Immanuel Kant [Reprint 2019 ed.] 9783110834864, 9783110027488


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German Pages 345 [352] Year 1969

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Kants Leben
Persönlichkeit
I. Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft. Versuch einer Strukturanalyse
II. Begründung der kritischen Transzendentalphilosophie im Bereich der theoretischen und praktischen Vernunft
III. Weiterführung des transzendentalen Systemgedankens und die Vermittlung von Freiheit und Erscheinung
IV. Programm und Methode der neuen Metaphysik und die Weiterentwicklung im Opus Postumum
Schriften Kants
Literatur
Personenregister
Sachregister
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Immanuel Kant [Reprint 2019 ed.]
 9783110834864, 9783110027488

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Immanuel Kant von

Dr. Friedrich Kaulbach o. Professor an der Universität Münster

Sammlung Göschen Band 536/536 a Walter de Gruyter & Co • Berlin 1969 vormals G. J . Göschen's che Verlagshandlung - J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J . Trübner - Veit & Comp.

Für

ihre

Hille

Mitarbeitern, Udo

beim den

W. Bargenda

Entstehen Herren und

cand.

des Buches

Dr.

Jürgen

phil.

danke

Blühdorn,

Frieder

ich cand.

meinen phil.

Lötzsch.

© Copyright 1969 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sdie Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30. — A l l e Rechte, einsdlließlidi der Rechte der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, von der Verlagshandlung vorbehalten. — Archiv-Nr. 71 20 691. — Satz und Drude: Saladrudc, 1 Berlin 36, — Printed in Germany.

Inhalt

Seite

Vorwort Kants Leben Persönlichkeit

6 7 13

I. Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft. Versuch einer Strukturanalyse A. Gott, Natur, Vernunft 1. D i a l e k t i s c h - d i a l o g i s c h e V e r n u n f t

J3

2. D i e o b j e k t i v e E r ö r t e r u n g d e s K r ä f t e m a ß e s : B e g r i f f

der

Metaphysik

22

3. G o t t u n d N a t u r : D e r S y s t e m g e d a n k e 4. V e r f a s s u n g

18 18

und S y s t e m

32

als Grundprinzipien der

»All-

gemeinen Naturgeschichte"

36

5. S y s t e m u n d f r e i e N a t u r

40

6. S y s t e m a t i s c h e V e r f a s s u n g a l s E n t w i c k l u n g

43

7. B e d e u t u n g d e s W o r t e s

4g

„allgemein"

8. S c h ö p f u n g a l s E v o l u t i o n

systematischer

Ordnung

9. D i e e n d l o s e W i e d e r k e h r d e s G l e i c h e n

43 51

10. K a n t s M e c h a n i s m u s b e g r i f f

54

11. D i e r a u m b i l d e n d e K r a f t d e r p h y s i s c h e n M o n a d e

57

12. D e r e i n z i g m ö g l i c h e B e w e i s d e r E x i s t e n z G o t t e s

60

B. Subjektivitätsprinzip, menschlicher Stand und Erfahrung

67

1. S u b j e k t i v i t ä t , E m p f i n d u n g , G e f ü h l

67

2. S u b j e k t i v i t ä t a l s S p o n t a n e i t ä t

74

3. A n s ä t z e d e r K r i t i k u n d S k e p s i s 4. L e i b l i c h k e i t

und

Orientierung

76 im R ä u m e :

der „Anschauung" 5. F r a g e des R e a l i t ä t s k r i t e r i u m s

Aufkommen 84 87

6. E r f a h r u n g

90

7. N e g a t i o n u n d r e a l e E n t g e g e n s e t z u n g

93

8. D a s P r o b l e m d e r M e t h o d e

99

II. Begründung der kritischen Transzendentalphilosophie im Bereich der theoretischen und praktischen Vernunft 105 A. Kritik der reinen Vernunft: theoretische Philosophie 105

4

Inhalt Seite 1. Die Vorreden als Einstieg Transzendentalphilosophie

in

die

Problematik

der

2. Die Kopernikanische Tat 3. Idee der Transzendentalphilosophie 4. Die Eigentümlichkeit der Erkenntnissituation des menschlichen Subjekts und das synthetische Urteil a priori

105 HO H5

5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

Raum und Zeit als reine Form des Anschauens 127 Transzendentale Idealität und empirische Realität 131 Idee der transzendentalen Logik 133 Das System der Kategorien 136 Transzendentale Deduktion der Kategorien 139 Die Einbildungskraft 142 Urteilskraft und Schematismus: die transzendentale Bewegung 145 12. Das System der synthetischen Grundsätze: transzendentaler Nominalismus 150 13. Der Ubergang von der phänomenalen zur noumenalen Welt

160

14. Amphibolie der Reflexionsbegriffe und transzendentale Topik

162

15. Die Dialektik der reinen Vernunft und der transzendentale Schein

164

16. Kritik der rationalen Psychologie (Paralogismenlehre) 17. Dialektik der Vernunft im Bereich der Kosmologie (Antinomienlehre) 18. Dialektik der transzendentalen Theologie und Auflösung des theologischen Scheins: das transzendentale Ideal

167 171

181

19. Transzendentale Deduktion der Ideen und ihr Bezug zur objektiven Realität

190

20. Transzendentale Methodenlehre

196

B. Praktische Philosophie

207

1. Der W e g zur Kritik der praktischen Vernunft 207 2. Übergang zur reinen praktischen Vernunft 212 3. Moralische Subjektivität und die ihr gemäße O b j e k t i v i tät im Zeichen der reinen praktischen Vernunft 213 4. Subjektivität und O b j e k t i v i t ä t im Bereich der praktischen Vernunft 218 5. Gesetz und M a x i m e : Der kategorische Imperativ 221

Inhalt 6. 7. 8. 9. 10.

Der Naturbegriff der praktischen Vernunft Form und Materie in der praktischen Vernunft Autonomie Kritik der politischen Vernunft Achtung als Triebfeder des Handelns, das moralische Gefühl

11. 12. 13. 14. 15. 16.

Moralisches Interesse und Wirklichkeit der Gesinnung Freiheit als praktische Wirklichkeit Theorie des Handelns Dialektik der reinen praktischen Vernunft Metaphysik im Horizont praktischer Vernunft W a s darf ich hoffen? Religionsphilosophie

5 Seite 224 228 235 239 243 245 247 249 251 252 256

III. Weiterführung des transzendentalen Systemgedankens und die Vermittlung von Freiheit und Erscheinung 265 1. 2. 3. 4. 5. 6.

System und reflektierende Urteilskraft 265 Analytik des Schönen 270 Das Erhabene 273 Theorie der Kunst und des Genies 274 Kritik der teleologischen Urteilskraft 278 Der Begriff des Endzwecks der Natur: Geschichtsphilosophie 281 7. Der ewige Friede 286 8. Wissenschaft und Gesellschaft (bzw. . V o l k " ) 291 9. Pragmatische Vernunft und Anthropologie 294

IV. Programm und Methode der neuen Metaphysik und die Weiterentwicklung im Opus Postumum . . . 299 1. 2. 3. 4.

Die vier metaphysischen Ansätze Metaphysik der Natur Metaphysik der Sitten Neuansätze im Opus postumum

Schriften Kants Literatur Personenregister Sachregister

299 300 305 317

326 333 341 342

Vorwort Obwohl es in dieser Reihe die b e w ä h r t e und seit Generationen vielgelesene Kantdarstellung von Bruno Bauch gibt, hat sich der Verlag zur Herausgabe einer neuen Monographie entschlossen. Maßgebend war die berechtigte Überlegung, daß sich das Unternehmen einer Kantdarstellung in unserer Zeit von den durch die Neukantischen Voraussetzungen des damaligen Bändchens bedingten Verengungen der Kant-Interpretation freizumachen und den unterdessen gewonnenen neuen Gesichtspunkten der Kantforschung ebenso Rechnung zu tragen h a b e wie den seitdem wirksam gewordenen philosophischen Erfahrungen überhaupt. Es w a r also eine Aufgabe zu lösen, die an verschiedene Bedingungen, zum Teil einander heterogener Art, gebunden war. So d u r f t e etwa von dem Reichtum der Kantischen Denkmotive möglichst wenig verloren gehen, obwohl der Umfang des Bändchens begrenzt ist. Einerseits soll die Darstellung die Rolle einer Einleitung in die Kantischen G e d a n k e n g ä n g e für einen weiteren Leserkreis und insbesondere für Studenten übernehmen, andererseits wird dabei einer bestimmten Konzeption für die Interpretation Form gegeben, so daß auch Kenner Kants Interesse daran zu nehmen vermögen. In Ubereinstimmung mit seiner eigenen Auffassung wird Kant als Sachwalter und W o r t f ü h r e r allgemeiner systematischer Bewegungen der philosophischen Vernunft begriffen und unter diesem Gesichtspunkt auch auf die Entwicklung der Kantischen Denkgeschichte Rücksicht genommen. Insbesondere ist der sog. „vorkritischen 1 ' Zeit ein verhältnismäßig großer Raum gegeben: Einerseits in der Absicht, dadurch die gedanklichen Keime sichtbar zu machen, aus denen sich die spätere Philosophie Kants entwickelt hat, andererseits um dadurch auch den Zusammenhang der späten Philosophie Kants mit der philosophischen Tradition einleuchtend zu machen. Es ist ein anderes, die Sprache einer Tradition von Grund auf sprechen zu können, und ein anderes, ein genaues geschichtlich reflektiertes Wissen über diese Tradition zu besitzen. Für Kant traf das erstere zu, insofern er infolge seiner genauesten Kenntnis der Schulphilosophie die in der lebendigen Lehre tradierten philosophischen Theorien bis in die feinsten Verästelungen der Argumentation hinein k a n n t e und in ihnen erfahren war. Bei dieser Darstellung ging es aber auch darum, die Revolution der Denkart, die von Kant ausging, in ihrer ganzen Bedeutung sichtbar und verstehbar zu machen.

Kants Leben Immanuel Kant wurde am 22. April 1724 in Königsberg, der damaligen Hauptstadt des Herzogtums Preußen und einem zu dieser Zeit bedeutenden Handelshafen geboren. Hier wurden vor allem englische Fabrikate und Kolonialwaren gegen Naturprodukte ausgetauscht, die aus dem preußischen Hinterland und aus Polen kamen. Da das väterliche Haus nahe am Hafen, der Pregelmündung, gelegen war, kam schon der Knabe Kant in Berührung mit der weiten Welt. Der Vater Johann Georg Kant, von Beruf Riemermeister, trug zu der häuslichen Atmosphäre, in der Immanuel aufwuchs, die Mentalität rechtschaffenen Handwerkertums und selbstbewußten Bürgertums bei. Die profiliertere Persönlichkeit scheint die Mutter, Frau Anna Regina, geb. Reuter, gewesen zu sein, deren Vater aus Nürnberg gebürtig war. L. E. Borowski 1 erinnert sich, oft aus Kants eigenem Munde gehört zu haben: „Nie, auch nicht ein einziges Mal habe ich von meinen Eltern irgend etwas Unanständiges hören dürfen, nie etwas Unwürdiges gesehen." Die fromme Frau dachte im Stile des gemäßigten Pietismus. Sie gewann Verbindung mit dem pietistischen Theologen Schultz, der Professor für Theologie an der Universität und Leiter des Collegium Fridericianum war. So kam es dazu, daß der junge Kant im Jahre 1732 in diese Anstalt aufgenommen wurde, die er bis 1740 besuchte, um dann zur Universität zu gehen. Der Biograph Jachmann bezeugt, daß Kant die pietistische Erziehung im Elternhaus und in der Schule „als Schutzwehr 1 Immanuel Kant, Ein Lebensbild nach Darstellungen der Zeitgenossen Jachmann, Borowski, Wasianski, hrsg. von Alfons Hoffmann, Halle 1902, S. 153.

Kants Leben

8

für Herz und Sitten gegen lasterhafte Eindrücke" gerühmt habe. Manche Stellen seiner Religionsphilosophie allerdings scheinen Kritik an extremen Formen dieser religiösen Gedankenrichtung und Frömmigkeit zu üben. Bei Jachmann 2 wird die Vermutung geäußert, daß Kant als Knabe zerstreut und vergeßlich gewesen sei. Kant selbst habe ihm erzählt, daß er sich einmal auf dem W e g e nach der Schule auf der Straße mit seinen Schulkameraden in ein Spiel eingelassen, dabei seine Bücher abgelegt und ihr Fehlen erst vermißt habe, als er in der Schule zu ihrem Gebrauch aufgefordert wurde. Dagegen wirft folgende Geschichte ein scharfes Licht darauf, wie der für das ganze Leben Kants maßgebende Zug planmäßigen, beherrschten und von der Vernunft geleiteten Verhaltens schon sehr früh sichtbar wird. Er habe als Knabe einmal auf einem Baumstamm balanciert, der quer über einem mit Wasser gefüllten breiten Graben lag. Bald jedoch fing der Stamm unter den Füßen Kants an, sich zu rollen: ihn selbst überkam zudem noch Schwindel. Weder Stehenbleiben noch Umkehren konnte helfen. Kant meisterte die Situation, indem er genau in der Richtung des Stammes einen festen Punkt am Rande des Grabens scharf ins Auge faßte und, ohne den Blick abzulenken, den Stamm entlang auf den fixierten Punkt des Ufers hinlief, den er auch erreichte. Der Altphilologe Heydenreich verstand es, den Gymnasiasten zu einem begeisterten Studium der römischen Klassiker anzuregen. Es ist wahrscheinlich, daß Kant in dieser Zeit den Grund für seine in seinen späteren Schriften so sichtbar werdende Kenntnis besonders des Lucrez gelegt hat 3 . Auf der Universität war es besonders Martin Knutzen, dessen Unterricht in Philosophie und Mathematik auf den ! 3

A. a. O., s. 7. Lucrez, De rerum natura.

Kants Leben

9

Studenten größten Eindruck gemacht hat. Außerdem hörte er Physik bei Tettgen, Dogmatik bei seinem ehemaligen Gymnasialdirektor Schultz. Es wird berichtet, daß sich Kant Freunden gegenüber nie über seinen Studienplan geäußert habe. Soviel sei gewiß, daß er auf der Universität vorzüglich „humaniora" studierte und sich keiner positiven Wissenschaft ausschließlich widmete 4 . Nach Abschluß des Universitäts-Studiums folgten einige Jahre, in denen er auf dem Lande vor allem in adligen Familien Hauslehrerpflichten übernahm. Biograph L. E. Borowski bemerkt, daß schon in dieser Zeit „in seinem Kopfe die Grundlinien zu so manchen Untersuchungen gezogen, manches auch beinahe vollständig ausgearbeitet" worden sei, womit er von 1754 an zur „Überraschung vieler, die das von ihm wenigstens nicht in dem Maße erwartet hatten, auf einmal und schnell nacheinander hervortrat" 5 . Aber Kant zog es an die Universität zurück. Dort wurde er am 12. Juni 1755 öffentlich promoviert. Die nach damaliger Sitte zu haltende lateinische Rede, die Kant nach dem Promotionsakt hielt, hatte den Titel: „Vom leichteren und gründlichen Vortrage der Philosophie". Es wird überliefert, daß das aus angesehenen und gelehrten Männern Königsbergs bestehende Auditorium durch ausgezeichnete Stille und Aufmerksamkeit der Rede Kants große Achtung schenkte. Nach der Disputation am 27. Dezember desselben Jahres begann Kant Vorlesungen über Logik nach Meier, über Metaphysik zuerst nach Baumeister, dann „nach dem gründlicheren, aber schweren Baumgarten, — über Physik nach Eberhardt und über Mathematik nach Wolf zu halten" 6 . Zu der Unterweisung, die Kant seinen Schülern er' A. a. O., S. 9. 5 A. a. O., S. 157 f. « A. a. O., S. 159.

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10

teilte, gehörten auch Disputierübungen. Weiterhin kamen in den folgenden Jahren noch Vorträge über Naturrecht, Moral, natürliche Theologie sowie Anthropologie und physische Geographie hinzu. Trotz des großen Ansehens, welches Kant an der Universität und in der Stadt genoß, blieb er doch 15 Jahre hindurch Magister, ohne zum Professor aufsteigen zu können. Sein Versuch, nach Knutzens Tod (April 1756) die freigewordene außerordentliche Professur für Philosophie zu erhalten, war erfolglos. Auch um eine im folgenden Jahre freigewordene Professur für Logik und Metaphysik bemühte er sich vergebens. Borowski bemerkt zu solchen Vorgängen: Kant, „der den Schickungen gern ihren Gang ließ, — der so wenig Mäzenaten suchte, daß ihm nicht einmal der Name des damaligen Oberprokurators der preußischen Universitäten bekannt war, — der weder nach Berlin hin korrespondierte, noch seine Schriften etwaigen Gönnern dedicierte, kurz, der jeden Schleichweg seiner unwürdig erachtete, auf dem er einen anderen hätte verdrängen können, blieb ganz ruhig in seiner Lage und wirkte durch Vorlesungen und Schriften weiter fort" 7 . Als im Jahre 1764 eine Professur für Dichtung vakant wurde, wurde Kant für ihre Wiederbesetzung von der preußischen Regierung ins Auge gefaßt. Kant lehnte ab: er sah es doch wohl nicht als seine Sache an, für königliche Krönungsfeste und Geburtstage des Königs Carmina zu verfassen. Im Jahre 1766 nahm er die ihm ohne sein Gesuch erteilte zweite Aufseherstelle bei der Königlichen Bibliothek an, um dadurch „einiges, wie wohl nur geringes fixiertes Gehalt" zu bekommen. Dieser Stelle entsagte er im Jahre 1772, weil sie, wie Borowski bemerkt, „für ihn zu zerstreuend und das ewige Einerlei bei dem Vorweisen der Seltenheiten dieser Bibliothek an bloß neugierige, oft gar ' A. a. O., S. 160 f.

Kants Leben

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nicht wißbegierige Menschen für ihn belästigend war" 8 . Als im Jahre 1770 die mathematische Professur neu zu besetzen war, gab man sie dem bisherigen Lehrer der Logik und Metaphysik. Die dadurch freigewordene philosophische Professur erhielt endlich Kant. Kant wurde mehrmals Dekan seiner Fakultät und war zweimal Rektor (1786 und 1788). Während seines ersten Rektorats kam auf ihn die Pflicht zu, den König Friedrich Wilhelm II. während seines Besuches im Namen der Universität anzureden. Der König habe Kants Begrüßungsansprache auf eine Art erwidert, die „dem Philosophen sowohl als ihm selbst Ehre machten" 9 . Bald darauf erhielt Kant ohne sein Ansuchen aus dem Fond des Oberschulkollegiums eine beträchtliche Zulage zu seinem bisherigen Gehalt (220 Taler). Borowski macht im Ganzen zum Lebenslauf Kants die Bemerkung: „Wenn auf diesen Blättern der Leser irgend etwas Hervorstechendes, Unerwartetes gesucht hat, so darf er sich ja nur selbst bescheiden, da hier nichts anderes gegeben werden sollte, als Kants Leben — und dieses hatte nun einmal, wie bei den Universitätslehrern gewöhnlich, einen einförmigeren Gang, als das Leben z. B. der Kaufleute." 10 Im Jahre 1792 wurde Kant in einen Konflikt verwickelt, der bei einer weniger überlegenen und vernünftigen Natur, als Kant sie war, zu schwerer Verbitterung hätte führen können. Im April dieses Jahres war seine erste religionsphilosophische Schrift: „Vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur" in der Berlinischen Monatsschrift (hrsg. v. Biester) erschienen. Der gleich darauf für den Druck vorgesehenen folgenden Abhandlung: „Vom Kampf 8 A. a. O., S. 161. Ich zitiere vielfach seine zeitgenössischen Biographen, weil ich vermute, daß ihre Diktion durch die Erzählungen, die Kant ihnen selbst zuteil werden ließ, bestimmt ist. • A. a. O., S. 163. » A. a. O., S. 164.

12

Kants Leben

des guten Prinzips mit dem bösen um die Herrschaft über den Menschen" wurde jedoch das Imprimatur von der Zensurbehörde verweigert. Kant ließ sich nicht irre machen, auch als ein Protest Biesters zurückgewiesen worden war. Er entschloß sich, die vier religionsphilosophischen Abhandlungen, die fertig vorlagen, auf eigene Verantwortung in einem Sammelband zu veröffentlichen. Da er bewußt in der Rolle des Gelehrten und Philosophen auftrat, konnte für ihn nur die Zensur der philosophischen Fakultät Geltung haben, nachdem die von ihm angefragte theologische Fakultät in Königsberg von einer Zensur keinen Gebrauch machte. Nachdem die philosophische Fakultät das Imprimatur erteilt hatte, erschienen die Aufsätze unter dem Titel „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (1793). In der vom 12. Oktober 1794 datierten Kabinettsorder (Unterschrift Wöllner) wird Kant gemaßregelt. In seinem Nachlaß befindet sich ein Zettel, auf dem er zu dem Vorgang, den er in seinem 70. Lebensjahre erleben mußte, folgende Devise festhielt: „Widerruf und Verleugnung seiner inneren Überzeugung ist niederträchtig, aber Schweigen in einem Fall wie der gegenwärtige ist Untertanenpflicht; und wenn alles, was man sagt, wahr sein muß, so ist darum nicht auch Pflicht, alle Wahrheit öffentlich zu sagen." Seit 1794 zog sich Kant allmählich von der Vorlesungstätigkeit zurück. Seine letzte Vorlesung im Sommer 1796 hatte Logik und physische Geographie zum Gegenstand. Die letzten Jahre bieten das Bild eines mit Würde und Souveränität getragenen allmählichen Absterbens der geistigen und leiblichen Kräfte. Dem Leser der Fragmente seines „Opus posthumum" bietet sich das erschütternde Schauspiel, daß hier ein großer philosophischer Genius neue Aufgaben sieht, zu deren Erfüllung ihm aber die Kräfte versagen. C. A . Ch. Wasianski, Freund Kants in den

Kants Leben

13

letzten Jahren und fürsorglicher Pfleger bis zur letzten Stunde, berichtet über dieses Verlöschen. Aber es gab in dieser letzten Zeit große Augenblicke. Neun Tage vor seinem Tode z. B. erwartete Kant seinen Arzt stehend und blieb auch während der Begrüßung stehen. Wasianski berichtet: „Der Arzt bittet ihn, sich zu setzen. Kant zaudert verlegen und unruhig. Ich war mit seiner Denkungsart zu bekannt, als daß ich mich in der eigentlichen Ursache dieses Zögerns hätte irren sollen, weshalb Kant seine ermüdende und ihn schwächende Stellung nicht änderte. Ich machte den Arzt auf die wahre Ursache, nämlich die feine Denkungsart und das artige Benehmen Kants aufmerksam und gab ihm die Versicherung, daß Kant sich sofort setzen würde, wenn er als Fremder nur erst würde Platz genommen haben. Der Arzt schien diesen Grund zu bezweifeln, wurde aber bald von der Wahrheit meiner Behauptung überzeugt und fast zu Tränen gerührt, als Kant nach Sammlung seiner Kräfte mit einer erzwungenen Stärke sagte: ,Das Gefühl für Humanität hat mich noch nicht verlassen'". Am 11. Februar sei sein letztes Wort zu hören gewesen: „Es ist gut." In Worten, die dem Vorgang würdig sind, berichtet Wasianski: „Den 12. um 3 / 4 auf 4 Morgens legte er sich gleichsam zum nahe bevorstehenden großen Akte seines Todes zurecht und gab seinem Körper eine völlig reglmäßige Lage, in der er bis zum Tode unverrückt liegen blieb." 1 1

Persönlidikeit Von Heinrich Heine stammt das Wort: „Die Natur wollte wissen, wie sie aussieht, da erschuf sie Goethe." Man " A. a. O., S. 425.

14

Kants Leben

könnte, die Aussage variierend, sagen: die Natur wollte wissen, wie Vernunft aussieht, da erschuf sie Kant. Es soll freilich nicht nur an jene Erscheinungsform der Vernunft gedacht werden, für welche strenge Regel, Planung des Lebens und unerbittliche Konsequenz allein maßgebend sind. Man würde Kant einseitig beurteilen, wenn man für das Bild von ihm Anekdoten wie etwa die bestimmend sein ließe, derzufolge die Königsberger ihre Uhren nach ihm gerichtet haben. Es ist richtig, daß sich Kant, der infolge seiner physischen Gebrechlichkeit mit seinen Kräften haushielt und haushalten mußte, an eine feste Ordnung hielt. Um 5 Uhr ließ er sich von seinem Diener, der ein ausgedienter Soldat war, mit dem Ruf: „Es ist Zeit!" wecken. Dann bereitete er sich auf seine Vorlesung vor, die er anfangs auf vier bis fünf Stunden täglich ausdehnte. Später las er viermal in der Woche von 7 bis 9 Uhr, zweimal (mittwochs und sonnabends) von 8 bis 10 Uhr. Dazu kam nocii ein Repetitorium am Sonnabend von 7 bis 8 Uhr. Nach den Vorlesungen arbeitete er bis 1 Uhr: in dieser Zeit formulierte er seine Schriften. Aber im weiteren Verlauf des Tages traten Züge freier Menschlichkeit zum Vorschein. So war die Mittagsmahlzeit für ihn Gelegenheit zu ausgedehnter geselliger Unterhaltung. Er suchte den Umgang mit gebildeten Männern mit gesundem Menschenverstand, die einen guten Blick für die Wirklichkeit hatten. Er war ein berühmter und gesuchter Künstler der Unterhaltung. Jachmann berichtet, daß die Unterhaltung an seinem Tische im ganzen derjenigen in anderen Gesellschaften gliche, „nur daß in den Gesprächen bei ihm noch mehr Vertraulichkeit und Offenheit herrschten. Hier sprach noch mehr das Herz mit; hier unterhielt sich der große Mann über seine und seiner Freunde Angelegenheiten." 12 Audi habe er gesellige Einfühlungsgabe 1!

A. a. O., S. 102.

Kants Leben

15

besessen, durch die er sich besonders auch in der Gesellschaft gebildeter Frauen auszeichnete. Als Beispiel seiner reichen Gefühlswelt, die sich zusammen mit dem anderen Pole seiner Vernunft, dem Bedürfnis nach System und Planung, zum Ganzen einer großen freien Persönlichkeit verband, mag auch seine unerschütterliche Liebe zu seiner Vaterstadt Königsberg genannt werden. Trotz verschiedener Rufe (Jena, Erlangen, Mitau, Halle) blieb er Königsberg treu. Kant schätzte nicht Gelehrsamkeit an den Menschen seiner Umgebung, sondern gesunden Menschenverstand und einen unbefangenen Blick für die Wirklichkeit. An Frauen gefielen ihm Züge der Natürlichkeit, Heiterkeit, Häuslichkeit und „die mit der Häuslichkeit gewöhnlich verknüpfte tätige Aufsicht über das Haus- und Küchenwesen" (Borowski). Er vermied es, sich mit Frauen über gelehrte Themen zu unterhalten und zog Gespräche über die Zubereitung von Speisen vor, worin er eine große Kenntnis hatte. Eine Frau schrieb über ihn folgende Sätze, nachdem die Nachricht von seinem Tode zu ihr gekommen war: „ . . . i c h kenne ihn durch seine Schriften nicht, weil seine metaphysische Spekulation über den Horizont meines Fassungsvermögens ging. — Aber schöne geistvolle Unterhaltungen danke ich dem interessanten, persönlichen Umgange dieses berühmten Mannes; täglich sprach ich diesen liebenswürdigen Gesellschafter in dem Hause meines Vaters, des Reichsgrafen von Kaiserlingk zu Königsberg. Kant war der dreissigjährige Freund dieses Hauses und liebte den Umgang der verstorbenen Reichsgräfin, die eine sehr geistreiche Frau war. Oft sah ich ihn da so liebenswürdig unterhaltend, dass man niemals den tiefen, abstrakten Denker in ihm geahnt hätte, der eine solche Revolution in der Philosophie hervorbrachte . . . Anmutsvoller Witz stand ihm zu Gebote und bisweilen war sein Gespräch mit leich-

16

Persönlichkeit

ter Satyre gewürzt, die er immer mit der trockensten Miene anspruchslos hervorbrachte" 13 . Es gibt viele Berichte über hilfsbereites Verhalten Kants, besonders Schülern und aufstrebenden jungen Leuten gegenüber. Im Jahre 1791 kam z. B. Fichte, der damals in großer Not war, mit seinem ersten Manuskript mit dem Titel „Versuch einer Kritik aller Offenbarung" zu Kant nach Königsberg, um dessen Mitwirkung bei der Drucklegung zu erbitten. Nach dem Bericht Borowskis versprach ihm Kant gerne zu tun, was möglich wäre. „In der Abendstunde desselben Tages begegnete mir Kant auf einem Spaziergange. Das erste Wort an midi war: ,Sie müssen mir helfen, recht geschwind helfen, um einem jungen brodlosen Manne — Namen und auch Geld zu schaffen. Ihr Schwager (Härtung, der Buchhändler) muß gewonnen werden; wirken Sie auf ihn, wenn Sie die Handschrift, die ich noch heute zuschicke, durchgelesen, daß er sie verlege usf.' — Ich nahm das alles gern auf mich und ganz ungewöhnlich erfreut sah ich ihn, als alle seine und Fichtes W ü n s c h e . . . erfüllt wurden." 14 Es war Kants Meinung, daß dem Umgang zwischen Menschen die Grazie nicht fehlen dürfe. Er bekannte sich zu dem Lebensstil, den man als „Urbanität" bezeichnet. Er zog dieses Wort dem Namen „Höflichkeit" vor, da letztere eigentlich nur Hofmanieren in Worten und Gebärden bedeute. Kants künstlerische Erfahrungen lagen vor allem auf dem Bereich der Poesie. Von den neueren Werken machte Miltons Verlorenes Paradies auf ihn großen Eindruck. Aus Pope wählte er Mottos zu seinen Schriften. Von den deutschen Dichtern schätzte er Haller besonders, den er größtenteils auswendig konnte. Auch Wieland schätzte er. " A. a. O., S. 237: Borowski zitiert hier W o r t e Frau von der Reckes. » A. a. O., S. 225 f.

17

Persönlichkeit

Eine besondere Vorliebe hegte er für die Satire, weshalb er in seinen letzten Jahren Lichtenberg hoch schätzen lernte. Fremd war ihm jeder dionysische Einschlag in der Kunst, weshalb er auch zur Musik kaum ein Verhältnis gewann: er hielt sie lediglich für „unschuldige Sinnenlust" 15 . Ein Wort ist noch über Kant als Lehrer zu sagen. Sein Vortrag sei gründlich, freimütig und angenehm gewesen. Allerdings habe er von seinen Hörern große Aufmerksamkeit verlangt. Dem Nachschreiben sei er nicht hold gewesen: es habe ihn der Gedanke gestört, daß oft Wichtigeres übergangen und Unwichtigeres festgehalten werde. Seine auch Schülern gegenüber oft zum Ausdruck gebrachte Devise bestand darin, nicht Philosophie, sondern Philosophieren zu lehren: er wolle nicht Gedanken bloß zum „Nachsprechen" mitteilen, sondern zum Mitdenken auffordern. Immer wieder hörte man aus seinem Munde Ausdrücke wie: Selbstdenken — Selbstforschen — auf eigenen Füßen stehen. Zur Vervollständigung des Bildes seiner Persönlichkeit mag hier die berühmte Skizze seines Schülers Herder, der ihn zu Beginn der 60er Jahre gehört hat, wiedergegeben werden: „Ich habe das Glück genossen, einen Philosophen zu kennen, der mir ein wahrer Lehrer der Humanität war. Damals in seinen blühendsten Jahren hatte er die fröhliche Munterkeit eines Jünglings; seine offene zum Denken gebaute Stirn war ein Sitz unzerstörbarer Heiterkeit und Freude; die gedankenreichste Rede floß von seinen Lippen; Scherz und Witz und Laune standen ihm zu Gebot und sein lehrender Vortrag war der unterhaltendste Umgang. Mit 15 A. a. O., S. 255. Borowski berichtet, daß Kant ihn als 16jährigen ermahnt habe, sich der Musik nicht hinzugeben, weil viel Zeit zur Erlernung und noch mehr zur Übung erfordert wurde, die beim Studium „ernsthafter Wissenschaften" verloren ginge.

Kaulbach, Immanuel Kant

2

18

Persönlichkeit

eben dem Geist, mit dem er Leibniz, Wolff, Baumgarten, Crusius, Hume prüfte und die Naturgesetze Kepplers, Newtons, der Physiker verfolgte, nahm er auch die damals erscheinenden Schriften Rousseaus, seinen Emile und seine Heloise sowie jede ihm bekannt gewordene Naturentdeckung auf, würdigte sie, und kam immer zurück auf unbefangene Kenntnis der Natur und auf den moralischen W e r t des Menschen. Menschen-, Völker-, Naturgeschichte, Naturlehre, Mathematik und Erfahrung waren die Quellen, aus denen er seinen Vortrag und Umgang belebte-, nichts Wissenswürdiges war ihm gleichgültig; keine Kabale, keine Sekte, kein Vorteil, kein Name — Ehrgeiz hatte j e für ihn den mindesten Reiz gegen die Erweiterung und Aufhellung der Wahrheit. Er munterte auf und zwang angenehm zum Selbstdenken; Despotismus war seinem Gemüt fremd. Dieser Mann, den ich mit größter Dankbarkeit und Hochachtung nenne, ist Immanuel Kant; sein Bild steht angenehm vor mir." 1 6

I. Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft Versuch einer Strukturanalyse A. Gott, Natur, Vernunft 1. Dialektisch-dialogische

Vernunft

Die ersten Themen Kants gehören zum Bereich der Philosophie der Natur: Den metaphysischen Rahmen geben die Fragen nach dem Bezug zwischen Gott, Vernunft und Natur ab. Kant folgt Leibniz, wenn er die philosophisdie Aufgabe stellt, den „Grund" der natürlichen Erscheinungen " Herder, Briefe zur Beförderung Bd. 17, S. 403 bzw. Bd. 18, S. 423.

der Humanität, Ausgabe

Suphan,

Dialektisch-dialogische Vernunft

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und der Wissenschaft von ihnen zu erkennen. In diesem Zusammenhang w a r bei Leibniz der Begriff der Kraft maßgebend geworden. Der Titel von Kants erster Schrift lautet: „Gedanken von der w a h r e n Schätzung der lebendigen Kräfte . . D i e Schrift w u r d e im J a h r e 1747 in Drude gegeben. Kant befand sich damals im 23. Lebensjahr. W a s es mit dem Inhalt dieser Schrift auf sich hat, die sich mit dem Begriff der „Kräfte" und ihrer Messung („Schätzung") befaßt, wird im folgenden darzustellen sein. Bevor aber das Gegenständliche daran zu W o r t e kommen soll, mag die dialektische Erörterung interpretiert werden, die Kant in der Vorrede dieses W e r k e s anstellt. Die Bedeutung des W o r t e s dialektisch wird in ihrem ganzen Umfang späterhin klar werden: hier wird sie zunächst vom Dialog zwischen streitenden Partnern her ins A u g e gefaßt werden. Kant schaltet sich selbst in einen Dialog über das Kräftemaß ein; dabei kommt ihm auch der subjektive Stand zum Bewußtsein, den er der W a h r h e i t und denen gegenüber behauptet, die bisher die W a h r h e i t darzustellen beansprucht haben. Es handelt sich um ein Dokument der sich ihrer selbst bewußt werdenden Subjektivität, in welchem sich der junge Philosoph aufklärerisch die Devise gibt, die er später auf die Formel gebracht hat: sapere aude, habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, „Nunmehr kann man es kühnlich wagen das Ansehen der Newtons und Leibnize f ü r nichts zu achten, wenn es sich der Entdeckung der W a h r h e i t entgegen setzen sollte, und keinen andern Überredungen als dem Zuge des Verstandes 17 Gedanken von der w a h r e n Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurtheilung der Geweise, deren sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedient haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen (1747), in: I, S. 1—181. — Die Zitierung geschieht durchgehend nach der Akademieausgabe [Bandzahl, Seite]: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften Berlin 1910 ff.

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zu gehorchen." 18 Wenn er sich gegen die Meinungen großer Denker wende, dann wolle er diese selbst als Richter seiner Gedanken anrufen: auch wenn er ihnen widerspreche. So versetzt er sich in einen Dialog mit ihnen. In den Überlegungen spielt ungenannt die platonisch-sokratische Voraussetzung mit, daß man zwischen der subjektiven Meinung, die man hat, und dem Anspruch der Vernunft, die ebenso in uns ihre Stimme erhebt, unterscheiden müsse: Meinung ist einzeln und privat, aber Vernuft ist das Gemeinsame, Allgemeine; sie gibt das Richtmaß für Wahrheit oder Unwahrheit der Meinungen ab. Es dürfe nicht dahin kommen, daß Meinung gegen Meinung ausgespielt werde, vielmehr sollen alle Meinungen am gemeinsamen Richtmaß der allgemeinen Vernunft gemessen werden. Kant bringt die Sprache auf die antike Gestalt des Timoleon. Dieser sei einstmals vor Gericht gefordert worden. „Die Richter entrüsteten sich über die Vermessenheit seiner Ankläger. Allein Timoleon betrachtete diesen Zufall ganz anders. Ein solches Unternehmen konnte einem Manne nicht mißfallen, der sein ganzes Vermögen darin setzte, sein Vaterland in der vollkommensten Freiheit zu sehen. Er beschützte diejenige, die sich ihrer Freiheit sogar wider ihn selber bedienten. . . . Nach so großen Bemühungen, die sich die größten Männer um die Freiheit des menschlichen Verstandes gegeben haben, sollte man da wohl Ursache haben zu befürchten, daß ihnen der Erfolg derselben mißfallen werde?" 19 Das Bild vom Richterstuhl der Vernunft wird in der Kritik der reinen Vernunft eine große Rolle spielen. Das „Vorurtheil ist recht für den Menschen gemacht, es thut der Bequemlichkeit und der Eigenliebe Vorschub, zweien Eigenschaften, die man nicht ohne die Menschheit '» A . a . o„ s. 7. A. a. O . , S. 8.

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ablegt" 20 . Solange die Eitelkeit im menschlichen Gemüt mächtig sei, werde sich auch das Vorurteil erhalten, d. h. es wird niemals aufhören. Vorurteil ist Meinung statt Wissen, private Ansicht statt Stimme im dialogischen Zusammenspiel. Diese Überlegungen enthalten Andeutungen der späteren Philosophie der Subjektivität und der Theorie der allgemeinen Vernunft, die sich gegenüber den privaten Urteilen und Vorurteilen zu bewähren habe. Sie führen zur Dialektik und zu der Aufgabe der Selbstprüfung der Vernunft. „Ich werde in dem Verfolg dieser Abhandlung kein Bedenken tragen, den Satz eines noch so berühmten Mannes freimüthig zu verwerfen, wenn er sich meinem Verstände als falsch darstellt. Diese Freiheit wird mir sehr verhaßte Folgen zuziehen." 21 Der Weg zur Wahrheit müsse durch Irrtümer hindurchgehen: aber er führe nur dann zu echten Einsichten, wenn man bei den Irrtümern nicht eigensinnig und eitel festhalte, sondern sich selbst dauernd vor dem eigenen, besseren Wissen verantworte. „Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern ihn fortzusetzen." 22 Damit will Kant natürlich nicht sagen, daß er schon genau weiß, wann er die Kritik der reinen Vernunft oder die Metaphysik der Sitten schreiben wird. W ä r e dergleichen möglich, so gäbe es keine Entwicklung; dann wäre auch die Metapher von der Bahn, der Kant folgen will, und von dem Lauf, den er anzutreten gedenkt, unsinnig. Denn dann wäre er schon gleich am Ende und bliebe dabei, statt Entwicklung zu sein. Das Denken wäre ein Ausruhen bei einem schon immer feststehenden und gültigen System von Sätzen. Das bedeutete einen Widerspruch gegen die von " A. a. O., S. 8 f. » A. a. O., S. 9. " A. a. O., S. 10.

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Der W e g zur Kritik der reinen Vernunft

Kant in seiner ganzen Denkgeschidite durchgehaltene These, derzufolge das Suchen, Forschen (zetetisches Verfahren), das Prinzip von Bewegung und Entwicklung dem Behaupten fester Sätze, d. h. dem dogmatischen Verfahren, vorherzugehen habe. Der große spätere Gedanke Kants, daß die wahren und auch die falschen Aussagen individueller Forscher durch die alles umfassende, gemeinsame Vernunft herausgefordert seien, klingt schon jetzt in dem Satze an: „Wenn wir neben den größten Entdeckungen offenbar Irrthümer antreffen: so ist dieses nicht sowohl ein Fehler des Menschen, als vielmehr die Menschheit; und man würde dieser in der Person der Gelehrten gar zu viel Ehre anthun, wenn man sie von denselben gänzlich ausnehmen wollte." 2 3 Der Irrtum wird, wo er auftritt, durch Vernunft selbst nahegelegt. Gerade deswegen aber ist es Sache der Philosophie, einen W e g auch vom Stande der menschlichen Subjektivität aus zu finden, der sich am Richtmaß allgemeiner Vernunft orientiert. 2. Die objektive Erörterung des Kräitemaßes: Begriff der Metaphysik Kant hat sich vorgenommen, einen Streit zu schlichten, der zwischen Leibniz und den Cartesianern über das wahre Maß der Kraft ausgebrochen war. Es war für die Grundlegung der Naturwissenschaft von entscheidender Wichtigkeit, dem Begriff der Kraft ein Heimatrecht im Bereich des physikalischen Denkens zu verschaffen. Dazu war die Voraussetzung, daß man eine Methode des Messens der Kräfte entwickelte: daß man Kräfte durch Zahlen ausdrücken und so verschiedene Kräfte miteinander vergleichen konnte. Kraft muß ebenso wie Strecke, Zeit, wie Gewicht, Wärme, Elektrizität meßbar gemacht werden, um " A. a. O., S. 12.

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physikalisch definierbar zu sein und als Gegenstand der Wissenschaft anerkannt werden zu können. Descartes hatte behauptet, daß man als Einheit, welche der Messung der Kräfte dienen sollte, m • v wählen müsse24. Leibniz erklärte dagegen, diese Einheit müsse heißen: m • v 2 . Dieser Unterschied der beiden Denker geht auf tiefe philosophische Differenzen zurück. Würde man ihn nur als Unterschied physikalischer Behauptungen und Aussagen deuten, dann wäre er uninteressant, zumal sich unterdessen längst herausgestellt hat, daß beide Weisen der Kraftmessung physikalisch möglich und gleichberechtigt25 sind. Voraussetzung ist dabei, daß man sich der Fragestellung bewußt ist: Man kann Kraft als die Fähigkeit messen, Geschwindigkeit mitzuteilen, wobei der Impuls in Frage kommt (m • v), oder man kann sie durch die Quantität der geleisteten Arbeit messen. Descartes hat die geometrische Perspektive als maßgebend auch für die Geschehnisse in der Natur sowie für die Bestimmung der Körpergestalten und ihrer Bewegungen angenommen. Seine berühmte These, daß die „Ausdehnung", als geometrisch-figürliche Bestimmung verstanden, das Wesen der Körper ausmache, steht im Einklang mit seiner Kräfte- und Bewegungslehre. Bewegung komme nur durch Anstoß eines harten Körpers an einen anderen harten Körper zustande: die Ursache eines Bewegungsanstoßes heißt Kraft. Leibniz setzt sich mit den Konsequenzen dieser Voraussetzung auseinander26. Seine philosophische Auffassung von Kraft geht im Unterschied zu Descartes dahin: Kraft wirkt nicht als äußerer Anstoß, sondern als in jedem Körper selbständig bewegendes Moment. Seine physikalische Überlegung ist demgemäß folgende: es ist das gleiche Maß an Kraft notwendig, um eine Masse von 1 Pfund 4 Meter hoch zu heben, wie es zur 21

s Bekanntlich bedeutet: m die Masse, v die Geschwindigkeit (v = —

,

w o b e i s die Strecke, t die Zeit bedeutet). 25 V g l . D ' A l e m b e r t , Traité de dynamique (1743), V o r r e d o E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, 9. A u f l . Leipzig 1933, S. 247, 341 ff. 26 Die Philosophischen Schriften v o n G o t t f r i e d W i l h e l m Leibniz, hrsg. v . C. J. Gerhardt, I V . Bd. (Berlin 1880), S. 370 ff.

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Arbeitsleistung erfordert wird, eine Masse von 4 Pfund 1 Meter hoch zu heben. Das von Descartes vorgeschlagene Kraftmaß werde dieser Tatsache nicht gerecht. Man müsse überlegen, daß der 4pfündige, 1 Meter fallende Körper, wenn er unten ankommt, dasselbe Kraftquantum wie der lpfündige Körper habe, der 4 Meter fällt. Aus der Bewegungsgleichung Galileis aber folgt, daß der aus einer Höhe von 4 Metern fallende Körper die doppelte Geschwindigkeit erlangt, wie der andere, der nur einen Meter fällt. Das ergibt für die cartesische Kraftmessung für den ersteren Körper m t • v, = 2, für den anderen m 2 • v 2 = 4. Dieses Kraftmaß ergibt zwei verschiedene Resultate, entgegen der angestellten Überlegung zur Gleichheit des Kraftquantums beider. Aber legt man das Maß: m • v 2 zugrunde, dann kommt das richtige Resultat zustande. Denn im ersteren Fall ergibt sich dann das Produkt: m t • v t 2 = k t (mt = 1, Vj2 = 4, k j = 4), im zweiten Falle entsprechend: m 2 • v 2 2 = k 2 (m2 = 4, v 2 2 = 1, k 2 = 4). Also ergibt sich: k j = k 2 , wodurch die Gleichheit des Kraftquantums erwiesen ist. Es mögen nun die philosophischen Hintergründe dieser vordergründig als physikalisch sich gebärenden Überlegungen betrachtet werden. Kant spricht in der Kräfteschrift in der Rolle des Metaphysikers, nicht des Physikers oder Mathematikers. Er faßt den Begriff der Kraft philosophisch, wenn er erklärt, daß sie nicht als geometrische Figur faßbar sei, weil sie eher dem Punkte gleiche, aus dem die Bewegung der Ausdehnung geschieht, deren Produkte der Raum und seine Gebilde sind. Mit dieser Bewegung der Ausdehnung ist nach Kantischen Voraussetzungen die „lebendige Kraft" in Zusammenhang zu bringen. Lebendige Kraft sei nicht berechenbar und nicht einmal in einem Kausalzusammenhang faßbar und determinierbar. Kant bezeichnet sie einmal als „zufällig" 27 und will damit ihre autonome, freie Natur andeuten: sie ist im Körper selbst real gegeben, nicht nur hypothetisch angenommen oder als idealer Inhalt gesetzt. Aktive, lebendige Kraft zeige sich als „Streben", den 21

„Von der wahren Schätzung . . . " , § 129, i n : I, S. 151.

Die objektive Erörterung des Kräftemaßes

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gegenwärtigen Bewegungszustand zu erhalten und allen Änderungseinflüssen zu begegnen. Habe ein bewegter Körper nur tote Kraft aufzuweisen, so sei in ihm kein autonomer Erhaltungstrieb der Bewegung wirksam. Die Intensität seiner Kraft hat dann die Größe eines Punktes und ist gleich Null. Im Falle der lebendigen Kraft aber sei deren intensiver Grad von Null verschieden. Sie sei nicht nur faktische Bewegung, sondern zugleich auch Streben zu deren Erhaltung, also potenzierte Bewegung. Ist die Geschwindigkeit „wie eine Linie", das Streben der Erhaltung dieser Geschwindigkeit ebenso linear, so sei die Vereinigung beider „wie das Quadrat". Als Kraftmaß der lebendigen spontan wirksamen Kraft erweist sich jetzt: m • v 2 : Kraft, metaphysisch verstanden, sei zugleich „Intension" 28 . Sie ist als Bewegung des Ausdehnens zu verstehen und erweist sich als Grund der ausgedehnten, extensiven Sachen. Leibniz vertrat auch die Auffassung, daß jede örtliche Bewegung eines Körpers durch seine eigene innere Kraft, nicht infolge eines Anstoßes von außen bewirkt werde. Wenn die mechanistischen Physiker, einschließlich Descartes, den Grund der Bewegung in einen äußeren Anstoß verlegen, anstatt ihn im Wesen der Körper und in ihrer inneren Kraft selbst zu suchen, dann verfallen sie in den Fehler, alles nur geometrisch zu begreifen und zu beschreiben. Auch die Ausdehnung des Körpers dürfe man nicht als geometrische Gegebenheit im Sinne einer starren Körperfigur auffassen, sondern müsse darin den wirkenden Ausdruck der Kraft sehen. Das richtige Maß der Kraft kann sich nach Leibniz nicht nur auf die geometrischen Bewegungsverhältnisse beziehen, sondern muß den Gesichtspunkt der Arbeitsleistung einschließen, welche dieser Kraft zu verdanken sei. So kommt philosophisch gesehen der Unterschied der physikalischen Formeln, die für das Kraftmaß vorgeschlagen werden, zustande. 2S

§ 123, I, S. 147.

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Kant folgt in dieser Streitfrage einem prinzipiellen dialektischen Verfahren, welches er auch reflektiert. Diese Reflexion setzt dialektische Gedanken der Vorrede zu dieser Schrift fort. Hier ergibt sich ein Vorblick auf künftige dialektische Gedankengänge Kants, in denen entstandene Streitfragen auf prinzipiell verschiedene Positionen der Vernunft zurückgeführt werden; dadurch wird der Streit von der Ebene der Auseinandersetzung zwischen zwei individuellen Denkern auf diejenige „der" Vernunft selbst übertragen, so daß die beiden Kontrahenten am Ende als Wortführer allgemeiner Motive der gemeinsamen Vernunft hervorgehen. Der dialektische Standpunkt wird dann kritisch Recht und Unrecht jeder der Parteien abzuwägen und auch die vorkommenden Irrtümer als notwendige Folgen von Standpunkten zu erklären wissen. Kant geht in der Kräfteschrift so vor, daß er das Resultat beider Parteien, der Cartesischen sowohl als der Leibnizischen, anerkennt, den Widerspruch zwischen beiden zu beheben und die Vernunft mit sich selbst wieder in Einklang zu bringen sucht. Er verfährt dabei in der Weise, daß er das Cartesische Resultat vom Standpunkt der Geometrie aus als richtig erweisen will, aber Leibniz vom Gedanken der lebendigen Kräfte aus recht gibt. Kant unterscheidet zwischen unfreien und freien Bewegungen: die freie Bewegung erhalte sich in dem Körper, dem sie mitgeteilt worden ist, weiter und daure ins Unendliche fort, wenn kein Hindernis auftrete. Dagegen beruhe die unfreie Bewegung nur auf derjenigen Kraft, die von außen her wirkt; sie verschwinde in dem Augenblick, in dem diese äußere Wirkung nicht mehr vorhanden ist. Man sieht: der erstere Fall entspricht den philosophischen Voraussetzungen von Leibniz, während der zweite Fall derjenige des Descartes ist. Geschossene Kugeln und geworfene Körper seien Beispiele der ersten Art, während für

Die objektive Erörterung des Kräftemaßes

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die zweite Art der Bewegung etwa eine Kugel als Beispiel vorschwebt, die von der Hand „sachte" fortgeschoben wird und in demselben Augenblick sofort Halt macht, wenn die Hand nicht mehr weiterschiebt. So sei der Streit so zu beurteilen, daß die Vernunft zwei verschiedene Denker ausersehen hat, jeweils Partei für eine partielle Wahrheit zu ergreifen. Kant nimmt sich selber vor, das relative Recht jeder der beiden Aussagen herzustellen und auf diese Weise eine Versöhnung der Vernunft mit sich selbst zu bewirken. „Es heißt gewissermaßen die Ehre der menschlichen Vernunft vertheidigen, wenn man sie in den verschiedenen Personen scharfsinniger Männer mit sich selber vereinigt und die Wahrheit, welche dieser ihre Gründlichkeit niemals gänzlich verfehlt, auch alsdann herausfindet, wenn sie sich gerade widersprechen." 28 Nur der philosophische Hintergrund und die philosophische Methode Kants sind bedeutsam, zumal seine physikalischen Überlegungen angreifbar sind. „Es ist leicht zu erweisen, daß kein Raum und keine Ausdehnung sein würden, wenn die Substanzen keine Kraft hätten außer sich zu wirken. Denn ohne diese Kraft ist keine Verbindung, ohne diese keine Ordnung und ohne diese endlich kein Raum." 30 Man sieht: bei der Charakteristik der Kraft spielen Prädikate wie „außen" und „innen" eine Rolle. Die Kraft ist das „Innere" der Substanz, die sich als Bewegung und zugleich als Wirklichkeit räumlich und zeitlich ausdehnt. Bewegung kann man mathematisch als Verhältnis von Raum und Zeit ausdrücken. Dabei aber wird nur von Geschwindigkeit, nicht von Bewegung gesprochen. Bewegung aber ist philosophisch gesehen keine Beziehung, sondern eine selbständige Sache für sich: sie ist Ausdruck substan!S 30

i, s . 149. I, S. 23. Damit sind Gedanken der Sdirift über die physische Monadologie vorweggenommen (Siehe unten S. 24, 43).

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

tieller, innerer lebendiger Kraft. Kant scheidet kritisch die Ebenen physikalischer und metaphysischer Sprache. Bewegung und lebendige Kraft gehören nur letzterer an. Größen treten in der physikalischen Sprache als Ergebnisse von Zusammensetzungen auf; sie müssen sich aus Einheiten zusammensetzen, um meßbar zu sein. Kraft, philosophisch als selbständiges Wesen verstanden, aber ist nicht meßbar; sie ist Kontinuum, Einfaches, welches allerdings beim Ubergang nach außen die Form der Zusammensetzung annimmt. Leibniz habe das Innere der Naturvorgänge zu begreifen gesucht. Dieses Innere sei der substantielle Träger der in der Natur vorkommenden Erscheinungen, der Bewegungen und figürlichen Gestalten 31 . Die innere Kraft findet in dem, was erscheinungsmäßig sichtbar und wahrnehmbar ist, ihren Ausdruck. Mag man im Bereich dieses Wahrnehmbaren auch immer Teilungen vollziehen, so können diese der Ganzheit und Einfachheit der auf dem Grunde wirkenden Kraft nichts anhaben: diese ist im Gegenteil das die Teile jederzeit zusammenhaltende unterirdische Band. Damit ist zugleich die Voraussetzung für einen besonderen Begriff von der Welt geschaffen, auf den Kant in diesem Zusammenhang zu sprechen kommt. Welt ist hiernach die „wirkliche Verbindung" aller Dinge miteinander. Sie ist das die vereinzelten Dinge zusammenhaltende, kontinuierende, fließende Prinzip. Was sie zusammenhält, ist Kraft 32 im philosophischen Verstände. Die mathematische Sprache sei der Natur selbst nicht adäquat: sie beschreibe den Körper nicht, den sie in der Natur auffinde, sondern setze dessen Begriff selber fest, und zwar „vermittelst der Axiomatum, von denen sie fordert, daß man sie bei ihrem Körper voraussetzen müsse, welche aber so beschaffen sind, daß sie an demselben gewisse Eigenschaften nicht erlauben und ausschließen, die an dem Körper der Natur doch nothwendig anzutreffen sind: folglich ist der Körper der Mathematik ein Ding, welches von dem Körper der Natur ganz unterschieden ist, und es kann daher etwas bei jenem wahr sein, was doch 3t Vgl. mein Buch: Der philosophische Begriff der Bewegung, KölnGraz 1965. ss 22 f. 33 I,' S. 139 f. i vgl. auch S. 40 f. und S. 107.

