.com/presse/p-2003_06_23.html, vom 05.10.2003. Siehe auch die Daten des Statistischen Bundesamts. Hiernach waren im Jahre 2003 54 Prozent der Deutschen online. http://www.destatis.de/download/d/ veroe/itinhaushalten03.pdf, vom 19.08.2004. 367 http://www.destatis.de/download/d/veroe/itinhaushalten03.pdf, vom 19.08.2004.

Typlogische Übersicht – Selbstverständnisse und Betreiber 229

3.3.1 Typlogische Übersicht – Selbstverständnisse und Betreiber Um einen Überblick zu Websites mit erinnerndem Charakter zu vermitteln, wurde bei den analysierten Internetauftritten eine hierarchische Gliederung nach zwei Gesichtspunkten vorgenommen. Erstens nach dem Selbstverständnis der Website und zweitens nach der Art des Betreibers. Somit entstand folgende typologische Gliederung: – Selbstdarstellung einer Institution – „Orte der Erinnerung“ – Museen und Gedenkstätten – Forschungs- und Bildungseinrichtungen – Archive – Darstellung eines spezifischen Inhaltes – informativer Charakter – Freie Initiativen – Anbindung an eine Institution – Darstellung eines spezifischen Inhaltes – sinnlich, künstlerischer

Charakter – Portale

Ergänzend sind noch Informations- und Wissenssammlungen im Internet zu erwähnen, bei denen das Erinnern nicht die eigentliche Intention der Betreiber ist. Allerdings haben die Inhalte bzw. Teile der Inhalte dieser Internetauftritte durchaus eine Funktion im Kontext der Erinnerung, da sie Informationen zu erinnerungswürdigen Themen bereithalten. Exemplarisch seien hier „wissen.de“368 oder die Internet-Enzyklopädie „wikipedia“369 genannt.

3.3.1.1 Selbstdarstellungen von Institutionen Unter dem Stichwort der Selbstdarstellung sind alle Internetauftritte zu verstehen, die eine bestimmte Institution und deren thematische Schwerpunkte präsentieren. Im Vordergrund stehen zunächst die Vorstellung der Institution und die Präsentation ihrer Aktivitäten. Der Umfang und die Art der Aufbereitung von thematischen Schwerpunkten für das Internet sind von Institution zu Institution sehr verschieden. Hinsichtlich der Betreiber 368 http://www.wissen.de, vom 25.01.2005. 369 http://de.wikipedia.org/wiki/Hauptseite, vom 07.06.2006.

230 Erinnerungskultur und Internet sind Websites zu unterscheiden in erstens „Orte der Erinnerung“ – Gedenkstätten und Museen, zweitens Forschungs- und Bildungseinrichtungen und drittens Archive. „Orte der Erinnerung“ – Gedenkstätten und Museen Gedenkstätten und Museen unterscheiden sich von den anderen Institutionen vor allem dadurch, dass sie vor Ort Objekte, Rauminszenierungen und Architektur einem möglichst großen Publikum präsentieren und sinnlich erfahrbar machen. Ziel ist es, Menschen anzuregen, diese Orte zu besuchen. Darstellungen im Internet sollen und dürfen den Besuch vor Ort nicht ersetzen, sondern den Besuch vorbereiten, ergänzen und über das laufende Programm informieren. Daneben finden sich in der Regel Informationen über die Geschichte, die Organisation, die Aktivitäten und über Veröffentlichungen der Institution sowie Angaben zu den Öffnungszeiten und den Anfahrtswegen. Es ist in der Regel nicht das primäre Ziel dieser Institutionen, dem Internetbenutzer online über ein Thema umfassend Informationen zu vermitteln oder per Download zur Verfügung zu stellen. In der Regel werden Themen kurz angerissen. Websites von Gedenkstätten an authentischen Orten bieten dabei aber tendenziell mehr Informationen als Museen, weil bei ihnen die Selbstdarstellung der „Institution“, die Geschichte des Ortes und die Inhalte eng verzahnt sind. Die Darstellung der Geschichte dieser Orte ist in der Regel Bestandteil der Internetpräsenz und wird aus der Sicht der entsprechenden Institution dargestellt. Als Beispiele seien die Websites der Gedenkstätten der Konzentrationslager Dachau370 und Buchenwald,371 des KZ- und Vernichtungslagers Auschwitz372 oder der Gedenkstätte Check-Point-Charlie373 genannt (Abb. S. 264). Als authentische Orte weisen diese Gedenkstätten ganz bestimmte, einzigartige Atmosphären auf. Auch wenn dieses „Atmosphärische“ sicher von verschiedenen Personenkreisen und Individuen unterschiedlich wahrgenommen wird und somit nicht verallgemeinerbar ist, fällt doch auf, dass es keinen Versuch gibt, über das Internet auch atmosphärische Interpretationen anzubieten. Die inhaltlichen Angebote der Websites von Museen sind unterschiedlich und schwanken von kurzen Vorstellungen aktueller und kommender Ausstellungen, beispielhaft sei hier das Historische Museum Frankfurt genannt, über Webauftritte mit längeren Beiträgen zu Ausstellungen, hier ist z.B. die Website der Bundeskunsthalle in Bonn zu nennen, bis hin

370 http://www.kz-gedenkstaette-dachau.de, vom 09.07.2004. 371 http://www.buchenwald.de/, vom 09.07.2004. 372 http://www.auschwitz-muzeum.oswiecim.pl/, vom 09.07.2004. 373 http://www.mauer-museum.com/, vom 25.01.2005.

Typlogische Übersicht – Selbstverständnisse und Betreiber 231

zu sehr umfangreichen inhaltlichen Darstellungen wie bei den Internetseiten des Holocaust Museums374 in Washington, der Gedenkstätte Yad Vashem375 in Jerusalem oder dem Auftritt „Lemo“ – Lebendiges Museum Online.376 Forschungs- und Bildungseinrichtungen Die zweite Gruppe unter den Institutionen besteht aus den Forschungsund Bildungseinrichtungen, die über das Internet ihr Profil, ihre Arbeitsfelder und Erkenntnisse der eigenen Forschung veröffentlichen sowie Literatur- und Veranstaltungstipps geben. Das Internet hat es hier möglich gemacht, jenseits der Fachpublikationen und der periodischen Veröffentlichungen der einzelnen Institutionen Forschungsergebnisse und Hinweise einem größeren Publikum äußerst aktuell anzubieten, Recherchen zu vereinfachen, aber auch den Bestand an Archivmaterial über OnlineKataloge ohne Besuch vor Ort oder aufwendige Anfragen eigenständig zu sichten. Beispielhaft können das Leo-Baeck-Institute377, das SimonWiesenthal-Institut378 und das Fritz Bauer Institut379 genannt werden, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, an den Holocaust zu erinnern und diesen aufzuarbeiten. Das Fritz Bauer Institut unterhält neben dem oben skizzierten Angebot auch eine Datenbank zur Cinematografie des Holocausts, die über das Internet abgerufen werden kann. Archive Als dritte Gruppe der Institutionen des kulturellen Gedächtnisses sollen hier die Archive genannt werden. Immaterielle Archive im Internet sind in der Regel das Abbild schon bestehender materieller Sammlungen und stellen eine Revolutionierung des Archivwesens dar, weil sie die Möglichkeit bieten, dass Interessierte die gesuchten Informationen zu jeder Zeit ohne Besuch vor Ort beziehen können. Felix Leonhardt beschreibt aus

374 http://www.ushmm.org, vom 10.07.2004. 375 http://www.yad-vashem.org.il/, vom 10.07.2004. 376 „Das Fraunhofer Institut für Software- und Systemtechnik (ISST), das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin und das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (HdG) in Bonn präsentieren gemeinsam im Internet deutsche Geschichte von 1900 bis zur Gegenwart. Beim virtuellen Gang durch das 20. Jahrhundert werden 3D-Animationen (VRML) sowie Film- und Tondokumente mit den musealen Objektbeständen und Informationstexten (HTML) verknüpft und vermitteln so ein umfassendes Bild von Geschichte.“, http://www.dhm.de/lemo/, vom 10.07.2004. 377 http://www.lbi.org, vom 10.07.2004. 378 http://www.wiesenthal.com, vom 10.07.2004. 379 http://www.fritz-bauer-institut.de, vom 10.07.2004.

232 Erinnerungskultur und Internet seiner Sicht als Leiter des „Deutschen Rundfunkarchivs“ (DRA) die Vorstellung eines „modernen“ Konzeptes für das DRA folgendermaßen: „Schon seit längerer Zeit haben sich die ARD und die von den ARD-Anstalten getragene DRA-Stiftung mit der Entwicklung neuer Dienstleistungen für interessierte Nutzer befasst und dabei dem vom Deutschen Rundfunkarchiv vorgeschlagenen modernen Konzept eines dezentralen und föderalen Netzwerks deutlich den Vorzug eingeräumt gegenüber einer musealen Präsentation einer Mediathek an einem Ort. Dabei hat man sich im Grunde genommen die einfache Überlegung zu eigen gemacht, dass das, was über den Äther gegangen war und gleichsam immateriell die Menschen erreichte, jetzt nicht etwa physisch-museal ‚einzufangen‘ sei; vielmehr sollte der Zugang nicht in einer Einrichtung institutionalisiert, sondern die Funktion vielfachen Nutzens an gleich mehreren bzw. vielen Orten eingerichtet werden. So hat das Motto ‚Vom Bestellen zum Abrufen‘, also der Wandel von Kopie und Transport zur Kommunikation im Netz, die Konzeption geleitet.“380

Prinzipiell unterscheiden sich die Internet-Angebote von Archiven untereinander darin, inwieweit die User nur Zugriff auf den Bestandskatalog haben, gegebenenfalls online bestellen können und das Bestellte geliefert bekommen bzw. vor Ort einsehen müssen oder, ob die gewünschten Informationen ebenfalls über das Netz angeboten werden. Als Beispiele von Archiven, bei denen nur die Bestellung online erfolgt, sind die Deutsche Bibliothek und die Landesbildstellen zu nennen. Für Archive, die via Internet direkt die gewünschten Informationen online zum Nutzer bringen, stehen stellvertretend das DRA381, Zeitungsarchive wie das der Frankfurter Rundschau382, aber auch Vorhaben wie das der „shoah foundation“383, welche die mehr als 52.000 Video-Interviews, die im Auftrag der Stiftung mit Überlebenden des Holocausts geführt wurden, über das Internet beziehbar machen will. Die Interviews sind seit 2004 online recherchierbar. Geplant ist nun ein Video-on-Demand-System, das ein ausgesuchtes Interview via WWW auf den eigenen PC bringt. Die Nutzung dieser Form der Online-Archive ist in der Regel hinsichtlich der anfallenden Kosten in zwei Bereiche zu unterscheiden: erstens in einen Bereich, in dem man kostenlos Informationen beziehen kann, und zwei-

380 F. Leonhardt: Nutzung im dezentralen Verbund – das Netzwerk Mediatheken in Deutschland, in: Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv (Hg.): DRA Babelsberg – Beiträge zur Eröffnung des Neubaus für die Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv (Frankfurt am Main und Potsdam-Babelsberg) am 6. Dezember 2000, Frankfurt am Main / Potsdamm-Babelsberg 2001, S. 34. 381 http://www.dra.de, vom 10.07.2004. 382 http://www.fr-aktuell.de/, vom 10.07.2004. 383 http://www.vhf.org/, vom 25.01.2005.

Typlogische Übersicht – Selbstverständnisse und Betreiber 233

tens in einen Bereich, der kostenpflichtig ist. Die Kriterien, welche Informationen kostenlos sind und welche nicht, sind verschieden. Am Beispiel des Online-Archivs der Frankfurter Rundschau (FR) und des DRA lassen sich exemplarisch gängige Kriterien aufzeigen. Zum einen existieren zeitliche Kriterien. Alle Artikel der FR der letzten 14 Tagen werden kostenlos zur Verfügung gestellt. Zum anderen werden Artikel als Kostprobe angeboten, die redaktionell nach inhaltlichen Kriterien festgelegt werden. Bei der FR sind es aktuelle Themenbereiche, die immer wieder durch neue Artikel ergänzt werden. Das DRA stellt unentgeltlich Kostproben aus seinem Archiv in Form ausgewählter Ton- und Bilddokumente zur Verfügung. Die Auswahl besteht zum einen aus monatlich wechselnden Dokumenten, zum anderen aus einer Zusammenstellung von Tonaufnahmen zu wichtigen Gedenktagen des aktuellen Jahres. Darüber hinaus können bei den beiden genannten Archiven weitere Informationen zwar online bezogen werden, diese sind aber kostenpflichtig. Es ist zu vermuten, dass Online-Archive in den nächsten Jahren weiter wachsen und dass neue Archive dazukommen werden. Hierfür spricht erstens, dass immer mehr Ausgangsmaterial, das archiviert werden soll, bereits digital zu Verfügung steht, da dessen Produktion inzwischen digital ist. Zweitens wird auch immer mehr analog vorliegendes Archivmaterial digitalisiert. Aufgrund der hohen Zeit- und Personalkosten wird aber auf absehbare Zeit nur eine langsam steigende Auswahl dieses Materials digital zur Verfügung stehen und potentiell via Internet global verfügbar sein.

3.3.1.2 Spezielle Thematik – Informativer Charakter Nach den Selbstdarstellungen von Institutionen stellen Internetauftritte, die ein spezielles Thema im Kontext von Erinnerung und Gedenken zum Inhalt haben und einen informativen Charakter aufweisen, die zweite Gruppe von Websites dar. Sie lassen sich hinsichtlich ihrer Betreiber unterscheiden in Websites mit institutioneller Anbindung und Auftritte von freien Initiativen. Websites von Institutionen werden in Abgrenzung zu dem vorherigen Abschnitt dann zu diesem Bereich gezählt, wenn die dargebotenen Informationen unter einer eigenständigen Web-Adresse erreichbar sind und die Darstellung der Institution selbst keine oder nur eine geringe Rolle spielt. Als sehenswertes Beispiel ist die Website384 des 384 “By creating and maintaining online exhibitions, the Museum is able to extend its temporary exhibitions and create new, exclusively virtual ones. Collectively referred to as the Virtual Block, these Web sites are produced in collaboration

234 Erinnerungskultur und Internet „Mary and Leigh Block Museum of Art“ der Northwestern University, Evanston, USA zu sehen. Das Museum hat neben den Ausstellungen in ihren realen Räumen auch einen so genannten „Virtual Block“, der Themen rein für Online-Ausstellungen aufbereitet. Ein solches Thema hat die InternetAusstellung „The last Expression“, die Kunst in Konzentrationslagern mit Schwerpunkt Auschwitz zeigt.385 Da Veröffentlichungen im Internet mit relativ wenigen Mitteln zu bewerkstelligen sind, lassen sich in diesem Medium unzählige Websites von freien Initiativen und Privatpersonen finden. Auch im Bereich der Erinnerungskultur sind solche Internetauftritte entstanden. Als Beispiele seien Websites zum Thema Tschernobyl oder Kurdistan angeführt. Zu dem Unfall im damals sowjetischen Atomkraftwerk in Tschernobyl haben zwei Politologiestudenten einen umfangreichen Internetauftritt386 aufgestellt, um an die verheerenden Folgen des Reaktorunglücks in der Ukraine zu erinnern und so die Gefahren der Atomindustrie aufzuzeigen. Als zweites Beispiel sei eine Website erwähnt, die sich dem Thema Kurdistan widmet. Mit Hilfe des Internets soll die Geschichte Kurdistans rekonstruiert werden. Dabei bitten die Betreiber um das Zusenden von Bildern und Textbeiträgen zum Thema „Kurdische Geschichte“, die dann nach redaktioneller Prüfung veröffentlich werden. Sie schreiben hierzu: „This site, a borderless space, provides the opportunity to build a collective memory with a people who have no national archive.”387 Die hinzugefügten Beiträge werden an eine Zeitleiste angekoppelt und sind chronologisch abrufbar. Websites von freien Initiativen haben im Gegensatz zu denen, die an eine Institution angebunden sind, mit zwei Schwierigkeiten zu kämpfen. Sie können, um bekannt zu werden, nicht auf die Infrastruktur und den Bekanntheitsgrad einer Institution zurückgreifen und im Gegensatz zu Internetauftritten von großen Institutionen, die in der Regel einen Vertrauensvorschuss genießen, müssen sich „private“ Websites dieses Vertrauen erst erwerben und die Glaubwürdigkeit der angebotenen Informationen nachvollziehbar machen.

with a range of technology and art-related organizations on campus and in the greater community. Following are descriptions of and links to Virtual Block Web sites created thus far.” http://www.blockmuseum.northwestern.edu/exhi bitions/virtual.html, vom 17.10.2003. 385 „The last Expression – Art and Auschwitz“, http://lastexpression.northwestern. edu/, vom 24.07.2004. 386 http://www.reyl.de/tschernobyl/, vom 23.07.2004. 387 http://www.akakurdistan.com./, vom 24.07.2004.

Typlogische Übersicht – Selbstverständnisse und Betreiber 235

3.3.1.3 Spezielle Thematik – Sinnlich, künstlerischer Charakter Als dritter Bereich sind Websites aufzuführen, bei denen genau wie beim zweiten Bereich eine spezielle Thematik Inhalt des Webauftrittes ist, die im Vergleich zu den zuvor beschriebenen Websites aber nicht einen informativen Charakter haben, sondern versuchen, Erinnerung sinnlich, künstlerisch zu vermitteln. Hierbei sind Websites zu unterscheiden, bei denen Künstler das Medium nur nutzen, um ihre Werke mit erinnerndem Charakter zu präsentieren und zum Erwerb anzubieten, und solche Internetauftritte, bei denen das Internet selbst das Medium der Darstellung ist. Stellvertretend für die Darstellung und den Vertrieb „traditioneller“ Kunst im Internet ist eine Website von Jürgen Müller-Schneck zu sehen. Hier sind atmosphärische Fotografien zur früheren Berliner Mauer zu betrachten388. Diese Bilder können auch online über einen Link zum InternetBuchhandel „Amazon.com“ als CD erworben werden. Des Weiteren sind auch einzelne Bilder über das Web zu beziehen. Die Zahlung läuft über ein Internet-Zahlungssystem. Interessanter und weiterführender sind Projekte, die Erinnerung im Netz darüber verkörpern, dass sie speziell für dieses Medium konzipiert wurden.389 Als Beispiel ist die Website von „agricola de cologne“390 zu nennen. Unter der bezeichnenden Adresse http://www.a-virtual-memorial.de/ werden hier Internet-User aufgefordert, zu bestimmten erinnerungswürdigen Themen selbst Beiträge zu liefern. Als ein Einstieg wird in einer grafischen Animation mit den Zahlen 9 und 11 gespielt und nach Beiträgen gefragt, die sich entweder mit den Ereignissen vom 9.11.1938 beschäftigen oder mit denen vom 11.9.2001. Ein weiteres Beispiel ist der Internetauftritt www.holocaust.at. Hier werden Namen von österreichischen Opfern des Holocausts auf dem Bildschirm dargestellt. Ein Zufallsgenerator wählt beim Aufrufen der Startseite jeweils einen anderen Namen aus, der dann vor einem weißen Hintergrund eingeblendet und nach einer kurzen Zeit ausgeblendet wird (Abb. S. 265). Daraufhin wird der im Alphabet folgende Name eingeblendet. So werden von dieser Stelle aus in alphabetischer Reihenfolge alle bis jetzt von den Autoren erfassten Namen aufgeführt.

388 http://www.dieberlinermauer.de, vom 24.07.2004. 389 Siehe zu dem Thema „Netzkunst“ den lesenswerten Beitrag von Tilman Baumgärtel: Das imaginäre Museum – Zu einigen Motiven der Netzkunst, Berlin 1998. 390 http://www.a-virtual-memorial.org/, vom 24.07.2004.

236 Erinnerungskultur und Internet 3.3.1.4 Portale Eine vierte Kategorie beinhaltet Websites, die eine Portalfunktion haben. Hier steht nicht eine einzige Institution im Mittelpunkt, sondern es sollen möglichst viele verschiedene Initiativen und Institutionen, die im WWW vertreten sind, dargestellt werden. Über eine einzige Website soll ein möglichst großes Spektrum thematisch verwandter Internetauftritte für interessierte Nutzer erreichbar sein. Portale haben in der Regel entweder ein inhaltliches Überthema und / oder eine topografische Verklammerung. Beispiele hierfür sind die Internetauftritte des Arbeitskreises der NS-Gedenkstätten in Nordrhein-Westfalen, der ein solches Portal sowohl für Nordrhein-Westfalen391 als auch für das gesamte Bundesgebiet392 erstellt hat. Für Nordrhein-Westfalen können „umfassende Informationen über die NS-Gedenkstätten und -Dokumentationszentren in Nordrhein-Westfalen, historische Hintergründe und aktuelle Meldungen“393 abgerufen werden. In der bundesweiten Version ist es möglich, einen Überblick und Links zu verschiedenen Gedenkstätten zu erhalten. Es können Gedenkstätten und Institutionen sortiert nach Bundesland, Ort, Einrichtungsnamen und Themengebiet ausgewählt werden. Ein hervorragendes Beispiel auf lokaler Ebene ist der Webauftritt „Frankfurt im Nationalsozialismus“.394 Hier werden nicht verschiedene Internetsites verlinkt, sondern der Internet­ auftritt insgesamt basiert auf den Arbeiten von insgesamt 35 Frankfurter Institutionen und freien Initiativen (Abb. S. 266). Dem Internetuser bieten sich verschiedene Zugänge zu den Inhalten: „Beitragsverzeichnisse erlauben den Zugriff auf Artikel und Dokumente; Stadtpläne (aktuell und historisch) erschließen die NS-Zeit topografisch; Zeitleisten bieten chronologische Übersichten; Personen- und Sachindex erschließen das Material systematisch; die Volltextsuche ermöglicht eine gezielte Auswahl von Beiträgen.“395 Ein Beispiel für thematisch orientierte Portale ist shoah.de, das sich als „deutschsprachiges internetportal zum thema shoah und holocaust“396 versteht. Zu sehr vielen Aspekten des Nationalsozialismus werden hier Websites von verschiedenen Organisationen und Einzelpersonen verknüpft (Abb. S. 266). Ziel ist es, ein möglichst großes Netzwerk von Initiativen, die sich Themen wie Holocaust, Antisemitismus, Rassismus und 391 http://www.ns-gedenkstaetten.de/nrw, vom 17.10.2003. 392 http://www.ns-gedenkstaetten.de, vom 17.10.2003. 393 Entnommen von der Startseite der Website http://www.ns-gedenkstaetten.de/ nrw, vom 17.10.2003. 394 http://www.frankfurt1933-1945.de/, vom 10.07.2004. 395 Ebd., Startseite. 396 http://www.shoah.de/, vom 10.07. 2004.

Internet vs. traditionelle Formen der Vermittlung 237

Neo-Nazismus widmen, zu bilden. Neu aufzunehmende Internetauftritte können von den Betreiben angemeldet werden und werden nach redaktioneller Prüfung mit korrespondierenden Themen verlinkt.

3.3.2 Internet vs. traditionelle Formen der Vermittlung Im folgenden Abschnitt sollen Potentiale, Grenzen und Randbedingungen des Internets für die Erinnerungskultur skizziert werden. Dies erfolgt zur Verdeutlichung anhand des Vergleichs zwischen den prinzipiellen Fähigkeiten des Mediums Internet auf der einen Seite mit den prinzipiellen Möglichkeiten traditioneller Erinnerungsformen auf der anderen Seite, jeweils unter Einbeziehung konkreter Beispiele. Unter den traditionellen Formen der Vermittlung von Erinnerung werden die Institutionen, Orte und Medien des kulturellen Gedächtnisses wie Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Installationen am authentischen Ort, Fernsehen, Film, Printmedien und Buch betrachtet. Der Schwerpunkt wird allerdings auf dem Denkmal und der Gedenkstätte liegen. Beide vertreten am stärksten die Intention des Erinnerns, da ihnen qua Definition die Aufgabe übertragen wird, Erinnerung zu stiften. Gleichzeitig steht das Denkmal als gestalteter öffentlicher Raum der eigenen Disziplin „Architektur“ nahe. Auf Seiten des Internets speisen sich die Beispiele aus der oben erwähnten Untersuchung von Websites zu historischen Ereignissen, berühmten Persönlichkeiten, bedeutenden Ideen, Websites zu realen und immateriellen Museen und Archiven sowie Internetauftritten von Gedenkstätten an authentischen Orten, schwerpunktmäßig NS-Gedenkstätten. Der Vergleich gliedert sich in folgende Aspekte: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Erstellungsaufwand, Seriosität und Aktualisierungspotential Verbreitung und Verfügbarkeit Kapazität und Erzielen von Aufmerksamkeit Neue Möglichkeiten der Rezeption – Hypertext, Kommunikation, Interaktivität, Zielgruppenvariabilität Beständigkeit und Erhaltungsaufwand Sinnlichkeit und künstlerische Gestaltung

Diese prinzipielle Behandlung dient als Grundlage für die Betrachtung der Erinnerung an Synagogen mittels Internet im nächsten Kapitel. So soll es einerseits möglich sein, die aufgestellten Thesen am konkreten Beispiel der Synagogen anhand empirischer Untersuchungen zu überprüfen, andererseits auch die dort gewonnenen Erkenntnisse in einen Gesamtkontext einzuordnen.

238 Erinnerungskultur und Internet 3.3.2.1 Erstellungsaufwand, Seriosität und Aktualisierungspotential Die Popularität und enorme Ausbreitung des Internets liegt auch in dem geringen Erstellungsaufwand für eine Veröffentlichung. Keine traditionelle Form der Vermittlung von Erinnerung bietet eine derart unaufwendige und kostengünstige Möglichkeit, Inhalte mit erinnerndem Charakter zu publizieren – bei gleichzeitig riesigem Verbreitungspotential – wie das Internet. Das Anmieten von Festplattenplatz und Domainname als Voraussetzung für einen Internetauftritt ist inzwischen bereits für unter einem Euro im Monat zu haben.397 Kenntnisse der rein textbasierten Basissprache HTML, die ein Erstellen von Webseiten ohne zusätzliche Software ermöglichen, lassen sich innerhalb einer Woche erlernen, Schulungsbücher sind preiswert zu erwerben. Ein professionelles Erscheinungsbild ist in erster Linie von gestalterischen Fähigkeiten abhängig, nicht von langwierig erlerntem handwerklichen Geschick oder teureren Maschinen wie beispielsweise bei der Herstellung eines Buches. Dieser Umstand führt bei der Erinnerung an Ereignisse und Personen im Internet zu einem breiteren Spektrum von Autoren und zu einer größeren Pluralität der Darstellung und Interpretation von Vergangenheit. Das Internet bot und bietet gerade „Laien“ und freien Initiativen eine Plattform, die Ergebnisse ihrer Aufarbeitung der Geschichte im Netz zu veröffentlichen. Dieser Personenkreis hat seit den 70er Jahren für die Erinnerungskultur immer mehr an Bedeutung gewonnen und ermöglicht neben dem, was „Erinnerungsspezialisten“ und Institutionen des kulturellen Gedächtnisses als erinnerungswürdig betrachteten, andere Sichtweisen und die Thematisierung von Inhalten, die bis dato nicht thematisiert wurden. Dies betrifft insbesondere die Aufarbeitung der Lokalgeschichte bezüglich der NS-Zeit. So ist in der immateriellen Welt des Internets für eine breite Öffentlichkeit ein wesentlich umfangreicheres Angebot an Beiträgen zugänglich als in der materiellen Welt. Wolfram Dornik teilt diese Einschätzung und spricht in diesem Zusammenhang von der Förderung von „‚alternativen‘ Vergangenheitsinterpretationen“ durch das Internet.398 Die Kehrseite davon, dass jeder ohne größeren Aufwand und erhebliche Kosten Inhalte ins Netz stellen kann, ist eine größere Unsicherheit bezüglich der Seriosität der angebotenen Informationen. Genossen in der materiellen Welt die zahlenmäßig geringeren Angebote, die von

397 Siehe hierzu beispielsweise die Angebote von Strato: http://www.strato.de, vom 02.09.2004 oder 1&1: http://www.1und1.de, vom 02.09.2004. 398 Siehe hierzu W. Dornik: Gedächtnisorte im Internet – Nichts Neues im „virtuellen“ Raum!?, http://www.eforum-zeitgeschichte.at/1_2_2003a10.html, Absatz: Die Charakteristika, Absatz 2, vom 02.09.2004.

Internet vs. traditionelle Formen der Vermittlung 239

Fachleuten oder bekannten Institution erstellt wurden, einen Vertrauensvorschuss, so ist bei den vielen Websites im Internet, die nicht von bekannten Institutionen oder erkennbar von Fachleute verfasst wurden, die Glaubwürdigkeit erst festzustellen. Das setzt entweder gute Kenntnisse der Inhalte oder eine medienkritische, medienspezifische Herangehensweise voraus. Wie bei Veröffentlichungen in der materiellen Welt, ist beim Internet sowohl auf Referenzen, als auch auf eine seriösen Publikationen entsprechende Darstellungsform zu achten. Neben den Referenzen aus der materiellen Welt, wie zum Beispiel aus den Massenmedien, sind im Internet mit seiner Hypertextstruktur die medieninternen Referenzen, die Links, bedeutsam und ein Gradmesser von Seriosität. Hier spielt weniger die Häufigkeit der Verlinkung als vielmehr die Seriosität der Websites, von denen aus verlinkt wurde, eine Rolle. Dem einfachen Erstellungsaufwand entsprechen auch einfache Aktualisierungsmöglichkeiten. Hier zeigt sich ein weiterer Unterschied des Internets gegenüber den traditionellen Erinnerungsformen. Bei traditionellen Erinnerungsformen – beispielsweise beim Denkmal oder beim Buch – sind selbst kleine Änderungen oder Aktualisierungen nach Fertigstellung des Werkes nur mit großem Aufwand bis hin zur völligen Neuerstellung möglich. Beim Internet ist es zum Beispiel problemlos möglich, Texte und Bilder zu ändern, neue hinzuzufügen. Diese einfacheren Aktualisierungspotentiale bieten Vor- und Nachteile. Vorteilhaft ist, neben der Beseitigung von Fehlern und dem Einarbeiten von neuen Erkenntnissen, die Möglichkeit der Erweiterbarkeit. So könnten neue Zielgruppen angesprochen werden, wenn beispielsweise weitere Sprachen hinzugefügt werden. Weiterhin ist zu bedenken, dass Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis im gesellschaftlichen Kontext im besten Fall ein fortlaufender Prozess ist. Hier bietet das Internet den Vorteil, diesen Prozess durch die permanenten Aktualisierungsmöglichkeiten mit lebendig zu halten. Bei traditionellen Erinnerungsformen endet bei Fertigstellung des Werkes oft die gesellschaftliche Auseinandersetzung, der Prozess bis dorthin ist das „eigentliche“ Erinnern. Auf der anderen Seite bekommt dieser Prozess aus dem Anspruch des „ewigen“ Bestehens – besonders deutlich beim Denkmal – eine Brisanz, die das Internet wegen seiner leichten Veränderbarkeit vielleicht nie erreicht. Die leichte Aktualisierungsmöglichkeit und damit eine generelle Veränderbarkeit zieht allerdings auch ein Problem hinsichtlich der Verlinkung nach sich. Wenn eine Website verändert wird, dann stimmen eventuell die inhaltlichen Bezüge zu verlinkten Unterpunkten nicht mehr oder eine früher getroffene Bewertung der Website, die zur Verlinkung geführt hat, müsste neu überdacht werden. Eventuell existieren die Unterpunkte sogar gar nicht mehr oder sind auf der Website verschoben worden, so dass

240 Erinnerungskultur und Internet der Link ins Leere läuft. Im Extremfall existiert der ganze Internetauftritt nicht mehr. Um diese Problematik in den Griff zu bekommen, müssten in regelmäßigen Abständen alle Links, die von einer Website wegführen, überprüft werden, was unter Umständen eine nicht zu unterschätzende zeitliche oder finanzielle Belastung bedeuten kann. Bei traditionellen Medien existiert ein solches Problem nicht. Das errichtete Denkmal verändert sich nicht und auch ein Buch, auf das verwiesen wird, kann und wird nur in Ausnahmefällen überarbeitet und neu gedruckt. Beim Buch liegen dann aber auf jeden Fall zwei für den Benutzer unterscheid- und rezipierbare Versionen verschiedener Auflagen vor, während beim Internet in der Regel die ältere Version überschrieben wird.

3.3.2.2 Verbreitung und Verfügbarkeit Vermittlung von Erinnerung kann im Internet ortsungebunden erfolgen und ist theoretisch von überall auf der Welt, wo ein Festnetzanschluss existiert oder ein Funknetz verfügbar ist, zu erreichen. Diese Ubiquität ist aber nicht auf das Internet beschränkt. Im Kontext der Globalisierung mit ihren weltweiten Transport- und Distributionsnetzen und den weltumspannenden Informationsübertragungen per Satellit teilt sich das Internet diese räumliche Ungebundenheit mit den traditionellen Massenmedien, die eine ortsunabhängige Rezeption von Information erlauben. Printmedien und Bücher, ebenfalls potentielle Träger von Erinnerung, können praktisch an jedem Ort der Welt rezipiert werden. Fernsehen und Radio sind per Satellit weltweit zu empfangen. Allerdings sind die technischen Voraussetzungen bei diesen Medien für einen weltweiten Empfang im Vergleich zum Internet wesentlich aufwendiger, da eine Satellitenempfangsstation installiert und diese auf einen entsprechenden Satelliten ausgerichtet werden muss. Im Gegensatz zum Internet steht aus finanziellen Gründen nicht das gesamte, technisch mögliche Angebot weltweit zur Verfügung.399 399 Die Verfügbarkeit aller Programme ist zwar technisch möglich, in der Praxis wird dies allerdings nicht umgesetzt. Die Einspeisung von Programmen ist für die Fernsehanstalten mit Kosten verbunden. Deutsche Fernsehsender werden also nur dort ihr Programm über Satellit verfügbar halten, wo mit einer größeren Zahl an deutschsprachigen Rezipienten zu rechnen ist. Die technische Ausstattung für den Empfang deutscher Fernsehsender außerhalb Europas ist für den Fernsehbenutzer in der Regel sehr viel kostspieliger als in Europa selbst, da größere Satellitenempfänger benötigt werden. Während in Europa ein Durchmesser von 80 cm genügt, müssen in Israel beispielsweise 3 m, in Südafrika 6 – 8 m vorhanden sein. Die Kosten bei einem Durchmesser von 3 m sind mit ca. 1.500 – 1.800 Euro zu beziffern. Die Informationen stammen

Internet vs. traditionelle Formen der Vermittlung 241

Es ist nicht die Tatsache der weltweiten Erreichbarkeit an sich, die das Medium Internet von anderen Medien unterscheidet, sondern es versinnbildlicht diese Ubiquität vielleicht am ehesten und es sind die technischen Randbedingungen dieses Mediums, die den Unterschied machen. Ist der Kontakt zum Internet hergestellt, dann steht theoretisch mit einem Schlag das komplette Angebot des Netzes zur Verfügung. Alle Informationen sind zu jedem Zeitpunkt verfügbar und sie können potentiell in jedem Moment aktualisiert werden. Es bedarf auch keiner Erlaubnis einer Behörde oder eines Unternehmens, um Informationen ins Netz zu stellen. Der Ort, an dem die Information entstanden ist, spielt keine Rolle für den Rezipienten, es gibt keine entfernungsbedingten Unterschiede, seien es Kosten oder Zeit. Diese Umstände unterscheidet das Internet prinzipiell von traditionellen Medien. In Gesellschaften mit praktizierender Meinungsfreiheit realisiert sich diese Potenz weitgehend. In Ländern, in denen dies nicht der Fall ist, wird der Zugang zum Internet aber teilweise verhindert oder eingeschränkt, werden Personen für die Veröffentlichung von Informationen staatlich verfolgt. Torsten Stegemann verdeutlicht am Beispiel Chinas, wie die staatliche Hoheit über die Geschichte des eigenen Landes und über die Erinnerung an bedeutende Ereignisse auch vor dem Internet nicht halt macht: „Huang Qi wurde am 3. Juni 2000 verhaftet und ein halbes Jahr später wegen ‚Subversion‘ und ‚Anstiftung zum Sturz der staatlichen Autorität‘ angeklagt. Im Mai 2003 erfuhr Huang Qi dann, dass er zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden war, weil er auf seiner eigenen Internetseite Artikel über das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens veröffentlicht hatte. [...] Während seiner Haftzeit wurde er gefoltert und misshandelt und ein Jahr lang in Handschellen in einem dunklen Raum festgehalten.“400

In Ländern ohne Meinungsfreiheit verliert das WWW somit schnell seine Freizügigkeit und seinen Vorteil gegenüber herkömmlichen Medien. Die Bandbreite von Zugangseinschränkungen zum Internet macht Thorsten Stegemann auf Basis des Internetberichts 2004 „The Internet under Surveillance“ der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ deutlich:

auch aus einem Gespräch, das am 5. Juli mit Stephan Schramm, Fachmann in Satellitentechnik, geführt wurde. Siehe auch http://www.satellitentechnik. de, vom 7.07.2004. 400 T. Stegemann: Netz unter Kontrolle, in: „Telepolis“, 23.06.2004, http://www. heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/17722/1.html, vom 24.07.2004. Siehe auch: W. Pomrehn: Chinas Kampf mit der Freiheit, in: „Telepolis“, 23.11.2003, http:// www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/16391/1.html, vom 24.07.2004.