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auf diesen nicht zu ziehen ist" . Das bedeutet eine kritische Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Standpunkten des Denkens und Sprechens, von denen der eine als mathematischer abstrakt und postulierend auftritt, während der andere fähig ist, den realen Bestand der natürlichen Dinge zu fassen. Das metaphysische Denken begreift eine Kraft, die weder geometrisch noch arithmetisch faßbar, weil nicht ausgedehnt ist, vielmehr begründet sie erst alle Ausdehnung in einer Bewegung der Genese von Raum und Figur. Wie sich im Zuge der Begriffsbildung gezeigt hat, durch welche Galilei zu seinem Fallgesetz gekommen ist, fängt das mathematisch-physikalische Denken auch nicht die Sache, die wir als Bewegung kennen und bezeichnen, im Netz seiner Begriffe ein. Vielmehr zieht es von vornherein gewisse Faktoren heraus, die das Ganze des Begriffes der Bewegung mitbestimmen: dazu gehören Raum und Zeit, beide als meßbare Größen interpretiert. Raum und Zeit werden als Punktmannigfaltigkeiten ausgelegt, und es werden zwischen den Raumpunkten und denen der Zeit Beziehungen festgestellt, wie z. B. die der Geschwindigkeit: v = 5 _ . Von Bewegung selbst ist hierbei keine Rede mehr; höchstens von Größen bzw. Quantitäten: der Geschwindigkeit, der Bewegungsquantität usw. Kant stattet im Anschluß an Leibniz den metaphysischen Begriff der Kraft mit Eigenschaften aus, welche in solcher punktualisierenden und bloß beziehenden Denkart keinen Platz haben: vor allem ist es das „Intensionale", welches er als Charakter der Kraft ansieht. Kraft als Intension ist Bewegung des Ausdehnens, die freilich niemals mathematisch faßbar ist, weil sie den Tatbestand der sichtbar erscheinenden Bewegung, z. B. eines Steines, erst herstellen muß, den sich der mathematische Physiker seinerseits in einer Art Begriffsgitter zurechtlegt. Intension charakterisiert insofern das Wesen der philosophisch verstandenen Kraft, als sie die Bewegung des kontinuierlichen Zusammenhaltens räumlicher und zeitlicher Vielheit zu einer erscheinenden Gestalt ist. Sie zeigt zwei Seiten: einerseits leistet sie Ausdehnung, andererseits hält sie räumlich-zeitliche Vielheit zur kontinuierlichen Eins-heit erscheinender Gestalten zusammen. Schon hier begegnen Andeutungen der späteren dynamischen Theorie der Materie,

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

Es sei zu dem falschen Grundsatze in der Naturlehre gekommen, daß keine Bewegung „in der Natur entstehe, als vermittelst einer Materie, die auch in wirklicher Bewegung ist; und daß also die Bewegung, die in einem Theile der Welt verloren gegangen, durch nichts anders, als entweder durch eine andere wirkliche Bewegung, oder die unmittelbare Hand Gottes könne hergestellt werden". Dieser Satz, sagt Kant, habe denjenigen immer viel Ungelegenheiten gemacht, die ihm Beifall gezollt haben. Sie seien genötigt worden, „ihre Einbildungskraft mit künstlich ersonnenen Wirbeln müde zu machen, eine Hypothese auf die andere zu bauen; und an statt daß sie uns endlich zu einem solchen Plan des Weltgebäudes führen sollten, der einfach und begreiflich genug ist, um die zusammengesetzte Erscheinungen der Natur daraus herzuleiten: so verwirren sie uns mit unendlich viel seltsmaen Bewegungen, die viel wunderbarer und unbegreiflicher sind, als alles dasjenige ist, zu dessen Erklärung selbige angewandt werden sollen" 3 4 . Es wird hier der Gegensatz deutlich, mit dem Kant in diesem Passus operiert: auf der einen Seite stehen künstlich ersonnene Hypothesen, die aufeinandergetürmt werden, während auf der anderen Seite ein einfacher und begreiflicher Plan der Natur selbst erkennbar wird. Kant gibt dem Newtonschen: „hypotheses non fingo" in kritischen Überlegungen seiner Frühzeit eine prinzipielle Wendung. Man gehe auf eine Physik aus, die „von vortrefflichen Proben der Scharfsinnigkeit und der Erfindungskraft voll ist, allein keinen Plan der Natur selbst und ihrer Wirkungen" aufweise. Schließlich aber werde doch diejenige Meinung siegen, welche die Natur beschreibe, wie sie ist, d. h. einfach und ohne unendliche Umwege. Der Weg der Natur sei nur ein einziger Weg. Man müsse daher 51

I, S. 60.

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erst „unzählig viel Abwege versucht haben, ehe man auf denjenigen gelangen kann, welcher der wahre ist" 35 . Newton hatte die These vertreten: die Welt zeige sich immer wieder von Seiten Gottes, ihres großen Konstrukteurs, als reparaturbedürftig. So zeigen sich z. B. in der Planetenbewegung kleine Unregelmäßigkeiten, deren Ausmaß mit Wahrscheinlichkeit infolge der gegenseitigen Einwirkungen der Planeten und Kometen im Laufe der Zeit so groß werden müsse, daß ohne Korrekturen von Seiten Gottes das Ganze in völlige Unordnung kommen würde. Kant dagegen behauptet die Autarkie der Natur. Gerade die Unregelmäßigkeiten in den Bewegungen der Planeten wird er später in seiner „Allgemeinen Naturgeschichte" vom Jahre 1755 als Argument für Konsequenzen benutzen, die im Gegensatz zu denen Newtons auf die Selbständigkeit der Natur und auf die Unnötigkeit einer göttlichen Einwirkung hinauslaufen 36 . Es ist einer der charakteristischen Züge im Denken des jungen Kant, daß er im Anschluß an Leibniz jede Bedürftigkeit der Natur nach Erneuerung oder Ausbesserung von Seiten Gottes energisch bestreitet. Die Opposition gegen den auch von Newton vertretenen Gedanken einer unselbständigen und für sich nicht lebensfähigen Natur ist Tenor schon in der Kräfteschrift. Im Zusammenhang mit den Fragen um das Kraftmaß wird gegen Newton die Leibnizsche These von der Konstanz der lebendigen Kräfte in der Natur behauptet. Die Debatte um diesen Satz hat sich deswegen mit derjenigen um das Kräftemaß aufs engste verbunden, weil in der letzteren die Frage von Kräften ins Spiel kam, welche sich wie die lebendigen Kräfte stets immer erneuern und den in der Natur vor sich gehenden Energieverlust aufwiegen. Es war also der metaphysische Gedanke der lebendigen Kraft, der Leibniz und Kant veranlaßte, aus der physikalischen Erfahrung des 35 18

I, S. 61. Newton, Optice, 4. Aufl., Lausanne u. Genf 1740, S. 322 f.

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Der W e g zur Kritik der reinen Vernunft

Kräfteschwundes in der Natur nicht den Schluß Newtons zu ziehen, daß Gott immer wieder eingreifen müsse; sie kamen vielmehr zu dem entgegengesetzten Schluß, daß die Natur, einmal auf die Bahn ihrer Entwicklung gebracht, sich von sich aus selbständig und ohne fremde Einwirkung zu entwickeln vermöge. Der Gedanke einer autarken Natur motiviert auch Kants Interesse an der Erörterung der „freien Bewegungen" und der „lebendigen Kräfte" in der Natur. Im übrigen orientiert sich Kant methodisch an Newton: er brandmarkt es, daß man künstliche Hypothesen ersinne, anstatt dem einfachen W e g der Natur zu folgen. Newton hatte sich zu der Devise: „hypotheses non fingo" bekannt, um den wissenschaftlichen Ernst und die sachliche Bedeutung seiner Gravitationskraft zu rechtfertigen. Diese Kraft sei nicht ersonnen, so sagen auch Anhänger Newtons, sondern diene der „Beschreibung" der sich zeigenden Tatsachen. 3. Gott und Natur: der

Systemgedanke

Außer demjenigen Begriff von Metaphysik, der sich in Orientierung an Leibnizschen Gedankenwegen die Begründung der Erscheinungen durch die unausgedehnten und bloß „denkbaren" Kräfte zur Aufgabe macht, ist auch eine Bedeutung von Metaphysik im mehr wissenschaftstheoretischen Sinne zu bedenken. Danach ist für Metaphysik das „System" wesentlich: es handelt sich um ein System von Sätzen, von denen jeder in Abhängigkeit von einem ihm übergeordneten und ihn begründenden Satze steht und seinerseits wieder weitere Sätze begründet. Der rationale Begründungszusammenhang ist der Leitfaden, an dem die Vielheit der Sätze zu einem System zusammengebunden wird 37 . Dabei entsteht die Frage des Fundamentes: der 37 Im Sinne eines systematischen Aufbaues der Metaphysik wird z. B. bei Christian Wolff zwischen metaphysica generalis (Ontotogie) und metaphysica specialis, welcher die 3 Gebiete: theologia rationalis, psy-

Gott und Natur: Der Systemgedanke

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ersten und sichersten Sätze, von denen alles übrige abhängt. Da auf diese Weise jeder Satz durch seine Vordersätze bestimmt ist, gilt er mit Notwendigkeit und kann auch als gesichertes Ergebnis behauptet werden. Daraus ergibt sich der „dogmatische" Stil, den Metaphysik, insbesondere im Bereich der Schulphilosophie angenommen hat. „Dogmatisch" nennt Kant das Verfahren, die Sätze der Philosophie wie unbezweifelbare und gesicherte Resultate mitzuteilen und zu lehren. Der Begriff der rationalen Metaphysik, das Programm der Schulphilosophie und der dogmatische Lehr- und Mitteilungsstil gehören aufs engste zusammen. Da das Systemprinzip maßgebend ist, präsentieren sich die metaphysischen Werke und philosophischen Kompendien dieser Zeit als Lehrbücher, die in strenger Einteilung (Paragraphen) aufgebaut sind. Kant selbst wird vom Jahre 1756 ab nach einem von ihm ausgewählten metaphysischen Kompendium, der Metaphysik von Baumgarten, Vorlesungen halten. In dem Vorlesungsprogramm, in welchem er dieses Vorhaben mitteilt, bringt er freilich auch für den philosophischen Unterricht ein dem dogmatischen Verfahren entgegengesetzes Interesse zur Geltung: die Jugend dürfe nicht nur im dogmatischen Stil philosophisch gebildet werden, vielmehr müsse sie auf den Weg des Selbstdenkens durch „zetetisches" Verfahren, d. i. in suchender und prüfender Darstellung, gebracht werden. In diesem Zusammenhang wird der berühmte Satz fallen, daß die akademische Jugend nicht Philosophie, sondern philosophieren lernen sollte37". Kants nächste größere Schrift verfolgt den Gedanken der sich nach eigentümlichen Gesetzen autark entwickelnden chologia rationalis und cosmologia rationalis angehören, unterschieden. Christian Wolff (1679—1754) h a t die Leibniz'sche Philosophie auf die Sprache des Schulsystems gebracht. Insbesondere in den Titeln seiner deutschen Schriften kommt der Vernunft- und System-Anspruch des metaphysischen Denkens durch ständig neue Berufung auf „vernünfftige Gedancken . . zum Ausdruck. Es wäre von hohem Interesse für die Philosophie, bei Wolff, F. G. Meier und anderen an der Gründung der deutschen Philosophenspradie beteiligten Denkern einschließlich Kant an mehreren charakteristischen Termini den Ubersetzungsprozeß vor allem in lateinischer Sprache etablierter philosophischer Wörter der Scholastik in die damals entstehende deutsche Gelehrtensprache, in der dann auch Kant das W o r t ergreift, zu verfolgen. s7a Nachricht v o n der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem W i n t e r h a l b e n j a h r e von 1765—1766, in: II, S. 303—314. Kaulbach, Immanuel Kant

3

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Der W e g zur Kritik der reinen Vernunft

Natur weiter im Zeichen einer Kosmogonie 38 . Er unternimmt es, den Aufbau und die Entwicklung des „Weltgebäudes" nach „allgemeinen" und inneren natürlichen Gesetzen zu verfolgen. Das könne freilich für das religiöse Bewußtsein anstößig werden: denn man könne denken, daß eine sich aus sich selbst heraus entwickelnde Natur, die eine auf dem modernen Gesetzesbegriff beruhende Erneuerung des antiken Physisprinzips darstellt („Epikur lebt mitten unter uns wieder auf"), Gott überflüssig macht. Kant argumentiert: im Gegenteil sei die Annahme, daß die Natur von Anfang an schlecht verfaßt sei, ein Argument für den Atheisten, weil sie die Unfähigkeit und Ohmmacht Gottes einschließt. Eine als stark angenommene Natur dagegen sei Symptom für einen starken Schöpfer. Die Argumente, die der Sachwalter des religiösen Glaubens vorbringt, seien zwar freilich nicht von der Hand zu weisen. Es komme diesem mehr auf die Anerkennung der Macht und Unbegreiflichkeit Gottes an als darauf, daß Gott auch ein vernünftiges Wesen sei. Kants These ist, daß sich die Verteidiger der Religion der Gründe, die für eine Existenz Gottes sprechen, auf eine schlechte Art bedienen und dadurch den Streit mit den Naturalisten verewigen, „indem sie ohne Noth denselben eine schwache Seite darbieten" 39 . Unter „Naturalisten" versteht er diejenigen Naturforscher und Philosophen, welche für das Begreifen der Natur der Hypothese „Gott" entbehren zu können erklären. Einerseits suche man auf religiöser Seite die Natur als das Werk Gottes mit allen möglichen Prädikaten zu rühmen, andererseits wieder möchte man sie dann doch wieder verkleinern. Einerseits M Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprünge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt (1755), in: I, S. 215—368. " I, S. 222.

Gott und Natur: Der Systemgedanke

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soll die Natur alle möglichen Vollkommenheiten, Zweckmäßigkeiten und Gesetzlichkeiten aufweisen, andererseits aber soll sie sich als ein dem Ordnungswillen Gottes „widerwärtiges Subject" erweisen. Diese Inkonsequenz ist für die philosophische Vernunft untragbar. Es ist ein in der „Allgemeinen Naturgeschichte" mannigfach variiertes Grundthema Kants, daß die allgemeinen Wirkungsgesetze der Materie, welche Gott in der Natur angelegt hat, den Plan „von selber zu erfüllen trachten", den die höchste Weisheit sich vorgesetzt habe. Kant charakterisiert die philosophischen Prinzipien, nach denen er das Verhältnis von Gott und Natur beurteilt, so, daß er von einem „natürlichen Betragen" spricht, welches die „nach ihren allgemeinsten Gesetzen sich bestimmende Materie" zeige. Diese sind mechanische Gesetze, denen gemäß die Natur Ereignisse zeitigt, „die der Entwurf einer höchsten Weisheit zu sein scheinen". Das Wechselspiel zwischen vielen Faktoren in der Natur wie Wind, Luftdruck, Temperatur und Niederschlägen sei z. B. notwendig für das Leben auf der Erde. Solche Folgen kommen nicht durch ein bloßes Ungefähr oder durch Zufall, auch nicht durch göttliche Absichten zustande: natürliche Gesetze sind es, die mit der Notwendigkeit solche Wirkungen verursachen 40 . Er bringt zwei Gesichtspunkte zur Geltung, von denen Einwände gegen sein Unternehmen ausgehen könnten. Der eine betrifft die Grenzen unseres Wissens, der andere die Ansprüche der Religion. Die letzteren behandelt er zuerst und weist ihre Argumente als ihrer eigenen Absicht widersprechend zurück. Kant geht nicht über die Probleme des religiösen Denkens hinweg: im Gegenteil I, S. 225 f. In diese Zeit fallen Untersuchungen Kants zur physisdien Geographie, Klimatologie usf.: Dabei ist der Generalgedanke maßgebend, daß alles in der Natur n a d i vernünftig begreifbaren Gesetzen geschieht und göttliche Willkür, die im Vergleich zum Gesetz als Zufall gelten müßte, in ihl keine Wirkungsstätte findet. 3'

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

überbietet er den Anspruch der Wortführer der Religion, indem er dem theistischen Philosophen eine bessere Stellung im Streit mit den Atheisten und Naturalisten zu verschaffen sucht, als sie ihm die angeblichen Sachwalter des Glaubens bieten können. Gott wird im Denken der metaphysischen Vernunft, die ihn zum Schöpfer einer selbständigen und in sich autarken Natur macht, eine festere und gesichertere Stellung bekommen, als in demjenigen Denken, welches ihn zur Quelle der Zufälle macht. Was aber den anderen Punkt angeht, der die Grenzen der menschlichen Erkenntnis betrifft, so läßt ihn Kant an dieser Stelle in den Hintergrund treten, um ihn in der weiteren Entwicklung seines Denkens um so mehr in den Mittelpunkt zu rücken. Bemerkenswert ist, daß die beiden Themen: „Religion" und „Grenze unserer Erkenntnis" auf zwei der Fragen zutreffen, die Kant später als Grundfragen der Philosophie erklärt hat. Entspricht die Eröterung der Grenzen unserer Vernunft der Frage: „was kann ich wissen?", so deutet das von dem Wortführer der Religion intonierte Thema auf die Frage hin: „was darf ich hoffen?". Zu diesen beiden Fragen wird im späteren Fragenkatalog Kants noch die Frage hinzutreten: „was soll ich tun?". 4. Verfassung und System als Grundprinzipien „Allgemeinen Naturgeschichte"

der

Noch einmal möge der Blick auf die Äußerung Kants gelenkt werden, in welcher er erklärt, daß er von der „Unfehlbarkeit göttlicher Wahrheiten" eine so große Uberzeugung habe, daß er alles, was ihnen widerspreche, für genugsam wiederlegt halte und verwerfen würde. Man wird Kant nicht so verstehen wollen, als sei es ihm darum zu tun, Metaphysik und Naturwissenschaft am Maßstab irgendeines christlichen Dogmas messen zu wollen. Die

Verfassung und System als Grundprinzipien

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„göttlichen Wahrheiten", von denen die Rede ist, sucht Kant im Bereich der reinen Vernunft. Gott wird hier noch als Quelle und Repräsentant der vernünftigen Wahrheiten aufgefaßt. Er gilt als oberster Repräsentant der Vernunft überhaupt. Die göttlichen Wahrheiten, in der philosophischen Tradition auch als veritates aeternae angesprochen, sind solche, die von der Vernunft direkt eingesehen werden. Die „Religion", an deren Übereinstimmung mit der philosophischen Theorie Kant ein Interesse zeigt, beruht zugleich auch auf dem Glauben an die Vernunft. Ihre obersten Wahrheiten sind die, daß Gott als allervernünftigstes Wesen die Welt geschaffen habe, daß er ihr Architekt und zugleich auch Regent der in dieser Welt lebenden Geister sei. Damit der vernünftige Charakter Gottes ganz zum Zuge komme, sei es nötig, daß er das Geschaffene, die Natur, nicht wie ein willkürlich verfahrender Despot behandle: er darf nicht als Willkürgott auftreten, sondern muß ihr eine „Verfassung" geben, dergemäß sie sich selbst aus sich nach „allgemeinen" Gesetzen zu entwickeln und zu erhalten vermag. Wenn bei Kant davon die Rede ist, daß Natur als „systematische Verfassung" aufzufassen sei, dann könnte dieser Ausdruck zu der in der Tradition vielfach begegnenden Rede passen, daß Natur ein durchdachtes und systematisch geordnetes Buch sei, welches Gott zum „Verfasser" habe. Aber es ist auch möglich, daß Kant dem Wort Verfassung schon eine politische Bedeutung beigesellt hat: hierzu könnte das Prädikat „allgemein" stimmen. So, wie die Verfassung eines Territoriums nicht den Inbegriff einzelner besonderer Gesetze bedeutet, sondern als allgemeines Grundgesetz anzusehen ist, welches gleichsam den Stil aller einzelnen Gesetze bestimmt, so beziehen sich auch die allgemeinen, von Gott der Natur auferlegten Gesetze nicht auf einzelne existierende Tatsachen, sondern machen deren Wesen und innere Möglichkeiten aus. Das heißt: das Gravi-

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

tationsgesetz z. B. hat einen allgemeinen Charakter, insofern es nicht als hier und da realisierte Regel in Frage kommt, sondern als Prinzip, das die Natur zu einem systematisch geordneten und selbständig funktionierenden Bereich macht. Nach theorationalistischer 41 Voraussetzung, die Kant noch im Jahre 1755 mit Leibniz gemeinsam vertritt, werden die allgemeinen Gesetze, die Gott in der Natur investiert hat, auch von der menschlichen Vernunft erkannt. Wenn Kant vom Mechanismus der Natur spricht, dann will er sie nicht nur als Uhrwerk charakterisieren, innerhalb dessen ein Rad von außen an das andere stößt und es antreibt: vielmehr denkt er an das Funktionieren von aufeinander abgestimmten Kräften. Er vertritt die Konzeption eines dynamischen Medianismus, in welchem es auch „durchdringende" Kräfte, wie z.B. die Schwerkraft, gibt, die nicht auf die Oberfläche der Körper, sondern auf ihr Inneres einwirkt. Solche durchdringenden Kräfte, zu denen auch die Wärmekraft gehört, sind Ausdruck der philosophisch interpretierten Kraft, von welcher in der ersten Schrift über die Kräfte die Rede war 42 . Diese Kraft wirkt nicht als stoßende, drängende oder ziehende, sie überträgt sich nicht von der Oberflächengrenze des einen Körpers auf diejenige des anderen, sondern wirkt als inneres Band, welches eine Vielheit von Teilen zu einer einzigen kontinuierlichen Körpergestalt zusammenfaßt. Anders benimmt sich die Kraft der Abstoßung, welche bewirkt, daß die Oberfläche der Körpergestalt eine feste Grenze darstellt, durch welche andere Körper nicht hindurchzudringen vermögen. 41 Unter Theorationalismus verstehe ich das Denken demjenigen metaphysischen Modell gemäß, welches den göttlichen Verstand zwischen dem menschlidien Intellekt und den Dingen a priori vermitteln läßt, so daß der Mensch durch seine „eingeborenen Ideen", die ihm Gott eingegeben hat, die „Wesen" ursprünglich zu erkennen vermag, in die Gott bei der Sdiöpfung sein Wissen investiert hat. Der menschliche Verstand hat sich danach an den Wahrheiten des göttlidien, vollkommenen Verstandes zu orientieren, als dessen unvollkommenes Abbild er begriffen wird. " In den späteren „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" (1786) unterscheidet Kant zwischen der „Flächenkraft", die nun von außen her angreift, und der „durchdringenden" Kraft (z. B. Anziehung) !

Verfassung und System als Grundprinzipien

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Stellt man einen Vergleich mit anderen philosophischen Kosmogonien, etwa mit derjenigen des platonischen Timaios an, so zeigt sich die Gemeinsamkeit, daß in der Kantischen wie auch der platonischen Konzeption von einem chaotischen Anfangszustand ausgegangen wird. Die philosophische Vernunft verfolgt das Werden des Weltgebäudes, welches sich durch Sichtung, Gliederung und Ordnung des Chaos ergibt. Aber die Vorstellung von der Art und Weise, wie sich diese Ordnung des werdenden Kosmos entfaltet, ist bei Kant anders als bei Piaton. Der antike Denker läßt in dem Augenblick, in welchem sich die Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde in einer vorläufigen Weise voneinander geschieden haben, den Werkmeister der Welt auf den Plan treten, der aus den bereitliegenden Bauelementen nach mathematischen Vorstellungen das Weltgebäude zusammenstellt. Auch Kant geht zwar vom Chaos aus, aber so, daß er in ihm den selbständigen Keim und die Potenz der Ordnung enthalten sein läßt. Der chaotische Zustand weist in seinen Bausteinen den Keim künftiger Bildung sowie potentielle Ordnungen und Gesetze auf, durch welche sich ohne Eingreifen Gottes in selbständiger Entwicklung das Weltgebäude herstellt. Kant legt Wert auf die Feststellung, daß man Gott nicht überflüssig mache, wenn man die Freiheit und Selbständigkeit der Natur auf Grund ihrer allgemeinen gesetzlichen Verfassung behaupte. Gott müsse aus dem Grunde existieren, „weil die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren kann" 43 . Ohne Vermessenheit könne man sagen: Gebt mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen! Damit sei gemeint: Gesteht mir die Annahme von Stoffen zu, die sich nach den uns in der Physik Newtons bekannt gewordenen Gesetzen ver" I, S. 228.

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Der W e g zur Kritik der reinen Vernunft

halten, dann kann ich den Entwicklungsgang zeigen, auf welchem eine Welt selbständig daraus entsteht. Welche anfänglichen Voraussetzungen muß der Ansatz enthalten, damit eine Entwicklung der W e l t in Gang kommen kann? Kant denkt da an eine Weltmaterie, die kontinuierlich den ganzen Raum erfüllt, ohne eine leere Stelle zu lassen. Diese Materie läßt er aus elementaren Kraftzentren bestehen. Er denkt an die physische Monade, nicht an die Atome Demokrits. A l s prinzipielle Eigenschaften der Materie setzt er die Kräfte der Attraktion und der Repulsion an. W e n n Materie mit einer „wesentlichen Attractionskraft" begabt sei, so sei es nicht schwer, diejenigen Ursachen zu bestimmen, die zur Einrichtung des Weltsystems im Großen haben führen können. Kant nimmt für sich in Anspruch, nichts weiter als solche von ihm als mechanistisch bezeichnete Voraussetzungen zu benötigen, um zeigen zu können, w i e sich aus ihnen selbständig eine W e l t aufbaut. Sein Begriff von Mechanismus ist besonderer Art: er gründet sich auf das Modell der monadischen Kraftzentren, die Anziehung und Abstoßung bewirken und für welche Bewegungsgesetze gelten, bei denen das genannte polare Kräftepaar agiert. In diesem Zusammenhang freilich begegnet das weltkonstruierende metaphysische Denken einer Grenze. So ist es möglich, auf diese W e i s e den A u f b a u des kosmischen Weltsystems zu konstruieren. A b e r Kant fragt, ob man auch imstande sei zu sagen: „Gebt mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Raupe erzeugt werden könne?" Die „wahre innere Beschaffenheit" des Objekts sei uns hier durchaus unbekannt, da wir gedanklich der Komplexität des Lebendigen nicht Herr zu werden vermögen. W a s hier sich durch das Wort „innere Beschaffenheit" ankündigt, deutet auf dasjenige „Wesen" hin, welches den Erscheinungen zugrunde liegt. 5. System und freie Natur Insofern die „Materie" Urstoff aller Dinge ist, sei sie an gewisse Gesetze gebunden, „welchen sie frei überlassen nothwendig schöne Verbindungen hervorbringen muß". Ihre Freiheit besteht in ihrer Gesetzlichkeit, nicht darin, von

System und freie Natur

41

diesem Plane der Vollkommenheit abzuweichen44. Gott als absolute Vernunft hat der Natur eine Verfassung gegeben, derzufolge sie sich frei und ungezwungen entwickelt. Im ersten Teil der allgemeinen Naturgeschichte will Kant den Abriß einer „systematischen" Verfassung unter den Fixsternen geben. Seitdem die Keplerschen Gesetze bekannt sind, können wir die erscheinende kosmische Natur als das sichtbar gewordene System der Vernunft auffassen. Im systematischen Aufbau der Welt gibt es einen räumlichen Mittelpunkt: ihn nimmt die Sonne ein. Um diesen Mittelpunkt kreist eine Anzahl von Himmelskörpern derart, daß sie sich gegenseitig nicht stören, sondern ihre Bewegungen in Harmonie vollführen. Dadurch zeigt sich eine sichtbar gewordene Einheit in einer großen Mannigfaltigkeit, wobei diese Einheit durch den Mittelpunkt, um den die Planeten kreisen, repräsentiert wird. „Eigentlich machen alle Planeten und Kometen, die zu unserem Weltbau gehören, dadurch schon ein System aus, daß sie sich um einen gemeinschaftlichen Centraikörper drehen." 45 In besonderer Weise zeige sich der systematische Charakter des Weltenbaues 46 in folgendem: Sehen wir einmal auf dasjenige Sonnensystem, dem wir selbst als Erdensöhne angehören, dann ergibt sich: die Planeten laufen auf elliptischen Bahnen um die Sonne. Darüber hat uns das l.Keplersche Gesetz belehrt. Es ist auffallend, daß diese Planetenbahnen aufeinander streng abgestimmt sind: sie verlaufen alle nahezu in einer Ebene. Denkt man sich einen Äquator um " I, S. 228. 15 I, S. 246. 1S Kant spricht kaum vom „Kosmos", eher vom „Weltgebäude", „Weltbau" usf. Es ist zu bemerken, daß der als „Weltgebäude" usf. angesprochene Inbegriff wirklicher Erscheinungen nicht dieselbe Bedeutung wie „Welt" bzw. „Natur" im Ganzen hat. Diese letzteren sind Namen für die umgreifende, beständige Verfassung selbst, welche die Entwicklung und gesetzmäßig geregelte Geschidite der vergänglichen Teile des erscheinenden „Weltgebäudes" bestimmt.

42

Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

die Sonne gezogen und stellt sich die Fläche vor, die durch diesen Äquator bestimmt wird, dann ergibt sich, daß die Planetenbahnen alle nahezu auf solch einer Äquatorfläche verlaufen. J e größer freilich die Entfernung eines Planeten von der Sonne ist, um so weniger streng ist seine Bindung an die Ordnung, kraft deren sich die übrigen näheren Planeten möglichst exakt auf dieser Fläche bewegen müssen. Es ergibt sich auf diese Weise eine Verfassung, welche Kant als systematisch bezeichnet. „Wenn daher eine gewisse Anzahl Himmelskörper, die um einen gemeinschaftlichen Mittelpunkt geordnet sind und sich um selbigen bewegen, zugleich auf eine gewisse Fläche so beschränkt worden, daß sie von selbiger zu beiden Seiten nur so wenig als möglich abzuweichen die Freiheit haben; wenn die Abweichung nur bei denen, die von dem Mittelpunkte am weitesten entfernt sind und daher an den Beziehungen weniger Antheil als die andern haben, stufenweise statt findet: so sage ich, diese Körper befinden sich in einer systematischen Verfassung zusammen verbunden." 4 7 Weil die Bewegung des Planeten in sich selbst zurückkehrt, werden zwei Kräfte vorausgesetzt, „welche bei einer jeglichen Art des Lehrbegriffs gleich nothwendig sind, nämlich eine schießende Kraft, dadurch sie in jedem Punkte ihres krummlinichten Laufes die gerade Richtung fortsetzen und sich ins Unendliche entfernen würden, wenn nicht eine andere Kraft, welche es auch immer sein mag, sie beständig nöthigte diese zu verlassen und in einem krummen Gleise zu laufen, der die Sonne als den Mittelpunkt umfaßt. Diese zweite Kraft, wie die Geometrie selber es ungezweifelt ausmacht, zielt allenthalben zu der Sonne hin und wird daher die sinkende, die Centripetalkraft, oder auch die Gravität genannt" 48 . Von dieser Kraft, die auch Gravita« I, S. 246. 41 I, S. 243.

System und freie Natur

43

tionskraft heißt, erklärt Kant, daß sie ein „ausgemachtes Phänomenon der Natur" sei. Die Aufwertung des Erscheinungsprinzips bei Kant kommt dadurch zum Ausdruck, daß er dieses „Phänomen" auch als ebenso „zuverlässig" bezeichnet wie das „Gesetz", nach „welchem sich diese Kraft von dem Mittelpunkte in die ferne Weiten erstreckt" 4 9 . Diese Kraft nehme in dem Verhältnis ab, in welchem die Quadrate der Entfernungen vom Mittelpunkte zunehmen. 6. Systematische

Verfassung

als

Entwicklung

Legt sich die Vernunft die W a h r h e i t über die Welt in der W e i s e des Begründens und insbesondere in der Sprache von Ursache und W i r k u n g zurecht, so liegt es nahe und ist natürlich, daß sie es auf eine genetische Darstellung des W e r d e n s der Natur abgesehen haben muß. Die Philosophie der natürlichen W e l t muß den W e g e n der begründenden Vernunft folgen, die Gott in der Natur angelegt hat. Auf Grund dieser „Anlage" kann sich Natur selbst aus freien Stücken von einem chaotischen Zustand aus in denjenigen der „Bildung" entwickeln. Von „dem ersten Zustande der Natur, der Bildung der Himmelskörper, den Ursachen ihrer Bewegung und der systematischen Beziehung derselben" handelt der zweite Teil der allgemeinen Naturgeschichte 50 . W e n n Kant am Leitfaden seiner Theorie beschreibt, wie die „Bildung" der Himmelskörper und ihrer Bewegungen zustande kommt, dann wird deutlich, wie mancher Gedankengang aus der „physischen Monadologie" 5 1 anklingt, die ein J a h r nach dieser Abhandlung erscheinen wird. Der Kantischen Hypothese zufolge bewirken die Elemente dich" i, s. 244.

" I, S. 259. 61 Metaphysicae cum Geometria iunctae usus in Philosophia Naturali, cuius Specimen I. continet Monadologiam Physicam (1756), in: I, S. 473—487.

44

Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

terer Art, welche besondere Anziehungskraft ausüben, ein Kräftefeld um sich herum: so ziehen sie „aus einer Sphäre rund um sich alle Materie von minder specifischer Schwere" an. Diese dichteren Elemente aber reagieren selbst wieder in Kräftefeldern, die ihrerseits von noch dichteren, anziehungsstärkeren gebildet werden und „sammlen sich in den Punkten, da die Theilchen von noch dichterer Gattung befindlich sind, diese gleichergestalt zu noch dichteren und so fortan" 52 . Auf diese Weise würde Resultat der Bildung zuletzt ein einziger Weltklumpen sein, der nach vollendeter Entwicklung in Ruhe bleiben würde, wenn die Natur nicht noch andere Kräfte „im Vorrath" hätte: es handelt sich vor allem um die Kraft der Zurückstoßung. Diese Kraft bringe durch ihren Streit mit der Anziehung diejenige Bewegung hervor, die „gleichsam ein dauerhaftes Leben der Natur ist" 53 . Kant lenkt zunächst den Blick auf die Verhältnisse in dem uns bekannten Sonnensystem; er sucht nach Strukturen, die er analogisch auf das ganze Weltsystem auszudehnen berechtigt sein darf. So mag sich die Sonne dadurch gebildet haben, daß ursprünglich eine dichtere und anziehungskräftigere Masse andere Teile an sich gezogen hat. Dabei müsse man annehmen, daß der diese Anziehungskraft ausübende Körper durch die Vereinnahmung der auf ihn fallenden Materien in einem ständigen Wachstum begriffen sei, wodurch er noch mehr Anziehungskraft gewinne. Im Verlaufe der Fallbewegung angezogener Körper geschieht es aber, daß diese zugleich einander abstoßen und in eine Kreisbewegung um das Zentrum der Anziehung geraten. Es entstehen „große Wirbel von Theilchen, deren jedes für sich krumme Linien durch die Zusammensetzung der anziehenden und der seitwärts gelenkten Umwendungs" I, S. 264 51 I, S. 265.

Systematische Verfassung als Entwicklung

45

kraft beschreibt; welche Arten von Kreisen alle einander durchschneiden, wozu ihnen ihre große Zerstreuung in diesem Räume Platz läßt" 54 . Es entsteht ein Streit von Bewegungen und Kräften, aus dem schließlich Ordnung und Vereinbarung resultiert. In diesen Überlegungen kommt ein folgenreicher Gedankengang Kants zur Sprache: Streit und Widerstand stimulieren die Bildung von Ordnung, durch sie werden indirekt gegenseitige Regelung und Gesetz zustande gebracht. In der späteren Geschichtsphilosophie Kants wie auch in seiner Dialektik wird dieses Prinzip noch zur Sprache kommen. Die Überlegungen Kants zur Begründung für die Art des Aufbaues der Welt und ihre Entstehung sind nicht nur als Wegweiser für die Astronomie bedeutsam: vielmehr haben sie die philosophische Bedeutung des Hinweises darauf, daß die Vernunft im Weltbau einen erscheinenden Ausdruck ihrer eigenen Systematik findet. Die Welt als mundus sensibilis ist der Text, den Vernunft verfaßt hat und in welchem sie sich als systematische Instanz zur Sprache bringt. Der Gedanke, den Kant vom Wesen des Systems konzipiert, ist an dem Leibnizschen Prinzip der größten Einheit in einem Maximum von Vielheit orientiert. Aber Kant gibt von Anfang an diesem Prinzip einen besonderen Sinn: er faßt es insofern dialektisch, als er die Einheit und Ordnung als Resultante begreift, die sich aus widerstreitenden Faktoren ergibt. Systematische Verfassung und Gesetzlichkeit in der Welt bestehen in der Einigung zwischen einander entgegengesetzten Kräften. So gäbe es z. B. keine systematische Verfassung des Planetensystems mit der Sonne in der Mitte und den in Ellipsenform um sie kreisenden Plane" I, S. 265,

46

Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

ten, wenn nur eine einzige Kraft, die Gravitationskraft, am Werke wäre. Die Technik, welche Vernunft gebraucht, um Einheit des Widerstreitenden herzustellen, besteht in dem Verfahren des „Einschränkens". Auch in der späteren Ethik und Geschichtsphilosophie wird das Modell des gegenseitigen Einschränkens widerstreitender Kräfte maßgebend werden. Kant z. B. wird davon reden, daß die verschiedenen Individuen mit ihren eigenen vielen Interessen notgedrungen dadurch zur Einheit finden müssen, daß jedes seine eigene Freiheit so weit einschränkt, daß sie mit der Freiheit der anderen verträglich ist. Die Prinzipien der Einschränkung und des „Gesetzes" sind auf einem Holz gewachsen. In der Prinzipienlehre der Kantischen Frühzeit wird die freie Konkurrenz der einander widerstreitenden Kräfte der Natur durch das Gesetz so eingeschränkt, daß die eine Kraft die andere nicht stört. Gegenseitige Einschränkung aller Kräfte ist die Technik eines systematischen Ganzen, sich als Einheit von widerstreitenden Kräften zu erhalten. Es besteht eine „Systematische Verfassung" der Natur, kraft deren jedes Einzelne, was im Ganzen Platz und Funktion zu haben beansprucht, von der Ordnung und Macht der gegenseitigen Einschränkungen her bestimmt wird. Dieser Umstand bewirkt, daß die Natur unter „allgemeinen" Gesetzen steht. 7. Bedeutung

des Wortes

„allgemein"

Das „Gesetz" ist allgemein, insofern es keine Ausnahmen und Privilegien duldet. Galilei hat betont, daß er auch insofern ein Gegner des Aristoteles sei, als er keine Ausnahmestellung irgendeiner geometrischen Figur vor der anderen oder eines Ortes im Räume vor dem anderen zugeben könne. Er habe die Adelsregister der geometrischen Figuren und eventuelle Privilegien, die der einen oder der anderen zukommen könnten, nicht studiert. Die Natur gehe nach allgemeinen Gesetzen vor, heißt: kein Geschehnis darf im Bereich dieser Natur vorkommen, das

Bedeutung des Wortes „allgemein"

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eine Ausnahmestellung hätte. Der Begriff der Allgemeinheit schließt auch denjenigen einer gewissen Selbständigkeit und Autarkie der Natur ein: kraft ihrer allgemeinen Gesetze vermag Natur aus sich heraus Aufbau und Genese des Kosmos und alles dessen, was auf den „Himmelskörpern" sich findet, zu leisten. Es bedarf keines willkürlichen und Ausnahmezustände schaffenden Eingriffs einer fremden Hand. Weil nach diesem Plane ein systematisches Ganzes entstehen soll, innerhalb dessen die einzelnen Individuen sich gegenseitig gesetzlich einschränken, so ist alles, was in dieser Natur geschieht und auftritt, einer allgemeinen Regel gemäß, die dafür sorgt, daß das natürlich Geschehende überall und immer so geschehen muß, wie es das Gesetz will. Dann kann nicht in ihr zugestanden werden, was nur von ungefähr zufällt: die Allgemeinheit des Naturgesetzes schließt zugleich auch Notwendigkeit ein. Es sind z. B. notwendige Gesetze, nach denen die Attraktionskraft und die ihr entgegengesetzte Abstoßungskraft zusammenwirken, um am Schluß das systematische Ganze unseres Sonnensystems oder noch größerer Systeme zu ergeben, von denen unsere Welt nur ein Teil ist. In diesem Punkte unterscheidet sich Kant bewußt von Epikur und Lukrez, deren Atomismus er außerdem durch den Gedanken einer „physischen Monadologie" zu überwinden sucht. Epikur sei „so unverschämt" gewesen, daß er verlangte, die Atome wichen von ihrer geraden Bewegung ohne alle Ursache ab, um einander begegnen zu können. Die systematische Verfassung der Natur ist durch den unendlichen Verstand, der als das große Vorbild menschlicher Vernunft gilt, zuwegegebracht worden. Daher muß auch menschliches Denken das Interesse haben, die Welt als einen einzigen Zusammenhang zu begreifen. Sie muß darauf ausgehen, das Werk der göttlichen Vernunft als System zu erkennen, welches schließlich auf einen einzigen

48

Der W e g zur Kritik der reinen V e r n u n f t

Mittelpunkt bezogen ist, dem auch alle Einzelsysteme, wie z. B. das uns vertraute Sonnensystem, angehören. Dieser Mittelpunkt, das steht als Gedanke dahinter, ist „äußerer" Repräsentant desjenigen zentralen Punktes, der die Vernunft selbst ist. Die Gegenwart der göttlichen Vernunft erstreckt sich durch den einzigen Raum und läßt keine Stelle unbesetzt: dieser Raum müsse als unendlich angenommen werden, wenn er als Gegenwart der göttlichen Vernunft aufgefaßt wird. Weil der leere Raum der unendliche „Umfang der göttlichen Gegenwart" 5 5 ist, sei es auch zu verstehen, weshalb die von Gott entworfenen Naturgesetze den Charakter von Allgemeinheit in dem Sinne haben, daß keine Stelle dieses Raumes eine Ausnahme bilde oder von der göttlichen Planung unberücksichtigt bliebe. 8. Schöpfung als Evolution systematischer

Ordnung

Es begegnet das Schauspiel, daß die V e r n u n f t von einem Anfange und absoluten Mittelpunkte aus in sukzessiven Schritten Ordnung stiftet und fortschreitend immer weitere, entferntere Sphären um diesen Mittelpunkt herum durch ihre Systematik gleichsam zivilisiert: dieses Schauspiel heißt Entwicklung. Die göttliche Vernunft beginnt an einem Punkte mit dem A u f b a u der Weltordnung und erobert von hier aus Sphäre um Sphäre: sie überschreitet jeweils eine um die schon gebildete Welt gezogene Raumgrenze, um auch auf das Jenseitige überzugreifen und es dem Chaos abzugewinnen. „Ich finde nichts, das den Geist des Menschen zu einem edleren Erstaunen erheben kann, indem es ihm eine Aussicht in das unendliche Feld der Allmacht eröffnet, als diesen Theil der Theorie, der die successive Vollendung der Schöpfung betrifft." 5 6 Gott bringt seine 55 s

I, S. 306. « I, S. 312.

Schöpfung als Evolution systematischer Ordnung

49

Schöpfung dadurch zur Existenz, daß er ihr eine Selbständigkeit verleiht, kraft deren sie sich fortschreitend im Sinne einer systematischen Verfassung zu entwickeln vermag. Das geschieht in der Weise, daß die „Ausbildung der Natur" bei dem erwähnten Mittelpunkte zuerst anfängt und „mit stetiger Fortschreitung nach und nach in alle fernere Weiten ausgebreitet wird, um den unendlichen Raum in dem Fortgange der Ewigkeit mit Welten und Ordnungen zu erfüllen" 57 . Es sei der größten Aufmerksamkeit würdig, daß der Gedanke des Systems denjenigen des Werdens und der Entwicklung einschließe, daß die Ordnung der Natur nicht als perfekte, ein für alle Mal fertige angenommen werden dürfe. Die Schöpfung existiere nicht als einmaliger, von Gott geleisteter Akt, sondern komme in der selbständigen Ausbildung der Natur zur Erscheinung: „. . . die Schöpfung, oder vielmehr die Ausbildung der Natur" 58 . Wohl hat Gott die Wesenheiten oder die Naturen der Dinge in seinem Verstände a priori entworfen, so daß sie stets von ihm abhängig sind und bleiben. Aber er hat zugleich — und darin besteht seine Schöpfungsleistung — die notwendigen Wesenheiten, die Naturen, als gesetzliche, systematische Verfassung einer wirklich existierenden Natur ins Werk gesetzt. Dieser Bezug, den Kant schon im Jahre 1755, wenngleich unausgesprochen, im Auge hat, betrifft das Verhältnis zwischen Gott, den Wesenheiten oder inneren Möglichkeiten der Dinge und der Existenz: er enthält den Kern der Prinzipienlehre des frühen Kant. In jeder Epoche der Weltentwicklung ist die systematische Bildung der Natur bis zu einer gewissen Grenze gediehen, welche eine endliche Sphäre um den Mittelpunkt beschreibt, der zugleich den Anfang der Bildung bezeich" I, S. 312. sa I, S. 312. Kaulbadi, Immanuel Kant

4

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

net. Jenseits dieser Grenze findet sich noch Roheit und Chaos. Aber der Fortschritt zielt darauf ab, diesem Chaos Stück für Stück abzugewinnen und es systematisch zu ordnen. Dieser Fortschritt in der Bildung und Entwicklung der Natur kann von der Seite des Raumes und derjenigen der Zeit betrachtet werden. Die Entwicklung nimmt einerseits immer neue Raumsphären hinzu, um sie dem Lande der Bildung einzuverleiben. Das geschieht aber in einer fortschreitenden Zeitfolge: „.. . so wird in der ursprünglichen Regung der Natur die Bildung zunächst diesem Centro angefangen und dann in fortschreitender Zeitfolge der weitere Raum nach und nach Welten und Weltordnungen mit einer gegen dieses sich beziehenden systematischen Verfassung gebildet haben" 59 . So gibt es Perioden der Naturgeschichte, die um so länger dauern, je mehr Raum zivilisiert werden mußte. Wie ein ins Wasser geworfener Stein vom Punkte seines Auftreffens aus Wellen um sich herum in der Form konzentrischer Ringe ausbildet, die er allmählich, vom Auftreffpunkt anfangend, in einem stets sich erweiternden Umkreise hervorruft, so denkt sich Kant die Bildung kosmischer Ordnungen und Gestalten. Sie fängt von einem Mittelpunkt aus an und pflanzt sich in immer sich erweiternden Sphären weiter. Da diese Ordnung aber einen qualitativen Höhepunkt erreichen kann, geschieht es, daß schon gewordene Bildungen wieder zerfallen, während in anderen Sphären erst neue Bildungen begriffen sind, die sich aus dem Chaos heraus gestalten. Diesen Gedanken bringt Kant mit der Überlegung des Zusammenhanges jedes einzelnen Vorgangs in der Welt mit jedem anderen in Verbindung. So mag sich an einer Stelle des Kosmos infolge der Endlichkeit des hier gewordenen Gebildes das 55

i, s . 313.

Die endlose Wiederkehr des Gleichen

51

allen endlichen Gestalten, die wesentlich einen schon im Stadium ihrer Bildung wirksamen unvermeidlichen Hang zum Untergange haben, eigentümliche Schicksal des Absterbens ereignen, während gerade im Zusammenhang damit an einer anderen Stelle eine Neubildung im Gange ist. Die systematische Ausbildung der Weltkörper und der zwischen ihnen stattfindenden Ordnung kann niemals in einen starren, festen Endzustand einmünden. Zu gegebener Zeit entsteht im Zusammenhang mit dem Plan des Ganzen an einer Stelle ein Gebilde, dessen Aufleben an dieser Stelle nur deshalb möglich ist, weil das bisher hier gewesene Gebilde zu seiner ihm vom Naturgesetz vorgeschriebenen Zeit untergegangen ist und dem Neuen Platz gemacht hat: wobei das letztere freilich nicht weniger dem Gesetz der Vergänglichkeit und des Verdrängtwerdens unterworfen ist. „Auf die gleiche Art vergehen Welten und Weltenordnungen . . d a g e g e n ist die Schöpfung immerfort geschäftig, in andern Himmelsgegenden neue Bildungen zu verrichten und den Abgang mit Vortheile zu ergänzen." 60 9. Die endlose Wiederkehr

des Gleichen

Wiederkehr des Gleichen ist die Folge, wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt; denn es liegt nahe zu glauben, daß die Natur, die sich bisher selbst geholfen und aus einem frühen chaotischen Zustande durch sich selbst und in sich selbst kosmische Ordnung hergestellt hat, auch in dem Augenblick selbständig wieder zur Ordnung zurückkehren könne, in welchem sie naturgesetzlich zum Chaos geworden war. „Können die Federn, welche den Stoff der zerstreuten Materie in Bewegung und Ordnung brachten, nachdem sie der Stillstand der Maschine zur Ruhe gebracht hat, durch erweiterte Kräfte nicht wiederum in •• I. S. 317. 4*

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

Wirksamkeit gesetzt werden und sich nach eben denselben allgemeinen Regeln zur Übereinstimmung einschränken, wodurch die ursprüngliche Bildung zuwege gebracht worden ist?" 61 Wenn man annimmt, daß im Falle des Absterbens eines Systems die Planeten und Kometen auf die Sonne niederstürzen, dann ist die Folge ein ungeheurer materieller Zuwachs für die Sonne. Das bedeutet für diesen Himmelskörper zugleich einen ebenso großen Zuwachs an Energie, wodurch er mit um so größerer Intensität auszustrahlen vermag. Insbesondere wenn die leichteren Stoffe der entfernten Planeten auf die Sonne fallen, wird das Sonnenfeuer jäh brennende Nahrung bekommen. Dadurch werde alles wieder in die kleinsten Elemente aufgelöst: zugleich aber werden diese Elemente wieder durch die Ausdehnungskraft der Hitze mit großer Energie in weite Räume hinausgeschleudert und zerstreut: so daß der Zustand eines von Materie kontinuierlich erfüllten Weltenraumes entsteht, wie er ganz zu Anfang vor der Bildung dieser Welt bestanden hatte. Unterdessen ist die Heftigkeit des Zentralfeuers durch die zu jäher Intensität gesteigerte Ausstrahlung großer Materien wieder gedämpft worden, so daß Bedingungen geschaffen worden sind, durch „Verbindung der Attractions- und Zurückstoßungskräfte die alten Zeugungen und systematisch beziehende Bewegungen mit nicht minderer Regelmäßigkeit zu wiederholen und ein neues Weltgebäude darzustellen" 62 . Mit anderen Worten: es sind dieselben allgemeinen und die Selbständigkeit der Natur verbürgenden Gesetze, nach welchen Bildung des Kosmos, Zerfall der gebildeten Welt und neue Bildung vor sich geht. Der Gedanke der endlosen Wiederkehr ist mit der Idee der Ewigkeit der Natur verbunden. Diese Ewigkeit der Natur kann, wie es z. B. in antiken Wiederkehrtheorien der Fall war, als Absolutheit und Unabhängigkeit der Natur gedeutet werden. Das geht bei Kant nicht an, weil er von der Voraussetzung ausgeht, daß die Natur Schöpfung «> t2

I, S. 320. I. S. 320.

Die endlose Wiederkehr des Gleichen

53

Gottes sei. Dann aber ist aus der Theorie der endlosen Wiederkehr die Konsequenz zu ziehen, daß Gott der Natur bei der Schöpfung in gewisser Hinsicht Ewigkeit eingepflanzt hat. Diese Ewigkeit kommt als unendliche Sphäre des Raumes und als Unendlichkeit des zeitlichen Prozesses zur Erscheinung. Der unendliche Raum sei göttliche Gegenwart, und die unendliche Zeit bezeichne die endlose Geschichte der Schöpfung. „Unendlichkeit" von Raum und Zeit bedeuten bei Kant End-losigkeit 63 . Im Sinne der späteren Abhandlung über den einzig möglichen Gottesbeweis 64 von 1763 heißt es schon in der kosmologischen Schrift: „Also ist ein Wesen aller Wesen, ein unendlicher Verstand und selbständige Weisheit, vorhanden, daraus die Natur auch sogar ihrer Möglichkeit nach in dem ganzen Inbegriffe der Bestimmungen ihren Ursprung zieht" 65 . Was hier als „Möglichkeit" angesprochen wird, ist auf die „possibilitas interna" der Scholastiker zurückzuführen und tritt in der Schulphilosophie als „innere" Möglichkeit auf. Sie bedeutet das Wesen, den sachlichen Gehalt (realitas) der Dinge. Die inneren Möglichkeiten bzw. Realitäten haben ihren Ursprung im Geiste Gottes und dürfen von hier aus gesehen als ewig und unveränderlich gelten. Der Autor der „Allgemeinen Naturgeschichte" steht in diesem Punkte auf platonisch-augustinischen Voraussetzun63 Die Wiederkehrstheorie Kants gehört zu seiner Interpretation des Begriffs der Schöpfung und hat infolgedessen einen geschichtlichen Einschlag, insofern die im Zeichen der endlosen Wiederkehr stehende Naturentwicklung im ganzen als Stiftung einer freien göttlichen Person aufgefaßt wird. Daher ist diese Kantische Theorie ein Gegenbeleg gegen die These von M. Eliade, der in „Kosmos und Geschichte" eine scharfe Alternative zwischen einer geschichtlichen Auffassung, in der Freiheit und Einmaligkeit Platz haben, und einem naturmythischen Denken behauptet, unter dessen Voraussetzung eine Wiederkehrstheorie, wie etwa diejenige Heraklits in der Antike oder Nietzsches in d e r Neuzeit, möglich ist (vgl. M. Eliade, Kosmos und Geschichte, Rowohlt 1966). 61 Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763), in: II, S. 63—163. ,s I, S. 334.

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

gen. Die Natur gilt ihm nicht als absolut unabhängig, aber dodi insofern als ewig, als sie die Erscheinung ewiger Realitäten und Wesenheiten ist. Ihre wesentlichen Eigenschaften führen ihren Ursprung auf einen einzigen Verstand zurück als den Grund und die „Quelle" aller Wesen. Die Leistung des göttlichen Verstandes, die ewigen Wesen zu denken, wird von Kant durchgehend auch als „Entwurf" bezeichnet. Die inneren Möglichkeiten bzw. Realitäten der Dinge werden vom göttlichen Verstände „entworfen". Es ist bemerkenswert, daß dieser Terminus in solchen Sätzen begegnet, in denen es um die Charakteristik der göttlichen Vernunftleistung zu tun ist. In der Periode der Kritik der reinen Vernunft ist von „Entwurf" in einem anderen Sinne die Rede: hier tritt der Verstand des menschlichen Subjekts als entwerfende Instanz auf. 10. Kants

Mechanismusbegriff

Bei Kant liegen insofern besondere Voraussetzungen für die Auffassung vom „Medianismus" vor, als er wie Leibniz mit einem metaphysischen Modell von Kraft arbeitet, welches nicht bloß ein Anstoßen und Verdrängen einander fremder Körper vorsieht. Kant denkt an unräumliche Kraftmittelpunkte, die er 1756 als „physische Monaden" ansprechen wird. Für die Charakterisierung dieser Monaden bietet sich das Modell des Kraftfeldes an, insofern sie sich als Mittelpunkte erweisen, die um sich eine „Sphäre der Aktivität" 66 verbreiten und andere Körper anzuziehen vermögen. Anziehungskraft wird bezeichnenderweise als „durchdringende" Kraft angesprochen. Ist eine Kraft der Durchdringung fähig, dann hat das übliche mechanistische Modell äußerer Berührung und Fremdheit der sich berührenden Körper ausgespielt. Der durchdringenden Kraft " I, 480 f.: Prop. VI Theorema.

Kants Medianismusbegriff

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ist es möglich, das zunächst Fremde zum Eigentum des Körpers zu machen, von dessen Mittelpunkt aus sie wirkt. Der Mechanismusbegriff Kants wird durch den Gedanken dieser durchdringenden, die Fremdheit des Verschiedenen aufhebenden Kraft bestimmt. Nur unter dieser Voraussetzung kann Kant den Mechanismus als Bürgen für die Automatie der Naturentwicklungen ansprechen und in der „mechanisch" verfaßten Natur Gestaltbildung und Zeugung am Werke sehen. Weil das System der Natur in diesem Sinne mechanisch ist, eignet ihm nicht der Charakter eines Zusammenhanges zwischen starr Getrenntem, einander Fremden. Mechanismus wird nicht als Druck- und Stoßwirkungszusammenhang gedacht: vielmehr wird ihm Gestaltbildung und Umbildung, Zeugung neuer Gestalten und Untergehen der alten, Stiften von Ordnung und Auflösung: kurz Entwicklung zugeordnet. Mechanismus ist Inbegriff der „allgemeinen" Gesetze, kraft deren jeder Zufall ausgeschlossen wird und die Natur als vernünftiger Zusammenhang ansprechbar ist, der die Form der Kausalität annimmt. Da der Mechanismus im Geiste Gottes seinen Ursprung hat, müssen die ihm gemäß verlaufenden Prozesse der Natur auch die Zwecke in der Welt erfüllen, die Gott vorgesehen hat. Es kann im Mechanismus „nimmermehr selbst nach den allgemeinsten Gesetzen sich was Gott Mißfälliges eräugnen. . . " . Die „wesentlichen" Beziehungen rühren „als die Gründe des Nothwendigen in der Naturordnung von demjenigen in Gott" her, was „mit seinen Eigenschaften überhaupt in der größten Harmonie steht" 6 7 . Weil der für Mechanismus in diesem Sinne maßgebende Begriff der durchdringenden Kraft auch das Prinzip des Strebens auf etwas hin einschließt, tritt das durch sie bestimmte Gedankensystem in 67

Der einzig mögliche Beweisgrund . .

in: II, S. 110.

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

keinen Gegensatz zu teleologischen oder organologisdien Überlegungen. Audi die Organismen gehören zur machina mundi: es ist uns Menschen nur nicht möglich, die dabei waltenden mechanischen Beziehungen in der Unendlichkeit ihrer Komplikation zu durchschauen. Aus diesem Grund sei es eine andere Sache, das Wachstum des Grashalms oder der Raupe zu begreifen, als die Gesetze zu erkennen, nach denen sich die Planeten um die Sonne bewegen. Gott ist Urheber des Daseins der Dinge und ebenso ihrer inneren Möglichkeiten, ihres gesetzlichen Zusammenhanges, also dessen, was Kant in dieser Frühzeit auch das „Wesen" der Sachen nennt. Deshalb fügt sich der mechanische, gesetzliche Zusammenhang, der das Wesen der Naturdinge ausmacht, zwanglos in das System der vernünftigen Absichten Gottes ein. „Dagegen da ich belehrt bin, daß darum nur, weil ein Gott ist, etwas anders möglich sei, so erwarte ich selbst von den Möglichkeiten der Dinge eine Zusammenstimmung, die ihrem großen Principium gemäß ist, und eine Schicklichkeit durch allgemeine Anordnungen zu einem Ganzen zusammen zu passen, das mit der Weisheit eben desselben Wesens richtig harmonirt, von dem sie ihren Grund e n t l e h n e n . . ,"68. Die Naturdinge vollbringen kraft ihres Wesens, also freiwillig und ohne Zwang, desgleichen ohne „Künstlichkeit" Vollkommenes und folgen Regeln „von großer Nutzbarkeit". Im natürlichen Ablauf der Dinge geschieht es, daß eine Sache jeweils eine große Mannigfaltigkeit von Zweckerfüllung zur Folge hat, so daß Regeln von „großer Nutzbarkeit auch mit nothwendiger Einheit verbunden sind, und diese Vereinbarung in den Möglichkeiten der Dinge selbst liegt" 69 . Aber daß diese Möglichkeiten (Wesenheiten) selbst überhaupt bestehen und Dasein in der Natur haben, dazu bedarf es eines ersten absoluten Grundes, eines Wesens aller Wesen, einer Möglichkeit aller Möglichkeiten. Dieses Wesen aller Wesen zeichnet sich vor den Einzelwesen dadurch aus, daß es selbst notwendig existiert und auch die Existenz der Natur begründet und verbürgt. Dieser Gedanke bereitet den „einzig möglichen" Gottesbeweis vor. " II, S. 112. II, S. 125.

Die raumbildende Kraft der physischen Monade 11. Die raumbildende

Kraft dpr physischen

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Monade

Im Zusammenhang der Beschreibung des Mechanismusbegriffes, den Kant behauptet, begegnete der Name: „physische Monade". Kant hat der Leibnizschen Monadologie eine bestimmte Wendung gegeben. Monade leistet nach Leibniz die „Kraft", vorstellend Vieles in einem Einigen zu verbinden. Leibniz hatte sich öfter des Bildes bedient, in welchem vom Kreismittelpunkt eine unendliche Anzahl von Radien zur Kreisperipherie ausgehen. Dieses Modell macht die ontologische Genese des Raumes und der in ihm befindlichen Mannigfaltigkeit von räumlichen Teilen sichtbar. Kraft erweist sich hier als das Prinzip des „Punktes", der keimhaft die räumliche Mannigfaltigkeit aus sich entfaltet. Selbst unräumlich, ist er Ursprung räumlicher Gestalten, geometrischer Figuren ebenso wie wirklicher körperlicher Erscheinungen. In unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zur „allgemeinen Naturgeschichte" begegnet eine Abhandlung Kants, mit der er sich ausdrücklich in die Linie der Tradition dieses Modells stellt: es ist die Schrift über die physische Monadologie 70 . Kant entwickelt hier ein Gegenmodell gegen den Atomismus und läßt dadurch Licht auch auf seine Stellung gegenüber Demokrit und Epikur fallen, die er in seiner allgemeinen Naturgeschichte erwähnt hatte. Nicht das Atom, sondern die Monade sei Element der Körper: die Körper bestehen aus Monaden. Die Monade ihrerseits sei Substantia simplex, die nicht aus einer Vielzahl von Teilen bestehe 71 . Der Raum aber, den die Körper anfüllen, sei ins Unendliche teilbar und bestehe nicht aus ersten unteilbaren, d. h. einfachen Elementen. Ein Kompositum, das ins 70 Metaphysicae cum Geometria iunctae usus in Philosophia Naturali, cuius Specimen I. continet Monadologiam Physicam (1756), i n : I, S. 473—487. " I, S. 477.

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

Unendliche teilbar sei, bestehe desgleichen nicht aus primitiven und einfachen Teilen. Unendliche Teilbarkeit, sei es diejenige des Raumes oder diejenige eines Kompositums, widerspreche der Annahme von Atomen, die als unteilbare Elemente zu denken seien. Welcher Art müssen dann diejenigen Elemente sein, die einerseits einfache Ursprünge der Körper sind, andererseits aber mit der unendlichen Teilbarkeit des Raumes und der Körper zusammen bestehen können, welche die Geometrie behauptet? Erwiese sich ein derartiges Prinzip als denkbar, dann würde durch sie eine Versöhnung metaphysischer Ansprüche mit solchen der Geometrie geleistet werden. Das Demokritische Atom kommt allerdings dabei nicht in Frage: denn es repräsentiert den Widerspruch, ausgedehnt und trotzdem unteilbar zu sein. Also muß das gesuchte Einfache bzw. Unteilbare die Natur eines selbst unausgedehnten Prinzips haben; es darf nicht körperlich sein, muß sich aber doch irgendwie auf den Raum und die Körperlichkeit beziehen. Dieser Bezug kann nur in der Weise stattfinden, daß das gesuchte Prinzip eine Bewegung ist, die selbst Ausdruck von Kräften ist. Es ist die „physische Monade". Die Monade befinde sich, so heißt es in Prop. V, nicht nur im Räume, sondern fülle auch in einer gewissen Weise den Raum aus, unbeschadet ihrer einfachen, unzusammengesetzten Natur. In weiteren „Propositionen" werden folgende Gedankenschritte getan: die Monade umgrenzt den Raum ihrer Anwesenheit nicht durch die Vielheit ausgedehnter substantieller Teile, sondern als Umkreis einer Aktivität, in welcher sie Widerstandskraft bewährt: d. h. solche Körper von sich abhält, die von außen her in ihren Raum einzudringen bestrebt sind. Zu der Kraft, welche die Bewegung des Abstoßens äußerer Körper verursacht, müsse aber noch eine weitere hinzukommen, damit es zu Gestalt und Volumen von Körpern kommen könne. Undurchdringlichkeit allein genügt

Die raumbildende Kraft der physischen Monade

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für die Erklärung der Gestaltbildung der Körper nicht, sondern es muß auch noch die Kraft der „Attraktion" hinzugenommen werden, damit ein Körper die gestalthafte Grenze seiner Ausdehnung bekommen kann 72 . Das Verhältnis des unausgedehnten monadischen Keimes räumlicher Ausdehnung und Gestaltung zur Ausgedehntheit des Raumes und seiner körperlichen Gebilde könnte mit dem einer Melodie zu dem sie darstellenden Notenbild verglichen werden: wie die Melodie reine Bewegung und daher ein kontinuierlicher, ununterbrochener zeitlicher Vollzug ist, der sich aber im Notenbild in der Form des Außereinander darstellt, so ist auch der monadische Keim des Raumes Bewegung, die einfach genannt werden muß: gerade auf Grund dieser Einfachheit vermag sie den Keim räumlicher Vielfalt, Mannigfaltigkeit und Zusammengesetztheit abzugeben 73 . Da im monadischen Zentrum durch Zusammenwirken verschiedener Kräfte (Anziehung und Abstoßung) das Entspringen von Raum und räumlicher Gestaltung erklärbar wird, erfüllt Kant in der Ausführung der physischen Monadologie das aus den Debatten zwischen Leibniz und den Cartesianern übernommene Programm, Metaphysik mit Geometrie zu versöhnen. Da die Monade Bewegung ist, kann sie nicht geradehin nur als im Räume befindlich betrachtet werden: „non solum est in spatio, sed et implet spatium .. ,"74. Die monadische Substanz ist einfach, nicht aus einer Mehrheit separater Teile zusammengesetzt (Prop. I). Das metaphysische Denken betrachtet den Raum vom Standpunkte seiner Entstehung aus, während der Geometer gleichsam den fertigen Bereich und seine figürlichen Gebilde in Anspruch nimmt. In Prop. VI, Theorema, ist von dem Raum die Rede, den die Monade aktiv erfüllt und als Raum ihrer Anwesenheit bestimmt. ™ I, S. 483. 73 Vgl. mein Budi: Der philosophische Begriff der Bewegung, KölnGraz 1965. 71 I, S. 480. Vgl. meine Abhandlung: Die Metaphysik des Raumes bei Leibniz und Kant, Köln 1960. (Kantstudien-Ergänzungsheft 79). Ebenso: Der philosophische Begriff der Bewegung, Köln-Graz 1965.

60

Der W e g zur Kritik der reinen Vernunft

„Repulsion" wird durch „Attraktion" im Gleichgewicht gehalten. Der Körper erweist sich nach der hier gegebenen Konstruktion der Materie als Gleichgewichtszustand, der als Ausdehnungsaktion einen Raum behauptet, ihn okkupiert und daher anderes von dem behaupteten Räume abwehrt: man nennt das Undurchdringlichkeit. Würde aber nur die gegenseitige Abstoßung der Elemente eines Körpers fungieren, dann könnte er keinen Zusammenhalt haben und wäre unfähig, Gestalt und Volumen anzunehmen: daher muß auch noch die Kraft der Anziehung hinzukommen, welche die körperlichen Teile zusammenhält und der Abstoßungskraft das Gleichgewicht hält 7 5 . 12. Der einzig mögliche Beweis der Existenz

Gottes

Kant hat bisher den Begriff eines mundus sensibilis, einer W e l t allgemeiner Naturgesetze, konzipiert. Als Bürger des Landes der allgemeinen Naturgesetze treten „Wesenheiten" bzw. „innere Möglichkeiten" der Dinge auf. W i e z. B. ein Planetensystem einen Mittelpunkt, die Sonne, hat, so ist die Welt aller W e s e n zentriert auf einen Mittelpunkt, ein W e s e n aller Wesen 7 6 . Gott kommt schon in der Schrift über die allgemeine Naturgeschichte des Himmels als Herr der „Wesen" im Sinne allgemeiner Naturgesetze in Frage, nicht aber als Instanz, auf deren Willensentschluß die einzelnen Schönheiten, Harmonien und Vollkommenheiten der W e l t zurückzuführen wären. Das entspricht der Forderung, Gott müsse Repräsentant der Weltvernunft überhaupt sein, in der es einen einzigen Zusammenhang, aber keine Sprünge und Zufälligkeiten gibt. Wenn Kant von Gott als dem W e s e n aller W e s e n spricht, dann ist dieses W e s e n damit zugleich auch als die Instanz angesprochen, welche weltbegründend ist. Auf Grund wovon ist es aber gewiß, daß es innere Möglichkeit überhaupt gibt und daß sie als 75 I, S. 483: Corpora per vim solam impenetrabilitatis non gauderent definito volumine, nisi adforet alia pariter insita attractionis, cum illa coniunctim limitem definiens extensionis. I, S. 334.

Der einzig mögliche Beweis der Existenz Gottes

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Möglichkeit existierender Dinge ins Da-sein tritt? Kant stellt merkwürdigerweise diese Frage nicht ausdrücklich: aber er könnte auf das „Faktum" der Wissenschaft, z. B. der Physik, Astronomie und Mathematik hinweisen, wie er es später in der Vernunftkritik tun wird. Er selbst hatte es ja in der „Allgemeinen Naturgeschichte" mit der Natur als einem Reich innerer Möglichkeiten zu tun, deren Erkenntnis durch die Arbeit der Galileis und Newtons gewonnen wurde. Daß sich Kant auf das Faktum der Wissenschaft stützt, deutet der Titel an, mit dem Kant die „erste Betrachtung" der 2. Abteilung seiner Schrift versieht: „Worin aus der wahrgenommenen Einheit in den Wesen der Dinge auf das Dasein Gottes a posteriori geschlossen wird." Geometrie, Physik und andere Wissenschaften der Natur kommen zu Worte, wenn von Beispielen die Rede ist, an denen ..wesentliche" Einheit in der Vielheit sichtbar wird. Denken ist Verbinden. Damit Denken in Gang kommen kann, muß ihm „etwas" gegeben sein: ein Datum. Auch die innere Möglichkeit, also die widerspruchsfreie Einheit einer Sache, muß „Daten" verbinden. Kant spricht dieses als „Material" der inneren Möglichkeit an. Die Einheit, die dem „Material" verliehen wird, hat die „Form" der Beziehung. Das Form-Material-Modell, verstanden als Bestand von Datum und Einigung (Verbindung) wird auch später zur Sprache Kants gehören. Beziehung und Einheit gehören dem logischen Vermögen an, welches Datum (Material) nicht aus sich hervorbringen kann. Dieses muß „gesetzt", gegeben werden: zur Existenz kommen. Ohne überhaupt ein existierend Gegebenes gäbe es keine Verbindung und auch keine da-seiende innere Möglichkeit. Existenz ist (absolute) Position. Das Wort „absolut" ist hier im Gegensatz gegen „relativ" (verhältnis-mäßig) zu verstehen. Prädiziert man von einem Subjekt die Existenz, so ist diese keine prädikative

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

Bestimmung, die zu anderen Prädikaten dieses Subjekts in das „Verhältnis" der Ubereinstimmung oder des Widerstreits treten könnte. Sie kann in kein „Verhältnis" gesetzt werden, ist daher absolut. Alle essentiellen Prädikate sind gegenseitig aufeinander und auf das Subjekt bezogen. Sie sind relativ. Aber Existenz ist eine Setzung des Subjekts und all seiner Prädikate im Ganzen: daher ist sie kein einzelnes Prädikat, wie die anderen essentiellen Prädikate. Wenn ich sage: Cäsar ist verwegen, dann bestimme ich das Subjekt durch ein „wesentliches" Prädikat. Sage ich aber: Cäsar existiert, dann gebe ich dem Subjekt dieses Satzes keinen Zuwachs an prädikativer Wesensbestimmung, sondern versetze Cäsar mitsamt seiner Verwegenheit in den Bereich der Wirklichkeit. Da alle Wesenheiten in einem einzigen Weltzusammenhang durch systematische Verfassung verbunden sind, so begründet dasjenige Wesen, welches die eine Möglichkeit in Existenz gesetzt hat, auch die andere und dritte und vierte Möglichkeit usw.. Der Gedankengang endet bei einem Existierenden, welches die Welt als solche schaffend gesetzt hat. Dieses erste Existierende versetzt nicht jeweils diese oder jene einzelne Möglichkeit ins Dasein, sondern zugleich immer die ganze Welt aller Möglichkeiten. Denn nur als Weltzusammenhang wird Vernunft statt Unvernunft Wirklichkeit. Dieser Gedanke kommt in der Alternative zwischen Nichts und Allem zum Ausdruck, wenn Kant folgert, daß „nichts als möglich gedacht werden kann, wenn nicht alles, was in jedem möglichen Begriff an Realem ist, existiert, und zwar absolut notwendig existiert; denn wenn man davon abgeht, dann bleibt überhaupt nichts Mögliches mehr, sondern nurmehr Unmögliches" 77 . Dasjenige Subjekt, 77 I, S. 395: „sequitur, quod nihil tanquam possibile concipi possit, nisi, quicquid est in omni possibili notione reale, exsistat, et quidem (quoniam, si ab hoc discesseris, nihil omnino possibile, h. e. nonnisi impossibile foret,) exsistet absolute necessario,"

Der einzig mögliche Beweis der Existenz Gottes

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welches den Weltzusammenhang durch Position zur Existenz bringt, muß selbst notwendig existierend sein. Damit einzelne innere Möglichkeit zu existieren vermag, muß sie im Weltzusammenhang einbegriffen sein, und dieser hinwiederum muß durch absolut Existierendes zum Dasein kommen: also muß das Wesen aller Wesen absolut notwendig existieren78. Das absolut Existierende: Gott wird nicht von einem Anderen gesetzt und zum Dasein gebracht, wie es z. B. bei den geschaffenen, endlichen Weltdingen der Fall ist. Er besteht nicht irgendwo als Idee, die erst zum Dasein gebracht und realisiert werden müßte: vielmehr ist er das einzige Wesen, bei dem, wie Kant sagt, die Existenz der Essenz vorhergeht. Die Existenz macht hier sogar zugleich auch das Wesen. Diese Existenz ist absolut notwendig: weil ihre Setzung nicht durch einen endlichen Motivationszusammenhang bedingt ist. In Gottes Existenz ist ursprünglich die Einheit der beiden verschiedenen Prinzipien: Wesen und Existenz vorhanden. Das notwendige Wesen hat die Funktion, jedes einzelne Wesen, welches isoliert genommen zufällig wäre, in den von ihm gestifteten Weltzusammenhang der systematischen physischen Ordnung einzuordnen und ihm dadurch Realitätscharakter zu verleihen: es zum Wesen eines daseienden Dinges zu machen. Ohne das notwendig existierende Wesen könnte kein einzelnes anderes Wesen existieren. Der Daseinsgrund einer einzigen inneren Möglichkeit ist also zugleich derjenige, der alle Möglichkeit, also die Welt, begründet. Was die Eigenschaften des absolut notwendigen Wesens angeht, so kann es nur ein „einziges" sein, da im Falle mehrerer solcher Wesen gegenseitige Abhängigkeit be78 Hierzu vgl.: Der einzig mögliche B e w e i s g r u n d . . . , 3. Betrachtung der 1. Abteilung, in: II, S. 81 ff.

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Der W e g zur Kritik der reinen Vernunft

stehen und Absolutheit nicht stattfinden könnte. Es muß auch „einfach" sein, denn in dem Falle, in dem es Ergebnis einer Zusammensetzung wäre, würden ebenso seine Teile in Abhängigkeitsverhältnissen stehen. Außerdem ist das notwendige Wesen „unveränderlich und ewig" 79 . Veränderlich ist das Abhängige: ihm ist daher nur endliche Lebensdauer zugemessen. Dagegen ist das unabhängige, absolut notwendige Wesen keiner Begrenzung und Verendlichung unterworfen. Weiterhin enthält das notwendige Wesen die „höchste Realität". Es ist ens realissimum, weil es alle Möglichkeiten in sich repräsentiert. An dieser Stelle wird ein bedeutsamer Wandel im Begriff der Realität deutlich. Bekanntlich bedeutete in der Schulphilosophie Realität diejenige „Determination" (Bestimmung), die vom Subjekt eines wahren Satzes positiv prädiziert wird. Kant gibt dem Wort Realität insofern eine Wendung zur Existenz hin, als er sie als Sachheit eines Existierenden auffaßt. Kant macht analog der Unterscheidung von Wesen und Existenz, logischer und realer Bestimmung in dieser Schrift auch die von nun an maßgebende Unterscheidung zwischen logischer Entgegensetzung , und realer Entgegensetzung (Realrepugnanz). Logische Entgegensetzung begegnet dann, wenn ein Widerspruch zwischen zwei Behauptungen auftritt: dagegen handle es sich um reale Entgegensetzung, wenn zwei in entgegengesetzten Richtungen wirkende Kräfte an einem Punkte angreifen und jede die Folge der anderen zu vernichten strebt. Wenn Gott an dieser Stelle als höchste Realität angesprochen wird, dann hat das hier den Sinn, daß keine widerstreitenden Kräfte in ihm wirken können, weil das sonst eine Beraubung oder einen Mangel seiner ungehemmten Wirkungskraft bedeuten würde 80 . " II, S. 85. II, S. 86.

80

Der einzig mögliche Beweis der Existenz Gottes

65

Schließlich wird das notwendige Wesen als „Geist" bestimmt 81 . Es sei vernünftiger, geistiger Natur, denn es könne nicht sein, daß der erste Grund ohne Geist wäre, während von ihm selbst geschaffene Wesen wie wir selbst Geist, d. h. Wille und Verstand, haben. Ordnung, Schönheit, Vollkommenheit in allem, was möglich ist, setzen voraus, daß das die Welt dieser Möglichkeiten begründende Wesen Geist sei. Damit wird Gott als Repräsentant der existierenden Weltvernunft angesprochen. Würde man die Welt als Inbegriff von lauter Zufällen betrachten, die noch so harmonisch, zweckmäßig und vollkommen sein mögen, dann würde man nicht Vernunft, sondern Unvernunft als ihren Grund ansetzen. „Alle Beweise, die sonst von den Wirkungen dieses Wesens auf sein, als einer Ursache, Dasein geführt werden möchten, . .. können doch niemals die Natur dieser Nothwendigkeit begreiflich machen." 82 Der Beweis darf eben nicht von faktischen Wirkungen ausgehen, die sich da und dort finden mögen, sondern muß am Ganzen der gesetzlich geordneten Weltverfassung orientiert werden. Gott sei nicht durch seinen Willen der Grund der inneren Möglichkeiten der Dinge und der Welt der Realitäten, sondern begründe alle Wesen als „unendliche Natur, die die Beziehung eines Grundes auf alle Wesen der Dinge hat" 83 . In den Möglichkeiten der Dinge werde dadurch Einheit, Harmonie und Ordnung anzutreffen sein. Gott ist sowohl Wesens-Grund wie auch Existenz-Grund. Kant hat stets Sympathie für den physiko-theologischen Gottesbeweis gezeigt. Er rühmt von ihm, daß er „sehr lebhaft und einnehmend" sei. Außerdem fange jeder natürlicherweise damit an, da die Aufmerksamkeit aller zunächst auf die Natur, die uns umgibt, gelenkt sei. Man gewinne 91

»! 83

II, s . 87. II, s . 91. II, s . 91.

Kaulbadi, Immanuel Kant

5

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Der W e g zur Kritik der reinen Vernunft

zudem durch diesen Beweis einen „anschauenden Begriff" von der hohen Weisheitsvorsorge oder Macht des anbetungswürdigen Wesens. Er läßt uns die „Erhabenheit und Würde" inne werden, unter deren Eindruck das Subjekt beim Anblick mikroskopischer und makroskopischer Welten steht 84 . Hier sei das Subjekt an einer Wirklichkeit engagiert: es folge nicht nur den Wegen metaphysischer Konstruktionen. Kant rühmt am physiko-theologischen Gottesbeweis gegenüber anderen, etwa dem ontologischen, den Vorzug, daß er wenigstens durch unmittelbare Naturerfahrung gesättigt und am weitesten von leeren metaphysischen Begriffen entfernt sei. Weil hier die sinnliche Erfahrung der Natur im Spiele sei, könne eine unerschütterliche Überzeugung zustande kommen, die „keine Gefahr von Schlußreden und Unterscheidungen besorgt und sich weit über die Macht spitzfündiger Einwürfe wegsetzt" 85 . Gleichwohl brandmarkt er an der seiner eigenen Version gegenüber rückständigen Form dieses Gottesbeweises, daß sie Vollkommenheit, Harmonie und Schönheit als „zufällig" ansehe. Der Beweis in dieser Form berücksichtige nicht, daß viele solcher Eigenschaften aus der notwendigen Einheitsverfassung der Natur und den „wesentlichsten Regeln der Natur abfließen." Zufälligkeit der Natur als Argument für den Beweis eines weisen Urhebers zu wählen, gehe für die Philosophie nicht an. Man müsse freilich einen Unterschied zwischen dem Organischen und dem Anorganischen machen, insofern das erstere einen höheren Grad von kunstreicher Bemühung von Seiten Gottes um die Natur zu erkennen gebe. Im Organischen versagt der Mechanismus. Verschiedene Kausalreihen in einem Organ wie z. B. dem Auge funktionieren für sich: aber ihr Zusammenhang wird nicht einsichtig und muß als „zufällig" bezeichnet werden. Um diesen Zufall zu überwinden, verlangt die Vernunft nach einem göttlichen Willenseinfluß, der hier in einer über den Mechanismus hinausgehenden Weise Einheit verbürgen « II, S. 117 II, S. 118.

85

Subjektivität, Empfindung, Gefühl

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kann. Die allgemeinen Gesetze der inneren Wesen der Natur müssen im Organismus durch Absicht und Teleologie ergänzt werden. Aber auch hier muß noch der Gedanke der systematischen Verfassung maßgebend sein: aus den Überlegungen Kants zum physiko-theologischen Gottesbeweis folgt, daß der schwerste Einwand, den er gegen ihn in seiner rückständigen Form zu erheben hat, der ist, daß er dem Horizont der Welt, dem Prinzip der Weltverfassung und der allgemeinen Gesetzlichkeit nicht gerecht wird. Er hält sich an einen Deus ex machina, wo eigentlich Naturforschung noch die Aufgabe hätte, Erklärungen zu geben 86 . Die Gefahr der Bewunderung der Vorzüge und Vollkommenheiten göttlicher Werke in der Natur besteht darin, daß sich die Vernunft erniedrigt fühlt und gerne „von einer weiteren Untersuchung" absteht, weil sie „solche hier als Vorwitz ansieht, und das Vorurtheil ist desto gefährlicher, weil es den Faulen einen Vorzug vor dem unermüdeten Forscher giebt durch den Vorwand der Andacht und der billigen Unterwerfung . . . " . Physiko-Theologie hantiert mit „Individualwirkungen", anstatt der Vernunft insofern Genüge zu tun, daß sie sich an der allgemeinen Weltverfassung orientieren würde.

6. Subjektivitätsprinzip, menschlicher Stand und Erfahrung 1. Subjektivität,

Empfindung,

Gefühl

Daß Welt überhaupt existiert bzw. Dasein hat, verdankt sie der Schöpfung. Diese ist absolute Position (Ins-DaseinSetzen) von Dingen, die in einer allgemein-gesetzlichen Ordnung und Verfassung stehen. Insofern Gott in der Rolle des Weltbegründers auftritt und den inneren Möglichkeiten Dasein gibt, ist er der erste Grund, in welchem selbst alle einzelnen Begründungszusammenhänge fundiert sind. So ist er das Zugrundeliegende ( VJlOXelfAEVOV ): das Subjekt. Der Name Subjekt, nicht im alten, sopdern im neuzeitlichen s

« II, S. 119. 5'

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

Sinne verstanden, hat sich erst bei Kant in der uns geläufigen Bedeutung durchgesetzt. Im Bereich des frühen Kantischen Denkens und Sprechens kommt der Name nur zögernd im neuen Sinne vor: aber die Sache selbst, die von Kant mit diesem Namen immer konsequenter bezeichnet werden wird, begegnet auf Schritt und Tritt. Insofern freilich der Blick zunächst auf die Stellung Gottes zur Welt gelenkt wird, kommt im frühen Denken Kants das Subjektivitätsprinzip vorwiegend in der philosophischen Theologie vor. In antik-mittelalterlicher Tradition bedeutete „subjectum" den Gegenstand, der dem Erkennen zu Grunde liegt. Der Bedeutungswandel ist auch durch die philosophische Theologie erfolgt, die im Anschluß an die christliche Dogmatik von einem Gott spricht, der die Natur geschaffen habe. Dadurch wird ein „Grund" der Allheit der Dinge, d. h. der Welt überhaupt, angesprochen. Subjekt kann von nun an als das dem „Objekt" gegenüber Standnehmende, es Begründende, Hervorbringende und Bearbeitende verstanden werden. Gott als „Grund" aller Dinge ist zugleich deren Subjekt: das Subjekt der Subjekte. Noch bei Leibniz ist die alte Terminologie im allgemeinen beibehalten worden, obwohl gerade bei ihm die Voraussetzungen für die Wendung gegeben werden: indem er den Gedanken des Grund-seins Gottes im Zusammenhang mit seinem Prinzip vom zureichenden Grunde systematisch festigt 87 . In dem Maße, in dem Kant Rolle und Stand des Menschen den Gegenständen gegenüber reflektiert, die er erkennen will, wendet sich seine Aufmerksamkeit dem menschlichen Subjekt zu. Es handelt sich um eine Subjektivitätsüberlegung, wenn Kant im „Beweisgrund" Dasein gegen Wesen zur Geltung 87 Vgl. meine Abhandlung: „Subjektivität, Fundament der Erkenntnis und lebendiger Spiegel bei Leibniz", in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 20 (1966), S. 471—495.

Subjektivität, Empfindung, Gefühl

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bringt und es als Bestimmung des „Wie" im Gegensatz zum „Was" auslegt. Solange man die Möglichkeiten allein durch den Satz des Widerspruchs bewährt, beruft man sich darauf, „was euch in dem Dinge Denkliches (kursiv v. Verf.) gegeben ist, und betrachtet nur die Verknüpfung nach dieser logischen Regel; aber am Ende, wenn ihr bedenket, wie euch denn dieses gegeben sei, könnt ihr euch nimmer worauf anders, als auf ein Dasein berufen" 88 . Die Modalität dieses Gegebenseins, das „Wie" der Gegebenheit (Existenz des Datums) deutet auf ein Subjekt hin, dem das Gegebene begegnet. Dieses Subjekt sind wir selbst als in Leiblichkeit versenkte Wesen, denen z. B. in der Erfahrung auf Grund unserer Sinnesorgane existierende Gegenstände gegeben werden. Da wir Kenntnis von den Gegenständen nur auf der Bühne dieser Begegnung haben können und nicht vermögen, die Dinge selbst in ihrem Wesen einzusehen, sind wir zunächst an den Schein verwiesen. Nur dann, wenn im Schein „etwas" Wahres durchscheint, handelt es sich um „Erscheinung". Weiterhin tritt Subjektivität als aktiv setzende, prüfende und ihren eigenen philosophischen Weg erkundende Instanz auf. Dann erweist es sich immer mehr, daß der „Grund" im menschlichen Subjekt selbst zu suchen ist. Drittens ist Subjektivität Bewußtsein der eigenen Stellung dem zu erkennenden Gegenstand gegenüber: das erkennende Subjekt behauptet seinen Stand und kennt die Perspektive, in die es sich zu versetzen hat, wenn es gewisse Erkenntnisaufgaben erfüllen will. Diese drei Wurzeln des Subjektivitätsbegriffes mögen im Denken des frühen Kant in ihrem Verlauf verfolgt werden. Die neuzeitliche Naturwissenschaft stellt insofern eine besondere Art wissenschaftlicher Bewältigung der Welt dar, 88

II, S. 81.

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

als sie einerseits auf Erfahrung, andererseits auf mathematisch entwerfendem Denken fußt. Es ist verständlich, daß ein Denker wie Hobbes, dessen Philosophie durch die Mentalität der Naturwissenschaft geprägt wird, Subjektivität als den Schauplatz von Erfahrung, von Empfindung und Eindruck auffaßt. In der Tat kommt der Terminus Subjekt im neuzeitlichen Sinne bei diesem Denker früher als bei metaphysischen Philosophen des Festlandes vor. Der Name Subjekt bezeichnet bei ihm die Rolle, die der Erkennende als wahrnehmendes und erfahrendes Wesen spielt. Folgendes, auch bei Kant begegnendes Modell liegt hier zugrunde: das Subjekt ist kraft seiner leiblichen Sinnesorganisation durch die körperlichen Erscheinungen der umgebenden Natur ansprechbar. Diese erregen (affizieren) seine Sinnesorgane, wobei das Ergebnis dieser „Rührung" (ein Ausdruck Kants) jeweils Bilder sind. „Unsere" Situation ist die, daß wir mitten in die Körperwelt der Natur hineingestellt sind und auf unserem Standort „Eindrücke" erleiden. Kant charakterisiert die Subjektivität von der Seite dieses Stehens in der Körperwelt und des Ausgesetztseins gegenüber den Einflüssen von Seiten der Körper in der „allgemeinen Naturgeschichte" durch folgende Überlegung: es finde sich zwar ein „unendlicher Abstand", der die Kraft zu denken von der Bewegung der Materie, den vernünftigen Geist vom Körper trenne, aber doch sei es gewiß, daß der Mensch seine Begriffe und Vorstellungen von den Eindrücken her habe, die das „Universum vermittelst des Körpers in seiner Seele erregt,. . ." 89 . Zwar tritt in dieser Phase Kantischen Redens der Name Subjekt noch nicht auf, aber die ihm entsprechende „Sache" wird von der Seite ihrer Geworfenheit und Ausgesetztheit gegenüber den körperlichen Einwirkungen gekennzeichnet, wenn es heißt, s

» I, S. 355.

Subjektivität, Empfindung, Gefühl

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daß der Mensch „erschaffen" sei, die „Eindrücke und Rührungen, die die Welt in ihm erregen soll, durch denjenigen Körper anzunehmen, der der sichtbare Theil seines Wesens ist, und dessen Materie nicht allein dem unsichtbaren Geiste, welcher ihn bewohnt, dient, die ersten Begriffe der äußeren Gegenstände einzudrücken, sondern auch in der innern Handlung diese zu wiederholen, zu verbinden, kurz, zu denken . . ."90. Kant skizziert auch eine Theorie der Empfindung, die im Rahmen der Subjektivitätsphilosophie Aufmerksamkeit verdient. Das leibliche Subjekt behaupte einen Standort, von dem aus es jeden ihn umgebenden, von ihm empfundenen Gegenstand lokalisiert. Dabei tritt im Zusammenhang einer Art Physik der Empfindung das Prinzip der Perspektive ins Spiel. Wenn wir einem empfundenen Gegenstand von unserem eigenen Standort aus seinen Platz anweisen, dann macht Kant dafür folgenden Mechanismus verantwortlich: unsere Seele versetze in ihrer Vor-stellung das empfundene Objekt dorthin, wo die „verschiedene Richtungslinien des Eindrucks, die dasselbe gemacht hat, wenn sie fortgezogen werden, zusammenstoßen. Daher sieht man einen strahlenden Punkt an demjenigen Orte, wo die von dem Auge in der Richtung des Einfalls der Lichtstrahlen zurüdegezogene Linien sich schneiden". Man nennt diesen Punkt den Sehpunkt. In Wahrheit gehen zwar von ihm Wellen aus, die sich zerstreuen, aber in der Vorstellung sei der Ort, von dem diese Wirkungen auf uns ausgehen, der „Sammlungspunkt der Directionslinien, nach welchen die Empfindung eingedrückt wird (focus imaginarius)" 91 . So könne man selbst durch ein einziges Auge den Ort eines sichtbaren Objekts bestimmen. Analoge Verhältnisse ver"81 I, S. 355.

Vgl. Träume eines Geistersehers, erläutert durdi Träume der Metaphysik (1766), in: II, S. 315—373; Zitat S. 344.

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

mutet Kant im Bereich des Hörens und dasselbe könne auch von den übrigen drei Sinnen gesagt werden, die sich freilich von Gesicht und Gehör dadurch unterscheiden, daß der „Gegenstand der Empfindung mit den Organen in unmittelbarer Berührung steht, und die Richtungslinien des sinnlichen Reizes daher in diesen Organen selbst ihren Punkt der Vereinigung haben". Auch der Gebrauch des Wortes „Gefühl" deutet auf die subjektive Sphäre hin. Dieser Bezug wird im Titel und im ersten Satze der „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" (1764)92 deutlich, insofern der Blick von der,, Beschaffenheit der äußeren Dinge" auf das „jedem Menschen eigene Gefühl" hingelenkt wird. „Die verschiedene Empfindungen des Vergnügens oder des Verdrusses beruhen nicht so sehr auf der Beschaffenheit der äußeren Dinge, die sie erregen, als auf dem jedem Menschen eigenen Gefühle dadurch mit Lust oder Unlust gerührt zu werden." 83 Der eine habe Freude an einem Gegenstand, an den der andere nur mit Ekel zu denken vermag. Der eine verspüre Widerwillen einer Sache gegenüber, die dem andern völlig gleichgültig sei; in diesen Bereich gehöre auch die „verliebte Leidenschaft", die öfter jedermann ein Rätsel sei. Es sei ein sehr weites Feld, welches sich für die „Beobachtungen dieser Besonderheiten der menschlichen Natur" eröffne. Das subjektive Bewußtsein gewinnt Kenntnis von den Dingen seiner Welt durch eine bestimmte Art und Weise, wie sie ihm seinem Stande und Zustande gemäß begegnen. Sie kommen ihm „zur Erscheinung". Der Beobachter, der sich über seinen eigenen subjektiven Stand reflektierend erhebt und dabei den Bezug zwischen seiner Subjektivität und den Dingen zum Gegenstand macht, sieht •* Beobachtungen über das Gefühl des Sdiönen und Erhabenen (1764), in: II, S. 205—256. " II, S. 207.

Subjektivität, Empfindung, Gefühl

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die Welt im Subjekte subjektiv gespiegelt an. Kant will mehr das Auge des Beobachters als des philosophischen Theoretikers auf dieses Feld lenken. Es ist vor allem um diejenige Subjektivität zu tun, die sich nicht im bloßen Genuß der Dinge erschöpft. Es geht um dasjenige Subjekt, welches sich einen W e g zu allgemeineren Erfahrungen der Welt bahnt. Das Thema Welt- und Lebenskenntnis wird damit intoniert. Er will eine Seite desjenigen Gefühls betrachten, welches mit Talenten und Verstandesvorzügen zu tun habe, indes der Genuß bei völliger Gedankenlosigkeit stattfinden kann. Es handelt sich um eine Vorstudie der „Anthropologie in pragmatischer Absicht", in der es um die Kenntnis davon geht, was der Mensch handelnd aus sich machen kann. Thema ist das Gefühl des Erhabenen und Schönen. Beide bedeuten eine „Rührung", die auf sehr verschiedene Weise angenehm sei. Das Große, überdimensionale erwecke in uns das Gefühl, welches wir als dasjenige des Erhabenen bezeichnen, wie der Anblick eines Gebirges, „dessen beschneite Gipfel sich über Wolken erheben" oder „die Beschreibung eines rasenden Sturms". Das Gefühl des Schönen sei anderer Art: ihm entspreche nicht wie beim Erhabenen der Zustand des Grausens, sondern der Fröhlichkeit und des Lächelns, wie zum Beispiel „die Aussicht auf blumenreiche Wiesen, Thäler mit schlängelnden Bächen, bedeckt von weidenden Heerden, die Beschreibung des Elysium, oder Homers Schilderung von dem Gürtel der Venus .. ,"94. Im Zeichen des Unterschiedes zwischen dem Erhabenen und dem Schönen kennzeichnet und beschreibt er die Verschiedenheit von Tragödie und Komödie, Verstand und Witz, Mann und Frau: an diesem Leitfaden unterscheidet er auch Temperamente, Nationen, Geschmacksarten usf. Kants " II, S. 208.

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

gesdiichtsphilosophisdier Abriß des letzten Abschnitts dieser Schrift ist durch aufklärerische Mentalität bestimmt: in der Antike haben sich deutliche Merkmale eines echten Gefühls für das Schöne und Erhabene in Dichtkunst, Bildhauerkunst, Architektur, Gesetzgebung und selbst in der praktischen Moral gezeigt. Als die germanischen Barbaren das römische Reich zum Erliegen brachten, führten sie einen „gewissen verkehrten Geschmack ein, den man den gothischen nennt, und der auf Fratzen auslief. Man sah nicht allein Fratzen in der Baukunst, sondern auch in den Wissenschaften und den übrigen Gebräuchen" 95 . Ein „verunartetes Gefühl" habe sich gebildet und habe eher „eine jede andere natürliche Gestalt, als die alte Einfalt der Natur" angenommen. Die Entwicklung ging entweder auf das übertriebene oder auf das Läppische hinaus. Die höchste Leistung, die das menschliche Genie in dieser Zeit in der Richtung des Erhabenen aufzuweisen hatte, bestand in Abenteuern. In neuerer Zeit allerdings habe das menschliche Genie eine Wiedergeburt erfahren, so daß wir „in unsern Tagen den richtigen Geschmack des Schönen und Edlen sowohl in den Künsten und Wissenschaften als in Ansehung des Sittlichen aufblühen" 9 6 sehen. Bedeutsam ist an diesen Überlegungen die in ihnen angelegte These, daß das subjektive Gefühl einer geschichtlichen Entwicklung fähig ist. 2. Subjektivität

als

Spontaneität

Wenn das Subjekt von der Seite seines Ausgesetztseins gegenüber den Einwirkungen der körperlichen Umwelt charakterisiert wurde und als Zielscheibe äußerer affizierender Kräfte fungierte, so muß jetzt die zu diesem ,!

II, S. 255. " II, S. 256.

Subjektivität als Spondaneität

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Bilde gehörige andere Seite zu Worte kommen: das Subjekt wird sich als selbständige und von sich aus weltsetzende Instanz bewähren. Dieser Charakter der Subjektivität zeigt sich zunächst in der Phase Kantischen Denkens, in welcher der Verstand des Gottsubjekts als maßgebend behauptet wird. In der allgemeinen Naturgeschichte wird vom göttlichen Verstand gesagt, er entwerfe die Weltordnung. Das Ergebnis dieser Leistung sei die systematische Verfassung der Welt. Auch stellt der göttliche Verstand den Grund aller Gründe dar: so wie die Sonne im Mittelpunkt eines gesetzlich geordneten Sternensystems steht, so nimmt Gott als Repräsentant eines vernünftigen Weltbegründungszusammenhanges die Stelle eines Grundes aller Gründe ein. Im „Beweisgrund" wird weiterhin von der Position gesprochen, welche der Verstand leistet. Ob es der göttliche oder der menschliche Verstand ist, welcher einen Inhalt „setzt": in jedem Falle wird diesem Inhalt eine Seinsweise verliehen, indem ihn das Subjekt in ein Verhältnis zu sich selbst setzt: er wird als existent behauptet. Vom Jahre 1763 ab setzt eine Umorientierung im Kantischen Denken ein, deren vorläufiges Ergebnis die „Träume"117 mit ihren skeptischen Überlegungen sind. Kant geht von nun an philosophische Wege, bei denen er sich nicht mehr wie die theorationalistischen Denker am Maßstab des göttlichen Verstandes orientiert: vielmehr sucht er den „Grund" mehr im subjektiven menschlichen Verstand. Hand in Hand mit dieser Entwicklung geht die schon geschilderte Auflösung des „Wesens". Das „Wesen" wird unserem menschlichen Verstand von Gott mit dem Anspruch präsentiert, anerkannt zu werden. Vom Zeitalter der neuen Naturwissenschaft an aber nimmt das philoso•7 Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766), in: II, S. 315—373.

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

phisdie Denken die Zumutung, die in diesem Anspruch liegt, nicht mehr an: statt des dem Denken präsentierten Wesens spielt das Prinzip des vom subjektiven menschlichen Verstände hergestellten „Gesetzes" allein die maßgebende Rolle. Diese Entwicklung mündet in die Behauptung des späteren Kant vom gesetzgebenden Charakter der menschlichen Vernunft ein. Was die Umorientierung selbst anlangt, so mag man sie wohl vielleicht einer Begegnung mit den skeptischen und positivistischen Überlegungen Humes zuschreiben: aber der Sache selbst ist es angemessener, sie als konsequente Folge der Suche Kants nach einem neuen Kriterium für die Realität metaphysischer Aussagen zu werten, so daß das Auftauchen Humes im Horizont des Kantischen Denkens erst deshalb den Charakter einer wirklichen „Begegnung", einer Einwirkung auf Kant gewinnen konnte. Es gehört zu diesem Bilde, daß jetzt die subjektiven Aktionen des menschlichen Verstandes eine neue Rolle spielen. Die Leistung des aktiven Verbindens, des Entwerfens, des Setzens und des Stiftens einer Weltverfassung sowie der Selbstkritik, Skepsis und der Untersuchung eigener Erkenntnisgrenzen der Vernunft gewinnen jetzt neue Bedeutung, wobei sichtbar wird, daß maßgebende Aktionen vom Bereich des göttlichen Verstandes auf den der menschlichen Vernunft übertragen werden. 3. Ansätze

der Kritik und

Skepsis

Die Entwicklung Kants von den ersten Schriften ab ist von der Absicht bestimmt, das reale, sachbegründete Erkennen von unechten Ansprüchen kritisch zu scheiden. Es geschieht auch im Interesse einer kritischen Abtrennung zwischen dem in der Wissenschaft von der Natur etablierten Gebiet echter Sachen und einem anderen Denken und

Ansätze der Kritik und Skepsis

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Sprechen, welches zwar durch ein Interesse der Vernunft motiviert sein mag, sich aber andererseits in die Irre führen läßt. Dieses kritische Motiv führt zu einem Dualismus zwischen dem schon in den „Träumen" zitierten „mundus intelligibilis" und dem Felde der Erfahrung, deren Sachbezogenheit für Kant außer Frage steht. Er nennt es den „mundus sensibilis". Die Metaphysik, welche von Geistern und von der Gemeinschaft mit Geistern redet, mache sich der Vermischung beider Gebiete und auch beider Denkund Redeweisen schuldig. Die Kritik bedenkt, daß in der Natur der Vernunft Möglichkeiten einer überbrückung zwischen beiden Gebieten angelegt sind. Diese Möglichkeiten können amphibolisch sowohl eine positive wie auch eine negative Bedeutung für die metaphysische Erkenntnis haben. Es handelt sich um die Möglichkeit und zugleich die Neigung der Vernunft, das Abstrakte, Unanschauliche, welches sich im Bereich der Begriffe etwa von der eigenen Seele ergibt, zu verbildlichen. Wenn z. B. Geister in der Form einer menschlichen Gestalt vorkommen, dann ist das nicht als Wahrnehmen, Sehen und evtl. Hören oder Tasten im Sinne wissenschaftlich legitimierter „Erfahrung" zu werten. Solchem Vorkommen fehlt derjenige Zug, der die „Erfahrung" als Quelle wissenschaftlichen Denkens und Sprechens ausweist: es ist der Zug der Öffentlichkeit und Voilziehbarkeit für jedes menschliche Subjekt, welches zu der Beobachtung entsprechender Tatsachen, um die es geht, angeleitet wird. Die Möglichkeit zum Symbolisieren führt demgemäß auch zu unechten Erscheinungen, wie sie z. B. in den Geistererscheinungen gegeben sind. Solange Kant kein „Richtmaß" für die sachliche Gültigkeit metaphysischer Aussagen gewonnen hat, bleibt ihm nichts anderes übrig, als im skeptischen Lichte vorgetragene metaphysische Hypothesen zur Debatte zu stellen. Um die Selbstsicherheit des dogmatischen Redens der Metaphysiker zu erschüttern, führt er vor, wie man alles

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

beweisen kann, ohne sachlichen Grund unter den Füßen zu haben: er zeigt den großen Spielraum für mögliche metaphysische Hypothesen. So überlegt er, ob die Analogie zur Erscheinungswelt nicht dazu hinreiche, um eine „Welt" pneumatischer Gesetze 98 auszubauen. Im Abschnitt der „geheimen Philosophie, die Gemeinschaft mit der Geisterwelt zu eröffnen", läßt er die philosophische Phantasie einen Blick auf „innere" Kräfte tun, denen unsere Seele so unterworfen sei wie der Leib den äußeren Kräften. Wie in der physischen Welt, so entstehe auch im Inneren ein „Streit zweier Kräfte", nämlich einer Art pneumatischer Anziehungskraft und einer der geistigen Welt angehörenden Abstoßungskraft. Die eine Kraft zeige sich als Egoismus, der alles auf sich bezieht. Ihr wirke die „Gemeinnützigkeit, dadurch das Gemüth gegen andere außer sich getrieben oder gezogen wird", entgegen". Es gebe einen „Trieb", der uns nötigt, über die private Sphäre unseres Empfindens und Meinens hinauszugehen und Kommunikationen mit den anderen zu suchen. In der „uneigennützigsten und wahrhaftesten Gemüthsart" werde ein geheimer Zug verspürt, „dasjenige, was man für sich selbst als gut oder wahr erkennt, mit dem Urtheil anderer zu vergleichen,, um beide einstimmig zu machen, imgleichen eine jede menschliche Seele auf dem Erkenntnißwege gleichsam anzuhalten, wenn sie einen andern Fußsteig zu gehen scheint, als den wir eingeschlagen haben, welches alles vielleicht eine empfundene Abhängigkeit unserer eigenen Urtheile vom allgemeinen menschlichen Verstände ist und ein Mittel wird, dem Ganzen denkender Wesen eine Art von Vernunfteinheit zu verschaffen" 100 . An solcher Vernunfteinheit ist die Metaphysik interessiert: Kant würde gerne das skeptische Vorzeichen, unter dem diese Sätze gesprochen werden, in ein unbedingt bejahendes verändern, wenn er nur in dieser Zeit schon das Realitätskriterium, das „Richtmaß" metaphysischer Aussagen gewonnen hätte. s * Es ist daran zu erinnern, daß unter „Pneumatologie" d i e j e n i g e Disziplin der Sdiulphilosophie verstanden wurde, die sich mit dem W e s e n des „Geistes" befaßt, wobei auch unkritisch „der Geister" gesprochen wurde. Wolff ordnete psydiologia und theologia rationalis der Pneumatologie ein, letztere, weil Gott als „Geist" begriffen wird. » II, S. 334. 100 II, S. 334.

Ansätze der Kritik und Skepsis

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Mitten in den skeptischen Reden der „Träume" steht das bekannte Bekenntnis, er sei in die Metaphysik verliebt, habe aber keine Gunst von ihrer Seite erfahren. Wenn er sich an die „Erfahrung" als Kriterium der Realität hält, so bedeutet das keine empiristische Absage an mögliche metaphysische Realität: wenngleich damit eine kritische Zurückweisung dogmatischer Beweiswut gegeben ist. Es handelt sich im Falle der Metaphysik um Aussagen, die weder durch Beweis zu erhärten, noch durch Widerlegung zu erledigen sind. Es geht aber auch nicht an, z. B. die Unmöglichkeit eines Geistes oder einer gegenseitigen Einwirkung von Geistern schon gleich in dem Falle zu behaupten, in welchem dergleichen durch Erfahrung nicht belegbar ist. Man würde dann den Fehler machen, unsere subjektiven Bedingungen für die Erkenntnis der Dinge den Sachen selbst als ihre objektiven Eigenarten anzudichten. Alle Materie z. B. widersteht 101 anderen Materien und behauptet den Raum ihrer Gegenwart. Sie heißt deshalb undurchdringlich. Uber diese Eigenschaft der Materie belehrt uns die Erfahrung. Abstraktion von dieser Erfahrung bringt in uns den allgemeinen Begriff der Materie hervor. Erfahrung, das scheint hier die Meinung Kants zu sein, ist überhaupt Ergebnis von Kräften, welche von Seiten der Körper auf uns einwirken. In der Erfahrung des Widerstandes „erkennen" wir die Körperlichkeit der Materie, insofern Erkenntnis ein Resultat des Verhältnisses zwischen den Körpern und unserer Subjektivität darstellt. Aber wir „begreifen" sie deshalb doch nicht in ihrem Wesen. Kants Skeptizismus hat folgendes Gesicht: er belegt die Betriebsamkeit, welche die Dogmatiker im unkritischen Beweisen und Widerlegen zeigen, mit Zweifel, ebenso aber das Verfahren der dogmatischen Skepsis der positivisti101

II, S. 322.

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

sehen Empiristen, welche die Beziehungen zur Metaphysik überhaupt abbrechen. Charakteristisch für die Kantische Skepsis ist die Entkräftung aller voreiligen Entscheidungen und Entschließungen im Bereich des Wissens. Die positive Seite dieser Skepsis zeigt sich darin, prinzipiell Raum für metaphysische Möglichkeiten freizuhalten. Die skeptischen Überlegungen zur Subjektivität haben das Resultat, daß es natürliche Grenzen der menschlichen Vernunft gibt, innerhalb deren allein Erkenntnis möglich ist. Was darüber hinausgehe, wie z. B. die Lehre von den Geistern, darüber könne man nur „meinen", niemals aber etwas „wissen". Wer sich in noch so eng gezogenen Grenzen des Intellekts hält, vermag gerade auf Grund des Verzichtes, den er leistet, in dem ihm erlaubten Gebiete um so fester aufzutreten: um so sicherer sind die Erkenntnisse, die er gewinnt. Ganz sicher und sogar „vollendet" sei das Wissen von den Grenzen der Subjektivität selbst. Von keinem Erfahrungsgegenstand in der Natur könne man sagen, man habe ihn durch Beobachtung oder Vernunft jemals ausgeschöpft: „wenn es auch ein Wassertropfen, ein Sandkorn oder etwas noch Einfacheres wäre; so unermeßlich ist die Mannigfaltigkeit desjenigen, was die Natur in ihren geringsten Theilen einem so eingeschränkten Verstände, wie der menschliche ist, zur Auflösung darbietet" 102 . Aber mit „dem philosophischen Lehrbegriff" von geistigen Wesen sei es ganz anders bewandt. Das hier zu gewinnende Wissen kann vollendet sein, aber im „negativen Verstände". Denn es besitze die Kenntnis der Grenzen unserer subjektiven Einsicht mit Sicherheit und überzeuge uns vollständig davon, daß „die verschiedene Erscheinungen des Lebens in der Natur und deren Gesetze alles seien, was uns zu erkennen vergönnt ist, das Princi112

II, S. 351.