242 Erinnerungskultur und Internet „In Saudi-Arabien, Syrien und im Iran ist die Situation nach Einschätzung von ‚Reporter ohne Grenzen‘ ebenfalls ‚sehr ernst‘. Die saudische ‚Internet Services Unit‘ hat eines der größten und effektivsten Filtersysteme der Welt entwickelt und unterbindet derzeit den Zugang zu rund 400.000 Internetseiten. So sollen die Nutzer insbesondere vor solchen Inhalten ‚geschützt‘ werden, welche die Prinzipien des Islams oder soziale und gesellschaftliche Normen verletzen. Auch im Iran stehen nicht-islamische Seiten ganz oben auf der Schwarzen Liste und teilen sich diesen Platz mit pornographischen Angeboten und den Homepages von unabhängigen Zeitschriften oder Menschenrechtsorganisationen. Seit dem Sieg der ultrakonservativen Kräfte bei den Parlamentswahlen im Februar 2004, wird die Kontrolle des Internets, die bis in die Cybercafés von Teheran vordringt, weiter verschärft. In Syrien gibt es nur zwei Provider, die beide unter staatlicher Kontrolle stehen. Nur ein Bruchteil der Gesamtbevölkerung – gut 200.000 von fast 18 Millionen Menschen – hat Zugang zum WWW, darüber hinaus werden viele Seiten gesperrt, Inhalte zensiert und Emails akribisch überwacht. Mindestens zwei User befinden sich derzeit im Gefängnis. Abdel Rahman Shagouri soll sich eine verbotene Website angesehen haben, dem Journalisten Massoud Hamid wird vorgeworfen, Fotos von einer friedlichen Kurdendemonstration gepostet zu haben.“401 „Geradezu grotesk scheint die Situation in Usbekistan zu sein. Hier werden nicht nur unerwünschte Seiten blockiert, sondern veränderte Kopien von Seiten politischer Dissidenten ins Netz gestellt. Wenn Usbeken die Seiten aufrufen wollen, sollen sie automatisch auf die gefälschten Seiten umgelenkt werden, wodurch der Anschein erweckt werde, dass keine Zensur stattfindet, wenn die Fälschung nicht bemerkt wird. In anderen Ländern wird versucht, den Internetnutzern die Zensur zu verbergen, wenn bei blockierten Seiten Meldungen wie ‚host not found‘ oder ‚connection timeout‘ eingespielt werden, wodurch der Eindruck erweckt wird, dass die gesuchte Website aufgrund eines Fehlers nicht aufgerufen werden kann.“402

Es ist festzuhalten, dass, wenn staatliche Zensur ausgeübt wird, alle Medien, alle Formen der Erinnerung davon betroffen sind. Erinnerung über Denkmäler, über Massenmedien, über die Veröffentlichung in Büchern ist allerdings leichter von staatlicher Seite zu kontrollieren als Erinnerung über das Medium Internet, da die Produzenten von Inhalten sehr flexibel die Speicherorte der Information wechseln können, diese eventuell gar nicht im Hoheitsgebiet eines Staates sich befinden und so vielleicht nur das Abrufen der Information temporär eingeschränkt / verhindert werden kann, bis eine neue Web-Adresse den Rezipienten bekannt ist.403

401 T. Stegemann: Netz unter Kontrolle, in: „Telepolis“, 23.06.2004, http://www. heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/17722/1.html, vom 24.07.2004. 402 Ebd. 403 Ergänzend hierzu sind die Beschreibungen von Wolfgang Coy interessant,

Internet vs. traditionelle Formen der Vermittlung 243

Jenseits der Frage von staatlicher Kontrolle unterscheidet sich das Internet prinzipiell sehr weitgehend von traditionellen Formen der Vermittlung von Erinnerung auch durch den selbstbestimmten Zeitpunkt des Zugriffs der Rezipienten. Diese Unabhängigkeit ist bei den traditionellen Erinnerungsformen nicht gegeben, sieht man von dem Medium Buch ab. Fernsehen und Radio haben Live-Charakter und sind ephemer. Informationen werden zu einem Zeitpunkt gesendet, danach sind sie über diese Medien nicht mehr abrufbar.404 Dieser Vorteil des Internets besteht auch gegenüber den Erinnerungsformen, bei denen eine ortsgebundene Rezeption, ein Aufsuchen realer Orte notwendig ist, wie bei Ausstellungen oder Gedenkstätten und Denkmälern. Unabhängig von zeitlichen und finanziellen Ressourcen sowie der körperlichen Verfasstheit ist Beschäftigung mit im Internet angebotenen Inhalten möglich. Das ist gerade für Menschen, die durch Krankheit, Alter oder Behinderung einen eingeschränkten Bewegungsradius haben, eine Bereicherung. Auch die Witterungsverhältnisse und die Tageszeit, die in der materiellen Welt eine Rezeption erschweren oder verhindern könnten, sind in der immateriellen Welt ohne Bedeutung. Auf diesen Vorteil wies auch Andrea Sumner in ihrer Untersuchung der virtuellen „Wall“ zum Vietnam-Krieg hin.405 Die Tatsache, dass im Internet Informationen bequem und selbstbestimmt von zu Hause abrufbar sind, könnte auch Personengruppen an relevante Themen der Erinnerung heranführen, die sich sonst nicht mit diesen beschäftigt hätten. In erster Linie ist hier an Jugendliche zu denken, die sich im Internet ganz selbstverständlich aufhalten und Musik, Software oder Filme downloaden, Computerspiele über das Netz spielen oder anderen Interessen in der immateriellen Welt nachgehen. Generell gilt für alle Benutzer dieses Mediums, dass Informationen nur einen Klick weit entfernt sind, so dass auch mit zufälligen Besuchen von Websites mit erinnerndem Charakter zu rechnen ist. Es bedarf also unter Umständen keiner großen Mühe, sich mit etwas zu beschäftigen, wofür man in der materiellen Welt vielleicht kein Geld ausgegeben, keine Zeit für die Beschaffung der Information verwendet oder für das man sich nicht so der hinsichtlich der staatlichen Kontrolle des Internets von zwei gegenläufigen Entwicklungen spricht. Zum einen der Rückzug des Staates aus den Unternehmen der Telekommunikation und damit Kontrollverlust, zum anderen der Versuch, im globalen Kontext über bi- und internationale Abkommen Kontrolle über das Netz zu erlangen. W. Coy: Media Control – Wer kontrolliert das Internet?, in: Krämer 2000, S. 148-150. 404 Hier bildet Bildschirmtext (BTX) zwar eine Ausnahme, da er rund um die Uhr verfügbar ist, er weist allerdings eine Beschränkung auf reine Textinformationen auf und im Fernsehgerät muss ein BTX-Decoder integriert sein, um die Informationen zu empfangen. 405 A. M. Sumner in: Erll / Nünning 2004, S. 271.

244 Erinnerungskultur und Internet interessiert hätte – beispielsweise den Besuch eines Museums oder das Aufsuchen eines Archivs. Für dieses „zufällige“ Beschäftigen ist die Frage nach dem Erzielen von Aufmerksamkeit im Internet bedeutend. Diesbezüglich kommt den „Einfallstraßen“ des Netzes wie Providern, Suchmaschinen und Informationsdiensten eine wichtige Rolle zu. Abschließend für den Bereich „Verbreitung und Verfügbarkeit“ soll der Frage nachgegangen werden, wie viele Menschen mit dem Medium Internet bei erinnerungsrelevanten Themen zu erreichen sind und welche Zahlen auf Seiten der traditionellen Erinnerungsformen dem gegenüberstehen. Anhand relevanter Beispiele, sowohl aus der materiellen als auch aus der immateriellen Welt, soll dies beleuchtet werden. Als erstes Beispiel für die traditionellen Formen der Vermittlung wurde die US-Fernsehserie „Holocaust“ ausgewählt, die in den dritten Programmen der ARD am 22. Januar 1979 erstmals im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Kaum eine Sendung zum Thema Holocaust war so umstritten und hatte gleichzeitig so viele Zuschauer. Insgesamt über 20 Millionen Menschen haben sie in Deutschland gesehen, davon fast die Hälfte drei oder alle vier Folgen.406 Für den Bereich der Ausstellungen sei die Wanderausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung angeführt, die sicher zu einer der bekanntesten Ausstellungen zum Thema Nationalsozialismus zu zählen ist. „Die Ausstellung wurde zwischen November 2001 und März 2004 an elf Orten in Deutschland sowie in Wien und Luxemburg gezeigt. Insgesamt sahen über 420.000 Menschen die Ausstellung.“407 Als drittes Beispiel ist der Film „Schindlers Liste“ zu nennen, der erstmalig ein großes Kino-Publikum mit einem Spielfilm über den Nationalsozialismus erreichte. Insgesamt haben 6 Millionen Besucher408 diesen Film in deutschen Kinos gesehen. Beispielhaft für den Bereich „Buch“ steht „Hitlers willige Helfer“ von Daniel Goldhagen. Es erreichte eine Auflage von 190.000 verkauften Ex-

406 Siehe hierzu: U. Magnus: Die Einschaltquoten und Sehbeteiligungen, in: P. Märthesheimer / I. Frenzel: Im Kreuzfeuer: Der Fernsehfilm >Holocaust< Eine Nation ist betroffen, Frankfurt 1979, S. 221-224. 407 http://www.verbrechen-der-wehrmacht.de/, Hamburger Institut für Sozialforschung, unter der Rubrik „Aktuell“ waren diese Informationen am 3.07.2004 abrufbar. 408 Den Film sahen 5.958.426 Besucher (EDI-Datenbank ), Kinostart war der 3. März 1994, siehe hierzu die Filmdatenbank „mediabiz“, http://www.mediabiz. de/ Direktlink: http://www.mediabiz.de/firmen/kinofilm.afp?Nr=1458&Ti=2549 1&Biz=mediabiz&Premium=N&Navi=00000000, vom 08.07.2004.

Internet vs. traditionelle Formen der Vermittlung 245

emplaren als Hardcoverversion und 100.000 verkauften Exemplaren als Taschenbuchausgabe.409 Zuletzt soll unter den traditionellen Medien auf den Bereich der Printmedien eingegangen werden. Auch wenn die Printmedien nicht explizit der Vermittlung der Erinnerung dienen, kommt ihnen dennoch in der gesellschaftlichen Diskussion auch wegen der großen Anzahl von Lesern, die täglich erreicht werden, eine bedeutende Rolle zu. Die oben genannten Beispiele aus den Bereichen Fernsehen, Kino, Ausstellung und Buch sind in allen Tageszeitungen mehrfach thematisiert worden und haben so sowohl zu deren Erfolg beigetragen, als auch weitere Menschen erreicht. Nachfolgend wird die Auflagenhöhe einiger ausgewählter Zeitungen (Ausgaben Mo. - Sa.) bzw. Zeitschriften aufgelistet: 410 Welt FR FAZ Süddeutsche Zeit Focus Spiegel

228.816 182.489 407.670 449.558 470.614 809.756 1.096.053

Auf Seiten des Internets sind die einzigen Zahlen, die eine Auskunft über ein Besucherinteresse an bestimmten Websites geben können, in den Logfiles der Provider zu finden. Diese Protokolldateien enthalten die IPAdresse, das Datum des Zugriffs und die angeforderte Website. Analyseprogramme, die diese Logdateien automatisch auswerten, können eine Reihe von Informationen herausfiltern, von denen die Zahl der eindeutig zu wertenden Besuche als die interessanteste Information anzusehen ist. Um entsprechende Zahlen zu erhalten, wurde Kontakt zu Betreibern von Websites, die im Kontext von Erinnerung als relevant befunden worden sind, aufgenommen. Ausgesucht wurden Internetauftritte, die im Ranking bei der Suchmaschine Google weit oben stehen, von bekannten bzw. renommierten Institutionen des kulturellen Gedächtnisses betrieben werden oder vom Autor als beispielhaft befunden wurden. Die Websites behandeln schwerpunktmäßig das Thema Nationalsozialismus. Die Betreiber wurden gebeten, die Zahl der monatlichen „Visits“ mitzuteilen. „Ein ‚Visit‘ definiert einen zeitlich zusammenhängenden Besuch“411 einer Person auf einer Website. 409 Auskunft des Siedler Verlags, 12.07.2004. 410 http://www.ivw.de, Quartalszahlen 01/2004, vom 05.07.2004. 411 R. Blank / S. Marra: Besucherforschung und Qualitätsmanagement, in: S.

246 Erinnerungskultur und Internet Nicht alle Betreiber antworteten, nicht alle, die antworteten, waren in der Lage, Logdateien auszuwerten. Die nachfolgende Auswahl soll einen Eindruck der Spannbreite und der absolut zu erzielenden Besuche vermitteln. Angegeben sind die durchschnittlichen monatlichen Besuche der Websites. Internetmuseum „Lemo“412 – Gesamtangebot

500.000

Website des Holocaust-Museums, Washington413 – Gesamtauftritt durchschnittlich im Jahr 2004 Google Rang 2 beim Stichwort Holocaust, Google Rang 5 beim Stichwort Nationalsozialismus – Rubrik, die spezielle Angebote für Lehrer und Schüler aufweist Website des Hauses für Geschichte, Bonn414 Website des Fritz Bauer Institutes Frankfurt415

450.000 50.000

70.000 – 120.000 16.200

Website der Gedenkstätte Bergen-Belsen416

9.883

Website der Gedenkstätte Mauthausen417

4.600

Jenks / S. Marra (Hg.): Internet-Handbuch Geschichte, Köln / Weimar / Wien 2001, S. 230. In dem Artikel gehen Ralf Blank und Stephanie Marra der Frage nach, welche Aussagefähigkeit Logdateien von „geschichtswissenschaftlichen Internet-Angebote[n]“ im Internet haben. 412 www.dhm.de/lemo, Auskunft des Deutschen Historischen Museums im August 2004. Die Suche bei Google wurde am 5. Juli 2004 durchgeführt. 413 http://www.ushmm.org/museum/press/kits/general/fact.htm, vom 23.07.2004. Im Original heißt es hierzu: „Web site: Averages 450,000 user sessions and 4,500,000 Web text pages viewed each month; more than 50,000 monthly visits to pages developed for students and teachers.” Zu den Besuchern vor Ort werden folgende Zahlen angegeben: „Visitors: 20.8 million since the Museum opened in April 1993, including 6.7 million children; 2.7 million minority; 2.5 million international; 15.6 million non-Jewish.“ Die Suche bei Google wurde am 5. Juli 2004 durchgeführt. 414 http://www.hdg.de. Nach Auskunft des Hauses für Geschichte im August 2004 schwanken die Zahlen im angegebenen Bereich „je nach online-Nutzung“. 415 http://www.fritz-bauer-institut.de/statistik.htm, vom 05.07.2004. Der Internet­ auftritt hatte von Januar bis Juni 2004 97.191 Besucher. 416 http://www.bergenbelsen.de/. Auskunft der Gedenkstätte im Juli 2004. 417 http://www.mauthausen-memorial.at. Auskunft der Gedenkstätte im August 2004.

Internet vs. traditionelle Formen der Vermittlung 247

Internetportal www.nationalsozialismus.at418 – Google Rang 3 beim Stichwort Nationalsozialismus

3.244

Private Website zu Tschernobyl419

2.830

Einschränkend muss gesagt werden, dass diese Zugriffszahlen nichts über die Motivation der Benutzer und die Intensität der Beschäftigung mit den Inhalten aussagen und dass die Analyseverfahren nicht standardisiert sind.420 Trotzdem sollte hier der Versuch unternommen werden, Zahlen sichtbar zu machen.

3.3.2.3 Kapazität und Erzielen von Aufmerksamkeit Das, was das Internet von den traditionellen Medien, die Erinnerung vermitteln, weiter unterscheidet, ist eine scheinbar grenzenlose Kapazität für Information.421 In Kombination mit der schon beschriebenen einfachen 418 Auskunft der Betreiber im August 2004. Die Suche bei Google wurde am 5. Juli 2004 durchgeführt. 419 http://www.reyl.de/tschernobyl/. Die Website hatte von 2001 bis Juli 2004 laut Zähler ca. 102.000 Visits. Bei einem Mittelwert von angenommenen 6 Monaten von 2001 sind das 2.830 Besucher. 420 Als Beispiel einer Fehlerquelle sei auf die Besuche von sogenannte „robots“ hingewiesen. Das sind kleine automatische Programme, die im Auftrag von Suchmaschinen das Netz durchforsten und die Zugriffszahlen fälschlich in die Höhe treiben. 421 Begrenzt wird das Angebot im Internet durch das ausreichende Vorhandensein von IP-Adressen. Diese sind bislang 12-stellig, unterteilt in vier dreistellige Ziffernblöcke. Jeder dieser Blöcke kann theoretisch die Zahlen 0 – 255 annehmen. Diese Kapazität (232) ist in der bis heute standardmäßigen Internet Protocol Version 4 (IPv4) festgelegt. „IPv4 bietet einen Adressraum von etwas über 4 Milliarden IP-Adressen, mit denen Computer (oder andere Geräte) angesprochen werden können. In den Anfangstagen des Internets, als es nur wenige Rechner gab, die eine IP-Adresse brauchten, galt dies mehr als ausreichend. Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass überhaupt jemals so viele Rechner zu einem einzigen Netzwerk zusammengeschlossen würden, dass es im vorgegebenen Adressraum eng werden könnte. [...] Den ersten großen Teilnehmern am Internet wurden riesige Adressbereiche (sog. ClassA-Netze) mit je 16,8 Millionen Adressen zugeteilt, die diese Organisationen bis heute behalten haben, ohne sie jemals voll ausnutzen zu können. Die Amerikaner (und teilweise die Europäer) teilten die relativ wenigen großen Adressbereiche unter sich auf, während die Internet-Späteinsteiger wie Südamerika, aber vor allem Asien, zunächst außen vor blieben. Als Resultat herrscht besonders im zukünftigen IT-Wachstumsmarkt Asien heute eine latente Adressenknappheit. [...] Auf Grund des Wachstums und der Wichtigkeit des Internets konnte dies kein Dauerzustand bleiben. Zusätzlich ist abzusehen, dass in den nächsten Jahren durch neue technische Innova-

248 Erinnerungskultur und Internet und kostengünstigen Möglichkeit zur Veröffentlichung entstanden so ungeheuer viele Internetauftritte, die kaum zu überblicken sind. Es gibt auch keine Registrierung von neu hinzugekommenen Websites. Überall in der Welt entstehen jeden Tag neue Internetauftritte, andere werden abgemeldet. Erinnerung, will sie gesellschaftlich wirken, braucht Aufmerksamkeit, um Diskussionen auszulösen. Es ist also zu fragen, wie Websites mit erinnernder Intention Aufmerksamkeit erzielen können. Bei den traditionellen Formen der Erinnerung ist das Erzeugen von Aufmerksamkeit ein eingeübtes Spiel und es ist überschaubar. Wer die Feuilletons der „FAZ“ oder der „ZEIT“ verfolgt, der wird mit Sicherheit alle erinnerungspolitischen Debatten mitbekommen und über relevante Bucherscheinungen, interessante Ausstellungen oder bedeutende Denkmalsaufgaben informiert. Insgesamt kommt Massenmedien die Funktion zu, „Erinnerungsinitiativen“ und Forschungsergebnisse zu verbreiten sowie eine gesellschaftliche Diskussion zu ermöglichen. Die gängige Strukturierung der Medien in internationale, nationale, regionale und lokale Ereignisse macht es möglich, auch kleinere lokale Initiativen im Sinne der Erinnerung bekannt zu machen. Im Internet dagegen haben wir es mit einem weitaus vielschichtigeren und heterogeneren Verhältnis zur Erzielung von Aufmerksamkeit zu tun. Aufmerksamkeit entsteht aus einer Mischung aus Hinweisen von traditionellen Medien, Verlinkung von anderen Websites, insbesondere von Einstiegs- und Knotenpunkten, aus den geschickt gewählten Domainnamen und einer guten Positionierung in Suchmaschinen. Da inzwischen viele Institutionen des kulturellen Gedächtnisses auch Internetauftritte haben, genießen die dort vermittelten Inhalte durch das Renommee der entsprechenden Institution ihre Aufmerksamkeit. Somit haben im Sinne der Aufmerksamkeit auch im Internet bekannte Institutionen zunächst einen Vorteil gegenüber freien, noch unbekannten Initiativen. Im Gegensatz zur materiellen Welt können aber kleine Initiativen durch überzeugende Auftritte und Engagement bei der eigenen Vernetzung und Verlinkung wesentlich einfacher zu den führenden Vertretern eines Bereiches der Erin-



tionen (beispielsweise Mobiltelefone mit Internet-Anschluss, bald wohl auch Fernseher, Mikrowellen, Kühlschränke und Autos) der Bedarf an Adressen auch im Rest der Welt ansteigen wird.“ http://de.wikipedia.org/wiki/IPv6, vom 18.08.2004. Das seit 1995 zur Verfügung stehende Protokoll IPv6 bietet genügend Platz (2128). Felix von Leitner beschreibt dies anschaulich und knapp: „Die 128 Bit langen Adressen von IPv6 reichen aus, um auf jeden Quadratmillimeter der Erdoberfläche Billiarden von Hosts zu setzen. Damit könnte jede Armbanduhr und jeder Toaster ‚drin‘ sein.“ F. v. Leitner: Das nächste Netz, in: c’t 16/2001, S. 203.

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nerung im Internet werden. Als Beispiel sei hier die Initiative „shoah.de“ genannt, die bereits vorgestellt wurde. Bei einem Vergleich zwischen Erinnerung in der materiellen Welt und der in der immateriellen Welt fällt auf, dass im Gegensatz zur materiellen Welt im Internet bis jetzt keine Website existiert, die gesellschaftliche Diskussionen ausgelöst hat. In der materiellen Welt haben wir diese Beiträge, verwiesen sei auf die bereits genannten Beispiele, aber auch auf das Holocaust-Mahnmal in Berlin, den Historikerstreit oder den gemeinsamen Besuch Helmut Kohls und Ronald Reagans auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg. Es stellt sich damit die Frage, ob hier ein struktureller Unterschied dahingehend besteht, dass Erinnerung im Internet nicht bzw. in absehbarer Zeit nicht diese Relevanz oder Brisanz erreichen wird, wie sie in der materiellen Welt zu erzielen ist. Vieles spricht dafür, aber ausreichend beantworten lässt sich das auch aufgrund des kurzen Bestehens des Internets sicher noch nicht. Einige mögliche Gründe für diese geringere Aufmerksamkeit und Brisanz des Internets sollen dennoch kurz angerissen werden. Rezeption im Internet ist bis jetzt ein individueller Vorgang. Sie steht weder in Verbindung mit gesellschaftlichen Ereignissen noch stellt sie selbst ein solches dar. Im Vergleich zu den klassischen Massenmedien fehlt auch die Gleichzeitigkeit der Rezeption durch viele Mitglieder der Gesellschaft oder ein gemeinsames Wissen um eine solche Gleichzeitigkeit. Daraus resultiert, dass kein unmittelbarer Bezug in Gesprächen, Medienberichten etc. vorgenommen werden kann. Somit existiert hier nicht das Moment der gesellschaftlichen Präsenz, der gemeinsamen Bezugnahme und dessen Spiegelung in den Medien. Am Beispiel des Holocaust-Mahnmals wird der Unterschied zur materiellen Welt deutlich. Bei ihm ist, auf lange Sicht hin, mit einer enormen Medienattraktivität zu rechnen. Es wird Besuchspunkt von nationalen und internationalen Delegationen und Ort von Gedenkveranstaltungen sein. Deswegen, aber wahrscheinlich auch alleine wegen des prominenten Standortes, der Nähe zum Reichstag, wird das Mahnmal oft in Berichterstattungen aus Berlin thematisiert und ins Bild gesetzt werden. Dadurch ist es für die gesamte Bevölkerung präsent. Im Gegensatz zur materiellen Welt wird im Internet auch keine Brisanz über „prominente Standorte“ erzeugt. Im Internet sind die wichtigen, nicht themenspezifischen Einstiegspunkte und Knoten des Netzes wie Provider und Suchmaschinen bis jetzt nicht Bestandteil einer Erinnerungskultur. In der materiellen Welt ist der öffentliche Raum staatlich kontrolliert und es steht in der Befugnis staatlicher und lokaler Behörden, Erinnerung an prominentester Stelle zu installieren oder zu gewähren. Im Internet

250 Erinnerungskultur und Internet werden diese wichtigen „Plätze“ und „Einfallstraßen“ nicht staatlich, sondern privatwirtschaftlich betrieben. Es fehlt hier ein politisches Interesse. Virtuelle Mahnmale auf den Startseiten der bekannten Suchmaschinen oder Provider sind Fehlanzeige. In westlichen Gesellschaften gibt es selten eine einhellige Auffassung über die eigene Geschichte, über die Lehren, die aus ihr gezogen werden sollten und über die Form und den Inhalt des Erinnerns. Je prominenter, je öffentlicher Erinnerung präsentiert wird, desto kontroverser und heftiger die Debatte. Die Heftigkeit solcher Diskussionen gerade bei Denkmälern rührt auch von der Dauerhaftigkeit des Installierten. Einmal errichtete Denkmäler werden nicht ohne weiteres wieder entfernt. Beim Internet reicht ein Klick und ein entsprechender Webauftritt ist vom Netz. Auch dieser Umstand verleiht dem Erinnern in der materiellen Welt größere Brisanz und Aufmerksamkeit. Vielleicht liegt das Potential des Internets für die Erinnerungskultur auch gar nicht darin, eine „virtuelle Pilgerstätte“ für die Massen zu sein oder darin, dass Internetauftritte brisant sind, sondern eher in der Möglichkeit der selbstbestimmten, von Neugierde getriebenen Beschäftigung mit den Inhalten oder dem zufälligen virtuellen Stolpern über ein Thema der Erinnerung. Vielleicht liegt das Potential des Internets aber auch in der Möglichkeit, andere Kommunikations- und Interaktionsformen zu praktizieren.

3.3.2.4 Neue Möglichkeiten der Rezeption – Hypertext, Kommunikation, Interaktivität, Zielgruppenvariabilität Das Medium Internet bietet neue Möglichkeiten der Rezeption, die in traditionellen Medien nicht gegeben sind. Hier ist vor allem die Verknüpfung jeglicher Informationen untereinander sowie die Möglichkeit der Interaktion und der direkten Kommunikation zwischen den Benutzern zu nennen. Eine Einschätzung zu diesen neuen Formen der Rezeption erfolgt unter den Stichworten Hypertextualität, Kommunikation, Interaktion und Zielgruppenvariabilität. Bei diesen Bereichen wird zunächst dargestellt, was technisch möglich ist. Danach wird gefragt, was eine Umsetzung für die Erinnerungskultur heißen könnte und ob die skizzierten Potentiale zur Anwendung kommen. Unter der Vielzahl der besuchten Websites wurden stellvertretend gelungene Beispiele herausgesucht, die hier kurz beschrieben werden. Auf eine quantitative Untersuchung und Auswertung wurde verzichtet, da es sich in diesem Kapitel nur um eine Sichtung und Annäherung handelt, die Prinzipielles deutlich machen soll. Diese Fragestellung wird aber im nächsten Kapitel wieder aufgegriffen und am konkreten Beispiel der Synagogen auch statistisch beleuchtet.

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Hypertextualität Die grenzenlose Kapazität im Internet ermöglicht die Bezugnahme unendlich vieler verschiedener Informationen aufeinander. Dieses Kennzeichen des Internets, bekannt als Hypertextualität, unterscheidet es von allen traditionellen Formen der Vermittlung von Erinnerung fundamental. Ein Denkmal, ein Buch oder eine Ausstellung vermitteln immer nur einen Ausschnitt eines „Ganzen“, einen Aspekt der Vergangenheit. Erinnerung im immateriellen Raum kann auch das „Ganze“ thematisieren, wobei sich das „Ganze“ immer mehr erweitern kann. Über die Vernetzung können unendlich viele Bezüge zu anderen Websites hergestellt und diese Teilbereiche so zusammengeführt werden, dass komplexere Sichtweisen entstehen. Salomon Korn bemerkt zur Bedeutung des Internets für die Erinnerung der Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland: „Man kann das gar nicht hoch genug einschätzen, weil diese Geschichte eine sehr fragmentierte Geschichte war, in Bruchstücken vorhanden, durch Halbwissen gekennzeichnet, verdrängt, verleugnet. Man hat mal da, mal dort etwas gehört. Mein Eindruck ist, dass durch das Internet jetzt eine Vernetzung stattfindet, die auch ein Gesamtbild ergeben kann. Ein besseres Gesamtbild, vor allem von der Reichhaltigkeit, von der Vielfalt, von der geografischen Verteilung. Das alles kann man natürlich auch in Büchern darstellen, aber das Internet schafft eine Erinnerungsgemeinschaft, wie sie bis jetzt nicht möglich war, indem man ein Medium hat, über das man auch kommunizieren kann – unmittelbar mit denjenigen, die sich an dieser Erinnerungsgemeinschaft beteiligen. In dieser Intensität, in dieser Geschwindigkeit und in diesem Umfang war das bis jetzt nicht möglich und deswegen stellt das Internet eine ganz neue Möglichkeit der Erinnerungskultur dar.“422

Auffallend bei der Untersuchung von Internetauftritten im Kontext von Erinnerung ist allerdings, dass die Verlinkung mit anderen, externen Websites – eigentlich der Ausgangspunkt der WWW-Idee – keineswegs immer anzutreffen ist. Gerade das macht allerdings – wie oben angesprochen – das Gedenken im Internet so reizvoll. Diese Tatsache mag vielleicht auch nur eine vorübergehende Erscheinung sein, da viele Internetauftritte erst wenige Jahre im Netz stehen. Kommunikation, Austausch, Mitarbeit Im Gegensatz zu traditionellen Erinnerungsformen wie dem Denkmal, dem Buch oder dem Fernsehen, die einen rein rezeptiven Charakter aufweisen, da Botschaften und Informationen nur in Richtung des Betrachters

422 Siehe Anhang, Interviews, S. 599.

252 Erinnerungskultur und Internet übermittelt werden, bietet das Internet neue Formen der Kommunikation. Internetnutzer können sowohl Empfänger als auch Sender, Konsumenten als auch selbstständige Produzenten von Information sein. Technisch ist die Möglichkeit gegeben, dass Nutzer mit denjenigen, die Informationen bereitstellen, oder mit anderen Nutzern in eine Diskussion, in einen Austausch treten. Die Bandbreite der Formen des Austausches reicht von Textmitteilungen, Chaträumen, Gästebüchern und Diskussionsforen über Datenbankapplikationen bis hin zu virtuellen Treffen in digitalen Modellen mit anderen Personen in Form von Avataren. Computerspiele, die im Netz mit zusätzlicher Sprachverständigungssoftware auch eine Unterhaltung möglich machen, verwirklichen bereits die prinzipiellen Möglichkeiten dieser Form der Kommunikation und Interaktion zwischen Personen und gehören für viele Jugendliche zum Alltag. Auch die Bildung virtueller Gemeinschaften, die sich unter einer Netzadresse treffen und miteinander kommunizieren, ist Bestandteil einer „Netzkultur“. Bereits vor der Entstehung des WWW haben sich solche „virtual communities“ gebildet. Tilman Baumgärtel, der sich im Rahmen der Frage von Netzkunst mit diesen Netzgemeinschaften befasste, nennt die „Mailbox“, die noch nicht auf dem WWW basierte, als erste solche Kommunikationsform: „Durch die Mailboxen wurde die tote Maschine Computer für viele zum ersten Mal zu einem Kommunikationsinstrument und zu einem Katalysator sozialer Prozesse. Die ‚virtuellen Gemeinschaften‘, die sich um einige Mailboxen (oder Bulletin Board Systems (BBS) wie sie in den USA genannt werden) bildeten, sind eine genuine, kulturelle Hervorbringung der Netzkultur. Durch sie wurde es möglich, Menschen an den verschiedensten Ort zu verbinden und ihnen einen körperlosen, schriftlichen Dialog miteinander zu erlauben.“423

Als beispielhafte „virtual communities“ auf Basis des WWWs geht Baumgärtel auf die „Internationale Stadt“ und die „Digitale Staad“424 ein, die den Anspruch auf einen basisdemokratischen Diskussionsprozess im Internet stellten. Baumgärtel sieht für die Jahre 1994 und 1995 in der „Digitale Staad“ eine „wirkliche, funktionierende ,virtual community‘“, die es geschafft habe, „neben einem lebhaften Austausch“ im Netz auch „Veranstaltungen in Amsterdam“ durchzuführen, „die aus den Aktivitäten innerhalb des Computersystems hervorgingen“.425

423 Baumgärtel 1998, S. 28-29. 424 http://www.dds.nl, vom 25.01.2005. 425 Baumgärtel 1998, S. 35.

Internet vs. traditionelle Formen der Vermittlung 253

Für die Erinnerungskultur können diese Möglichkeiten in mehrfacher Hinsicht interessant sein. Zu relevanten Themen könnte das Internet eine Plattform für Diskussionen darstellen, die Menschen auffordert, sich an der Diskussion zu beteiligen. Erinnerungskultur als gesellschaftliche Auseinandersetzung könnte mit Hilfe des Internets mehr Menschen in Diskussionsprozesse aktiv einbeziehen und diese Diskussionen für alle Internetnutzer sichtbar machen. Die Hemmschwelle sich einzubringen ist bei diesem Medium geringer. Es kann aber auch als Treffpunkt fungieren und Menschen zusammenbringen, die aufgrund von räumlichen Grenzen oder fehlender Mobilität in der materiellen Welt nicht zusammenfinden würden. Des Weiteren kann das Internet einen Rahmen bieten, in dem Nutzer von überall auf der Welt sich mit eigenen Beiträgen beteiligen und somit Teil des Prozesses von Aufarbeitung der Geschichte werden. Durch die Vernetzung können die Ergebnisse wiederum allen Internetbenutzern zur Verfügung gestellt werden. Jenseits räumlicher und zeitlicher Grenzen könnten Erinnerungsgemeinschaften entstehen, die an einem gemeinsamen Thema zusammenarbeiten. Bei der Untersuchung von Websites mit erinnerndem Charakter ist festzustellen, dass diese Potentiale in der Regel noch nicht zur Anwendung kommen. Kommunikation weist selten über die Möglichkeit, mit den Betreibern einer Website per E-Mail in Kontakt zu treten, hinaus. Auch erwähnenswerte Angebote, wie die des schon beschriebenen Internetportals „shoah.de“426, bei denen die Nutzer explizit aufgefordert werden, einem Expertenteam Fragen zu stellen, reizen die Möglichkeiten nicht aus. Trotzdem stellt dies eine Neuerung dar. Bei keinem anderen Medium ist die Hemmschwelle so gering, mit den Autoren in Kontakt zu treten. Weitergehende Angebote, die einen Dialog mit mehreren Teilnehmern auch in Echtzeit erlauben wie Diskussionsforen, Gästebücher und Chaträume, sind im Kontext von Erinnerung so gut wie nicht zu finden. Einschränkend muss gesagt werden, dass diese Anwendungen auch nicht unproblematisch sind, da sie entweder einer aufwendigen redaktionellen Kontrolle bedürfen oder schnell Gefahr laufen, durch eine Überhäufung „unqualifizierter“ Beiträge an Attraktivität zu verlieren. Auch sind die Erfahrungen aus den frühen großen kommunikativen Netzprojekten wie „Internationale Stadt“ oder die „Digitale Staad“ nicht außer Acht zu lassen. Max Bareis zu seinen Erfahrungen in diesem Projekt:

426 http://www.shoah.de/, vom 25.01.2005.

254 Erinnerungskultur und Internet „Die ‚I.S. hat nur solange funktioniert, wie wir unsere Energie hineingesteckt haben. [...] Als wir die Leute nicht mehr aufgefordert haben, etwas zu machen, ist auch nichts mehr passiert.‘“427

Projekte, bei denen Besucher aufgefordert werden, mitzuarbeiten und Informationen mit erinnerndem Gehalt zu ergänzen, sind die große Ausnahme, obwohl hier genau die große Stärke des Mediums Internet gegenüber den herkömmlichen Medien liegen kann. Beispiele, die im Laufe der Bearbeitung gefunden wurden, sollen hier kurz vorgestellt werden. Zunächst sind die bereits erwähnten Projekte www.virtual.memorial.org und www. akakurdistan.com zu nennen, bei denen das Konzept der Website ist, dass viele Nutzer eigene Beiträge verfassen. Während diese beiden Beispiele eher ereignisorientiert sind, ist die Website „The Virtual Wall“428 – immaterielles Pendant zum Vietnam Memorial in Washington – auf das Gedenken an Personen gerichtet. Sie widmet sich, wie das materielle Vorbild, den toten und vermissten US-Soldaten des Vietnam-Krieges. Für beide Gedenkformen ist der Vietnam Veterans Memorial Fund (VVMF) verantwortlich. In dem Internetauftritt können Angehörige und Freunde zu einzelnen Personen Text-, Bild-, Ton- und Videodateien hochladen, die nach redaktioneller Prüfung online gestellt werden. Bis jetzt sind mehr als 58.000 Namen verzeichnet, zu denen insgesamt 122.979 Dateien hinzugefügt wurden.429 Die Website ermöglicht eine sehr persönliche und zugleich öffentliche Form, an eine Person zu gedenken.430 (Abb. S. 267) Ein weiteres Beispiel kommt aus Köln. Auf einer Website des Kölner NS-Dokumentationszentrums431 können Daten der ehemaligen jüdischen Einwohner eingesehen und von den Internetusern ergänzt werden. So soll es möglich werden, das Schicksal möglichst aller jüdischen Opfer aufzuklären. Bei der Website „Deutschland – Ein Denkmal“432, die versucht, eine Übersicht über alle von Deutschen in der NS-Zeit eingerichteten Konzentrations- und Vernichtungslager zu geben, wird gebeten, ergänzende Informationen via E-Mail den Betreibern zukommen zu lassen. Sigrid Sigurds­son, die Initiatorin, ist auch im Bereich der traditionellen Erinne427 Max Bareis, zitiert nach Baumgärtel 1998, S. 34. Im Original bei T. Baumgärtel: Disconnected – Die „internationale Stadt“ gibt auf, Elektro – Die Medienbeilage im „Freitag“, Nr. 6, 12. Februar 1998. 428 http://www.thevirtualwall.org, vom 25.01.2005. 429 Stand 25.01. 2005. 430 Siehe auch die sehr lesenswerte Untersuchung zu dieser Website von Angela Sumner: A. M. Sumner: Kollektives Gedenken individualisiert: Die Hypermedia-Anwendung The Virtual Wall, in: Erll / Nünning 2004, S. 255-276. 431 http://www.museenkoeln.de/ns-dok/ns-doku/t08/index_opfer.html, vom 26.08.2004. 432 http://www.keom.de/denkmal/, vom 04.09.2004.