Ansätze der Kritik und Skepsis

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pium dieses Lebens aber, d. i. die geistige Natur, welche man nicht kennt, sondern vermuthet, niemals positiv könne gedacht werden, weil keine data hiezu in unseren gesammten Empfindungen anzutreffen seien . . . " . Die Konstellation zwischen dem Stande des menschlichen Subjekts, Natur und Gott bedingt es, daß in der menschlichen Vernunft das Prinzip der Hoffnung des Künftigen eine machtvolle und zugleich verführerische Rolle spielt. Verführerisch deshalb, weil uns Hoffnung dazu anleitet und verleitet, metaphysischen Theorien von künftigen Welten, von einer Gemeinschaft der Geister und von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele voreilig zuzustimmen, obwohl deren Realitätsgehalt noch gar nicht ausgemacht ist und sie am „Richtmaß," des Kriteriums der Wissenschaftlichkeit nicht gerechtfertigt worden sind. So kommt es zu einer subjektiven Motivierung objektiver metaphysischer Ansprüche. In den „Träumen" führt Kant eine Art Elenchik, eine Prüfung metaphysischer Hypothesen, durch. Es ist die Frage, wie ich von meinem subjektiven Stande aus ein Maß für Wahrheit oder Unwahrheit metaphysischer Aussagen finden kann. Aber die Frage erstreckt sich noch weiter: selbst dann, wenn sich solch ein Maß gefunden hat, muß danach gefragt werden, ob es sich in diesem Falle um das wahre, richtige Maß handelt. Bedarf es dann nicht eines Maßes des Maßes? Und kommt man, da dieses wiederum einer Rechtfertigung zu bedürfen scheint, nicht am Ende zu einem unendlichen Regressus? In dieser Lage bietet sich ein dialektisches Verfahren an. Im bürgerlichen Leben geht man so vor, daß man eine Waage auf ihre Tüchtigkeit dadurch prüft, daß man Ware und Gewichte ihre Schalen vertauschen läßt. Kant meint, daß sich eine subjektive Parteilichkeit der Verstandeswaage durch eben denselben Kunstgriff zeige, „ohne welchen man auch in philosophischen Urtheilen nimmermehr ein einstimmiges Facit aus den verglichenen Abwiegungen herausbekommen kann" 1 0 3 . Mag man annehmen, ich hätte mich z. B. für die metaphysische Theorie von der Unsterblichkeit der Seele 103

II, S. 349.

Kaulbadi, Immanuel Kant

6

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

entschieden: dann lege ich diese Meinung auf eine Schale der Waage, in deren andere Schale mein Gegner seine gegenteilige Meinung niederlegt. Nun muß ich damit rechnen, daß meine Waage parteiisch reagiert, indem sie auf meine Selbstliebe Rücksicht nimmt, der daran gelegen ist, daß ich unter allen Umständen Recht behalte, auch wenn die Sache selbst gegen mich sprechen würde. Aber jetzt folge ich der allgemeinen, in der bürgerlichen Lebenswelt gehandhabten Methode der Vertauschung von Waren und Gewichten auf den Schalen der Waage. Ich versetze mich in einen Stand, in welchem ich auch meine Freiheit gegenüber meiner eigenen Selbstliebe und dem Trieb, immer Recht zu behalten, bewähre. Dann gilt für mich, daß das Urteil desjenigen, der meine Gründe widerlegt, mein Urteil ist, „nachdem ich es vorerst gegen die Schale der Selbstliebe und nachher in derselben gegen meine vermeintliche Gründe abgewogen und in ihm einen größeren Gehalt gefunden habe. Sonst betrachtete ich den allgemeinen menschlichen Verstand blos aus dem Standpunkte des meinigen: jetzt setze ich mich in die Stelle einer fremden und äußeren Vernunft und beobachte meine Urtheile sammt ihren geheimsten Anlässen aus dem Gesichtspunkte anderer" 104 . Das heißt: ich gebrauche meine Freiheit dazu, um mich aus meiner privaten, unter Umständen verschobenen Perspektive in diejenige der allgemeinen menschlichen Vernunft zu begeben, auf diese Weise den wahren Maßstab zu gewinnen und wahre Aussagen machen zu können. Es ist der Weg, den das Subjekt von dem ihm zunächst einmal von der Natur zugewiesenen Stande aus zur Objektivität zu gehen vermag. Daß es sich überhaupt auf diesen Weg macht, setzt freilich voraus, daß es den Standpunkt der Freiheit gewonnen hat. In dieser Methode der dialogischen Vertauschung der Standpunkte sieht Kant das einzige Mittel, den Maßstab zu finden und den optischen Betrug zu verhüten, um „die Begriffe an die wahre Stellen zu setzen, darin sie in Ansehung der Erkenntnißvermögen der menschlichen Natur stehen". Daß dieses Verfahren in die spätere transzendentale Dialektik einmünden wird, ist »" II, S. 349.

Ansätze der Kritik und Skepsis

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offensichtlich. Aber das steht vorläufig hier noch nicht zur Debatte. Entscheidend ist, daß bei diesem Verfahren eine besondere Eigenschaft der Verstandeswaage zutage tritt, die aus unserem ursprünglichen natürlichen Stand gegenüber Gott und Natur resultiert. „Ich finde nicht, daß irgend eine Anhänglichkeit, oder sonst eine vor der Prüfung eingeschlichene Neigung meinem Gemüthe die Lenksamkeit nach allerlei Gründen für oder dawider benehme, eine einzige ausgenommen. Die Verstandeswage ist doch nicht ganz unparteiisch, und ein Arm derselben, der die Aufschrift führt: Hoffnung der Zukunft, hat einen mechanischen Vortheil, welcher macht, daß auch leichte Gründe, welche in die ihm angehörige Schale fallen, die Speculationen von an sich größerem Gewichte auf der andern Seite in die Höhe ziehen. Dieses ist die einzige Unrichtigkeit, die ich nicht wohl heben kann, und die ich in der That auch niemals heben will."105 Damit hat Kant an unserer gemeinsamen Vernunft ein Motiv entdeckt, parteiisch zu sein und optische Täuschungen zu begünstigen: er wird in der Kritik der reinen Vernunft diesen Hang unserer Vernunft als „dialektisch" bezeichnen. Der skeptische Standpunkt der Träume kommt zu dem Resultat, „daß alle Erzählungen vom Erscheinen abgeschiedener Seelen oder von Geistereinflüssen und alle Theorien von der muthmaßlichen Natur geistiger Wesen und ihrer Verknüpfung mit uns nur in der Schale der Hoffnung merklich wiegen; dagegen in der der Speculation aus lauter Luft zu bestehen scheinen"106. An dem Bilde der Waage wird nicht nur sichtbar, daß der Stand des menschlichen Subjekts gegenüber Gott die Parteilichkeit seiner Verstandeswaage bewirkt, sondern daß er sich in Freiheit und souverän auch zugleich über diese Parteilichkeit zu stellen vermag, indem er sie erkennt. Diese Freiheit der Wahl des Standpunktes bzw. der Vertauschung der Gewichte in der Verstandeswaage wird später den Grund für eine wissenschaftliche Begründung der Metaphysik abgeben. Die weiteren Überlegungen zur Subjektivität führen zum Gedanken der Leiblichkeit des Subjekts und in den Bereich des Raumproblems. II, S. 349 f. "« II, S. 350.

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Der W e g zur Kritik der reinen V e r n u n f t 4. Leiblichkeit und Orientierung im Räume. Auskommen der „Anschauung"

Die Prinzipien des Standes und der Perspektive erweisen sich noch in weiteren Überlegungen als bedeutsam f ü r die f r ü h e Subjektivitätsphilosophie Kants. In der Schrift: „Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume" bestimmt er den „Weltraum" dadurch, daß er ihn auf den Stand des menschlichen Subjekts bezieht 107 . „Meinen" Standpunkt charakterisiert er als denjenigen Punkt im Weltraum, den ich jeweils als anschauendes leibliches W e s e n einnehme und von dem aus ich ein Verhältnis zu den anderen Sachen behaupte, die außer mir im Räume sind. Von all dem, was außer uns ist, können wir durch die Sinne nur insofern Kenntnis gewinnen, als es „in Beziehung auf uns selbst steht". So erfahren wir uns als im Mittelpunkt eines Raumes stehend, in welchem uns die Körper unserer Welt begegnen. Dabei orientieren wir uns in der Weise, daß wir horizontal diejenige Fläche nennen, auf der wir mit unserem Leibe senkrecht zu stehen kommen 108 . W i r teilen den unserem subjektiven Mittelpunktstande angemessenen Weltraum zum Zwecke unserer Orientierung in verschiedene „Gegenden" ein. Die soeben bezeichnete Horizontalfläche grenzt z. B. ein Oben und ein Unten in diesem Räume ab. Es wird dabei sichtbar, daß dieser Unterschied der „Gegenden" im Verhältnis zu dem Stand, den unser Leib von N a t u r aus einnimmt, zu verstehen ist: der erste Grund des Unterschiedes dieser Gegenden ist die Subjektivität und ihre Orientierung im 107 Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume (1768), in: II, S. 375—383. 1M II, S. 379. Vgl. meine U n t e r s u d u m g : Die Metaphysik des Raumes bei Leibniz und Kant, Köln 1960 (Kantstudien-Ergänzungsheft 79); ebenso: Leibbewußtsein und Welterfahrung beim frühen und späten Kant, Kantstudien Bd. 54 (1963), S. 464 ff.

Leiblichkeit und Orientierung im Räume

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Welträume. Auf der Horizontalfläche „können zwei andere senkrecht stehen und sich zugleich rechtwinklicht durchkreuzen, so daß die Länge des menschlichen Körpers in der Linie des Durchschnitts gedacht wird. Die eine dieser Verticalflächen theilt den Körper in zwei äußerlich ähnliche Hälften und giebt den Grund des Unterschiedes der rechten und linken Seite ab, die andere, welche auf ihr perpendicular steht, macht, daß wir den Begriff der vorderen und hinteren Seite haben können"109. Auf diese Weise konstruiert Kant „unseren" Weltraum, indem er ihn in Gegenden einteilt, die er in ein Verhältnis zu unserem subjektiven Stand setzt. Es sei kein Wunder, „daß wir von dem Verhältniß dieser Durchschnittsflächen zu unserem Körper den ersten Grund hernehmen, den Begriff der Gegenden im Räume zu erzeugen"110. Diesen auf den subjektiven Stand bezogenen Raum nennt Kant „absolut". Er sei unabhängig von dem Dasein aller Materie, weil er die Orientierung eines möglichen Körpers erst begründet. Er habe eine „eigene Realität", da er als der erste Grund der Aufstellung und Lokalisierung eines Körpers an einem Ort angesehen werden müsse, ebenso wie der Möglichkeit, den Körper aus Teilen zusammenzusetzen, die sich nebeneinander befinden. Dieser Raum stellt auch die reale Grundlage für alle möglichen abstrakten Räume, z. B. diejenigen der Geometrie, dar. Daß mein leiblicher Stand das Richtmaß der Orientierung in diesem Räume ist, wird auch daran sichtbar, daß sogar die allergenaueste Himmelskarte allein mir bei dem Bemühen, mich am Himmel zurechtzufinden, nicht viel helfen würde, wenn „außer der Lage der Sterne unter einander nicht noch durch die Stellung des Abrisses gegen meine Hände die Gegend determinirt würde"111. "» II, S. 379. 110 II, S. 378 f. 1 , 1 II, S. 379.

Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

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Auch wenn wir uns im alltäglichen Leben auf dieser Erde orientieren wollen, um etwa bei einer Wanderung oder bei einer Autofahrt die richtige, d. h. zu unserem Ziel führende Richtung zu finden, genügt es nicht, daß wir uns anhand einer Karte über die gegenseitige Lage der Orte, die dabei eine Rolle spielen, eine Kenntnis verschaffen: vielmehr müssen wir von unserem Standorte aus eine „Gegend" im Räume (z. B. Norden) erkennen, um danach die Landkarte ausrichten zu können; so wird es möglich sein, zu der Kenntnis der gegenseitigen Lage der Orte auch noch die absolute „Gegend" herauszufinden, in der sich die uns wichtigen Orte von unserem Stande aus befinden. Es ist für den Fortschritt in der Theorie der Subjektivität von Bedeutung, daß in der Raumschrift von 1768 zum ersten Male vom „Anschauen" im Sinne eines dem leiblichen Subjektstande angemessenen Auffassens räumlicher Tatsachen die Rede ist. Es sei, so erklärt Kant, der Zweck seiner Abhandlung, die in der Geometrie geleisteten „anschauenden Urtheile der Ausdehnung" 112 auf dem Raum der Weltorientierung zu begründen, dem er eigene Realität zubilligt. Er nennt ihn den „allgemeinen" oder „absoluten", den „ursprünglichen" Raum, der „eigene Realität" habe 113 . Auch vom „Gefühl" einer spezifisch-subjektiven Weise der Erfahrung des Raumes ist die Rede 114 , wenn Kant betont, daß „das verschiedene Gefühl der rechten und linken Seite zum Urtheil der Gegenden" von großer Notwendigkeit sei. Es wird sich in einer späten Abhandlung Kants zeigen, daß auch andere sublimere Weisen der Orientierung, z. B. die „Orientierung im Denken", bedacht werden müssen 115 . Auch bei dieser Weise der Orientierung spielt je der eigene, 111 113 114 us

II, S. 378. II, S. 378, 383. II, S. 380. W a s heißt: Sich im Denken orientieren? (1786), in: VIII, S. 131—148.

Frage des Realitätskriteriums

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subjektive Stand eine Rolle, wobei freilich nicht vom „Gefühl" des Links und Rechts, sondern vom „Bedürfnis der Vernunft" die Rede sein wird. 5. Frage des

Realitätskiiteiiums

Es sei noch einmal in Erinnerung gerufen: Der Titel Realität bedeutet in der Schulphilosophie Bestimmung eines „Wesens" durch ein positives Prädikat116. Realität ist „Position". Aus der Abhandlung über den einzig möglichen Beweisgrund geht hervor, daß sie im Unterschied zur Existenz bloß „relative" Position sei: relativ deshalb, weil schon ein Subjekt vorausgesetzt wird, in Beziehung auf welches die „reale" Aussage gilt. Diese Bedeutungssituation des Wortes Realität (Sachheit) besteht auch beim frühen Kant: besonders in der Zeit, in der er sich von theorationalistischen Voraussetzungen noch nicht gelöst hat und dem Prinzip des Wesens verbunden war, galt ihm als Sache selbst das innere Wesen der erscheinenden Dinge. Das Wesen galt als vom göttlichen Verstände vorgedacht und vorgebildet und hatte exemplarische Gültigkeit auch für den menschlichen Verstand. Als Richtmaß für richtiges oder falsches Denken durfte daher das natürliche Gesetz des menschlichen Verstandes gelten: es ist dasjenige der Identität bzw. des Widerspruchs. Innerlich möglich, der Sache selbst entsprechend und dem Wesen gemäß galt dasjenige, was widerspruchsfrei ist. Diese Situation änderte sich in dem Augenblick, in welchem sich Kant von der Wesensphilosophie lossagte. Von nun an stritt er es ab, daß der reine Verstand in sich schon das Kriterium der Realität in der Form des Identitäts- und Widerspruchsprinzips besitze. Schon in der AbSo z . B . Reflexion 3774 (zwischen 1764 und 1768), In X V I I , S . 290: Realitas est vel relative ponens vel relative tollens.

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

handlung über den „Beweisgrund" argumentiert er im Sinne einer erkenntnistheoretischen Denkfigur, die er auch mit dem Empiristen gemeinsam hat: erst müsse etwas „gegeben" („Datum") sein, damit das Denken, dessen Funktion Verbinden und Vergleichen sei, in Gang kommen könne. An diesen Gedanken knüpfte er die Unterscheidung zwischen „Existenz" und „Essenz" (1763): das verbindende und vergleichende Denken kann aus sich die Daten nicht liefern, in denen Existenz verankert werden muß. Auf diese Weise aber bereitet sich eine Entgegensetzung zwischen dem bloß logisdien und dem realen, auf die Sache selbst begründeten Denken vor. In dem Augenblick, in welchem sich das Subjekt emanzipiert und den Anspruch erhebt, selbst zu erfahren und Gegebenes selbst in Gedanken zu verbinden, statt auf schon gebahnten Fußsteigen des „Wesens" zu gehen, gilt das vom göttlichen Verstände als vorgegeben angenommene Richtmaß der Realität nicht mehr. Jetzt sind Identität und Widerspruch nicht mehr ausschlaggebend für sachliche Wahrheit oder Unwahrheit. Vielmehr ergibt sich das Richtmaß für die Sachheit der Aussage selbst erst im eigenen subjektiven Vollzug: ich muß selbst den Daten begegnen und das Empfundene bzw. Wahrgenommene durch die Arbeit des Verbindens und Trennens auf die Sprache meines Verstandes bringen. Im Verlauf dieser Entwicklung gewinnt das Prinzip der Erfahrung sein volles Gewicht. Es schränkt die Bedeutung des reinen Denkens ein: vorübergehend wird auch das Prinzip des apriori in den Hintergrund treten, weil nun das Richtmaß für Wahr oder Falsch der Arbeit des Erfahrens überantwortet wird, welche das Subjekt am Gegebenen vollzieht. Der Verstand wird vorläufig als Instanz angesehen, welche des Fundamentes der gegebenen Dinge bedarf, um „dann" erst verbinden und vergleichen zu können.

Frage des Realitätskriteriums

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So ist die gedankliche Situation beschaffen, in welcher Kant für den Wederuf Humes empfänglich werden und für dessen Theorie der Kausalität Verständnis gewinnen konnte. Wie „etwas könne eine Ursache sein oder eine Kraft haben", sei niemals durch Vernunft einzusehen, „sondern diese Verhältnisse müssen lediglich aus der Erfahrung genommen werden". Unsere Vernunftregel gehe nur auf die Vergleichung nach dem Prinzip von Identität und Widerspruch. Das Band, welches durch den reinen Verstand in der Form der Identität geschaffen wird, reicht durchaus nicht aus, Ursache und Wirkung miteinander zu verbinden: denn beide werden als Nichtidentisches, als ein Eines und ein Anderes gesetzt, so daß es noch eines ganz anderen Bandes bedarf, um beide in der Form der Kausalität zu verbinden. Die Grundbegriffe der Dinge als Ursachen, die Ideen der „Kräfte" und „Handlungen", seien ganz willkürlich, wenn sie nicht aus der Erfahrung hergenommen seien, und können weder bewiesen noch widerlegt werden117. Wenn das Realitätskriterium dem Prinzip der Erfahrung überantwortet wird, dann muß diese auch über Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Sache zu entscheiden vermögen. Aber Kants Weg geht weiter: immer dringlicher wird für ihn die Frage nach dem spezifischen „Richtmaß" der metaphysischen Urteile, die nicht auf Erfahrung fundiert werden können. Sein Denken wird zu einem Standpunkt hingeführt werden, von dem aus er die Möglichkeit der Dinge nicht ausschließlich auf Erfahrung fundiert sein lassen kann; vielmehr versucht er von hier aus die Antwort auf die Frage, worin die Möglichkeit von Erfahrung selbst bestehe. «' II. S. 370.

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Der W e g zur Kritik der reinen V e r n u n f t 6. Erfahrung

Unter dem W o r t Erfahrung versteht Kant in seiner Frühzeit, insbesondere in den maßgebenden J a h r e n seit 1763, dasjenige Prinzip, auf welches sich die Physiker der Neuzeit berufen und auf Grund dessen sie zu ihren Ergebnissen gekommen sind. W i e schon erwähnt, spielt Erfahrung in diesen J a h r e n bei Kant ebenso wie bei seinen Gewährsleuten von der Physik die Rolle des Maßstabs für die Realität unserer Aussagen. Im Zeichen der Orientierung am Verfahren Newtons stehen die Erklärungen Kants zur einzig möglichen Methode der Metaphysik. Man solle durch „sichere innere Erfahrung, d.i. ein unmittelbares augenscheinliches Bewußtsein", Merkmale eines Begriffes zusammensuchen, die man dann zu einem Bild von der Sache verknüpft 1 1 8 . Nicht nur gegen die mathematische Methode macht Kant hier Front: er ergreift zugleich auch Partei für die Physiker, die auf Erkenntnis des „Wesens" Verzicht leisten und sich statt dessen auf die Suche nach „Merkmalen" begeben, die sie zum Gesamtbegriff einer Sache zu verbinden gedenken. Das leitende Modell ist folgendes: Es ist zunächst durch Empfindung, W a h r n e h m u n g etwas „gegeben". Dadurch wird ein „Fundament" für weitere Erkenntnis gelegt 119 . Auf diesem Fundament des Gegebenen baut der Verstand weiter, indem er Bausteine zu einem Zusammenhang verbindet. Auf diese Weise entsteht ein allgemein verbindliches System von Sätzen: Kant spricht vom „Gesetz der Empfindung", welches bei dem A u f b a u der Theorie aus 118 Vgl. Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral. Zur Beantwortung der Frage, weldie die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin auf das Jahr 1763 aufgegeben hat (1764), in: II, S. 273—301; Zitat S. 286, zur Nachahmung der Mathematik vgl. S. 283. 111 Entspricht dem Lodceschen W o r t : „groundwork", siehe An Essay concerning Human Understanding, Buch II, I, § 24.

Erfahrung

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Empfindungsmaterial maßgebend ist. Dadurch, daß sich Empfindungen unter ein allgemeines, mitteilbares Gesetz fassen lassen, ergibt sich die Möglichkeit, ihren zunächst privaten Charakter zu überwinden und die allgemeine Sprache der Vernunft zu sprechen. „Wenn aber gewisse angebliche Erfahrungen sich in kein unter den meisten Menschen einstimmiges Gesetz der Empfindung bringen lassen und also nur eine Regellosigkeit in den Zeugnissen der Sinne beweisen würden (wie es in der That mit den herumgehenden Geistererzählungen bewandt ist), so ist rathsam sie nur abzubrechen: weil der Mangel der Einstimmung und Gleichförmigkeit alsdann der historischen Erkenntniß alle Beweiskraft nimmt, und sie untauglich macht, als ein Fundament zu irgend einem Gesetze der Erfahrung zu dienen, worüber der Verstand urtheilen könnte" 120 . Erfahrung ist gesetzmäßiger Zusammenhang. Sie geschieht auf dem Boden der Gemeinsamkeit, Allgemeinheit und hat die Ebene der privaten Meinungen und unmittelbaren Empfindungen hinter sich gelassen. Im Rahmen dieser Auffassung entfaltet sich im Zeichen des gesetzlichen Zusammenhanges noch ein weiterer Begriff von Erfahrung. In der „Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen" (1765/66)121 erklärt Kant: Der natürliche Fortschritt der menschlichen Erkenntnis sei der, daß sich der Verstand ausbilde, indem er durch Erfahrung zu einem „anschauenden Urtheilen" und über dieses zu Begriffen gelange, und daß „darauf" diese Begriffe in ein systematisches Ganzes der Wissenschaft verbunden werden. Bei der Unterweisung der Studenten gehe er, so erklärt Kant, denselben Weg. Selbst wenn der Hörer am Ende nichts im Bereiche der höheren 1!0 m

II, S. 372. Nadiridit von der Einriditung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahre von 1765—1766, in: II, S. 303—313.

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

Systematik profitiere, so habe er wenigstens etwas vom Erfahrungsfundament mitbekommen. Er sei zwar nicht für die Schule, doch für das Leben geübter und klüger geworden 122 . Kehre man diese Methode um und fange nicht von unten, gleichsam vom Fundament, sondern von oben an, so erschnappe der Schüler eine Art Vernunft, ehe noch der Verstand an ihm ausgebildet wurde und „trägt erborgte Wissenschaft, die an ihm gleichsam nur geklebt und nicht gewachsen ist. ..". Seine Gemütsfähigkeit sei dann noch so unfruchtbar wie jemals, aber er sei durch den Wahn von Weisheit noch verderbter geworden. Dieses sei die Ursache, weswegen man nicht selten Studierte antreffe, die wenig praktischen Verstand zeigen: und warum „die Akademien mehr abgeschmackte Köpfe in die Welt schicken als irgend ein anderer Stand des gemeinen Wesens" 1 2 3 . Er selbst habe sich folgende Regel zum Prinzip gemacht: zuerst sehe er darauf, den Verstand seiner Zuhörer in „Erfahrungsurtheilen" zu üben und auf dasjenige achten zu lassen, was die vom Verstände verarbeiteten, von ihm verbundenen und verglichenen Empfindungen seiner Sinne lehren können. Von dem Fundament aus soll er zu den höheren und entlegeneren Begriffen keinen kühnen Schwung unternehmen, sondern „dahin durch den natürlichen und gebähnten Fußsteig der niedrigem Begriffe gelangen, die ihn allgemach weiter führen . . . " . Er soll selbst diesen Weg gehen und nicht fertige Resultate übernehmen. Er soll nicht Gedanken, sondern Denken lernen. Der Stand des „Erfahrenseins", den derjenige erreicht, der mit den Dingen der Welt umgegangen, durch Erfolg und Irrtum hindurchgegangen ist und jetzt ein zum Erfolg führendes und den Sachen gemäßes Verhalten versteht, diese also richtig behandelt, wird von Kant als „Erfahren1!! 153

II, S. 305 f. II, S. 306.

Negation und reale Entgegensetzung

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heit" bezeichnet. Der Vielgereiste z. B. weiß, wie es in der Welt aussieht und versteht sich auch in ihr richtig zu verhalten. Er befindet sich im Stande der „Erfahrenheit" 124 . Nach Kant kommt es darauf an, auch in der philosophischen Ausbildung die Jugend auf den Weg des selbsteigenen Erfahrens zu bringen. Eine Gefahr im Werdegang der studierenden Jugend bestehe vornehmlich darin, daß sie „frühe vernüniteln lernt, ohne gnugsame historische Kenntnisse, welche die Stelle der Erfahrenheit vertreten können, zu besitzen" 125 . 7. Negation und reale

Entgegensetzung

In der Abhandlung über die negativen Größen von 1763 verfolgt Kant den schon im „Einzig möglichen Beweisgrund" erörterten Gedanken der Realrepugnanz weiter 126 . Das Bedeutsame und Neue in dieser Abhandlung besteht darin, daß Kant für seinen vom Verhalten des Subjekts zum Dasein her gewonnenen Begriff von Realität nicht nur Erkenntnisse aus dem Felde der Physik, sondern auch der Mathematik fruchtbar macht. Dadurch betritt er in der Philosophie der Mathematik einen Weg, der in der Kritik der reinen Vernunft in folgende These einmündet: sowohl die geometrischen wie auch die arithmetischen Sätze können nicht nur logisch im Zeichen des Prinzips der Identität 124 Siehe meine Abhandlung über Weltorientierung, Weltkenntnis und pragmatische Vernunft bei Kant, in „Kritik und Metaphysik. Studien", Heinz Heimsoeth zum 80. Geburtstag, Berlin 1966, S. 66. Hier wird im Zusammenhang mit dem W o r t Erfahrenheit der Blick, audi auf Paracelsus geworfen. Nach dessen Auffassung gelangt der Arzt in der Gesdiidite seines Handelns und Behandeins des Kranken in den Stand der Erfahrenheit, die ihn ihrerseits wieder befähigt, richtigere und erfolgreichere Maßnahmen zu ergreifen und Erkenntnisse zu gewinnen. Paracelsus spricht von der Dreiheit von „erfahrung, wissen und kunst". Vgl. auch die Diskussion des Empiriebegriffes hei Aristoteles im Zusammenhang mit dem Beispiel des Arztes etwa in Met. 981 a 8 ff. >2S II, S. 312. 128 Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763), in: II, S. 165—204,

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

und des Widerspruchs allein begründet werden, sondern verlangen ein Realprinzip eigener Art: dort wird es heißen, daß sie zwar a priori, aber nicht analytisch, sondern synthetisch seien. Der Gedankengang der Schrift beginnt mit der Bemerkung, daß man bisher nur auf die logische Entgegensetzung (Opposition) sein Augenmerk gerichtet habe. Die Folge einer logischen Verknüpfung, die sich ergibt, wenn von ein und demselben Dinge etwas zugleich bejaht und verneint wird, sei „gar nichts" (nihil negativum irrepraesentabile). Ein Körper in Bewegung sei Etwas. Ebenso sei ein Körper, der nicht in Bewegung ist, auch Etwas: aber ein Körper, der in Bewegung und „in eben demselben Verstände zugleich nicht in Bewegung wäre, ist gar nichts" 127 . Greifen aber zwei Kräfte in entgegengesetzter Richtung in einem Punkte an, so widersprechen sie einander nicht und sind „als Prädicate in einem Körper zugleich möglich." Die Folge dieser Entgegenwirkung ist Ruhe: diese ist „Etwas (repraesentabile)". Die Ruhe könne man zwar auch als ein Nichts bezeichnen, aber dieses „Nichts" habe nur relative Bedeutung: es ist in anderer Hinsicht ein vorstellbares Etwas, ein Nihil privativum, repraesentabile 128 . Es steckt darin eine Verneinung im Sinne der Abwesenheit und des Mangels, daher will Kant dieses Nichts künftig: Zero = Null nennen. Eine in einer bestimmten Richtung wirkende Kraft ist Realität: nicht bloß deshalb, weil ihr Begriff keinen Widerspruch enthielte, sondern deshalb, weil sie in der Empfindung gegeben werden kann. Auch die Gegenkraft ist realitas, nicht negatio, ihre entgegengesetzte Richtung bedeutet keine Verneinung, sondern Bejahung. Reale Entgegensetzung zweier Faktoren ist demnach dadurch defi127

II, S. 171. » ' II, S. 172.

Negation und reale Entgegensetzung

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niert, daß das Wirken des einen die vom anderen angestrebten Folgen aufhebt. Wenn man einen Raum finster nennt und ihn in derselben Hinsicht zugleich nicht-finster, dann bedeutet dieses einen Widerspruch. Das Prädikat finster ist eine logische Bejahung, durch: nicht-finster geschieht eine logische Verneinung. Audi im Falle der Realrepugnanz werden zwei Prädikate einer und derselben Sache gegeneinander in Beziehung gesetzt: diese Beziehung aber ist „von ganz anderer Art" 129 . Wenn jemand z. B. eine Arbeit verrichtet hat, für die ein bestimmter Lohn angesetzt ist, dann ist diese Arbeit der Grund für die Einnahme einer in dieser Höhe sich belaufenden Summe. Wenn er aber am gleichen Tage einen Einkauf macht, dessen Kosten die Höhe dieser Summe erreichen, dann ist das der Grund dafür, ebensoviel wegzugeben. Der Endeffekt ist der, daß sein Besitzstand bleibt wie er ist: weil die Folgen des Verdienstes, nämlich die Einnahmen, durch den „Grund" des Ankaufs aufgehoben werden. Gleichwohl verneinen sich Verdienst und Ankauf nicht im logischen Sinne, denn jedes der beiden ist positiv zu begreifen und entspricht positiven Prädikaten. Am Ende ergibt sich in diesem Falle auch ein positiver Effekt: der Besitz der eingekauften Sache. In der Situation der realen Entgegensetzung bleibt die Aussage „er hat verdient" ebenso wie die Aussage „er hat eingekauft" als positiv bestehen, wie auch Verdienst und Einkauf die Situation in positiver Weise bestimmen. Würden beide Aussagen dagegen in logischer Weise einander verneinen, dann würde sowohl Verdienst wie Einkauf, wie auch das Resultat beider zum absoluten Nichts (nihil negativum) werden. II, S. 172.

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

Das Beispiel von Soll und Haben leitet auf das Verhältnis zwischen negativen und positiven Zahlengrößen über. Versieht man das gehabte Kapital mit dem Vorzeichen: + und den gesollten Betrag mit —, dann ist der Anschluß an die Überlegungen zur Realrepugnanz erreicht: das Verhältnis zwischen positiver und negativer Größe wird dann als Realrepugnanz einsichtig. Der Betrag, der auf der einen Seite steht, hebt ein ihm Gleiches auf der anderen Seite auf; wenn beide Beträge aber selbst gleich sind, dann ist die Folge: Zero (Null). „Ida werde demnach die Schulden negative Capitalien nennen. Hierunter aber werde ich nicht verstehen, daß sie Negationen oder bloße Verneinungen von Capitalien wären; . . ,"130. Auch Wärme und Kälte begreift Kant als Gegensatz im Sinne der Realrepugnanz. Diese These wird ihm heute jeder zugeben, weil wir in der Physik unterdessen gelernt haben, daß zwischen einem warmen und einem kalten Zustand ein Energiegefälle besteht. Der Eisschrank, der durch Strom betrieben wird, ist ein überzeugendes Beispiel. Zu Kants Zeiten war es noch eine „berühmte Frage, ob die Kälte eine positive Ursache erheische, oder ob sie als ein Mangel schlechthin der Abwesenheit der Ursache der Wärme beizumessen sei". Kant will diese Streitfrage nicht auf eine allgemeine metaphysische Art entscheiden. Der Begriff der Kälte muß zweifellos als Verneinung des Begriffs der Wärme angesehen werden. Aber man muß die Möglichkeit einräumen, daß die Kälte selbst als Phänomen von einer „positiven Ursache herrühren könne und wirklich bisweilen daraus entspringe, was man auch für eine Meinung vom Ursprünge der Wärme annehmen mag" 131 . Kälte und Wärme seien relativ aufeinander bezogene Zustände. Um die Realrepugnanz zwischen beiden besonders ein1J1 131

II, S. 174. II, S. 184.

Negation und reale Entgegensetzung

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sichtig zu machen, bringt Kant ihr beider Verhältnis auf die Sprache des Verhältnisses einander entgegengesetzter Kräfte. Er spricht vom Gleichgewicht des Feuerelements unter den Körpern in einem gewissen Raum, welches bewirke, daß diese Körper gegeneinander gehalten weder kalt noch warm seien. Wenn dieses Gleichgewicht dagegen nicht vorhanden ist, und sich das Elementarfeuer einseitig in den einen Körpern befinde, während die anderen Körper von ihm keinen Teil in sich haben, dann heißen die ersten warm, die anderen kalt: es wird dann bewirkt, daß das Elementarfeuer von den warmen in die kalten Körper übergeht 132 . Der subjektive Bezug der bisher in den Beispielen vorkommenden Realrepugnanzen ist deutlich. Erstens spielt die „Empfindung" eine Rolle: als Leibexistenz werde ich in der Empfindung vom Körper berührt und betroffen. Zweitens werden die realen Entgegenwirkungen auf Kräfteverhältnisse im Räume zurückgeführt, bei denen Richtungen im Spiele sind. Ist dieser subjektive Bezug auch in solchen Fällen nachweisbar, bei denen der Raum keine bestimmende Rolle spielt? Das ist in der „Seelenlehre" der Fall, in welcher Kant reale Entgegensetzungen aufspürt. Schon die Aufgabenstellung ist bedeutsam: sollte es gelingen, auch in diesem Bereiche reale, „wahre" Verhältnisse aufzufinden, dann würde damit ein wissenschaftlich ernst zu nehmender Weg für metaphysische Erwägungen über das „Innere" unseres Subjekts eröffnet worden sein. Es sei die Frage, ob z. B. Unlust nur ein Mangel der Lust sei und in diesem Falle auf einer logischen Negation beruhen würde, oder ob sie auf einer positiven Gegenwirkung gegen den 138 Zu Kants Zeiten bedeuteten in der Physik Namen w i e : Feuer, Feuerwesen, Feuerstoff, Wärmestoff, Elementarfeuer ein- und dasselbe. Die Neigung der älteren Physik, alle möglichen Erscheinungen der Natur einem entsprechenden „Stoff" zuzuschreiben, hat dazu geführt, auch von Wärmestoff zu sprechen.

Kaulbach, Immanuel Kant

7

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

Lustzustand in unserer Seele beruhe: im letzteren Falle sei sie nicht das kontradiktorische Gegenteil von Lust, sei ihr aber im Realverstande entgegengesetzt und könne dann als negative Lust bezeichnet werden. Kant nimmt „innere Erfahrung" bzw. „innere Empfindung" in Anspruch und läßt sich von ihr darüber belehren, daß Unlust mehr als bloß logische Verneinung sei. Solange wir „eingeschränkte" Wesen seien, fehle in jedem Falle auch bei einem noch so lustvollen Zustande immer noch ein gewisses Maß an Lust: nehmen wir z. B. ein Medikament ein, welches wie reines Wasser gar keinen Geschmack habe, dann empfinden wir vielleicht Lust über die Aussicht auf Gesundung, wenngleich wir der Arznei selbst geschmacklich nichts abzugewinnen vermögen. In diesem Fall freilich liegt nur ein Mangel vor, insofern der Geschmack indifferent bleibt und es so ist, als ob wir nichts auf der Zunge hätten. Es handelt sich um ein Fehlen von Lust, welches noch nicht als Unlust bezeichnet ist. Nehmen wir aber eine Arznei ein, die sehr bitter schmeckt, dann ergibt sich eine sehr positive Empfindung, die nicht bloß als Mangel von Lust, sondern als „ein wahrer Grund des Gefühls" spürbar wird, das als Unlust bezeichnet wird 133 . Es entsteht die Situation eines realen Widerstreites zwischen zwei seelischen Motiven, von denen das eine die Folge des anderen zu vernichten bestrebt ist. Wie die Ruhe in der Mechanik entweder als Fehlen jedes Antriebs und jeder Kraft oder aber als Gleichgewicht zweier an dem ruhenden Körper in entgegengesetzter Richtung angreifender gleicher Kräfte ausgelegt werden kann, so ist es auch im seelischen Bereiche für einen Ruhezustand der Seele: entweder ist er Gleichgültigkeit (indifferentia), wenn nämlich überhaupt kein Grund für seelische Bewegung vorhanden ist. Oder aber er ist eine 1M

II, S. 180.

Das Problem der Methode

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Folge aus der Realopposition gleicher Gründe und heißt dann „Gleichgewicht (aequilibrium)". Im ersten Falle handelt es sich um Verneinung, im zweiten um Beraubung. 8. Das Problem

der

Methode

Kant hat in einer der Akademie der Wissenschaften zu Berlin eingereichten Preisschrift 134 der „Methode" die Aufgabe zugewiesen, die „höchstmögliche Gewißheit" in der Erkenntnis herzustellen, und zwar durch eine „unwandelbare Vorschrift der Lehrart", private Meinungen zu überwinden und Gemeinsamkeit unter denkenden Köpfen herzustellen 135 . Dadurch werde die Willkür gedanklichen Ausschweifens und Erdichtens von Hypothesen eingeschränkt, wie Newtons Methode in der Naturwissenschaft die „Ungebundenheit der physischen Hypothesen in ein sicheres Verfahren nach Erfahrung und Geometrie" verwandelt habe. Erfahrung sei auch Realitätsgrund für philosophische Erkenntnis: allerdings kann hier nur „innere" statt der „äußeren" physikalischen Erfahrung in Frage kommen. Besonders sei der Unterschied zwischen philosophischer und mathematischer Methode zu bedenken. Letztere beginnt bei Definitionen, durch welche die „Sachen" des mathematischen Denkens gegeben werden. Philosophie aber kann deshalb nicht bei Definitionen beginnen, weil ihr die Sache in der inneren Erfahrung gegeben werden muß. Die dabei zunächst dunklen und verworrenen Begriffe sind durch philosophische Analyse aufzulösen und deutlich zu machen: so daß die Möglichkeit des Definierens erst am Ende gegeben ist. Ein Unterschied zwischen Mathematik und Philosophie ergibt sich auch im Hinblick auf die 134 Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1764), i n : II, S. 273—301. 135 Vgl. Kants Einleitung zu der genannten Untersuchung, a. a. O., S. 275.

V

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Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

Sprache: erstere arbeitet mit anschaulich-symbolischen Zeichen, um allgemeine Verhältnisse zur Darstellung zu bringen. Solche Zeichen kann der Mathematiker nach „leichten und sichern Regeln" behandeln und an ihnen Erkenntnisse gewinnen, wobei „die bezeichnete Sachen s e l b s t . . . gänzlich aus den Gedanken gelassen werden, bis endlich beim Beschlüsse die Deutung der symbolischen Folgerung entziffert wird" 136 . Dagegen muß das philosophische Denken in dauernder Tuchfühlung mit seinen Sachen bleiben. Es kann sich von ihnen nicht entlasten, um statt ihrer mit Symbolen zu operieren. Im weiteren Gedankengang erklärt Kant Metaphysik als „Philosophie über die ersten Gründe unseres Erkenntnisses.. ." 137 . Es sei ihre Sache, die „unerweislichen Grundurtheile", in denen das pragmatische Denken des Lebens seine im Umgang mit den Dingen gewonnenen Kenntnisse zum Ausdruck bringt, auf die in ihnen verborgenen, „ersten Gründe unseres Erkenntnisses" hin zu erforschen. Wird durchgehend die Erfahrung als Richtmaß für die Erkenntnis gelten, dann wird noch ein anderer Weg des Denkens aktuell: auf den Plan tritt die skeptische Methode. Die metaphysischen Beweise als solche werden in das Licht der Skepsis gestellt. In den „Träumen" z. B. findet Skepsis im Schreibstil der Ironie ihren Ausdruck. In der ironischen Sprache als solcher liegt eine Aufforderung der Vernunft an sich selbst, ihre eigenen metaphysischen Aussagen nicht ernst zu nehmen und sich von allen Verkürzungen der Sache freizuhalten. Damit steht auch eine Art dialektischer Konfrontierung der Vernunft mit sich selbst im Zusammenhang, die geradezu methodisch gehandhabt wird. Kant befragt z. B. die Vernunft in der Gestalt der gewöhnlichen Sprache, was sie »« II, S. 278. » ' II, S. 283.

Das Problem der Methode

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unter dem oft gebrauchten Wort „Geist" verstehe. Den Sinn, den die Sprache mit diesem Wort verbindet, bzw. zu verbinden glaubt, prüft er von einem überlegeneren Standpunkt aus, der sidi als „wissenschaftlich", wie die Physik Newtons, am Richtmaß der Erfahrung orientiert. Kant befragt die Sprache, ob und wie sie in diesem oder jenem Falle reagiert, wenn sie sich vor wissenschaftlicher Erfahrung verantworten soll. Das führt zu einem experimentellen Verfahren im Bereich der philosophischen Methode: Vernunft experimentiert mit sich selbst und wird, wenn sie viele Erfahrungen mit sich gesammelt hat, zur „versuchten" Vernunft. Die Prüfung, welche Vernunft mit sich selbst anstellt, führt in der Entwicklung des Kantischen Denkens von 1766 ab zur Konzeption einer Kritik der reinen Vernunft. Faßbar ist eine besonders wichtige Station in dieser Entwicklung in der Dissertation von 1770138. Hier unterscheidet Kant zwischen dem Bereich der sinnlichen, auf Raum-Zeit-Perspektive eingestellten Erkenntnis einerseits und der intellektuellen Erkenntnis der Sachen selbst, die perspektivenfrei ist. „Die Philosophie, die die ersten Prinzipien des Gebrauchs des reinen Verstandes enthält, ist Metaphysik. Die Wissenschaft von dem Unterschiede zwischen der sinnlichen und intellektuellen Erkenntnis aber ist die Propädeutik zu jener Metaphysik. Diese meine Inauguralschrift gibt sich als Probe einer solchen Propädeutik" 138 . Cognitio sensitiva und cognitio intellectualis sind dadurch unterschieden, daß sinnliche Erkenntnis die Dinge vorstelle, wie sie erscheinen (sicuti apparent), intellek138 D e m u n d i s e n s i b i l i s a t q u e i n t e l l i g i b i l i s f o r m a e t p r i n c i p i i s (1970), i n : II, S. 385—419. D i e s e nach d e r V o r s c h r i f t d e r d a m a l i g e n Zeit a u s A n l a ß der Übernahme der ordentlichen Professur veröffentlichte Dissertation ist in l a t e i n i s d i e r S p r a c h e v e r f a ß t . 111 A . a. O . , S. 395 (Sectio II, § 8).

102

Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

tuelle aber, wie sie sind (sicuti sunt). Beide Erkenntnisarten beruhen auf einander gleichberechtigten Erkenntnisquellen: der Anschauung und dem Verstand. Anschauung sei nicht ein unvollkommenes, verworrenes und dunkles Begreifen, sondern Auffassen eigener Art, das auf seine Weise auch deutlich sein kann. Anschauung sei sinnlich, nicht intellektuell. Die Auffassung von Philosophen wie etwa Plato oder Malebranche, es seien uns intellektuelle Dinge „gegeben", die wir mit der Anschauung des Verstandes zu vernehmen hätten, wird Kant als „mystisch" bezeichnen. Damit hängt auch zusammen, daß wir keine eingeborenen Begriffe haben, sondern, wie es in dieser Schrift noch heißt, höchstens eingeborene Gesetze, nach denen wir auch unsere apriorischen Begriffe bilden. Formen der Art und Weise, „wie" uns Dinge gegeben werden, sind Raum und Zeit. Sie sind „singulär": jeder Zeit- bzw. Raumabschnitt ist als Teil ein- und derselben Zeit bzw. ein- und desselben Raumes aufzufassen. Sie sind quanta Continus und daher „reine Anschauung" (intuitus purus). Beiden eignet „Idealität", insofern sie subjektive Formen der Anordnung von Erscheinungen sind. Im Sinne der späteren transzendentalen Dialektik versucht Kant im Anschluß an die Unterscheidung der beiden Erkenntnisarten eine Erklärung der Täuschungsvorgänge zu geben, die sich im metaphysischen Bewußtsein ereignet haben. Dehne man z. B. das Denken sinnlicher Gegenstände ohne weiteres auf dasjenige absoluter Einheit einer Welt überhaupt aus, dann begehe man den Fehler einer Subreption: man habe sinnliche und intellektuelle Erkenntnis vermischt und sinnliche Bilder für intellektuelle Erkenntnis ausgegeben. Es ist „von falschen, erschlichenen Axiomen" die Rede, die von Metaphysikern mit Anmaßung vorgetragen worden seien. Hier bedürfe es einer Kunst der Prüfung, um Echtes vom Unechten zu unterscheiden. Die

Das Problem der Methode

103

Devise müsse lauten, daß ein Satz, der unter der Voraussetzung der Raum-Zeit-Perspektive ausgesprochen wurde, nicht objektiv verstanden werden darf, wenn er auf einen intellektuellen Gegenstand angewandt wird. Wird diese Devise verfehlt, dann entstehen naive Behauptungen, deren Anerkennung Sache reiner Gefälligkeit wäre 140 . Es ist von „Interessen" der Vernunft die Rede, welche das metaphysische Denken zu ungerechtfertigten Überschreitungen von Grenzen verleiten: Ökonomie, Einheit und Konstanz der Gegenstände sind Themen des Vernunftinteresses. Die allein berechtigte Funktion der von dem Interesse der Vernunft intendierten Einheitsvorstellungen ist nicht diejenige objektiver Aussage; sie können nur als Regulative gelten. So verhält es sich z. B. mit dem Satze, daß man die Prinzipien nicht ohne die äußerste Not vervielfältigen dürfe. Dabei handle es sich um eine subjektive Devise, aber keinen objektiven Satz, in dem sich Einsicht in das Wesen der Natur ausdrücken würde. Kant wird im weiteren Verlauf seines Denkens den Graben, den die Abhandlung von 1770 durch das Territorium der Vernunft hindurchgezogen hat, überbrücken müssen, damit Einheit der Vernunft über die Grenze zwischen cognitio sensitiva und cognitio intellectualis hergestellt werden kann. Es wird darauf ankommen, Bewegungen und Handlungen der reinen Vernunft zu erkennen, welche die Erfahrung fundieren, zugleich aber auch kritisch gesicherte Ubergänge zum metaphysischen Denken zu leisten vermögen. In dem Brief vom 21. Februar 1772 an M. Hertz 141 bemerkt Kant, daß den Gedankengängen seiner bisherigen Veröffentlichungen, auch der Dissertation, noch etwas Wesent111

Vgl. De mundi sensibilis Sectio V, § 25 (II, S. 412 f.). X, S. 129 ff.

104

Der Weg zur Kritik der reinen Vernunft

liches mangele, welches er bei seinen „langen metaphysischen Untersuchungen" außer acht gelassen habe 142 . Den Schlüssel zum ganzen Geheimnis der bis dahin „sich selbst noch verborgenen Metaphysik" sehe er in der Beantwortung der Frage, auf welchem Grunde die Beziehung der „Vorstellung in uns" auf den Gegenstand beruhe. Zwei einander gegenüberstehende Antworten gebe die Tradition auf diese Frage her: die eine Antwort ist empiristisch, während die andere mit eingeborenen Ideen oder intellektueller Anschauung operiert (z.B. Plato). Keine dieser beiden Antworten aber werde der wahren Erkenntnissituation gerecht. Gegen den Empiristen müsse man einwenden, daß der Gegenstand nicht die Ursache der „Verstandesvorstellungen", höchstens der in uns hervorgebrachten sinnlichen Bilder sein könne 143 . Verstandesvorstellungen müssen aus dem Schöße des Verstandes selbst entspringen und können nicht „von den Empfindungen der Sinne abstrahirt" sein. Gegen die theorationalistische Auskunft sagt er, daß der „Deus ex machina" in der „Bestimmung des Ursprungs und der Gültigkeit unsrer Erkenntnisse" das Ungereimteste sei, was man nur wählen könne. Außer einem bezüglichen Zirkel sei ihr vorzuwerfen, daß sie „jeder Grille oder andächtigem oder grüblerischem Hirngespinst Vorschub giebt". Die Bilanz, die er in diesem Briefe zieht, mündet in eine Aufgabenstellung ein: es geht um die Antwort auf die Frage, wie mein Verstand „gänzlich a priori sich selbst Begriffe von Dingen bilden" kann, wie sich also apriorische Vorstellungen auf Sachen beziehen können. Diese Problematik weist auf die Kritik der reinen Vernunft hin. Es dauert bis zum l . M a i 1781, bis Kant an Hertz die Mitteix , s . 130. " " X , S. 130 f.

Problematik der Transzendentalphilosophie

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lung machen kann: „Diese Ostermesse wird ein Buch von mir, unter dem Titel: Critik der reinen Vernunft, herauskommen." 144 Das Werk fand zunächst kaum oder sehr schwer Eingang in das Verständnis der Zeitgenossen. Die Auseinandersetzung mit schweren Mißverständnissen brachten Kant dazu, sich im Lauf der nächsten sechs Jahre selbst noch größere Klarheit über sein eigenes Vorhaben zu schaffen, so daß er 1787 eine zweite Auflage 145 erscheinen lassen konnte, in welcher er eine neue Bearbeitung zentraler Stücke des Werkes vorlegte 148 .

II. Begründung der kritischen Transzendentalphilosophie im Bereich der theoretischen und praktischen Vernunft A. Kritik der reinen Vernunft: theoretische Philosophie 1. Die Vorreden der

als Einstieg in die Problematik Transzendentalphilosophie

Die zur Auflage A geschriebene Vorrede wird in der Auflage B durch eine neue ersetzt, in welcher Kant seine Position eingehender und von einem reiferen Stande aus darstellt. Beide Vorreden haben das Gemeinsame, daß Kant den Stand der Metaphysik scharf bezeichnet. Er beschreibt im Sinne dessen, was er in einem späteren Abschnitt des Werkes „Geschichte der Vernunft" nennen wird, die ErX , S. 266,- Kritik der reinen Vernunft (1. Aull.) 1781, i n : I V , S. 1—252. "» Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl.) 1787, i n : III, S. 1—252. 119 Es hat sich in der Literatur eingebürgert, die beiden Auflagen durch die Buchstaben A (1. Aufl.) und B (2. Aufl.) auseinanderzuhalten und demgemäß nach den Seitenzahlen dieser Auflagen zu zitieren. Im folgenden wird zusätzlidi auf die entsprechenden Seitenzahlen der Akademieausgabe verwiesen.

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Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

fahrungen, die das metaphysische Denken bisher gemacht hat, seine eigene Stellungnahme ihnen gegenüber sowie die Konsequenzen, die er daraus zu ziehen gedenkt. So kommt es zu einer Kennzeichnung der Situation der wissenschaftlichen Vernunft überhaupt, die er vorfindet. Er stellt fest, daß es verschiedene Erkenntnisbereiche, wie z. B. Mathematik, Physik, Logik, im Verlaufe ihrer Geschichte zum Stande der Wissenschaftlichkeit gebracht haben, daß aber Metaphysik noch nicht so weit gekommen sei. Kant sieht es als Symptom der Wissenschaftlichkeit einer Wissenschaft an, daß die in ihrem Bereich arbeitenden Forscher („Mitarbeiter") so zusammenzuarbeiten vermögen, daß sie erstens aus dem Zustande des Streites in denjenigen der Übereinstimmung zu gelangen vermögen. Zweitens muß dadurch eine Kontinuität in der geschichtlichen Entfaltung eines Wissensgebietes zustande kommen, so daß die Nachfolgenden auf der Grundlage weiterzuarbeiten vermögen, welche die Vorhergehenden geschaffen haben 147 . Kant gebraucht in beiden Vorreden ein politisches Bild: in der Wissenschaft müsse es, soll sie diesen Namen verdienen, so zugehen, wie bei der planmäßigen Ausbreitung eines Staates, bei der neue Gebiete in kontinuierlich geschichtlicher Arbeit zum alten Kernland hinzugewonnen werden. So sei auch der Gang der Dinge in Mathematik und Physik:

Wenn er die kontinuierlidie Ausdehnung z. B. der naturwissenschaftlichen Theorie als Symptom für deren Wissenschaftlidikeit ansieht und diese vom Zeitpunkt einer Revolution der Denkart an datiert, dann ist zu sagen, daß die Geschichte der Wissenschaft auch weiterhin einen wesentlichen revolutionären Charakter zeigt, insofern immer wieder Krisen auftreten, in denen das wissenschaftliche Denken von einer Perspektive zu einer anderen, einer Theoriestruktur zu einer anderen sprungweise übergeht. In meinem Buch: Philosophie der Beschreibung, Köln—Graz 1968, vertrete ich die These, daß die Geschichte der Wissenschaft durch die Dialektik zwischen dem substantiellen Wesensdenken und dem strukturellen Gesetzesdenken immer wieder in revolutionäre Situationen gebracht wird (vgl. auch Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1967).