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rungsformen für eine solche Form der Partizipation433 bekannt. Mit dem Begriff der Partizipation sind in der materiellen Welt zwei Aspekte verbunden. Erstens widmen sich immer mehr „Laien“ dem Thema der Erinnerung und sie artikulieren sich auch im öffentlichen Raum. Das reicht von Aktionen in Schulen über Bürgerinitiativen bis hin zu Geschichtswerkstätten und Vereinen. Auch das Holocaust-Denkmal in Berlin ist aus einer solchen privaten Initiative entstanden und war nicht staatlich, kulturpolitisch initiiert. Zweitens sollen Denkmäler nicht nur passiv konsumiert werden, sondern es wird eine aktive Beteiligung, ein Eingreifen, ein Dialog ermöglicht. Beispielhaft dafür sind Arbeiten von Jochen und Esther Gerz. Sowohl bei dem Hamburger Mahnmal gegen den Faschismus (Abb. S. 269) als auch bei dem Entwurf für das Holocaust-Mahnmal wollen die Künstler den Besucher integrieren und fordern auf, eine eigene Botschaft, einen Beitrag zu hinterlassen. Die genannten Beispiele von Partizipation im Internet operieren dagegen damit, dass Beiträge zugeschickt werden müssen und nach redaktioneller Kontrolle veröffentlicht werden. Mitarbeit, die sich in Echtzeit im Netz abbildet, existiert nicht, obwohl dies einen motivierenden Reiz zur Mitarbeit darstellen könnte. In der materiellen Welt ist Partizipation sehr wohl in Echtzeit zu haben. Dass die Potentiale des Internets für die Erinnerungskultur gerade in Hinsicht auf die Kommunikation mit vielen Menschen noch nicht überzeugend umgesetzt worden sind, steht auch im Zusammenhang mit den heutigen Interfaces wie Tastatur, Maus und Bildschirm. Sie sind gerade in Hinblick auf eine Kommunikation mit vielen Menschen nicht die intuitivsten. Die Entwicklung neuer, geeigneter Interfaces ist aber, wenn man die Geschichte der technischen Entwicklungen betrachtet, wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit. Gedenkveranstaltungen mit der Teilnahme vieler Mitglieder der Gesellschaft haben in der materiellen Welt einen festen Platz in der Erinnerungskultur und sind nicht selten Seismografen für 433 Vergleichend sei hier auch auf andere Kunstformen hingewiesen, die sich der Themen Partizipation und Erinnerung annahmen, so ist zum Beispiel die „Bibliothek der Alten“ von Sigrid Sigurdsson zu nennen. Dieses Projekt entstand anlässlich der Ausstellung „Das Gedächtnis der Kunst – Geschichte und Erinnerung in der Kunst der Gegenwart“. Die Künstlerin suchte „60 Autorinnen und Autoren im Alter von 50 bis 100 Jahren sowie 35 Autorinnen und Autoren bis zu 50 Jahren“, die „mit der Geschichte der Stadt Frankfurt am Main verbunden sein“ sollten „und sich bereit erklären, einen biografischen, historischen oder wissenschaftlichen Rückblick auf das vergangene Jahrhundert darzustellen. Die ersten Beiträge werden nach einer Bearbeitungszeit von drei Jahren in die Bibliothek der Alten im Historischen Museum, Frankfurt, aufgenommen, wo sie ab Januar 2004 der Öffentlichkeit dauerhaft zur Verfügung stehen werden.“ (S. Sigurdsson / K. Wettengl, in: K. Wettengl (Hg.): Das Gedächtnis der Kunst – Geschichte und Erinnerung in der Kunst der Gegenwart, OstfildernRuit 2000, S. 178).

256 Erinnerungskultur und Internet gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Durch die Beteiligung der gesellschaftlichen Eliten ergibt sich auch ein erhöhtes Medieninteresse. Die Frage, welche Bedeutung eine Zusammenkunft vieler Menschen im virtuellen Raum für die Erinnerungskultur aber haben kann, ist offen. Es ist zu vermuten, dass erst wenn ein gleichzeitiges Kommunizieren vieler Menschen im Internet sich in der Alltagsbenutzung dieses Mediums etabliert hat, ein Chance besteht, dieses Potential auch für die Erinnerungskultur anzuwenden. Interaktion Das Austauschen von Informationen in beide Richtungen erlaubt neben der Kommunikation Mensch – Mensch auch die Kommunikation Mensch – Maschine. Eine intelligente Programmierung und Suchhilfen können so Neugierde und Spieltrieb unterstützen und die Vermittlung und das Auffinden von Inhalten mit Erinnerungscharakter fördern. Diese Form von Interaktivität ist traditionellen Formen der Vermittlung von Erinnerung eher fremd. Die Möglichkeiten solcher spielerischen Interaktivitäten werden allerdings selten in einer Internetpräsenz angeboten. Bei den überwiegenden Webauftritten erfolgt lediglich eine Darstellung der Inhalte in Text und Bild, besondere Interaktionen und multimediale Anwendungen sind die Ausnahme. Bei der Frage nach besonderen Interaktionsmöglichkeiten geht es aber darum, dass dem User mehr Möglichkeiten der Navigation zur Verfügung stehen könnten. Beispielhaft sind Anwendungen zu nennen, bei denen Besucher aus einem sehr großen Angebot an Informationen gezielt nach eigenen Interessen diese auswählen können, etwa um lokale Bezüge herzustellen. Stellvertretend sei hier das schon erwähnte Projekt „Deutschland – Ein Denkmal“ von Sigrid Sigurdsson genannt, bei dem entweder nach einer Karte mit den Grenzen von 1937 oder über die Eingabe eines Ortes Informationen zu einem bestimmten Konzentrations- oder Vernichtungslager angezeigt werden können (Abb. S. 268). Der technische Hintergrund solcher Anwendungen ist die Verknüpfung mit Datenbanken. Für den Bereich der Architektur stellen begehbare virtuelle Modelle besondere Formen der Interaktion dar. Auch in diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die bereits vorgestellte VRML-Welt des römischen Forums in Coimbra, Portugal, und die Darstellung der Kathedrale von Uppsala in der 3D-Internet-Umgebung „ActiveWorlds“ verwiesen.434 Sich­ erlich ist Interaktivität auch eine Frage der Netzgeschwindigkeit und sollte in Echtzeit möglich sein. Die immer schnelleren Internetverbindungen 434 http://www.design.chalmers.se/kulturarvsdialog und http://lsm.dei.uc.pt/forum/, vom 02.07.2004.

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werden wahrscheinlich in Zukunft das Angebot an Interaktionsmöglichkeiten erhöhen. Zielgruppenvariabilität Internetanwendungen bieten, wie alle digitalen Informationssysteme, die Möglichkeit, Informationen für beliebig viele Zielgruppen bereit zu halten. Inhalte können so beispielsweise in sehr vielen Sprachen angeboten werden, ohne dass ein vergleichbares Kapazitätsproblem entsteht wie bei traditionellen Medien, etwa bei dem des Buches. Die Beschränkung liegt nicht prinzipiell in der Speicherkapazität, sondern nur in den zur Verfügung stehenden Ressourcen an Arbeitskraft bzw. Geld. Neben Sprachen könnten Vorwissen der Benutzer, Altersstufen oder persönliche Interessen berücksichtigt und wie ein Filter auf die gewünschte Information gelegt werden. Die Besucher wählen sich ihre Zugangsform aus und erhalten dementsprechend Informationen. Über die gezielte Aufbereitung von erinnerungsrelevanten Inhalten für verschiedene Personenkreise könnten eventuell neue Rezipienten angesprochen und gewonnen werden – beispielsweise Kinder und Jugendliche. Solche Möglichkeiten werden allerdings bis jetzt nur bei der Sprachauswahl genutzt. Internetauftritte, die über die Auswahl verschiedener Sprachen hinaus unterschiedliche Zugänge für verschiedene Zielgruppen anbieten, konnten bei den untersuchten Websites mit erinnerndem Charakter nicht festgestellt werden. Naheliegend wären beispielsweise unterschiedliche Seiten für Kinder und Erwachsene oder für Laien und Experten. Was zu finden ist, sind Websites, die spezielle Seiten bereithalten mit Unterrichtsmaterialien für die Schulen. Was ebenfalls Anwendung findet, ist das Verlinken von Begriffen, die über einen Glossarapparat erklärt werden und so Personen mit geringeren Kenntnissen eine Hilfestellung bieten. Aufgrund des kurzen Bestehens des Internets und der Tatsache, dass Inhalte und Institutionen erst seit wenigen Jahren im Netz präsent sind, ist zu hoffen, dass die Potentiale der digitalen Technologie in diesem Kontext in näherer Zukunft besser verwirklicht werden.

3.3.2.5 Beständigkeit und Erhaltungsaufwand Die Grundlage für „Erinnerung“ im Internet ist die digitalisierte Information. Damit einher geht der Bedeutungsverlust des Originals. Bei fachgerechter Speicherung bedeutet dies, dass die Information nicht verloren gehen kann. Der Erhaltungsaufwand ist an sich gering und ein technischer Vorgang, der den Erstellern von Websites in der Regel von den Firmen und Institutionen abgenommen wird, die die entsprechenden Internetauftritte

258 Erinnerungskultur und Internet hosten. Da die digitale Information an mehreren Orten mit jeweiligem sofortigen Zugriff vorhanden ist, ist ein Verlust weitgehend ausgeschlossen. Selbst wenn eine Version verloren ginge, existiert eine identische Kopie, die mit verhältnismäßig geringem Aufwand zu einer Wiederherstellung der Information führen würde. Hier besteht ein Unterschied zur materiellen Welt mit ihrer Einzigartigkeit von Originalen. Wiederherstellungen sind nicht mehr identisch mit dem verlorenen Original und im Vergleich sehr aufwendig, unter Umständen nicht durchführbar. Die digitale Speicherung der Information bedeutet auch, dass sie keine Qualitätsminderung durch Gebrauch oder Alterung erfährt. Es gibt allerdings auch keinen Charme der Patina. In der materiellen Welt – beispielsweise bei Gedenkstätten an authentischen Orten – ist Alterung ein wichtiger Diskussionspunkt. Für die Mitarbeiter stellt sich durch die Umwelteinflüsse zwangsläufig die Frage, was sich mit der Zeit verändern darf und was möglichst originalgetreu restauriert bzw. erhalten werden sollte. Alterung ist hier ein alltäglicher, nicht zu vermeidender Prozess. Alterung im Internet dagegen wird eher gekennzeichnet sein durch ein aus der Mode gekommenes Design und durch veraltete technische Funktionen oder das Fehlen inzwischen gewohnter Anwendungsmöglichkeiten. Die einfachere Möglichkeit zur Aktualisierung im Internet lässt diesbezüglich wahrscheinlich eine größere Erwartungshaltung von Seiten der Anwender und ein größeres Aktualisierungsinteresse von Seiten der Betreiber entstehen. Es ist zu erwarten, dass im Vergleich zu traditionellen Formen der Erinnerung wesentlich kürzere Intervalle bezüglich der Aktualisierungen entstehen werden. Beständigkeit, wie wir sie etwa von dem Denkmal oder dem Buch kennen, verliert sich im Internet und damit auch die Fähigkeit, als Zeitdokument Auskunft über die Zeit des Entstehens zu geben. Es ist zu wünschen, dass zu Dokumentationszwecken ältere Versionen von Websites erhalten bleiben und damit die jeweilige Sicht auf und das Wissen zu bestimmten Themen der Erinnerung als Ausdruck ihrer Zeit für spätere Generationen nachvollziehbar bleiben.

3.3.2.6 Sinnlichkeit und künstlerische Gestaltung Der Abschluss des Vergleichs zwischen Erinnerung im Internet und traditionellen Formen der Erinnerung ist dem Aspekt der Sinnlichkeit und der künstlerischen Gestaltung gewidmet, einem Aspekt, der in der materiellen Welt, insbesondere beim Denkmal, eine zentrale Rolle spielt. Beim Internet zeigen sich hier deutliche Grenzen des Mediums. Theoretisch ließen sich zwar jegliche Sinnesreize, lägen sie digital vor, vermitteln, in der Praxis konzentriert sich aber alles auf die Interfaces Bildschirm,

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Tas­tatur, Maus und Lautsprecher. Angesprochen wird also in erster Linie unser Sehsinn, in zweiter Linie auch der Hörsinn. Das Erleben von Räumlichkeit durch die eigene körperliche Bewegung, das Wahrnehmen von Gerüchen, das Fühlen von Materialität kann das Internet zurzeit nicht vermitteln. Hier ergaben sich gerade in den letzten Jahren in der materiellen Welt beachtenswerte Beispiele von Denkmälern und Gedenkstätten, die derart gestaltet sind, dass die Besucher beim Begehen körperliche, sinnliche Erfahrungen machen können, die über das rein visuelle Empfinden und das Empfinden von Mächtigkeit und Größe hinausgehen. Als Beispiele seien hier das Denkmal für Walter Benjamin von Dani Karavan in Port Bou und der „E.T.A.-Hoffmann Garten“ im Außenbereich des Jüdischen Museums Berlin genannt. Dani Karavan inszeniert sein Denkmal für Walter Benjamin im spanischen Grenzort Port Bou als Weg, auf dessen Höhepunkt die Besucher eine steile, von rostigen Stahlwänden umgebene Treppe hinuntersteigen, die scheinbar direkt ans Meer führt (Abb. S. 270). Das Ziel vor Augen trifft man aber auf eine Glasscheibe, die ein Weiterkommen nicht erlaubt und zur Umkehr zwingt. Das Beschreiten der Treppe ruft Gefühle der Erwartung, der Unsicherheit und der Aussichtslosigkeit hervor. Es interpretiert die letzten Lebenstage Walter Benjamins von missglückter Flucht, über scheinbare Ausweglosigkeit, bis zum Freitod. 435 Im von Daniel Libeskind konzipierten „Garten des Exils“ (E.T.A.-Hoffmann Garten) hat der Architekt ein Feld mit 49 mächtigen Betonstelen aufstellen lassen (7 x 7). Zur Bedeutung schreibt Daniel Libeskind: „48 dieser Pfeiler sind mit Erde aus Berlin gefüllt und stehen für 1948 – die Gründung des Staates Israel. Der zentrale Pfeiler enthält Erde aus Jerusalem und steht für Berlin selbst.“436 Leicht geneigt und zusätzlich auf schrägem Boden lassen sie den Besucher das Gefühl von Unsicherheit und Unwohlsein erleben, das seine Entsprechung in der oft beschriebenen Exilsituation deutscher Emigranten hat (Abb. S. 271). So ausgelöste Gefühle von Verunsicherung und Irritation, wie sie von den oben genannten Beispielen inszeniert bzw. beabsichtigt werden, können den Inhalt der erfahrenen Botschaft tiefer erfahrbar machen und stellen eine neue Form der Rezeptionsmöglichkeit dar. Die momentanen Interfaces für das Internet können hier nicht heranreichen und solche Erlebnisse nicht ermöglichen. Auch hat bis jetzt kein künstlerischer Internet­ auftritt eine größere gesellschaftliche Debatte ausgelöst. In der materi-

435 Dieses Denkmal ist sehr gut dokumentiert in: I. Scheurmann / K. Scheurmann: Dani Karavan – Hommage an Walter Benjamin, Mainz 1995. 436 D. Libeskind in: B. Schneider: Daniel Libeskind – Jüdisches Museum Berlin – Zwischen den Linien, München / London / New York 1999, S. 40.

260 Erinnerungskultur und Internet ellen Welt finden sich dagegen viele Bespiele. Als prominente Vertreter sei neben dem Holocaust-Mahnmal das Mahnmal gegen Faschismus von Alfred Hrdlicka in Wien (Abb. S. 271) erwähnt. Bei Alfred Hrdlickas Denkmal in Wien auf dem Victoriaplatz wurde gestritten, ob ein Jude heutzutage zu Erinnerungszwecken in der gleichen entwürdigenden Weise, in der Juden während der NS-Zeit behandelt wurden, dargestellt werden darf. Gerade die Denkmalkunst zum Thema Holocaust hat eine Reihe beachtenswerter neuer Ansätze geliefert, mit diesem Thema umzugehen, die durchaus auch auf andere Kunstformen zu übertragen wären, eventuell auch auf das Internet. Als Beispiele aktueller Tendenzen wurde bereits auf Denkmäler und Gedenkstätten eingegangen, die außer dem Sehsinn auch noch andere menschliche Sinne ansprechen (u.a. Karavan, Libeskind) oder Denkmäler, die den Gedanken der „Partizipation“ verwirklichen (Sigurdsson, Gerz). Daneben sind noch ephemere Denkmäler und solche Konzeptionen anzusprechen, die eine Negation der künstlerischen Wirkkraft vertreten. Die Debatte um das Holocaust-Denkmal warf immer wieder die Fragestellung auf, ob mit der Fertigstellung des Denkmals die inhaltliche Auseinandersetzung beendet sei. Ephemere Denkmalsformen, also solche, die nur zeitweise Bestand haben und dann wieder Platz machen, unterliegen dieser Gefahr herkömmlicher Denkmäler nicht und bieten vielleicht einen prinzipiell neuen Ansatz zum Thema Erinnerung. Sie schaffen immer wieder Anreize für eine Weiterführung gesellschaftlicher Debatten. Für Hans Dickel kennzeichnet das Ephemere „Arbeitsformen zeitgenössischer Künstler, die für befristete Zeit jeweils auf den Ort bezogene Installationen realisieren. Kunstwerke dieser Art können Funktionen von Denkmälern übernehmen, indem sie öffentliche Orte des Nachdenkens schaffen.“437 Beispiele für solche ephemeren Denkmäler sind u.a. Arbeiten von Hans Haacke, Christian Boltanski, Shimon Attie oder Krzysztof Wodiczko.438 Christian Boltanski machte bei seiner Installation „the missing house” die Baulücke eines im Krieg zerstörten Hauses zum Ort der Erinnerung. Jeweils an die kahlen Wände der beiden angrenzenden, stehen gebliebenen Nachbarhäuser brachte er Schilder auf der Höhe der jeweiligen

437 Siehe hierzu: H. Dickel, Installationen als ephemere Form der Kunst, in: M. Diers (Hg.): Mo(nu)mente – Formen und Funktionen ephemerer Denkmäler, Essen 1993, S. 223. Die Publikation von Michael Diers bietet insgesamt einen interessanten Querschnitt von der Geschichte bis zu den aktuellen Formen ephemerer Kunst. 438 Eine Abhandlung dieser Künstler ist zu finden in: Diers 1993, S. 223-239. Siehe auch: J. E. Young: Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur, Hamburg 2002. Die Beschreibung der künstlerischen Arbeiten ist diesen Publikationen sinngemäß entnommen.

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Stockwerke an, auf denen Angaben zu den früheren Bewohnern zu lesen waren. So wurden dort die Namen, die Berufe und die jeweilige Wohndauer vermerkt. Während die meisten nicht-jüdischen Bewohner bis 1945 blieben, mussten jüdische Mieter das Haus schon früher verlassen. Shimon Attie arbeitet bei Installationen mit Diaprojektionen, die reale Orte im wahrsten Sinne des Wortes in ein anderes Licht setzen. Er thematisierte in verschiedenen Installationen immer wieder die „Abwesenheit“ der Juden in Folge der NS-Zeit. So projizierte er 1991 – 1993 im Berliner Scheunenviertel, vor dem Holocaust ein Stadtteil mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil, alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen auf Hausfassaden (Abb. S. 269). Die Aufnahmen zeigten die selben Häuser vor 1945, sie zeigten u.a. Schilder früherer jüdischer Geschäfte und Menschen, die die Gebäude betraten, davor standen oder aus ihnen heraus schauten. In Dresden thematisierte Attie die Bedeutung der Bahnhöfe für die Deportationen und projizierte für zwei Wochen Gesichter von Juden aus Dresden auf Züge, Gleise und Wände.439 Während Attie so ephemere Denkmäler schafft, widmet sich Wodiczko der temporären Veränderung von Denkmälern an sich. 1990 verwandelte Wodiczko das Lenin-Monument auf dem Lenin-Platz in Ost-Berlin mit Hilfe von Projektion in die „Darstellung eines Shoppers [...], der, mit einem Ringelhemd bekleidet, nach West-Berlin gezogen ist, um sein Wägelchen mit Kaufhaus-Tüten und Pappkartons zu bepacken“.440 Dickel bemerkt bezüglich der Proteste von Anwohnern trefflich weiter: „Diese nächtliche Zeichensetzung wurde als Denkmalschändung begriffen; daß jedoch das 1970 enthüllte Monument selbst eine Schändung der historischen Person Lenins sein könnte, auf diesen Gedanken kamen die Anwohner nicht. Wodiczko hat mit seinen Lichtzeichen einen Pygmalion-Effekt inszeniert, der das Denkmal für einen kurzen Moment den veränderten Lebensbedingungen anpaßte und Lenins revolutionäre Forderung nach Konsum für alle noch einmal aktualisierte.“441 In hervorragender Form widmet sich Wodiczko damit einer grundsätzlichen Problematik von Denkmälern. Denn erst mal aufgestellt, verlieren sie meist schnell ihre Kraft und sind eher als Spiegelbild einer historischen Momentaufnahme, denn als Katalysator gesellschaftlicher Prozesse oder Auslöser individuellen Nachdenkens zu sehen. Diese Einsicht führte bei vielen Künstlern eben auch zum Nachdenken über das Denkmal an sich. Dass dieses Nachdenken über Gestalt und Funktion von Denkmälern gerade in Deutschland zu einer Reihe von völlig anderen Denkmalskon439 Zu den Projektionen von Attie siehe: Young 2002, S. 76-107. 440 H. Dickel in: Diers 1993, S. 230. 441 Ebd.

262 Erinnerungskultur und Internet zeptionen geführt hat, ist nicht zuletzt auch mit der Diskreditierung des Nationalen und Monumentalen durch die NS-Zeit erklärlich. James Young spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer herausgebildeten „nationale[n] Form“442 von sogenannten „Gegen-Monumente[n]“443. Der Wettbewerb um das Holocaust-Denkmal macht deutlich, dass das, was Jahrhunderte lang unter einem Denkmal zu verstehen war – nämlich die Bandbreite zwischen Skulptur und architektonischer Form – sich enorm ausgeweitet hat. Über das hinaus, was unter den Begriffen von „Partizipation“ und „ephemerer Denkmalsform“ schon beispielhaft angeführt wurde, formulierte sich eine Negation der Formfindung überhaupt. Am konsequentesten verfolgte Horst Hoheisel diesen Gedanken bei seinem Entwurf: „Das Brandenburger Tor wird abgetragen, Steine und Bronze werden zu Staub zermahlen. Der Staub wird auf dem Denkmalsgelände verstreut. Der Platz wird mit den in Berlin auf Bürgersteigen häufig verlegten alten Granitplatten bedeckt. Die Namen der europäischen Länder mit den entsprechenden Zahlen der Ermordeten werden dort eingeschrieben. [ ...] Die Frage dieses Entwurfs lautet: Würde das Volk der Täter angesichts des Völkermordes an den Europäischen Juden und Roma und Sinti bereit sein, sein nationales Symbol als Denkmal zu opfern? Können die Deutschen eine doppelte Leere ertragen? Den leeren Ort des Pariser Platzes ohne das Brandenburger Tor und [d]en leeren Ort der Ministergärten ohne entlastendes Denkmal aus Stein, Stahl oder Bronze?“444

Mit letzterem Beitrag ist vielleicht ein Grenzpunkt des Denkens über das Denkmal erreicht, das als Reflex auf eine kaum fassbare Brutalität nationalsozialistischer Vernichtungspolitik zurückzuführen ist und in dessen Mittelpunkt die Begriffe der Leere und Abwesenheit zu stellen sind. Was Libeskind mit seinen Voids beim Jüdischen Museum Berlin noch umbaut – die Leere –, inszeniert Hoheisel erneut als Verlust. Die hier skizzierten Tendenzen aktueller Denkmalskunst zeigen sowohl in künstlerischer als auch in intellektueller Hinsicht eine Bandbreite auf, an die das Internet (noch) nicht heranreicht. Bei den untersuchten Internetauftritten mit erinnerndem Charakter sind Websites mit künstlerischer Intention die absolute Ausnahme. Dominierend sind informative, textorientierte Angebote. Es scheint, dass 442 Young 2002, S. 116. 443 Young 2002, S. 115. 444 Horst Hoheisel zitiert nach: U. Heimrod / G. Schlusche / H. Seferens: Der Denkmalstreit - Das Denkmal? – Die Debatte um das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, Berlin 1999 , S. 379. Bei Heimrod steht: „und en [„en“ i. Orig,] leeren Ort der Ministergärten“.

Internet vs. traditionelle Formen der Vermittlung 263

entweder die Anzahl der Beispiele im Vergleich zur materiellen Welt tatsächlich sehr gering ist und / oder, dass solche Websites nicht einfach zu finden sind. Zumindest sind sie bis auf wenige Ausnahmen unbekannt geblieben. Links von „etablierten“ Internetangeboten zum Thema Holocaust auf Websites mit explizit künstlerischer Intention sind kaum festzustellen.

264 Erinnerungskultur und Internet

Website der KZ-Gedenkstätte Dachau Startseite

Website der KZ-Gedenkstätte Dachau „Virtueller Rundgang“

Internet vs. traditionelle Formen der Vermittlung 265

Website „holocaust.at“ Startseite

Website „holocaust.at“ Namensseite

266 Erinnerungskultur und Internet

Internetportal „Frankfurt im Nationalsozialismus“

Internetportal „shoah.de

Internet vs. traditionelle Formen der Vermittlung 267

Website „thevirtualwall.org“

Website „thevirtualwall.org“

268 Erinnerungskultur und Internet

Website zur Dokumentation der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ Hamburger Institut für Sozialforschung

Website „Deutschland – ein Denkmal“ Sigrid Sigurdsson

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Projektionen, Scheunenviertel Berlin Shimon Attie

Mahnmal gegen Faschismus Hamburg, Jochen Gerz

270 Erinnerungskultur und Internet

Gedenkstätte für Walter Benjamin Port Bou, Dani Karavan

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Außenansicht Jüdisches Museum Berlin, Garten des Exils © Jüdisches Museum Berlin

Mahnmal gegen Faschismus, Wien Alfred Hrdlicka

272 Erinnerungskultur und digitale Technologien 3.4 Zusammenfassung und Resümee 3.4.1 3D-Computer-Rekonstruktionen Bei der Beurteilung der Stärken und Grenzen von 3D-Computer-Rekonstruktionen für die Erinnerungskultur wurde auf den bereits bekannten Kriterienkatalog aus den vorherigen Kapiteln zurückgegriffen. In einer Gegenüberstellung mit traditionellen Formen der Rekonstruktion erfolgte die Beurteilung erneut anhand der drei Aspekte Anschaulichkeit, Emotionalisierung und Involvierung der Rezipienten sowie Diskurs- und Verbreitungspotential. Eine Betrachtung der Bereiche Erstellungs-, Präsentations- und Erhaltungsaufwand ergänzte den Vergleich und ermöglichte eine Einschätzung der Relation von erzielter Wirksamkeit und Aufwand. Der Vergleich der unterschiedlichen Rekonstruktionsformen zeigte viele Vorteile des digitalen Modells gegenüber der klassischen Zeichnung oder dem haptischen Modell. Zudem ergeben sich durch das digitale Modell neue sinnvolle Anwendungsmöglichkeiten, die traditionelle Rekonstruktionsformen bisher nicht geboten haben. Anschaulichkeit Allgemein kann gesagt werden, dass ein Computermodell am besten in der Lage ist, das Erscheinungsbild einer nicht mehr existenten Architektur darzustellen. Detailgenauigkeit, realistisch wirkende Oberflächendarstellung, atmosphärische Lichtwirkung bei gleichzeitiger Möglichkeit der Raumklärung durch Bewegung im digitalen Bauwerk, sind mit keiner traditionellen Architektur-Rekonstruktion so anschaulich zu erzielen – die bauliche Rekonstruktion außer Acht gelassen. Im digitalen Modell sind zudem Gebäude 1:1 aus der Betrachterperspektive zu erleben. Am deutlichsten werden diese Vorzüge bei der Darstellung von Innenräumen. Nur malerische Darstellungen haben an diesem Punkt ein ähnlich großes Vermögen, allerdings mit der Beschränkung auf jeweils eine Perspektive. Digitale Modelle können darüber hinaus im Gegensatz zu den traditionellen Rekonstruktionsformen auch jede beliebige Stelle in großer Detailgenauigkeit zeigen, ohne auf die Darstellung des Gesamten verzichten zu müssen und ohne dafür in der Präsentation mehr materiellen Raum einzunehmen. So kann ein einziges digitales Modell ein Bauwerk detailliert von innen und außen, den Kontext im Stadtraum, aber auch die Lage der Stadt in einem noch größeren räumlichen Zusammenhang darstellen. Die traditionellen Rekonstruktionsformen können das so nicht, da dies in der Regel mit dem zu Verfügung stehenden Platz kollidiert. Allerdings ist bei digitalen Modellen die Darstellung von Bauwerken in ihrer städtebaulichen Situation nicht selten unbefriedigend. Während das

Zusammenfassung und Resümee 273

einzelne Bauwerk detailliert nachempfunden ist, wird aus Kosten- und Zeitgründen oft auf eine Visualisierung der Umgebung verzichtet oder diese in reduzierter Form dargestellt. Dieser Sprung in der Informationsdichte kann zu einem falschen Eindruck vom städtebaulichen Kontext führen oder die grafische Qualität der Bilder beeinträchtigen. Hier ist die malerische Darstellung überzeugend. Sie kann einen hohen Grad an darstellerischer Homogenität aufweisen, ohne auf eine Detaillierung verzichten zu müssen. Emotionalisierung, Involvierung, neue Möglichkeiten der Rezeption Digitale Modelle eröffnen im Gegensatz zu haptischen Modellen und Zeichnungen andere und neue Möglichkeiten der Emotionalisierung und Involvierung der Rezipienten. Zum einen ist ihre Einbindung in Filme zu nennen. Grafische, textliche oder sprachliche Erläuterungen können Teil der Präsentation sein und im Gegensatz zu traditionellen Rekonstruktionsformen Hintergrundinformationen in großem Umfang vermitteln – so zum Beispiel auf die Umstände der Zerstörung und die Bedeutung des Bauwerks eingehen. Letzteres ist im Kontext von Erinnerung und der Vermittlung identitätsstiftender Informationen unerlässlich. In der filmischen Darstellung sind 3D-Computer-Rekonstruktionen zudem in der Lage, funktionale und inhaltliche Zusammenhänge innerhalb eines Bauwerks anschaulicher zu erläutern. Ein großes Potential der Emotionalisierung besteht bei der Einbindung digitaler Modelle im Medium Film auch durch filmische Dramaturgien. Beispielsweise können Überblendungen der Computer-Rekonstruktion mit Fotografien von den zerstörten Bauwerken, von baulichen Resten oder von den authentischen Orten erfolgen und bei Zerstörungen jüngerer Zeit auch Zeitzeugen zu Wort kommen. Dies ist bei haptischen Modellen und Zeichnungen so nicht gegeben. Echtzeitmodelle erlauben darüber hinaus neue Formen der Integration von Information durch die Möglichkeit der direkten Verknüpfung mit Elementen des Modells. So könnten auch zielgruppenorientiert spezifische Informationen angeboten werden, die den Rezipientenkreis theoretisch enorm erweitern. Die Emotionalisierung der Rezipienten könnte sich zudem im Kontext von Immersion und Präsenz verstärken. Überdimensional große Projektionen, die das Sehfeld ausfüllen, oder spezielle Brillen, die ein Computermodell auf die Brillengläser einspielen, können das Eintauchen in eine andere Welt simulieren und so zu einer neuen Dimension führen, nicht mehr existente Gebäude zu betrachten und sich diese bewusst zu machen. Im Extremfall kann das zum Gefühl der Präsenz, dem Gefühl der Anwesenheit im Gebäude führen, wenn Echtzeitmodelle auch die eigene Bewegung steuern lassen und Interaktion mit der Computerwelt erlauben. Diese Potentiale werden allerdings zurzeit noch nicht

274 Erinnerungskultur und digitale Technologien überzeugend verwirklicht. Die Vorteile gegenüber Simulationsfilmen mit immersiven Momenten wirken in der Praxis wenig überzeugend. Eine Emotionalisierung kann auch durch das Vermögen zur atmosphärischen, realitätsnahen Abbildung erfolgen und ein Überraschtsein und eine Überwältigung darüber auslösen, dass ein real nicht mehr existierendes Bauwerk so anschaulich, realitätsnah rekonstruiert wurde. Je mehr sich die Rezipienten mit dem zerstörten Bauwerk verbunden fühlen, desto stärker könnte eine solche Berührtheit wirken. Das betrifft insbesondere Zeitzeugen, welche die Gebäude noch aus eigener Anschauung kennen. Letztendlich können diese Möglichkeiten aber nur dann sinnvoll zur Geltung kommen, wenn begleitende Informationen oder bestehende Erinnerungsdiskurse einen Hintergrund bilden, auf dem die Bilder einen sinnstiftenden oder zum Nachdenken anregenden Charakter erhalten. Über das Gesagte hinaus bieten digitale Modelle weitere, neue Möglichkeiten der Rezeption. Hier sind die Aspekte Varianten und Zeitstufen, dynamische Simulationen sowie die Veranschaulichung nicht öffentlich zugänglicher Bauwerke zu nennen. Die Darstellung von Varianten und verschiedenen Zeitstufen kann bei Computermodellen wesentlich anschaulicher erfolgen als bei traditionellen Rekonstruktionsformen, da hier mit dem Mittel der Überblendung gearbeitet werden kann. Darüber hinaus führt die Darstellung von Varianten bei traditionellen Rekonstruktionsformen in der Regel zu einer bzw. zu mehreren kompletten Neuerstellungen. Bei den digitalen Rekonstruktionsformen müssen nur die tatsächlichen Unterschiede neu erstellt werden. Das reduziert Aufwand und Kosten. Traditionellen Architektur-Rekonstruktionen sind aber auch durch den Platzbedarf schneller Grenzen gesetzt. Da sämtliche Darstellungen des Computermodells über das in seiner Raumbeanspruchung gleich bleibende Display erfolgen, können beliebig viele Varianten oder Bauphasen veranschaulicht werden, ohne an Grenzen des zur Verfügung stehenden Platzes zu gelangen. In dem Vermögen digitaler Modelle, technische oder physikalische Prozesse in Bewegung zu simulieren, steckt eine weitere Faszinationskraft dieser Technologie, die bei haptischen Modellen nur sehr aufwendig durchführbar ist. Zeichnungen und malerische Darstellungen bieten lediglich die Möglichkeit, mehrere Momentaufnahmen eines dynamischen Prozesses abzubilden. Abschließend zu dem Aspekt der neuen Möglichkeiten sei die Anwendung digitaler Modelle bei der Veranschaulichung nicht öffentlich zugänglicher Bauwerke angesprochen. Computermodelle bieten durch ihr Vermögen, Innenräume detailliert darzustellen, eine Alternative, diese Bauwerke einem Publikum dennoch zu präsentieren. Gerade im Kontext der Diskussion um „Cultural-Heritage“ kann dies bedeutend sein.

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Verbreitung und Diskurspotential Hinsichtlich der Attraktivität der verschiedenen Rekonstruktionsformen für die Massenmedien ist das digitale Modell gegenüber den traditionellen Rekonstruktionsformen im Vorteil. Gründe hierfür sind unter anderem eine dem Informationszeitalter entsprechende Darstellungsform, die realistischere Darstellung – gerade von Innenräumen – sowie die Tatsache, dass bewegte Bilder der gewohnten Rezeptionsform einer TV-orientierten Gesellschaft entsprechen. Somit können digitale Modelle einen größeren Wirkungsgrad erzielen als traditionelle Rekonstruktionsformen. In Bezug auf ein gesellschaftliches Diskussionspotential muss allerdings festgestellt werden, dass die bauliche Rekonstruktion in ihrem Wirkvermögen auch das digitale Modell übertrifft, wie beispielsweise die Diskussionen um das Berliner Schloss zeigen. Bei der medialen Verbreitung von Architektur-Rekonstruktionen ist auch zu beachten, dass es sich bei den traditionellen Rekonstruktionsformen prinzipiell um Unikate handelt. Bei Zeichnungen und Gemälden ist eine Vervielfältigung nicht so problematisch – hier verschwindet höchstens das originäre Trägermaterial. Beim haptischen Modell führt dagegen die Verbannung des Modells auf die Zweidimensionalität einer fotografischen Abbildung zum Verlust der eigentlichen Qualität des Modells, der Wahrnehmung der dritten Dimension. Im Gegensatz dazu entsteht beim digitalen Modell ein solcher Verlust nicht. Es wird immer über Bilder repräsentiert, wobei der Vorteil des Echtzeitmodells gegenüber dem Simulationsfilm – nämlich seine Interaktivität – bei einer medialen Verbreitung aufgehoben ist. Eine Verbreitung kann dann besonders effektiv sein, wenn das digitale Modell über einzelne Bilder oder Filme repräsentiert wird, die ohne besondere Interfaces an beliebiger Stelle abzurufen sind, wie zum Beispiel an Computern mit Internetanschluss. Beim Einsatz besonderer Präsentationsformen und Interfaces in Ausstellungen bedeutet mediale Vervielfältigung den Verlust dieses Erlebnisses für Rezipienten, da hier die Hard- und Software als Exponat fungiert und als Unikat nur einmal existiert. Bei der Frage der Erzeugung von Öffentlichkeit sind bauliche Rekonstruktionen allen anderen Rekonstruktionsformen in vielen Punkten überlegen und haben das Potential zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung wie keine andere Form der Rekonstruktion. Sie sind somit im Kontext der Erinnerungskultur enorm anregend. Wo die bauliche Rekonstruktion aber nicht verwirklicht werden kann, sei es aus Kostengründen oder weil der Standort bebaut ist, da sind die Computer-Rekonstruktionen – fasst man alle Möglichkeiten und Randbedingungen zusammen – die effektivste Form, um an eine zerstörte Architektur zu erinnern, auch in Hinsicht auf den Verbreitungsgrad.

276 Erinnerungskultur und digitale Technologien Erstellungs-, Präsentations- und Erhaltungsaufwand Betrachtet man den Erstellungsaufwand bei Architektur-Rekonstruktionen, so ist zunächst festzustellen, dass die Zeichnung oder die malerische Darstellung sicher die wenigsten materiellen Voraussetzungen für ihre Herstellung benötigen, die geringsten Kosten verursachen und am schnellsten zu bewerkstelligen sind. Dies ist ein enormer Vorteil. Vergleicht man haptisches und digitales Modell, kann gesagt werden, dass sich hier in den letzten Jahren die Randbedingungen verändert haben. Die enormen Summen, die einst für die Erstellung eines digitalen Modells im Bereich von Hard- und Software investiert werden mussten, sind erheblich geschrumpft. Diese Kosten sind inzwischen wesentlich geringer als eine Werkstattausstattung für den professionellen Modellbau. Dies hat auch zu einer Steigerung der Anzahl potentieller Produzenten digitaler Modelle geführt. Eine sinnvolle Anforderung an Rekonstruktionen kann sein, den fortschreitenden Erkenntnisstand immer wieder neu darzustellen. Traditionelle Formen müssen dabei in ihrer Substanz verändert werden, es muss in ihre Materialität eingegriffen werden, was selten ohne Probleme durchgeführt werden kann, unter Umständen auch unmöglich ist. Digitale Modelle erlauben eine Aktualisierung, ohne Gefahr zu laufen, dass an der bisherigen Darstellung ein „Schaden“ entsteht. Je nachdem kann eine Aktualisierung, die bei traditionellen Architektur-Rekonstruktionen überhaupt nicht auszuführen wäre, bei digitalen Modellen sogar schnell zu bewerkstelligen sein. Allerdings ist zu beachten, dass selbst kleinste Änderungen bei einem Modell, das mittels Simulationsfilm präsentiert wird, ein Neuberechnen vieler Filmsequenzen erforderlich machen kann. Eine im Umfang kleine Aktualisierung des Modells könnte deshalb mit erheblichem Zeitaufwand und Kosten verbunden sein. Dies entfällt bei den Echtzeitmodellen, die hinsichtlich einer Aktualisierung den Modellen, die über Simulationsfilme präsentiert werden, überlegen sind. Der vermehrte Einsatz von Computer-Rekonstruktionen und Simulationsmodellen in Ausstellungen, Fernsehen und Kino und die gerade in der hochprofessionellen, finanzstarken Filmindustrie erzielte realitätsnahe Darstellung der Computermodelle führen zu einer gesteigerten Erwartungshaltung beim Rezipienten. Inwieweit solche realistisch wirkenden Modelle bei historischen Rekonstruktionen sinnvoll und auf Grund der enger werdenden Budgets im Kulturbereich in der Breite erzielbar sein werden, ist zu hinterfragen. Bei der Präsentation von Architektur-Rekonstruktionen unterscheiden sich digitale von traditionellen vor allem dadurch, dass sie immer ein Interface zur Darstellung benötigen. Damit sind weitere Kosten verbunden. Traditionelle Darstellungsformen sind dagegen oft mit Kosten für Sicher-

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heitsmaßnahmen gegen Diebstahl und Beschädigungen verbunden, die unter Umständen nicht unerheblich sind. Bei der Präsentation von digitalen Modellen ist zwischen Echtzeitmodellen und Simulationsfilmen zu unterscheiden. Von Beginn der Computerdarstellungen an konnten Modelle, die in Filmen präsentiert wurden, komplexer, realistischer wirken bzw. die Qualität der Bilder war deutlich besser als die der Echtzeitmodelle. Die rasante Entwicklung der Hard- und Software hat zwar bei Echtzeitmodellen zu einer immer realistischer wirkenden Darstellungsweise geführt, gleichzeitig stieg aber auch das Darstellungsvermögen der Simulationsfilme. Wann und ob sich dieser Vorsprung nivelliert, bleibt abzuwarten. Die technologische Entwicklung – immer mehr Rechenleistung für immer weniger Geld – führte aber zu einer Kostenreduzierung bei Echtzeitmodellen und macht deren Einsatz wahrscheinlicher. Das Versprechen von Interaktivität in den Echtzeitmodellen ist dennoch in mancherlei Hinsicht trügerisch und deren Präsentation in Ausstellungen fraglich. In der Regel kann die Interaktivität nur von einer Person durchgeführt werden und diese Person muss zudem mit dem Interface vertraut sein, damit sich für sie und ein eventuell anwesendes Publikum ein Erfolg einstellt. Um dieses Problem zu vermeiden, wurden in Ausstellungen und „Eventveranstaltungen“ auch professionelle „Führer“ eingesetzt. Die Erfahrung von Fachleuten aus den Museen zeigte, dass ein Eingehen auf Besucherwünsche, um die Potentiale der Interaktivität zu nutzen, sich in der Praxis allerdings kaum umsetzen ließ, so dass sich der umfangreiche technische und finanzielle Aufwand für eine solche Interaktivität nicht lohnt. Teilinteraktive Präsentationsformen oder Simulationsfilme können bei wesentlich geringeren Kosten hinsichtlich der Rezeptionsfähigkeiten des Besuchers Gleiches leisten. Zu fragen ist ebenfalls, wo die Echtzeitmodelle nach einer Ausstellung noch Verwendung finden, öffentlich zugänglich sind. Hinsichtlich der Attraktivität der Präsentationsformen für verschiedene Besuchergruppen kann gesagt werden, dass Echtzeitmodelle, in denen selbst navigiert werden muss, vorwiegend jüngere Besucher ansprechen, geführte Vorstellungen und Simulationsfilme jede Altersgruppe. Jenseits des Einsatzes in Museen, Ausstellungen und Veranstaltungen gibt es bei den Echtzeitmodellen allerdings Ansätze, die sehr vielversprechend sind. Dies sind vor allem die Entwicklungen im Bereich der Gameengines und der Präsentation von Modellen im Internet. Hierin ist ein zukunftsträchtiges Potential zu sehen. Die Möglichkeit, in virtuellen, interaktiven Bauwerken das Modell selber bzw. Objekte des Modells mit Hintergrundinformationen zu verknüpfen, stellt eine der ganz großen Chancen solcher digitalen Modelle dar. Bis jetzt wurden sie allerdings nur wenig angewandt. In Bezug auf den Erhaltungsaufwand besteht ein grundlegender Unterschied zwischen traditionellen Rekonstruktionsformen und digitalen

278 Erinnerungskultur und digitale Technologien Modellen. Traditionelle Rekonstruktionsformen sind Informationsträger und Präsentationsform zugleich. Bei ihnen gibt es einen langen Erfahrungsschatz hinsichtlich Erhaltung und Konservierung. Im Gegensatz dazu liegt das digitale Modell als Datensatz vor, die Präsentation erfolgt über ein Interface. Das erfordert den Erhalt von entsprechender Hardund Software. Um die Aktualisierungspotentiale eines digitalen Modells nutzen zu können, muss das Modell in die nächsten Generationen von Hard- und Software transformiert werden, was unter Umständen mit erheblichen Kosten verbunden ist. Hierfür sollte das Verständnis für „digitale Denkmalpflege“ besser entwickelt sein und die notwendigen Voraussetzungen von guter Dokumentation bis hin zu finanziellen Rücklagen sollten bereits im Vorfeld berücksichtigt werden. Ein bis jetzt nicht abzuschätzendes Problem ist die Haltbarkeit der digitalen Speicherträger. Auf Seiten der traditionellen Architektur-Darstellungen blicken wir auf Modelle, die 500 Jahre alt sind. Die längste sicher scheinende Haltbarkeit spezieller digitaler Speichermedien soll 50 Jahre betragen. CD-ROMs beispielsweise können schon nach einigen Jahren nicht mehr lesbar sein. Dennoch muss festgestellt werden, dass digitale Daten nicht altern und sich nicht abnutzen. Das ist ein großer Vorteil. Da den Informationen keine Unikate als Träger(medien) zu Grunde liegen, kann in der Regel selbst bei Datenverlust die Information in gleicher Form wiederhergestellt werden. Bei traditionellen Rekonstruktionsformen geht mit dem Verlust auch ihre Patina, ihre Ausstrahlung als Unikat verloren, wie der Brand im Rokokosaal der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek vor Augen führte. Was die Beständigkeit des kulturellen Gedächtnisses betrifft, werden sich wohl auf absehbare Zeit sowohl bei traditionellen als auch bei digitalen Informationsträgern Risiken nicht ausschließen lassen. Der Einsatz der digitalen Modelle hat traditionelle Formen der Architekturdarstellung keineswegs verdrängt. So wie es nach wie vor bauliche Rekonstruktionen gibt, werden auch für Ausstellungen und Museen nach wie vor haptische Modelle angefertigt. Der anfängliche „Hype“ um Computermodelle ist wohl noch nicht vergangen, ebenso eine gewisse Reserviertheit gegenüber dem Computer. Die Beliebtheit von digitalen Modellen in Ausstellungen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die traditionellen Rekonstruktionsformen ihre Vorzüge haben. Hier fungiert Architekturdarstellung als Exponat, das auch eine andere Atmosphäre erzeugt und ästhetische Reize bietet, das als Unikat eventuell eine besondere Wirkung entfaltet. Dem Exponatcharakter entsprechend wird es aufgenommen. Zeitpunkt und Verweildauer können von den Betrachtern selbst bestimmt werden. Jeder Besucher hat die Möglichkeit der Rezeption. Bei der Präsentation von Simulationsfilmen und Echtzeitmodellen sind hingegen unter Umständen feste Vorführungszeiten erforderlich. Je nach

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Intervall der Vorführung und Anzahl der angebotenen Plätze kann dies dazuführen, dass nicht alle Besucher teilnehmen können oder wollen. Um eine vollständige Vorführung des digitalen Modells und seiner Inhalte mitzubekommen, wird eine wesentlich längere Zeit benötigt als bei der Betrachtung eines traditionellen Architekturmodells. Gerade bei dem haptischen Modell liegt deshalb der Vorteil in seiner direkten Erfahrbarkeit und dem schnellen Erfassen seiner Gestalt durch den Rezipienten. Abschließend sei auf die Verantwortung beim Einsatz von digitalen 3D-Modellen hingewiesen, da die Wirkkraft der 3D-Computer-Rekonstruktionen hinsichtlich einer vermeintlichen Richtigkeit größer ist als bei den abstrakteren Darstellungsformen. Erst wenn digitale Modelle als Standard Befund und gesicherte Überlieferung auf der einen Seite sowie abzuleitende Gestalt und Fiktion auf der anderen Seite kenntlich machen, werden sie einer gewissen Skepsis von wissenschaftlicher Seite selbstbewusst entgegentreten können. Wenn es dann noch gelingt, ihr Aktualisierungspotential durch Bereitstellen von Mitteln über die erste Präsentation hinaus zur Entfaltung zu bringen, käme ein Medium zum Einsatz, das Laien und Wissenschaftler gleichermaßen faszinieren kann. Die Zukunft wird in Modellen liegen, die je nach Einsatz interaktiv präsentiert werden können. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Netzgeschwindigkeit ausreicht, um sich weltweit flüssig in hochkomplexen, detaillierten Modellen bewegen und begegnen zu können.

280 Erinnerungskultur und digitale Technologien 3.4.2 Internet Im Vergleich zu traditionellen Erinnerungsformen hatte das Internet bis jetzt nur eine kurze Zeitspanne zur Entwicklung seiner Möglichkeiten. Vielen ist inzwischen bewusst geworden, dass dieses Medium für den Bereich der Erinnerung nicht übersehen werden darf. Es gibt kaum eine Institution des kulturellen Gedächtnisses, die nicht über einen eigenen Internetauftritt verfügt. Jeder kann im Internet mit relativ geringen Mitteln Websites erstellen, die an Ereignisse, Personen, zerstörte Architektur etc. erinnern und potentiell die ganze Welt erreichen. Das Internet bietet gerade „Laien“ und freien Initiativen eine Plattform, die Ergebnisse ihrer Aufarbeitung der Geschichte im Netz zu veröffentlichen. Dieser Umstand führt zu einem breiteren Spektrum an Autoren und zu einer größeren Pluralität der Darstellung und Interpretation von Vergangenheit im Vergleich zu traditionellen Erinnerungsformen. Der Aspekt der Bekanntmachung und der Glaubwürdigkeit ist dabei allerdings zu bedenken. Internetauftritte von großen Institutionen genießen einen Vertrauensvorschuss, den „private“ Websites sich erst erwerben müssen. Im Vergleich zu traditionellen Erinnerungsformen hat das Internet potentiell eine größere Reichweite und Verfügbarkeit. Interessierte können zur selbstgewählten Zeit, an jedem Ort Websites mit erinnerndem Charakter abrufen. Unabhängig von zeitlichen und finanziellen Ressourcen, von Witterungsverhältnissen und Tageszeit sowie von der körperlichen Verfassung kann eine Benutzung des Internets erfolgen. Das ist gerade für Menschen mit eingeschränktem Bewegungsradius eine Bereicherung. Gleichzeitig ist damit zu rechnen, dass über das Internet auch neue Personenkreise angesprochen werden, die traditionelle Medien oder Orte der Erinnerung nicht benutzen oder aufsuchen würden. Hier seien insbesondere Jugendliche genannt, denn gerade von dieser Personengruppe ist zu erwarten, dass das Internet zur Hauptbezugsquelle für Informationen wird. Generell gilt für alle Benutzer dieses Mediums, dass Informationen nur einen Klick weit entfernt sind, so dass auch mit zufälligen Besuchen von Websites mit erinnerndem Charakter zu rechnen ist. Diese große Verfügbarkeit und Reichweite darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass traditionelle Erinnerungsformen wie das Denkmal, das Buch, das Fernsehen, der Film und die Printmedien nach wie vor ein zahlenmäßig größeres Publikum erreichen. Websites mit erinnerndem Charakter haben zudem im Vergleich zur materiellen Welt bis heute keine Brisanz erzeugt, keine gesellschaftlichen Diskussionen angeregt oder keine vergleichbare Debatte ausgelöst, wie beispielsweise das Holocaust-Denkmal oder die Wehrmachtsausstellung. Mögliche Gründe sind darin zu sehen, dass Rezeption im Internet einen

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individuellen Vorgang darstellt. Im Vergleich zu den klassischen Massenmedien fehlt eine Gleichzeitigkeit der Rezeption durch viele Mitglieder der Gesellschaft oder ein gemeinsames Wissen um eine solche Gleichzeitigkeit sowie dessen Spiegelung in den traditionellen Medien. Im Gegensatz zur materiellen Welt wird im Internet auch keine Brisanz über „prominente Standorte“ erzeugt, an denen dauerhaft auf ein Thema Bezug genommen wird. Im Netz sind die wichtigen, nicht themenspezifischen Einstiegspunkte und Knoten des Netzes wie Provider und Suchmaschinen bis jetzt nicht Bestandteil einer Erinnerungskultur. Dagegen bietet das Internet im Vergleich zu traditionellen Erinnerungsformen leichtere Möglichkeiten der Aktualisierung. Dies eröffnet die Chance, Erinnerungskultur als Prozess gerecht zu werden, was traditionellen Formen wie dem Denkmal durch den Anspruch auf „ewiges Bestehen“ nach seiner Errichtung selten gelingt. Die gute Aktualisierungsmöglichkeit im Internet bringt aber auch Nachteile mit sich, weil bei einer Bezugnahme auf eine Website immer mit einer später nicht mehr nachvollziehbaren Veränderung von Inhalt und Form zu rechnen ist, da in der Regel die älteren Versionen überschrieben werden. Dies kann im Extremfall auch zum Verschwinden von Inhalten führen. Zumindest bedeutet das den Verlust der Fähigkeit, als Dokument Auskunft über die Zeit des Entstehens zu geben. Die Speicherung von Websites wird in der Regel zentralisiert von Providern vorgenommen. Da diese die digitalen Informationen an mehreren Orten mit jeweiligem direktem Zugriff abgelegt haben, ist von einer sehr guten Sicherheit in Bezug auf die Beständigkeit der Information auszugehen. Diese Sicherheit ist bei traditionellen Erinnerungsformen nicht im gleichen Maße gegeben. Sie sind anfälliger für Zerstörungen. Die scheinbar grenzenlose Kapazität des Internets für Informationen hat zu einem kaum überschaubaren Angebot geführt. Das gilt auch für Websites mit erinnerndem Charakter. Es ist deshalb zu fragen, wie Aufmerksamkeit zu erzielen und Informationen zu erlangen sind. Bei den traditionellen Formen der Erinnerung ist durch die Lektüre der Printmedien und deren Feuilletons ein Überblick zu bedeutenden Themen der Erinnerung relativ einfach zu gewinnen. Erinnerungsinitiativen auf nationaler oder lokaler Ebene werden über die Massenmedien bekannt gemacht. Im Internet dagegen existiert ein weitaus vielschichtigeres und heterogeneres Geflecht zur Erzielung von Aufmerksamkeit. Sich hier einen Überblick zu verschaffen, ist weitaus schwieriger als bei traditionellen Erinnerungsformen. Im Internet entsteht Aufmerksamkeit aus einer Mischung aus Hinweisen von traditionellen Medien, Verlinkung von anderen Websites, insbesondere von Einstiegs- und Knotenpunkten, aus den geschickt gewählten Domainnamen und einer guten Positionierung in

282 Erinnerungskultur und digitale Technologien Suchmaschinen. Internetauftritte etablierter Institutionen des kulturellen Gedächtnisses genießen durch das vorhandene Renommee besondere Aufmerksamkeit. Somit haben, im Sinne der Aufmerksamkeit, auch im Internet bekannte Institutionen zunächst einen Vorteil gegenüber freien, noch unbekannten Initiativen. Im Gegensatz zur materiellen Welt können aber kleine Initiativen durch überzeugende Auftritte und Engagement bei der eigenen Vernetzung und Verlinkung wesentlich einfacher zu führenden Vertretern eines Bereiches der Erinnerung im Internet aufsteigen. Das Medium Internet bietet gänzlich neue Möglichkeiten der Rezeption, die in traditionellen Medien nicht vorhanden sind. Hier ist vor allem die Verknüpfung jeglicher Informationen untereinander sowie die Möglichkeiten der Interaktion und der direkten Kommunikation zwischen den Benutzern zu nennen. Bei dem überwiegenden Teil der Websites mit erinnerungsrelevanten Inhalten, einschließlich der Webauftritte von Institutionen des kulturellen Gedächtnisses, hat der Nutzer jedoch lediglich die Möglichkeit, sich in Wort und Bild zu informieren. Besondere Interaktionsmöglichkeiten waren selten zu finden. Das betrifft auch den Bereich der Darstellung von Computer-Rekonstruktionen. Hier liegen in der Zukunft große Potentiale. Auch die Möglichkeit, für verschiedene Zielgruppen spezifische Angebote bereitzuhalten, eine prinzipielle Potenz aller digitalen Informationssysteme, wird über das Anbieten verschiedener Sprachen hinaus bis jetzt so gut wie nicht genutzt. Erstaunlich war festzustellen, dass eine Verlinkung zu anderen Websites – das Herzstück der WWW-Idee – oft nicht verwirklicht wurde. Dabei ist das gerade eine Qualität, die dem Internet einen großen Vorteil gegenüber traditionellen Erinnerungsformen verschafft, da über die Vernetzung unendlich viele Bezüge zu anderen Websites hergestellt und diese Teilbereiche so zusammengeführt werden können, dass komplexere Sichtweisen entstehen. Das Internet ermöglicht auch neue Kommunikationsformen, in denen die Benutzer sowohl Empfänger als auch Sender, Konsumenten als auch selbstständige Produzenten von Information sein können. Erinnerung könnte im Internet auch dadurch gekennzeichnet sein, dass Interessierte selbst Teil des Prozesses von Aufarbeitung der Geschichte werden. Auch in Bezug auf diese Kommunikationsmöglichkeiten werden die Potentiale des Netzes bis jetzt kaum genutzt. In der materiellen Welt ist das Thema Erinnerung stark mit dem Thema Kunst verbunden. Von der Fotografie über das Gemälde und die Installation bis hin zum Denkmal ist in den letzten Jahren eine erstaunliche Bandbreite interessanter Ansätze entstanden, die sich besonders an der Debatte um die Erinnerung an den Holocaust festmachen lässt und die Diskussion um ein „richtiges“ Erinnern enorm befruchtet haben. Websites

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mit sinnlich-künstlerischem Charakter sind dagegen in der Anzahl begrenzt und in Publikationen kaum zu finden. Sie scheinen noch nicht oder wenig bekannt und noch weniger bewertet zu sein. Als Fazit lässt sich sagen, dass das Internet von Seiten der Betreiber überwiegend zur Informationsvermittlung genutzt wird. Die Potentiale für eine andere, partizipative Form der Erinnerungskultur bleiben weitgehend ungenutzt. Somit scheint das Internet für diesen Bereich bis jetzt noch eine Spiegelung der materiellen Welt mit ihren gewohnten Rezeptionsformen zu sein.

Kapitel 4 Synagogen in Deutschland Erinnerung mit 3D-Computer-Rekonstruktionen und Internet

Nach den prinzipiellen Einführungen zu Erinnerungskultur und Informations- und Kommunikationstechnologie im vorangegangenen Kapitel erfolgt im vierten Kapitel die Betrachtung digitaler Technologien am konkreten Beispiel der Synagogen. Analog zum vorherigen Kapitel und der Differenzierung der Fragestellung dieser Studie entsprechend, gliedert sich das vierte Kapitel in zwei Teile: 3D-Computer-Rekonstruktionen und Internet. Beiden folgt nach einer Bestandsaufnahme die Bewertung hinsichtlich folgender Fragestellungen: Inwieweit können die im zweiten Kapitel festgestellten Defizite traditioneller Erinnerungsformen bei dem Thema Synagogen durch den Einsatz digitaler Technologien ausgeglichen werden? Inwieweit wurden die Potentiale und Randbedingungen der Informations- und Kommunikationstechnologie, die im dritten Kapitel in allgemeiner Form aufgezeigt wurden, beim konkreten Beispiel der Synagogen umgesetzt bzw. bestätigt. Welche Grenzen der digitalen Technologien sind festzustellen? Den Anfang der Betrachtung bilden die 3D-Computer-Rekonstruktionen.

4.1 3D-Computer-Rekonstruktionen Bei der Bestandsaufnahme der 3D-Computer-Rekonstruktionen zerstörter Synagogen steht das Projekt „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ im Zentrum. Das am Fachgebiet IKA der Technischen Universität Darmstadt entstandene Projekt ist das erste und das umfangreichste, das zerstörte deutsche Synagogen zum Inhalt hatte. Es umfasste mehr als zehn Jahre Forschungsarbeit zu der Fragestellung, wie mittels digitaler Modelle an die zerstörten deutschen Synagogen zu erinnern ist, und mündete in Publikationen, Ausstellungen und Internetpräsentationen. Die Dokumentation dieses Forschungsprojektes, an dem der Verfasser maßgeblich beteiligt war, beinhaltet auch die Resonanz der Medien, die in ihrer Breite, Prominenz und Internationalität überrascht. Neben dem Darmstädter Projekt widmet sich ein zweiter Abschnitt weiteren 3D-Computer-Rekonstruktionen von Synagogen, sofern diese öffentlich bekannt

286 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen geworden sind. Diese Rekonstruktionen erfolgten nicht nur bei jenen Bauwerken, die in der NS-Zeit zerstört wurden, sondern auch bei bedeutenden mittelalterlichen Synagogen. In der abschließenden Bewertung liegt ein Schwerpunkt auf dem Vergleich des Darmstädter Projektes mit dem der TU Braunschweig und mit den dort erstellten haptischen Modellen und durchgeführten Ausstellungen.

4.1.1 Das Projekt „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ 4.1.1.1 Anlass, Zielsetzung, Durchführung Von 1995 bis 2002 wurden an der TU Darmstadt, Fachgebiet IKA, Synagogen, die in der NS-Zeit zerstört wurden, als 3D-Computermodelle rekonstruiert. Entstanden ist das Projekt aus einer studentischen Initiative des Verfassers: „Die Faszination dieser neuen Technologie sowie das Interesse an Architektur und NS-Zeit führten bei mir, ausgelöst durch den Brandanschlag auf die Synagoge in Lübeck im Jahre 1994445, zu der Idee, Synagogen, die in der NS-Zeit zerstört worden waren, mittels Computer zu rekonstruieren.“ 446

Dem Anschlag auf die Lübecker Synagoge, der wegen der historischen Bezüge einen hohen symbolischen Charakter hatte, sollte mit dem Sichtbarmachen zerstörter Synagogen ein symbolisches Zeichen gegen Antisemitismus und anwachsenden Rechtsradikalismus entgegengestellt werden. Manfred Koob schreibt zu der Entstehungsgeschichte: „Im Frühjahr 1994 baten mich acht Architekturstudenten der Technischen Univer­ sität Darmstadt, ein Seminar unter dem Titel ‚Visualisierung des Zerstörten‘ durchzuführen. Es ist eine Zeit, in der die Ausgrenzung von Minderheiten und Andersdenkenden spürbar ist, einhergehend mit rechtem Gedankengut, das wieder öfter zutage tritt. Es ist das Jahr 1994, in welchem auf die Synagoge in Lübeck ein Brandanschlag verübt wird. Mit der virtuellen Rekonstruktion der in der Reichspo-

445 Der Brandanschlag erfolgte am 25. März 1994. Es war der erste Brandanschlag auf eine Synagoge in Deutschland nach Ende der NS-Zeit. Vier Täter wurden ermittelt und im April 1995 zu Haftstrafen zwischen 2½ und 4½ Jahren verurteilt. Siehe hierzu: Kersten Kampe, Der materielle Schaden ist begrenzt, unermesslich ist der immaterielle, in: TAZ vom 15. April 1995, S. 4. 446 M. Grellert: Chancen Neuer Medien in der Gedenkkultur, in: Grellert / Koob 2004, S. 28.

„Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ – TU Darmstadt 287 gromnacht von den Nationalsozialisten zerstörten Synagogen wollen sie ein Zeichen des Mahnens und Erinnerns setzen, aber auch Bekenntnis ihres Denkens und Handelns ablegen. Gleichzeitig wollen sie die bauhistorische Bedeutung dieser Bauwerke in Erinnerung rufen, prägten doch die Synagogen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts das Erscheinungsbild vieler Städte. Rekonstruiert wurden drei Frankfurter Synagogen. Es sind die Synagogen Börneplatz, Friedberger Anlage sowie die Hauptsynagoge in der ehemaligen Judengasse.“447

Die ersten Ergebnisse in Form von digitalen Einzelbildern der Frankfurter Synagogen lösten großes Interesse bei der Öffentlichkeit, bei Zeitzeugen und der Jüdischen Gemeinde aus (Abb. S. 308, 309). Neben Veröffentlichungen im Fernsehen und in den Printmedien wurde im Sommer 1996 eine Ausstellung mit diesen Bildern in der Börnegalerie, der Dependance des Jüdischen Museums Frankfurt, realisiert. Mit finanzieller Hilfe des Hessischen Rundfunks konnten dann im Januar 1997 auch Simulationsfilme erstellt werden, die die Frankfurter Synagogen von innen und außen zeigen. Angeregt durch die positive Resonanz auf diese Rekonstruktionen setzte sich das Fachgebiet IKA unter Leitung von Manfred Koob und dem Verfasser das Ziel, weitere zerstörte Synagogen im Rechner wieder sichtbar zu machen. Neben den politischen Aspekten sollte ein repräsentativer Überblick der zerstörten synagogalen Architektur in Deutschland vermittelt und der kulturelle Verlust aufgezeigt werden. Gleichzeitig galt es, einer breiten Öffentlichkeit räumliche Eindrücke dieser Bauwerke zu veranschaulichen und an die große städtebauliche Bedeutung der Synagogen zu erinnern, die das Stadtbild in fast jeder deutschen Stadt mitprägten. Ausgewählt wurden damals 15 Synagogen aus den Städten Berlin, Dortmund, Dresden, Düsseldorf, Hamburg, Hannover, Kaiserslautern, Köln, Leipzig, München, Nürnberg, Plauen und Stuttgart. Die Wahl fiel auf die Großstadtsynagogen in der Hoffnung, dass die politische Intention so die größtmögliche Entfaltung finden könnte. Die ausgesuchten Synagogen sollten aber auch die Vielfalt und Typologie hinsichtlich Liturgie und Baustile der Synagogen des 19. und 20. Jahrhunderts widerspiegeln. So sind einerseits unter den rekonstruierten Gotteshäusern liberale und orthodoxe Synagogen zu finden, andererseits aber auch die beiden Hauptstilrichtungen – neoromanisch und neoislamisch – vertreten, ergänzt durch Beispiele regionaler bzw. zeitgenössischer Baustile. An der TU Darmstadt standen für ein solch umfangreiches Projekt kaum eigene Mittel zur Verfügung. Die finanzielle Unterstützung des Bun-

447 M. Koob: Visualisierung des Zerstörten, in: Grellert / Koob 2004, S. 30.

288 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen desbildungsministeriums (BMBF), welches Mittel für ein Pilotprojekt zur Verfügung stellte, ermöglichte die Rekonstruktion der Synagogen Köln, Hannover und Plauen. Wenig später schlossen sich die Städte Kaiserslautern, München und Nürnberg mit der Unterstützung der Rekonstruktion der jeweiligen Synagoge dem Vorhaben an. Diese Förderungen bildeten einen Rahmen für ein studentisches Seminar mit über 40 Teilnehmern und Teilnehmerinnen, in das auch die Rekonstruktion von Synagogen aus Berlin, Dortmund, Dresden und Leipzig aufgenommen werden konnte. Zur Einführung besuchten die Studierenden ein Seminar zum Thema Synagogen, das am Fachgebiet Kunstgeschichte der TU Darmstadt unter der Leitung von Wolfgang Liebenwein und dem Verfasser abgehalten wurde. Parallel hierzu wurde eine Softwareschulung448 durchgeführt, die das Basiswissen in 2D- und 3D-CAD-Software vermittelte. In Gruppen von drei bis vier Teilnehmern wurden innerhalb von eineinhalb Jahren Synagogen aus zehn Städten rekonstruiert. Die Ergebnisse sind hier beispielhaft für fünf Synagogen dokumentiert (Abb. S. 310 – 314). Das Interesse der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn sowie eine weitere Förderung des Bundesbildungsministeriums machte es möglich, die Ergebnisse dieses studentischen Seminars in dem Bonner Ausstellungshaus von Mai bis Oktober 2000 zu präsentieren. Die Ausstellung „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“, die später noch näher beschrieben wird, fand großes Echo in der Medienlandschaft und weckte das Interesse zahlreicher inund ausländischer Institutionen und Museen, diese Ausstellung anderenorts zu zeigen. Da sie allerdings für die einmalige Präsentation in Bonn konzipiert war, hätte sie komplett neu erstellt werden müssen, einschließlich der Bereitstellung von Hardware. An den Kosten hierfür scheiterte bis jetzt eine Realisierung für den deutschsprachigen Raum. Es konnte allerdings eine englische Version auf den Weg gebracht werden, die erstmals am 24. Februar 2004 in Tel Aviv gezeigt werden konnte.449 Weitere Ausstellungsorte, unter anderem New York, sollen folgen.

448 Die Synagogen wurden mit der Software Maya, Version 2.0 – 3.0, der Firma Alias | Wavefront erstellt. 449 Diese Ausstellung konnte nur durch die großzügige Unterstützung der Kulturstiftung der Deutschen Bank sowie der Deutschen Bank Americas Foundation ermöglicht werden, die rund 400.000 Euro zur Verfügung stellten.

„Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ – TU Darmstadt 289

4.1.1.2 Ausstellungen „Rekonstruktion und Fragment“ Mit der Ausstellung „Rekonstruktion und Fragment“, 1996 vom 20. Juni bis 15. September in der Dependance des Jüdischen Museums Frankfurt am Börneplatz gezeigt, wurde mit der Präsentation des Themas Synagogen Neuland betreten. Erstmals wurden in einer Ausstellung die technischen Möglichkeiten gezeigt, die die grafische Datenverarbeitung für die Erinnerung an die zerstörten Synagogen mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen ermöglicht. Von den drei großen Frankfurter Synagogen, die 1938 zerstört worden sind, wurden Simulationsbilder präsentiert, die verschiedene Perspektiven der drei Gotteshäuser zeigten (Abb. S. 308, 309). Etwa 20 Papier-Ausdrucke in der Größe 70 x 50 cm wurden in Rahmen gefasst und in einem Ausstellungsraum den Besuchern zugänglich gemacht. Zusätzlich waren Stelen450 aufgestellt, in denen die Besucher stereoskopische Rekonstruktionsbilder jeder einzelnen Synagoge betrachten konnten. Gegenpart zu den Bildern aus dem Computer bildeten die Fragmente der zerstörten Synagoge Börneplatz. Diese wurden bei Ausschachtungsarbeiten des städtischen Gebäudes gefunden, in das später die Ausstellungsräume der Dependance „Börnegalerie“ des Jüdischen Museums integriert wurden. Fritz Backhaus, Kurator des Jüdischen Museums: „Die Gesamtausstellung hatte zwei Teile, einer davon war die Computer-Rekonstruktion, der andere Teil waren die Fragmente der Börneplatzsynagoge, die bei den Ausgrabungen 1987 gefunden wurden. Die Wirkung der Gesamtausstellung bestand in dem Kontrast der wenigen Fragmente der Börneplatzsynagoge, die die Zerstörung vermittelten, mit den Rekonstruktionen, die das komplette Gebäude wieder vorstellbar machten. Die Fragmente gaben nur eine ganz geringe Ahnung der Innenausstattung und dessen, was die Synagoge einst dargestellt hatte. Die Computer-Rekonstruktionen vermitteln eine Illusion, dass etwas wieder herstellbar sei, dass man etwas wieder komplett vor Augen führen, rekonstruieren könnte. Hier war die Kombination „Fragmente und Rekonstruktionen“ wichtig, um auf der einen Seite zu sagen, wir versuchen etwas zu rekonstruieren, aber Ausgangspunkt ist auf der anderen Seite eben die Zerstörung, die in den Fragmenten anschaulich präsent war. Räumlich war es so aufgebaut, dass die Besucher durch die Präsentation der Fragmente zu den Rekonstruktionen geführt wurden.“451

450 Jede Stele hatte eine Höhe von ca. 1 Meter. Auf der oberen Stirnseite waren zwei Betrachtungseinheiten eingelassen, die je eine Perspektive einer Synagoge zeigten. Die Besucher schauten durch zwei nebeneinander liegende Linsen, ähnlich einem Fernglas, um das jeweilige Bild wahrzunehmen. 451 Siehe Anhang, Interviews, S. 540.

290 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen Höhepunkt der Fundstücke waren Relikte des Aron ha Kodesch. Sie wurden auf einem Stahlrahmen, der die Abmaße des Toraschreins verkörperte, an ihren Originalpositionen platziert. Zu den Reaktionen des Publikums und der Bedeutung der Ausstellung, die insgesamt 4.000 Besucher sahen, nochmals Fritz Backhaus: „Die Technik der Computer-Rekonstruktion eröffnete neue Möglichkeiten, sich die zerstörten Frankfurter Synagogen vorzustellen. Vorzustellen, wie die Gebäude ausgesehen haben, wie sie gewirkt haben, wie sie aufgebaut waren. Dies stellte in der Präsentation zerstörter Synagogen eine neue Dimension dar und lieferte zu dem historischen Material ein Maß an Anschaulichkeit, das bisher nicht erreicht worden war. Die Ausstellung 1996 hatte, nach den Presse- und Besucherreaktionen zu urteilen, auch durchaus etwas Überwältigendes gehabt. Überwältigend in dem Sinne, dass man Gebäude, von denen nur relativ wenige historische Zeugnisse, gerade in Bezug auf die Innenräume, vorhanden sind, so rekonstruieren konnte. Und so war auch die Reaktion des Publikums, für das diese Art der Technik sehr viel neuer war, als sie jetzt sicherlich ist. Die Besucher waren sehr beeindruckt. Die stärkste Wahrnehmung lag meiner Meinung nach auf der Computer-Rekonstruktion, auf der Möglichkeit, etwas im Computer nachzubauen, was nicht mehr existent ist. [...] Die Pressereaktionen waren im Vergleich mit unseren anderen kleineren Ausstellungen im Museum Judengasse sehr intensiv. Beispielsweise hat die „Frankfurter Neue Presse“ ihre Titelseite mit dem Abbild eines Simulationsbildes herausgebracht. Es gab auch von der Breite der Berichterstattung her und von der großen Anzahl der veröffentlichten Bilder eine überdurchschnittlich gute Pressereaktion. Da hat die Faszination der Bilder sehr stark gewirkt.“452

Die Frankfurter Ausstellung erreichte zusammen mit der 1997 fertiggestellten Internetpräsentation des Projektes453 und den im Fernsehen mehrfach ausgestrahlten Simulationsfilmen großes öffentliches Interesse454. Diese positive Resonanz führte zu der schon beschriebenen Fortführung des Projektes und der Präsentation dieser Ergebnisse in der Bonner Kunstund Ausstellungshalle.

452 Siehe Anhang, Interviews, S. 540-541. 453 http://www.cad.architektur.tu-darmstadt.de/architectura_virtualis/Juedische_ Sakralbauten/start.html, vom 02.09.2004. 454 Mehrspaltige Berichte, meist mit farbigen Abbildungen, waren in allen großen deutschen Tageszeitungen und Magazinen, in verschiedenen ausländischen Zeitungen, unter anderem in der New York Times, El Pais, Le Monde, London Times und auf der Frontpage der BBC Internet News zu finden.

„Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ – TU Darmstadt 291

„Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ Unter diesem Titel zeigte die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (KAH) vom 12. Mai bis 1. Oktober 2000 mit Unterstützung des Bundesbildungsministeriums die Ergebnisse des studentischen Projektes der TU Darmstadt.455 In dieser Ausstellung wurden die Computer-Rekonstruktionen von 13 Synagogen präsentiert, die bis zu ihrer Zerstörung ein integraler Bestandteil der Stadtbilder von Berlin, Dortmund, Dresden, Frankfurt, Hannover, Kaiserslautern, Köln, Leipzig, München, Nürnberg und Plauen waren. Ziel der Ausstellung war es, den architektonischen Verlust und die städtebauliche Bedeutung der Synagogen im Kontext der Umstände ihrer Zerstörung zu vermitteln. Agnieszka Lulinska, Projektleiterin und Kuratorin der Kunsthalle, zu den Motiven, dieses Projekt in der KAH zu präsentieren: „Das Projekt ist an uns im richtigen Moment herangetragen worden. Dafür sind wir sehr dankbar, denn sein innovativer Charakter entspricht unserem Arbeitsprofil und unserem Interesse an anspruchsvollen Themen. Als wir mit der konkreten Arbeit begonnen haben, waren die einzelnen Rekonstruktionen zwar im Rechner vorhanden, doch eine Ausstellung musste daraus erst entstehen. Das Projekt stellte für uns eine gewisse Herausforderung dar: Wie präsentiert man ein brisantes, doch in der Öffentlichkeit wenig bekanntes Thema so, dass es inhaltlich wie formell möglichst viele unterschiedliche Besuchergruppen anspricht? Ich glaube, es ist uns schließlich gelungen, eine überzeugende Präsentation zu entwickeln. Das Projekt scheint vielen Besuchern neue Anregungen vermittelt zu haben, und ich möchte unbescheiden hinzufügen, dass auch der Ausstellungsort selbst dazu beigetragen hatte. Wir fanden, dass dieses studentische Projekt einer größeren Öffentlichkeit vorgestellt werden sollte, und wir konnten es in einer professionellen Ausstellung präsentieren sowie für eine entsprechende Publizität sorgen.“456

Und Manfred Koob weiter: „Synagogen in Deutschland. Eine virtuelle Rekonstruktion heißt eine Ausstellung, die als solche ursprünglich nicht geplant war und die während der Vorbereitungsphase leidenschaftlich um ihre Form rang. Ihr Kernbereich präsentiert etwas, was es nicht mehr gibt, was zerstört worden ist. Folgerichtig stehen hier nicht konkrete

455 Parallel zur Ausstellung erschien der gleichnamige Katalog mit Textbeiträgen von Agnieszka Lulinska, Manfred Koob, Salomon Korn, Stephan Wirtz und dem Verfasser. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion, Köln 2000. Siehe nächster Abschnitt. Zur Ausstellung siehe auch: http://www.kah-bonn. de, Menüpunkte: „Ausstellungen“ und dann „Ausstellungsrückschau“. 456 Siehe Anhang, Interviews, S. 549.