Problematik der Transzendentalphilosophie

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aber die Metaphysik biete — jedenfalls in ihrer bisherigen Geschichte — ein anderes Bild, weshalb sie auch den Namen Wissenschaft noch nicht verdiene. Bisher seien die Metaphysiker nicht wie planende und vorsorgliche Gründer eines Staates aufgetreten, sondern haben sich wie Nomaden benommen, die planlos herumziehen und Nahrung dort suchen, wo sie die Erde ihnen zufällig bietet, statt durch planvolle Bearbeitung des Bodens künftige Ernten in einem gesetzlich geregelten Gemeinwesen zu sichern. Auch das Bild des Zweikampfes begegnet: Metaphysik erweise sich als „Kampfplatz... endloser Streitigkeiten" 148 .In der 2.Auflage (B XV) wird ihr bisheriger Zustand mit dem Fechtkampf verglichen, bei dem man bisher nur seine Kräfte im Spiegelgefechte geübt habe, wobei aber „noch niemals irgend ein Fechter sich auch den kleinsten Platz hat erkämpfen können". Das bisherige Verfahren der Metaphysik sei bloßes „Herumtappen" gewesen, und zwar, was noch das Schlimmste sei, unter bloßen Begriffen. Zum Status einer Wissenschaft fehlt also der Metaphysik bisher die Sicherheit, Planmäßigkeit, Übereinstimmung unter den Mitarbeitern: statt dessen zeigen die Philosophen Eigensinn und befinden sich im Zustand des Streitens. Sie haben sich bisher dem Zufall überlassen und sich noch nicht als fähig für einen dauerhaften Anbau auf einem erfolgreich behaupteten Boden erwiesen. Kant betont, daß diese Situation in der Metaphysik nicht dem Unvermögen oder der Böswilligkeit einzelner in ihrer Geschichte hervorgetretener Denker zugeschrieben werden müsse, sondern daß diese Lage in der „Natur der Vernunft" selbst angelegt sei. Der erste Satz der Vorrede A erklärt, die menschliche Vernunft im Bereich des metaphysischen Denkens habe das besondere Schicksal, daß sie „durch "» A VIII; IV, 7.

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Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft" 149 . In diese Verlegenheit gerate sie ohne ihre Schuld. Erst werden ihr durch die Erfahrung gewisse Grundsätze unvermeidlich nahegelegt, die sich in der Erfahrung auch bewähren. Mit dem so gewonnenen begrifflichen Instrumentarium steige sie immer höher zu entfernten und anfänglichen Bedingungen. Dabei kommt sie aber nie zu einem Ende und sieht sich jetzt genötigt, Sätze zu behaupten, die allen möglichen Erfahrungsgebrauch überschreiten, aber gleichwohl den Schein der Wahrheit zeigen. Auf diese Weise stürze sie sich in Dunkelheit und Widersprüche. So zeige sich eine notwendige Konsequenz der Vernunft, wenn in der Geschichte des metaphysischen Denkens erst die „despotische" Herrschaft der Dogmatiker, dann die „anarchische" der Skeptiker folgte. „Jetzt, nachdem alle Wege (wie man sich überredet) vergeblich versucht sind, herrscht Überdruß und gänzlicher Inditieientism, die Mutter des Chaos und der Nacht, . . . aber doch zugleich der Ursprung, wenigstens das Vorspiel einer nahen Umschaffung und Aufklärung..." 1 5 0 . Diese Aufklärung soll Kritik der reinen Vernunft leisten, durch welche Vernunft über sich selbst, ihre Möglichkeiten und Grenzen Klarheit schafft. Der Titel weist darauf hin, daß Vernunft in zwei verschiedenen Rollen auftritt: sie spricht einerseits als kritische Instanz, andererseits macht sie sich zugleich zum Gegenstand dieser Kritik. Sie rechtfertigt sich vor sich selbst. Ein geschichtlicher Gedanke tritt auf: die Zeit sei jetzt ge-

ls

A V I I ; I V 7. ° A X ; I V 8.

Problematik der Transzendentalphilosophie

109

kommen, in der Vernunft als reine Vernunft sich zur prüfenden Instanz macht, um ihre eigenen, geschichtlich bisher ausgebildeten Formen vor ihren Richterstuhl zu zitieren. Sie übt Kritik und prüft, was an ihrem eigenen, bisherigen Vorgehen richtig und was falsch war. Dabei kommt vor allem die Metaphysik in Frage, an der sich die Situation der reinen menschlichen Vernunft repräsentativ spiegelt. Kant weiß, daß er die Lehrmeinungen, welche bisher in der Geschichte der Vernunft aufgetreten sind, voraussetzen muß, um jetzt, in seiner „Zeit", im Auftrage der reinen Vernunft ein Gerichtsverfahren zu eröffnen. So tritt Vernunft einerseits als geschichtlich gewordene Form und andererseits zugleich als prüfende Wahrheitsinstanz auf. „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können." 151 Kant spricht auch von der „gereiften Urtheilskrait" seines Zeitalters, welche sich nicht länger durch Scheinwissen hinhalten lasse und eine Aufforderung an die Vernunft enthalte, das „beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntniß, aufs neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlose Anmaßungen nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen abfertigen könne; und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst" 152 .

151 2

"

A X I I V , 9 (Anm.). A X I f . i IV 9.

110

Begründung der krit. Transzendentalphilosophie 2. Die Kopernikanische

Tat

Kritik der reinen Vernunft setzt voraus, daß sich „die" Vernunft selbst als geschichtlichen Werdegang und zugleich als Inbegriff von Resultaten auffaßt. Sie geht aber über alle bisherigen Resultate hinaus, um einen Standpunkt zu gewinnen, von dem aus sie sich selbst prüft und rechtfertigt. Das große Exempel für diesen Reflexionsschritt des Bewußtseins hat Kopernikus gegeben, indem er den uns irdischen Wesen angemessenen Gesichtskreis und dessen Perspektive überschritt, um einen Standpunkt zu gewinnen, von dem aus er sich selbst gleichsam tief unter sich sah, indem er die Welt nicht von seinem leiblichen Ort, sondern von der Sonne aus beschrieb. Dieser Reflexionsschritt war ein Akt aus Freiheit: Freiheit war zugleich auch der Stand, den das Bewußtsein jetzt einnahm, indem es das sich ihm jetzt bietende, astronomische Bild als Ergebnis seiner eigenen freien Hypothesenbildung auffaßte. Dem entspricht die Stelle in der Vorrede B, an welcher Kant beschreibt, was in der Bewußtseinsgeschichte der neuzeitlichen Naturwissenschaft wirklich geschah: Er selbst vollzieht eine Kopernikanische Wende in der Philosophie, indem er den Stand des neuzeitlichen Bewußtseins, der durch die Kopernikanische Tat gewonnen worden ist, als maßgebend für die künftige Verfassung des wissenschaftlichen Denkens erklärt. Das Bewußtsein ist über seinen ursprünglichen natürlichen Stand hinausgegangen, sieht diesen unter sich und erkennt seine Grenzen und Möglichkeiten: durch diesen Übergang hat es aber zugleich auch die Erfahrung seiner eigenen Freiheit gemacht, den oder jenen Weltpunkt als Bezugszentrum für Weltbeschreibung zu wählen. Kopernikus hat den Ort der Sonne gewählt und die Erfahrung gemacht, daß die nun gewonnene größere Einfachheit der Rechnungen seine Wahl rechtfertigt. Ana-

Die Kopernikanische Tat

111

log nimmt auch der Metaphysiker Kant die Freiheit des Experimentierens für sich in Anspruch, nur macht in diesem Falle die Vernunft Versuche mit sich selbst, indem sie zunächst eine Hypothese erwägt, in der sie ihren eigenen Stand den Gegenständen der Welt gegenüber bestimmt. Zeigt sich, daß durch die Annahme einer Hypothese ein unter bisherigen Voraussetzungen als unumgehbar begegnender Widerstreit der Vernunft mit sich selbst aufgehoben wird: dann hat das Experiment der Vernunft für diese Hypothese entschieden und sie darf als Theorie gelten. Sie ist auf dem Boden der Kopernikanischen Freiheit entstanden und hat zugleich Freiheit zum Inhalt: sie schlägt nämlich vor, man möge von nun an den Verstand als „ruhend", sowie zugleich als Maß für die Weltperspektive, die Gegenstände dagegen als um ihn bewegt annehmen, während es bisher dem Verstände zugemutet worden war, sich um das feststehende „Wesen" des Gegenstandes zu bemühen. Die spätere Auflösung der von den bisherigen Voraussetzungen aus unvermeidlichen Paralogismen und Antinomien der reinen Vernunft wird den positiven Ausgang des Experimentes erweisen 153 . Es wird sich zeigen, daß die Kantische These und die in ihr vollzogene Kopernikanische Wendung der wahren Stellung des Subjekts den Gegenständen gegenüber Ausdruck gibt und als Voraussetzung dafür gelten muß, daß sich Vernunft von nun an richtig versteht und ihre eigenen Ideen nicht mißdeutet, sondern mit ihnen das Richtige anzufangen weiß. Er spricht auch, noch immer im Blick auf astronomische Verhältnisse, von der „Revolution der Denkart", die sich bei den Naturforschern durchgesetzt habe und sich nun selbst philosophisch zum Bewußtsein bringen müsse. Das kommt in einem vielzitierten Satz zur Sprache, in welchem 153

Siehe unten S. 140 ff., 143 ff.

112

Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

wieder das Gleichnis von der Vernunft als Richterin begegnet: Sehe man insbesondere auf die Geschichte der Naturwissenschaft, sofern sie auf „empirische Principien" gegründet ist, dann zeige sich, daß es vor erst „anderthalb Jahrhunderten" gelungen sei, den „Heeresweg der Wissenschaft" zu treffen 154 . Die Geburtsstunde der Wissenschaftlichkeit der empirischen Naturwissenschaft war an eine vorgegangene „Revolution der Denkart" geknüpft. Diese geschichtliche Revolution charakterisiert Kant: „Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen oder Torricelli die Luft ein Gewicht, was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wassersäule gleich gedacht hatte, tragen ließ, oder in noch späterer Zeit Stahl Metalle in Kalk und diesen wiederum in Metall verwandelte, indem er ihnen etwas entzog und wiedergab: so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt, daß sie mit Principien ihrer Urtheile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nöthigen müsse auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen m ü s s e ; . . . Die Vernunft muß mit ihren Principien, nach denen allein übereinstimmende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nöthigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt" 155 . Während Naturwissenschaft viele Jahrhunderte lang nur ein bloßes Herumtappen gewesen sei, sei sie durch diesen großen revolu>* B XII r III, 10. 155 B X I I I ; III, 10.

Die Kopernikanische Tat

113

tionären Einfall, daß sie selbst von vornherein den Plan für Fragestellung und Antwort durch die Natur zu entwerfen habe, in den „sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden" 156 . Kritik der reinen Vernunft muß einer Aufrichtung der Metaphysik als Wissenschaft vorhergehen. Sie ist ein „Tractat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft s e l b s t . . . " 1 5 7 . Aber sie bezeichnet doch nicht bloß den Weg, sondern zugleich auch das Gebiet, innerhalb dessen der Weg verläuft: zunächst seinen „ganzen Umriß", dann aber auch die innere Region und die Begrenzung nach außen. Denn reine spekulative Vernunft habe das Eigentümliche an sich, daß sie sich selbst ein Gesetz gibt und den Bereich absteckt, innerhalb dessen sich sachliche Aussagen als möglich zu erweisen vermögen. Sie macht es sich zur Aufgabe, ihr eigenes Vermögen „nach Verschiedenheit der Art, wie sie sich Objecte zum Denken wählt", auszumessen und „auch selbst die mancherlei Arten, sich Aufgaben vorzulegen, vollständig" vorzuzählen, so daß der ganze „Vorriß zu einem System der Metaphysik" verzeichnet werden kann und soll. Zudem ist die Reflexion darüber im Spiel, wie sich das apriorisch erkennende Subjekt zu den Sachen verhält, die es sich als mögliche Gegenstände in dem selbstentworfenen Arbeitsplane vorgesehen hat. So lernt es unterscheiden, inwiefern das, was im Bereich menschlichen Handelns geschieht, dem Bereich des Naturmechanismus angehört und in welcher Hinsicht hier Freiheit maßgebend ist. Wenn Kritik wenigstens diese Unterscheidung leistet und hierdurch das widerspruchsfreie Zusammenbestehen von Freiheit und Naturmechanismus als denkbar erweist, hat sie ein befriedigendes Bild von sich selbst entworfen, weil jetzt der Anspruch der Natur 158

B X I V ; III, 10. B X X I I , III, 15.

Kaulbach, Immanuel Kant

8

114

Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

auf den Menschen nicht in Widerspruch zu Freiheitserfahrungen zu treten braucht. „Diesem Dienste der Kritik den positiven Nutzen abzusprechen, wäre eben so viel als sagen, daß Polizei keinen positiven Nutzen schaffe, weil ihr Hauptgeschäfte doch nur ist, der Gewaltthätigkeit, welche Bürger von Bürgern zu besorgen haben, einen Riegel vorzuschieben, damit ein jeder seine Angelegenheit ruhig und sicher treiben könne." 158 Durch kritische Aufteilung des Betätigungsfeldes reiner Vernunft wird zwischen dem Bereich möglichen „Erkennens" und demjenigen des „Denkens" unterschieden. Mögliche Erkenntnis kann sich nur auf den Bereich der Erscheinungen beziehen: was nicht als sinnliche Anschauung gegeben werden kann, kann nicht theoretisch „erkannt", vielleicht aber wenigstens „gedacht" werden: solches ist bei den metaphysischen Gegenständen, z. B. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, der Fall. Wo es nicht möglich ist, eine Erweiterung der Erkenntnis zu leisten, da gibt es Aussagemöglichkeiten „in praktischer Absicht". „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen. . ,"159. Durch Kritik werde nicht dasjenige skeptisch zersetzt, woran das vernünftige Interesse der Menschen, auch der großen („für uns achtungswürdigsten") Menge hängt, vielmehr leidet durch sie höchstens das Monopol der Schulen einen Prestigeverlust. Die „Schulen" wollen beweisen und widerlegen: sie verfahren „dogmatisch" und sind deshalb nicht zu schelten. Aber in dem Augenblick, in welchem sie sich dem „Dogmatismus" verschreiben, werden sie durch Kritik getroffen. Denn Dogmatismus sei das der Wahrheit unangemessene Verfahren der reinen Vernunft, welches von der Anmaßung 158

B XXV; III, 16. B XXX; III, 19.

Idee der Transzendentalphilosophie

115

getragen wird, ohne vorangehende Kritik der Vernunft auszukommen 160 . 3. Idee der

Transzendentalphilosophie

Es kommt Kant nicht darauf an, auf die metaphysischen Fragen im herkömmlichen Sinne und im gebräuchlichen Denkstil neue Antworten zu geben, vielmehr geht es ihm darum, eine neue kritische Wissenschaft zu entwickeln, in welcher überhaupt erst eine Begründung der Möglichkeit metaphysischen Fragens und Antwortens geschehen soll. „Metaphysischer Behauptungen ist die Welt satt: man will die Möglichkeit dieser Wissenschaft, die Quellen, aus denen Gewißheit in derselben abgeleitet werden könne, und sichere Kriterien, den dialektischen Schein der reinen Vernunft von der Wahrheit zu unterscheiden." 181 Für die neue Wissenschaft, welche Kant in der Kritik der reinen Vernunft entwickelt, wird „isolierte" Vernunfterkenntnis in Anspruch genommen; d.h., es geht in ihr darum, daß Vernunft von sich aus ohne Vermischung mit empirischen Prinzipien und unabhängig von ihnen ihre eigenen Möglichkeiten erkennt. Metaphysik, deren Möglichkeitsbedingungen aufgezeigt werden sollen, ist als Wissenschaft a priori beabsichtigt. Bei diesem Unternehmen ist es wertvoll, auf andere apriorische Wissenschaften hinweisen zu können: z. B. auf Mathematik, Logik und reine Mechanik. Diese Wissenschaften beweisen ihren Aprioritätscharakter dadurch, daß ihre Aussagen allgemeingültig und notwendig sind. Allgemeingültigkeit schließt die Anerkennung von seiten aller vernünftigen Subjekte ein, während sich Notwendigkeit B x x x v

f . : I I I , 21 f .

161 Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), in: IV, S. 253—383; Zitat S. 377.

8'

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Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

der Aussagen einer Wissenschaft darauf gründet, daß ihre Gegenstände unter einem Gesetz stehen, welches jeden Zufall ausschließt. Die Frage der Kritik der reinen Vernunft konzentriert sich am Ende auf das Problem: wie apriorische Erkenntnisse von der Art der mathematischen oder logischen möglich sind. Zuletzt geht es aber vor allem darum, die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft zu begründen. Dabei geht es nicht an, sich darauf zu berufen, daß metaphysische Theorien in großer Anzahl wirklich aufgetreten sind: denn es geht Kant ja darum, nachzuweisen, daß bisher noch keine in der Wirklichkeit vorgekommene metaphysische Theorie den Stand der Wissenschaft erreicht habe. Jede bisher aufgetretene Metaphysik sei nur eine mehr oder weniger naive und blinde Erfüllung eines metaphysischen Naturbedürfnisses der Vernunft gewesen, statt den Namen Wissenschaft zu verdienen. Der Vernunftkritik ist es nicht um eine weitere Entfaltung der metaphysischen Naturanlage zu tun: vielmehr geht es ihr darum, Metaphysik als Wissenschaft wirklich werden zu lassen. Kritik der reinen Vernunft entwirft den Plan des Ganzen aller möglichen apriorischen Erkenntnisleistungen: sie macht die Bedingungen deutlich, welche Erkenntnis a priori ermöglichen und ist daher der Anfang und die Idee einer „Transscendentalphilosophie". Kant gibt dem in der Tradition geläufigen Terminus Transzendentalphilosophie eine neue Bedeutung. Die "Transscendentalphilosophie der Alten", wie er sie selbst genannt hat, war eine Theorie der allgemeinsten Begriffe, die Gott in der Natur verwirklicht hat. Solche allgemeinen, prinzipiellen Begriffe waren z. B. das Wahre, das Gute, das Eine. Da sie als allgemeiner Rahmen verstanden wurden, innerhalb dessen Einzelnes als Eines, Wahres, Gutes angesprochen werden konnte und möglich wurde,

Idee der Transzendentalphilosophie

117

wurden sie als Transzendentalien bezeichnet; das sind Begriffe, die über das Einzelne hinausgehen und es umgreifen. Kant kann nach seiner Kopernikanischen Wende die theorationalistische Voraussetzung dieser Transzendentalphilosophie nicht mehr gutheißen: er sucht die allgemeinen, ermöglichenden Begriffe und Prinzipien im Subjekt, welches mit ihrer Hilfe den Weg zur objektiven Wissenschaft zu gehen vermag. Transzendentalphilosophie begibt sich auf eine höhere Stufe der Reflexion als bisherige Metaphysik: sie ist insofern Metaphysik der Metaphysik, als sie die Bedingungen der Möglichkeit metaphysischer Erkenntnisse untersucht. Metaphysische Erkenntnis ist ein Spezialfall einer Erkenntnis a priori: Transzendentalphilosophie befaßt sich mit den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit aller apriorischen Erkenntnis. Transzendentale Erkenntnis heißt diejenige, die sich „nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt" 182 . Sie reflektiert also über die Stellung des Subjekts gegenüber solchen Gegenständen, die apriorisch erkannt werden müssen. Sie ist apriorisches Erkennen der apriorischen Erkenntnis. So ist z. B. Mathematik oder auch Metaphysik apriorische Erkenntnis von Gegenständen: Transzendentalphilosophie aber untersucht selbst auf apriorische Weise die Bedingungen der Möglichkeit solcher apriorischen Erkenntnisse. Wenn in dem Titel des Werkes von „Vernunft" die Rede ist, dann darf man unter diesem Wort nicht ein Talent oder auch ein „Vermögen" verstehen, obwohl bei Kant irreführenderweise im Anschluß an die alte Vermögenslehre von „Erkenntnisvermögen" die Rede ist. Vernunft ist vielmehr Inbegriff von Vollzügen, Handlungen und Bewegun1M

B 25; III, 43.

118

Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

gen des Denkens. Dazu gehört der Übergang von der Sphäre privaten, je uns angehörenden Empfindens und Fühlens zur Gemeinsamkeit des Mitteilens und zur Öffentlichkeit. Vernunft wird sich zuletzt als Geschichte eines Dialogs mit sich selbst zeigen, was sdion in der Zweideutigkeit des Titels angedeutet wird: insofern er Vernunft als kritisierende Instanz und zugleich als kritisiertes Denken begreift. Das Adjektiv „rein" in Verbindung mit reiner Vernunft will besagen, daß es dabei um eine noch vor aller Erfahrung (a priori) erkennende Vernunft geht, die sich nur solcher Begriffe bedient, die aus ihrer eigenen Quelle stammen und keine Vermengung oder Vermischung mit Erfahrungsbegriffen eingehen. So hat es Transzendentalphilosophie auch mit der Aufgabe zu tun, die ursprünglichen Quellen spezifisch-subjektiver Erkenntnis aufzudecken und damit eine Theorie der Subjektivität zu leisten. Dabei wird sichtbar, daß das menschliche Subjekt in der Situation ist, in der es sich auf dem Wege sinnlicher Anschauung die zu erkennenden Sachen „geben" lassen muß. Nur durch Bezug auf „Gegebenes" gewinnen unsere Begriffe „Sinn und Bedeutung". Durch die sinnlidie Anschauung werden uns die Dinge „gegeben", durch den Verstand werden sie „gedacht". Unsere subjektive Erkenntnissituation schließt ein, daß nur solche Begriffe nicht leer sind, welche anschaulich darstellbar sind, und daß andererseits nur solche Anschauungen ein wirkliches Hinsehen auf den Gegenstand leisten, die durch begriffliches Denken auf einen „Gegenstand" bezogen werden. Das Hinsehen auf eine dreieckige Figur z. B. ist nur dann Anschauung eines Dreiecks, wenn mit dieser Anschauung das Dreieck zugleich auch „als" solches gedacht wird: ohne dieses Denken wäre die Anschauung „blind". Die kritische Transzendentalphilosophie Kants geht demnach darauf aus, die ursprüngliche Erkenntnissituation des

Die Eigentümlichkeit der Erkenntnissituation

119

menschlichen Subjekts zu charakterisieren, um dann die Wege aufzeigen zu können, die zur objektiven Erkenntnis führen. Diese Wege verfolgt Kant vor allem in den apriorischen Wissenschaften: der Mathematik und der allgemeinen reinen Naturwissenschaft. Er gibt in der Vernunftkritik für diese Wissenschaften eine Art „Erkenntnistheorie", um danach das Fazit für die apriorische Hauptwissenschaft, die Metaphysik, ziehen zu können. Der Neukantianismus hat die erkenntnistheoretischen Vorbereitungen als Hauptzweck der Vernunftkritik mißdeutet. Dadurch wurde nicht verstanden, daß es Kant zuletzt auf die wissenschaftliche Begründung der Metaphysik ankommt und daß er es darauf abgesehen hat, dem bis zu seiner Zeit in den Strudeln der natürlichen Dialektik der Vernunft, der Paralogismen und Antinomien gestrandeten Schiff der Metaphysik einen Kapitän zu geben, der mit einer vollständigen Seekarte versehen nach sicheren Regeln der Steuermannskunst dieses Schiff sicher zu dem gewollten Ziele führen kann 163 . 4. Die Eigentümlichkeit der Erkenntnissituation des menschlichen Subjekts und das synthetische Urteil a priori Der Charakter unserer Erkenntnissituation besteht darin, daß uns die Dinge in einer unserer Subjektivität und deren sinnlichen Anschauungsweise gemäßen Weise gegeben werden müssen, damit wir dieses Gegebene durch die einigende Leistung unseres Verstandes zu erkennen vermögen. Nur dasjenige kommt von vornherein als Gegenstand für uns in Frage, welches uns in der Art und Weise unseres sinnlichen Anschauens begegnet. Das bedeutet: es muß uns in Raum und Zeit gegeben sein. Was den Raum 1,3

IV, 262.

120

Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

anlangt, so hat Kant schon in der Abhandlung von 1768 erwiesen, daß die Sachen, die uns in unserer Welt begegnen, nach räumlichen Richtungen — links und rechts, oben und unten usw. — orientiert sind. Als leibliches, sinnlich-anschauendes Subjekt befinde ich mich im Zentrum eines Weltraums, von dem aus sich mir eine Perspektive auf meinen Weltraum ergibt. Nichts kann Gegenstand „für mich" sein, was nicht in dieser Perspektive begegnet. Ich kann keine Dinge „an sich" erkennen, sondern nur immer Sachen, die „für mich" erkennbar sind. Das „Wie" meines Anschauens bestimmt, daß ich nur Erscheinungen, aber keine Dinge an sich zu erkennen vermag. Ich erkenne die Sachen, „wie" sie mir „erscheinen". Die Zusammenarbeit zwischen dem verbindend-denkenden Verstand und der sinnlichen Anschauung darf nicht nach demjenigen Modell gedacht werden, welches dem empiristischen Denken besonders vertraut ist. Nach Locke und auch modernen Empiristen1114 z. B. sollte erst die Wahrnehmungsbasis gelegt werden, damit „dann" darauf das Denken in Gang kommen könne; wobei dieses als Arbeit des „Verbindens" aufgefaßt worden ist. Audi von Kant her gesehen ist zwar die Arbeit des Verstandes als Verbinden bzw. als Einigen zu charakterisieren. Aber er legt keine Erfahrungsurteile zugrunde, damit das Denken verknüpfend und vergleichend darauf aufbauen könnte, vielmehr fragt er nach den ursprünglichen und alle Erfahrung erst begründenden Funktionen und Maßnahmen des „reinen" Denkens und Anschauens. Als Transzendentalphilosoph beschäftigt er sich nicht in erster Linie mit der „empirischen" Anschauung. Ebensowenig ist es ihm um die Betrachtung der nachträglichen, aposteriorischen Leistungen 1M B 127; III, 105 (Vgl. Locke, An Essay concerning human understanding (1. Aufl. London 1690] 2. Buch, Kap. 1, § 2ff.). Für den gegenwärtigen Empirismus mag Wittgenstein als repräsentativ gelten.

Die Eigentümlichkeit der Erkenntnissituation

121

des Verbindens zu tun, die der Verstand sinnlichen Wahrnehmungen gegenüber leistet. Dem Transzendentalphilosophen geht es vielmehr um die „Verbindung (Synthesis) a priori". Wie kann die apriorische Synthese von a priori „Gegebenem" möglich sein? Um diese Möglichkeit einzusehen, ist ein Blick auf die Mathematik als rein vernünftige Wissenschaft nützlich. Wenn z. B. in der Arithmetik das Urteil 5 + 7 = 12 betrachtet wird, dann wird hier die aktiv einigende Arbeit des Verstandes sichtbar: denn der Begriff der 12 geht als Resultat eines sukzessiven Prozesses der Aneinanderfügung von Einsen hervor: etwa wenn man zu der 5 siebenmal immer wieder eine 1 hinzunimmt. Dieses Urteil erweist sich demnach als ein „synthetisches Urtheil". Es ist Ausdruck für eine Einigungsleistung, durch welche der Verstand viele Einsen zu einer Einheit zusammengefaßt hat. Ein synthetisches Urteil liegt immer dann vor, wenn das Prädikat einen Inhalt ausdrückt, der nicht im Subjekt schon enthalten ist, sondern zu ihm erst hinzugefügt und mit ihm vereint wird (Synthesis). Spricht dagegen das Prädikat einen schon im Subjekt enthaltenen Inhalt aus, dann heißt das Urteil „analytisch". Als Beispiel für ein analytisches Urteil fungiert etwa: die Körper sind ausgedehnt. Denn der Begriff des Körpers wird durch denjenigen der räumlichen Ausdehnung definiert. Es wird deutlich, daß der eigentliche Erkenntnisfortschritt auf der Seite der synthetischen Urteile zu finden ist: denn im analytischen Urteil wird nichts Neues ausgesagt. Die Funktion des analytischen Urteils mag höchstens darin bestehen, daß ein in der Wissenschaft gebräuchlicher Begriff auf seine Bestandteile hin untersucht und auf diese Weise einer Prüfung unterworfen wird. Kant spricht in diesem Falle auch von „Erläuterungsurtheilen", während die synthetischen Urteile als „Erweiterungsurtheile" be-

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Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

zeichnet werden. Alle Tautologien sind analytische Urteile: z. B., daß ein rechtwinkliges Dreieck einen rechten Winkel habe. Aber solch ein geometrisches Urteil wie dasjenige, welches im Pythagoräischen Lehrsatz ausgesprochen wird, oder ein Urteil, daß die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten sei, ist synthetischer Natur. Was den letzteren Fall angeht, so ist im Begriff des Geradeseins derjenige des Minimums an Größe nicht enthalten: vielmehr werden beide Begriffe in diesem Satze zu einer Verbindung gebracht. Ein Erkenntnisgewinn findet durch das synthetische Urteil statt, weil dadurch ein Begriff mit einem anderen verbunden wird, der aus ihm logisch nicht abgeleitet werden kann: so wird ihm ein neuer, ihm bisher niclit angehörender Inhalt hinzugefügt. Im analytischen Urteil dagegen überschreitet der Gedanke nicht den Umkreis des Urteilssubjektes. Hier gibt der logische Verstand auf den Bestand der Aussagen und Begriffe einer Wissenschaft acht. Das Prinzip der analytischen Urteile ist daher der Satz des Widerspruchs bzw. der Identität. Dieses Prinzip genügt nicht im Bereich der synthetischen Urteile, denn hier geht es darum, zwar nicht widerspruchsvolle Begriffe, aber doch solche Begriffe zu verbinden, die rein logisch gesehen nichts miteinander zu tun haben und voneinander nicht ableitbar sind. Da es auch in der Metaphysik auf Erkenntnisfortschritt, d. h. auf die Herstellung synthetischer Urteile ankommt, konzentriert sich das ganze Interesse auf die letzteren. Daher blickte Kant mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Überlegung, die Hume über ein Musterbeispiel eines synthetischen Urteils, das Kausalurteil, angestellt hatte. Was Hume im speziellen Fall des Kausalprinzips in Gang gesetzt hat, will Kant in einen allgemeinen Zusammenhang aufnehmen, um die entscheidende Frage zu gewinnen, deren Antwort Metaphysik als Wissenschaft begründen

Die Eigentümlichkeit der Erkenntnissituation

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sollte. Wählt man etwa das Beispiel des Urteils, daß der Blitz die Ursache des Donners bzw. der Donner die Wirkung des Blitzes sei, dann würde in diesem Falle die Humesche Überlegung folgende Form annehmen: aus dem einen Begriff kann der andere, mit dem er in eine Kausalverbindung gesetzt worden ist, logisch nicht abgeleitet werden: der Begriff des Donners enthält denjenigen des Blitzes nicht und umgekehrt. Also muß das die Verbindung zwischen beiden Begriffen herstellende Kausalurteil von einem anderen „Band" als demjenigen der logischen Identität Gebrauch machen. Hume nimmt hierfür die Leistung der „association" 165 in Anspruch: diese funktioniert als ein seelicher Verknüpfungsmechanismus, der dann in Gang kommt, wenn zwei zeitlich nacheinander erfolgende Ereignisse immer wieder als verbunden zu beobachten sind. Hat sich in der Seele durch eine Art von Gewohnheitsrecht diese Verknüpfung festgesetzt, dann „glaubt" sie daran, daß dieses Band notwendig in der Sache selbst begründet sei; das bloße „post hoc" wird für die an wiederholtes Vorkommen gleicher Ereignisfiguren gewöhnte Seele zum: „propter hoc". Sie täuscht sich darüber, daß die Kausalverbindung nicht zur Sache gehört, sondern psychischen Ursprungs ist. Wenn man im Falle der Humeschen Uberlegung kantisch sprechen darf, dann ist hier der Fall eines synthetischen Urteils a posteriori gegeben. Denn die assoziative Verbindung geschieht, „nachdem" zeitlich aufeinander folgende Ereignisse wahrgenommen worden sind. Kant gibt Hume darin recht, daß das synthetische Kausalurteil nicht durch logische Erläuterung eines Begriffs, etwa desjenigen des Blitzes oder des Donners, zustande kommt. Er begrüßt es, daß Hume eine Art von Kritik an der 1B KrV B 127; III, 105 sowie B 794 f. = 111, 500; Enquiry Sect. III und VII, Teil 2 Concerning human understanding (1. Aufl. London 1748).

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Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

logisdien Vernunft gegeben hat, indem er das Band bloßer Identität und logischer Ableitung als nicht zureichend für das Zustandekommen von Erkenntnis erklärt hat. Aber er ist mit der Humesdien Behandlung des Problems deshalb nicht einverstanden, weil dieser das synthetische Band zwischen Ursache und Wirkung einem seelischen Mechanismus zugeschrieben hat, anstatt es in der Sache zu begründen. Kant kommt es darauf an, daß das synthetische Urteil im Gegensatz zum analytischen eine neue Einsicht in die „Sache", um die es in einer Wissenschaft geht, vermittelt. In der Synthesis geht der Gedanke über die Grenze eines Sachbegriffes hinaus und betritt den Boden eines anderen objektiven Begriffes, wobei beide Begriffe miteinander verbunden werden. Anders gesagt: zu einem schon bestehenden Begriff werden durch das synthetische Urteil neue sachliche Bestimmungen eingeholt und mit ihm verbunden. Synthese ist nicht nur eine beliebige, bloß in der Seele stattfindende Verbindung zwischen Vorstellungsinhalten, sondern Vereinigung von Bestimmungen, die in der Sache begründet ist. Kausalität ist auch in einem solchen Falle wie dem des Donners und des Blitzes eine zur Sache beider Naturerscheinungen sprechende Aussage. Um auf diese Weise über die Humesche Theorie der „Verbindung" hinausgehen zu können, darf die Überlegung nicht bei den synthetischen Urteilen a posteriori, deren Existenz problemlos und selbstverständlich zu sein scheint, stehen bleiben. Der neue W e g , den Kant in der Untersuchung des Wesens der Synthesis einschlägt, führt zum „synthetischen Urtheil a priori". Das synthetische Urteil a priori ist derart, daß es eine Verbindung zwischen Begriffen herstellt, die „vor" jeder Erfahrung geschieht. Beispiele solcher Urteile finden sich etwa in der Mathematik. Daß die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten sei, ist ein synthetisches Urteil: dieses wurde

Die Eigentümlichkeit der Erkenntnissituation

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nicht dadurch gewonnen, daß man viele wirklich hergestellte Geraden zwischen zwei Punkten in der Natur immer wieder nachgemessen und empirisch ihre Eigenschaft „kürzer als andere Verbindungen zwischen diesen Punkten" festgestellt hätte: dieses Urteil spricht nicht von physischen Geraden und ihren Eigenschaften, sondern von „der" idealen Geraden und ihren idealen geometrischen Eigenschaften überhaupt. Es gibt auch eine reine und allgemeine apriorische Naturwissenschaft: Kant entwickelt selbst deren Grundsätze in der Kritik der reinen Vernunft. In dieser Naturwissenschaft kommen nur synthetische Urteile a priori vor: in ihr werden nicht Aussagen über einzelne erfahrene Naturgegenstände gemacht, sondern über diejenigen allgemeinen und grundlegenden Charaktere, die ein Gegenstand aufweisen muß, um überhaupt möglicher Gegenstand der Erfahrung zu sein. Dazu gehört nach Kantischer Theorie auch die Kausalität: damit solch eine Erscheinung wie etwa der Donner oder der Blitz als Gegenstand der Naturwissenschaft überhaupt in Frage kommen kann, muß er, auf welche Art auch immer, durch Kausalverknüpfungen bestimmbar sein. Die Bedingung, die er erfüllen muß, um Sache überhaupt zu werden, schließt auch den kausalen Charakter überhaupt ein. Kausalität in dieser Auffassung ist Sache eines synthetischen „Grundurteils" a priori. Es geht Kant darum, die Bedingungen der Möglichkeit solcher synthetischen Urteile a priori deutlich zu machen: zumal es auch in der Metaphysik als einer apriorischen Wissenschaft aus reinen Begriffen auf solche synthetischen Urteile a priori ankommt. Humes Ergebnis hatte, auf die Sprache Kants gebracht, gelautet: Erkenntnis beruht auf synthetischen Urteilen a posteriori. Daher gibt es keine metaphysische Erkenntnis, deren Urteile synthetisch und zugleich a priori sein müßten. Das war skeptisch gedacht. Wollte man, so sah Kant ein, Metaphysik retten,

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Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

so mußte man die Frage beantworten: „Wie sind synthtische Urteile a priori möglich?" 168 Man denke an den Fall eines mathematischen Urteils, z. B. des geometrischen Satzes, daß die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten sei. Die in diesem Urteil geleistete Synthesis verbindet den Begriff der Geraden mit dem von ihm logisch verschiedenen Begriff: „kürzeste Strecke". Die Größe einer Strecke existiert als Zusammenfügung von verschiedenen räumlich nebeneinander daliegenden Maßeinheiten. Kürzeste Strecke ist diejenige, welche die wenigste Zahl dieser räumlichen Maßeinheiten enthält. Die in dem vorliegenden Urteil geleistete Synthesis geht als Verbindung zwischen zwei Begriffen hervor, wobei die Vereinigung verschiedener räumlicher Teile zu dem Begriff einer Strecke mit bestimmter Größe eine Rolle spielt. Die Synthesis wird hier in diesem Falle als begrifflich verbindende Operation im Bereich des Raumes herausgefordert und möglich gemacht. Dabei handelt es sich nicht um einen physikalischen, sondern um einen reinen, geometrischen Raum, in welchem keine empfindungsmäßigen Inhalte (z. B. die Farben rot, grün, blau, Härtegrade usw.) vorkommen: er ist kein „materialer", sondern rein „formaler" Raum, insofern hier nur reine Größen, Lagen und Richtungsverhältnisse eine Rolle spielen. Im Falle der Arithmetik ist es nicht der reine, apriorische Raum, sondern die apriorische und zugleich formale Zeit, welche den Verstand dazu herausfordert, verschiedene auseinanderliegende Einheiten begrifflich zu verbinden. Hier dient als berühmtes Beispiel der Satz: 5 + 7 = 12. Das ist darum ein synthetisches Urteil, weil im Begriff der 12 niemals die Addition von 5 und 7 impliziert ist. Die Arbeit des Verbindens, die der Verstand hier leistet, besteht B 19; III, 39.

Raum und Zeit als reine Formen des Anschauens

127

darin, daß er in nacheinander vollzogenen Schritten jeweils eine 1 zur nächsten 1 hillzunimmt, dadurch zunächst die Zahl 5 und ebenso die Zahl 7 gewinnt, aus deren synthetischer Zusammensetzung dann die Zahl 12 wird. Der Verstand leistet hier eine Einigung, deren Resultat die Zahl 12 ist. Diese Handlung des Einigens spricht sich in dem synthetischen Satze, daß 7 + 5 = 12 sei, aus: im Begriff der 12 sind die zeitlich nacheinander erfolgenden Zählschritte in ein einziges Resultat zusammengefaßt. Hier sind synthetische Urteile dadurch möglich, daß der Verstand die als zeitliche Mannigfaltigkeit a priori gegebenen Elemente verbindet. Das Ergebnis ist: synthetische Urteile a priori sind als begrifflich-synthetische Verarbeitungen räumlich und zeitlich a priori gegebener Elemente möglich. In diesem Satze wird auf das Zusammenspiel zweier verschiedener „Erkenntnisquellen" hingedeutet: reiner Raum bzw. reine Zeit entsprechen der „reinen" bzw. apriorischen Anschauung, während die Arbeit des Verbindens dem reinen „Verstände" obliegt. Raum und Zeit kommen hier nur als Ordnungsformen in Betracht. In demjenigen Abschnitt, der als „transscendentale Ästhetik" überschrieben ist, behandelt Kant zunächst die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit. 5. Raum und Zeit als reine Formen des

Anschauens

Das Wort Ästhetik besagt, daß hier die Erkenntnisquelle der Sinnlichkeit behandelt wird. Kant geht hier insofern neue Wege, als er dasjenige, was er als die sinnliche Anschauung bezeichnet, nicht als „niederes" Erkenntnisvermögen bzw. als unvollkommene Vorstufe der höheren Verstandeserkenntnis auffaßt, wie es im Bereich des Theorationalismus geschehen war. Er hat die sinnliche An-

128

Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

schauung von vornherein als positive, mit dem Verstände gleichberechtigte Quelle unseres Erkennens behandelt. Das hing damit zusammen, daß er das menschliche Subjekt als leibliche Existenz in Ansatz gebracht hat, die der Körperwelt ausgesetzt ist, in die es hineingestellt ist. Sinnliche Anschauung ist diejenige Erkenntnisart, in welcher uns die Dinge unmittelbar vor Augen und Ohren sind: sie werden uns durch sinnliche Anschauung gegeben. Daher verhält sie sich auch rezeptiv im Unterschied zum Verstände, der den Charakter der Spontaneität zeigt. Die Anschauung eines konkreten Gegenstandes, die ich hier und jetzt leiste, gehört dem Bereiche an, den man als Erfahrung (Empirie) bezeichnet. Insofern wir dem Einfluß von Seiten der uns umgebenden Körperwelt ausgesetzt sind, werden wir von ihr „afficirt". Die dabei zustandekommende Anschauung ist empirisch. An ihr unterscheidet Kant ein „Material", Empfindung genannt, und eine „Form". Das Material der empirischen Anschauung wird von Empfindungsqualitäten wie Farbe, Härte usw. geliefert, während die Form durch räumlich-zeitliche Verhältnisse dargestellt wird. Werden Raum und Zeit, wie es z. B. in Mathematik und Mechanik der Fall ist, ohne jeden Empfindungsinhalt maßgebend, dann handelt es sich um „reine" Anschauung: sie ist ohne „Material" der Empfindung, also formal. Raum und Zeit als reine Anschauungen repräsentieren „Verhältnisse" z. B. des Neben-, Uber-, Untereinander bzw. des Nacheinander. Aber auch in einem anderen Sinne ist hier noch von „Verhältnis" zu sprechen: insofern nämlich durch räumlich-zeitliche Bestimmungen die Gegenstände in ein „Verhältnis" zu unserem anschauenden Subjekt gesetzt werden. Raum und Zeit sind Formen: sie sind die Art und Weise, wie die Dinge für uns da sind. Bevor wir irgendeinen einzelnen, empirischen Gegenstand in einer dementsprechenden Anschauung anzuschauen vermögen,

Raum und Zeit als reine Formen des Anschauens

129

muß die Möglichkeit für solche empfindungsgeladene Anschauung in der reinen empfindungslosen Form des „Anschauens überhaupt" gegeben sein. So wird ein apriorisches Verhältnis zwischen unserem Subjekt und den Dingen, die als räumlich-zeitliche Gegebenheiten überhaupt möglich sind, als die „Art und Weise" deutlich, „wie" uns Dinge begegnen. Nicht die Dinge an sich, sondern Dinge für uns, „Erscheinungen", werden uns daher erkennbar. Der reine Raum und die reine Zeit sind Formen, in denen uns die Sachen zur Erscheinung kommen. Da in ihnen die apriorischen Bedingungen sinnlichen Anschauens gegeben sind, gehört ihre Untersuchung in den Bereich der transzendentalen Ästhetik. „Eine Wissenschaft von allen Principien der Sinnlichkeit a priori nenne ich die transscendentale Ästhetik"1'7. Räumlich-zeitliche Strukturen sind als Bedingungen der Möglichkeit für „Gebbares überhaupt" den Zeichen einer Schrift vergleichbar, von denen man von vornherein (a priori) weiß, daß alle in dieser Schrift sagbaren Inhalte durch den Bestand ihrer Charaktere mitgeteilt werden können. Wenn ich Raum und Zeit im folgenden gemeinsam erörtere, dann mag vorweg der entscheidende Unterschied beider Anschauungsformen zur Sprache kommen. Der Raum ist die Art und Weise, wie ich mir die Gegenstände „außer mir" befindlich und in einem gegenseitigen Verhältnis der Größe, Gestalt und Lage anschaue. Ihm entspricht der „äußere" Sinn. Die Anschauung in der Form der Zeit dagegen ist auf diejenigen Erscheinungen gerichtet, die sich „in" uns selbst als Wechsel von Gefühlen, Gedanken oder sonstigen Vorstellungen, also auch z. B. von räumlichen Anschauungen, zeigen. Insofern umfaßt die Zeitanschauung auch noch diejenige des Raumes. Da beide, Raum und Zeit, Formen anschauender Tätigkeit sind, ist es nicht möglich, "» B 35; III, 50. Kaulbadi, Immanuel Kant

9

130

Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

sie selbst anzuschauen: man kann sich zwar ein Bild von ihnen machen, so vom Räume das Bild eines großen, vielleicht unendlichen Weltbehälters und von der Zeit das Bild einer nach beiden Seiten endlosen Geraden, von der die eine Seite in die Vergangenheit, die andere in die Zukunft weist. Aber die Form des räumlichen oder zeitlichen Anschauens hält sich jeweils im Rücken objektiv vorgestellter Bilder auf, weil sie diese möglich macht. Es gibt je eine „metaphysische" und eine „transscendentale" Erörterung der Begriffe von Raum und Zeit. In ersterer wird „deutlich" vorgestellt, was die Begriffe von Raum und Zeit a priori enthalten. Da wird erstens einsichtig, daß sie nicht nachträglich von wahrgenommenen Verhältnissen erfahrener Gegenstände abstrahiert worden sind: denn die Vorstellung von Raum und Zeit muß jeweils schon „zum Grunde liegen", wenn einzelne räumlich-zeitliche Gegebenheiten sollen angesprochen werden. Zweitens: Da man sich keine Vorstellung machen kann, daß kein Raum und keine Zeit sei, wohl aber die Gegenstände weggedacht werden könnten, werden Raum und Zeit als apriorische Bedingungen der Möglichkeit von Erscheinungen bzw. als „notwendige Vorstellungen" hervorgehen. Darauf beruht drittens der Notwendigkeitscharakter der Geometrie als apriorischer Wissenschaft. Viertens ergibt die metaphysische Erörterung, daß Raum und Zeit reine Anschauungen, also intuitiver Natur sind, im Gegensatz zu den Begriffen des Verstandes, der sich als diskursiv erweist. Das erhellt daraus, daß im Bereich des Raumes und der Zeit nicht das begriffliche Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, sondern dasjenige vom Ganzen und seinen Teilen maßgebend ist. Ein einzelner Raumabschnitt z. B. ist nicht Spezialfall eines allgemeinen Begriffes „Raum überhaupt", sondern Teil des ganzen Raumes, der nur ein einziger ist. Hier geht das Ganze den Teilen voran. Faßt man einen „allgemeinen"

Transzendentale Idealität und empirische Realität

131

Begriff von verschiedenen Einzelräumen (z. B. der europäische, der asiatische Raum) und gewinnt dabei etwa den Begriff des irdischen Gesamtraumes, so ist dieser durch Synthesis der einzelnen Räume entstanden, die „Einschränkungen" des Raum-Ganzen sind. Hieraus wird deutlich, daß der ganze Raum, nicht als Begriff, sondern als Anschauung verstanden, der apriorische Grund für jede derartige Einschränkung ist. Fünftens sind Raum und Zeit in dem Falle, in welchem man sich von ihnen ein Bild macht, als unendliche Größen vorzustellen. Auch daraus geht die intuitive Natur von Raum und Zeit hervor. Im Falle des Raumes insbesondere ist deutlich: Während man jeden Begriff als Vorstellung denken muß, die eine unendliche Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen als ihr gemeinschaftliches Merkmal „unter sich" enthält, kann kein Begriff als solcher gedacht werden, als ob er diese Unendlichkeit „in sich" enthielte. Der Raum ab^r wird als Ganzes so gedacht, da alle seine unendlich vielen Teile „zugleich" nebeneinander liegen und nicht nacheinander in begrifflicher Diskursivität vorkommen. In der transzendentalen Erörterung werden Raum und Zeit als apriorische Bedingungen der Möglichkeit unserer Erkenntnis, also als Erkenntnisquellen des ganzen Bereiches möglicher Erfahrung, betrachtet. Im Falle des Raumes allein kommt die Wissenschaft der Geometrie in Frage, während „unser Zeitbegriff" die Möglichkeit „so vieler synthetischer Erkenntniß a priori, als die allgemeine Bewegungslehre darlegt" 198 , enthält. 6. Transzendentale

Idealität

und empirische

Realität

Wie ist ein objektives Wissen möglich, welches vor aller Erfahrung der Sachen zustandekommt? Wie können Urteile 168

B 49; III, S. 59. 9'

132

Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

über Sachen, die vor deren Erfahrung zustande kommen, sachliche Gültigkeit beanspruchen? Wie ist es weiterhin möglich, daß apriorische Raumanschauungen im Bereich empirischer Raumerfahrungen bestätigt werden? Weil Raum und Zeit „reine" subjektive Formen sind, unter denen uns Erscheinungen gegeben werden können, aus denen Sätze von objektiv-realer Gültigkeit hergestellt werden können. Beide Formen des Anschauens werden vom Subjekt geliefert: so können wir nur „aus dem Standpunkte eines Menschen vom Raum, von ausgedehnten Wesen etc. reden" 169 . Auch die Zeit ist formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt. Raum und Zeit sind Formen, die auf der Seite der Subjektivität als Art und Weise des Anschauens der Dinge ins Spiel kommen, aber zugleich apriorische Bedingungen für Gegenständlichkeit (Objektivität) für uns sind: sie sind, wie Kant sagt, transzendental gesehen ideale, d. h. nur dem Subjekt angehörende Weisen des Vorstellens. Gerade deshalb aber kommt ihnen objektive Gültigkeit für die Gegenstände unserer Erfahrung zu. Als empirische Bestimmungen genommen gehören sie zur erfahrenen Sache, sie sind empirisch real. Dem Kantischen Ansatz gemäß sind Empfindungsinhalte wie Geschmack, Töne, Farben empirisch zufällige Zustandsbestimmungen unserer Subjektivität. Die Formen des Anschauens Raum und Zeit dagegen gelten als subjektive Weisen, nach denen uns „unsere" Gegenstände gegeben sind. Die Sache an sich wäre nicht Sache „für uns": sie wäre unserer Erkenntnisperspektive nicht gemäß. Raum und Zeit sind von objektiver Gültigkeit im Hinblick auf die Erscheinungen, weil diese schon immer Sachen „für uns" sind, d. h. von vornherein als Gegenstände unserer Sinne fungieren. 101

B 421 III, S. 55.

Idee der transzendentalen Logik

133

Das Ergebnis der transzendentalen Ästhetik besteht darin, daß durch sie ein Schritt in der Beantwortung der Frage getan worden ist, wie die Erkenntnis der Sache erweiternde, d. i. synthetische Urteile a priori, möglich seien. Die erste Etappe in der Beantwortung dieser Frage hat ergeben, daß diese Möglichkeit deshalb besteht, weil es apriorische Formen des Anschauens gibt, durch welche uns als menschlichen Subjekten sachliche Bestimmungen „für uns", d. i. Erscheinungen, gegeben werden. Anschauen in der Weise von Raum und Zeit fordert unser Denken dazu heraus, im Urteile a priori z. B. einen Teil des Raumes mit dem anderen zu verknüpfen, aus dem Begriff des einen Teiles hinauszugehen, um den Begriff des anderen Teiles mit dem ersten synthetisch zu vereinigen: der Verstand wird z. B. in der Geometrie herausgefordert, von sich aus Verbindungen a priori zu leisten. Damit ist das Stichwort für den zweiten Schritt in der Beantwortung der Frage nach synthetischen Urteilen a priori gefallen: auf das Stichwort „Verbindung" (Synthese) hin tritt der Verstand auf, der die Synthesen zu leisten hat. 7. Idee der transzendentalen

Logik

Werkzeuge des Verstandes sind Begriff und Urteil. Wie im Bereich der Anschauung gilt es auch im Bereich des Verstandes, zwischen empirischen und reinen Vorstellungen zu unterscheiden, denen Empfindung nicht beigemischt ist. Die ersteren setzen die wirkliche Gegenwart der erscheinenden Sache voraus. Im Gegensatz zur Sinnlichkeit, auch in ihrer Form der reinen und apriorischen Anschauung, erweist sich der Verstand als spontan. Hier kommt es nicht auf die Art und Weise an, wie wir von Gegenständen affiziert werden, sondern es geschehen frei und von der Gegenwart möglicher gegenständlicher Einwirkungen un-

134

Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

abhängige Leistungen. „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind" 170 . Kant kann sich auf eine überlieferte Wissenschaft berufen, welche die Gesetze, Figuren und Verfahrensweisen des Denkens zum Gegenstand hat: es ist die von Aristoteles begründete Logik. Sie steht als Prototyp einer apriorischen Wissenschaft vor Augen und abstrahiert als „allgemeine Logik" von jedem besonderen Inhalt des Denkens: sie betrachtet nur die reinen Formen und Figuren, welche für den Verstandesgebrauch typisch sind. In einer historischen Überlegung 171 erinnert er an die bei Aristoteles sich findende Einteilung der Logik in Analytik und Topik. Diese Einteilung benutzt er selbst zum weiteren Aufbau seiner Vernunftkritik: er wird eine transzendentale Analytik von einer transzendentalen Dialektik unterscheiden. Es kommt ihm dabei auf folgende Überlegung an: wie schon zu Aristotelischen Zeiten am Beispiel der Sophistik und in neuer Zeit am Beispiel der schulphilosophischen Scheinbeweise sichtbar wird, läßt sich das Denken dazu verleiten, solche Aussagen als inhaltliche Erkenntnisse auszugeben, die doch nur durch das blinde Funktionieren des formalen Denkmechanismus gewonnen worden sind. Auf diese Weise geschieht eine Irreführung des Denkens durch sich selbst: es werden bloß inhaltsleere, formale Aussagen für echte Wahrheiten ausgegeben, so daß Blendwerk und „Schein" entstehen. Wohl ist es richtig, daß die allgemeine Logik die condicio sine qua non aller echten Wahrheitsfindung darstellt und angibt: aber der Gebrauch der logischen Formen allein genügt nicht, um inhaltliche Erkenntnisse zu gewinnen. Wird formale Logik trotzdem als WerkB 75; III, S. 75. "> B 86; III, S. 81.

Idee der transzendentalen Logik

135

zeug (Organon) für inhaltliche Einsicht ausgegeben, dann ist den Blendwerken Tür und Tor geöffnet. Philosophie wird dann planmäßige Herstellung des Scheins, sie wird „dialektisch" im Sinne planmäßiger Bildung von Scheinaussagen 172 . Kant erklärt, daß er das Wort Dialektik aber doch nicht in dem Sinne der Theorie einer planmäßigen Herstellung des Scheins gebrauchen wird. Vielmehr will er darunter, wie es „der Würde der Philosophie" gemäßer ist, die „Kritik des dialektischen Scheins der Logik" verstehen. In demjenigen Teil der Vernunftkritik, der als transzendentale Analytik überschrieben wird, will er eine „Logik der Wahrheit" liefern, während es in der transzendentalen Dialektik um die Auflösung des Scheins zu tun ist, der durch die logischen Erschleichungen und Manöver der Irreführung entstanden ist, die Vernunft sich selbst gegenüber zu betreiben geneigt ist. Logik im Sinne der „allgemeinen Logik" bietet nicht das geeignete Instrumentarium, mit dem die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori beantwortet werden kann. Es geht darum, solche apriorischen Prinzipien deutlich werden zu lassen, die für unseren subjektiven, an die sinnliche Anschauung a priori gebundenen Verstand maßgebend sind. Zu diesem Zweck begründet Kant die „transzendentale Logik". Sie unterscheidet sich von der traditionellen Logik dadurch, daß sie nicht wie diese die Formen des Denkens überhaupt ohne Rücksicht darauf betrachtet, ob Dinge an sich oder Dinge für uns (Erscheinungen) als Inhalte in Frage kommen: vielmehr geht es ihr 1,2 Kant nimmt zunächst mehr die aristotelische als die platonische Bedeutung von Dialektik auf. Bekanntlich begründete Plato eine Auffassung oder einen Gebrauch von Dialektik im positiven Sinne. Für ihn ist Dialektik der W e g des Denkens zur philosophischen Wahrheit. Aber indem Kant dann unter Dialektik die „wahre" Theorie vom Schein ver* steht, denkt er über sie zugleich platonisch.