292 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen Exponate im Vordergrund, sondern ein komplexer Prozeß, der sich hinter jedem der ‚Exponate‘ verbirgt.“457

Das Konzept der Ausstellung sah drei inhaltliche Stationen mit den Themen Wahrnehmung, Eskalation und Rekonstruktion vor, ergänzt um einen Filmraum. Die erste Station „Wahrnehmung“ beinhaltete Wandtafeln, auf denen Gesetzesverschärfungen für die jüdische Bevölkerung von Januar 1933 bis zum 9. November 1938 zu lesen waren. „Wahrnehmung“ als Synonym dafür, dass die Reichspogromnacht nicht aus heiterem Himmel kam, sondern einen vorläufigen Höhepunkt im Kontext einer kontinuierlich stärker werdenden, staatlich organisierten und wahrnehmbaren Ausgrenzung der Juden seit Beginn der NS-Zeit darstellte. Ursprünglich war eine räumlich verengende Anordnung dieser Verordnungen und Gesetze ge­ plant, analog zur Verengung des Raums für Juden, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Diese räumliche Umsetzung sollte auf einer Treppe, die zu den Ausstellungsräumen führte, erfolgen. Aus feuerpolizeilichen Gründen konnte diese Konzeption nicht umgesetzt werden. Die Texte wurden auf Wänden des Vorraums angebracht, der sich der Treppe anschloss und zu den eigentlichen Ausstellungsräumen führte. Die zweite Station hatte die Eskalation am 9. November 1938 zum Thema. Raumhohe Wandtapeten, auf denen Abbildungen zerstörter und brennender Synagogen sowie ca. 1.400 Namen von Ortschaften, in denen Synagogen geschändet oder zerstört wurden, zu sehen waren, bildeten diese Station (Abb. S. 315). Am Boden befand sich ein Monitor, der in einer Endlosschleife Filmaufnahmen der brennenden Synagoge Bielefeld zeigte. Zusätzlich standen in dem Raum Vitrinen, in denen Fragmente aus Synagogen ausgestellt wurden. Die Besucher sahen eine gerettete und eine verbrannte Torarolle aus Kölner Synagogen sowie Torabekrönungen. Den Übergang zur nächsten Station bildeten Wandtafeln mit Informationen zum Projekt sowie eine baugeschichtliche Betrachtung der Baugattung Synagoge, beginnend in der Antike und endend in der NS-Zeit. Den Hauptteil der Ausstellung nahm die dritte Station mit dem Thema Rekonstruktion ein. Konzeptionell sollten den Besuchern hier nicht nur fertige Ergebnisse präsentiert werden, sondern der aufwendige Rekonstruktionsprozess selbst wurde zum Thema der Darstellung. Die Besucher sollten selber eintauchen in eine Arbeitsatmosphäre, als Synonym für eine langwierige Erinnerungsarbeit, an deren Ende erst das fertige Ergebnis steht. Es sollte bewusst gemacht werden, dass der Prozess und die Erfahrungen aller Beteiligten ebenso wertvoll sind wie das Ergebnis 457 M. Koob: Visualisierung des Zerstörten, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.) 2000, S. 10.

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selbst. Die Thematisierung des Prozesses stand auch dafür, dass der Prozess noch nicht abgeschlossen war, dass Rekonstruktionen noch in Arbeit waren. Ebenfalls sollte die technische Vorgehensweise bei einer Rekonstruktion vermittelt werden. Die für die Ausstellung zur Verfügung gestellten, längs gestreckten Ausstellungsräume in der Bundeskunsthalle inspirierten die Entwerfenden458, die oben genannten Überlegungen in einer räumlichen Gegenüberstellung von „Prozess“ und „Ergebnis“ umzusetzen. Der Ausstellungsraum wurde der Länge nach in 13 Abschnitte von jeweils zwei Metern gegliedert. Jeder Abschnitt stand für eine Stadt, aus der Synagogen rekonstruiert wurden. Auf der einen Seite befand sich die Darstellung des Rekonstruktionsprozesses in einer Art „Werkstattatmosphäre“ (Abb. S. 316), auf der gegenüberliegenden Seite sah man das fertige Ergebnis ­(Abb. S. ­317). Die verwendeten Materialien und die Gestaltung unterstrichen diese Gegenüberstellung. Die Architekten entwarfen eine Raum-in-Raum-Konstruktion mit eigenem Fußboden und je einem eigenen Wandabschluss für die Bereiche „Ergebnis“ und „Rekonstruktionsprozess“. Der Konzeption folgend, wies der Bereich mit den „Ergebnissen“ durch die Verwendung von Plexiglas im Wandbereich eine edle, geschlossene Erscheinung auf, der Bereich des Rekonstruktionsprozesses eine offene Struktur, einfache Materialien, Werkstattcharakter, eine studentische Arbeitsatmosphäre. Auch die Fußböden unterschieden sich entsprechend der Charakteristika der beiden Bereiche. Entsprechend der Städte-Unterteilung, erfolgte im Rhythmus von zwei Metern eine Verklammerung der beiden Bereiche durch eine oben laufende Binderkonstruktion. Die Inszenierung des Rekonstruktionsprozesses, der Werkstattatmosphäre, sah pro Stadt einen Tisch mit Monitor vor.459 Auf dem Tisch lagen Bücher zur jeweils präsentierten Synagoge sowie zum Thema Synagogen allgemein und zur NS-Zeit. Am Monitor konnten die Gäste der Ausstellung die historischen Grundlagen, den Erstellungsprozess sowie Simulationsbilder des Innen- und Außenraums der rekonstruierten Synagoge anhand einer interaktiven Bildschirmpräsentation, die über eine Maus gesteuert wurde, betrachten (Abb. S. 316 – 318). Auf einer Wandtafel war eine Kurzübersicht über die jeweilige Synagoge und über die jüdische Gemeinde zu lesen. Zusätzlich dokumentierten und veranschaulichten pro Stadt zwei sogenannte „Pinboards“ den vielschichtigen Arbeitsprozess der Studie-

458 Das Entwurfsteam bestand aus Johann Eisele, Ellen Kloft, Claus Staniek und Thorsten Wagner, die in Abstimmung mit Manfred Koob, Agnieszka Lulinska und dem Verfasser das Ausstellungsdesign entwickelten. 459 Bei zwei Städten stand statt eines Tisches ein Stehpult mit Computer, um die räumliche Situation aufzulockern.

294 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen renden. Jede Studenten-Gruppe stellte die für sie wichtigen Dokumente, Fotografien, Pläne, eigene Skizzen etc. zusammen, die entsprechend eines „Schwarzen Brettes“ ohne sichtbare Ordnung abfotografiert und auf eine Tafel etwa in der Größe DIN A0 aufgezogen worden waren. Diese Tafeln waren an dünnen Stäben befestigt, die sich vom Boden zur Decke spannten. Mit den Schreibtischen bildeten die Pinboards eine räumliche Trennung der einzelnen Städte. Agnieszka Lulinska zum „Werkstattcharakter“ der Ausstellung: „[...] der Erfolg dieser Ausstellung hing nicht zuletzt mit ihrem unprätentiösen ‚Werkstattcharakter‘ zusammen. Diese Werkstatt auf Zeit wurde von jungen Menschen eingerichtet, die sich eines brisanten Aspektes der deutschen (Architektur-)Geschichte undogmatisch angenommen haben und täglich bewiesen, dass es möglich ist. Die Kunsthalle legte ihrerseits einen großen Wert darauf, dass es keine Ausstellung mit erhobenem Zeigefinger werden sollte. Sie sollte vor allem Neugierde wecken: auf die Geschichte der Juden in Deutschland, auf die jüdische Religion und Kultur. Die Schlussfolgerungen musste dann jeder Besucher für sich selbst ziehen.“460

Dieser heterogenen Struktur des Rekonstruktionsprozesses stand eine 22 Meter lange Wand aus Plexiglas gegenüber. Entsprechend dem Rhythmus des Rekonstruktionsprozesses – alle zwei Meter eine Stadt – wurden dem jeweiligen Rekonstruktionsprozess die Simulationsbilder einer rekonstruierten Synagoge als „Ergebnis“ gegenübergestellt. 11 Diaprojektoren warfen Außen- und Innenperspektiven der Synagogen von hinten auf die Plexiglaswand. Alle 10 Sekunden wechselten die Bilder, pro Synagoge ungefähr 20 Motive. Ergänzt wurde diese Installation durch 3D-Stereobetrachter mit Computerbildern der Synagogen, eine Musikstation sowie „Suchscheiben“. Diese transluzenten Scheiben in der Größe eines DIN-A4-Blattes mussten von den Besuchern in einen Projektionsstrahl gehalten werden, damit sich auf der Scheibe das Bild einer Synagoge abbilden konnte (Abb. S. 317). Symbolisch standen die Suchscheiben für die Immaterialität der Rekonstruktion. Das Suchen nach dem Projektionsstrahl und das Herausfinden des richtigen Abstands symbolisierten den Arbeitsprozess, der nötig war, um mit Hilfe des Rechners eine zerstörte Synagoge wieder sichtbar zu machen. Die Suchscheiben waren im Bereich zweier Städte installiert, denen anstelle eines Tisches ein Stehpult zugeordnet war. An der Musikstation konnten Besucher über Kopfhörer synagogale Musik hören, die für die Ausstellung nach Originalnoten neu eingespielt worden war.461 460 Siehe Anhang, Interviews, S. 550. 461 Die Aufnahmen entstanden im Rahmen des Begleitprogramms der Ausstel-

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In der Station „Rekonstruktion“ waren während der gesamten Ausstellungsdauer Studierende anwesend, die selbst am Projekt mitgewirkt hatten. Sie standen den Besuchern für weitere Informationen zur Verfügung und konnten den Rekonstruktionsprozess exemplarisch an einem der Rechner demonstrieren. Auch die Arbeit an einer der drei noch nicht abgeschlossenen Innenraum-Rekonstruktionen wurde während der Ausstellung von den Studierenden fortgesetzt. Zu der Bedeutung der Studenten äußert Agnieszka Lulinska: „Dies war außerordentlich wichtig. Studenten, die sich mit der Geschichte und der Architektur der einzelnen Synagogen selbst intensiv befasst hatten und darüber berichten konnten, halfen den Besuchern, sich diesem schwierigen Projekt in mehrfacher Hinsicht zu nähern.“462

Direkt angegliedert an die beschriebenen Ausstellungsräume befand sich ein Filmraum (Abb. S. 318). Hier wurden ein 30-minütiger Dokumentarfilm und ein 20-minütiger Simulationsfilm gezeigt. Der Dokumentarfilm „Zerstörte Synagogen in Deutschland – Erinnerung aus dem Computer“, erstellt im Auftrag der Bundeskunsthalle, „erzählt die Geschichte der Synagogenarchitektur in Deutschland und die katastrophalen Folgen ihrer systematischen Zerstörung. Zeitzeugen und Repräsentanten von jüdischen Gemeinden in Deutschland rufen wieder ins Bewußtsein, welch kulturellen Verlust die Zerstörung bedeutete.“463 Dokumentarszenen aus dem heutigen jüdischen Leben vom Kindergarten bis zum Gottesdienst paaren sich mit den Computerbildern der zerstörten Synagogen. Zu Wort kommen auch am Projekt beteiligte Studierende und Lehrende des Fachgebietes IKA. Der Film des Fachgebietes IKA „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ zeigt die Computer-Rekonstruktionen von Synagogen aus Berlin, Hannover, Köln, München und Plauen in Form von Simulationsfilmen, ergänzt um architekturspezifische Informationen.

lung und wurden von Andor Izsák, dem Direktor des „Europäischen Zentrums für Jüdische Musik“, geleitet. Andor Izsák beschäftigt sich seit Jahren mit der Rekonstruktion originaler synagogaler Musik. Siehe auch Abschnitt 2.2.5 Audio-visuelle Medien. 462 Siehe Anhang, Interviews, S. 549-550. 463 Auszug des Klappentextes des Videos, das im Auftrag des BMBF in einer Auflage von 500 Exemplaren für die Bildungsarbeit zu Verfügung gestellt wurde und über die Landesmedienzentren und Lehrerfortbildungsinstitutionen zu beziehen ist. Das Video enthält die beiden in der Ausstellung gezeigten Filme.

296 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen Die Kunsthalle in Bonn bot Besuchern auch die Möglichkeit, sich in einem Gästebuch zu äußern. Agnieszka Lulinska bemerkt hierzu: „Im Verlauf der Ausstellung entstand ein sehr eindrucksvolles Gästebuch. Es wurde den Besuchern ganz bewusst als eine Art Forum angeboten und es wurde auch als ein solches sehr rege genutzt – öfters auch in Form eines direkten, emotionalen Dialogs, der in unterschiedlichen Sprachen, von Vertretern unterschiedlicher Nationalitäten und Religionen geführt worden ist.“464 Die Bilanz der Ausstellung wurde von der Bundeskunsthalle als enorm erfolgreich eingestuft. Rund 60.000 Besucher haben sie gesehen. Nach der Ausstellung „Architektur der Synagoge“ im Deutschen Architekturmuseum im Jahre 1988 war „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ die größte, bundesweit beachtete Ausstellung zum Thema Synagogen. Agnieszka Lulinska zu den Reaktionen: „Die Ausstellung hatte ein lebhaftes Presseecho. In zahlreichen regionalen und überregionalen Zeitungen sind ausführliche Rezensionen erschienen, sehr positiv, der umfangreiche Pressespiegel spricht für sich. Dementsprechend sind auch die Reaktionen innerhalb der deutschen Museumslandschaft ausgefallen. Wir hatten eine ganze Reihe Anfragen von Institutionen, die die Ausstellung übernehmen wollten, was dann letztendlich an der mangelnden Finanzierung einer solchen Tournee gescheitert ist.“465

Da die Bonner Ausstellung als einmaliges Ereignis konzipiert worden war und das technische Equipment zum größten Teil nur leihweise zur Verfügung stand, konnte nur eine völlige Neuproduktion eine Präsentation an anderen Orten ermöglichen. Trotz Nachfrage von 18 Institutionen gelang es nicht, die notwendigen finanziellen Mittel für den deutschsprachigen Raum aufzubringen. „Synagogues in Germany – A Virtual Reconstruction“ Auch wenn eine weitere Präsentation der Ausstellung sich bis jetzt in Deutschland nicht verwirklichen ließ, konnte Dank der Unterstützung der Kulturstiftung der Deutschen Bank und der Deutschen Bank Americas Foundation mit rund 400.000 Euro eine englischsprachige Wanderausstellung auf den Weg gebracht werden. Die Koordination der Ausstellung übernahm das Institut für Auslandsbeziehungen (IFA). Für die erste Station wurde das Diaspora Museum (Beth Hatefutsoth) in Tel Aviv gewonnen, das vom 25. Februar bis zum 27. August 2004 die Ausstellung zeigte. 464 Siehe Anhang, Interviews, S. 548. 465 Siehe Anhang, Interviews, S. 549.

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Sarah Harel Hoshen (Director of Exhibitions) zu den Erwartungen, die sich ihrer Meinung nach alle erfüllten466: “We saw three interesting aspects in this exhibition: First to show the public the architecture of German synagogues, which is a very interesting subject and related to what we deal with. Second is the aspect of remembrance. The fact that it was a project initiated by German students is, for me, very important. Whenever I guide a tour in the exhibition or give an introduction, I take this chance to speak about the culture of remembrance in Germany, which the Israeli public is not so aware of. The exhibition has a meaning for a certain community of older German Jews in Israel and also for the second and third generations. The third point is the very up-to-date media.”467

Die Konzeption dieser Wanderausstellung orientierte sich weitgehend an dem Bonner Vorbild. Es wurden für die Ausstellungsbereiche „Wahrnehmung“ (Weg zur Reichspogromnacht), „Eskalation“, „Geschichte jüdischer Sakralbauten“ sowie „Rekonstruktion“ mobile Elemente entworfen und produziert. Zusätzlich ist ein elementierter Fußboden Bestandteil der Ausstellung, der unabhängig von den örtlichen Situationen einen gleichbleibenden Untergrund gewährleistet und den Ausstellungselementen einen Zusammenhalt bieten soll. Der Raumbedarf der Ausstellung beträgt rund 400 m². Den Bereich der Wahrnehmung repräsentierten acht HochkantQuader (1,3 m breit, 0,4 m tief, 2,4 m hoch) aus dunklem Plexiglas, auf denen mit weißen Buchstaben die von 1933 bis 1938 erlassenen Verordnungen gegen Juden angebracht sind. Die Elemente sollten idealer Weise so aufgestellt werden, dass sie von zwei Seiten den Weg der Besucher verengen – analog der immer geringer werdenden Möglichkeiten für Juden, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben –, und so in den nächsten Bereich „Eskalation“ überleiten. Die Aufstellung erfolgte im Foyer des Diaspora-Museums, das aus Platzgründen die „ideale“ Aufstellung der Elemente aber nicht zuließ. Die Elemente verengten den Raum nur von einer Seite. (Abb. S. 319) Die Bereiche „Eskalation“, „Geschichte“ und „Rekonstruktion“ wurden zusammen in einem großen Ausstellungsraum, der an das Foyer grenzte, untergebracht. Der „Bereich“ Eskalation wurde von einem, durch gebogene Wandsegmente aus dunklem Plexiglas erzeugten, runden Raum ge-

466 Auf die Frage, ob sich ihre Erwartungen erfüllten, sagte Sarah Harel Hoshen: „Definitely, I can answer in one word: Yes - from all three points of view. “, siehe Anhang, Interviews, S. 578. 467 Siehe Anhang, Interviews, S. 578.

298 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen bildet. Er hatte einen Durchmesser von 5 und eine Höhe von 2,4 Metern. Das Weglassen zweier gegenüber liegender Elemente erzeugte den Einund Ausgang. Auf dem Plexiglas wurden – analog zu Bonn – die Namen von 1.400 Ortschaften, in denen Synagogen 1938 geschändet oder zerstört wurden sowie Bilder, die diese Zerstörungen zeigten, angebracht. In der Mitte des Raums befand sich ein Monitor, der in einer Endlosschleife Filmsequenzen der brennenden Synagoge Bielefeld zeigte. Der dem Eingang gegenüberliegende Ausgang führte in den nächsten Bereich, der die Geschichte jüdischer Sakralbauten auf vier Stelltafeln nachzeichnete. Besuchern standen hebräische Übersetzungen dieser Texte in Form von DIN-A4-Handouts zur Verfügung. Von dort gelangten die Besucher dann in den Bereich der „Rekonstruktion“. Die für die Wanderausstellung im Bereich der Rekonstruktion erstellten Elemente unterschieden sich von der Bonner Ausstellung insoweit, als dass die raumhohe Plexiglaswand für die Rückprojektionen durch aufgeständerte Projektionsscheiben ersetzt wurde (Abb. S. 321). Auch die Projektionsscheiben erstreckten sich über die komplette Länge des Raumes, so dass sich eine durchgehende Fläche bildete. Statt über Diaprojektoren wurden die Rekonstruktionsbilder von LCD-Projektoren erzeugt, die das Bildsignal von Flash-Card-Playern erhielten. In diesen Playern ist eine Präsentationsfunktion integriert, die in einer Endlosschleife einen automatischen Bildwechsel bei jeder Synagoge nach zehn Sekunden erlaubt. Aus Platzgründen waren im Gegensatz zu Bonn nicht alle Städte mit einem eigenen Abschnitt vertreten. Den Projektionswänden gegenübergestellt befand sich, der Bonner Ausstellung entsprechend, der „Werkstattbereich“ mit Tisch (Stehpult), Bildschirm, Büchern, Pinboard und Texttafel (Abb. S. 320). Hebräische Handouts ergänzten die Bildschirmpräsentation in englischer Sprache. Wie in Bonn betrug das Achsmaß jeweils zwei Meter. Betont wurde der Wechsel zwischen den einzelnen Synagogen durch den Wechsel des Fußbodenbelages von hellen Korkplatten zu anthrazitfarbenen. Am Ende des Raums befand sich die Musikstation sowie Stereobildbetrachter (Abb. S. 321), die von der Decke hingen. Ergänzend zu den Rekonstruktionsergebnissen, die in Bonn gezeigt wurden und dem Projektverlauf entsprechend, wurden in einer sogenannten Futurestation Rekonstruktionen von Synagogen gezeigt, die nach 2000 begonnen worden waren. Auch hier mit Projektionswand und „Werkstattatmosphäre“ arbeitend, wurden die Synagogen Mannheim, Darmstadt, Bad Kissingen und Langen präsentiert. Zusätzlich konnten die Besucher an einem gesonderten Bildschirm eine Online-Museumsversion des Synagogen-InternetArchivs benutzen. Im Anschluss an den Ausstellungsraum wurden wie in Bonn in einem benachbarten Raum der Dokumentarfilm und der Simula-

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tionsfilm mit den Rekonstruktionen von fünf ausgewählten Synagogen gezeigt. Ebenfalls wie bei der Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle war eine am Projekt beteiligte Studentin über zwei Monate als Ansprechpartnerin für Besucher anwesend und leitete auch Gruppenführungen. Nach der Eröffnung wurde in den Medien ausführlich über die Ausstellung berichtet, so zum Beispiel in der „Haaretz“, in der „Jerusalem Post“ und in einem 2½-Minuten-Beitrag in den zentralen Abendnachrichten des israelischen Fernsehens. Das Echo auf die Ausstellung in Tel Aviv war nach Einschätzung von Sarah Harel Hoshen sehr positiv: “In every newspaper in Israel there was an article about this exhibition. Some of them like the ‚Jerusalem Report‘ published very long articles. There was more reaction to this exhibition than to many other temporary exhibition we had. I think this is because of two reasons. One is that this exhibition is not a usual one. It uses all the new technologies, Internet, the virtual reconstructions. This was very attractive for the media. Cultural issues, in general, do not make first page articles in Israel, but the reports were very well covered in the cultural sections and all articles recommended the public to go and see the exhibition. In Israel there are only two newspapers which write seriously about art and culture in general. The ‚Haaretz‘ and the ‚Jerusalem Post‘. Both of them brought large articles. There you have the reaction of the intelligentsia. In the article in ‚Haaretz‘ there was a lot of information about the background of the project and its connection to the culture of remembrance. And there was a 2 ½ minute report on the major evening news, which is quite exceptional for an exhibition in general, not even for the Beth Hatefutsoth. They usually cover exhibitions in the late night news or in a morning show.”468

Auch über den Zuspruch der Besucher zeigte sich die Leitung des Diaspora-Museums sehr zufrieden. 23.000 Besucher haben insgesamt die Ausstellung gesehen.469 Zu den Reaktionen bemerkt Sarah Harel Hoshen: “Mostly they are very interested. From my personal experience in tours, the more educated and knowledgable in history and/or architecture the visitors are, the more fascinated they are and the longer they stay. There are also many entries in the guest book. The reaction is usually very enthusiastic from two points of view. First, the project itself and the virtual reconstruction – even the technology. And second the enthusiasm about how beautiful, large and impressive the synagogues were. Most of the Israelis are not aware of this, unless they studied art history.

468 Siehe Anhang, Interviews, S. 580. 469 Interner Bericht des Generaldirektors des Diaspora Museums Ranny Finzi an das Institut für Auslandsbeziehungen, das die Ausstellung koordiniert (ohne Datum).

300 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen They are not aware of this phenomenon of these extremely rich and impressive 19th century synagogues in Germany. And then there is the reaction – and you find this often in the guest book – how sad, how tragic that all this culture was destroyed. This is an inseparable part of the reactions. […] Younger people are impressed by the architecture and the reconstruction; older people are more emotionally in general – especially the German Jews. German Jews react very emotional; it is a kind of nostalgia. They have a personal interest and contact to the subject. Most of them appreciate the fact that somebody took the initiative to reconstruct the synagogues and bring these marvelous buildings back to life. An older person when encountered with a part of his childhood gets emotional. It is very moving. They spend half an hour or an hour in the exhibition and they are looking also into the books and are searching in the Internet archive. Sometimes they ask us to make them a Xerox copy about their communities. There were quite a few times where some of them had tears in their eyes.”470

Als nächste Station der Wanderausstellung sind die USA vorgesehen. Ort und Termin stehen noch nicht fest. Integration der 3D-Computermodelle in andere Ausstellungen Die Bonner Ausstellung inspirierte die Ephraim-Carlebach-Stiftung in Leipzig, ebenfalls eine Ausstellung zum Thema Synagogen in Sachsen zu organisieren. Im Rahmen der Woche der Brüderlichkeit 2001 wurden im Leipziger Haus der Geschichte neben den zerstörten und erhaltenen Bauten auch Planungen für Neubauten thematisiert. In dieser Ausstellung wurden drei PC-Stationen mit Bildschirmpräsentationen zu den Computer-Rekonstruktionen der Synagogen Dresden, Leipzig und Plauen, die auch Bestandteile in Bonn waren, aufgestellt. Im Jüdischen Museum Berlin wurde die Computer-Rekonstruktion der Synagoge Plauen Bestandteil der Dauerausstellung und ist dort als Quicktime-VR-Präsentation zu sehen. Sie steht in unmittelbarer Nähe zu drei Synagogen-Holzmodellen. Dort kann man sich interaktiv durch „Panoramen“ dieser Synagoge navigieren (Abb. S. 326). Maren Krüger, die dieses Exponat von Seiten des Jüdischen Museums betreut: „Zunächst sieht man das Synagogengebäude von außen, man bewegt sich eigenständig von außen durch die Tür in das Synagogeninnere und kann dann alle Seiten, die Sitzbänke, die Frauenemporen, vor allem die Ostwand genauer betrachten. Außerdem kann man kann zu den einzelnen Teilen des Synagogengebäudes zoomen, alles mit Joystick. Wer sich dafür interessiert und Hebräisch spricht, kann sich zum Beispiel die hebräischen

470 Siehe Anhang, Interviews, S. 579.

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Texte, die an der Ostwand versammelt sind, genau ansehen. Es gibt einen kleinen Monitor, von dem aus sich ein Besucher per Joystick durch die Synagoge bewegt. Es können vielleicht drei Leute davor stehen. Zusätzlich gibt es einen großen Monitor. Dort können viele Besucher stehen und beobachten, wie sich jemand durch die Synagoge bewegt.“ 471 In Frankfurt wurde im Jahre 2004 auf Betreiben der „Initiative 9. November“ am Standort der ehemaligen Synagoge Friedberger Anlage in dem von den Nazis nach dem Abriss der dortigen Synagoge errichteten Hochbunker die Ausstellung „Juden im Ostend“ dauerhaft installiert. Diese Ausstellung, vom Jüdischen Museum in Frankfurt erarbeitet, ist an ausgewählten Tagen und nach Absprache unter der Woche zu besichtigen. In der Ausstellung können Besucher am Computer einen Simulationsfilm sehen, der die 3D-Computer-Rekonstruktion der Synagoge Friedberger Anlage zeigt. Ebenfalls zu sehen sind zwei großformatige, gerahmte Simulationsbilder (70 x 50 cm).

4.1.1.3 Publikationen Bücher, Kataloge, Broschüren Zu den Ausstellungen, in denen die 3D-Computer-Rekonstruktionen der TU Darmstadt zu sehen waren, erschienen verschiedene Kataloge bzw. Broschüren. Im Kontext der Ausstellung „Fragmente und Rekonstruktionen“, 1996 im Jüdischen Museum Frankfurt gezeigt, wurde eine Broschüre vom Fachgebiet IKA herausgegeben, welche die drei Frankfurter Synagogen vorstellt. In dem 90 Seiten umfassenden Schwarz-Weiß-Druck wird zum einen in einleitenden Texten Anlass, Motivation und Zielsetzung des Projektes genannt. Zum anderen beinhaltet die Dokumentation das historische Quellenmaterial in Ausschnitten, einen kurzen Abriss der Baugeschichte, die bildhafte Veranschaulichung der Bearbeitungsstrategie bei der Computer-Rekonstruktion sowie Simulationsbilder der drei zerstörten Frankfurter Synagogen. Ihre Verbreitung fand diese Broschüre, die in einer Auflage von 1.200 Exemplaren entstand, vor allem als Geschenk der Stadt Frankfurt an ehemalige jüdische Bürger der Stadt. Annähernd 1.000 Broschüren wurden in alle Welt verschickt. Anlässlich der Ausstellung „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ in der Bundeskunsthalle in Bonn erschien ein gemeinsam vom Fachgebiet IKA und dem Ausstellungshaus erarbeiteter kleinformatiger Katalog, der die Fortführung des Frankfurter Projektes

471 Siehe Anhang, Interviews, S. 566-567.

302 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen dokumentiert. Außen- und Innenansichten der Computermodelle von 13 Synagogen werden in farbigen Abbildungen präsentiert. Sie zeigen Gotteshäuser aus den Städten Berlin, Dortmund, Dresden, Frankfurt, Hannover, Kaiserslautern, Köln, Leipzig, München, Nürnberg und Plauen. Neben der Projekterläuterung finden sich in dem 97-seitigen Katalog Beiträge zum Verständnis der Synagoge, zur Geschichte jüdischer Sakralbauten, zum Rekonstruktionsprozess und zu den Chancen neuer Medien in der Erinnerungskultur. Ergänzend finden die Leser eine Chronologie der NSZeit und eine Karte, die für die einzelnen Länder die geschätzte Zahl der ermordeten Juden nennt. Auf diesem Ausstellungskatalog basierend, im Layout allerdings überarbeitet, erschien zum Beginn der Wanderausstellung „Synagogues in Germany – A Virtual Reconstruction“ (Eröffnung 24. Februar 2004, Tel Aviv) ein großformatiger, 162 Seiten umfassender Katalog in englischer Sprache. Neben Textaktualisierungen und einer neu aufgenommenen anschaulichen Bebilderung des Rekonstruktionsprozesses wurde vor allem der Darstellung der Simulationsbilder ein sehr viel größerer Umfang eingeräumt. Synagogen, deren Computer-Rekonstruktionen im Jahre 2000 noch nicht abgeschlossen war, konnten auf dem neusten Stand gezeigt werden, so dass von allen rekonstruierten Synagogen Simulationsbilder sowohl von außen als auch von innen vorliegen. Die Rekonstruktion der Synagoge Mannheim wurde mit aufgenommen. Neu aufgenommen wurde ebenfalls ein Prolog, der in knappen Worten die Geschichte der deutschen Synagogen skizziert und die rekonstruierten Bauwerke in historischen Abbildungen vorstellt. Parallel zur Wanderausstellung ist im März 2004 eine inhaltlich identische Hardcoverausgabe sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache erschienen und im Buchhandel erhältlich.472 Filme Im Rahmen des Projektes entstanden auch mehrere Filme. Der überwiegende Teil dieser Filmdokumente widmet sich der / den Synagoge(n) einer Stadt, der kleinere Teil einer Auswahl an Synagogen. Im Rahmen des ersten Frankfurter Projektes erfolgte die Darstellung von drei Synagogen aus Frankfurt. Mit Ausweitung des Projektes auf das ganze Bundesgebiet konnten Filme zu München, Nürnberg und Kaiserslautern hergestellt werden. In die Filme fließen in unterschiedlichem Ausmaß historisches

472 Deutschsprachige Ausgabe: Grellert / Koob 2004. Englischsprachige Ausgabe: TU Darmstadt, Fachgebiet CAD in der Architektur, Manfred Koob (TUD) / Institut für Auslandsbeziehungen (IFA) / Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (KAH) (Hg.): Synagogues in Germany – A Virtual Reconstruction, Basel / Boston / Berlin 2004.

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Bild- und Filmmaterial sowie Informationen zur NS-Zeit ein. In einigen Filmen kommen zudem Zeitzeugen zu Wort. Zwei Filme, die im Kontext des Projektes der TU Darmstadt entstanden sind, beinhalten die Computer-Rekonstruktionen von Synagogen aus mehreren Städten. Es handelt sich um den Dokumentarfilm von Bernhard Pfletschinger „Zerstörte Synagogen in Deutschland – Erinnerung aus dem Computer“ und den Film der TU Darmstadt, FG IKA „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“. Beide waren Bestandteil der Ausstellung in Bonn und wurden bereits im Abschnitt 4.1.1.2 (Ausstellungen) beschrieben. Bis auf den Film der TU Darmstadt „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“, als DVD Bestandteil des im März 2004 in deutscher und englischer Sprache erschienenen Buches gleichen Titels, ist keiner dieser Filme bis jetzt im Handel zu erwerben. Sie sind für nicht kommerzielle Zwecke über die Hersteller und Auftraggeber zu beziehen und sind oder waren Bestandteil von Ausstellungen. Ähnlich wie bei den traditionellen Filmen sind die oben genannten Filmdokumente allerdings über die Landesmedienanstalten zu entleihen. Die in der Bonner Ausstellung „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ gezeigten Filme sind in den Katalogen von über zehn Landesmedienzentren zu finden. Sie wurden auch in eine Auflage von 500 Exemplaren durch das Bundesbildungsministerium bundesweit an Lehrerfortbildungsinstitutionen versendet. In Kaiserslautern und Nürnberg sind Filme mit den Computer-Rekonstruktionen der jeweiligen Synagogen bei den städtischen Medienzentren auszuleihen. Besondere Erwähnung verdient die Computer-Rekonstruktion der Synagoge Köln, Glockengasse, die im Mittelpunkt eines Beitrages der „Sendung mit der Maus“ stand und auch in sieben Landesmedienzentren zu entleihen ist. „Der Kurzfilm will bekanntmachen mit dem jüdischen Gotteshaus – der Synagoge. Dazu wird der Aufbau und vor allem die Einrichtung der Synagoge erklärt. Als Beispiel dient eine Computerrekonstruktion der ehemaligen Kölner Synagoge, die wie viele andere in der ‚Reichskristallnacht‘ zerstört wurde. Auch auf den Umgang des Nationalsozialismus mit dem Judentum wird eingegangen.“473

Dieser Filmbeitrag über das Darmstädter Projekt kann als ein Höhepunkt der Medienresonanz gesehen werden, die im Folgenden näher beschrieben wird.

473 Landesbildungsserver Sachsen-Anhalt, http://www.bildung-lsa.de/antarescgi/presto.fcg?z%5Bnr%2Cmedium%5D=4245369&z%5Bf%3Aall%2Cliste% 5D=synagoge&lines=0-19&doc=medium&conf=medien, vom 14.01.2005.

304 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen 4.1.1.4 Medienresonanz Die 3D-Computer-Rekonstruktionen aus Darmstadt haben ein großes Medienecho ausgelöst, sowohl bei Printmedien als auch bei Fernseh- und Hörfunksendern. In einem Überblick soll diese Medienresonanz vermittelt werden. Die Übersicht dient auch als Grundlage für die abschließenden Bewertungen und den Vergleich mit dem Projekt aus Braunschweig. Dem Anhang ist eine Liste von Berichterstattungen zu den Ausstellungen der TU Darmstadt in Bonn und Tel Aviv hinzugefügt. Bevor zerstörte Synagogen mittels Computer rekonstruiert wurden, speiste sich das Interesse an der Berichterstattung zu dem Thema „Synagogen“ hauptsächlich aus drei Motiven: erstens der Darstellung einer einzelnen Synagoge aus lokaler bzw. bundeslandbezogener Sicht, insbesondere angeregt durch Aktivitäten am authentischen Standort hinsichtlich des Gedenkens; zweitens der Thematisierung der alljährlichen Wiederkehr des Jahrestages 9. November 1938 und der Einbettung des Themas Synagogen in die Gesamtthematik des Holocausts und der NSZeit; drittens der Berichterstattung über Ausstellungen, über neue Forschungsergebnisse und Bucherscheinungen sowie im Zusammenhang mit kunst- und bauhistorischen Betrachtungen. Mit den Computer-Rekonstruktionen der TU Darmstadt kam der Aspekt der Verdeutlichung des kulturellen Verlustes durch digitale Technologie in der Berichterstattung hinzu. Beachtung fand auch die studentische Initiative des Projektes oder wie Fritz Backhaus formulierte: „Dass in Darmstadt unabhängig von einem Auftrag, quasi von unten kommend, die Computermodelle der Synagogen entstanden sind, ist für mich ein wichtiger Ausdruck einer entwickelten Erinnerungskultur in Deutschland. Das zeigt auch, wie das Bedürfnis sich entwickelt hat, sich mit der NS-Zeit auseinanderzusetzen, unabhängig ob man Geschichte studiert hat, und sich mit dem Nationalsozialismus in dem Bereich zu beschäftigen, in dem man tätig ist.“474

Diese beiden Aspekte, Veranschaulichung des kulturellen Verlustes und studentische Initiative, sind die Schwerpunkte der Berichterstattung, die in drei Phasen zu unterteilen ist: erstens die Phase, in der die Ergebnisse der Rekonstruktionen der Frankfurter Synagogen die Basis bildeten; diese Phase schließt das 1998 formulierte und bekannt gemachte Vorhaben ein, beispielhaft 15 weitere Synagogen aus Deutschland zu rekonstruieren; zweitens die Phase der Veröffentlichung der Ergebnisse der neuen

474 Siehe Anhang, Interviews, S. 542.

„Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ – TU Darmstadt 305

Rekonstruktionen und die Ausstellung in der Bundeskunsthalle in Bonn ab Mai 2000; drittens die Veröffentlichungen im Kontext der Auslandsausstellung „Synagogues in Germany – A Virtual Reconstruction“ ab 2004. Nachfolgend sind diese drei Phasen skizziert. Die erste Phase begann mit Veröffentlichungen im Jahre 1996 in Frankfurter Zeitungen wie der „FAZ“, der „Frankfurter Rundschau“ und der „Frankfurter Neuen Presse“. In mehrspaltigen Artikeln mit großformatigen Farbabbildungen wurde über das Projekt berichtet. Im November 1996 erschien der erste Fernsehbericht über das Projekt im „Hessischen Rundfunk“. Ab 1997 wurde die Berichterstattung zunehmend überregional. Beiträge in der „Süddeutschen Zeitung“ oder im Stern-Magazin „Konrad“ erschienen. Mit der Bekanntgabe der Projektausweitung auf 15 weitere Städte zeigte auch die jeweilige lokale Presse Interesse. Berichte in der „Dortmunder Rundschau“ oder den „Nürnberger Nachrichten“ sind hier beispielhaft zu nennen. Inzwischen waren in Darmstadt bewegte Bilder entstanden. Im September 1997 strahlte „Arte“ einen Beitrag im Magazin „Metropolis“ aus. Auch im WDR und HR waren im Jahre 1997 Filmberichte mit den Rekonstruktionen der Frankfurter Synagogen zu sehen. Mit der Förderung des Projektes durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und der hierzu stattgefundenen Pressekonferenz erreichte das Projekt im August 1998 weiteren Bekanntheitsgrad. Das ZDF berichtete über die Pressekonferenz und „Reuters TV“ erstellte einen Agenturbericht, der weltweit angeboten wurde. Das Projekt erhielt nun auch internationale Beachtung. Als Reaktion schickte CNN ein Kamerateam von Atlanta nach Darmstadt, dessen Reportage im gleichen Monat weltweit ausgestrahlt wurde. Auch die BBC folgte diesem Beispiel und sendete ein Feature rund um den Globus. Die spanische Zeitung „El Pais“ widmete dem Thema eine ganze Seite und die „New York Times“ veröffentlichte auf ihrer Internetpräsentation einen Artikel. Die Beachtung im Medium Internet fand einen vorläufigen Höhepunkt in der Berichterstattung auf der Homepage von BBC. Am 13. August erschien dort an oberster Stelle ein längerer Artikel zu dem Darmstädter Projekt. BBC hatte im Jahre 2002 im Monat durchschnittlich 2 Millionen Besucher.475 Am 9. November 1998, dem 60. Jahrestag der Reichspogromnacht, erschienen in renommierten deutschen Tagezeitungen wie der „FAZ“ und der „Süddeutschen“ erneut umfangreiche Artikel. Bei großen Gedenkfeiern, wie im Deutschen Bundestag und in München auf dem Odeonsplatz, wurden die Simulationsfilme zu den Frankfurter Synagogen gezeigt. In der „FAZ“ erschien am 6. November 1998 eine achtseitige Reportage. 475 http://www.nielsen-netratings.com/pr/pr_021114_uk.pdf, Studie vom 14. November 2002, vom 15.01.2005.

306 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen Im ZDF-Magazin „Aspekte“ wurde am 13. November über das Projekt und die Feierlichkeiten am 9. November 1998 berichtet. Auch im Fernseh-Programm der „Deutschen Welle“ war, anlässlich des Novemberpogroms, eine Reportage zu den Computer-Rekonstruktionen zu finden. Zunehmend begannen Fachzeitschriften sich für das Projekt zu interessieren. Artikel erschienen zum Beispiel in „Building Design“ oder in „Kunst + Unterricht“. Auch der „Aufbau“ in New York, eine Zeitschrift, die sich mit Beiträgen in deutscher und englischer Sprache an die deutschsprachigen Juden wendet, informierte seine Leserschaft. Mit der Ausstellung „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ im Jahre 2000 begann eine zweite Phase der Berichterstattung. Die Möglichkeit, in einem der renommiertesten Häuser Deutschlands eine Ausstellung zu verwirklichen, hatte dem Darmstädter Projekt zu weiterer Publizität verholfen. In Bonn konnten den Besuchern und Medienvertretern nicht nur die Ergebnisse von 14 rekonstruierten Synagogen präsentiert werden, sondern diese waren eingebettet in eine für das Thema, die Technik und den studentischen Hintergrund konzipierte Ausstellung. Zum ersten Mal standen Computer-Rekonstruktionen im Mittelpunkt einer Ausstellung. Als Ausgangspunkt verkörperten sie eine Kombination von innovativer Technologie und erinnerungswürdigem Inhalt. Sowohl die Rekonstruktionen für sich als auch die Ausstellung wurden Thema in unzähligen Berichterstattungen. Agnieszka Lulinska, die Kuratorin der Ausstellung: „Die Ausstellung hatte ein lebhaftes Presseecho. In zahlreichen regionalen und überregionalen Zeitungen sind ausführliche Rezensionen erschienen, sehr positiv, der umfangreiche Pressespiegel spricht für sich.“476

In dem Medienspiegel, der von der Bundeskunsthalle zu jeder Ausstellung erstellt wird, sind auf 120 Seiten 172 Berichte aus Printmedien dokumentiert bzw. verzeichnet. In Deutschland erschienen Artikel unter anderem in der „FAZ“, „Focus“, „Frankfurter Rundschau“, „Spiegel“, „Süddeutsche“, „Welt“ und der „Zeit“. Aus dem Ausland sind Zeitungsberichte aus Belgien, Frankreich, Großbritannien, Holland, Israel, Italien, Österreich, Schweiz und den USA bekannt geworden. Neben Berichten des deutschen Fernsehens waren Reportagen über die Ausstellung auch im spanischen, englischen und französischen Fernsehen zu sehen. Zu der Anzahl der potentiell erreichten Leser ist im Medienspiegel der KAH vermerkt:

476 Siehe Anhang, Interviews, S. 549.

„Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ – TU Darmstadt 307 „Die Berichterstattung der Printmedien erreichte über die verkaufte Auflage 18.981.420 Leser, ohne Berücksichtigung von Mehrfachlesern.“477

Auch nach der Bonner Ausstellung waren immer wieder Berichterstattungen, sei es in den Printmedien oder im Fernsehen, zu verzeichnen. Dies erfolgte auch im Zusammenhang mit der Fertigstellung von Rekonstruktionen einzelner Synagogen wie denen von Kaiserslautern und Nürnberg. Bei den Berichterstattungen, in denen die Computer-Rekonstruktion einer einzelnen Synagoge im Mittelpunkt standen, ist der schon erwähnte Beitrag in „Die Sendung mit der Maus“ zur Kölner Synagoge Glockengasse herauszuheben. Die Entwicklung des „Synagogen-Internet-Archivs“, das im Rahmen dieser Studie im Jahre 2002 entstand und im nächsten Kapitel ausführlich behandelt wird, bot weiteren Anlass, über die Rekonstruktionen zu berichten. Hier sind in 2002 und 2003 zahlreiche Medienberichte in der Presse und im Internet erschienen, nicht zuletzt angeregt durch Agenturberichte von DPA. Die dritte und bis heute nicht abgeschlossene Phase begann mit der im Februar 2004 im Diaspora-Museum in Tel Aviv eröffneten Wanderausstellung „Synagogues in Germany – A virtual Reconstruction“. Hiermit erlangte das Darmstädter Projekt auch in Israel weitere Bekanntheit. Mehrspaltige Artikel mit farbigen Abbildungen fanden sich unter anderem in den drei auflagenstärksten Zeitungen „Yedioth Ahronot“, „Ma‘ariv“ und „Haaretz“ sowie in der „Jerusalem Post“. Die englische Ausgabe von Haaretz wird zudem mit der „Herald Tribune“ verkauft und gleichsam wie der „Jerusalem Report“ und die „Jerusalem Post“ in Nordamerika, Großbritannien, Australien, Neuseeland, Südafrika und einigen europäischen Staaten vertrieben bzw. abonniert. In den zentralen Abendnachrichten, vergleichbar mit der deutschen „Tagesschau“, war ein Bericht von zweieinhalb Minuten über die Eröffnung zu sehen. Abschließend kann festgestellt werden, dass auch losgelöst von aktuellen Ausstellungen das Projekt nach zehn Jahren immer noch das Interesse von Journalisten erregt, was zu immer neuen Berichterstattungen führt.

477 Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Medienspiegel 30 – Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion, Bonn 2000, S. 126. Siehe auch die Zusammenstellung zu der Medienberichterstattung über das Darmstädter Projekt im Anhang.

308 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen

Synagoge Frankfurt, Börneplatz TU Darmstadt, FG IKA

„Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ – TU Darmstadt 309

Ausstellung Computer-Rekonstruktionen TU Darmstadt Museum Judengasse, Frankfurt am Main – 1996

310 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen

Synagoge Köln, Glockengasse TU Darmstadt, FG IKA

„Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ – TU Darmstadt 311

Synagoge Hannover, Bergstraße TU Darmstadt, FG IKA

312 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen

Synagoge Kaiserslautern, Luisenstraße TU Darmstadt, FG IKA

„Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ – TU Darmstadt 313

Synagoge Nürnberg, Hans-Sachs-Platz TU Darmstadt, FG IKA

314 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen

Synagoge Plauen TU Darmstadt, FG IKA

„Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ – TU Darmstadt 315

Station der „Eskalation“ Ausstellung TU Darmstadt, Bundeskunsthalle, Bonn 2000

316 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen

Station „Rekonstruktion“ – „Arbeitsprozess“ Ausstellung TU Darmstadt, Bundeskunsthalle, Bonn 2000

Station „Rekonstruktion“ – „Arbeitsplatz“ Ausstellung TU Darmstadt, Bundeskunsthalle, Bonn 2000

„Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ – TU Darmstadt 317

Station „Rekonstruktion“ – „Ergebnis“ Ausstellung TU Darmstadt, Bundeskunsthalle, Bonn 2000

Station „Rekonstruktion“ – „Suchscheibe“ Ausstellung TU Darmstadt, Bundeskunsthalle, Bonn 2000

318 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen

Filmraum Ausstellung TU Darmstadt, Bundeskunsthalle, Bonn 2000

Station „Rekonstruktion“ – „Arbeitsprozess“ Ausstellung TU Darmstadt, Bundeskunsthalle, Bonn 2000

„Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ – TU Darmstadt 319

Station „Weg zur Pogromnacht“ Ausstellung TU Darmstadt, Diaspora-Museum, Tel Aviv 2004

Station „Eskalation“ Ausstellung TU Darmstadt, Diaspora-Museum, Tel Aviv 2004

320 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen

Station „Rekonstruktion“ – „Arbeitsprozess“ Ausstellung TU Darmstadt, Diaspora-Museum, Tel Aviv 2004

Station „Rekonstruktion“ – „Arbeitsprozess“ Ausstellung TU Darmstadt, Diaspora-Museum, Tel Aviv 2004

„Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ – TU Darmstadt 321

Station „Rekonstruktion“ – „Ergebnis“ Ausstellung TU Darmstadt, Diaspora-Museum, Tel Aviv 2004

3D-Stereo-Betrachter Ausstellung TU Darmstadt, Diaspora-Museum, Tel Aviv 2004

322 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen 4.1.2 Sonstige 3D-Computer-Rekonstruktionen von Synagogen Als Reaktion auf Medienberichte und die Ausstellung in Bonn erhielt das Fachgebiet IKA Anfragen, inwieweit die Rekonstruktion weiterer in der NS-Zeit zerstörter Synagogen möglich sei. Da das studentische Projekt abgeschlossen, der Forschungscharakter bereits erfüllt und im universitären Rahmen die Voraussetzungen für weitere Rekonstruktionen nicht mehr gegeben waren, konnte diesen Wünschen nicht nachgekommen werden. Sie wurden aber an die Architectura Virtualis478 weitergeleitet, die als Kooperationspartner der TU Darmstadt von Manfred Koob (Wissenschaftliche Leitung) und dem Verfasser geführt wird und im Bereich der 3D-Computer-Rekonstruktionen tätig ist. Computermodelle von Synagogen aus den Städten Bad Kissingen, Darmstadt, Hamburg, Langen, Mannheim und Mutterstadt entstanden in diesem Rahmen. Auf Wunsch der jeweiligen Auftraggeber wurden diese Synagogen in die Auslandsausstellung integriert. (Abb. S. 330, 331, 352, 354, 356) Dem Darmstädter Projekt folgten auch andere Institutionen und Einzelpersonen mit 3D-Computer-Rekonstruktionen von Synagogen. Bis auf die Arbeiten am Center for Jewish Art in Jerusalem und an der TU Wien, die jeweils mehrere Synagogen umfassen, handelt es sich um Rekonstruktionen einzelner Synagogen, die in der Regel aus einem lokalen Bezug der Ersteller zu den Bauwerken entstanden. Neben dem Umfang unterscheiden sich die Projekte auch in der Intention und der Erscheinungsform. Bei letzterer ist eine Bandbreite von eher einfachen, zum Teil schematischen Darstellungen bis hin zu aufwendigen, atmosphärischen Darstellungen festzustellen. Die Arbeiten am Center for Jewish Art der Hebrew University Jerusalem (Aliza Cohen-Mushlin), die in Zusammenarbeit mit dem Fachgebiet Baugeschichte der TU Braunschweig (Harmen Thies) entstanden, hatten das Ziel, anhand einer Auswahl einzelner repräsentativer Bauwerke, die in Teilen noch erhalten sind, baugeschichtliche Zusammenhänge aufzuzeigen. Eine atmosphärische Simulation wurde, bis auf Halberstadt, nicht angestrebt (Abb. S. 327). Warum nicht die großen Monumentalsynagogen thematisiert wurden, ergibt sich aus der Tatsache, dass von den großen städtischen Synagogen wenig erhalten geblieben ist, in kleineren

478 Die Architectura Virtualis GmbH hat die Aufgabe, Datensätze des Fachgebietes IKA in Hinblick auf zukünftige Verwendungen in Forschung, Lehre und Bildung zu erhalten sowie Anwendungen und Methoden zu standardisieren und weiterzuentwickeln. Sie bearbeitet Aufträge aus den Bereichen der Architekturvisualisierung und der digitalen Exponate, die keinen reinen Forschungscharakter haben.

Sonstige Projekte 323

Ortschaften aber sehr wohl Überreste vorhanden sind.479 Synagogen aus Halberstadt, Köthen, Berkach, Delmenhorst, Norderney, Eldagsen, Egeln, Genthin, Stadthagen und die Friedhofshallen in Braunschweig, Chemnitz und Leipzig sind als 3D-Computermodelle dargestellt worden (Abb. S. 327). In der Ausstellung im Centrum Judaicum 2003 in Berlin kam ein Film mit der Computer-Rekonstruktion der Synagoge Halberstadt zum Einsatz. Der Film beschreibt anhand des Halberstadter Modells die allgemeine Funktion einer Synagoge. An der TU Wien, Institut für Entwerfen und Raumgestaltung, werden seit 1998 Wiener Synagogen als 3D-Computermodelle rekonstruiert. Als Ziel wurde die Rekonstruktion von zehn Synagogen aus Wien formuliert, „wobei es sich vor allem um die wissenschaftliche Aufarbeitung bzw. dreidimensionale Dokumentation des baulichen Bestandes handelt“.480 Initiiert durch Bob Martens entstehen virtuelle Rekonstruktionen im Rahmen von Diplom- und Seminararbeiten sowie Forschungsprojekten (Abb. S. 328). Aus den Projekten und Initiativen, welche die Rekonstruktion einer einzelnen Synagoge zum Inhalt haben, ragt das Projekt Memo 38 der Fachhochschule Wiesbaden heraus.481 Die sehr aufwendige Rekonstruktion der Wiesbadener Synagoge am Michelsberg wurde von 1998 bis 1999 durch 17 Studierende und Absolventen unter der Leitung von Edgar Brück geleistet (Abb. S. 329). Zu der Synagoge Wiesbaden kann eine CD und ein Film von der Fachhochschule erworben werden. Der Film ist zusätzlich über das städtische Medienzentrum auszuleihen. Die 3D-Computer-Rekonstruktion der Synagoge Wiesbaden wurde 1998 und 1999 jeweils für einige Tage in einem Container in unmittelbarer Nähe zum früheren Standort (heute eine Schnellstraße) präsentiert. In Anwesenheit der Ersteller konnte man sich über den Rekonstruktionsvorgang informieren und die Ergebnisse der Rekonstruktion betrachten. Rekonstruktionen einzelner Synagogen entstanden auch für Herne, Wanne-Eickel, Rüsselsheim und Seesen (Abb. S. 332). Ein Team von

479 Diese Arbeiten hatten den Hintergrund, „in Deutschland baulich noch greifbare Reste ehemaliger Synagogen, Ritualbäder und Friedhofsbauten zu erfassen und Hinweise auf die seit 1938 zerstörten Bauten zu dokumentieren und so der kritisch vergleichenden Forschung zugänglich zu machen“. Entnommen aus einem Faltblatt des Center for Jewish Art der Hebrew University of Jerusalem und des Fachgebiets Baugeschichte der Technischen Universität Braunschweig. Das Faltblatt stellt eine gemeinsame Initiative zum Aufbau einer Forschungsstelle (Bet Tfila) für jüdische Architektur in Europa vor. 480 B. Martens: Über die virtuelle Rekonstruktion von Wiener Synagogen, in: DAVID – Jüdische Wochenzeitschrift, Heft Nr. 50, September 2001. Auch einsehbar über: http://www.david.juden.at/kulturzeitschrift/50-54/Main%20frame_Ar tikel50_Rekonstruktion.htm, vom 6.12. 2003. 481 http://www.memo38.de, vom 09.01.2005.

324 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen engagierten Bürgern hat Computer-Rekonstruktionen der Synagogen Herne und Wanne-Eickel erarbeit und auch eine Homepage erstellt, die zusätzlich zu Abbildungen der Computermodelle Informationen zu der Geschichte der jeweiligen Synagogen bereithält.482 Im Rahmen eines kunstgeschichtlichen Seminars an der TU Darmstadt zum Thema hessische Synagogen wurde eine schematische Computer-Rekonstruktion der Rüsselsheimer Synagoge vorgenommen.483 Die Computer-Rekonstruktion der Synagoge in Seesen entstand als Arbeit eines Schülers der Klasse 12 am Jacobson-Gymnasium in Seesen. Alle bisher genannten Arbeiten beziehen sich in unterschiedlichem Umfang auf die in der NS-Zeit zerstörten Synagogen. Neben diesem Bezug entstanden auch Computer-Rekonstruktionen mittelalterlicher Synagogen als Auftragsarbeiten für Museen, so von den Synagogen in Worms, Speyer (Abb. S. 88, 224, 333, 353), Regensburg und Wien (Abb. S. 334). Als Exponat des Jüdischen Museums Berlin wird Besuchern an prominenter Stelle, am Anfang der Ausstellung, eine Computer-Rekonstruktion der mittelalterlichen Synagoge und des jüdischen Viertels zu Worms um die Zeit 1500 präsentiert.484 Inhaltlich wird versucht, jüdisches Leben im Mittelalter anschaulich zu machen und gleichzeitig an seine lange Tradition in Deutschland zu erinnern. Anhand von Computermodellen der Synagoge, der Mikwe, des Tanzhauses, des jüdischen Friedhofes sowie des jüdischen Viertels im Gesamtüberblick wird die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Ausschnitten erzählt. In der Konzeption für dieses Exponat wurde versucht, den Inhalt mit einer technisch innovativen Präsentationsform zu verstärken, die die Besucher zusätzlich in den Bann ziehen sollte. In einem extra für dieses Exponat gestalteten Zuschauerraum, der etwa 30 Personen Platz bietet, kommt dabei eine spezielle, aufwendige Präsentationstechnik zur Anwendung, die ein freies Schweben dreidimensional wirkender Computermodelle im Raum suggeriert.485 (Abb. S. 326) Für die Ausstellung „Europas Juden im Mittelalter“ des Historischen Museums der Pfalz wurde die mittelalterliche Synagoge zu Speyer, die

482 Siehe: http://www.synagogen.net/, vom 24.05.2004. 483 Siehe: http://www.synagogen.info/main.php?&page=Synagogen/Detail&id =407, vom 24.05.2004. 484 Die Rekonstruktion und Simulation wurde von der TU Darmstadt, Fachgebiet IKA (Manfred Koob) und der asb baudat, Bensheim erstellt und wird seit der Eröffnung des Jüdischen Museums Berlin im Jahre 2001 dort gezeigt. 485 Voraussetzung hierfür ist, dass die Modelle in dem Simulationsfilm in Bewegung gehalten werden und komplett von schwarzem Hintergrund umgeben sind.

Sonstige Projekte 325

als Ruine noch vorhanden ist, im Computer rekonstruiert.486 Die Besucher konnten einen Simulationsfilm sehen, der ihnen die Baugeschichte der Synagoge mit ihren verschiedenen romanischen und gotischen Phasen veranschaulicht. Überblendungen zwischen Computermodell und archäologischen Befunden sollen den Betrachtern deutlich machen, was an Resten aus dem Mittelalter noch erhalten und, was abgeleitete Rekonstruktion ist. Die Ausstellung wurde vom 19. November 2004 bis zum 20. März 2005 in Speyer gezeigt und war im Anschluss im Pei-Bau des Deutschen Historischen Museums in Berlin zu sehen. Der Film ist über die Ersteller zu beziehen. (Abb. S. 353) 1995 wurden bei Bauarbeiten am Regensburger Neupfarrplatz unerwartet Reste der gotischen Synagoge und des jüdischen Viertels gefunden. Die darauf einsetzenden archäologischen Untersuchungen führten auch zu der Idee, eine virtuelle Rekonstruktion in Auftrag zu geben, welche das Gotteshaus und das jüdische Viertel in der Zeit von 1517 darstellt.487 Der Öffentlichkeit sind in einem neugebauten unterirdischen Museum sowohl die archäologischen Reste als auch die Rekonstruktion in Form eines Films zugänglich. (Abb. S. 334) In der Dependance des Jüdischen Museums Wien, welche die freigelegten Fundamente der mittelalterlichen Synagoge und einige Ausstellungsräume beherbergt, ist die 3D-Computer-Rekonstruktion der mittelalterlichen Synagoge und des jüdischen Viertels in Form eines Simulationsfilms zu sehen ist. Bilder der Computer-Rekonstruktion sind auch Bestandteil einer 118 Seiten umfassenden farbig gedruckten Publikation zur mittelalterlichen jüdischen Gemeinde und zu deren Zentrum am Judenplatz.488 (Abb. S. 334) Viele der hier behandelten Computer-Rekonstruktionen von Synagogen sind neben den traditionellen Formen der Vermittlung wie Ausstellung, Buch, Fernsehen auch im Internet zu finden. Diese neue Form der Erinnerung an Synagogen ist Gegenstand des zweiten Teils dieses Kapitels.

486 Die Rekonstruktion entstand im Auftrag des Historischen Museums der Pfalz und wurde von der Architectura Virtualis, Darmstadt in Zusammenarbeit mit Archäologinnen u.a. aus dem Landesdenkmalamt Rheinland Pfalz erstellt. 487 Die Rekonstruktion wurde im Rahmen eines EU-Projektes im Auftrag des Bay­ erischen Landesamts für Denkmalpflege, Außenstelle Regensburg, von der Fachhochschule Wiesbaden erarbeitet. 488 G. Milchram: Museum Judenplatz – zum mittelalterlichen Judentum, herausgegeben vom Jüdischen Museum Wien, keine weiteren Angaben.

326 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen

Synagoge Plauen – Quicktime-VR Päsentation, TU Darmstadt Dauerausstellung Jüdisches Museum Berlin

„Virtual Worms“ – TU Darmstadt Dauerausstellung Jüdisches Museum Berlin

Sonstige Projekte 327

Synagoge Delmenhorst Center for Jewish Art, Jerusalem

Synagoge Genthin Center for Jewish Art, Jerusalem

Synagoge Halberstadt, Bakenstraße Courtesy of the Center for Jewish Art, the Hebrew Univeristy of Jerusalem

328 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen

Synagoge Wien, Turnergasse TU Wien

Synagoge Wien, Zirkusgasse TU Wien

Synagoge Wien, Siebenbrunnengasse TU Wien

Sonstige Projekte 329

Synagoge Wiesbaden, Michelsberg FH Wiesbaden

330 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen

Synagoge Darmstadt, Bleichstraße Architectura Virtualis, Darmstadt

Sonstige Projekte 331

Synagoge Mannheim, F2, 13 Architectura Virtualis, Darmstadt

332 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen

Synagoge Rüsselsheim Studentische Arbeit

Synagoge Herne Private Initiative

Synagoge Seesen Schülerarbeit, Jacobson-Gymnasium Seesen

Sonstige Projekte 333

Mittelalterliche Synagoge Speyer Architectura Virtualis, Darmstadt

Mittelalterliche Synagoge Speyer Architectura Virtualis, Darmstadt

334 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen

Mittelalterliche Synagoge Wien Museum Judenplatz

Mittelalterliche Synagoge Regensburg FH Wiesbaden

Mittelalterliches Viertel Regensburg FH Wiesbaden

Resümee – Ausgleich von Defiziten, Potentiale und Grenzen 335

4.1.3 Resümee – Ausgleich von Defiziten, Umsetzung der Potentiale und Grenzen Die Bewertung der 3D-Computer-Rekonstruktionen von Synagogen basiert auf den Kriterien, die bereits in den vorherigen Kapiteln zur Anwendung kamen. Anhand des Vergleichs zwischen den digitalen Rekonstruktionen und traditionellen Rekonstruktionsformen gliedert sich die Betrachtung in erstens Anschaulichkeit, zweitens Emotionalisierung, Involvierung und neue Möglichkeiten der Rezeption, drittens Verbreitung, Medienattraktivität und Diskurspotential und viertens Erstellungs-, Präsentationsund Erhaltungsaufwand.

4.1.3.1 Anschaulichkeit Betrachtet man zunächst den Aspekt der Veranschaulichung der zerstörten Architektur, dann ist festzustellen, dass die 3D-Computer-Rekonstruktionen die Defizite haptischer Modelle in punkto Anschaulichkeit ausgleichen können und den traditionellen Rekonstruktionsformen gerade im Bereich der Innenraumdarstellung überlegen sind. Diese Einschätzungen werden von den Museumsfachleuten und den Vertretern jüdischer Institutionen geteilt: Georg Heuberger – Jüdisches Museum Frankfurt: „Der große Vorteil des Computermodells gegenüber dem traditionellen Modell ist die Darstellung des Innenraums und die Möglichkeit, von dem kleinen Maßstab wegzukommen.“489

Fritz Backhaus – Jüdisches Museum Frankfurt: „Die Möglichkeiten der Computermodelle, gerade bei der Darstellung der Innenräume, sind natürlich mit den Möglichkeiten der haptischen Modelle kaum zu vergleichen.“490

Agnieszka Lulinska – Bundeskunsthalle Bonn: „Es ist sehr eindrucksvoll, sich einem Gebäude im gewohnten Maßstab zu nähern, den Innenraum ‚tatsächlich‘ betreten zu können, dessen Details zu bewundern, 489 Siehe Anhang, Interviews, S. 535. 490 Siehe Anhang, Interviews, S. 542.

336 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen sich darin bewegen zu können, das Lichtspiel zu beobachten. Das ist eine einprägsame Erfahrung.“491

Sarah Harel Hoshen – Diaspora Museum Tel Aviv – verdeutlicht anhand des Vergleichs zwischen der Ausstellung „Synagogues in Germany – A Virtual Reconstruction“ und der Sammlung haptischer Modelle im Tel Aviver Museum die angesprochenen Vorteile der digitalen Modelle: “In your exhibition, with ten synagogues which are not extremely different from each other (except the one from Plauen) you would gain nothing from ‚traditional‘ 3D models. For studying the architecture per ce the virtual reconstruction enables you many more possibilities. It enables you to see every detail, every corner of a building which one is not able to see in a traditional model. For studying, research and scholarly points of view there is no comparison at all. The computer reconstructions are far better.”492

Nigel Cox – Jüdisches Museum Berlin – zu der im Jüdischen Museum gezeigten Quick-Time-VR-Präsentation der Computer-Rekonstruktion der Synagoge Plauen im Vergleich zu den ebenfalls in der Dauerausstellung präsentierten drei Synagogen-Holzmodellen: “I think that the digital model is very good at showing interiors, but I think it’s not so good so far at showing how a building stands in its space. These wooden models give you a very emotional impression of the way that the synagogue would have stood in space – as a part of its landscape. You have a strong feeling of it being very impressive. This doesn’t come over so strongly to me from the digital model. But, on the other hand, what you cannot get from these wooden models is anything about the interior and so this would be my distinction here.”493

Am Beispiel der Synagogen wird auch deutlich, was bereits zum Thema städtebaulicher Kontext festgestellt wurde. Bei den haptischen Modellen wird in der Regel der städtebauliche Kontext nicht dargestellt. Bei den einfachen Computer-Rekonstruktionen ist das zwar auch nicht der Fall, doch die aufwendigeren Simulationen, wie die der FH Wiesbaden, der TU Darmstadt und der Architectura Virtualis sowie die Simulation der mittelalterlichen Synagoge Wien, sind in das städtische Umfeld eingebettet. Gerade dieser Aspekt ist wichtig, um zu vermitteln, in welcher zentralen Lage und in welcher exponierten städtebaulichen Situation jüdische Got491 Siehe Anhang, Interviews, S. 552. 492 Siehe Anhang, Interviews, S. 583. 493 Siehe Anhang, Interviews, S. 561.

Resümee – Ausgleich von Defiziten, Potentiale und Grenzen 337

teshäuser errichtet wurden. Die haptischen Modelle freistehender Synagogen lassen zwar auf eine exponierte Stellung im Stadtraum schließen, die Computermodelle veranschaulichen dies aber direkter, weil sie die Umgebungsbebauung mitzeigen. Insofern ist Nigel Cox zu widersprechen. Trotz der größeren Anschaulichkeit der digitalen Modelle ist bei den in der NS-Zeit zerstörten Synagogen, die einer breiten Öffentlichkeit nahezu unbekannt sind, im musealen Kontext eine Konzentration auf die äußere Erscheinungsform und die Wahl eines traditionellen Modells nachvollziehbar, auch wenn hierbei die Darstellung des Innenraums vernachlässigt bleibt. Alle Besucher können beim Vorbeigehen das Bauwerk in kurzer Zeit erfassen und haben zumindest im verkleinerten Maßstab eine Synagoge gesehen.494 Bei zusätzlichen Anforderungen an eine Rekonstruktion, wie beispielsweise dem Aufzeigen von historischen Zeitstufen, stoßen haptische Modelle allerdings an Grenzen, die ihren Einsatz als nicht sinnvoll erscheinen lassen. Digitale Modelle bieten hier neue Möglichkeiten, die im dritten Kapitel prinzipiell vorgestellt wurden und die auch bei der Rekonstruktion der mittelalterlichen Synagoge Speyer deutlich zum Vorschein treten. Werner Transier, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Historischen Museums der Pfalz: „Von Anfang an war für uns klar, dass nur eine 3D-Rekonstruktion in Frage kommt, da wir vier verschiedene Bauphasen dieses Bauwerks zeigen wollten. Speyer ist eine sehr differenzierte Anlage. Das hätte in einem Modell nicht funktioniert, das immer nur den Zustand einer Epoche abbildet. Der Innenraum kann ebenfalls ganz anders dargestellt werden. In einem Modell sehen Sie den Innenraum immer nur von außen, in der 3D-Rekonstruktion sind Sie im Raum. Mit der 3D-Rekonstruktion und einem entsprechenden Film können auch die einzelnen Bauteile erklärt werden. Sie sind in der Lage, Details hervorzuheben und die Spolien, die archäologischen Reste, die in Speyer noch sichtbar sind, in das Computermodell einzubinden. So wird beispielsweise im Film mit Hilfe von Überblendungen ein Vergleich der heute noch stehenden Westwand mit der Rekonstruktion im Computer vorgenommen. Sie können also Forschungsergebnisse viel besser verdeutlichen.“495 (Abb. S. 353)

Werner Transier spricht noch einen weiteren Aspekt an, der bis jetzt nicht zur Sprache kam:

494 Siehe hierzu auch die Bemerkung von Nigel Cox im zweiten Kapitel auf Seite 154. 495 Werner Transier in einem Gespräch mit dem Autor, September 2004.

338 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen „Mit einem haptischen Modell wäre es nie so leicht gewesen, einen Sponsor zu bekommen, wie bei einer 3D-Rekonstruktion. Die Modernität des Mediums ist meiner Meinung hier Ausschlag gebend.“496

In Zeiten knapper werdender Gelder für den Kultursektor ist die externe Finanzierung über Sponsoren immer wichtiger geworden. Die Einschätzung von Werner Transier bezüglich der Modernität des Mediums sowie die damit verbundene größere Bereitschaft zur Finanzierung ist ein nicht unwichtiger Hinweis hinsichtlich möglicher Entscheidungen für die eine oder die andere Rekonstruktionsform. Im zweiten Kapitel wurde auch von dem Defizit der Anschaulichkeit am authentischen Ort gesprochen. Die Frage, ob der Einsatz digitaler Technologie am authentischen Ort dieses Defizit ausgleichen könnte, ist für die Gesamtzahl der Synagogen eher unwahrscheinlich. Die Kosten und der Umstand, dass an vielen Standorten keine öffentliche Nutzung besteht, lässt dies vermuten. Bis zum Jahre 2006 war auch nur an einem einzigen Standort (Frankfurt, Friedberger Anlage)497 eine 3D-ComputerRekonstruktion dauerhaft für die Öffentlichkeit zugänglich. Prinzipiell stellt eine Computer-Rekonstruktion aber ein großes Potential zur Verdeutlichung dar, das am authentischen Ort auch im Hinblick auf den Innenraum zur Geltung gebracht werden könnte. Gerade an jenen Standorten mit verbliebener Bausubstanz, an denen man sich für das Sichtbarlassen aller Spuren der Geschichte entschlossen und nicht den ursprünglichen Zustand rekonstruiert hat, könnte die Kombination von traditionellen und computerbasierten Erinnerungsformen eine optimale Ergänzung bilden. Das Bauwerk an sich wird mit all seinen Spuren belassen – eine Computer-Rekonstruktion zeigt vor Ort die einstige Pracht. Zusätzlich wäre es möglich, die Baugeschichte der Synagoge im digitalen Modell darzustellen, wenn verschiedene zeitliche Phasen existieren sollten. Angesichts der bisher nicht verwirklichten Potentiale von ComputerRekonstruktionen an Standorten ehemaliger Synagogen und angeregt durch diese Untersuchung entstand die Idee, exemplarisch für die Stadt Kaiserslautern ein Konzept für eine Installation am authentischen Ort zu entwickeln. Die Idee sieht vor, stereoskopische Betrachter zu installieren, die 3D-Simulationsbilder einer im Computer rekonstruierten Synagoge zeigen. An mehreren Standpunkten innerhalb und außerhalb der Grundfläche der ehemaligen Synagoge werden die „Betrachter“ aufgestellt. Beim Durchschauen bekommt man einen Eindruck, wie die Synagoge von dieser Stelle aussehen würde, wenn sie noch stünde. Dieser über496 Ebd. 497 Siehe Abschnitt 4.1.1.2 Ausstellungen, S. 301.

Resümee – Ausgleich von Defiziten, Potentiale und Grenzen 339

raschende Eindruck wird durch die dreidimensionale Wirkung des Bildes erhöht. Die Installation ist von ihrer Gestalt Münzfernrohren nachempfunden. Diese stehen normalerweise an Orten mit Weitsicht. In einem städtischen Gefüge sorgen sie für Irritation. Diese Irritation entspricht auch der Situation vor Ort, die nicht „normal“ ist, denn „normal“ stände hier ein prächtiges Gotteshaus. Für eine Realisierung konnte die Stadt Kaiserslautern als Auftraggeber gewonnen werden.498 (Abb. S. 351) Bewertet man abschließend die Umsetzung der Potentiale in Hinsicht auf Anschaulichkeit, dann kann gesagt werden, dass die Modelle der FH Wiesbaden, der TU Darmstadt und der Architectura Virtualis sicher in punkto Darstellungsqualität im Vergleich zu der Gesamtheit von 3D-Computer-Rekonstruktionen im oberen Drittel anzusiedeln sind. Die Potentiale der Technologie sind unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Ressourcen gut genutzt, auch wenn der Einsatz am authentischen Ort bis jetzt kaum verwirklicht werden konnte.

4.1.3.2 Emotionalisierung Im ersten und im dritten Kapitel wurde die Frage nach der Emotionalisierung bei Architektur-Rekonstruktionen aufgeworfen. Es wurde die Bedeutung der begleitenden inhaltlichen Informationen – etwa die Umstände der Zerstörung – und des Hintergrunds öffentlicher Erinnerungsdiskurse angesprochen. Es wurde auch die Frage nach der Bedeutung der Anschaulichkeit für die Emotionalisierung gestellt. Sowohl die in Museen, in Vorträgen und in der Begegnung mit Zeitzeugen gesammelten Erfah-

498 Im Dezember 2004 hat das Stadtparlament die Gelder für die Umsetzung freigegeben, die im Herbst 2006 abgeschlossen wurde. Die Voraussetzungen hierzu waren in zweierlei Hinsicht optimal. Zum einen existierte bereits ein Computermodell der ehemaligen Synagoge Kaiserslautern, zum anderen war der Standort des ehemaligen Gotteshauses unbebaut geblieben. Dort befindet sich eine Gedenkanlage. Sie besteht aus einer Grünfläche, auf welcher der Grundriss der Synagoge mit einer Heckenbepflanzung nachgezeichnet ist, und aus einer Nachbildung von Teilen des nördlichen Seitenportals. Diese Rekonstruktion verwendet dieselben Materialien wie das zerstörte Original, roten und gelben Sandstein. Die Installation sieht vor, dass an vier Standpunkten die „Fernrohre“ das Gebäude von außen zeigen, an zwei Standorten von innen. Eine weitere Innenraumperspektive wird über eine rollstuhlgerechte Installation erschlossen. Diese befindet sich im Bereich des teilweise rekonstruierten Portals, das durch seine Höhe intuitiv Anziehungspunkt für die Besucher ist und auch eine Inschrift aufweist. Hier ist auch eine kleine Erläuterung zu der Installation zu finden. Das Material der „Fernrohre“ ist Edelstahl. Ein Steinblock aus dem gleichen roten Sandstein wie bei dem Portal stellt den Bezug zur bestehenden Gedenkanlage her und dient Kindern als Standfläche.