136

Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

darum, die apriorischen Prinzipien unseres subjektiven Verstandesgebrauchs f ü r die Gewinnung objektiver Erkenntnisse a priori sichtbar zu machen. In dieser Logik wird der Begriff der „Form" umgedeutet: sie wird als Physiognomie eines Handelns unseres Verstandes interpretiert. In der transzendentalen Dialektik aber wird eine Auflösung der „metaphysischen Gaukelwerke" und des transzendentalen Scheins geleistet werden, der dadurch entstanden ist, daß sich das reine Denken dazu hat verleiten lassen, über die Grenzen möglicher Erfahrung hinauszugehen („transzendent" zu werden) und Aussagen über Dinge an sich zu erschleichen, die nicht in unserer Erkenntnisperspektive vorkommen. Bei der analytischen Zergliederung unseres reinen „Verstandesvermögens" zielt Kant darauf ab, nach dem Vorbild der „allgemeinen" Logik zuerst eine Lehre von den Begriffen, dann von den Urteilen und schließlich von den Schlüssen zu geben. Er interpretiert das, was unter „Begriff" zu verstehen ist, im Sinne seiner transzendentalen Logik: er beruft sich auf das Prinzip „Funktion". Unter Funktion versteht Kant die „Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen". Es geht hier um eine Logik, in der Denken als ursprüngliches Handeln verstanden wird. Das Denken des Verstandes zeigt verschiedene Arten und Weisen zu „funktionieren", d. i., jeweils in einem einzigen apriorischen Handlungsvollzug gegenständliche Inhalte zu vereinigen. Diese verschiedenen Weisen des Funktionierens begegnen als transzendentale „Grundbegriffe": als Kategorien. 8. Das System der

Kategorien

Kant wirft dem Aristoteles vor, er habe seine Kategorien nur „rhapsodisch" aufgerafft. Es gehe darum, die Grund-

Das System der Kategorien

137

begriffe des reinen Verstandes als ein Ganzes, welches nicht beliebig vermehrt oder vermindert werden kann, zu begreifen und darzustellen. Daher kommt es auf die Methode des Auffindens an. Kant gewinnt einen systematischen Leitfaden der Aufzählung der Kategorien auf die Weise, daß er die überlieferte Urteilslehre der allgemeinen Logik transzendental interpretiert. W e n n z. B. die allgemeine Logik zwischen allgemeinen und besonderen Urteilen unterschieden hat, so überlegt Kant hier vom transzendentalen Gesichtspunkt aus, daß verschiedene Funktionen des Denkens für diesen Unterschied in der Urteilsform verantwortlich sind: im ersteren Falle vereint das Prädikat des Urteils eine Allheit von Individuen, im zweiten Falle nur eine Mehrzahl. Geht man nun von der Voraussetzung aus, daß im Prädikat eines Urteils die einigende Handlung des Denkens zum Ausdruck kommt, dann ist die Folge, daß die verschiedenen Urteilsformen, welche die Logik unterschieden hat, auch verschiedenen Funktionen des Denkens entsprechen: in den prädikativen (kategorialen) Leistungen der Urteilsformen drückt sich demgemäß das System der Grundbegriffe aus: damit ist ein Leitfaden für die Gewinnung der Kategorien gewonnen. Es ergibt sich folgende Zuordnung zwischen Urteilsformen und Kategorien: Logische Taiel der 1. Der Quantität nach Allgemeine Besondere Einzelne 2. Der Qualität nach Bejahende Verneinende Unendliche

Urteile

3. Der Relation nach Kategorische Hypothetische Disjunktive 4. Der Modalität nach Problematische Assertorische Apodiktische

138

Begründung der krit. Transzendentalphilosophie Transzendentale

1. Der Quantität nach Einheit (das Maß) Vielheit (die Größe) Allheit (das Ganze) 2. Der Qualität Realität Negation Einschränkung

Tale! der Verstandesbegrifie (Kategorien) 3. Der Relation Substanz Ursache Gemeinschaft 4. Der Modalität Möglichkeit — Mannigfaltigkeit Dasein — Nichtsein Notwendigkeit — Zufälligkeit

Reine physiologische Tafel allgemeiner der Naturwissenschaft173

Grundsätze

1. Axiome der Anschauung 3. Analogien 2. Antizipationen der Erfahrung der Wahrnehmung 4. Postulate des empirischen Denkens überhaupt Kategorien sind verschiedene ursprüngliche Weisen, Mannigfaltiges, welches in der reinen Anschauung a priori gegeben ist, in einer einigenden Handlung zu verbinden: die „Spontaneität unseres Denkens erfordert es, daß dieses Mannigfaltige zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen und verbunden werde, um daraus eine Erkenntniß zu machen. Diese Handlung nenne ich Synthesis" (B 102)174. Um reine Synthesis bzw. Synthesis a priori handelt es sich, wenn das zu Einigende, Mannigfaltige nicht empirisch, sondern a priori gegeben ist, was z. B. in Geometrie und reiner allgemeiner Naturwissenschaft der Fall ist. Dasjenige, was man als „Erkenntnis" bezeichnet, beruht 173 Diese Tafel der synthetischen Grundsätze ist hier aus einem späteren Zusammenhang (s. S. 150 ff.) vorweggenommen. Vgl. Prolegomena, IV, S. 302 f., § 21. m III, S. 91.

Transzendentale Deduktioji der Kategorien

139

auf dieser Leistung des Einigens. Die Kategorien geben die verschiedenen Arten an, wie Synthesis geschieht. Sie werden auch als „Stammbegriffe des reinen Verstandes" bezeichnet, von denen gewisse Prädikabilien des reinen Verstandes wie z. B. Kraft, Handlung, Leiden, Gegenwart, Widerstand, Entstehen, Vergehen abzuleiten sind. Durch die Kategorien leistet der Verstand die Funktion des Einigens. Sie sind daher „Formen", die das Subjekt denkend aktiviert, indem es als spontanes Vermögen synthetisch verfährt. Nun hatte schon Locke darauf hingewiesen, daß wir zwar im Zustande der Empfindung etwa bei den Farben grün und blau zur Anerkennung des Gesehenen gezwungen sind, aber in dem Falle frei und willkürlich verfahren können, in welchem der Verstand daran geht, Empfindungsinhalte zu verbinden. Dabei muß die Frage nach dem objektiven Richtmaß auftreten, da jetzt der Willkür Tür und Tor geöffnet zu sein scheint. Diese Frage verschärft sich für den Transzendentalphilosophen, wenn er von Synthesen a priori spricht und für den Verstand den Anspruch erhebt, daß seine reinen, apriorischen Verbindungen objektive Gültigkeit haben. Damit ist die Aufgabe gestellt, die Prinzipien apriorischen Verbindens, die Kategorien, als objektiv reale, sachliche Grundbegriffe zu erweisen und ihre objektive Rechtfertigung zu leisten. Kant stellt damit an die Kategorien die berühmte Quid iurisFrage, die er in der „transzendentalen Deduktion der Kategorien" behandelt. 9. Transzendentale

Deduktion

der

Kategorien

Ich folge dem Gedankengang der zweiten Auflage, weil hier das transzendentale Prinzip schärfer und konsequenter verfolgt ist. Gleich die ersten Sätze befassen sich mit dem Prinzip der Synthesis. Diese Passage gehört zu denjenigen

140

Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

Partien der Kritik der reinen Vernunft, die Kant in der zweiten Auflage vollständig umgearbeitet hat. Es wird betont, daß eine etwa schon gegebene Verbindung eines Mannigfaltigen überhaupt durch die Sinne nicht aufgenommen werden könne, und ebensowenig durch reine sinnliche Anschauung hergestellt werde. Zwar ist die Einigung bzw. Einheit subjektive Leistung, aber sie gehört der Spontaneität des Verstandes an. Nun muß bedacht werden, daß das Prinzip „Einheit" in zweifachem Aspekt auftritt. Einerseits ist sie Ergebnis einer synthetischen Handlung: so ist der Begriff „Linie" eine durch Zusammensetzung gewordene Einheit. Andererseits, ursprünglicher gefaßt, ist Einheit Charakter der Bewegung und der einigenden Handlung: ist einiger Vollzug des Synthetisierens (Funktion). Diese Einheit der Bewegung des synthetischen Einigens muß in demjenigen Prinzip gesucht werden, welches „selbst den Grund der Einheit verschiedener Begriffe in Urtheilen, mithin der Möglichkeit des Verstandes sogar in seinem logisdien Gebrauche" darstellt 175 . Dieser tätige und nur als Bewegung faßbare Grund aller besonderen kategorialen Einheit ist das „Ich denke", welches alle meine Vorstellungen muß begleiten können 176 . Insofern ich jede Vorstellung zugleich immer als von mir spontan geeinigt auffasse, gewinne ich eine Art Selbstbewußtsein durch sie: Kant spricht von der reinen („transzendentalen") Apperzeption, die er auch als „ursprüngliche" bezeichnet. Er unterscheidet sie von der empirischen. Reine ursprüngliche Apperzeption ist dasjenige Selbstbewußtsein, was sich durch die objektiven Vorstellungen hindurch vermittelt. Sie versteht sich als funktionale Identität einer Geschichte des Einigens der gegenständlichen Mannigfaltigkei" 5 B 131; III, s. 108. Vgl. mein Buch: Der philosophische Begriff der Bewegung, KölnGraz 1965.

Transzendentale Deduktion der Kategorien

141

ten: transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins. Sie bewirkt, daß ich ein Selbstbewußtsein von der von mir selbst geleisteten Synthesis gewinne, die jeweils eine einzige zusammenhängende Geschichte des Einigens ist. Das Selbstbewußtsein der Identität des in dieser Geschichte des Einigens sich bewegenden Ich bewahrt vor der Gefahr, daß ich ein so „vielfarbiges, verschiedenes Selbst" haben kann, als ich Vorstellungen habe 177 . Es zeigt sich, daß nur derjenige Anschauungsinhalt gegenständliche Bedeutung für die Erkenntnis gewinnen kann, der unter den Bedingungen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption steht. Kant spricht vom „Grundsatz" der synthetischen Einheit der Apperzeption, welcher das oberste Prinzip alles Verstandesgebrauchs sei. Durch die einigende Bewegung des „Ich denke" wird zugleich der apriorische Grund für die Möglichkeit von Objektivität gelegt: denn Objekt bzw. Gegenstand ist dasjenige, in welchem die einigende Tätigkeit des „Ich denke" ihren gegenständlichen und vorstellbaren Niederschlag gefunden hat. Die Vereinigung der Vorstellungen zur Einheit eines objektiven Inhalts erfordert „Einheit des Bewußtseins in der Synthesis", die das Ich denke an diesen Vorstellungen leistet. „Die synthetische Einheit des Bewußtseins ist also eine objective Bedingung aller Erkenntniß, nicht deren ich bloß selbst bedarf, um ein Object zu erkennen, sondern unter der jede Anschauung stehen muß, um iür mich Object zu werden, weil auf andere Art und ohne diese Synthesis das Mannigfaltige sich nicht in einem Bewußtsein vereinigen würde" 178 . Weil ich mich in der ursprünglichen Einheit einer Geschichte der Synthesis als einig und ein und derselbe weiß, wird auch das angeschaute Mannig177 Vgl. mein Budi: Philosophie der Beschreibung, Köln-Graz S. 271 ff. "» B 138! III, S. 112. Kursivierung vom Verf.

1968,

142

Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

faltige, welches idi in dieser Synthesis zur objektiven Einheit verbinde, für mich identischer Gegenstand. Von hier aus definierte Kant das Urteil transzendentalphilosophisch als die Art, gewisse Anschauungen zur objektiven Einheit zu bringen. Selbst wenn es sich um ein Erfahrungsurteil, wie den Satz, daß die Körper schwer seien, handelt, ist diese notwendige Einheit in der Bewegung des selbstbewußten Vereinigens am Werke, so daß Kant in diesem Falle sagen kann: das Urteil gilt nicht wie ein apriorisches notwendig, aber es gilt „vermöge der nothwendigen Einheit der Apperception in der Synthesis der Anschauungen zu einander" 179 . Durch den Bezug empirischer Anschauungen zur transzendentalen Apperzeption gewinnen die ersteren gegenständlichen Charakter. Aus dem Satze: „Ich fühle einen schweren Körper", wird der Satz: „Der Körper ist objektiv gesehen schwer". 10. Die

Einbildungskrait

Das transzendentale Ich ist sich im Vollzuge des Einigens mannigfaltiger Elemente zum objektiven Inhalt seiner eigenen zusammenhängenden „einigen" Bewegung des Verbindens bewußt. Es handelt sich dabei nicht um eine Bewegung, die sich an einem Objekt findet, sondern um eine „Handlung des Subjekts". Diese „transzendentale Bewegung" bedarf einer näheren Betrachtung 180 . Die subjektive Bewegung des Einigens vollzieht sich an anschaulichen Mannigfaltigkeiten: so wird z. B. der Begriff der Linie dadurch hergestellt, daß sie in Gedanken gezogen wird, wobei ein angeschauter Abschnitt zum anderen hinzugefügt wird. Durch diese Bewegungshandlung des Ziehens "» B 142; III, S. 114. I8 ' Vgl. mein Budi: Der philosophische Begriff der Bewegung, KölnGraz 1965, S. 113, 131.

Die Einbildungskraft

143

der Linie kommt zugleich die Zeit ins Spiel, die als Nacheinander der synthetischen Schritte in Erscheinung tritt. So wird deutlich, daß sich das synthetisch verfahrende Denken beim Herstellen z. B. des Begriffs der Linie räumlich-zeitlich auseinanderlegt und zugleich auch zur Einheit des Begreifens eines einzigen Gegenstandes zusammenhält. Die dabei fungierende Solidarität von Denken und Anschauen tritt unter dem Namen „Einbildungskraft" auf. Dieses „Vermögen" ist einerseits anschauungsgeladen, insofern es objektive Bilder hervorbringt, andererseits aber zeigt sich in ihm die reine, spontane Bewegung des Verstandes, insofern er nicht darauf warten muß, von gegenwärtigen Gegenständen affiziert zu werden. Es ist „ursprüngliche" Einbildungskraft: diese erweist sich als produktiv; sie bringt Bilder der Linie und des Kreises hervor, anstatt gesehene Bilder im Gedächtnis zu reproduzieren. Die Realität anschaulicher Gestalten kommt durch eine transzendental beschreibende Bewegung der Einbildungskraft zustande. In diese ist der Verstand zusammen mit der Anschauung eingegangen. Beide Vermögen geben j e das ihrige zum Gesamtwerk der Darstellung der Gestalten dazu. Der Verstand steuert die Regel, die Anschauung die raum-zeitliche Seite hinzu. Beide verwandeln sich in die Einbildungskraft, die von nun an bei der Konstitution möglicher Erfahrung wortführend sein wird. Transzendentale Bewegung ist Geschichte, die sich auf dem Felde der reinen Einbildungskraft vollzieht: sie ist der Ursprung z. B. des Gegenstandes: Linie und zugleich ihres Begriffs 181 . Sofern in der Bewegung der reinen Einbildungskraft die Kategorie und mit ihr das ursprüngliche Selbstbewußtsein am Werke ist, entstehen aus ihr nicht willkürliche Gestal161 Vgl. mein Buch: Philosophie der Beschreibung, Köln-Graz 1968; In dieser Arbeit werden die hier angedeuteten Entwicklungen ausführlich expliziert.

144

Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

ten und Gebilde, sondern objektive, gegenständliche Bilder. Es ist z. B. ein Unterschied, ob ich an das empirische Bild eines gesehenen bestimmten Hauses denke, welches ich etwa im Gedächtnis reproduziere, oder ob ich die Gestalt dieses Hauses als Produkt der transzendentalen, bildhaft entwerfenden Einbildungskraft deute. Im ersteren Falle entsteht ein subjektives und nicht übertragbares Bild, bei dem es noch obendrein willkürlich ist, ob ich seine Beschreibung etwa von oben nach unten oder von unten nach oben geschehen lasse. Kant spricht hier von der „Apprehension", die im Falle der empirischen Anschauung eines Hauses dadurch geschieht, daß das „Mannigfaltige" der Anschauung zur Wahrnehmung gemacht wird. Damit diese empirische Einheit entsteht, muß freilich die notwendige Einheit des Raumes und der äußeren sinnlichen Anschauung überhaupt zugrunde liegen. Im zweiten Falle entsteht ein objektives, nicht willkürlich zusammensetzbares Bild vom Hause, das durch eine bestimmte Regel der Konstruktion produktiv hergestellt wird. Das Fazit dieser transzendentalen Deduktion der Kategorien besteht darin, daß diese als Statthalter des reinen, sich als Bewegung vollziehenden Selbstbewußtseins die Gestalt der produktiven Einbildungskraft annehmen, durch welche räumlich-zeitliche Gegebenheiten zu Gegenständen, und „Erscheinungen" zur „Erfahrung" werden können. Wirkliche Erfahrung geschieht auf Grund „möglicher" Erfahrung. Diese letztere gibt das durch apriorisch-transzendentale Synthesen entworfene strukturelle Grundgefüge her, auf dem sich die wirkliche Erfahrung der empirischen Wissenschaften aufbauen muß. Die Kategorien sind durch die Rolle, die sie im Aufbau gegenständlicher Erkenntnis a priori spielen, gerechtfertigt: sie erweisen sich als „reale" Grundbegriffe. Die Rechtfertigung schließt jedoch zugleich eine Begrenzung ein: sie können nur Geltung im Bereich möglicher Erfahrung bean-

Urteilskraft und Schematismus

145

spruchen. So ist uns keine Erkenntnis a priori möglich, wenn sie sich nicht auf Gegenstände möglicher Erfahrung bezieht. Denn sofern die Kategorie durch ihre Verwandlung in produktive Einbildungskraft räumlich-zeitliche Erscheinungen zu Objekten werden läßt und auf diese Weise „Erscheinungen" in „Erfahrung" überführt, schränkt sie zugleich auch ihren Gültigkeitsbereich auf das Gebiet möglicher Erfahrung ein. Unter dieser Voraussetzung geht der Gedankengang zu den Grund-urteilen bzw. Grund-sätzen über, welche die Verfassung des Bereiches möglicher Erfahrung überhaupt darstellen. Es handelt sich dabei nicht um Urteile, in denen einzelne Naturerkenntnisse zum Ausdruck gebracht werden, sondern um Urteilsformen: um „Urteile überhaupt", unter die ein einzelnes Urteil subsumierbar sein muß, wenn es objektive Realität will beanspruchen können. Daher wird der Abschnitt über die Grundsätze durch eine Erörterung der transzendentalen Urteilskraft eingeleitet: denn diese stellt das Vermögen dar, den Einzelfall richtig unter sein allgemeines Prinzip zu subsumieren. Im Kapitel über den Schematismus der reinen Verstandesbegriffe wird das Problem der Subsumption eines besonderen Gegenstandes „unter einen allgemeinen Begriff" erörtert. Wie ist es z. B. transzendentalphilosophisch zu verstehen, wenn der empirische Begriff eines Tellers unter den allgemeinen, reinen geometrischen Begriff eines Kreises subsumiert wird? 11. Urteilskraft und die transzendentale

Schematismus: Bewegung

Damit ist prinzipiell gesehen die Frage der Möglichkeit der „Anwendung" der Kategorie auf Erscheinung gestellt. Auch diese Frage ist durch das Prinzip der transzendentalen Bewegung zu beantworten. Wenn z. B. der Begriff Kaulbadi, Immanuel Kant

10

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Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

des Kreises dadurch zustande kommt, daß ich diese Figur beschreibe, dann entsteht am Ende ein besonderes Bild für den allgemeinen Begriff182. Zwischen Bild und reinem Begriff befindet sich die Bewegung des Beschreibens bzw. des Konstruierens. Diese Bewegung folgt einer Verfahrensregel: Kant spricht vom transzendentalen Schema. Das Schema ist ein „Verfahren" der Herstellung eines besonderen Bildes nach einer allgemeinen Regel: so ist z. B. der Begriff des Dreiecks so allgemein, daß kein einzelnes Bild eines Dreiecks diesem Begriff angemessen zu sein vermag. Weil aber im Begriff die Bewegungsanweisung zur Beschreibung einzelner Bilder vom Dreieck enthalten ist und er ein „Schema" enthält, welches die Regel abgibt, nach der ein einzelnes Dreieck beschrieben werden kann, kann die so entstehende Figur als Bild eines Dreiecks überhaupt angesprochen werden. Im reinen Verstand entwickelt sich ein „Schematismus". Der Verstand vollzieht nach seiner Verwandlung in Einbildungskraft eine geregelte Bewegung des Beschreibens, welche dem Begriff sein Bild verschafft. Durch das Schema gewinnt auch die Kategorie als Grundbegriff gegenständlichen Sinn: sie wird zugleidi für die Anschauung fruchtbar gemacht. Das Schema ist gleichsam der Charakter der Handschrift des reinen Verstandes bzw. der reinen Einbildungskraft a priori: Kant spricht vom „Monogramm" der produktiven Einbildungskraft. Nun muß zwischen der Kategorie, dem Grund-begriff, und besonderen Begriffen, wie etwa dem „des" Kreises unterschieden werden; das Schema der Kategorie ist allgemeiner als dasjenige z. B. des Begriffs vom Kreise. Das Schema der reinen Kategorie schlägt sich nicht, wie dasjenige eines einzelnen Begriffs, etwa des Kreises, in 182 Vgl. mein Buch „Philosophie der Beschreibung", Köln-Graz 1968, S. 289 ff. Hier wird auch der Begriff des „Charakters" der beschreibenden Bewegung weitergeführt. Dieser Begriff wird fruchtbar weitergebildet bei F. Kambartel, Erfahrung und Struktur, Frankfurt 1968, S. 113ff.

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einem Bilde nieder, sondern gibt der Kategorie Bewegungscharakter, auf Grund'dessen wiederum erst besondere Bildbeschreibungen, wie diejenige des Kreises, des Dreiecks usf., möglich sind. Das reine Schema der Kategorie der Quantität ist „die" Zahl überhaupt. Diese ist die Vorstellung für eine allgemeine Bewegung, durch die im Falle eines besonderen Zahlbegriffes eine sukzessive Addition möglich wird. Aber die Zahl 5 z. B. ist ein besonderer Begriff, dessen Schema z. B. das Bild der fünf Punkte hervorbringt. Die Kategorie Substanz wird, wenn man sie im Zeichen ihres Schemas als zeitliche Bewegungsbestimmung versteht, zur „Beharrlichkeit des Realen in der Z e i t . . . , welches also bleibt, indem alles andre wechselt" 183 . Auf solche Weise schematisieren sich alle Kategorien: d. h., sie wollen als zeitliche Bewegungsbestimmungen gedeutet werden, wobei man bedenken muß, daß auch die Bestimmung der „Beharrung" (Substanz) zeitlicher Natur ist. Kategorien restringieren sich in dieser Weise zugleich auf Gegenstände möglicher Erfahrung. Dabei kommt es zu synthetischen Grundsätzen a priori, deren System dem Bereich möglicher Erfahrung seine allgemeine Verfassung gibt, so daß nichts möglicher Gegenstand unseres Erkennens werden kann, was nicht unter diese allgemeinsten Grundsätze subsumierbar ist. Um zur Herstellung eines synthetischen Urteils über einen gegebenen Begriff hinauszugehen, damit man zu ihm bisher fremde Inhalte hinzufügen kann, sei ein „Drittes" nötig. Kant spricht vom „Medium" aller synthetischen Urteile, das er als inneren Sinn bestimmt. Dessen apriorische Form ist die Zeit. Wenn man Synthesis als Bewegung auffaßt, ist das nicht überraschend: denn als reines Selbstbewußtsein bin ich mir im Falle einer synthetischen Lei"» B 183; III, S. 137. 10'

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stung einer Bewegung des Überganges von einem Begriff zu einem anderen bewußt. Aus synthetischen Bewegungen a priori resultieren ursprünglich transzendentale Grundsätze, die Kant auch als „Urtheile überhaupt" bezeichnet (Prolegomena). Damit ein einzelnes Urteil den Status wirklicher Erfahrung annehmen kann, muß in ihm das System dieser transzendentalen exemplarischen Formen des Urteilens gegenwärtig sein. Aber auch die synthetischen Sätze a priori der Mathematik setzen solche synthetischen Grundsätze voraus. Das denkende Ich entwirft mit Hilfe des Systems dieser Grundsätze denjenigen Bereich, in welchem Erfahrung überhaupt möglich wird: einzelne Erfahrung kann also nicht wirklich werden, wenn sie nicht der durch den reinen Verstand und die reine Einbildungskraft entworfenen Verfassung genügt. Jeder mögliche Gegenstand steht unter den notwendigen Bedingungen der „synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung" 184 . Auf Grund dessen, daß die Kategorie in die „Einbildungskraft" zusammen mit der Anschauung eingeht und die Rolle des schematisch geregelten Herstellens von Figuren des Raumes und der Zeit (Kausalgeschehen) übernimmt, entwickeln sie sich als Bewegung. Dabei müssen zwei Seiten des Bewegungsprinzips beachtet werden. Einerseits ist Bewegung objektiv faßbar und vorstellbar: z. B. als Wachstum der Zahlen, von denen jede, die verschieden von der Eins ist, durch Synthese a priori entsteht indem sie Produkt einer Zusammensetzung von mehreren Einsen ist. So wird an den Zahlen die Bewegung des Aufsteigens in einer Reihe wachsender Größen vorstellbar. Entsprechend ist die Bewegung z. B. des Entstehens der Figur etwa des Kreises objektiv vorzustellen. Kant spricht hier von der „figürlichen Synthesis", durch B 197; III, S. 145.

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weldie in der Vorstellung im Vollzug der Konstruktion die Figur entsteht. Auch das kausale „Hervorgehen" der Wirkung aus der Ursache ist Bewegung. Die andere Seite ist die der subjektiven Bewegung. Sie geschieht als Leistung des apriorischen Einigens (Synthesis) des angeschauten Mannigfaltigen zu objektiven Gebilden. Sie mag als „transzendentale Bewegung" bezeichnet werden 184 '. Es handelt sich um eine Bewegung des „Ich setze meine transzendentale Einbildungskraft in Gang". Durch sie wird auf apriorische Weise die objektive Einheit der Gegenstände synthetisch hergestellt. Es ist von der „transzendentalen Handlung der Einbildungskraft" die Rede, durch welche als durch eine Bewegung des Bewußtseins die zeitlich-räumlichen Anschauungsinhalte den Charakter gegenständlicher Strukturen von der Art der Zahlen, der Figuren des Raumes und des physischen Geschehens gewinnen. Kant spricht die synthetische Bewegung des Bewußtseins als „Beschreiben" des Raumes an und denkt dabei vorzüglich an die beschreibende Konstruktionsleistung in der Geometrie. So ist die Rede von „Bewegung als Handlung des Subjekts", die von der „Bestimmung eines Objekts" zu unterscheiden sei. Die Bewegung aber eines „Objekts im Räume" gehöre nicht in eine reine Wissenschaft, weil nur durch Erfahrung erkannt werden könne, daß etwas beweglich sei. Aber Bewegung als Beschreibung eines Raumes ist ein reiner Aktus der sukzessiven Synthesis des Mannigfaltigen in der äußeren Anschauung überhaupt durch produktive Einbildungskraft und gehört nicht allein zur Geometrie, sondern sogar zur Transzendentalphilosophie. (B 154, Anm.) Das Zusammenspiel zwischen den formalen Bedingungen der Anschauung a priori, der reinen Einbildungskraft mit W4a Vgl. mein Buch: Der philosophische Begriff der Bewegung, KölnGraz 1965, S. 140 ff., 152 ff.

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ihrer synthetischen Bewegung und der obersten einheitsschaffenden transzendentalen Apperzeption ergibt den strukturellen Bereich möglicher Erfahrung. Da kein Gegenstand in Frage kommt, der nicht von vornherein unter den dieses Territorium beherrschenden Gesetzen steht, ist ein oberster Grundsatz aller synthetischen Urteile zu formulieren. Er lautet, daß die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt zugleich die Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sind. Die subjektive Bewegung des Bewußtseins ist zugleich objektives Hervorgehen der Sache. 12. Das System der synthetischen Grundsätze: transzendentaler Nominalismus Entsprechend den Klassen der Kategorien gibt es vier synthetische Grundsätze, deren erste beiden („mathematische") Grundsätze die Prinzipien der Mathematik aussprechen, während die letzteren beiden als „dynamische" die Prinzipien der Naturwissenschaft begründen. Zu den ersteren gehören die „Axiomen der Anschauung" und die „Anticipationen der Wahrnehmung": die zweite Gruppe besteht aus den „Analogien der Erfahrung" und den „Postulaten des empirischen Denkens überhaupt". Der erste Grundsatz hat es mit den extensiven Größen zu tun. Er sagt aus, daß jeder einzelne synthetische Satz über einen Gegenstand, mag er a priori oder a posteriori gelten, dem allgemeinen Gesetz des quantitativen Maßes bzw. der Zahl unterworfen ist. Für die empirischen Naturgegenstände gilt demgemäß nach diesem Prinzip: nichts kann als möglicher Gegenstand überhaupt in Frage kommen, was nicht meßbar ist. Der Grundsatz lautet wörtlich: „Alle Anschauungen sind extensive Größen"185. *ss B 202; III, S. 148.

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Kant gibt für jeden Grunsatz einen „Beweis". Es handelt sich dabei jedesmal um eine transzendentale Rechtfertigung eines Grundsatzes in dem Sinne, daß das im Grundsatz zur Sprache gekommene Prinzip den Gegenstand durch synthetische Bewegung erzeugt. Was den ersten Grundsatz angeht, so wird in seinem „Beweis" darauf hingewiesen, daß die extensive Größe in den Bereich des Prinzips der Zusammensetzung eines Ganzen aus elementaren Stücken gehöre. Ein Einheitselement durch „ursprüngliche" synthetische Bewegung zu anderen Elementen hinzugesetzt, ergibt ein Ganzes. „Ich kann mir keine Linie, so klein sie auch sei, vorstellen, ohne sie in Gedanken zu ziehen, d. i. von einem Punkte alle Theile nach und nach zu erzeugen und dadurch allererst diese Anschauung zu verzeichnen" 188 . Dieser Grundsatz gibt das allgemeine Prinzip an, nach dem auch die Axiome der Geometrie (es handelt sich natürlich um die Euklidische Geometrie) ausgesprochen werden können. Diese Axiome sind synthetische Urteile a priori, in welchen das allgemeine Prinzip von den extensiven Größen strukturbestimmend wirksam ist. Auch arithmetische Sätze von der Art: 5 + 7 = 12 stehen unter diesem Prinzip der extensiven Größen, weil es hierbei auf Zusammensetzung elementarer Einheiten zu komplexeren Zahleinheiten ankommt. Daß die mathematischen Urteile den Charakter apriorischer Synthesen haben, ist in der modernen Philosophie der Mathematik umstritten. Diese Art von Urteilen wird dann fraglich, wenn man, wie in der modernen mathematischen Logik seit Frege, deren Konzeption auch vom logischen Positivismus übernommen wird, der Anschauung keine Stelle mehr gibt. In diesem Fall ist auch ein Wandel in der Auffassung vom Begriff des „Axioms" eingetreten. Stellen nämlich die Axiome '»• B 203; III, S. 149.

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keine Aussagen über anschauliche Verhältnisse dar, dann muß man in ihnen rein logische Setzungen sehen. Allerdings bleibt dann das Kantische Problem weiterhin bestehen und unbeantwortet, wie eine „Anwendung" der Mathematik auf Wirklichkeit möglich ist. Durch die Theorie des Schematismus wird auch diejenige synthetische Handlung, durch welche die Gestalten als Einheiten hergestellt werden, mit der Leistung des Urteilens über diese Gestalten auf einen einzigen Nenner gebracht: Urteilen und Herstellen der Gestalten durch Konstruktion werden als identisch erkennbar. Indem Vernunft Gestalten a priori beschreibt, spricht sie gleichsam in einem Selbstgespräch ihre eigene Bewegung des Beschreibens als solche an, die jeweils vom Ich als beschreibendem Subjekt geleistet wurde. Konstruierende Beschreibung ist immer zugleich als jeweils von mir geleistete angesprochen und beurteilt. Urteil und Konstruktion sind nicht voneinander zu trennen. Letztere ist als „Darstellung" eines Begriffs in der Anschauung aufzufassen. Im zweiten Grundsatz, dem der „Anticipationen der Wahrnehmung", wird das Prinzip formuliert, nach welchem das in der Wahrnehmung Antizipierbare dargestellt wird. Durch dieses Prinzip wird der Grund dafür gelegt, im Hinblick auf jede mögliche Wahrnehmung, möge sie in Wirklichkeit ausfallen wie sie wolle, vorwegnehmend und a priori das Eine auszusagen: sie muß, will sie als Gegenstand möglicher Erfahrung in Frage kommen, als „intensive Größe" begreifbar sein. „In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, intensive Größe, d. i. einen Grad" 187 . Dieser Grundsatz bestimmt den Gegenstand möglicher Erfahrung dahingehend, daß er als Temperatur, Härtegrad, 187

B 207; III, S. 151.

Das System der synthetischen Grundsätze

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Helligkeitsgrad usw. meßbar ist. Auf diese Weise sind Empfindungen objektivierbar. Im „Beweis" wird deutlich, daß intensive Größe nicht durch Zusammensetzung entsteht, sondern eine solche Einheit ist, die der Bewegung des kontinuierlichen Zu- und Abnehmens unterworfen ist. Eine Wärmeempfindung z. B. kann, als Einheit verstanden, nicht so aus Elementen zusammengesetzt werden, wie etwa die Zahl 5 aus 5 Einsen. Sie muß als „Grad" begriffen werden: der Grundsatz bestimmt diese Empfindung dahingehend zum gegenständlichen Inhalt, daß er ihren Grad durch stetiges, kontinuierliches Anwachsen der intensiven Größe von Null ab erzeugt. Damit wird Raum für die Möglichkeit der Ausbildung mathematischer Stetigkeitsvorstellungen geschaffen, auf deren Basis sich wiederum die Differential- und Integralrechnung aufbaut. Intensive Größen könne man auch „ ¡ließende" nennen, weil die Bewegung ihrer Herstellung durch die produktive Einbildungskraft ein „Fortgang in der Zeit ist, deren Continuität man besonders durch den Ausdrude des Fließens (Verfließens) zu bezeichnen pflegt" 188 . Es folgt eine Gruppe von 3 Grundsätzen, die als „Analogien der Erfahrung" bezeichnet werden. Sie entsprechen der Kategorienklasse der „Relation". Daher lautet ihr allgemeines Prinzip: „Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer nothwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich" 189 . Das zeigt sich beim ersten hierher gehörigen Grundsatz, demjenigen der Substanz: wenn man in der Naturwissenschaft eine Aussage etwa über das Verhalten einer Kraft macht, dann wird auf jeden Fall und a priori der allgemeine Grundsatz in Anspruch genommen: daß keine Aussage " 8 B 211 f . ; III, S. 154. » • B 218; III, S. 158.

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überhaupt möglich ist, wenn sie nicht über „etwas" geht. Dieses Etwas kann man Substanz nennen. Jeder mögliche Gegenstand muß auch als Substanz aussagbar sein: aber als erscheinende, raum-zeitliche Substanz. Der Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz lautet: bei allem „Wechsel der Erscheinungen" wird die Substanz und ihr Quantum „in der Natur weder vermehrt noch vermindert" 190 . In diesem Grundsatz wird ein „Verhältnis" zwischen dem substantiellen Etwas und seinen zeitlichen Zuständen angesprochen, deren Wechsel bzw. Aufeinanderfolge nur deshalb festgestellt werden kann, weil sie vom Festpunkt der beharrenden Substanz aus beschrieben werden. Der alte Satz: „Aus nichts wird nichts" folge aus dem Grundsatz dieser substantiellen Beharrlichkeit. Die Zustände der Substanz wurden in der Ontologie mit dem Namen „Akzidenzen" benannt. In diesem Zusammenhang fällt Licht auf den philosophischen Begriff der „Veränderung". Die Substanz z. B. verändert sich, indem ihre Zustände „wechseln". Der amerikanische Präsidentenstuhl „verändert" sich auch deshalb, weil die Präsidenten „wechseln". Die Präsidenten selbst „wechseln", aber „verändern" sich deshalb nicht. In der zweiten Analogie wird der allgemeine synthetische Satz ausgesprochen, daß „alle Veränderungen" nach dem „Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung" 191 geschehen (Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität). In diesem Satz ist ausgesprochen, daß nichts Gegenstand für uns sein kann, dessen Realität nicht entweder als Ursache oder als Wirkung eines anderen begriffen werden kann. Das Ursache-Wirkung-Verhältnis wird im Sinne eines zeitlichen Hervorgehens des Daseins einer Sache B aus dem Dasein einer Sache A verstanden. B 224; III, S. 162. B 232; III, S. 166.

Das System der synthetischen Grundsätze

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Die Gegenständlichkeit eines Gegenstandes wird vom Verstand dadurch hergestellt, daß er diesem Gegenstand die Rolle eines Gliedes der Kausalrelation erteilt. Durch diesen Grundsatz wird verbürgt, daß die Kausalität nicht, wie Hume annahm, ein Resultat bloß subjektiver Assoziation ist, sondern objektives Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung. Dieser allgemeine transzendentale Grundsatz ist mit am Werke, wenn die Gegenständlichkeit des Gegenstandes überhaupt hergestellt wird. Daher ist er vom physikalischen Gesetz der Kausalität zu unterscheiden, welches in verschiedener Weise im Hinblick auf Objekte formulierbar ist, die schon als Gegenstände etabliert sind. Im Hinblick auf spätere Überlegungen ist wichtig, daß Kant den Begriff der Kausalität zum Ausgangspunkt für denjenigen der „Handlung" und der „Kraft" macht192. Durch den synthetischen Grundsatz der Kausalität wird die allgemeine Regel angegeben, nach der sich das Denken vom Dasein einer Sache A zum Dasein der anderen Sache B hinüberbewegt. Damit aber ist nur eine „Seite" an einem Ganzen bezeichnet, dessen andere Seite die Objekte selbst betrifft: der Grundsatz begründet es zugleich auch, daß aus einem Gegenstand A das Sein eines anderen Gegenstandes B kausal hervorgeht. So wird „Erfahrung" zum Unterschied von einem „bloßen Aggregat von Wahrnehmungen" als Zusammenhang begründet, weil ihre Objekte kausal verbunden werden 193 . B 249; III, S. 176. m Prolegomena, § 26; IV, S. 306 f. Die Kausalität in schematisierter Form schließt ein, daß die empirische Wirklichkeit als Beziehungssystem zwischen Raum-Zeitpunkten auffaßbar ist, die exakt festliegen und in beliebiger Genauigkeit angegeben werden k ö n n e n : diese Punkte werden in Kausalrelation gesetzt. W o diese Genauigkeit in der Erscheinung nicht erreichbar ist, wie in der Quantenphysik, ist auch der Grundsatz der Kausalität nicht im uneingeschränkten klassischen Sinn maßgebend. Aber in modifizierter Form gehört sie nach wie vor zur objektiven Verfassung der physikalischen Gegenstände.

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Die dritte Analogie handelt als Grundsatz des „Zugleichseins nach dem Gesetze der Wechselwirkung oder Gemeinschaft" davon, daß alle Substanzen, „so fern sie im Räume als zugleich wahrgenommen werden können", in „durchgängiger Wechselwirkung" sind. Das physikalische Axiom Newtons, demzufolge actio = reactio ist, mag Kant vor Augen gestanden haben. Hier ist es wichtig zu bedenken, daß auch die Gleichzeitigkeit von Dingen eine zeitliche Bestimmung ist. Nun wird in der subjektiven Wahrnehmung meistens das eine Ding nach dem anderen wahrgenommen (Apprehension): so könnte ein subjektiver Schein der Aufeinanderfolge solcher Dinge entstehen, die objektiv gesehen gleichzeitig vorhanden sind. Dem beugt der Grundsatz der Wechselwirkung vor, welcher durch die Bestimmung, daß sich die wahrgenommenen Dinge in gegenseitiger Abhängigkeit und unter gegenseitigem Einfluß befinden, dem Zugleichsein eine objektive Verankerung gibt. Eine Sache, die für sich isoliert wäre und nicht in einem gegenseitigen Verhältnis zu anderen Sachen stehen würde, könnte überhaupt nicht Gegenstand einer möglichen Erfahrung sein, da sie des transzendentalen Grundprinzips des Zusammenhanges und der Einheit ermangeln würde 194 . In den synthetischen Grundsätzen der Substanz, der Kausalität und der Gemeinschaft ist das transzendentale Prinzip des „Verhältnisses" (Relation) bestimmend. Im Hinblick darauf können diese Grundsätze als allgemeine Regeln aufgefaßt werden, nach denen jeweils gemäß einem in ihnen ausgesprochenen transzendentalen Verhältnis im wirklichen Fortgang der Erfahrungswissenschaft empirische 111 Die philosophische Bedeutung der Gleichzeitigkeit wird von der Art und Weise nicht tangiert, wie der Physiker diesem W o r t Bedeutung zu geben sucht, was in der allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins aktuell wird.

Das System der synthetischen Grundsätze

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Verhältnisse aufgesucht werden können. Weil es Substanz überhaupt gibt, deshalb kann z. B. ein Stück Schwefel als substantiell angesprochen und behandelt werden. Weil das transzendentale Verhältnis der Kausalität gegenstandsbegründend ist, deshalb kann z. B. der Blitz als Ursache des Donners angesprochen werden. Die empirischen Verhältnisse werden „analog" den transzendentalen gebildet: Kant spricht daher im Hinblick auf diese Grundsätze von „Analogien der Erfahrung". Zuletzt folgen im Rahmen der synthetischen Grundsätze die Postulate, welche die Vernunft an sich selbst in dem Falle stellt, in welchem sie Erfahrungserkenntnisse gewinnen will. Wie die Kategorien der Modalität, denen sie entsprechen, sagen diese Postulate nichts Inhaltliches über die Objekte möglicher Erfahrung aus, sondern deuten das verschiedene „Verhältnis" an, welches das Subjekt zu seinen Gegenständen haben kann. Dieses „Verhältnis" ist also nicht „objektiv" in dem Sinne einer Relation zwischen Objekten, wie das bei der vorigen Gruppe von Grundsätzen der Fall ist. Wer seine Gegenstände nur der Form nach betrachtet, erkennt nur ihre Möglichkeit, während derjenige, der zugleich die Empfindung ins Spiel bringt, ihre Wirklichkeit auffaßt. Die Postulate lauten daher: „1. Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich. 2. Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich. 3. Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist (existirt) nothwendig"195. Zusammenfassend ist über die synthetischen Grundsätze zu sagen, daß aus ihnen keine Aussagen etwa zu Mathe"» B 265 f.; III, S. 185 f.

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matik, Physik oder empirischer Psychologie abzuleiten sind. Sie bestimmen nur die Grundcharaktere von Gegenständlichkeit überhaupt bzw. möglicher Gegenstände und spielen daher eine „ontologische" Rolle, wobei Ontologie im Sinne der kritischen Transzendentalphilosophie verstanden wird. Sie bestimmen, auf Grund welcher Prinzipien Gegenstände der Wissenschaft überhaupt als „seiend" angesprochen werden können. Diese Seinsbegründung ist in einer apriorischen Bewegung beschlossen, die das Subjekt „seinen" Objekten gegenüber vollzieht. Diese Version des ontologischen Ansatzes ist revolutionär. Auch schon die empiristische Philosophie hatte dem nominalistischen Denken der neuzeitlichen Naturwissenschaft dadurch eine philosophische Formel gegeben, daß es die allgemein-gültigen Erkenntnisbegriffe als Resultat subjektiver Verbindungen erklärt hat. Aber Kants Ansatz ist viel radikaler: er kann als transzendentaler Nominalismus charakterisiert werden, insofern das Subjekt in ihm die Rolle des Gesetz-gebers für die allgemeine Verfassung spielt, die den Gegenständen des theoretischen Erkennens a priori ihren Seinscharakter verleiht. Die Tafel der synthetischen Grundsätze wird als „reine physiologische Tafel" angesprochen. Dabei ist der Begriff der Natur (Physis) in mehrfacher Weise im Spiele. Zunächst handelt es sich um eine „aus der Natur des Verstandes selbst nach kritischer Methode gezogene Tafel der Grundsätze" 196 . Andererseits geht es um die Natur der Objekte bzw. die objektive Natur. Das System dieser Grundsätze stellt eine Verfassung dar (politisch gesprochen: ein Grundgesetz), die der reine Verstand dem Lande, welches Natur heißt, gibt. Dieses Territorium trägt zugleich den Namen: „Bereich möglicher Erfahrung". Jede wirkliche Naturwissen" e Prolegomena, § 26: IV, S. 308 f.

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schaft muß sich als das Feld einzelner Theorien diesem Grundgesetz fügen, wenn sie den Anspruch erfüllen will, Wissenschaft zu sein und über Objekte der Natur Aussagen zu machen. Durch diese Grundsätze hat Kant eine philosophische, „allgemeine" und reine Naturwissenschaft begründet, die den er-möglichenden Rahmen für wirkliche Wissenschaften der Natur gibt. Dabei sind dem obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile zufolge die synthetischen Grundsätze sowohl fundierend für Naturwissenschaft wie auch für ihr Objekt, die Natur überhaupt. „Die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt ist also zugleich das allgemeine Gesetz der Natur, und die Grundsätze der erstem sind selbst die Gesetze der letztern." 197 Wenn es bei Kant heißt, daß der Verstand seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur schöpfe, sondern sie dieser vorschreibe, dann sind nicht die von einer einzelnen Wissenschaft formulierten „besonderen" Gesetze, sondern die „allgemeinen" Gesetze der Natur überhaupt gemeint. Im Anschluß an die Erörterung des Grundsatzes der Wirklichkeit wird in der zweiten Auflage der Vernunftkritik ein wichtiges Lehrstück eingefügt. Es handelt sich vor allem um die Auseinandersetzung mit dem cartesischen Ansatz. Descartes hatte dualistisch das denkende „Ich bin" (res cogitans) gegenüber der Welt der Körper (res extensae) isoliert, so daß er sich damit künstlich in die Situation gebracht hat, die Realität der Welt („Außen-welt"), zu der er nur über die Vorstellungen der res cogitans Zugang annehmen konnte, nachträglich als real beweisen zu müssen. Der Kantische Ansatz ist anders: er versetzt das Subjekt nicht in die Lage einer von der Welt isolierten, denkenden Substanz. Nach seinem Ansatz verwirklicht sich das Ich selbst durch die Vermittlung mit der Welt, d. h. 1,7

Prolegomena, § 36: IV, S. 319.

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durch, diejenige synthetische Bearbeitung der Erscheinungen, aus der sich Erfahrung ergibt. Daher bedarf es nach Kant keiner nachträglichen Wiederherstellung einer zuvor in Zweifel gesetzten Außenwelt, weil nach ihm der Bogen von Ich und Welt niemals unterbrochen worden ist. Das seine Empfindungen bzw. die Erscheinungen buchstabierende und sie als Erfahrung lesende Subjekt versteht seine eigene Situation in der Welt zugleich als unzweifelbares Symptom für die Realität dieser Welt selbst. Ist die gesetzliche Verfassung der allgemeinen Natur festgestellt, dann gibt es auch scharfe Grenzlinien, welche dieses Territorium umgeben. Es ist der Bereich der Phaenomena, der Gegenstände „für uns", die von den Dingen an sich, den Noumena, zu unterscheiden sind 198 . 13. Der Übergang von der phänomenalen zur noumenalen Welt „Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreiset und jeden Theil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt..." 1 9 9 . Mit diesem „Land" ist nicht eigentlich der Verstand selbst gemeint, der kein Bereich, sondern Handlung, Funktion ist: sondern das Territorium, für welches der reine Verstand die Verfassung vorschreibt. Dieses Land sei eine Insel und „durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen". Es sei zugleich das Land der Wahrheit; dieses werde von einem weiten und stürmischen Ozean umgeben, 1M Die alte Ontologie, die von Wesen bzw. .Dingen an sich" gehandelt hat, muß bei Kant einer Seinslehre Platz madien, die sich lediglich auf das gegenständliche Sein von Erscheinungen bezieht. m. . . und der stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doctrin zu geben (z. E. den Grundsatz der Causalität), muß dem bescheidenen einer bloßen Analytik des reinen Verstandes Platz machen" (B 303). ' » B 294; III, S. 202.

Übergang von d. phänomenalen zur noumenalen Welt 161 auf dem sich bisher die Abenteuer der Metaphysik zugetragen haben. Hier ist manches Schiff gescheitert, dessen Führung sich vom trügerischen Schein hat irreführen lassen. Hier geschieht es, daß „manche Nebelbank und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt und, indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann" 200 . Da Kant es aber auf sich genommen hat, das metaphysische Abenteuer der Vernunft mutig zu bestehen, wird es darum gehen müssen, dem Schiff der Metaphysik einen Kapitän zu geben, der es sicher führen kann, wohin es ihn gut dünkt, da er über „sichere Principien der Steuermannskunst" verfügt und mit einer vollständigen Seekarte und einem Kompaß versehen ist201. Die transzendentale Analytik hat gelehrt, daß die Kategorien nur innerhalb des Bereiches möglicher Erfahrung „Sinn und Bedeutung" haben, weil hier sinnliche Anschauung für „Gegebenes" sorgt. So wäre z. B. der Begriff des reinen „Etwas" ganz leer sowie sinnund bedeutungslos, wenn man sich dabei nicht ein in der Zeit Beharrendes und sich in ihr Veränderndes, also eine anschaubare Sache möglicher Erfahrung vorstellen dürfte (Substanz). Kant spricht vom „empirischen Gebrauch" des Verstandes, der allein erlaubt sei. Die Gefahr der Scheinund Trugbildung, der die Metaphysik durchweg erlegen ist, ist dadurch gegeben, daß dem Verstand auch ein „transzendentaler", d. i. ein solcher Gebrauch offensteht, bei dem er ohne Rücksicht auf Anschauung und Erfahrung vorgeht. Er geht auf bloß logische Möglichkeiten des Begriffes aus und glaubt dort, wo sich kein Widerspruch zeigt, eine Erweite!M 201

B 295: III, S. 202. Prolegomena, Hinleitung, IV, S. 262.

Kaulbadi, Immanuel Kant

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rung auch seiner Sach-erkenntnis geleistet zu haben. Dadurch entstehen Blendwerke und Erschleichungen („Subreptionen"). Andererseits aber kann sich philosophisches Denken nicht allein mit der Sorge um Erfahrung begnügen: schon der Begriff Erscheinung verlangt, daß man an „Etwas" denkt, welches erscheint. Dieses Etwas muß ein von der Sinnlichkeit unabhängiger Gegenstand, ein „Objekt überhaupt", bzw. „transzendentales" Objekt sein. Zwar kann ich von diesem Etwas nichts wissen, aber es muß als Ort offener Denkmöglichkeiten angenommen werden. Es handelt sich dabei um ein bloß im Denken „Angenommenes": ein Noumenon. Das Wort zeigt einen Bereich an, der von demjenigen der Phänomene unterschieden ist und der die unerkennbaren Gründe der Phänomene beherbergt. Von den Noumena ist daher immer nur ein negativer Gebrauch zu machen: man kann nur sagen, was sie nicht sind. Es handelt sich dabei um einen bloßen „Grenzbegrifi"202, durch den die Insel möglicher Erfahrung umgrenzt wird. Dieser Begriff des Noumenon ist nicht allein zulässig, sondern sogar auch für die Begründung von Erfahrung notwendig, wie das Beispiel des Erscheinungsbegriffes gezeigt hat. 14. Amphibolie der Reilexionsbegiitie und transzendentale Topik Von hier aus ergeben sich zwei verschiedene Standpunkte: der phänomenale und der noumenale. Von jedem aus zeigt sich eine ihm eigentümliche Perspektive. Das wird z. B. in dem Abschnitt über die „Amphibolie der Reflexionsbegriffe" deutlich. Es handelt sich hier um die Theorie der Zweiseitigkeit von Begriffen, die dadurch zustande kommt, B 311; III, S. 211.

Amphibolie der Reflexionsbegriffe

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daß sie einmal als Erscheinungsbegriffe, das andere Mal als noumenale Begriffe verstanden werden. Solche Reflexionsbegriffe sind: 1. Einerleiheit und Verschiedenheit, 2. Einstimmung und Widerstreit, 3. das Innere und Äußere und 4. Materie und Form. Der Name verdankt sich dem Umstand, daß durch diese Begriffe eine Reflexion über andere, miteinander verglichene Begriffe geschieht. Kant setzt sich hier mit Leibniz auseinander, an dem er den selbst unreflektierten Standpunkt des noumenalen Denkens beobachtet, während er selbst vom Standpunkt der Kritik aus spricht, die phänomenales und noumenales Denken zu unterscheiden weiß. So versteht z. B. Leibniz unter dem „Inneren" diejenige Bestimmung des Dinges an sich, die alle Beziehung auf etwas von ihm Verschiedenes ausschließt (Fensterlosigkeit der Monaden) 203 . Vom Standpunkt des phänomenalen Denkens und Redens aus sind jedoch die inneren Bestimmungen einer erscheinenden Substanz Verhältnisse: die Substanz selbst gilt als Inbegriff von Relationen zu anderen Substanzen. Diese Relationen nehmen die Form von Kräftewirkungen an, wie etwa Anziehung oder Zurückstoßung. Im Zeichen von Perspektive und Standpunkt spricht Kant vom Programm einer transzendentalen Topik: d. i. einer Lehre von dem transzendentalen Ort bzw. auch der transzendentale Perspektive, innerhalb deren ein Gegenstand vorkommt 204 . Geht man über den Standpunkt der Erscheinungen zu demjenigen des noumenalen Denkens hinaus, dann ergibt sich eine neue positive Möglichkeit, den bloß gedachten und denkbaren Sachen einen Inhalt zu geben: aber immer unter der Voraussetzung, daß dieser Inhalt nicht mit dem Anspruch der Erkenntnis behauptet und 203 201

Vgl. Leibniz, Monadologie, 7. B 324; III, S. 219. 11-

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dann mißverstanden wird. Was z. B. den Gedanken der höchsten, umfassenden Einheit betrifft, so darf er niemals als erkenntnismäßig erfüllter Begriff (objektive Realität) mißverstanden werden: er kann höchstens als Anweisung für das empirische Denken, als dessen regulatives Prinzip gelten, alle empirische Einzelerkenntnis am Gedanken umfassender Einheit zu orientieren. Diese Orientierung am Ganzen und am Unbedingten (Absoluten) leistet eine Ergänzung dessen, was der Verstand zustande bringt. Für diese Ergänzung ist die „Vernunft" verantwortlich: „Alle unsere Erkenntniß hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstände und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen" 205 . „Ergänzung" hat zugleich auch die Funktion der Kritik, weil sie die Grenze der Möglichkeiten des erkennenden Verstandes sichtbar werden läßt. 15. Die Dialektik der reinen und der transzendentale

Vernunft Schein

Wie Kant die Urteilsformen als verschiedene Arten der durch den „Verstand" vollzogenen Einheitsbildungen gedeutet hat, so bringt er ebenso wie Wolff den Begriff der „Vernunft" mit dem Verfahren des Schließens zusammen. In einem Schlüsse werden verschiedene Urteile und die in sie investierten Einheitsbildungen unter eine höhere Einheit zusammengefaßt206. Vernunft sucht „im Schließen die große Mannigfaltigkeit der Erkenntniß des Verstandes auf die kleinste Zahl der Principien (allgemeiner Bedingungen) »« B 355; III, S. 237. 208 Es ist zu erwähnen, daß Kant seine Unterscheidung zwischen „Verstand" und „Vernunft" terminologisch nidit konsequent durchhält: so kommt z. B. in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten der Name „Verstandeswelt" vor, wo man „Vernunftwelt" erwartet.