340 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen rungen als auch die Reaktion der Öffentlichkeit lassen erkennen, dass der Aspekt der Anschaulichkeit eine große Bedeutung hat und eine Emotionalisierung fördert. Sie beruht bei den Rezipienten allerdings auf unterschiedlichen Hintergründen. Die Erfahrungen aus vielen Veranstaltungen und die Gespräche mit den Teilnehmern ergaben, dass bei nicht jüdischen Personen eher die Überraschung und die Betroffenheit über die Zerstörung der prächtigen Gebäude im Vordergrund stehen. Hierzu Jörg Lau von der Zeitung „Die Zeit“: „Eine Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle macht es nun möglich, wenigstens im virtuellen Raum der computeranimierten Bilder einige der schmerzlichsten Verluste kennen zu lernen. [...] Die computeranimierten Bilder von der einstigen Pracht jüdischen Lebens in Deutschland sind ein bewegender Einspruch gegen die Reduktion der Juden auf den Status des ewigen Opfers. Die fortgeschrittenste Technik der virtuellen Rekonstruktion lässt sich also – den Prophezeiungen der Baudrillard und Flusser zum Trotz – sehr wohl in den Dienst des Realitätssinns stellen. Man wandelt herum, klickt hierhin und dorthin und staunt: Dies alles gab es also. [...] Dieses work in progress, das zu Teilen auch schon im Internet [...] zugänglich ist, wird weit reichende Folgen für unser Verständnis einer Gedächtniskultur unter Bedingungen der Neuen Medien haben.“499

Bei jüdischen Besuchern führen beim Betrachten der Simulationsbilder zusätzlich persönliche Bezüge, eigene oder berichtete Erinnerungen zu einer Emotionalisierung. In mehreren Begegnungen mit Zeitzeugen, bei denen die Computer-Rekonstruktionen der Synagogen gezeigt wurden, standen Menschen Tränen in den Augen. Die Ergriffenheit veranlasste Männer ihre Kipa – die jüdische Kopfbedeckung – aufzusetzen, weil das „virtuelle Betreten“ im Computer für sie etwas „Heiliges“ ausdrückte. Die emotionale Ergriffenheit der Zeitzeugen bekunden auch die E-Mails, die an das Fachgebiet IKA gesendet wurden und die vielen Einträge in den Gästebüchern der Ausstellungen.500 Aus der langjährigen Tätigkeit im Bereich der Computer-Rekonstruktion von Synagogen und aus den Erfahrungen in vielen Veranstaltungen oder Zusammenkünften mit Zeitzeugen ergab sich so das Bild, dass Zeitzeugen und ihre Angehörigen die Personengruppe darstellten, die an den Rekonstruktionen am stärksten Anteil nimmt. Auch Sarah Harel Hoshen nennt aus ihrer Erfahrung mit der Ausstellung „Synagogues in Germany – A Virtual Reconstruction“ (Tel Aviv) die

499 J. Lau: Per Mausklick in die Historie, in: Die Zeit, 21.06.2000. 500 Bonn: 188 DIN-A4-Seiten, Tel Aviv: 126 DIN-A4-Seiten.

Resümee – Ausgleich von Defiziten, Potentiale und Grenzen 341

Zeitzeugen als die Besuchergruppe, die emotional am stärksten ergriffen ist: “An older person when encountered with a part of his childhood gets emotional. It is very moving. They spend half an hour or an hour in the exhibition and they are looking also into the books and are searching in the Internet archive. Sometimes they ask us to make them a Xerox copy about their communities. There were quite a few times where some of them had tears in their eyes.”501

Und Orna Marhöfer, als Angehörige der zweiten Generation, zu ihrem Besuch in der Bonner Synagogen-Ausstellung: „Insbesondere hat mich die Rekonstruktion der Synagoge Kaiserslautern überrascht und bewegt, weil mein Vater und meine Großeltern aus Kaiserslautern stammten. Schon als Kind wurde mir immer von der Pracht der Kaiserslauterer Synagoge erzählt. Indem ich dort mit der Rekonstruktion konfrontiert wurde, kamen mir diese Erzählungen, die 40 Jahre zurücklagen, in Erinnerung und ich konnte mich ein wenig in die Gedankenwelt meiner verstorbenen Großeltern und meines Vaters einfühlen.“502

Neben der großen Anschaulichkeit sind es dramaturgische Effekte in Filmen, die zur Emotionalisierung beitragen: Im Film „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ werden am Ende Bilder zerstörter Synagogen gezeigt, begleitet vom jüdischen Totengebet, das die Namen der Vernichtungslager aufzählt. Bei dem Simulationsfilm zur Rekonstruktion der Wiesbadener Synagoge findet man eine beeindruckende Überblendung des Innenraums mit der Nutzung am Standort, einer vielbefahrene Hochstraße. Auch bei der Computer-Rekonstruktion der Synagoge Bad Kissingen findet man im Film eine solche Realbildüberblendung (Abb. S. 356). David Kessler von der Jüdischen Gemeinde Mannheim beschreibt ein weiteres Beispiel (Abb. S. 352): „Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür ist in dem Film zur Computer-Rekonstruktion der Mannheimer Synagoge an der Stelle zu finden, als der prachtvolle Innenraum mit Blick auf den Aron Ha Kodesch plötzlich verblasst und sich diese Ruinenwand aufbaut, die nach der Zerstörung der Synagoge stehen geblieben ist. Für eine Sekunde sehen Sie in dem Foto der Ruine noch den roten Toravorhang. Das können Sie mit keinem anderen Mittel zeigen.“503

501 Siehe Anhang, Interviews, S. 579. 502 Siehe Anhang, Interviews, S. 585. 503 Siehe Anhang, Interviews, S. 588.

342 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen In allen Filmen aus Darmstadt werden die Zuschauer mit dem Schicksal der jüdischen Bevölkerung konfrontiert. Die Zahl der vor der NS-Zeit in den jeweiligen Städten lebenden Juden wird mit der Zahl der nach 1945 und der heute noch bzw. wieder ansässigen Juden verglichen. So weit bekannt, wird angegeben, wieviele jüdische Bürger sich rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten und wieviele ermordet worden sind. Zu den dramaturgischen Möglichkeiten einer Emotionalisierung in Filmen zählt auch die Möglichkeit, Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen. In Filmen der TU Darmstadt und der Architectura Virtualis berichten sie über ihre Ausgrenzung und Verfolgung in der NS-Zeit und ihre persönlichen Erlebnisse in den zerstörten Gotteshäusern. Im Film zur Synagoge Mutterstadt sieht man einen Zeitzeugen, der vor einem Computer sitzt. Auf dem Bildschirm ist der Innenraum der Synagoge zu sehen. Während des Interviews deutet er mit dem Finger auf den Bildschirm und erzählt, dass er dort mit seinem Vater und Großvater gesessen hat (Abb. S. 354). Andere Zeitzeugen betonen zu den Computerbildern, dass ihre kindheitlichen Erlebnisse wieder in Erinnerung kommen. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Nürnberg führt tief bewegt aus, dass er nicht gedacht hätte, die Nürnberger Synagoge noch einmal wiederzusehen, wenn auch im Computer. Zu der Synagoge Darmstadt sind Filmszenen festgehalten, in denen Asher Wasserteil die Farbgebung der Synagoge in seiner Jerusalemer Wohnung erläutert. Im Film sieht man, wie Änderungen der Farbgebung der Synagoge gemeinsam am Computer umgesetzt werden. Zuvor nennt er die Farbe eines Schildes am städtischen Schwimmbad mit der Aufschrift: „Hunde und Juden nicht erwünscht“. Zusätzlich zu dem Film mit der Visualisierung der zerstörten Synagoge befindet sich auf der DVD ein 30-minutiger Ausschnitt aus dem Interview mit Asher Wasserteil, in dem er von seiner Kindheit in Darmstadt, seinen Erinnerungen an die NS-Zeit und seiner Rettung aus Nazi-Deutschland berichtet. Die DVD wurde im Auftrag der Stadt Darmstadt an alle Darmstädter Schulen weitergegeben. Diese Einbindungen und Erzählungen der Zeitzeugen schaffen eine Verbindung zu der Zeit, als die Synagogen noch standen, und erzeugen bei Rezipienten eine eindringliche Berührtheit. Diese Eindringlichkeit ist mit den traditionellen Rekonstruktionsformen Zeichnung und Modell nicht zu leisten. Der Fähigkeit zur Emotionalisierung durch Computer-Rekonstruktionen steht so auf der Seite haptischer Modelle eine distanziertere Wirkung gegenüber. Dass gerade diese Distanz, dieser verkleinerte Maßstab, auch als ein Vorteil im Museumseinsatz gesehen werden kann, weil nicht suggeriert wird, die Gebäude gebe es noch, soll nicht unerwähnt bleiben. Chana Schütz zum Einsatz der Braunschweiger Holzmodelle im Centrum Judaicum:

Resümee – Ausgleich von Defiziten, Potentiale und Grenzen 343 „Wir haben eine Ausstellung in einem Haus, das zerstört ist. Aus diesem Grunde haben wir uns entschieden, zu einer traditionelleren Methode zu greifen, abgesehen davon, dass es ein Glücksfall ist, dass es diese Modelle in dieser Zahl und in dieser Qualität überhaupt gibt. Bei diesen Modellen wird keiner sagen, das sind wirklich existierende Gebäude, sondern es sind eben Modelle. Sie suggerieren nicht, dass es sie noch gibt und dass man noch durch sie durchlaufen kann. Das war auch der Grund, dass wir nicht nur die Modelle zeigen, sondern sie sowohl den tatsächlichen Bildern gegenüberstellen als auch den Fotografien der verlassenen Orte und einer Projektion der Zerstörung dieses Hauses. Wichtig für uns ist, dass die Zerstörung vor 65 Jahren, die diese ganze Architektur zerstört hat, immer bewusst ist.“504

Dennoch überzeugt die Position aus Berlin nicht, denn die Beispiele der Computer-Rekonstruktionen aus Darmstadt oder Wiesbaden haben deutlich gemacht, dass „Virtualität“ und „Thematisierung der Zerstörung“ sich keineswegs widersprechen, im Gegenteil, immer integraler Bestandteil der Veröffentlichungen waren. Neben einer emotionalen „Ergriffenheit“ sind noch andere Momente bedeutsam, die bei Computer-Rekonstruktionen eine größere Involviertheit der Betrachter im Vergleich zu traditionellen Rekonstruktionsformen hervorrufen können. Georg Heuberger führt die zeitliche Komponente und eine Identifikationsmöglichkeit an. Er spricht davon, dass man in der Computer-Rekonstruktion sich „in den Raum hineinbegeben kann und damit zu einem Teil wird der Menschen, die in dem Raum saßen und gebetet haben. Das verstärkt unter Umständen eine Identifikationsmöglichkeit. Dadurch, dass man längere Zeit diesen Innenraum im Film wahrnimmt, kann man sich mehr damit identifizieren als vergleichsweise bei der Betrachtung eines Innenraumfotos, das man vielleicht nur 10, 15 Sekunden betrachtet.“505

Im Gegensatz zu anderen Computer-Rekonstruktionen erfolgte bei den Synagogen keine Umsetzung als Echtzeitmodelle. Die Potentiale digitaler Modelle hinsichtlich Interaktivität kamen bisher nicht zur Anwendung – sieht man von der Quick-Time-VR-Anwendung zur Synagoge Plauen im Jüdischen Museum Berlin ab. Präsentiert werden Bilder und Filme. Hier sind sicher die Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft – gerade auch in Hinsicht auf interaktive Modelle, die im Internet zu begehen sind. Auch technisch aufwendige, immersive Präsentationen wurden nicht umgesetzt, so dass hieraus keine weiteren Erkenntnisse bezüglich des Aspekts 504 Siehe Anhang, Interviews, S. 575. 505 Siehe Anhang, Interviews, S. 536.

344 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen der Emotionalisierung gewonnen werden können. Lediglich die große Beliebtheit der 3D-Stereo-Betrachter mit den computergenerierten Simulationsbildern, die in den Ausstellungen in Frankfurt, Bonn und Tel Aviv Besucher faszinierten und die einen immersiven Charakter aufwiesen, kann angeführt werden. Cilly Kugelmann, damals Mitarbeiterin im Jüdischen Museum Frankfurt: „Die 3D-Viewer mit den stereoskopischen Bildern von den Synagogen fand ich sehr interessant. Die wirkten anders als die Filme, die wir hier in Berlin zeigen [...] Besuchern bot diese Art der Installation so etwas wie einen Blick durchs Schlüsselloch – was sehr effektiv ist und animierend wirkt, weil man eine Bewegung in Richtung Gerät machen muss.“506

Die bisherigen Ausführungen legen es nahe, dass die 3D-Computer-Rekonstruktionen und ihre Präsentation gegenüber haptischen Modellen ein höheres Maß an Emotionalisierung erzeugen können und sie vielleicht auch deshalb eine so große Öffentlichkeit erreichen konnten. Dies empirisch zu untersuchen, wäre sicher aufschlussreich, kann aber im Rahmen dieser Studie nicht verfolgt werden und bleibt der weiteren Forschung vorbehalten.

4.1.3.3 Medienattraktivität – Reichweite – Diskurspotential Die Attraktivität von 3D-Computer-Rekonstruktionen als zeitgemäßes Mittel der Architekturnachbildung und die Möglichkeit der farbigen, dreidimensionalen Darstellung des Innenraums sind in der Lage, ein weiteres Defizit der traditionellen Erinnerungsformen – das der mangelnden Öffentlichkeit – zu überwinden. Im dritten Kapitel wurde bereits auf die größere Medienattraktivität von Computer-Rekonstruktionen hingewiesen. Bei dem Thema Synagogen ist das in einem hohen Maße festzustellen. Die Computer-Rekonstruktionen haben neue Bedingungen hervorgerufen, um dem Thema Synagogen eine Öffentlichkeit zu verschaffen. Wie die Bestandsaufnahme zeigte, lösten die Computer-Rekonstruktionen aus Darmstadt ein enormes Medienecho aus, das von dem vergleichbaren Projekt mit haptischen Modellen aus Braunschweig nicht erreicht wurde. Dies zeigten der wesentlich größere Umfang und die Internationalität der Berichterstattung in Fernsehen und Printmedien zu den Computer-Rekonstruktionen. Sie haben eine Bewusstmachung über die einstige

506 Siehe Anhang, Interviews, S. 571.

Resümee – Ausgleich von Defiziten, Potentiale und Grenzen 345

Bedeutung der Synagogen erzeugt, die es vorher nicht gab und die mit traditionellen Mitteln bis dato nicht erzeugt wurde. So konnten wesentlich mehr Menschen erreicht werden als durch traditionelle Rekonstruktionsformen. Salomon Korn hierzu: „Das Projekt hat zum ersten Mal für viele Menschen visualisiert, was an Substanz verloren gegangen ist. Man kann von den alten Schwarz-Weiß-Fotos, die zum Teil nur rudimentär vorhanden sind, kaum erkennen, um welch großartige Gebäude es sich hier handelte, wobei man über den architektonischen Wert aus der jeweiligen Zeit heraus natürlich streiten kann. Aber unbestritten ist, dass es sich hier um einen geschichtlichen Wert handelt, den man nicht unterschätzen darf. Damit wurde vielen Menschen zum ersten Mal bildlich gezeigt, was substantiell verloren gegangen ist in der Stadtgestalt, aber auch im Erbe der deutschen Baugeschichte und der deutschen Geschichte überhaupt.“507

Die Projekte aus Braunschweig und Darmstadt haben eine vergleichbare Intention, einen vergleichbaren universitären Hintergrund und ein vergleichbares Engagement der Beteiligten. Dass bei dem Darmstädter Projekt eine solche Medienattraktivität zu erzielen war, bestätigen andere Erfahrungen, nämlich, dass 3D-Computer-Rekonstruktionen im Vergleich zu der traditionellen Rekonstruktionsform Modell ein größeres Potential für die öffentliche Verbreitung besitzen. Allerdings darf nicht die Besonderheit des Themas außer Acht gelassen werden. Denn die Verknüpfung zu dem wohl wichtigsten und viel beachteten Thema in der deutschen Erinnerungskultur, der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, schaffte die Basis für eine solche Verbreitung. Für den Bereich des Fernsehens sind die bewegten Bilder zu nennen, die eine Computer-Simulation enorm mediengerecht machen.

4.1.3.4 Erstellungs- und Präsentationsaufwand Im letzten Kapitel deutete sich bereits an, dass sowohl bei 3D-ComputerRekonstruktionen als auch bei traditionellen Modellen die Erstellungskosten in erster Linie durch den Detaillierungsgrad der Rekonstruktion und den damit verbundenen Arbeitsaufwand bestimmt werden. Kostengünstiger können Rekonstruktionen im universitären Kontext erstellt werden. Anhand des konkreten Beispiels der Synagogen wurden in der Bestandsaufnahme Kosten sowohl für traditionelle als auch für digitale Modelle ge-

507 Siehe Anhang, Interviews, S. 592-593.

346 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen nannt, die im Folgenden bewertet werden sollen. Als Ausgangspunkt hierfür sollen die 3D-Computer-Rekonstruktionen der Synagogen Nürnberg (20.000 Euro) und Mannheim (47.000 Euro) dienen. Sie weisen in etwa einen gleichen Detaillierungsgrad auf, beide beinhalten die Rekonstruktion des Außen- und des Innenraums einschließlich der Darstellung der farbigen Ornamentik. Der Kostenunterschied erklärt sich dadurch, dass bei der Nürnberger Synagoge Studierende im Rahmen eines universitären Seminars und damit unentgeltlich die Hauptarbeit bei der Erstellung des Modells geleistet haben. Die entstandenen Kosten setzen sich so lediglich aus Geldern für Hardware und für den Einsatz wissenschaftlicher Hilfskräfte zusammen, welche die Studierenden geschult und Spezialaufgaben übernommen hatten. Der Einsatz der Professoren und wissenschaftlichen Mitarbeiter war über die öffentlichen Haushalte finanziert worden. Im Gegensatz zu diesem universitären Rahmen mussten bei der Mannheimer Synagoge für sämtliche Arbeitsleistungen Gelder bereitstehen. Bei den traditionellen Modellen ist eine ähnliche Situation zu verzeichnen. Bei den Braunschweiger Holzmodellen, die Studierende im Rahmen der universitären Lehre erstellten, mussten nur die Materialkosten finanziert werden. Für das Modell der Synagoge Seesen fielen beispielsweise rund 300 Euro an, die das Fachgebiet Baugeschichte übernahm. Auch die Anfertigung der Synagoge Seesen für das Jüdische Museum Berlin, die durch Studenten aus Braunschweig gegen ein Entgelt von 8.300 Euro erfolgte, war günstiger als vergleichbare Arbeiten aus professionellen Modellbauwerkstätten, wie bei den Modellen zu Frankfurt (15.000 Euro) und Berlin (42.000 Euro) zu sehen war. Prinzipiell müssen bei dem Vergleich der Kosten die Mengen der dargebotenen Information berücksichtigt werden. Bei den haptischen Modellen Frankfurter Synagogen wird nur der Außenraum, bei der Synagoge Berlin Oranienburger Straße auch der Innenraum gezeigt. Diese Tatsache und die Größe des Originalbaus führen bei ähnlicher Oberflächendarstellung beim Berliner Modell zu einem fast dreifach höheren Preis. Diese Summe liegt in etwa in dem Bereich für die Computer-Rekonstruktion der Synagoge Mannheim, die aber im Gegensatz zu dem Berliner Architekturmodell auch die farbige Ornamentik zeigt. Traditionelle Modelle, die im Innenbereich detailliert gearbeitet sind und auch die Farbigkeit mit aufnehmen, wie beispielhaft die Modelle aus dem Diaspora-Museum, erreichen Dimensionen von 100.000 Euro und kosten somit doppelt so viel wie die Computer-Rekonstruktion der Synagoge Mannheim. Auch das Beispiel Synagogen zeigt demnach, dass Computer-Rekonstruktionen nicht teurer im Erstellungsaufwand sind als traditionelle Modelle. Im Gegenteil, wenn der Innenraum detailliert in seiner Farbigkeit gezeigt werden soll, liegen die traditionellen Modelle im Preis höher – vo-

Resümee – Ausgleich von Defiziten, Potentiale und Grenzen 347

rausgesetzt man geht von einer professionellen Erstellung außerhalb der Hochschulen aus. Im dritten Kapitel wurde auf den erhöhten Präsentationsaufwand digitaler Rekonstruktionen im Vergleich zu haptischen Modellen hingewiesen. Dies ist auch bei den Synagogen zu verzeichnen. Mit der Ausstellung „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ wurde Neuland betreten, da hier zum ersten Mal Computer-Rekonstruktionen selbst im Mittelpunkt einer Ausstellung standen. Es überrascht wohl nicht, dass dabei ein Mehr an technischem Equipment im Vergleich zu traditionellen Ausstellungsformen zum Einsatz kam. Eine solche Ausstellung muss auch mehr sein als das bloße Aufstellen von Bildschirmen und muss wie jede gute Ausstellung ein mit dem Inhalt korrespondierendes Erscheinungsbild aufweisen. Dies und der Umstand, dass die Wanderausstellung in Anlehnung an das Bonner Vorbild ein eigenes Designkonzept mit speziell für die Ausstellung gefertigten Wand-, Präsentations- und Fußbodenelementen sowie einem daraufhin abgestimmten Mobiliar umfasst, führte für diese, für das Ausland bestimmte Ausstellung, zu einem Kostenrahmen von ca. 400.000 Euro. Insbesondere an den Kosten ist es bis jetzt gescheitert, dass die Ausstellung in einer neuen, mobilen Form in Deutschland gezeigt werden konnte – trotz der Anfrage vieler Institutionen. Dies ist ein deutlicher Nachteil. Die Braunschweiger Ausstellung mit ihren haptischen Modellen war inzwischen an mehreren Orten zu sehen. Es scheint, dass diese traditionelle Form der Rekonstruktion leichter der Öffentlichkeit zu präsentieren ist, als die für Bonn entwickelte Ausstellung mit digitalen Modellen. Die Kosten sind wesentlich geringer, die Ausstellungsfläche kann in ihrer Größe flexibler gestaltet werden und damit sind Ausstellungsorte leichter zu realisieren. Am Thema Erstellungs- und Präsentationsaufwand lässt sich mit dem Beispiel der Rekonstruktion der mittelalterlichen Synagoge und des jüdischen Viertels zu Worms ein weiterer Aspekt verdeutlichen, der im dritten Kapitel im Kontext von Ausstellungen angerissen wurde: Museen sind immer bemüht, ihren Besuchern etwas zu bieten, das diese sonst nicht sehen oder erleben können. Insofern bieten neue, ausgefallene Präsentationstechniken einen besonderen Reiz. Die Gefahr besteht, dass zu großes Gewicht auf die Präsentationstechnik gelegt wird und, falls das Außergewöhnliche der Präsentationsform nicht den Erwartungen entspricht oder veraltet zu sein scheint, das gesamte Exponat in Frage steht. Die Installation „Virtual Worms“ ist ein solches Beispiel.508 Nigel Cox und 508 Siehe Abschnitt 4.1.2, Sonstige 3D-Computer-Rekonstruktionen von Synagogen, S. 324.

348 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen Cilly Kugelmann vom Jüdischen Museum in Berlin sprechen davon, dass sich die Erwartungen des Museums an das Exponat nicht erfüllt haben. Nigel Cox: “I think we hoped to gain two things. We hoped to gain an impressive multimedia presence in the exhibition. It would make the museum seem very modern and new, and, secondly, I think we hoped to use this technology to show something that was missing – something that was gone – something of which there are no photographs of and almost maybe no drawings. […] I think that to impress our visitors with mul­ timedia, one always has to remember that out in the world these Gameboys use very, very dynamic computer graphics and computer presentations and that with anything that is on a computer, you are really competing with a very sharp cutting edge right there. You’re in a field that is extremely competitive and compared to these things, the presentations that we made were not so impressive. I think that this is the problem. I don’t mean that they are not impressive in themselves but compared to other things.”509

Cilly Kugelmann: „Worms hatte ich mir größer und imposanter vorgestellt. Diese Präsentation ist für die dramatische Eingangsinszenierung, die wir dieser Installation gegeben haben, vom Format zu bescheiden. [...] Es sollte technisch etwas völlig Neues sein, etwas, dem man ansieht, dass es innovativ ist. Am Ende ist es mehr ein konventioneller Film geworden. Als Besucher weiß man nicht, was da alles an neuer Technik drin­ steckt. Es war sicher von der Programmierung ein sehr aufwendiges Projekt gewe­ sen, aber vom Ergebnis ist es ein Film. [...] Meine Erfahrung nach zwei Jahren hier: Was alle unterschätzen, ist, dass eine inhaltlich und formal gelungene Präsenta­ tion dem Arbeitsaufwand einer großen Ausstellung gleichkommt. [...] Wenn man wirklich beabsichtigt, Worms in seiner Gestalt im zwölften Jahrhundert entstehen zu lassen, nicht nur als Stadt mit ihren Straßen und Häusern, sondern auch mit his­ torischen Ereignissen, dann braucht man viel mehr Einzelinformationen, um das interessant zu machen. Man braucht viel präzises Datenmaterial für die visuelle Umsetzung. [...] Man braucht einen ausgezeichneten Drehbuchautor, der die Infor­ mationen in eine Dramaturgie übersetzt. Ich würde das wirklich vergleichen wollen mit einem Film wie ‚Jurassic Park‘, wo sicher ein Heer von Naturwissenschaftlern, Vor- und Frühgeschichtlern, ein Team von mehren hundert Leuten beteiligt war, um das am Ende verblüffende Ergebnis zu erzielen. Um das überzeugend zu machen, muss so viel investiert werden in Recherche, in Geld und Personal, dass sich das keine Kultureinrichtung leisten kann. Jeder Kompromiss, verursacht durch die ge­

509 Siehe Anhang, Interviews, S. 556.

Resümee – Ausgleich von Defiziten, Potentiale und Grenzen 349 ringen Mittel, bringt eine ungeheure Enttäuschung mit sich, weil die Erwartungen sehr hoch sind.“510

Die Erfahrungen aus Berlin stehen insgesamt für eine Herausforderung bei Computer-Simulationen im kulturellen Bereich. Rezipienten ist durch aufwendige Kino- und Fernsehproduktionen bewusst, dass mit ComputerSimulationen eine Realitätsnähe zu erzielen ist, in der Simulation und real Abgebildetes nicht mehr zu unterscheiden sind. Dass, wie von Cilly Kugelmann angesprochen, hierfür auch eine enorme Recherchearbeit geleistet werden muss, dass im kulturellen Bereich auch nicht annähernd solche Gelder wie in der Filmindustrie zu Verfügung stehen, sind Tatsachen, die vom Publikum bei einer Beurteilung nicht mit einbezogen werden bzw. aufgrund fehlender Informationen nicht einbezogen werden können. „Schöne“ Bilder beeindrucken alleine nicht mehr, zumal sie sich mit den aufwendigen Produktionen aus Film und Fernsehen vergleichen lassen müssen. Es wird in Zukunft immer wichtiger werden, dass Simulationen auf sehr guten Drehbüchern basieren und mit hervorragenden Sprechertexten unterlegt sind. Erst wenn der Inhalt stimmt – und dieser wird durch den Begleittext erläutert – können die Bilder bestens zur Geltung kommen. Mit interessanter Präsentationstechnik kann man nicht überzeugend inhaltliche oder dramaturgische Schwächen überspielen. Man kann aber inhaltlich gute Simulationen noch spannender gestalten und in diesem Sinne kann man gespannt sein auf die Interfaces der Zukunft.

4.1.3.5 Erhaltungsaufwand Im ersten Kapitel wurden bereits die Probleme bei der Erhaltung von Datensätzen bei Computermodellen angesprochen. Die eigenen Erfahrungen am Beispiel der Synagogen bestätigen diese Problematiken und sollen am Beispiel der ersten Rekonstruktionen von Frankfurter Synagogen veranschaulicht werden. Die Rekonstruktionen entstanden 1995/96. Die eingesetzte Hard- und Software ist seit 1998 am Fachgebiet IKA nicht mehr in Verwendung. Die Software wird seit 1996 auch nicht mehr weiterentwickelt. Ob bei der Herstellerfirma noch Ansprechpartner beschäftigt sind, ist unklar. Das Betriebssystem der Rechner basierte auf Unix. Am Fachgebiet IKA wird dieses Betriebssystem nicht mehr verwendet und die aktuelle Mitarbeiterschaft ist mit diesem Betriebssystem nicht vertraut. Die originale Software-Hardware-Konstellation zum Erstellen der Modell-

510 Siehe Anhang, Interviews, S. 571-573.

350 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen daten könnte zwar wieder in Betrieb genommen werden, allerdings nur unter der Mitwirkung früherer Mitarbeiter, die noch über entsprechende Kenntnisse verfügen. Möchte man die Informationen in eine aktuellere und technisch leistungsfähigere Software übertragen, dann ist dies über eine DXF-Schnittstelle möglich. Dies könnte am Beispiel der Frankfurter Synagogen deswegen in Erwägung gezogen werden, da die damals benutzte Software nur eingeschränkt Oberflächentexturbelegungen und realistisch wirkende Lichtstimmungen erlaubte.511 Die Erfahrungen aus den Übertragungen anderer Datensätze lässt allerdings eine große Nachbearbeitungszeit vermuten, da lediglich die Geometriedaten in die neue Software mit übergeben werden. Oberflächen, Licht und Kamerafahrten müssen komplett neu erzeugt werden. Ob ein Berechnen neuer Bilder oder Kamerafahrten in der alten Software noch erfolgen kann, ist unklar. Die letzten im Computer erzeugten Bilder stammen aus dem Jahr 1996. Der Originaldatensatz und selbst die Originalhard- und -software sind noch vorhanden. Deren Einsatz ist aber mit derartigem Aufwand und Kosten verbunden, dass lediglich auf die schon vorliegenden Ergebnisse der Rekonstruktion in Form von digitalen Bildern ein sofortiger Zugriff existiert. Für diese in einem gängigen Dateiformat vorliegenden Bilder gelten prinzipiell die gleichen Bedingungen der Speicherung und Erhaltung wie für andere digitale Bilder auch – deren Erhaltung stellt keine großen Anforderungen. Die Computer-Rekonstruktionen der Frankfurter Synagogen teilen damit das Schicksal anderer Datensätze, die aufgrund des hohen Aufwands nicht aktualisiert werden und die nicht wie die Daten von Banken und Behörden ständig verfügbar sein müssen. So bleibt die Möglichkeit der Aktualisierung trotz Digitalität in diesem Fall ein kaum einlösbares Versprechen. Dies hat auch einen Vorteil, bleiben die Ergebnisse doch ein Kind ihrer Zeit und sind in diesem Sinne auch kulturhistorisch einzuordnen.

511 Das Jüdische Museum war an einer solchen Aktualisierung der Frankfurter Synagogen interessiert. Aufgrund der hohen Kosten wurde dieses Vorhaben bis jetzt nicht in Angriff genommen.

Resümee – Ausgleich von Defiziten, Potentiale und Grenzen 351

Installation am Synagogenplatz Kaiserslautern Rekonstruierter Innenraum beim Durchschauen

Installation am Synagogenplatz Kaiserslautern „Fernrohr“ mit Bild der 3D-Computer-Rekonstruktion

352 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen

Ausschnitte aus dem Film zur Computer-Rekonstruktion der Mannheimer Hauptsynagoge

Resümee – Ausgleich von Defiziten, Potentiale und Grenzen 353

Ausschnitte aus dem Film zur Computer-Rekonstruktion der mittelalterlichen Synagoge Speyer

354 Synagogen – Erinnerung mittels 3D-Computer-Rekonstruktionen

Synagoge Mutterstadt Zeitzeuge

Synagoge Mutterstadt 3D-Computer-Rekonstruktion – Innenraum

Resümee – Ausgleich von Defiziten, Potentiale und Grenzen 355

Die Frankfurter Synagoge von 1711 3D-Computer-Rekonstruktion – Tageslichtbeleuchtung

Die Frankfurter Synagoge von 1711 3D-Computer-Rekonstruktion – festliche Beleuchtung

356 Synagogen in Deutschland

Synagoge Bad Kissingen Realbildüberblendung – 3D-Computer-Rekonstruktion

Erinnerung im Internet 357

4.2 Die Erinnerung im Internet Die erste Untersuchung des Internets zum Thema „Erinnerung an die zerstörten Synagogen“ fand im Jahr 2001 statt. Sie bildete die Grundlage für die nachfolgende Bestandsaufnahme. Die ernüchternden Ergebnisse dieser Untersuchung in Bezug auf die Umsetzung der Potentiale des Mediums führten auch zu der Entwicklung einer eigenen Web-Anwendung, dem „Synagogen-Internet-Archiv“, das als Experiment versucht, diese Potentiale zu verwirklichen und Inhalt des nächsten Kapitels ist. Gleichzeitig mit der Entwicklung des Synagogen-Internet-Archivs hat sich das Angebot im Netz zum Thema Synagogen ausgeweitet. Durch die schnelle Publikationsmöglichkeit im WWW sind Grenzen der Aktualität von Internet-Analysen systemimmanent. Es erschien deswegen sinnvoll, 2004 die Suchanfragen und Recherchen zu aktualisieren und diesen aktualisierten Stand der Untersuchungen als Grundlage für eine Bestandsaufnahme zu nehmen, die folgende Fragestellungen umfasst: 1. Welche typologische Einteilung der Websites kann bezogen auf Betreiber und Zielsetzungen erfolgen? 2. Inwieweit kommen die neuen Möglichkeiten der Rezeption – Hypertextualität, neue Formen der Kommunikation, Interaktivität und Multimedialität – bei den verschiedenen Webpräsentationen zum Thema Synagogen zur Anwendung? 3. Wie sind Informationen zu Synagogen zu finden, welche Ergebnisse liefern Suchmaschinen? Wie sind die beiden universitären Projekte aus Braunschweig und Darmstadt im Internet vertreten? 4. Welche Zugriffsraten sind bei Websites zum Thema Synagogen festzustellen? Die Punkte 1 und 2 knüpfen an die Untersuchungen des dritten Kapitels zum Thema Internet an und sollen die dort gewonnenen Einschätzungen am konkreten Beispiel überprüfen. Insgesamt wurden 134 Websites, die an Synagogen erinnern, in einer Datenbank erfasst und ausgewertet. Die Erkenntnisse über die Existenz der einzelnen Internetauftritte basieren sowohl auf eigenen Recherchen als auch auf den Hinweisen aus dem „Synagogen-Internet-Archiv“. Diesem sind 60 Links zu unterschiedlichen Webauftritten entnommen worden. Die Verfolgung der Linkangebote auf bereits besuchten Websites und die Recherche über die Suchmaschine Google führten zu weiteren 74 Links. Bei der Suche in Google wurden

358 Synagogen – Erinnerung im Internet unter den folgenden Suchbegriffen die ersten 100 Links nach relevanten Websites zum Thema Synagoge / Synagogen untersucht: [Synagoge], [Synagoge + Förderverein], [Synagoge + Initiative], [Synagoge + Arbeitskreis], [Synagogen], [Synagogen + Deutschland], [Synagogen + Baugeschichte], [Synagogen + Kunstgeschichte]. Zusätzlich erfolgte eine Abfrage über die Suchbegriffe [Synagoge + „Bundesland“], bei der für alle 16 Bundesländer die ersten 20 Treffer berücksichtigt wurden.

4.2.1 Typlogische Übersicht – Betreiber und Zielsetzungen Analog zum dritten Kapitel folgt zunächst eine typologische Übersicht entlang der Frage nach den Betreibern, deren Zielsetzungen und Selbstverständnissen. Die Internetauftritte beim Thema Synagogen können unterschieden werden in vier Kategorien: – aktuelle Nutzer einer ehemaligen Synagoge, die ihre Aktivitäten be-

kannt geben und an die Geschichte des Gebäudes erinnern; – Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie freie Initiativen, die Er-

gebnisse einer Beschäftigung mit den Synagogen und der jüdischen Geschichte vor Ort präsentieren; – Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie freie Initiativen, die die

Ergebnisse einer Beschäftigung mit einer Auswahl deutscher Synagogen präsentieren; – Betreiber eines über das Thema Synagoge hinausgehenden Internet­

auftritts, die Informationen zu einer oder mehreren Synagogen integriert haben.

4.2.1.1 Aktuelle Nutzer Unter den heutigen Nutzern einer ehemaligen Synagoge sind insbesondere diejenigen stark an einer Präsenz im Internet interessiert, die eine öffentliche, kulturelle Nutzung in einer ehemaligen Synagoge betreiben und ihre Aktivitäten bekannt geben möchten. Hier handelt es sich in erster Linie um Bürgerinitiativen und Kommunen, die Gedenk- und Begegnungsstätten sowie Museen unterhalten. Bei den 134 erfassten Internetauftritten stellen sie mit 27 Vertretern die zahlenmäßig größte Gruppe dar. In der Regel beschreiben diese Websites die Geschichte der Synagoge, die

Typologische Übersicht – Betreiber und Zielsetzungen 359

Geschichte des Vereins bzw. der betreibenden Institution und deren Aktivitäten und Zielsetzungen. Beispielhaft für ein informatives Angebot, das viele Bilder, aber auch Verweise auf andere Internetauftritte zum Thema Synagogen, Holocaust und Judentum integriert, sind die Websites der Fördervereine zu den Synagogen Pfungstadt, Röbel, Roth und Vöhl.512 Als gelungenes Beispiel für die Internetpräsenz eines Museums sei hier die „Alte Synagoge Essen – Historisch-Politisches Dokumentationsforum und Gedenkstätte der Stadt Essen“513 genannt, die ebenfalls ausführlich die Geschichte der Synagoge behandelt (Abb. S. 368 – 369). Neben diesen kulturellen Nutzungen findet man auch Internetauftritte von jüdischen Gemeinden, die in der ehemaligen Synagoge wieder Gottesdienste abhalten. Der Schwerpunkt bei diesen Websites liegt allerdings auf den Hinweisen zum aktuellen Gemeindeleben. Beispielhaft sei auf den Internetauftritt der „Synagogen Gemeinde Köln“514 verwiesen. Eine Internetpräsentation von Bewohnern oder Besitzern einer ehemaligen Synagoge mit heutiger Wohnnutzung ist nicht bekannt, für eine gewerbliche Nutzung kann auf zwei Beispiele verwiesen werden. Der Betreiber eines Optikerfachgeschäftes in Boppard, in dem sich früher die Synagoge befand, geht in seinem Webauftritt ausführlich auf die Geschichte des Hauses ein.515 Eine in der ehemaligen Synagoge von Waldshut-Tiengen ansässige Multimediafirma hat eine Website ins Netz gestellt, die Informationen zur früheren sakralen Nutzung bereit hält.516

4.2.1.2 Lokale Institutionen und Initiativen – Synagogen vor Ort In diese Kategorie fallen Websites, denen eine Beschäftigung mit den Synagogen bzw. der jüdischen Geschichte vor Ort vorausgegangen ist. Ziel dieser Beschäftigung war es in der Regel, die lokale jüdische Lebenswelt 512 http://www.synagoge-pfungstadt.de, http://www.land-und-leute-ev.de (Synagoge Röbel), http://www.landsynagoge-roth.de, http://www.synagoge-voehl. de. Alle Links wurden am 05.06.2004 zuletzt abgefragt. 513 http://www.essen.de/kultur/synagoge/, vom 06.06.2004. Zur Nutzung ist auf der Startseite zu lesen: „In der ALTEN SYNAGOGE sind Geschichte und Gegenwart des Ortes eng miteinander verwoben. Die heutige – städtische – Einrichtung ALTE SYNAGOGE wurde zunächst als Gedenkstätte und politischhistorisches Dokumentationsforum eingerichtet. Sie hat sich jedoch stetig und immer stärker zu einem kulturellen Begegnungszentrum weiterentwickelt. Dies ist das Ergebnis eines langen, keineswegs gradlinigen Lernprozesses, der nach dem Ende des NS-Systems 1945 zunächst eher mühevoll eingeleitet wurde.“ 514 http://www.sgk.de/, vom 06.06.2004. 515 http://optiker-holz.de, vom 06.06.2004. 516 http://synagoge.breyermedia.de, vom 06.06.2004.

360 Synagogen – Erinnerung im Internet und deren architektonischen Ausdruck in Erinnerung zu rufen. Hier sind sowohl Projekte von Bildungseinrichtungen wie Schulen und Hochschulen als auch Projekte von freien Initiativen, beispielsweise Geschichtsvereine, zu nennen, deren Ergebnisse im Internet veröffentlicht wurden. Bei noch erhaltener Bausubstanz von Synagogen führten diese lokalen Initiativen öfters zu einer Forderung nach einem Erhalt und einer würdigen, kulturellen Nutzung der ehemaligen Gotteshäuser. Das Internet dient in diesen Fällen auch dazu, dieser Forderung ein öffentliches Forum zu geben. Beispielhaft für Schulen sind Projekte des Progymnasium in Bad Buchau517 oder der Stephani-Volksschule Gunzenhausen518 anzuführen. Jeweils haben Schüler das jüdische Leben am Ort einschließlich der Geschichte der Synagoge erforscht und die Ergebnisse ins Internet gestellt. (Abb. S. 370) Als Beispiel für die Arbeit einer Hochschule kann die virtuelle Rekonstruktion der Synagoge Wiesbaden gelten. Unter www.memo38.de sind die Ergebnisse der studentischen Arbeiten an der Rekonstruktion der Synagoge Wiesbaden Michelsberg, die an der Fachhochschule Wiesbaden entstanden sind, abzurufen. Die Internetauftritte von Bürgerinitiativen in Herne und Wanne-Eickel können als Beispiele für Websites von freien Initiativen mit lokalem Ansatz herangezogen werden. Neben Informationen zu den zerstörten Synagogen präsentieren die Betreiber auch die Ergebnisse der selbsterstellten Computer-Rekonstruktionen der Synagogen aus Herne und Wanne-Eickel.519 Beispielhaft für einen lokalen „Geschichtsverein“ ist der Internetauftritt des Arbeitskreises „Juden in Emden“ e.V., der seine Aufgabe darin sieht, „die Geschichte der Jüdischen Gemeinde Emdens zu erforschen und pädagogisch zu vermitteln“520. Bilder und Informationen zu der Synagoge sind dabei integriert. Ein im Umfang beispielloser Internetauftritt existiert zur Jüdischen Gemeinde Mutterstadt. Die örtliche Initiative bietet umfangreiche Hintergrundinformationen zur Geschichte der jüdischen Gemeinde, zur Synagoge, zur jüdischen Kultur, zur NS-Zeit in Mutterstadt und zur Erinnerungskultur nach 1980 an. Filme, welche die 3D-Computer-Rekonstruktion der Synagoge beinhalten, können heruntergeladen werden.521 (Abb. S. 367) Als beispielhaften Webauftritt einer Einzelperson kann die Internetpräsentation „Juden in Groß-Gerau – Eine interaktive Spurensuche“522 genannt werden, welcher der Geschichte der 517 http://www.gymnasiumbadbuchau.de/geschichtsag/index.html, vom 06.06.2004. 518 http://www.gunnet.de/stephani/step_pix.htm, vom 06.06.2004. 519 http://www.synagogen.net, vom 06.09.2004. 520 http://www.emder-juden.org/Ziele/ziele.html, vom 06.09.2004. 521 http://www.judeninmutterstadt.org/, vom 06.02.2005. 522 http://www.erinnerung.org/gg/, vom 06.09.2004.

Typologische Übersicht – Betreiber und Zielsetzungen 361

zerstörten Synagoge einen großen Raum widmet und u.a. eine Fotomontage einer historischen Aufnahme der Synagoge in eine Fotografie von der heutigen Situation am Standort beinhaltet. (Abb. S. 367) Websites der Fördervereine zu den ehemaligen Synagogen Freren523, Heubach524, Kippenheim525 und Leutershausen526 seien stellvertretend für Initiativen genannt, die sich um den Erhalt bzw. um die angemessene Nutzung einer ehemaligen Synagoge bemüht haben bzw. bemühen und sowohl ihre Aktivitäten als auch die Geschichte des ehemaligen Gotteshauses informativ im Internet präsentieren. (Abb. S. 371 – 372)

4.2.1.3 Forschungsinstitutionen – Auswahl deutscher Synagogen Im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Gruppen von Websites, die einen lokalen Hintergrund haben, sind auch wenige Internetauftritte zu verzeichnen, die eine größere Zahl von Synagogen behandeln und die über die Darstellung einer lokalen Situation hinausgehen. In der Regel basieren diese Websites auf Forschungsprojekten, die eine topografische Auswahl von Synagogen, so zum Beispiel Synagogen eines Bundeslandes, als Grundlage haben. Zu unterscheiden sind dabei solche Websites, deren Ziel es ist, die Ergebnisse des Projektes der Öffentlichkeit über das Internet zur Verfügung zu stellen, und solche Internetauftritte, die nur das Projekt selbst präsentieren und höchstens in Ausschnitten Informationen im Netz veröffentlichen. Die Internetauftritte, die lediglich Forschungsprojekte vorstellen, ohne deren Ergebnisse zu dokumentieren, beziehen sich fast durchweg auf Vorhaben zu Buchpublikationen. Wie bereits im Kontext der Erinnerungsformen „Buch, Broschüre, Katalog“ beschrieben, haben diese Projekte die Intention, für einzelne Bundesländer umfassende Publikationen über jüdische Gemeinden und ihre Synagogen zu erstellen. Eine Veröffentlichung der Forschungsergebnisse in ihrer Gesamtheit im Internet ist nicht vorgesehen. Die Website zu der bereits erschienenen Publikation für Nordrhein-Westfalen listet beispielsweise alle im Buch vorkommenden Ortschaften auf.527 Zu dem Projekt „Niedersachsen / Bremen“528 können zusätzlich einzelne Buchbeiträge vorab gelesen werden. Die Websites zu

523 http://www.judentum-christentum.de/, vom 06.09.2004. 524 http://home.ngi.de/landruecken/SynagogeHeubach/index.htm, vom 06.09.2004. 525 http://www.ehemalige-synagoge-kippenheim.de/, vom 06.09.2004. 526 http://www.synagoge-leutershausen.de/, vom 06.09.2004. 527 http://sti1.uni-duisburg.de/publikationen/synagogen/index.xml, vom 05.08.2004. 528 www.unics.uni-hannover.de/hdb-synagogen-nds/, vom 05.08.2004.

362 Synagogen – Erinnerung im Internet den Publikationsvorhaben in Bayern529 und Baden-Württemberg530 beinhalten ebenfalls eine Auflistung der in die Bücher aufgenommenen Orte sowie einzelne Leseproben. Forschungsprojekte, die das Internet als Medium der Veröffentlichung in dem Sinne nutzen, dass Ergebnisse zu allen in den Projekten behandelten Synagogen abgebildet werden, sind die Internetauftritte „Alemannia Judaica“ von der „Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum“531, von „Synagogue Memorial“, Jerusalem532, vom Fachgebiet Baugeschichte der TU Braunschweig sowie die Internetpräsentationen zu Synagogen des Fachgebietes IKA der TU Darmstadt. „Alemannia Judaica“ Der im Jahre 2003 eingerichtete Internetauftritt „Alemannia Judaica“ bietet die Möglichkeit, einzelne Orte aus Deutschland (mit Schwerpunkt auf Baden-Württemberg), Frankreich, Österreich und der Schweiz aus einer Liste auszuwählen. Die Benutzer gelangen dann auf Seiten, auf denen die jeweilige Geschichte der Synagogen und Beträume in Text und mit einer größeren Anzahl von Bildern erläutert wird. Auch auf die heutige Situation an den ehemaligen Standorten wird eingegangen. Literaturhinweise und Links ergänzen das Angebot. Diese Internetpräsentation ist herausragend in diesem Bereich. Für kein anderes Bundesland existiert eine solch umfangreiche Darstellung. (Abb. S. 373) „Synagogue Memorial“ Auf der Website des „Synagogue Memorials“, Jerusalem, finden InternetBenutzer seit dem Jahre 2003 Text-Informationen zu über 2.800 Synagogen, die sich einst auf dem Gebiet des Deutschen Reichs in den Grenzen von 1938 befunden haben. Diese Informationen beziehen sich auf die Broschüre „List of Germany’s Synagogues of the 20th century“, die bereits vorgestellt wurde. Analog der Broschüre werden die Synagogen in Listen abgebildet und beinhalten die folgenden Informationen: Adresse, Größe der jüdischen Bevölkerung 1932, Existenz einer Jüdischen Schule, einer Mikwe, eines Friedhofs bzw. anderer jüdischer Einrichtungen. Über Buchstabenkürzel erhält man die Angabe, ob es sich um eine Synagoge oder um einen Betsaal gehandelt hat und was in der NS-Zeit mit dem Gebäude geschah. Ebenfalls, wie in der Broschüre, erfolgt die Auflistung

529 http://www.synagogenprojekt.de/, vom 05.08.2004. 530 http://www.blb-karlsruhe.de/synagogengedenkbuch-bw/, vom 05.09.2004. 531 http://www.alemannia-judaica.de, vom 05.06.2004. 532 http://www.ashkenazhouse.org/indexgerman.htm, vom 05.08.2004.

Typologische Übersicht – Betreiber und Zielsetzungen 363

der Synagogen nach topografischen Gesichtspunkten. So sind Listen zu allen 16 Bundesländern, zu Österreich und den verschiedenen ehemaligen Gebieten des Deutschen Reichs vorhanden, die heruntergeladen werden können. TU Braunschweig Auch die Forschungsarbeiten des Fachgebietes Baugeschichte der TU Braunschweig zu noch bestehenden jüdischen Sakralbauten sind im Internet vertreten. Das Angebot hält textliche Informationen zum Projekt sowie eine „vorläufige Liste der belegten Synagogen, Betsäle, Mikwen und Friedhofshallen“533 niedersächsischer Standorte bereit. Diese Liste beinhaltet den Namen der Ortschaft, die Art der jüdischen Einrichtung und die Angabe, ob das Objekt erhalten, umgebaut oder zerstört ist. Die bearbeiteten Ortschaften, zu denen angefertigten Zeichnungen vorliegen, sind besonders gekennzeichnet, Anzahl und Art der Zeichnungen werden genannt. In Form von schriftlichen Erläuterungen stellt das Fachgebiet Baugeschichte auch die weiteren Forschungsvorhaben zum Thema Synagogen und Informationen zu den bisherigen und den kommenden Ausstellungen auf der Website des Instituts vor.534 Die Fotografien und Zeichnungen, die im Rahmen der Bestandsaufnahmen an den Standorten ehemaliger Synagogen entstanden, die von Studierenden angefertigten Holzmodelle und das im Kontext der Ausstellung entstandene Anschauungsmaterial in Form von weiteren Modellen, Bauzeichnungen und Fotografien sind im Internet nicht vertreten. TU Darmstadt Die Computer-Rekonstruktionen aus Darmstadt sind seit 1996 im Internet vertreten. Zunächst wurden die Rekonstruktionen der Frankfurter Synagogen ins Netz gestellt. Den Besuchern werden Hintergrundinformationen und Simulationsbilder angeboten; Filme sind in kleiner Auflösung herunterladbar.535 Seit Eröffnung der Ausstellung „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ im Jahre 2000 existiert eine zusätzliche Website. Sie beinhaltet zu allen rekonstruierten Synagogen historische Fotos, erläuternde Texte sowie Simulationsbilder, welche die im Computer rekonstruierten Gotteshäuser von außen und innen veranschaulichen. Au-

533 http://www.ibsg.tu-bs.de/baugeschichte/le-syna.htm, vom 06.09.2004. 534 http://www.tu-bs.de/institute/ibsg/baugeschichte/, vom 12.09.2004. 535 http://www.cad.architektur.tu-darmstadt.de/architectura_virtualis/Juedische_ Sakralbauten/start.html vom 12.09.2004.

364 Synagogen – Erinnerung im Internet ßerdem verdeutlichen Bilder des Computermodells den Rekonstruktionsprozess. Der Aufbau dieser Website wurde den Bildschirmpräsentationen der Bonner Ausstellung nachempfunden. Anders als in Bonn, wo jede Synagoge auf einem eigenen Bildschirm präsentiert wurde, wählen bei der Internetversion die Besucher zunächst aus einer Liste, alphabetisch sortiert nach Ortsnamen, eine Synagoge aus. Danach entspricht Grafik und Navigation dem Vorbild aus der Bonner Ausstellung: Jede Synagoge besitzt die Menüpunkte Geschichte, Grundlagen, Modelling, Visualisierung Außen, Visualisierung Innen und Impressum, die jeweils bis zu 13 grafische Darstellungen beinhalten können. Beim Auswählen eines Menüpunktes wird das erste Bild angezeigt. Darunter erscheinen gleichzeitig Miniaturansichten von allen auszuwählenden Darstellungen dieser Rubrik. Beim Anklicken einer Miniaturansicht wird das entsprechende Bild groß dargestellt. Pro Synagoge können Besucher des Internetauftritts ca. 50 Bilder betrachten.

4.2.1.4 Institutionen und Initiativen – Informationen zu Synagogen in thematisch weiter gefassten Webauftritten Die Internetauftritte können hier differenziert werden in: – Kommunen, Landkreise und andere Institutionen, die Synagogen als

Sehenswürdigkeit oder Teil der eigenen Geschichte in einen lokaloder regionalorientierten Internetauftritt integriert haben; – Bildungsinstitutionen der Bundesländer, die Informationen zu Gedenk-

stätten anbieten; – Bürgerinitiativen und Einzelpersonen, die im Rahmen eines Webauf-

tritts mit kulturellem / politischem Charakter auch Informationen zu Synagogen anbieten. In den Webauftritten von Kommunen und Landkreisen erfolgt die Darstellung von Synagogen in der Regel in kurzer Form mit wenig Bildmaterial und ohne externe Links. Die Synagogen werden entweder als Sehenswürdigkeit, als Teil der städtischen bzw. regionalen Geschichte oder als Ausschnitt des jüdischen Lebens dargestellt. Stellvertretend für Auftritte mit relativ kurzen Informationen ist die Website der Stadt Ichenhausen536

536 http://www.ichenhausen.de/kultur/kultur_synagoge.html, vom 05.06.2004.

Typologische Übersicht – Betreiber und Zielsetzungen 365

zu nennen. Für ausführlichere Informationen sei auf die Website des Landkreises Dillingen537 (Synagoge Binswangen, Abb. S. 375) hingewiesen. In der Navigationsstruktur dieser Websites sind Information zu den Synagogen in der Regel zwei bis drei Ebenen tiefer als die Startseite unter Kategorien wie „Kultur“, „Sehenswürdigkeiten“, „Geschichte“, „Gedenkorte“ oder „Jüdisches Leben“ zu finden. Wenn nicht gleichzeitig eine Suchmaschine auf der Seite integriert ist, kann das Auffinden der gewünschten Information langwierig sein. Ein gutes Beispiel ist der Internetauftritt der Stadt Worms, bei dem die Suchoption deutlich auf der Startseite heraussticht. Als herausragende Beispiele von Websites kommunaler Forschungseinrichtungen sind die Internetauftritte „Frankfurt am Main 1933 – 1945“538 und „Vernetztes Gedächtnis – Topografie der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Braunschweig“539 anzuführen (Abb. S. 375). Beide weisen eine lokale Portalfunktion für das Thema NS-Zeit auf und bieten dem Benutzer die Möglichkeit, die Synagogen und deren Zerstörung sowohl im größeren Kontext des kulturellen Schaffens und Schicksals der Juden vor Ort zu sehen, als auch den Gesamtblick auf den Nationalsozialismus vor Augen zu haben. Den Besuchern dieser Websites wird eine topografische, chronologische oder themenspezifische Auswahl der Informationen angeboten. Für Frankfurt sind 19 Synagogen und Betstuben aufgeführt, für Braunschweig eine. Beispielhaft für Websites, die neben berühmten Bauwerken und geschichtsträchtigen Orten eines Bundeslandes auch Synagogen als „Gedenkstätten“ aufführen, sind die Internetangebote der Landeszentralen für politische Bildung von Hessen540 und Baden-Württemberg541 zu nennen. Neben den Informationen zu der Geschichte der jeweiligen Gebäude werden auch Ansprechpartner und Öffnungszeiten genannt. Bei dem Angebot zu Baden-Württemberg sind aus einer Liste SynagogenGedenkstätten auszuwählen, die dann im einzelnen vorgestellt werden. 537 http://www.landkreis.dillingen.de/sehenswert/synagoge_binswangen.htm, vom 05.06.2004. 538 http://www.frankfurt1933-1945.de, vom 05.06.2004. Dieser Auftritt wird redaktionell betreut durch das Kulturamt, das Fritz Bauer Institut, das Historische Museum, das Jüdische Museum und das Institut für Stadtgeschichte. 539 http://www.vernetztes-gedaechtnis.de/, vom 05.06.2004. „Das Internetprojekt ‚Vernetztes Gedächtnis – Topografie nationalsozialistischer Gewaltherrschaft in Braunschweig‘ basiert auf konzeptionellen Überlegungen der Stadt Braunschweig zu neuen Formen der Erinnerungsarbeit und ist das Ergebnis eines gemeinsamen Projektes der Arbeitsstelle für Computergrafik und Ästhetische Erziehung der Hochschule für Bildende Künste (ACE), unter der Leitung von Prof. Henning Freiberg, und des Kulturinstituts der Stadt Braunschweig.“ Zitat aus der Projektbeschreibung im Internet. 540 http://www.hlz.hessen.de/gedenkstaetten/frameset.html, vom 05.06.2004. 541 http://www.lpb.bwue.de/gedenk/gedenkstaetten/, vom 05.06.2004.

366 Synagogen – Erinnerung im Internet Für Hessen erfolgt zunächst eine Unterteilung der Gedenkstätten in verschiedene Kategorien. Unter der Rubrik „Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus“ findet man hier ebenfalls eine Auflistung, die unter anderem Synagogen-Gedenkstätten enthält. Bei beiden Webauftritten erfolgt die Auflistung der Gedenkstätten nach alphabetischer Reihenfolge der Ortsnamen. (Abb. S. 376) Als hervorragendes Beispiel einer ehrenamtlichen Initiative, die Informationen zu Synagogen im Rahmen eines Webauftritts mit kulturellem / politischem Charakter anbietet, ist die Internetpräsenz „Datenbank der Kulturgüter in der Region Trier“542 zu sehen. Auf der Startseite schreiben die Betreiber: „Die Region Trier, eine der geschichtsträchtigsten Regionen Europas: Vorgeschichtliche Menhire, Römischen Großbauwerke, mittelalterliche Burgen und Städte, barocke Prachtbauten, Weindörfer und Weinschlösser, viele technische Denkmäler sowie Zeugnisse der ehemals blühenden jüdischen Kultur der Region Trier warten darauf, von Ihnen besucht zu werden.“543 „Ziel der Datenbank ist die Erfassung aller Baudenkmäler, technischen Denkmäler, Naturdenkmäler, Wüstungen und Museen der Stadt Trier und der Landkreise Bernkastel-Kues, Bitburg-Prüm, Daun und Trier-Saarburg. [...] Die Kulturdatenbank ist eine rein private und ehrenamtlich betriebene Site und verfolgt ausschließlich nichtkommerzielle Zwecke. Falls Ihnen ein Objekt bekannt ist, das noch nicht in dieser Datenbank erfasst ist, würden wir uns über eine Nachricht an folgende e-mail freuen: [email protected]“544

Die Website bietet eine vielseitige Navigationsstruktur. Die „Kulturgüter“ sind in Kategorien eingeteilt und in einer dreistufigen Hierarchie auszuwählen. Synagogen in einzelnen Orten findet man unter: Bau- und Kunstdenkmale / Sakralbauten / Synagogen. Entweder als Auflistung oder in einer interaktiven Karte werden die gefundenen Orte dargestellt. Auch über eine Stichwortsuche (Synagoge) erhält man eine Auflistung. Zudem bietet die Website auch die Möglichkeit, einzelne Orte direkt auszuwählen. Die entsprechenden Sehenswürdigkeiten sind dann aufgeführt. Betrachtet man abschließend die typologische Übersicht, dann fällt auf, dass kein Internetauftritt mit explizit künstlerischer Intention existiert. Das überrascht allerdings nicht. Im dritten Kapitel wurde bereits festgestellt, dass solche Websites im Kontext von Erinnerung eher Ausnahmen sind. 542 http://www.roscheiderhof.de/kulturdb/index.html, vom 09.01.2005. 543 Ebd., Startseite. Im Original steht „Römischen“. 544 Ebd., Impressum.

Typologische Übersicht – Betreiber und Zielsetzungen 367

Website „Juden in Groß-Gerau“ Startseite

Website zur Geschichte der Juden in Mutterstadt Startseite

368 Synagogen – Erinnerung im Internet

Website des Förderkreises „Synagoge in Vöhl“

Website des Arbeitskreises „Landsynagoge Roth“

Typologische Übersicht – Betreiber und Zielsetzungen 369

Website des Arbeitskreises „Ehemalige Synagoge Pfungstadt“

Website der Gedenkstätte „Alte Synagoge Essen“

370 Synagogen – Erinnerung im Internet

Website der Stephani-Volksschule Gunzenhausen

Website der Geschichts-AG des Progymnasium Bad Buchau

Typologische Übersicht – Betreiber und Zielsetzungen 371

Website des Fördervereins „Landsynagoge Heubach“

Website des Arbeitskreises „Ehemalige Synagoge Leutershausen“

372 Synagogen – Erinnerung im Internet

Website des Fördervereins „Ehemalige Synagoge Kippenheim“

Website Forum Juden-Christen (Jüdisches Bethaus Freren)

Typologische Übersicht – Betreiber und Zielsetzungen 373

Website „Alemannia Judaica“, Auswahl Synagoge Bruchsaal

Website „Alemannia Judaica“, Auswahl Synagoge Bruchsaal

374 Synagogen – Erinnerung im Internet

Website „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ TU Darmstadt, FG IKA

Website „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ TU Darmstadt, FG IKA

Typologische Übersicht – Betreiber und Zielsetzungen 375

Website des Landkreises Dillingen Synagoge Binswangen

Website „Frankfurt am Main 1933 – 1945“ Börneplatz Synagoge

376 Synagogen – Erinnerung im Internet

Website der Landeszentrale für politische Bildung Hessen Synagoge Assenheim

Website der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Synagoge Freudental

Neue Möglichkeiten der Rezeption 377

4.2.2 Neue Möglichkeiten der Rezeption – Hypertext, Kommunikation, Interaktivität, Zielgruppenvariabilität Das dritte Kapitel hat gezeigt, dass durch das Internet neue Möglichkeiten der Rezeption von Erinnerung entstanden sind. Hypertextualität, Inter­ aktivität und neue Formen der Kommunikation sind hier zu nennen. In diesem Abschnitt soll aufgezeigt werden, inwieweit diese Fähigkeiten des Mediums Internet beim konkreten Thema der Synagogen zur Anwendung kommen. Bei den 134 analysierten Websites ergab sich folgendes Bild: Hypertextualität Die Untersuchungen zum Aspekt der Hypertextualität im vorherigen Ka­ pitel führten zur Erkenntnis, dass das Anbieten von Links keineswegs selbstverständlich ist. Dies bestätigte sich bei der Analyse der ausgewähl­ ten Websites zum Thema Synagogen. Von den 134 Websites wiesen nur 67 externe Links im Kontext des Themas auf. Betrachtet man dabei die verschiedenen Typologien der Websites, läßt sich Folgendes sagen: Bei den 27 Internetauftritten von aktuellen Nutzern sind 15 Mal ex­ terne Links zu verzeichnen. Zu den Institutionen, die keine Links anbie­ ten, gehören sowohl kleine Institutionen wie die Gedenkstätte Synagoge Freudental, als auch „große Häuser“ wie die „Alte Synagoge Essen – His­ torisch-Politisches Dokumentationsforum und Gedenkstätte der Stadt Essen“. Bei den Internetauftritten von Kommunen oder regionalen Instituti­ onen, bei denen Synagogen als Sehenswürdigkeiten dargestellt werden und die in der Regel nur wenige Informationen bereitstellen, ist auch ein noch geringeres Anbieten von Links zu registrieren. Von 23 Websites weisen nur 6 externe Links auf. Die wenigsten externen Links sind bei Schulprojekten zu finden. Von den 10 Websites bieten nur 2 Links an. Im Gegensatz dazu ist bei allen 11 Webauftritten von Forschungsinstitut­ ionen, die sich in ihren Projekten mit mehreren Synagogen befasst haben, das Vorhandensein externer Links festzustellen. Kommunikation Im ersten Kapitel erfolgte die Einschätzung, dass die Potentiale des Inter­ nets für neue Formen der Kommunikation bei Websites mit erinnerungs­ relevantem Inhalt kaum genutzt werden. Dieser Eindruck bestätigt sich bei der Untersuchung der 134 Internetauftritte zum Thema Synagogen. Die Kommunikation zwischen Betreiber und Nutzer beschränkt sich in der Regel auf das Angebot, per E-Mail miteinander in Kontakt zu treten. Nur in 5 Fällen werden Gästebücher und in einem Fall ein Forum an­ geboten, so dass eine Kommunikation Nutzer zu Nutzer so gut wie gar

378 Synagogen – Erinnerung im Internet nicht vorkommt. Bei einem weiteren Auftritt funktioniert das Gästebuch nicht, ein Gästebuch ist in Planung. Zusätzlich ist die Anzahl der Eintragungen in den 5 Gästebüchern relativ gering. 5 Einträge545, 9 Einträge546, 13 Einträge547, 43 Einträge548, 46 Einträge549,

erster Eintrag: erster Eintrag: erster Eintrag: erster Eintrag: erster Eintrag:

27.08.2002, letzter Eintrag: 13.08.2002, letzter Eintrag: 04.01.2002, letzter Eintrag: 17.10.2001, letzter Eintrag: 04.09.2000, letzter Eintrag:

22.06. 2003 10.03. 2004 04.07. 2004 01.06. 2004 20.12. 2003

Die Zahl der Beiträge bei dem Forum550 beträgt 144. Nur bei 4 Webauftritten werden Internetuser explizit gebeten, selber Informationen beizusteuern.551 Die Betreiber bitten in diesen Fällen um Zusendung von Informationen via E-Mail oder Post. Eine redaktionelle Prüfung ist damit stets vorgeschaltet. Mitarbeit, die online erfolgen kann, ist nicht zu verzeichnen. Interaktion und Multimedialität Besondere Interaktionsmöglichkeiten gehen über das Navigieren in Karten (6 Webauftritte) und guter Navigation bei Auswahl der Synagogen nicht hinaus. Hierbei ist die „Kulturdatenbank Trier“ ein hervorzuhebendes Beispiel.552 Quicktime-VR oder interaktive Computermodelle, wie sie in Kapitel drei vorgestellt wurden und bei anderen Architektur-Rekonstruktionen zur Anwendung kamen, existieren nicht. Inhaltsbezogene multimediale Präsentationen mit Ton- oder Filmsequenzen sind bis auf das Beispiel der Website zu den Computer-Rekonstruktionen dreier Frankfurter Synagogen nicht zu verzeichnen.553 Nur etwas mehr als die Hälfte der untersuchten Websites bieten mehr als zwei Bilder an. Zielgruppenvariabilität Außer des Anbietens einer englischen Version bei einigen wenigen Internetauftritten sind bei Websites zu Synagogen keine Formen von Zielgruppenvariabilität zu finden.

545 mitglied.lycos.de/cjzhagen/diesynagoge.html, vom 26.08.2004. 546 http://www.juedisches-museum.muenchen.de/beth/index.htm, vom 26.08.2004. 547 http://www.minjan.de, vom 26.08.2004. 548 http://www.judentum-christentum.de/, vom 26.08.2004. 549 http://www.juden-in-bamberg.de, vom 26.08.2004. 550 http://www.judentum-christentum.de/, vom 26.08.2004. 551 http://www.bochum.de/leidenswege/lw07.htm, synagoge.breyermedia.de/, http:// www.ashkenazhouse.org, http://www.alemannia-judaica.de, vom 26.08.2004. 552 http://www.roscheiderhof.de/kulturdatenbank/index.html, vom 16.08.2004. 553 www.cad.architektur.tu-darmstadt.de/synagogen, vom 14.01.2005.

Suchen und Finden 379

4.2.3 Suchen und Finden Neben dem gezielten Aufsuchen von schon bekannten Adressen im Netz bietet das Internet die Möglichkeit des Suchens von Informationen über Suchmaschinen. In dem folgenden Abschnitt wird der Frage nachgegangen, welche Ergebnisse, welche Effektivität Suchmaschinen liefern. Es ging weiter darum festzustellen, wie aufwendig bzw. wie einfach Informationen zu einer beliebigen Synagoge im Internet zu finden sind. In der materiellen Welt kommt Synagogen, die noch existieren und in denen eine kulturelle Nutzung stattfindet, eine größere Bedeutung im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu als Synagogen, die nicht mehr existieren oder beispielsweise umgebaut und nicht mehr als ehemals sakrales Bauwerk zu identifizieren sind. Daraus leitete sich die Fragestellung ab, inwieweit im Internet das Suchergebnis von der Existenz des Bauwerks oder der heutigen Nutzung abhängig ist und inwieweit damit das Erinnern im Internet gekoppelt ist an die Erinnerung in der materiellen Welt. Die Suchanfragen wurden allesamt über „Google“ durchgeführt, die als eine der effektivsten Suchmaschinen gilt. Zunächst wird unterschieden in ungerichtetes und gezieltes Suchen. Beim ungerichteten Suchen wurde mit den Suchbegriffen „Synagoge“ und „Synagogen“ operiert und die Ausgabeergebnisse auch unter dem Gesichtspunkt der Reihenfolge analysiert. Beim gezielten Suchen wurde mit dem Begriff „Synagoge“ und einem Ortsnamen als Suchkriterium operiert. Ungerichtes Suchen Bei der ungerichteten Suche554 mit den Begriffen „Synagoge“ und „Synagogen“ ist zunächst festzustellen, dass über „Synagoge“ vermehrt Informationen zu einer einzelnen Synagoge erscheinen als über das Suchwort „Synagogen“. Die 100 ersten Einträge bei dem Suchbegriff „Synagoge“ ent­hielten 84 Internetauftritte, die sich auf eine spezifische Synagoge bezogen, 7 Websites, die eine Definition des Wortes beinhalteten, ein Eintrag, der eine Übersicht über bestehende jüdische Gemeinden in Deutschland anbietet (www.synagoge.de, Rang 2 bei der Suchanfrage) und 4 sonstige Einträge. 5 Suchtreffer waren doppelt. Von den 84 Links zu einzelnen Synagogen dominierten Internetauftritte zu Synagogen, die als Gebäude noch vorhanden sind bzw. die als Synagoge wieder genutzt werden. 70 Links, das sind 83 Prozent, konnten hier gezählt werden. Nur 14 Links korrespondierten mit einer Synagoge, die nicht mehr

554 Durchgeführt am 02.06.2004.

380 Synagogen – Erinnerung im Internet existiert. Von den 70 Links zu vorhandenen Bauwerken bezogen sich 47 auf ehemalige Synagogen, die jetzt kulturell genutzt werden, 5 Links bezogen sich auf Bauwerke, bei denen Fördervereine eine kulturelle Nutzung anstreben, 7 auf Bauwerke, die (wieder) als Synagogen genutzt werden, 7 Links verwiesen auf eine nach 1945 gebaute Synagoge, davon allein 6 auf den Neubau in Dresden, und 4 Links auf ehemalige Synagogen ohne heutige öffentliche Nutzung. Folglich verwiesen von den 70 Links zu vorhandenen Bauwerken 94 Prozent auf Websites zu Synagogen mit heutiger öffentlicher Nutzung. Unter den ersten 10 Links des Suchergebnisses finden sich nur Links zu Standorten, an denen eine (ehemalige) Synagoge vorhanden ist und an denen eine öffentliche Nutzung stattfindet. Aus dem Suchergebnis kann gefolgert werden, dass Informationen zu Synagogen, die als Bauwerk noch vorhanden sind, besser und prominenter vertreten sind als zu Synagogen, die komplett zerstört wurden. Gleichzeitig scheinen auch ehemalige Synagogen mit einer heutigen, öffentlichen Nutzung prominenter und häufiger im Internet vertreten zu sein. Bei der ungerichteten Suche mit dem Begriff „Synagogen“ erhält man ein sehr viel größeres Spektrum an angebotenen Websites. Unter den ersten 100 Treffern findet man 20 Websites, die das Thema Synagogen im Ausland behandeln, 10 weitere Links sind doppelt. Die verbleibenden 70 Links verteilen sich wie folgt: – Websites zu Synagogen aus einer Stadt

15

– Websites zum Thema Computer-Rekonstruktionen

13

– Definitionen und Erklärungen des Begriffes Synagogen

10

– Websites von Jüdischen Gemeinden

7

– Hinweise zu Büchern oder Musik zum Thema Synagogen

7

– Hinweise zum Synagogen-Internet-Archiv

5

– Aktuelle Berichterstattungen

4

– Websites, die Forschungen zum Thema Synagogen darstellen

2

– Thematisierung der Pogromnacht 1938

1

– Website zu mehreren Synagogen einer Region

1

– Sonstiges

5

Suchen und Finden 381

Unter den ersten 10 Treffern findet man das Synagogen-Internet-Archiv und die Website des FG IKA der TU Darmstadt mit den 3D-ComputerRekonstruktionen zerstörter Synagogen auf den Plätzen 1 und 2, gefolgt von Hinweisen zum jüdischen Gemeindeleben in Köln und Berlin, der Website www.alemannia-judaica.de und Informationen zur Pogromnacht von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Unter den ersten 10 Einträgen ist auch der Internetauftritt der Bonner Bundeskunsthalle mit einem Bericht zur Ausstellung „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ zu finden. Das Braunschweiger Projekt taucht auf Rang 34 auf. Diese Positionierungen bei Google deuten auf eine weitaus größere Verlinkung des Rekonstruktionsprojektes der TU Darmstadt hin. Die Positionierung des Projektes aus der TU Braunschweig ist vielleicht auch damit zu erklären, dass in Bezug auf bildliche und inhaltliche Informationen – gerade für Laien – der Webauftritt deutlich weniger attraktiv ist und dass dem Darmstädter Projekt, wie beschrieben, insgesamt eine größere Medienaufmerksamkeit zuteil wurde. Gezieltes Suchen Die Ergebnisse der Suche mit dem Begriff „Synagoge“ legen nahe, dass das Internet ein Spiegelbild der Aktivitäten der materiellen Welt ist. Gezielte Suchanfragen sollen weiteren Aufschluss darüber bringen, ob Informationen eher zu den Standorten erhältlich sind, an denen Synagogen als Gebäude noch existieren und die eine kulturelle Nutzung erfahren, als zu solchen, die entweder keine öffentliche Nutzung haben (z.B. Wohn­ nutzungen) oder zu Standorten, die keine baulichen Reste der Synagoge mehr aufweisen. Als Suchbegriff diente das Wort Synagoge und die Ortschaft, in der die Synagoge stand bzw. steht. Je 20-mal wurden Synagogen ausgesucht, in denen eine öffentliche / kulturelle Nutzung existiert, 20, in denen eine Wohnnutzung existiert, und 20, die heute nicht mehr existent sind. Diese 60 Synagogen wurden im Synagogen-Internet-Archiv nach einem Zufallsprinzip ausgewählt. Bei den Synagogen mit öffentlicher / kultureller Nutzung ergab sich, dass von den 20 Suchanfragen 14-mal der erste Eintrag des Suchergebnisses bereits ein Erfolg war. Dreimal führte Rang 2, zweimal Rang 4 und einmal Rang 9 zu einem befriedigenden Ergebnis. Für Synagogen mit kultureller Nutzung scheint es also in der Regel eine Internetpräsenz zu geben und diese ist auch sehr gut bei Google platziert. Bei Synagogen, bei denen ursprüngliche Bausubstanz noch vorhanden ist, in denen heute aber eine Wohnnutzung zu verzeichnen ist, sieht das Bild anders aus. Von den 20 Suchanfragen waren 10 Synagogen in den ersten 10 Rängen überhaupt nicht zu finden, zweimal war Rang 8 zu registrieren, einmal Rang 2 und 7-mal­­ Rang 1. Von den sechs ersten Plätzen fielen zwei auf

382 Synagogen – Erinnerung im Internet die Liste niedersächsischen Synagogen des Fachgebietes Baugeschichte und drei auf den Webauftritt „Alemannia Judaica“, die Synagogen im süddeutschen Raum umfangreich dokumentieren. An den 20 zufällig ausgewählten Standorten, an denen keinerlei Bausubstanz der ehemaligen Synagogen zu finden sind, waren 7 unter den ersten 10 Eintragungen nicht zu finden, 9-mal ergab sich Rang 1, davon wiederum 3-mal von der Website „Alemannia Judaica“ und 2-mal von der Liste niedersächsischer Synagogen der TU Braunschweig. Diese Ergebnisse machen zwei Tendenzen deutlich: Erstens sind Websites zu Synagogen-Standorten, die in der materiellen Welt eine Bedeutung besitzen, im Netz wesentlich besser vertreten. Bei 100 Prozent der 20 zufällig ausgewählten Synagogen mit kultureller Nutzung waren Informationen unter den ersten 10 Treffern des Suchergebnisses zu finden. 85 Prozent standen an erster und zweiter Stelle. Bei den 40 zufällig ausgewählten Standorten, an denen entweder in dem noch vorhandenen Gebäude eine Wohnnutzung stattfindet oder keine baulichen Reste mehr anzutreffen sind, waren nur bei 57,5 Prozent Informationen in den ersten 10 Treffern des Suchergebnisses zu finden. Zweitens, wenn Informationen zu einzelnen Synagogen bestehen, dann sind sie über die Begriffe „Synagoge“ und „Ortsname“ über eine Suchmaschine einfach und schnell zu finden. Von den Suchergebnissen, bei denen es Treffer in den ersten 10 Rängen gab, waren 71 Prozent dieser Treffer auf Platz 1, weitere 14 Prozent auf den Plätzen 2 und 3. Zusammen sind das 85 Prozent der Treffer.

Suchen und Finden 383

Stichwort „Synagogen“, Suchergebnis 1 – 10 bei Google, 2. Juni 2004 SYNAGOGEN INTERNET ARCHIV SYNAGOGEN INTERNET ARCHIV http://synagogen.info/. www.synagogen.info/ - 1k - Im Cache - Ähnliche Seiten

Synagogen in Deutschland Rekonstruktion zerstörter Synagogen durch die TU Darmstadt. www.cad.architektur.tu-darmstadt.de/ synagogen/inter/menu.html - 1k - Im Cache - Ähnliche Seiten

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