Die Dialektik der reinen Vernunft

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zu bringen und dadurch die höchste Einheit derselben zu bewirken" 207 . Wenn z. B. der Physiker auf dem Felde der Verstandeserkenntnis mehrere einzelne Naturgesetze gefunden hat, dann tritt von der Seite der Vernunft her eine Regel auf, die den Verstand dazu anleitet, seine einzelnen Gesetze unter ein umfassendes und allgemeines Einheitsgesetz zu bringen und die vielen besonderen Bedingungen, die jeweils für die einzelnen Gesetze wirksam sind, in eine einzige höchste Bedingung einmünden zu lassen. So können z. B. naturwissenschaftliche Theorien beim Fortschritt der Wissenschaft zu neuen überlegenen Standpunkten als Spezialfälle allgemeinerer Gesetze gedeutet werden, wobei die umfassenden allgemeinen Aspekte auch die Bedingungen für die Gültigkeit der speziellen Theorien sichtbar machen. Während der Verstand nun aufgefordert ist, zu immer höheren Bedingungen fortzugehen, ohne jedoch die letzte absolute Bedingung gewinnen zu können, faßt die Vernunft die „Idee des Unbedingten", unter der sie alle einzelnen endlichen Bedingungen des Verstandes begreift. Unbedingt wäre die höchste und umfassende Welteinheit, wie sie z. B. vom physikalischen Verstand in der „Weltformel " angestrebt wird. Würde man den Satz, daß die Welt eine solche Einheit sei, als dogmatisch-theoretische Aussage gelten lassen, dann würde man sich eines Mißverständnisses der Idee der Welteinheit schuldig machen. Man hätte den in diesem Satz enthaltenen Erkenntnisanspruch „erschlichen". Vernunftbegriffe von der Art der absoluten Einheit bzw. des Ganzen aller Erscheinungen heißen nach Kant „Ideen". Für eine „Idee" wie diejenige des Weltganzen kann kein ihr entsprechender Gegenstand anschaulich aufgewiesen werden. Gleichwohl sind solche Ideen nicht willkürlich erdichtet, sondern „durch die Natur !07

B 361; III, S. 241.

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Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

der Vernunft selbst aufgegeben und beziehen sich daher nothwendiger Weise auf den ganzen Verstandesgebrauch" 208 . Sie haben „nur" regulative Funktion, sprechen Regeln für das Verfahren des Verstandes aus, sich an höchster Einheit zu orientieren: sie dürfen aber nicht als objektive Erkenntnisse mißverstanden werden, da ihnen keine „Sachen" entsprechen: sie sind „nur" gedankliche Bewegungen: „Schemate" („Verfahren"). Alle transzendentalen Ideen lassen sich unter drei Klassen bringen: Dadurch wird die Dreiheit der überlieferten Bereiche der metaphysica specialis transzendental gerechtfertigt. Es handelt sich um: Phychologia rationalis, Cosmologia rationalis und Theologia rationalis. Die Probleme des ersten Gebietes gründen sich auf die Idee der absoluten Einheit des denkenden Subjekts, diejenigen des zweiten auf die Idee der absoluten Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung und die Fragen des dritten betreffen die Idee der absoluten Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt. In diesen Gebieten hat die traditionelle, metaphysische Vernunft in ihrer Geschichte Behauptungen aufgestellt und bewiesen, die sich als Erschleichungen, Illusionen und „Sophistificationen" herausstellen. Von ihnen betont Kant, daß sie nicht dem falschen Denken der Philosophen, sondern der „dialektischen" Natur der Vernunft selbst zur Last zu legen seien. Selbst der weiseste unter allen Menschen könne sich nicht von ihnen losmachen „und vielleicht zwar nach vieler Bemühung den Irrthum verhüten, den Schein aber, der ihn unaufhörlich zwackt und äfft, niemals völlig loswerden" 20 ". Kant behandelt die Dialektik der reinen Vernunft jeweils unter dem Titel dreier Klassen. Er handelt 1. von Paralogismen der reinen Vernunft (Psychologie), !0S

B 384; III, S. 254. * B 397; III, S. 261.

20

Kritik der rationalen Psychologie

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2. von der Antithetik der reinen Vernunft (Kosmologie: Antinomienlehre) und 3. vom Ideal der reinen Vernunft (Theologie). Kant will sich in der transzendentalen Dialektik nicht mit wirklich ausgesprochenen Theoremen auseinandersetzen, sondern den Hang der menschlichen Vernunft zu Illusionsbildung und metaphysischer Scheintheorie durchschauen sowie den Mechanismus entlarven, nach dem die Irreführung des metaphysischen Denkens erfolgt. Er setzt die metaphysische Situation in Analogie mit dem Sehen, das dem optischen Schein unterworfen ist: der Verstand hat die optischen Täuschungen längst entlarvt, aber das Auge wird nach wie vor getäuscht. 16. Kritik der rationalen (Paralogismenlehre)

Psychologie

Von Paralogismus ist in der Logik die Rede, wenn der Vernunftschluß seiner Form nach falsch ist. Es gibt transzendentale Gründe in der Natur der Menschenvernunft, die solche formalen Fehler im Vernunftschließen veranlassen und eine „unvermeidliche, obzwar nicht unauflösliche Illusion bei sich führen" 210 . Hierher gehören die Theoreme der traditionellen Seelenmetaphysik, die Kant am Leitfaden seiner Kategorien in folgende Sätze zusammenfaßt: 1. die Seele ist Substanz, 2. sie ist ihrer Qualität nach einlach, 3. den verschiedenen Zeiten nach, in welchen sie da ist, numerisch identisch, d.i. Einheit (nicht Vielheit), 4. steht sie im Verhältnisse zu möglichen Gegenständen im Räume. Darauf beruhen die Prädikate 1. der Immaterialität, 2. der Inkorruptibilität, 3. der Personalität (1—3 zusammen genommen ergibt die Spiritualität) und 4. des Bezuges zu den Körpern: Seele als Grund des Lebens. Im Mittelpunkt steht B 399: III, S. 262.

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Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

die Kritik an der traditionellen metaphysischen Auslegung des „Ich denke". Metaphysik erhebt den Anspruch, über das „Ich" durch reines, den empirischen Bereich transzendierendes Denken Aussagen machen und z. B. wie Descartes (im Einklang mit der Tradition der Seelentheorie seit Plato) von einer substantia cogitans sprechen zu können. Sie sagt über diese Seelensubstanz aus, daß sie weder entstehe noch vergehe. Kritisch ist zu sagen, daß es nicht angeht, das „Ich denke" mit in eine Linie neben die Sachen zu stellen, die das Ich zu seinen Objekten gemacht hat. Was das denkende Ich ist, welche Eigenschaften es hat usw., ist nicht aussagbar: ich erfahre es nur als Prinzip der Bewegung, welche ich bei der Bestimmung derjenigen Objekte leiste, die ich innerhalb der Erfahrungsgrenzen erkennen kann. Die Kategorie Substanz und Akzidenz, mit der das Denken seine empirischen Gegenstände bestimmt, kann auf es selbst nicht wieder rückwärts angewandt werden. „Ich denke" ist das Thema, über welches die rationale Psychologie ihre Variationen komponiert. Das Wort „Ich" ist „nur" Hinweis auf etwas nicht Objektivierbares, es ist Anzeige für die aller bestimmenden Denkleistung zugrundeliegende Bewegung, die nicht objektivierbar ist und daher unbestimmbarer „Gegenstand" bleibt 211 . Die Gegenstände, die ich erkennend anspreche, spielen die Rolle des „Bestimmten". Rationale Psychologie verfällt der Täuschung, wenn sie glaubt, über die bestimmende Bewegung selbst objektive Aussagen machen und sie in der Weise ansprechen zu können, wie die Ich-Vernunft das bestimmte Objekt anspricht. Die berühmte, die traditionellen Beweise der Unsterblichkeit stützende These von der Einfachheit der Seele (zweiter Paralogismus) erliegt dem 211 Vgl. mein Budir Der philosophische Begriff der Bewegung, KölnGraz 1965.

Kritik der rationalen Psychologie

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Schein, als ob das Wort „Ich" Zeichen für objektive Feststellungen und Erweiterungen unseres Wissens sein könne. Die Aussage, daß ich als tätiges Prinzip einfacher Vollzug bin, ist richtig, darf aber nur als „unmittelbarer Ausdruck" des Selbstwissens, nicht als objektive Erkenntnis gewertet werden. Sie hat die negative Bedeutung, daß „Ich" nicht Erscheinungsding bin. Nur unter diesem kritischen Vorbehalt wird es erlaubt sein, zu sagen: ich als subjektiv Agierender bin einfache Substanz. Ich bin Bewegung („Vehikel"), nicht objektives Ding. Der Satz kann nur von der „Bedingung unserer Erkenntniß", nicht von einem „anzugebenden Gegenstande" gelten 212 . Was den dritten Paralogismus betrifft, der von der Identität der Person handelt, so ergibt sich: diese Identität wird mir bewußt, der ich mein Ich gleichsam als Autobiograph auf Grund der reinen Apperzeption bewußt habe. Es handelt sich um ein nicht-sinnliches Bewußtsein von mir, dem eine Geschichte von Vernunfthandlungen Vollziehenden, der zugleich das Ganze der dabei ablaufenden geschichtlichen Zeit ist. Ich selbst weiß mich unsinnlich als Ganzes dieser Zeit, während mich ein anderer Beobachter außer mir als einzelnen Gegenstand auffaßt, der in dieser Zeit vorkommt. Dann wird er aber nicht auf die objektive Beharrlichkeit meines Ich schließen: denn davon kommt ihm nichts zur Erscheinung, da es für ihn Ding an sich bleibt. Wenn ich mich aber als Identität auf Grund des inneren Selbst-bewußtseins auslege, dann darf diese Aussage keinen objektiven Erkenntnisanspruch machen, da sie nicht vom Ich in der Zeit, sondern vom intelligiblen Ich und seiner mit ihm identischen Geschichte im Ganzen spricht. Identität darf hier nur negativ die Aus-nahme aus dem Bereich zeitlicherscheinender Vergänglichkeit bedeuten. — Im vierten !1!

A 356! IV, S. 224.

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Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

Paralogismus wird deutlich, wie Kant den falschen Cartesisdien Dualismus zwischen dem Ich denke und der Welt der Dinge einer Kritik unterwirft. Es ist ihm um den transzendentalen Bogen zu tun, der sich vom agierenden „Ich denke" kontinuierlich und ununterbrochen hin zu den Dingen der Außenwelt spannt: demzufolge darf die Außenwelt nicht skeptisch-idealistisch als Schein deklassiert werden, wie es bei Descartes geschah. Vielmehr muß das unmittelbare Realitätsbewußtsein der Dinge der „Außenwelt" ebenso ernst genommen werden, wie ich meine eigenen Empfindungen ernst nehme. Im Ganzen ist zum Paralogismusthema zu sagen, daß Kant eine Psychologie, die mit dem Anspruch von Wissenschaft auftritt, nur im Sinne der empirischen Psychologie gelten lassen kann: da ist sie Erfahrungswissenschaft, bei der vor allem der „innere Sinn" und die „innere Erfahrung" ins Spiel kommen. Der Satz: Ich denke ist selbst ein empirischer Satz, obwohl die durch das „Ich" bezeichnete selbstbewußte Aktion der Vernunft nicht empirisch, sondern transzendental ist. Denn ich kann ihn erst aussprechen, wenn sich der Bogen zur empirischen Welt im Verlaufe einer gedanklichen Bearbeitung dieser Welt verwirklicht hat 213 . Der letzte der Paralogismen nimmt gegenüber den anderen eine analoge Sonderstellung ein, wie sie die Kategorie der Modalität im System der Kategorien behauptet. Denn hier handelt es sich ganz allgemein um das große transzendentalphilosophische Thema des Bezuges, den das Subjekt zu den Gegenständen der Welt einnimmt. Der Fehler der rationalen Psychologie in diesem Paralogismus besteht darin, daß !,s „Allein ohne irgend eine empirische Vorstellung, die den Stoff zum Denken abgiebt, würde der Actus: Idi denke, dodi nicht stattfinden, und das Empirisdie ist nur die Bedingung der Anwendung oder des Gebrauchs des reinen intellectuellen Vermögens." (B 423, Anm.)

Dialektik der Vernunft im Bereich der Kosmologie

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sie den Schein erweckt, als könne sie über die isolierte Stellung des Subjekts gegenüber der Welt etwas aussagen. Statt dessen kann auch das reine Selbstbewußtsein nur dann in Gang kommen, wenn sich das reine Ich auf dem Wege des transzendentalen Bogens zur Welt mit den Gegenständen der Erfahrung auseinandergesetzt hat. 17. Dialektik

der Vernunit im Bereich der (Antinomienlehre)

Kosmologie

Kant arbeitet in der transzendentalen Dialektik, in der es um die Auflösung des dialektischen Scheins der metaphysischen Vernunft geht, den traditionellen Bestand der metaphysica specialis auf. Er kommt dabei immer wieder auf geschichtlich wirklich gewordene metaphysische Theorien zu sprechen. Im Prinzip geht es ihm aber darum, die bis auf ihn überkommene Geschichte der Philosophie als systematische Entfaltung der illusionären Möglichkeiten der Vernunft darzustellen. In der Kosmologie ist nicht vom Subjekt, sondern vom Zusammenhang der Erscheinungen und der Totalität der Welt die Rede. Auch hier geht die Vernunft auf absolute Einheit aus und verfällt der Versuchung, diese Einheit, die bloß subjektive Idee ist, gleichsam in objektiver Währung auszuzahlen. Der Name „Welt" bedeutet die Idee der unbedingten Totalität des Ganzen aller Erscheinungen, welches selbst wiederum von Standpunkt möglicher Erfahrung aus als Synthesis der Erscheinungen auszulegen ist. Die Idee der absoluten (unbedingten) Einheit der Welt verzweigt sich nun, wieder am Leitfaden der Kategorien entwickelt, in vier verschiedene Themen, von denen jedes auch seine historische Repräsentation gefunden hat. Es sind die Themen: erstens der Vollständigkeit bzw. des absoluten Ganzen der Welt, zweitens der Teilung eines gegebenen Ganzen, drittens

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Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

der absoluten Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung überhaupt und viertens der absoluten Vollständigkeit der Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen in der Erscheinung 214 . Im Bereich eines jeden dieser Themen gerät metaphysische Vernunft, sofern sie sich dem transzendentalen Schein überläßt, in Antinomien. Das heißt: Es gibt hier eine These und eine Gegenthese, wobei erstere wie letztere korrekt beweisbar ist. Entsprechend den vier genannten Themen der metaphysischen Welttheorie treten vier „Antinomien" auf (a—d). a) Endlichkeit und Unendlichkeit. Dem Thema des „Ganzen aller Erscheinungen" bzw. der absoluten Vollständigkeit in der Zusammensetzung der Welt entspricht folgende Antinomie (Widerstreit): Der Thesis zufolge hat die Welt einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen. Die Antithesis behauptet, daß die Welt keinen Anfang und keine Grenzen im Raum habe, sondern unendlich sowohl in Ansehung der Zeit als auch des Raumes sei. Unterwirft man Thesis wie auch Antithesis und ihre Beweise der transzendentalen Kritik, so stellt sich folgendes heraus: in beiden Fällen wird die Idee der absoluten Totalität (Weltidee) zum Subjekt eines Satzes gemacht, der durch sein Prädikat diese Idee unter Bedingungen empirischen Auffassens stellt. Metaphysische Vernunft verfährt deshalb so, weil sie den Anschein erwecken will, als könne die Weltidee objektiv realisiert werden. Sie bringt auf diese Weise Scheinthesen zustande, deren Scheinhaftigkeit dadurch zutage tritt, daß sie einander widersprechen. Die Kritik deckt auf, daß die Vernunft in diesem Falle sich selbst mißverstanden hat, indem sie z. B. ihre eigene Weltidee, an welcher sich Erfahrung als einem letzten regulativen Prinzip orientieren sollte, auf die B 443; III, S. 287.

Dialektik der Vernunft im Bereidi der Kosmologie

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Sprache dieser Erfahrung selbst gebracht hat. Ein Ganzes, von dem mit berechtigtem objektiven Anspruch die Rede sein kann, müßte bedingt und endlich sein. Es müßte sich im Bereich möglicher Erfahrung vorfinden und aufweisen lassen. Soll es aber absolutes Ganzes sein, dann darf es nicht in der Weise der Erfahrungsgebilde als Ergebnis sukzessiver Synthesis ausgelegt werden, sondern muß letzte Regel für alle derartigen empirischen Synthesen sein. Es ist am Prinzip umfassender und unbedingter Einheit zu orientieren. Diese Regel muß jederzeit Leitfaden der Orientierung bleiben und darf nicht auf der Verlängerung der Linie gesucht werden, auf der sich die empirischen Gegenstände finden. Sonst macht sich der Verstand eines „transzendentalen Gebrauchs" schuldig, indem er zu „transscendenten" Sätzen kommt, welche zwar auf den vom empirischen Denken gezogenen Linien liegen, die er aber über die Grenze möglicher Erfahrung hinaus ins Unbestimmte verlängert hat. Metaphysische Vernunft hat sich in diesem Falle einer falschen Deutung ihrer eigenen Idee schuldig gemacht. b) Teilbarkeit und Unteilbarkeit. Entsprechendes ist zur zweiten Antinomie zu sagen, die in den Bereich des metaphysischen Atomismus führt. Die Thesis lautet, daß eine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt aus einfachen Teilen bestehe und „überall nichts als das Einfache" existiere, bzw. das, was aus diesem zusammengesetzt ist. Nach der Antithese ist kein zusammengesetztes Ding in der Welt Resultat aus einfachen Teilen: es existiert überhaupt nichts Einfaches in der Welt. Vom Standpunkt der Geometrie aus muß im Sinne der Antithese die endlose Teilbarkeit des Raumes behauptet werden, während die metaphysische Veihunft von jeher ihr Interesse am Prinzip des Einfachen im Sinne der Thesis verfolgt hat: Kant spricht von der „transscendentalen Atomistik". Er hat hier

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Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

vor allem die Leibnizsche Monadologie im Auge. Audi in Thesis und Antithesis der zweiten Antinomie werden Aussagen über die Welt selbst im objektiven Sinne versucht: In der Thesis wird so getan, als ob man durch empirische Teilung ein absolut Einfaches gewinnen könne, über das man reale Aussagen machen kann, während in der Antithesis ohne Rücksicht auf Erfahrungsbedingungen die Behauptung einer absoluten, unendlichen Teilbarkeit gemacht wird. Audi hier führt die Vermengung der Sprechweisen zum Schein. Das absolut Einfache kann nicht in der Verlängerung eines empirischen Teilungsprozesses gewonnen werden, sondern muß sich selbst richtig als regulative Idee verstehen. Als Idee hat es in Wahrheit die Bedeutung, den Verstand bei seinen endlos durchzuführenden Teilungen am Gedanken des Einfachen zu orientieren und die Welt z. B. so zu beurteilen, als ob sie nicht zusammengesetzt, sondern einfadi wäre. Diese Idee wird später zu einem Übergang zur Idee des Organismus führen. Was die Idee der unendlichen Teilung angeht: sie enthält eine Regel der Vernunft, „den empirischen Regressus in der Decomposition des Ausgedehnten der Natur dieser Erscheinung gemäß niemals für schlechthin vollendet zu halten" 2 1 5 . c) Freiheit und Naturnotwendigkeit. Während Thesen und Antithesen im Bereich der bisher behandelten beiden „mathematischen" Antinomien als Schein entlarvt wurden, verändert sich die Lage in den anderen beiden Antinomien, die „dynamisch" genannt werden. Zuerst handelt es sich um die Frage der Vereinbarkeit von Freiheit und Naturnotwendigkeit z. B. im Bereich der Existenz des menschlichen Subjekts. Die Thesis lautet, daß die Kausalität nach Naturgesetzen nicht die einzige sei, welche Erscheinungen in der Welt hervorbringe. Es gebe auch noch Kausalität »" B 555; III, S. 360.

Dialektik der Vernunft im Bereich der Kosmologie

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durch Freiheit. Die Antithese dagegen will, daß keine Freiheit sei, sondern alles in der Welt nur nach Gesetzen der Natur hervorgebracht werde. These und Antithese gründen sich auf die Vorstellung des Modells der Reihe, innerhalb derer zwischen einer Bedingung und einem Bedingten, einer Ursache und einer Wirkung unterschieden werden muß: wobei die Bedingung selbst wiederum im Rahmen möglicher Erfahrung von einer ihr vorgeordneten höheren Bedingung abhängt. In der These, in welcher Freiheit behauptet wird, wird zugleich die Reihenfolge der Erscheinungen dadurch zur totalen Vollständigkeit gebracht, daß in ihr ein unbedingtes Glied aufgewiesen wird: dasjenige der freien Kausalität. Freiheit bedeutet in diesem Zusammenhang „absolute Spontaneität der Ursachen": durch sie wird ein erster Anfang einer von ihm abhängenden Reihe von naturgesetzlichen Erscheinungen gemacht. Dieser Anfang ist nur noch Ursache, aber nicht Wirkung: er ist un-bedingt: transzendentale Freiheit. Er kann als absoluter Anfang nicht selbst Erscheinung sein, sondern ist noumenal. Um des Interesses willen, welches die Vernunft an der Totalität und Vollständigkeit hat, muß diese Idee der transzendentalen Freiheit ernst genommen werden. Das gilt schon vom Standpunkt der „spekulativen" theoretischen Vernunft, ganz abgesehen von den Bedürfnissen der praktischen Vernunft. In der Antithese wird behauptet, daß eine derartige Freiheitsursache nicht möglich sei, da sie den notwendigen Zusammenhang der Ursachenreihe unterbrechen würde. Die Kritik ergibt, daß Vernunft diese ihre Antinomie zu lösen vermag, wenn sie nur Thesis und Antithesis richtig deutet. Der „Schein" findet hier nur dann statt, wenn man nicht einsieht, daß im Grunde genommen keine Antithetik vorliegen muß, wenn die einander scheinbar widersprechenden Thesen jeweils auf verschiedene Ebenen und Perspek-

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Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

tiven bezogen werden. Es ist eine Frage des „Standpunktes" und der Perspektive, ob ich Freiheit, oder ob ich ausschließlich Naturnotwendigkeit behaupte. Unter Voraussetzung dieser Doppelperspektive brauchen Freiheit und Naturnotwendigkeit in keiner echten Disjunktion zu stehen, da beide „in verschiedener Beziehung bei einer und derselben Begebenheit zugleich stattfinden" können 216 . Daß Natur ein durchgehender Kausalzusammenhang ist, in dem es keine Ausnahme und daher keine Freiheit gibt, bleibt unerschütterlich bestehen: dieser Zusammenhang gehört mit zur Verfassung, die der Verstand dem Bereich möglicher Erfahrung und der Erscheinungen gegeben hat. Aber dieser Satz ist eben doch nur im Hinblick auf die Erscheinungswelt gültig. Er darf nicht dahingehend mißverstanden werden, als ob sich seine Gültigkeit auch auf Dinge an sich erstrecken würde. Wären Erscheinungen zugleich Dinge an sich selbst, dann wäre Freiheit nicht zu retten 217 . Dann wäre Natur selbst absolute Realität; statt dessen ist sie der Bereich, dem der freie Verstand die Verfassung vorgezeichnet hat. Die Erscheinungen müssen daher noch selbst „Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind". So wird eine Art von intelligibler Ursache aus Freiheit wenigstens als Denkmöglichkeit in den Blick kommen. Freiheit und Naturnotwendigkeit können insofern durchaus zusammen bestehen, als ich das erste Mal vom Standpunkt der intelligiblen Welt aus, das zweite Mal vom Standpunkt der sensiblen Welt aus urteile. Damit ist die Auflösung der Freiheitsantinomie gegeben. Sie bliebe nur dann Antinomie, wenn man nicht zuließe, daß zwei verschiedene Weltbegriffe ins Spiel kommen: die These spricht vom Standpunkt der intelligiblen Welt aus, indessen die Antithese von demjenigen der sensiblen Welt aus urteilt. B 564, III, S. 365. B 564; III, S. 365.

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Anders gesagt: der „Charakter" der Ursächlichkeit, die ich als empirisches Subjekt ins Werk setze, findet im Rahmen der Naturnotwendigkeit seine Bestimmung und Beschreibung („empirischer Charakter"). Mein Charakter als derjenige eines freien Subjekts dagegen, welches auf Grund von Vorstellungen und Ideen erste freie Ursache einer Erscheinungsreihe zu sein vermag, kann nicht in der Sprache der Naturnotwendigkeit beschrieben werden: er ist ein „intelligibler Charakter" 2 1 8 . Die These von der Naturnotwendigkeit wird nur dann fehlerhaft und unterliegt dem Schein, wenn der Standpunkt des empirischen Denkens versucht, auch die Freiheit in seine Perspektive hineinzuziehen, um den intelligiblen Charakter ebenso objektiv erkennen zu können, wie den empirischen. Dieser letztere verhält sich nach notwendigen Naturgesetzen, und seine Reaktionen sind vorher berechenbar. Aber die reine Vernunft, „als ein bloß intelligibeles Vermögen, ist der Zeitform und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge nicht unterworfen. Die Causalität der Vernunft im intelligibelen Charakter entsteht nicht, oder hebt nicht etwa zu einer gewissen Zeit an, um eine Wirkung hervorzubringen" 218 . Gleichwohl aber ist Vernunft freie Ursache von Handlungen im Bereich der Erscheinungswelt: sofern diese Handlungen in diese Welt hineinragen, haben sie eine naturgesetzliche Seite. Die handelnde Vernunft „paßt" die naturgesetzlichen Überlegungen in den Zusammenhang ihres freien Kausalitätsdenkens ein. Da freie Kausalität ihre Quellen in der Vernunft selbst hat, insofern der Gedanke Ursache zu einer Handlung wird, ist die Bedingung einer aus ihr folgenden Kette von bedingten Erscheinungen selbst unbedingt. Insofern ist der Mensch,

211

B 567; III, S. 367. B 579; III, S. 373 f.

Kaulbadi, Immanuel Kant

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Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

vom Standpunkt seines intelligiblen Charakters aus betrachtet, ein unbedingtes, freies Wesen. In „anderer Beziehung" jedoch gehört er auch der Reihe der Erscheinungen an. Vom Standpunkt seines empirischen Charakters aus betrachtet sind seine Handlungen vorher berechenbar: davon macht z. B. der Behaviorismus Gebrauch. In diesem Zusammenhang gibt es nur die Aufgabe, die „Möglichkeit" der Freiheit und ihr widerspruchsfreies Bestehen mit der Naturnotwendigkeit zu erörtern: deren „Wirklichkeit" jedoch wird in einem anderen Zusammenhang, demjenigen der praktischen Vernunft, zur Sprache gebracht werden. Ganz und gar unbeantwortbar aber ist die Frage, inwiefern die Physiognomie eines intelligiblen Charakters gerade diesen oder jenen Charakter eines empirischen Individuums ergibt. Unter der Voraussetzung Kants muß diese Frage unbeantwortbar bleiben, weil der intelligible Charakter kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist. d) Abhängigkeit und Unabhängigkeit der Welt. Kritik erklärt den illusionsbildenden Mechanismus der Vernunft. Sie erkennt, daß der transzendentale Schein dadurch zustande kommt, daß die Vernunft die Perspektive zweier verschiedener Standpunkte durcheinanderbringt. Erst tritt das Feld der Erscheinungen in ihre Perspektive: hier hat sie es mit der endlosen Reihe des empirisch Bedingten zu tun, innerhalb deren jede Bedingung selbst wieder von einer ihr vorangehenden Bedingung abhängt. Diese Reihe versucht sie vollständig zu machen und zu „ergänzen". So faßt sie den zum Begriff der Erscheinung gehörigen und ihn ergänzenden Gedanken der Sache selbst, die da erscheint: sie denkt sich zum Bedingten das Unbedingte, zur relativen Einheit empirischer Gegebenheit die absolute Totalität der Erscheinungsreihe, zum Zufälligen das absolut Notwendige hinzu. Die Vernunft bedarf dieser Ergänzung,

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um sich selbst zu bestätigen: denn bleibt etwas Zufälliges, Bedingtes und bloß Relatives unaufgelöst und unaufgearbeitet bestehen, dann würde das ihrer Abdankung gleichkommen. Daher hat Vernunft ein „Interesse" an dieser Vervollständigung und Vervollkommnung des EmpirischUnvollständigen zum Ganzen. Sie bietet Ideen wie diejenige der absoluten Notwendigkeit und absoluten Totalität auf. Diese gehören zur „Natur der Vernunft". Sie werden „als" Postulate der Vernunft an sich selbst zu verstehen sein: sie macht sich aber des Mißverständnisses ihrer eigenen Ideen schuldig, wenn sie diese als Begriffe realer Gegenstände deutet. Denn dann zieht sie diese Ideen entweder mit in den Bereich der Erscheinungsgegenstände hinein, da ein realer Gegenstand als objektive Realität nur im Bereich möglicher Erfahrung bestimmbar ist: oder aber sie benutzt die reine Form der Gegenständlichkeit, um einer Idee ein völlig leeres, unbestimmtes Objekt unterzuschieben. Die These lautet hier, daß zur Welt etwas gehöre, welches entweder als ihre Ursache oder wenigstens als Teil von ihr ein unbedingt notwendiges Wesen sei. Die Antithese dagegen besagt, daß es kein unbedingt notwendiges Wesen gibt: weder in der Welt oder außerhalb der Welt als ihre Ursache. Vernunft muß sich immer dann mißverstehen, wenn sie die beiden Standpunkte: denjenigen der empirischen Begriffe und den der Ideen nicht auseinanderhält und statt dessen unkritisch zwischen den Perspektiven hin und her springt. Dann nimmt das Denken der Ideen eine fehlerhafte Form an. Daher besteht die Auflösung auch dieser Antinomie, die von dem absolut notwendigen Dasein handelt, darin, die Standpunkte auseinanderzuhalten und das Reden von der Naturnotwendigkeit Sache eines anderen Standpunktes sein zu lassen als das von den unbedingten Bedingungen der Erscheinungen. Ver12'

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Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

steht sich die Vernunft selbst, indem sie die Standpunkte und ihre Perspektiven auseinanderhält, dann werden Thesis und Antithesis gut miteinander bestehen können, weil jede sich auf eine andere Welt bezieht. In diesem Falle geschieht ein legitimer, kontrollierter Sprung von einem Standpunkt und seiner Perspektive zum anderen, statt daß innerhalb eines und desselben Standpunktes ein unerlaubter und naiver Sprung in Sprache und Denken des anderen Standpunktes geschieht, wodurch dessen Perspektive unwahr und verzerrt wird. In These und Antithese ist die „Schlußart in beiden selbst der gemeinen Mensdienvernunft ganz angemessen, welche mehrmals in den Fall geräth, sich mit sich selbst zu entzweien, nachdem sie ihren Gegenstand aus zwei verschiedenen Standpunkten erwägt" 220 . Es sei hier so ähnlich bewandt, wie mit dem Streit zweier berühmter Astronomen, von denen der eine schloß: Der Mond dreht sich um seine Achse, weil er der Erde beständig dieselbe Seite zukehrt, während der andere argumentiert: der Mond dreht sich nicht um seine Achse eben aus dem Grunde, weil er der Erde beständig dieselbe Seite zukehrt. Jeder hatte auf seine Weise recht, je „nachdem man den Standpunkt nahm, aus dem man die Mondsbewegung beobachten wollte." Auch in dem Falle, in welchem Kritik den transzendentalen Schein aufgelöst hat, macht sich immer noch die Täuschung geltend. Daher der Vergleich der dialektischen Situation mit den optischen Täuschungen. Der Grund dafür ist in der eigenartigen Perspektive unserer menschlichen Vernunft zu suchen, die ihre Ideen nicht unparteiisch behauptet, sondern sie mit einem spekulativen und zugleich auch einem praktischen IntGTGSSG verbindet 2 ^*. Das prakti«» B 489; III, S. 319. 221 Vgl. das Bild d e r V e r s t a n d e s w a a g e in den „Träumen" (s. S. 81 f.).

Das transzendentale Ideal

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sehe Interesse bezieht sich zuletzt darauf, daß jeweils an den Behauptungen der „Thesen" der Bestand von „Moral und Religion" hängt. Das spekulative Interesse aber hat es darauf abgesehen, der Reihe der Erscheinungen, die für sich genommen zufällig, haltlos und unvollständig ist, eine „unbedingte Haltung und Stütze" zu geben. Es ist zuletzt auch Selbsterhaltungstrieb der Vernunft, wenn sie den Zufall im Felde der Erscheinungen in die Idee einer absoluten Einheit und Notwendigkeit einholt. Zwar verbietet es Kritik, daß diese Idee selbst vergegenständlicht, realisiert und „hypostasirt" werde: aber sie drückt die Regel aus, derzufolge empirisches Denken die Natur so betrachten soll, „als ob" die einzelnen Naturerscheinungen im Zusammenhang absoluter Einheit und Notwendigkeit aufzunehmen wären. Die letzte der vier kosmologischen Antinomien hat von der Idee des absolut notwendigen Wesens gehandelt. Von da aus ist der Schritt zur „transscendentalen Theologie" nicht weit, wie Kant auch die dritte der Disziplinen der metaphysica specialis nennt. 17. Dialektik der transzendentalen Theologie und Auilösung des theologischen Scheines: das transzendentale Ideal Vom Standpunkt der kritischen Auflösung der Antinomien aus nimmt Kant für sich einen „transscendentalen Idealismus" in Anspruch. Dieser Idealismus behauptet, daß Ideen „bloße" Ideen seien und von der Vernunft auch immer als solche verstanden werden müssen: sie müssen als subjektive Prinzipien mit regulativer Funktion begriffen werden. Das bedeutet, daß sie nur transzendentale Idealität, aber niemals transzendentale Realität beanspruchen dürfen. Kant hat selbst in seiner Frühzeit die Prinzipien einer ratio-

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Begründung der krit. Transzendentalphilosophie

nalen Theologie entwickelt, in der er jetzt vom Standpunkt der Kritik aus Recht und Unrecht zu unterscheiden vermag. Damals im „Einzig möglichen Beweisgrund" (1763) ging es ihm um den Beweis der Existenz Gottes als desjenigen Wesens, welches die Totalität aller Möglichkeiten der Dinge umfaßt: in ihm gibt es keine Verneinung, keine Einschränkung. Es ist die Summe aller Realität, das ens realissimum, zugleich daher die Summe aller Vollkommenheit. Kant spricht in der Vernunftkritik vom „transscendentalen Ideal". Es handelt sich um die Idealvorstellung eines alle Vollkommenheiten und Positivitäten einschließenden Wesens. Die Kritik ergibt, daß die Idee als solche unabweisbar und notwendig ist, daß aber in dem Augenblick der transzendentale Schein auftritt, in welchem sie zu einem Gegenstand, einem Wesen aller Wesen hypostasiert wird. Das ergebe sich schon aus dem Begriff des Ideals. Konstruiere z. B. ein Romanautor seinen Helden als unwirkliche und unmenschliche Verkörperung von Idealvorstellungen, dann sei das „untunlich" und habe außerdem etwas „Widersinnisches und wenig Erbauliches an sich, indem die natürlichen Schranken, welche der Vollständigkeit in der Idee continuirlich Abbruch thun, alle Illusion in solchem Versuche unmöglich und dadurch das Gute, das in der Idee liegt, selbst verdächtig und einer bloßen Erdichtung ähnlich machen" 222 . In dem Abschnitt über das transzendentale Ideal begegnen Überlegungen aus Kants Frühzeit (Einzig möglicher Beweisgrund von 1763) im Zeichen der Kritik, die er auch am eigenen ehemaligen Denken übt. Diese Kritik aber bringt er so an, daß die eigenen früheren Ansätze aufgenommen und auf eine berechtigte transzendentale Sprache gebracht werden. Es entspricht einem früheren Gedanken, " » B 598, III, S. 384.

Das transzendentale Ideal

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wenn er zwischen der logischen und der transzendentalen Möglichkeit der Dinge unterscheidet. Die logische Möglichkeit ist dann gegeben, wenn kein Widerspruch auftritt: sie resultiert aus der formalen Korrektheit des Denkens. „Transzendentale" Möglichkeit aber betrifft den realen Inhalt: gemäß dieser Art von Möglichkeit wird ein Ding als Sonderfall aus der Totalität aller übrigen Dinge begriffen. Ihr zufolge werden nicht bloß Prädikate untereinander logisch, „sondern das Ding selbst mit dem Inbegriffe aller möglichen Prädicate transscendental verglichen" 223 . Transzendentale Möglichkeit bedeutet Gegenstandsmöglichkeit. Kant deutet das Verfahren der transzendentalen Theologie seiner Frühzeit an, indem er von der „Materie" zu aller Möglichkeit in ihrer Gesamtheit und Totalität spricht224. Diese soll a priori die „Data" zur besonderen Möglichkeit jedes Dinges enthalten. Der Begriff des transzendentalen Ideals meint den Grund, auf dem alle reale Bestimmung möglicher Weltdinge beruht. Er begründet die oberste und „vollständige materiale Bedingung" der Möglichkeit aller existierenden Sachen. „Es ist aber auch das einzige eigentliche Ideal, dessen die menschliche Vernunft fähig ist, weil nur in diesem einzigen Falle ein an sich allgemeiner Begriff von einem Dinge durch sich selbst durchgängig bestimmt und als die Vorstellung von einem Individuum erkannt wird" 225 . Der Begriff eines einzelnen Dinges ist demgemäß eine Einschränkung dieses transzendentalen Ideals, des Grundes für die Summe aller Realität: so, wie einzelne Figuren nur Einschränkungen des sie alle umfassenden Raumes sind. In der Schulsprache stand für das Wort „Möglichkeit" auch der Name: „Wesen". So ist der Grund der Möglichkeit aller existierenden Dinge zugleich als 221 224 225

B 601; III, S. 386. Vgl. S. 61 ff. B 604; III, S. 388.

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„Wesen aller Wesen" (ens entium) zu bezeichnen. Unsere menschliche Subjektivität würde mit ihrer Sinnlichkeit als Einschränkung des Denkens dieses Wesen zu bezeichnen sein. So argumentiert Kant in seiner frühen Theologie, die er von dem jetzigen Standpunkte der Kritik aus als „transscendentale Theologie" bezeichnet, weil in ihr Gott als der Grund aller möglichen Dinge angesehen wird. Sofern für Möglichkeit auch der Name Realität steht, gebührt ihrem oberstem Grunde auch der Name: ens realissimum. Durch diese Bezeichnung kündigt sich auch schon eine Dialektik an, die dadurch in Gang kommt, daß eine Idee wie diejenige einer allbefassenden Totalität als „Wesen" hypostasiert wird, anstatt für das empirische Denken „nur" Regulativ und Leitfaden zu sein. In Wahrheit gibt es nichts Reales als dasjenige, welches durch Erfahrung als solches gerechtfertigt werden kann. So wird dasjenige, was in der transzendentalen Theologie als Materie der Möglichkeit angesprochen worden ist, empirisch in der Währung der „Empfindung" ausgezahlt. Totalität im absoluten Sinne bzw. absolute Vollständigkeit aller Bestimmungen könnte nur letzte Einheit und Vollkommenheit der Erfahrung selbst sein, diese aber wird nie ganz erreicht. Sie kann nur als Postulat begriffen werden, Erfahrung an dieser Idee des „einen" Zusammenhanges zu orientieren und an keinem Punkte in der Meinung haltzumachen, man sei am absoluten Ende angelangt. Der Schleichweg, den metaphysische Vernunft in der transzendentalen Theologie einschlägt, ist folgender: erst denkt sie das Dasein irgendeines notwendigen Wesens aus. Von diesem sagt sie unbedingte Existenz aus. Diese Bestimmung verbindet sie mit einem anderen Prädikat, welches sie aus dem Denken des transzendentalen Ideals gewonnen hat: sie denkt dabei an denjenigen Grund, der alle Realität begründet und selbst infolgedessen

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die Allheit und Vollständigkeit aller positiven Prädikate darstellt. Dieses „All ohne Schranken" ist selbst absolute Einheit und schließt den Begriff eines einigen, höchsten Wesens ein. So kommt es am Ende zu dem Ergebnis, daß das höchste Wesen als Urgrund aller Dinge unbedingt notwendige Existenz habe. Der Übergang von der einen Bestimmung zur anderen: der notwendigen Existenz zur Allheit und absoluten Einheit aller Realitäten (Möglichkeiten) und der Rückgang von der ersteren Bestimmung zur letzteren spielen jeweils in verschiedener Weise bei den drei Hauptformen aller Gottesbeweise eine maßgebende Rolle: es handelt sich um den ontologischen, den kosmologischen und den physiko-theologischen Beweis. Der ontologische Beweis macht kein Hehl daraus, daß er nur „transzendental" verfährt, indem er sich allein an den Begriff eines vollkommensten und alle realen Prädikate einschließenden Wesens hält: Sein Argument ist, daß zu dieser Vollkommenheit auch Existenz gehören müsse, so daß der Begriff des vollkommensten Wesens der einzige sei, der zugleich auch notwendigerweise die Existenz einschließe. In der Kritik an diesem Beweis kann Kant teilweise frühere kritische Argumente seiner eigenen Frühzeit wiederaufnehmen: damals hatte er argumentiert, daß Existenz nicht zu den wesentlichen, der Realität angehörigen Prädikaten gehören könne, sondern „absolute Position" sei226. Jetzt baut er diesen Gedanken mit den neu gewonnenen Mitteln weiter aus, indem er darauf hinweist, daß ein Existenzsatz wie derjenige, daß Gott existiere, nicht analytisch sein könne, sondern synthetisch sein müsse. Er hatte ja Existenz (Dasein) als Kategorie angesprochen, die freilich auf Gegenstände möglicher Erfahrung angewandt werden müsse, um Sinn und Bedeutung zu !!t

Vgl. oben S. 61.

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gewinnen. Durch die reine Kategorie allein läßt sich kein Merkmal angeben, um Existenz von bloßer Möglichkeit zu unterscheiden. Da aber Erfahrung bei einem solch transzendentalen Begriffe nicht in Frage kommt, so ist es aussichtslos, auf dem Wege des ontologischen Arguments eine Existenzaussage machen zu wollen. Auf keinen Fall kann der Begriff der höchsten, einschränkungsfreien Realität in sich die Entscheidung darüber abgeben, ob sein Gegenstand überhaupt existiert oder nicht. Diese Entscheidung hängt davon ab, daß der Gegenstand „vollkommenes Wesen" in ein „Verhältnis" (Modalität der Existenz) zu meinem erkennenden und denkenden Subjekt gesetzt wird: das würde bedeuten, daß die Erkenntnis dieses Objekts auch a posteriori möglich sei227. „Sein" ist kein „reales" Prädikat, „d. i. ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne. Es ist bloß die Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an sich selbst" 228 . Aus einer bloßen Idee kann ich Existenz nicht gewinnen: weil eine Existenzaussage immer voraussetzt, daß ich über meinen Begriff zur erfahrbaren Welt „hinausgehe". Durch bloße Idee an Einsichten reicher werden zu wollen, sei dem Versuche eines Kaufmanns vergleichbar, der, um seinen Vermögensstand zu verbessern, seinem Gewinn einige Nullen anhängt. Daß das Prädikat der Existenz nicht zum Begriffsinhalt als solchem gehört, erläutert Kant auch durch das sehr bekannt gewordene und oft (z. B. von Hegel) bemängelte Beispiel, daß es für den Begriff einer Geldsumme (etwa 100 Taler) nichts ausmacht, ob ich sie in meiner Tasche habe oder nicht. Der kosmologische Beweis sucht im Gegensatz zum ontologischen Anschluß an die erfahrbare Wirklichkeit der B 628; III, S. 402. "> B 626, III, S. 401.

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Natur zu gewinnen: er schließt nicht von der Idee der Allheit auf die unbedingte Existenz, sondern geht den umgekehrten Weg von der gegebenen unbedingten Notwendigkeit irgend eines Wesens zur unbegrenzten Realität dieses Wesens. Der Beweis fängt von der Erfahrung kosmischer Zusammenhänge an und geht dann zum apriorischen Begriff des realsten Wesens über. Damit allerdings vollzieht er einen Sprung, an dem die Kritik ansetzen muß: Was berechtigt ihn, plötzlich die Wege der Erfahrung zu verlassen und auf „transzendentalen" Boden überzuspringen? Da man merkt, daß die empirischen Argumente nicht zureichen, beruft man sich plötzlich auf einen „reinen Vernunftzeugen", der sich aber verstellen, „Anzug und Stimme" wechseln muß, um für einen zweiten, nämlich einen empirischen Zeugen gehalten zu werden. Kant spricht hier von einer „List" der spekulativen Vernunft 229 . Zuletzt wird sichtbar, daß das eigentlich tragende Argument auch im kosmologischen Beweis transzendentaler Natur ist, so daß der Gedankengang am Ende doch auf die Wege des ontologischen Beweises hinausläuft. Man vernimmt aus dem Munde Kants beinahe eine existenzphilosophische Sprache (im gegenwärtigen Sinne), wenn er die für unsere Vernunft unentbehrlich notwendige Idee der unbedingten Notwendigkeit für den wahren „Abgrund für die menschliche Vernunft" erklärt 230 . Selbst der Gedanke der Ewigkeit mache nicht den „schwindelichten Eindruck" auf das Gemüt, wie gerade diese Idee. Denn deren Gegenstand hat die Aufgabe, den Bestand alles Seienden zu „tragen" und ihm Halt („Haltung") zu geben. „Man kann sich des Gedanken nicht erwehren, man kann ihn aber auch nicht ertragen, daß ein Wesen, welches wir »» B 634; III, S. 405. »» B 641 ; III, S. 409.

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uns auch als das höchste unter allen möglichen vorstellen, gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts ohne das, was bloß durch meinen Willen etwas ist; aber woher bin ich denn? Hier sinkt alles unter uns, und die größte Vollkommenheit, wie die kleinste schwebt ohne Haltung bloß vor der speculativen Vernunft, der es nichts kostet, die eine so wie die andere ohne die mindeste Hinderniß verschwinden zu lassen" 231 . Spekulative Vernunft: das ist diejenige, die von einem über den Standpunkt möglicher Erfahrung hinausliegenden Ort aus urteilt und denkt 232 . Es wird bei den Schleichwegen der transzendentalen Theologie immer wieder sichtbar, daß Kritik darauf bestehen muß: die für die Haushaltung der Vernunft notwendigen Ideen der Allheit und der unbedingten Existenz können nur „als subjektive Prinzipien der Vernunft" Geltung beanspruchen. Sie haben nur heuristische Bedeutung für die empirische Forschung und besorgen lediglich das formale, systematische Interesse der Vernunft, die das empirische Denken an den Ideen des notwendigen ersten Grundes und der absoluten Allheit und Einheit orientiert. Diese Orientierung aber schließt ein, daß kein Zustand empirischer Forschung als endgültig angesehen werden darf, daß der W e g zu immer noch weiterer Erkenntnis offen gehalten werden muß. Der Gegenstand der Erkenntnis ist eine „unendliche Aufgabe": diese weist aber nicht ins Unbestimmte, sondern beinhaltet absolute und umfassende Einheit. Diese Einheit kann freilich niemals in kleinen Geldstücken der Erfahrungserkenntnis ausgezahlt werden. B 641; III, S. 409. 232 „Eine theoretische Erkenntnis ist speculaiiv, wenn sie auf einen Gegenstand oder solche Begriffe von einem Gegenstande geht, wozu man in keiner Erfahrung gelangen kann" (B 662 f.).

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Der physiko-theologische Beweis geht von Erfahrungen erstaunlicher Harmonie und zweckmäßiger Einrichtungen der Natur aus. Der Schluß ist einfach: so, wie kunstvolle Gebilde, die man irgendwo findet, auf einen herstellenden Künstler schließen lassen, so kann man analogisch die Zweckmäßigkeiten der Natur als Hinweise auf einen unendlichen Verstand und allmächtigen, mit vollkommener Fertigkeit ausgestatteten Künstler auffassen. Kant hat von jeher für diese Beweisart viel übrig gehabt, weil sie den Bezug Gottes zur Natur berücksichtigt: auch hält sie den Blick auf die Natur offen. Kant hatte in seiner Frühzeit gegen den Beweis eingewandt, daß er die gesetzliche Verfassung der Natur nicht beachte, da Gott durch ihn nur als Urheber der zufälligen kunstreichen Besonderheiten in der Natur begriffen werde. Er hatte damals seinen eigenen onto-theologischen Gottesbeweise zur Geltung gebracht, demzufolge Gott als Schöpfer und zugleich Konstrukteur in einer so vollkommen durchdachten Welt in Ansatz gebracht wird, daß diese aus eigenen freien Stücken auf Grund ihrer gesetzlichen Verfassung seine Absichten erfüllt. Obwohl er vom Standpunkt der Vernunftkritik aus seine eigenen ehemaligen Thesen überholen muß, gibt er ihnen doch soweit recht, als aus ihnen hervorgeht, daß auch der physiko-theologische Beweis zuletzt in einem apriorischen, ontologischen Gedankengang endet. Der tragfähige Teil auch im physiko-theologischen Beweis ist sein apriorischer, ontologischer Kern, demzufolge Gott nicht als Herr wirklicher Existenzen, sondern als Prinzip der „Möglichkeiten" in Ansatz gebracht wird. Unter diesen Umständen muß das physiko-theologische Argument dieselbe kritische Zurückweisung erfahren, wie das ontologische. Im Ganzen ist zur transzendentalen Theologie zu sagen, daß sie sich der Kritik aussetzt, wenn sie versucht, den Ideen der absolut notwendigen Existenz und der Allheit

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aller Realitäten jeweils einen Gegenstand zu unterschieben: da dieser doch nur immer Gegenstand für uns sein könnte und dem Bereich möglicher Erfahrung angehören müßte. Hat aber diese Theologie keine Rechtfertigung als positiver Erkenntniszuwachs, dann bleibt ihre Bedeutung darin bestehen, eine „beständige Censur unserer Vernunft" darzustellen233, indem sie alles aus dem Bereich empirischen Denkens Stammende von der Idee eines notwendigen und allerrealsten Wesens fem hält. Es wird sich im Zusammenhang der praktischen Vernunft später zeigen, daß diese Idee von praktischer, nicht von theoretischer Seite her realisierbar ist. Moralphilosophie wird das Vakuum ausfüllen, welches theoretische Philosophie notwendig leer lassen muß. Wenn man bedenkt, daß Vernunft mit ihren Ideen niemals selbst neue Einsichten und sachlichen Erkenntnisgewinn verschaffen kann, sondern immer nur dem erkennenden Verstand letzte Orientierungen an absoluter Einheit und Notwendigkeit zu geben vermag, dann wird deutlich, daß sie es ist, welche für den „systematischen" Charakter des Erkennens zu sorgen hat. Erkenntnis soll ein Ganzes, ein „System" sein, insofern es den Charakter der Vernunft wiederspiegelt, welche Erkenntnis realisiert. 19. Transzendentale Deduktion und ihr Bezug zur objektiven

der Ideen Realität

Es ist festzuhalten: Die Ideen sind nur Regeln für den Gebrauch der theoretischen Vernunft, sie dürfen aber nicht beanspruchen, den Namen für einen erkennbaren Gegenstand abzugeben. Kant drückt das auch so aus, daß sie nur zu einem „hypothetischen", aber keinem „apodiktischen" Gebrauch herangezogen werden dürfen. So muß z. B. die M3

B 668; III, S. 425.

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Idee der absoluten Welteinheit hypothetisch „angenommen" werden, um an ihr die empirischen Gedankenreihen zu orientieren und die besonderen Naturgesetze so anzusehen, als ob sie sich insgesamt unter ein einziges, absolut umfassendes Weltgesetz subsumieren ließen. Die Funktion der Vernunft besteht darin, sich selbst die Auflage zu machen, ihre Einzelerfahrungen zu einer umfassenden Gesamterfahrung zusammenzudenken. Sie ist nicht zufrieden damit, ein bloßes „Aggregat" von Erkenntnissen zustande zu bringen, sondern geht auf die Herstellung eines systematischen Ganzen aus, welches „Wissenschaft" heißt. Die Idee dieses Ganzen muß aber gleichsam aus dem Stoff der Empirie, d. h. der Einzelerkenntnisse, bei denen der Zufall beteiligt ist, gewebt werden. Wenn die Ideen auch nicht auf der Erfahrung begründet sind, so ist ihr regulativer Sinn doch auf die Erfahrung hin und für die Erfahrung abgezielt. Wir befragen die Natur auch im Vollzug der Einzelerkenntnis danach, ob sich die theoretischen Ergebnisse in den Rahmen systematischer Ganzheit einzufügen vermögen. Dieser Bezug auf den mit der Erfahrung der Natur beschäftigten Verstand wird von Kant auch in der Weise zur Sprache gebracht, daß er die Ideen als „relativ" auf den Gang der Naturwissenschaft anspricht. Der Verstand bringt die Tatsachen der Natur in Reihen, wie diejenige der Ursache und Wirkung. Im Bereich möglicher Erfahrung ist keine dieser Reihen vollendbar: d. h., es gibt keine letzte Ursache oder eine letzte Wirkung. In ihr gibt es kein „Unbedingtes". Aber in jeder Einsicht in Bedingtes ist zugleich auch das Unbedingte, welches die Ideen in die Ergebnisse des Verstandes hineinweben, gegenwärtig. Vernunft meldet sich mit ihrer Maxime zu Worte, auch die endlichen Ergebnisse des Verstandes als Repräsentationen des Systems zu deuten. Das System ist abgeschlossen, aber nicht starr und leblos: vielmehr begreift es Kant nach dem

192 Begründung d. kritischen Transzendentalphilosophie Vorbild des Organismus. Im System herrscht innere Zweckmäßigkeit; d. i. jeder Teil ist um des Ganzen und zugleich um der anderen Teile willen da. Hier gibt es keine bloße additive Hinzufügung, vielmehr ist jede neue Erkenntnis mit dem Wachstumsvorgang zu vergleichen: Das Wachsen eines Organismus ist so zu verstehen, daß die neu hinzugekommenen Teile auch für den Bestand des ganzen vorhandenen Gebildes Veränderung und Metamorphose bedeuten. So ist die Funktion der Ideen doppelseitig und zweideutig: einerseits dienen sie der Vernunft dazu, die offenen unvollendeten Reihen der Erfahrungserkenntnis zu absoluter Einheit und Totalität zu vervollkommnen und Natur als systematische Einheit zu lesen. Andererseits sorgen sie dafür, daß in den Naturobjekten selbst freiwillig und ungezwungen der systematische und ganzheitliche Charakter gegenwärtig ist. Die Vervollkommnung und Integration zum Ganzen geschieht nicht bloß auf der Seite der Vernunft, sondern schlägt sich zugleich auch in den Objekten selbst nieder: auf diese Weise kann Kant sagen, daß Vernunft nicht nur „selbst-süchtig" verfahre, sondern daß sie Natur frei sprechen lasse, die sich als systematische Einheit zeigt. Diese systematische Einheit freilich kann nicht in der Weise bestimmter Gegenständlichkeit bewiesen werden, sondern bleibt von der Sprache des empirischen Denkens aus gesehen immer unbestimmt. Gleichwohl ist systematische Einheit in jedem erfahrbaren Objekt der Natur gegenwärtig und muß a priori als notwendig angenommen werden 234 . Systematische Einheit ist also nicht nur von „logischer" Bedeutung und Gebot der Methode. Vielmehr hat sie auch gleichzeitig transzendentale Bedeutung, weil sie in jedem Objekt gegenwärtig ist. Diese Gegenwart verwirkB 678 f . ; III, S. 431 ff.

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licht sich in der Weise, daß sie als „Schema" fungiert: d. h. als eine Regel, die das Verfahren der Universalisierung einzelner Naturgesetze bestimmt. Kant denkt in solchen Fällen vor allem an die Leistung Newtons, der solche einzelnen Naturgesetze wie das 1. Keplersche Gesetz und das Galileische Fallgesetz im Zeichen seiner Gravitationstheorie in einen einzigen Zusammenhang gebracht hat. Im Hinblick auf das vom Positivismus behauptete Ökonomieprinzip des Denkens (das Denken solle eine Beschreibung wählen, die möglichst „einfach" sei), ist folgendes zu bedenken: obwohl Kant die absolute Einheit der Natur als Postulat der Vernunft ansieht, würde er dem Positivismus doch nicht zugeben, daß eine beliebige Wahl zwischen mehr oder weniger einfachen Hypothesen des Verstandes möglich sei. Die Stellung „unserer" Vernunft zu den Gegenständen bedingt es, daß sich uns Natur selbst als einiges System zeigt, wobei diese Einheit freilich nicht in gegenständlich direkter Form erkennbar ist. So darf systematische Einheit nicht nur als „ökonomischer Handgriff der Vernunft" 235 , sondern muß zugleich auch als in den Objekten selbst gegenwärtig aufgefaßt werden. Nur unter dieser Voraussetzung sind die Ideen als bedeutsam „für" den Gang des naturwissenschaftlichen Denkens gerechtfertigt: diese Rechtfertigung ist der Inhalt der „transscendentalen Deduction der Ideen". Diese funktionieren nicht bloß in „selbstsüchtiger Absicht". Vielmehr ist die Vernunfteinheit „der Natur selbst angemessen". Vernunft erfährt hier das freie Entgegenkommen der Natur, statt daß sie „bettelt", wenngleich sie die Grenzen der letzten Einheit nicht objektiv bestimmen kann 238 . Wenn die Idee also dem empirischen Denken den Auftrag gibt, auf den ihm angemessenen Wegen mehr und B 681; III, S. 433. »• B 681; III, S. 433. Kaulbach, Immanuel Kant

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mehr Einheit zu suchen, dann kann sie die Art dieser Einheit a priori nicht vorschreiben. Sie gibt nur eine Orientierung an: Kant spricht auch davon, daß sie ein „Gesichtspunkt" sei, „aus welchem einzig und allein man jene der Vernunft so wesentliche und dem Verstände so heilsame Einheit verbreiten kann" 237 . Diesem point de vue entspricht ein ihm angemessenes Denken und Sprechen, welches nicht mit der Sprache empirischen Denkens und einzelwissenschaftlichen Verfahrens vermengt werden darf. Zur Hermeneutik dieses Standpunktes gehört das „Als ob". Wir müssen die empirischen Reihen so denken, als ob sie in einem intelligenten und sie zweckmäßig ordnenden Vernunftwesen ihren Grund hätten. In diesem Sinne verstanden gebührt der Idee des systematischen Weltganzen und seines Urhebers eine Art von objektiver Realität, die aber nicht „schlechthin" in objektive Gültigkeit umgemünzt werden darf 238 , wie sie dem einzelwissenschaftlichen Verstände angemessen ist. Wenn man die kritische Hermeneutik des spekulativen, von einem erhöhten Standpunkt aus geschehenden Denkens und Sprechens der Vernunft zu handhaben versteht, dann und nur dann ist es in der Theologie erlaubt, anthropomorphistisch von einem unendlich weisen und allgegenwärtigen Urheber der Welt zu reden, wie es im Bereich des physiko-theologischen Gottesbeweises in falscher, dogmatischer Absicht geschieht. Entsprechend ist in den Prolegomena davon die Rede, daß wir über Gott nur „nach Analogie" der uns bekannten seienden Wesen zu urteilen vermögen, wenn wir von ihm aussagen, daß er eine unendliche, allmächtige Intelligenz sei. Diese anthropomorphisierende Aussage habe keinen „realen", sondern nur „sym' «s B 709; III, S. 449. " B 726; III, S. 458.

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bolisdien" Erkenntniswert. Der Fehler der üblichen Physiko-Theologie besteht darin, daß sie die empirische Naturforschung gewaltsam durch einen Deus ex machina unterbricht, anstatt für sie den Anreiz zu geben, in ihrem eigenen Denken und Sprechen fortzufahren, um sich der absoluten Einheit der Natur und der Erkenntnis des Alls der Realität zu nähern, ohne sie endgültig realisieren zu wollen. Statt die Erklärung überraschender Naturerscheinungen auf die allgemeinen Naturgesetze zu gründen und der Natur die Freiheit zu erlauben, ihre Tatsachen und Geschehnisse selbst nach eigenen Gesetzen hervorzubringen, macht das physiko-theologische Argument den Fehler, jedes Ereignis in der Natur vom zufälligen Willensentschluß Gottes abhängen zu lassen und somit der ignava ratio das Feld zu räumen, da jetzt nichts mehr zu erklären ist. Kant gibt den Ideen und ihren Funktionen eine Stelle zwischen bloß logisch-methodologischer Bedeutung einerseits und ontologisch-transzendentalem Anspruch andererseits. Sie sind Maximen der Vernunft: sprechen aber zugleich auch uns in der Natur selbst begegnende Prinzipien aus. So deutet er im transzendentalphilosophischkritischen Sinne allgemeine Sätze über die Natur, die bei Leibniz z. B. als metaphysische Prinzipien rangiert hatten. Kant spricht erstens von dem Prinzip der Gleichartigkeit des Mannigfaltigen und der höheren Gattungen, zweitens von dem Grundsatz der „Varietät des Gleichartigen und der niederen Arten" und drittens vom Gesetz der Affinität aller Begriffe. (Homogeneität, Spezifikation, Kontinuität der Formen.) Es handelt sich um Prinzipien im Zeichen des Systems der Natur und zugleich der Vernunft. Die systematische Einheit unter diesen drei logischen Prinzipien könne man sich auf folgende Art anschaulich machen: jeder Begriff könne als ein Punkt angesehen werden, der als „der Standpunkt eines Zuschauers seinen Horizont hat". Im 13*

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Begriff ist eine Vielheit von Dingen enthalten, die durch ihn überschaut werden können. Innerhalb dieses Horizontes aber müssen selbst wieder Standpunkte und deren Horizonte angegeben werden können, die vom umfassenden Standpunkt und seinem Horizont her bestimmt werden. Jeder dieser sekundären Punkte hat seinen engeren Gesichtskreis: dem entspricht, daß jede Art Unterarten nach dem Prinzip der Spezifikation aufweist. Der logische Horizont bestehe nur aus kleineren Horizonten, aber niemals aus Punkten ohne Umfang. Diese w ä r e n Individuen. Das System der untergeordneten Standpunkte und ihrer Horizonte kann man unter einem höchsten, sie alle überschauenden und umfassenden Standpunkt und seinem universalen Horizont als vereinigt denken. Zu diesem letzteren führt das Prinzip der Homogeneität, w ä h r e n d zu den einzelnen und untergeordneten Umkreisen das Gesetz der Spezifikation führt. W e n n noch die Überlegung hinzukommt, daß in dem umfassenden Horizont keine leere Stelle begegnet, sondern daß j e d e Stelle besetzt ist, dann kommt man zum Gesetz der Kontinuität. Es ist von Leibniz in die bekannte Formel gebracht worden: n a t u r a non facit saltus. Unter kritischer Voraussetzung darf man freilich diesen Satz wie auch die zu ihm gehörigen anderen beiden Sätze nicht als dogmatische, objektive Aussagen über die Natur auffassen, da sie lediglich Ausdruck des Systemwillens der V e r n u n f t sind, welche die Natur v o n einem Standpunkte aus betrachtet, von dem aus sie das Bild systematischer Einheit und größten Reichtums bei größtmöglicher Einheit bietet. 19. Transzendentale

Methodenlehre

Nach dem Vorbild logischer Lehrbücher hat Kant seine Vernunftkritik in zwei Abschnitte geteilt: in Elementar-

Transzendentale Methodenlehre

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lehre und Methodenlehre. Während in der Elementarlehre der inhaltliche Aufbau behandelt wurde, geht es in der transzendentalen Methodenlehre um die Bestimmung „der formalen Bedingungen eines vollständigen Systems der reinen Vernunft" 239 . Es handelt sich dabei um die dem Systemprinzip 240 verpflichteten Themen einer „Disciplin", eines „Kanons", einer „Architektonik" und einer „Geschichte der reinen Vernunft". Was die Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche angeht, so erfüllt sie vor allem die negative Funktion, die Philosophie von dem Gebrauch ihr unangemessener Methoden abzuhalten. Da Philosophie als Vernunftwissenschaft der Mathematik verwandt ist, droht ihr die Gefahr, wenigstens in methodischer Hinsicht der Mathematik hörig zu werden: dieser Gefahr sind rationalistische Denker erlegen. Den wesentlichen Unterschied zwischen philosophischen und mathematischen Begriffen sieht Kant darin, daß die letzteren als Konstruktionsregeln zur Herstellung von Figuren aufzufassen sind, also Darstellung in der Anschauung finden. Das gilt nicht nur für die Geometrie, sondern auch für die Arithmetik, in welcher die Operationen durch figürliche Charaktere und deren Handhabung symbolisiert werden. In der Mathematik werden a priori gegebene anschauliche Elemente z. B. zum Ganzen einer Figur zusammengefügt (Konstruktion): der geometrische Begriff des Dreiecks bedeutet die apriorische Beschreibung dieser Figur. Ein philosophischer Begriff aber wie z. B. B 735 f.; III, S. 465. 840 Daß Kant .Methode" vom Gedanken des . S y s t e m s " her auffaßt, unterscheidet ihn von den Autoren der gängigen Logikbücher und gibt seinem Methodenbegriff eine metaphysisch-inhaltliche Bedeutung. V g l . auch Kritik der prakt. Vernunft, (V, S . 151): Methode wird hier als Verfahren nach „Principien der Vernunft, wodurch das Mannigfaltige einer Erkenntnis allein ein System werden kann", bestimmt.

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derjenige der Zahl oder der Größe überhaupt realisiert sich nicht in einem anschaulichen Gebilde. Auch der philosophische Begriff beruht auf einer Synthesis a priori: aber eben auf der Synthesis „möglicher Anschauungen, die a priori nicht gegeben sind, und alsdann kann man wohl durch ihn synthetisch und a priori urtheilen, aber nur discursiv, nach Begriffen, und niemals intuitiv, durch die Construction des Begriffes" 241 . Wenn ich z. B. vom philosophischen Standpunkt aus über die Größe aussage, daß sie vom mathematischen Denken konstruiert werden müsse, dann ist das ein synthetischer Satz a priori über die Größe: aber dieser Satz entspricht selbst keiner Konstruktion, insofern er eine Aussage über bloß mögliche Konstruktionen ist. Das philosophische Denken hantiert mit Leerformen möglicher Anschauung der Dinge überhaupt: nicht bloß apriorischer, sondern auch aposteriorischer Herkunft. Es gibt einen philosophischen Begriff, der a priori den empirischen Gehalt möglicher Erscheinungen bzw. der Form der Erscheinungen zur Sprache bringt, das ist der Begriff des „Dinges überhaupt". Synthetische Sätze über Dinge überhaupt nennt Kant „transzendental". Sie enthalten „bloß die Regel, nach der eine gewisse synthetische Einheit desjenigen, was nicht a priori anschaulich vorgestellt werden kann (der Wahrnehmungen), empirisch gesucht werden soll" 242 . Dieser Art sind die synthetischen Grundsätze über extensive und intensive Größe, Substanz, Kausalität und Wechselwirkung und Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit der Erscheinungen. Naturwissenschaft muß ihre Gegenstände als Konstruktionsergebnisse in Raum und Zeit interpretieren und auf diese Weise „Meister über die Natur" werden. Reiner Philosophie, die nicht konstruieren «» B 747 f . ; III, S. 473. B 748 f.: III, S. 473.

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kann, ist es verwehrt, in der Natur mit ihren bloßen Definitionen und diskursiven Begriffen „herumzupfuschen". Daraus folgt, daß die Grundprinzipien der Mathematik, die Definitionen, Axiome und Beweise ihre Rolle in der Philosophie verändern. Was die Definition anlangt, so steht sie im Bereich des mathematischen Denkens am Anfang, weil sie hier als Konstruktionsanweisung zu interpretieren ist. Ist aber der Fall des philosophischen Begriffes gegeben, bei dem es keine anschauliche Realisierung durch Konstruktion gibt, dann verändert sich auch die Rolle der Definition 243 . Daher wird es gut sein, in der Philosophie die Definitionen nicht am Anfang, sondern am Ende rangieren zu lassen, damit nicht die Gefahr besteht, daß der Gedankengang an leeren Begriffen aufgehängt wird. Was das „Axiom" anlangt, so gibt es zwar einen Grundsatz, der sich mit den Axiomen beschäftigt (Axiome der Anschauung): aber dieser ist nicht selbst ein Axiom, sondern sagt nur über die Gewinnung möglicher Axiome etwas aus. Philosophische Erkenntnis betrachtet das Allgemeine immer in abstracto, also durch Begriffe, während mathematische Erkenntnis das Allgemeine in concreto, d. h. in einzelnen Anschauungen aufsucht. Daher kann der Philosoph auch die intuitive Beweisart des Mathematikers, die Kant als „Demonstration" bezeichnet, nicht nachahmen wollen. Es gibt auch einen polemischen Gebrauch der reinen Vernunft. Hier wirkt sich die von der Kritik vorgeschriebene Disziplin der reinen Vernunft so aus, daß sich derjenige, der in der Verteidigung eines Interesses der reinen Vernunft die Existenz eines absolut notwendigen Wesens behauptet, nicht mit seinem Gegner, der diese verneint, in 213 Siehe die Ausführung in der frühen Schrift über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral, vgl. oben S. 99.

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einen naiven Streit einläßt: diszipliniert zeigt er sich, wenn er die Grenzen der Beweismöglichkeiten überhaupt beachtet und den Gerichtshof der reinen Vernunft, die zugleich als Zensur-behörde für Behauptungen auftritt, als maßgebend anhört. Auf keinen Fall geht es an, daß ideologisch gelenkte politische Mächte in der Verfolgung irgendeines Interesses versuchen, „mit dem Schwerte dreinzuschlagen" und Terror statt Vernunft selbst wirken zu lassen. Vernunft selbst muß durch ihre eigene Geschichte zur Selbstkritik reifen. „Man kann die Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten derselben ansehen; denn sie ist in die letzteren, als welche aufObjecte unmittelbar gehen, nicht mit verwickelt, sondern ist dazu gesetzt, die Rechtsame der Vernunft überhaupt nach den Grundsätzen ihrer ersten Institution zu bestimmen und zu beurtheilen." 244 Ohne diese Kritik bleibt Vernunft im Naturzustand, welcher derjenige des Krieges ist. Durch die Kritik gibt sich Vernunft erst die bürgerliche Verfassung, durch welche die Rechtsame ihres Standpunktes und seiner Berechtigung bestimmt wird. Ist Vernunft darauf bedacht, sich ihre eigene Verfassung zu geben, statt sie sich von der auch die Geschichte in Gang setzenden Natur vorschreiben zu lassen, dann wird sie die Fakten ihrer bisherigen Geschichte mit Skepsis betrachten. Der Skeptizismus sei ein „Ruheplatz" für menschliche Vernunft, auf dem sie sich „über ihre dogmatische Wanderung besinnen und den Entwurf von der Gegend machen kann, wo sie sich befindet, um ihren W e g fernerhin mit mehrerer Sicherheit wählen zu können, aber nicht ein Wohnplatz zum beständigen Aufenthalte .. ."245. Skepsis leistet eine Zensur der bisher in der Geschichte der Philosophie fakB 779; III, S. 491. »» B 789; III, S. 497.

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tisch zur Sprache gebrachten Theorien. Es sei aber noch ein dritter Schritt möglich und nötig, der nur „der gereiften und männlichen Urtheilskraft zukommt": d.i. derjenige der Kritik der Vernunft. Sie beschäftigt sich nicht mit historischen Fakten, sondern mit dem Wesen der Vernunft selbst, deren Leistungen und Möglichkeiten sie auf den verschiedenen Ebenen und Standpunkten ihres Denkens und Sprechens untersucht. Diese Vernunft gleicht nicht einer unbestimmbar weit ausgebreiteten Ebene, deren „Schranken man nur so überhaupt erkennt", vielmehr müßte man sie mit einer Kugel vergleichen, die überschaubar ist und deren Oberfläche den Bereich darstellt, auf dem sich mögliche Gegenstände überhaupt finden. Dieser Gedanke weist auf das Programm der „Geschichte der Vernunft" hin. Kant macht hier für eine wissenschaftlich-systematische Auffassung des Namens: „Geschichte" den W e g frei, während er das Wort „historisch" noch im alten rationalistischen Stile mit „empirisch" synonymisiert. Zur Rolle der „Hypothese" in der Philosophie ist zu sagen: die Ideen der Vernunft dürfen zu keinen naturwissenschaftlichen Hypothesen Anlaß geben: so darf z. B. derjenige Standpunkt, von dem aus die transzendentale Freiheit sichtbar wird, mit seinem Reden und Denken nicht mit demjenigen verwechselt werden, in dessen Perspektive Erscheinungen vorkommen. Hypothesen seien nur dann zulässig, wenn man im polemischen Gebrauche metaphysische Sätze zu verteidigen gedenkt. Dann handelt es sich um die „bloße Vereitelung der Scheineinsichten des Gegners, welche unserem behaupteten Satze Abbruch thun sollen" 246 . Der Gegner aber ist nirgends anders als in uns selbst zu suchen, denn spekulative Vernunft ist in ihrem B 804! III, S. 506.

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Begründung d. kritischen Transzendentalphilosophie

transzendentalen Gebrauch an sich dialektisch. In der Philosophie hat die Hypothese eine dialogische Funktion: auf eine Hypothese des Dialogpartners kann man mit einer Gegenhypothese antworten, um ihn aus seiner dogmatischen Sicherheit zu bringen. Man wird sie vergessen, sobald man „den dogmatischen Eigendünkel des Gegners abgefertigt hat" 2 4 7 . Was die Disziplin der reinen Vernunft „in Ansehung ihrer Beweise" angeht, so ist zu bedenken, daß der Beweis der reinen Vernunft immer nur durch einen „einzig möglichen Beweisgrund", nicht durch viele geliefert werden kann: auch hier liegt der Fall in der Philosophie anders als in der Mathematik, in der für eine Behauptung verschiedene Beweise möglich sind. Der „Kanon der reinen Vernunft" müßte Inbegriff der Grundsätze a priori sein, die den richtigen Gebrauch der reinen Vernunft betreffen. Da es aber im spekulativen Felde keinen Gebrauch der reinen Vernunft gibt, müßte ein Kanon auf den praktischen Vernunftgebrauch übergreifen können. Im Bereich der praktischen Vernunft geht es nicht darum, was ist, sondern was sein soll. Sollen gibt es nur dort, wo Freiheit vorkommt: alles was mit der freien Willkür zusammenhängt, will Kant „praktisch" nennen 248 . Es ist ein Unterschied zwischen praktischer Freiheit und transzendentaler Freiheit zu machen: erstere kann „durch Erfahrung bewiesen werden": sie zeigt sich insofern, als wir Menschen z. B. die Fähigkeit haben, uns von unseren Instinkten und Begierden zu distanzieren und z. B. auf eine gegenwärtige Erfüllung eines Triebes um einer in der Zukunft zu erwartenden Erfüllung willen zu verzichten. B 809; III, S. 508. " B 830,- III, S. 521.

!» A. a. O., VI, S. 96. A. a. O., VI, S. 104

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Religionsphilosophie

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nomie, insofern von beiden Seiten her der Anspruch erhoben wird, das Richtmaß unseres Lebenswandels vorzustellen. In Wahrheit handelt es sich nur um verschiedene Perspektiven derselben praktischen Idee310, die einmal als bloß intelligible Wirklichkeit, das andere Mal als solche erkennbar wird, die auch in die Erscheinung fällt. Kant führt eine Art Kritik des religiösen Bewußtseins durch, indem er den selbstgewirkten sittlichen Standpunkt und seine Freiheit in Reinheit herausstellt, um sie vor der Verunreinigung durch das Spekulieren auf Gnadenwirkungen zu schützen. Im Zeichen der Geschichte des Kirchenglaubens, nicht des individuellen religiösen Bewußtseins, versucht Kant einen universalhistorischen Uberblick über die Geschichte des menschlichen Geschlechts zu geben, bei der es um einen beständigen Kampf zwischen dem „gottesdienstlichen" und dem „moralischen" Religionsglauben geht. In der Bibel wird vom Ende der Welt und der Aufrichtung des Reiches Gottes gesprochen. Diese Vorstellung bezeichnet Kant als „schönes Ideal". Wir können auf die Vollendung der Welt nicht als empirisches Geschehen absehen, sondern darauf nur „im continuirlichen Fortschreiten und Annäherung zum höchsten auf Erden möglichen Guten (worin nichts Mystisches ist, sondern alles auf moralische Weise natürlich zugeht) hinaussehen .. ,"311. Es kann am Ende nicht um die Herstellung eines äußeren Reiches in sichtbarer Gestalt gehen. Im letzten, vierten Stück, in welchem vom „Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Princips, oder von Religion und Pfaffenthum" die Rede ist, ist der Grundsatz maßgebend, daß alles dasjenige „bloßer Religions110 su

A. a. O., VI, S. 119. A. a. O., VI, S. 136.

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Begründung d. kritischen Transzendentalphilosophie

wahn und Afterdienst Gottes" sei, was der Mensch noch über seinen guten Lebenswandel hinaus glaubt tun zu können, „um Gott wohlgefällig zu werden". W e r es in einer religiös-opportunistischen Absicht auf die Einhaltung der „statutarischen Gesetze" statt auf die moralische Gesinnung abgesehen hat, der verwandelt den Dienst Gottes in ein bloßes „Fetischmachen und übt einen Afterdienst aus, der alle Bearbeitung zur wahren Religion rückgängig macht" 312 . Demnach muß auch das Beten, welches von Gott die Erfüllung einzelner Wünsche zu erreichen sucht, als abergläubischer Wahn (Fetischmachen) angesehen werden: denn Gott wird dadurch nicht gedient. Als wahrer Geist des Gebets kann nur der herzliche Wunsch angesehen werden, Gott in unserem Tun und Lassen wohlgefällig zu sein und unsere Handlungen durch eine Gesinnung begleiten zu lassen, durch welche sie als im Dienste Gottes geschehen aufgefaßt werden. Kant intoniert in seiner Religionsphilosophie ein auch für die moderne Theologie bestimmendes Thema: er unterscheidet den „Religionsglauben" als moralische, auf Grund seiner praktischen Vernunft gewonnene Verfaßtheit des „Herzens" von den objektiven bildhaften Inhalten, in welchen sich dieser Glaube vor-stellend objektiviert. Letztere seien dem geschichtlichen Stande der intellektuellen Bildung angepaßt und, als dem „Kirchenglauben" angehörend, wandelbar, während die Moralität unveränderlich ist. Im Gegensatz zur modernen Theologie ist nach Kant der objektive Einschlag im Bewußtsein der religiösen Existenz notwendig. Aber die aus der praktischen Vernunft selbst entspringenden objektiven Vorstellungen und Ideen, wie z. B. die der Existenz Gottes oder der Unsterblichkeit sind von denen zu unterscheiden, die der Kirchenglaube 111

A. a. O., VI, S. 179.

Religionsphilosophie

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statutarisch anbietet und verbindlich zu machen sucht. In religionsphilosophischen Passagen der Schrift: „Streit der Fakultäten" (1798) unterscheidet Kant zwischen notwendigen objektiven Vorstellungen der religiösen Vernunft und denen, die nur dem „Geschichtsglauben" angehören und „in Ansehung des Religionsglaubens als bloßes sinnliches Vehikel zwar (für diese oder jene Person, für dieses oder jenes Zeitalter) zuträglich" sein können, aber nicht „nothwendig" dazu gehören. Während die biblisch-theologische Fakultät auf Anerkennung auch dieser beiläufigen objektiven Inhalte als göttlicher Erfahrung Anspruch macht, übt die Philosophie an der dadurch geschehenen Vermengung von notwendigen und beiläufigen Objektivationen Kritik, indem sie nur diejenigen als notwendig begreift und rechtfertigt, durch welche die religiöse Vernunft ihre Wahrheit erkennt 313 . Damit hängen hermeneutisch-kritische Devisen Kants im Hinblick auf die Auslegung der Bibel zusammen. Eine Art Bibelkritik vom Standpunkt moralisch praktischer Vernunft aus hat die Devise zum Ergebnis, die Aussagen der Bibel im Sinne moralischer Sätze zu interpretieren. Wenn etwa die „Vorstellungsart" des Apostels Paulus Merkmale „der Schulbegriffe an sich trug, in denen er war erzogen worden" 314 , so muß seine Sprache unter Anleitung der Hermeneutik praktischer Vernunft in die Sprache der Moralität übersetzt werden. Es hat sich gezeigt: Das Denken der praktischen Vernunft ermöglicht es der Philosophie, in rein „praktischer Absicht" positive Aussagen über die Wirklichkeit der Freiheit, über die Seele und über Gott zu machen. Es ist jetzt der Blick zurück zu den Systemüberlegungen der Kritik der reinen Vernunft zu lenken und zu fragen, ob es nicht auch in der I1J 114

VII, S. 37. VII, S. 40.

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Begründung d. kritischen Transzendentalphilosophie

Wirklichkeit der Erscheinungen Tatsachen gibt, welche die Vernunft zu höheren System-leistungen herausfordern, als es im Bereich der exakten Naturwissenschaft der Fall ist. Erscheinungen solcher Art begegnen einerseits als ästhetischer Gegenstand (als Natursdiönes oder als Kunstschönes), andererseits als organische Lebensgestalt. In beiden Fällen spiegelt sich Vernunft in erscheinenden Gestalten als systembegründendes Prinzip. D. h.: im „ästhetischen" Gegenstand sowohl wie im Organismus schließt die Vernunft die Teile der jeweiligen Gestalt zu einem Ganzen zusammen, in welchem diese gegenseitig einander bedingen. Nicht eine von einem Punkte anfangende, in eine gerade Richtung hinauslaufende endlose Folge von kausalen Abhängigkeiten ist die dabei maßgebende Figur, welche den systematischen Zusammenhang in den Gestalten charakterisiert, sondern die in sich selbst zurücklaufende Linie, auf deren Verlauf jeder Punkt zugleich Anfang und Ende ist. Nicht der gesetzgebende Verstand, sondern die systembildende Vernunft vollzieht gedankliche Bewegungen, für die diese in sich verlaufende, den Charakter der Ganzheit begründende Figur charakteristisch ist. Auf diesem Wege wird ein Begriff von Natur und Erscheinungswirklichkeit in den Blick treten, der seinerseits die Basis für eine Philosophie der Geschichte und der Entwicklung des Menschen zu derjenigen Vollkommenheit abgeben soll, für welche ihn die Natur vorgesehen hat. In diesem Zusammenhang wird auch die „Anthropologie in pragmatischer Absicht" ihre Stelle finden. Hier beschreibt Kant die Stellung des Menschen in der menschlichen und natürlichen Welt und macht diejenige natürliche Anlage im Menschen sichtbar, deren „Kultur" das geschichtlich-wirkliche menschliche Geschlecht in die Verfassung zu bringen vermag, die von der Idee der Menschheit gefordert wird.

System und reflektierende Urteilskraft

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III. Weiterführung des transzendentalen Systemgedankens und die Vermittlung von Freiheit und Erscheinung A. Begründung der Ästhetik unter dem Gesichtspunkt der Theorie des Geschmacksurteils 1. System und leilektieiende Urteilskraft In den Darstellungen der Kantischen Philosophie ist es, wie auch naheliegend, üblich, die drei großen kritischen Werke: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781), Kritik der praktischen Vernunft (1788) und Kritik der Urteilskraft (1790) in einem geschlossenen Abschnitt zu behandeln. Dieses Verfahren entspricht auch demjenigen Selbstverständnis Kants, das er in der Erklärung zum Ausdruck gebracht hat, nach der Beendigung des „kritischen Geschäfts" an die Metaphysik heranzugehen. In dieser vorliegenden Darstellung aber soll doch ein etwas anderer Weg gegangen werden: nachdem im Abschnitt II eine vorwiegend strukturanalytische Darstellung der Gedankengänge der die theoretische Vernunft einerseits und die praktische Vernunft andererseits betreffenden kritischen Werke gegeben worden ist, soll jetzt in einem neuen Abschnitt eine Problematik aufgegriffen und deutlich sichtbar gemacht werden, welche auf den Weg eines neuen Begriffes von der Natur bzw. von der Erscheinung hinweist und das philosophische Denken in eine Richtung bringt, welche geradewegs auf die Begründung der Metaphysik und zuletzt auf die Gedankengänge des Opus postumum hinführt. Es ist das Prinzip des Systems, welches hier in eine zentrale Stelle rückt: im Zeichen dieses Prinzips mögen im folgenden auch die ästhetischen Überlegungen Kants vorwiegend dargestellt werden. Wie aus den über-

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Weiterführ, des transzendentalen Systemgedankens

legungen der transzendentalen Methodenlehre der Vernunftkritik hervorgeht, erweist sich die Vernunft selbst als „systematisch", insofern sie auszieht, um Gegenstände „draußen" zu erkennen, wobei der eingeschlagene Weg aber zuletzt zur Erkenntnis ihres eigenen Standes zurückführt. Diese gedankliche Bewegung von der Figur einer in sich zurückkehrenden Kurve versucht die Vernunft auch in den „Gegenständen" selbst zu entdecken, mit denen sie es erkennend zu tun hat, damit in diesen nichts „offen", ungeschlossen und somit unbewältigt bleibe. Wie sich im folgenden zeigen wird, spielt dabei die Überwindung des Zufalls durch eine überlegene, aus der Vernunft selbst heraus geleistete Einheit eine maßgebende Rolle. Der Begriff des Systems ist nach den Voraussetzungen der Kantischen Transzendentalphilosophie nicht statisch sondern „dynamisch" im Sinne des gewöhnlichen Sprachgebrauchs. Kant selbst orientiert den Systembegriff am Modell des Organismus: hier gibt es kein äußerliches Hinzusetzen, sondern jeder Zuwachs bedeutet zugleich eine Umformung der Struktur des Ganzen. Eine Art Stoffwechsel zwischen Innen und Außen findet statt, so daß nicht von einem ein für allemal vollendetem Ganzen die Rede sein kann, sondern sich eine dauernde Umgestaltung durch Hinzunahme (Synthesis) vollzieht. Das schon begegnete Prinzip, welches als dasjenige der „transzendentalen Bewegung" angesprochen wurde 3148 , setzt sich in der Verfolgung des Systembegriffes weiter fort. Die Vernunft ist systematischer Natur heißt, daß sie ihre Einheit und ihren Zusammenhang bis zu einer von der Transzendentalphilosophie erkannten Grenze herstellt. An dieser sieht sie sich vor Neues gestellt, welches sie in der Weise der bisher aufgebotenen Einheit nicht zu bewältigen vermag. Das beäl4a

Vgl. S. 142 ff.

System und reflektierende Urteilskraft

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deutet eine Herausforderung für sie, neue Mittel der Einigung aufzubieten. An der Stelle, an der jetzt die Darstellung angekommen ist, wird die reflektierende Urteilskraft ins Werk gesetzt, um neue bisher noch nicht mögliche Einheitsvollzüge herzustellen. So vollzieht die Vernunft eine Bewegung des dauernden Synthesierens durch Hinausgehen über Grenzen hinweg, um den systematischen W e g zum System zu gehen. Der Systemwille der philosophischen Vernunft will z. B. auch in den Leistungen, welche man in der philosophischen Disziplin behandelt, die „Ästhetik" heißt, das Systemprinzip insofern am Werke sehen, als sie die noch in der Vernunftkritik unüberbrückbar scheinende Kluft zwischen Erscheinung und Idee im Interesse einer einigenden Durchdringung der Erscheinung durch die Vernunft zu überwinden sucht. Eine Formel, wie die der „Freiheit in der Erscheinung" ist für die Sache bezeichnend, um die es hier geht. Das Interesse an der Ästhetik findet bei Kant seine Motivation nicht primär darin, daß die menschliche Existenz der Kunst als eines Auswegs aus einer dürftig gewordenen Welt bedarf. Vielmehr wirkt das Interesse der philosophischen Vernunft dahin, in der „Ästhetik" zu begreifen, daß die aus der Vernunft geborene und die Vernunft repräsentierende „Idee" die Erscheinungen zu durchdringen vermag. Dieses Programm hat bei dem Übergang von der Schulphilosophie und ihrer Ästhetik zu den transzendentalphilosophischen Ansätzen Kants eine besondere Schärfe gewonnen, denn Kant faßt das „ästhetische", der Sinnlichkeit angehörende Auffassen der Erscheinungen nicht, wie etwa noch Baumgarten, als eine gegenüber der intellektuellen Erkenntnisweise niedere Form des Erkennens auf. Vielmehr sieht er das sinnliche Auffassen als ein Charakteristikum der menschlichen Erkenntnissituation und der ihr entsprechenden Weltperspektive an. Die sinnliche

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Weiterführ, des transzendentalen Systemgedankens

Anschauung rangiert in seinem Ansatz als gleichberechtigte Erkenntisquelle neben Verstand und Vernunft, statt nur Denken niederen Grades zu sein und gegenüber dem Verstand schwächere Erkenntnisleistungen bieten zu können. Gerade wegen dieser selbständigen Bedeutung der ästhetischen Erkenntnisquelle, die nicht nur ein Defizit an Verstand, sondern eine selbständige Instanz gegenüber dem Verstände bedeutet, muß Kant in seiner Transzendentalphilosophie besondere philosophische Anstrengungen unternehmen, um die systematische Einheit von Vernunft (bzw. Verstand) und Sinnlichkeit, von Logik und Ästhetik zu erweisen. Der zu dieser Einheit führende W e g soll zunächst im Bereich der Theorie des ästhetischen Geschmacks sowie der künstlerischen Produktion verfolgt werden. In der Kritik der reinen Vernunft hatte sich gezeigt: das philosophische Programm, systematische Einheit des philosophischen Begriffs herzustellen, muß auch als Devise für die „Urteilskraft" formuliert werden, deren Aufgabe es ist, das Besondere unter das Allgemeine zu subsumieren und die Vielheit des Wirklichen zur Einheit des Begriffs zu bringen. In der Vernunftkritik ist von der „bestimmenden" Urteilskraft die Rede: durch sie erweist sich der gesetzgebende Verstand als fähig, Allgemeines in der Form z. B. allgemeiner Naturgesetze zu denken, um dadurch das Besondere, Empirische zu „bestimmen". Der Verstand „bestimmt" die Natur dadurch, daß er ihre Erscheinungen unter die Form seiner Gesetzgebung bringt. Aber die Vernunft muß die Erfahrung machen, daß sie auf diesem W e g zum System, auf welches sie es abgesehen hat, nicht kommen kann, weil es ihr nicht gelingt, den Zufall radikal zu überholen und absolute Notwendigkeit und Einheit herzustellen. Der Zufall begegnet im Rahmen der genötigten (gefesselten) Natur folgendermaßen: zwar sind die allge-

System und reflektierende Urteilskraft

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meinen Naturgesetze ein System, das sich zur notwendigen Einheit möglicher Erfahrung a priori zusammenschließt. Aber die den Bereich der „wirklichen" Erfahrung ausfüllenden „besonderen" Gesetze der Natur fügen sich nicht notwendig, sondern zufällig zu umfassenderen Einheiten zusammen. Es ist z. B. Zufall und keine vom Verstand verbürgbare Notwendigkeit, daß sich z. B. das erste Keplersche Gesetz, welches die elliptische Figur der Planetenbewegungen behauptet, unter ein allgemeineres Gravitationsgesetz fassen läßt, dem auch der fallende Stein Galileis unterworfen ist. Unter diesen Umständen muß das Zustandekommen systematischer Einheit der Erfahrung als zufällig angesehen werden. Da es nicht auf ein „Aggregat", sondern auf ein systematisches „Ganzes" der Erfahrung ankommt, muß die Vernunft ein subjektives Prinzip in Kraft setzen; sie folgt der Maxime ihrer Urteilskraft, die Natur so zu beurteilen, „als ob" sie von sich aus und aus freien Stücken dem Systembedürfnis unseres Denkens entgegenkommen würde. Das heißt: Urteilskraft muß, ihre Fähigkeiten der Bestimmung und Subsumption des Mannigfaltigen unter allgemeine Gesetze noch überbietend, sich zur Maxime machen, die Natur nach dem Prinzip durchgängiger Zweckmäßigkeit zu beurteilen und sie als Bereich hinzunehmen, der sich aus freien Stücken als gegenständliches systematisches Spiegelbild der Vernunft selbst zeigt. Es ergeben sich auf diese Weise Einigungsaufgaben für die „reflektierende" Urteilskraft. Diese unterscheidet sich von der „bestimmenden" dadurch, daß sie nicht wie diese das Allgemeine vor-schreibt, um dazu das Besondere zu suchen: vielmehi sucht sie im Besonderen durch Reflexion Allgemeines zu finden. Es ist ein „Geheiß unserer Urtheilskraft, nach dem Princip der Angemessenheit der Natur zu unserem Erkenntnißvermögen zu verfahren . . ," 315 . 115

Kritik der Urteilskraft, Einleitung, i n : V , S. 188.

270

Weiterführ, des transzendentalen Systemgedankens

Da sind zunächst die Gegenstände der Beurteilung durch den „Geschmack". Im Geschmacksurteil als dem Zusammenspiel unserer Erkenntnisvermögen können wir z. B. die Gebilde der schönen Kunst angemessen beurteilen. Damit beschäftigt sich die „ästhetische" Urteilskraft, die das „Vermögen" ist, die „formale Zweckmäßigkeit (sonst auch subjective genannt) durch das Gefühl der Lust oder Unlust . . . zu beurtheilen". Davon ist die „teleologische" Urteilskraft zu unterscheiden, welche die objektive, „reale" Zweckmäßigkeit in der Natur durch Verstand und Vernunft zu beurteilen hat. Die ästhetische Beurteilung von Erscheinungen im Hinblick auf unser Erkenntnisvermögen durch den „Geschmack" läßt es offen, ob sich die subjektive Zweckmäßigkeit an mechanischen Naturereignissen wie einem Kristall oder an einem Gebilde der Kunst findet. Die teleologisch gebrauchte Urteilskraft aber ist sich einer Verstandesregel bewußt, nach der sie, die zweckfreien Zusammenhänge der mechanischen Natur überbietend, die Naturgebilde als zweckmäßig zu beurteilen vermag. Daß dabei „Zweckmäßigkeit" ins Spiel kommt, hat seinen Grund darin, daß Einheit der Natur oder ihrer Gebilde nur dann als systematisch angesehen werden kann, wenn sie nicht als Zusammensetzungen von Teilen, sondern als Ganze beurteilt werden, bei denen ein Teil um des anderen willen funktioniert, so daß seine Funktion gleichsam kreisförmigteleologisch auf sich selbst zurückweist. 2. Analytik

des Schönen

In der „Analytik des Schönen" 316 , die am Leitfaden der Kategorien Qualität, Quantität, Relation und Modalität entwickelt wird, werden vier „Erklärungen" des „Schönen" gegeben. Im Zeichen der Qualität betrachtet muß der GeM

« Kritik der Urteilskraft, 1. Teil, 1. Abschnitt, 1. Budi in: V, S. 203 ff.

Analytik des Schönen

271

schmack als „Beurtheilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen oder Mißfallen, ohne alles Interesse" als maßgebend angesehen werden. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heiße schön317. Durch die Interesselosigkeit des Wohlgefallens unterscheidet sich das Geschmacksurteil von demjenigen, welches das „Angenehme" zum Gegenstand hat ebenso wie von dem Urteil über das moralisch Gute. Angenehm sei das, was „vergnügt", schön sei das, was bloß „gefällt", gut aber dasjenige, was „geschätzt" bzw. gebilligt wird. Das Wohlgefallen des Geschmacks ist als uninteressiertes ein „freies" Wohlgefallen: hier ist nicht Neigung wie im Falle des Angenehmen oder Achtung wie im Falle der Moral, sondern nur „Gunst" maßgebend. Freiheit in diesem Verstände folgt aus Interesselosigkeit, insofern alles Interesse Bedürfnis voraussetzt oder hervorbringt, so daß dieses „als Bestimmungsgrund des Beifalls" das Urteil über den Gegenstand nicht mehr frei läßt. Betrachtet man das Geschmacksurteil seiner Quantität nach, so ergibt sich die zweite Definition des Schönen: „Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt" 318 . Es gibt allgemeine Kriterien für Schönheit der Gegenstände: das hat seinen Grund darin, daß uns der schöne Gegenstand in den Zustand eines „freien Spiels der Erkenntnißvermögen" versetzt. Wenn wir z. B. die Wohlproportioniertheit eines Hauses schon durch die Anschauung zu „sehen" vermögen, so daß wir anschauend Verhältnisse auffassen, die sonst nur vom Verstände in isolierter Arbeit begriffen werden können, und wenn umgekehrt unser Denken sofort in Anschauung der erscheinenden Gestalt übergeht, dann befinden wir uns im Zustand eines freien 317 318

A. a. O., S. 209 ff. A. a. O., S. 219.

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Weiterführ, des transzendentalen Systemgedankens

Spiels der Erkenntnisvermögen, welches allgemeinen und gemeinsamen Regeln folgt. So ist ein Geschmacksurteil allgemein mitteilbar, wenngleich nicht nach Begriffen beweisbar, weil es Ausdruck eines bloßen Zustandes, aber nicht objektiver Vorstellung ist. Die in diesem freien Spiel erfahrene Lust ergibt sich aus der freien Harmonie unserer Erkenntnisvermögen. Wir muten ein Urteil z. B. über die Schönheit eines Gegenstandes auch anderen zu, „als ob" es beweisbar wäre wie im begrifflichen Bereich. Gleichwohl hat begrifflich-theoretische Objektivierung hier nichts zu suchen. Ein Unterschied ist noch zu bedenken: wir müssen freie Schönheit von bloß „anhängender Schönheit" unterscheiden. Blumen sind z. B. freie Naturschönheit: das Urteil über ihre Schönheit kann durch die Begriffe der biologischen Wissenschaft weder befestigt noch widerlegt werden. Anhängende, aber nicht freie Schönheit findet sich in solchen Gebilden, die einem Zweck dienen (Kirche, Palast, Arsenal oder Gartenhaus). Kant rechnet auch die Schönheit eines Menschen hierzu, insofern der schöne Mensch insbesondere Darstellung des absoluten Zweckes der Menschheit sei. Die Kategorie der Relation ergibt die dritte Erklärung des Schönen, wonach es die Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes ist, sofern diese ohne Vorstellung eines Zweckes an ihm wahrgenommen wird. Daß es beim Schönen nicht auf empfundene Inhalte, sondern auf die Form und Proportion dieser Inhalte ankommt, wird in dieser Erklärung des Schönen deutlich, derzufolge Schönheit die Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes ist. Alles Einzelne an einem Kunstwerk fügt sich zweckmäßig in das Ganze ein, ohne daß an ihm vom ästhetischen Standpunkt her ein besonderer Zweck inhaltlich zu begreifen wäre. Dem entspricht die Formel: „Zweckmäßigkeit ohne Zweck". Dem entspricht das erwähnte freie

Das Erhabene

273

Spiel der Erkenntniskräfte, welches den ästhetischen Lustzustand begründet. Eine Farbe oder der Ton einer Violine können nicht als schön gelten, wenn sie nur als Empfindungsinhalte in Frage kommen: vielmehr gehört zur Schönheit immer die Form. Schließlich ergibt die Modalität folgende Bestimmung der Schönheit: „Schön ist, was ohne Begriff als Gegenstand eines nothwendigen Wohlgefallens erkannt wird" 319 . Da die Einbildungskraft im Bereich des Ästhetischen nicht durch Begriffe bestimmt ist, gleichwohl aber von sich aus frei den Regeln des Verstandes gemäß verfährt, findet eine „Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz" statt. Es besteht eine „subjective Übereinstimmung der Einbildungskraft zum Verstände ohne eine o b j e c t i v e . . ."320. An den schönen Gebilden ergibt sich Gesetzmäßigkeit, Einheit und Ubersicht, ohne daß diese objektiv beabsichtigt worden wären. 3. Das Erhabene Vom Schönen unterscheidet Kant das Erhabene, welches er in das Mathematisch- und das Dynamisch-Erhabene einteilt. Während beim Schönen Übersichtlichkeit, Abgeschlossenheit und Proportionalität maßgebend sind, geht das Erhabene über alles Maß hinaus. Im mathematischen Sinne erhaben ist z. B. dasjenige, mit welchem verglichen alles andere klein ist und „was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüths beweiset, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft"321. Auf diese Weise kommt das „Unendliche" ins Spiel: bezieht sich die Einbildungskraft in der Beurteilung des Schönen auf den „Verstand", so wird im Bereich des Erhabenen die Vernunft mit ihren Ideen maß>'» A. a. O., S. 240. 520 A. a. O., S. 241. 311 Kritik der Urteilskraft. 1. Teil, 1. Abschnitt, 2. Buch in: V, S. 250. Kaulbadi, Immanuel Kant

18

274

Weiterführ, des transzendentalen Systemgedankens

gebend, in denen es auf Unbedingtheit und Unendlichkeit ankommt. Dementsprechend geht auch das DynamischErhabene über alles gewöhnliche endliche Maß hinaus: es begegnet uns z. B. in der Form übermächtiger Naturgewalten. Durch das Erhabene werden wir veranlaßt, die über unsere gewohnten Maßstäbe hinausgehende Größe der Natur (etwa den Sternenhimmel) als Darstellung von Ideen zu denken. Kant leistet auch eine Art von Deduktion, d. h. Rechtfertigung ästhetischer Urteile. Als erste Eigentümlichkeit des Geschmacksurteils begegnet dabei, daß es einen Anspruch auf die Beistimmung von jedermann erhebt, „als ob es objectiv wäre" 322 . Gleichwohl ergibt die zweite Eigentümlichkeit, daß es nicht durch Beweis begründbar ist, gleich „als ob es bloß subjecliv wäre" 323 . Die Ubereinstimmung in der Beurteilung eines Kunstwerks im Zeichen objektiver Maßstäbe kann nicht, wie etwa die Zustimmung zum Ergebnis mathematischer Beweise, auf dem Wege begrifflich notwendiger Ableitung erreicht werden, sondern wird einer freien Übereinstimmung der Subjekte verdankt. 4, Theorie

der Kunst und des

Genies

Kunst wird von der Natur, wie Tun vom Handeln bzw. Wirken überhaupt, und das Produkt der Kunst wird als „Werk" von dem durch Natur Hervorgebrachten, der „Wirkung", unterschieden 324 . Das Schöne begegnet in beiden Bereichen. Da schöne Gebilde subjektiv-zweckmäßig sind, ohne daß man einen begrifflichen Zweckinhalt an ihnen zu erkennen hat, erweckt das Produkt der schönen Kunst den Schein, als ob es ein Ergebnis der freien Natur wäre, wie

S!3 3!1

A. a. O., S. 281. A. a. O., S. 284. A. a. O., S. 303 f.

275

Theorie der Kunst und des Genies

auch die Natur schön war, „wenn sie zugleich als Kunst aussah" 325 . Das die schönen Gebilde produzierende Subjekt handelt ebensowenig nach der Regel eines Begriffs, wie das Geschmacksurteil nach vorgestellten Regeln verfährt: die künstlerisch produzierende Kraft verfährt nicht am Leitfaden vorgestellter Regeln, sondern erweist sich als Wirklichkeit, die von sich aus frei der Gesetzmäßigkeit der Natur genügt. Dabei tritt das „Genie" auf den Plan, welches die Rolle der freien Natur selbst vertritt. Es ist ein angeborenes produktives Vermögen des Künstlers, welches „selbst zur Natur gehört". Daher ist es die „angeborne Gemüthsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel giebt" 326 . Seine Tätigkeit könne nicht in Nachahmung, auch nicht derjenigen der Natur bestehen: denn es produziert exemplarische Gebilde, an denen Regeln für „nachahmendes" Tun abzunehmen sind. So erklärt sich Geschmacks- und Stilbildung. In diesem Zusammenhang begegnet das Wort: Geist, insofern das Genie als die Wirklichkeit der die schönen Werke hervorbringenden Vernunft begegnet, die in äußeren Produkten ihren „Ausdruck" findet (§ 49). Das Genie enthält Einbildungskraft und Verstand, aber beides zu einer produktiven Wirklichkeit vereinigt: es erweist sich als „Geist", nicht nur als theoretische Vernunft. Geist wird hier als eine Art freier Naturwirklichkeit verstanden, welche über die Kraft des Ausdrucks in Sprache, Mimik, Bild, Musik usf. verfügt. Von hier aus ergibt sich bei Kant der Ansatz der späteren romantischen Rede vom „Geist in der Natur". Zum Genie gehört schließlich auch „Geschmack", der formend und disziplinierend wirkt. J!S S! »

A. a. O., S. 306. A. a. O., S. 307. 18*

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Weiterführ, des transzendentalen Systemgedankens

Auf die ästhetische Erörterung des Wortes „Geist", dem Kant in den „Träumen" den realen Sinn abgesprochen hatte, mag noch einmal der Blick gelenkt werden. Kant versucht, den philosophischen Sinn dieses Wortes festzuhalten, welches er zunächst in Wendungen des alltäglichen Sprechens auftreten läßt. Von einer Frau oder einem Mann „von Geist" spricht man im Falle eines Menschen, der in kurzen prägnanten Aussagen einen Reichtum von Bedeutungen zu vergegenwärtigen vermag. Andererseits könne es von einem Gedicht z. B. heißen, daß es nett und elegant sei, aber „ohne Geist". Eine feierliche Rede könne gründlich und zugleich zierlich ausfallen, aber „ohne Geist". Geist heiße das belebende Prinzip im Gemüt, sofern man das Wort in ästhetischer Bedeutung nimmt. Durch eine geistreiche Rede werde das Gemüt in ein solches Spiel gebracht, „welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt" 327 . Es handle sich dabei um das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen. Eine ästhetische Idee sei eine derartige Vorstellung der Einbildungskraft, die nicht durch einen bestimmten umgrenzten Begriff bzw. einen endlichen Gedanken gedacht und ausgeschöpft werden kann. Genie sei das Vermögen, solche vom Verstände mit seinen bestimmten Begriffen unausschöpfbaren ästhetischen Ideen darzustellen. Es ist nicht bloß vor-stellende Funktion wie der Verstand, sondern hervorbringende, im Verhältnis zu den geregelten Begriffen des Verstandes unendliche Kraft. Sie ist freie Natur im Subjekt und zugleich ideenbegründende Vernunft. Die Kraft des Genies bringt die in ihm selbst angelegte systematische Einheit in den von ihr produzierten Werken zum Ausdruck. Da das Genie die Wirklichkeit ist, in der sich Natur und IdeenVernunft vereinigen, erweist es sich als „Geist". Geist wird J

" V, S. 313.

Theorie der Kunst und des Genies

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als eine Art freier Naturwirklichkeit in der Vernunft des künstlerisch produzierenden Subjekts verstanden, welches sich in Sprache, Mimik, Bild, Musik usw. zum Ausdruck bringt. In der Dialektik der ästhetischen Urteilskraft begegnet eine Antinomie, deren Thesis lautet, daß sich das Geschmacksurteil nicht auf Begriffe gründe, weil man in diesem Bereich durch Beweise nicht entscheiden könne. Die Antithesis besagt, daß sich dieses Urteil gerade auf Begriffe gründe, denn sonst könnte man darüber nicht einmal streiten 328 . In der Auflösung ergibt sich, daß hier jeweils verschiedene Arten von Begriffen gemeint waren: es kann sich freilich in diesem Bereiche um keinen theoretischen Begriff handeln, der einen Beweis begründen könnte. Aber ein reiner Vernunftbegriff kommt hier ins Spiel 329 , dessen Ausdruck die Erscheinung des schönen Gegenstandes ist. Demgemäß unterscheidet sich auch die auf dem Verstandesschema beruhende Konstruktion von der symbolischen Darstellung der Vernunftideen. Der Verstandesbegriff eines Dreiecks realisiert sich dadurch, daß er in der Anschauung am Leitfaden der in ihm enthaltenen Konstruktionsregel dargestellt wird. Symbolische Darstellung aber ist nur eine Anweisung für das Verfahren der reflektierenden Urteilskraft: sie verfährt nach der Analogie, indem sie die Urteilskraft dazu anleitet, z. B. einen despotisch geführten Staat so zu beurteilen, wie eine „Handmühle" 330 , während sie z. B. als symbolische Darstellung eines freien Gemeinwesens das Bild eines „beseelten Körpers" wählen könnte. Kritik der Urteilskraft, 1. Teil, 2. Abschnitt, in: V, S. 338 f. A. a. O., S. 340. ° A. a. O., S. 352.

321 JI

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Weiterführ, des transzendentalen Systemgedankens 5. Kritik der teleologischen

Uiteilskralt331

In der Natur begegnen „schöne Formen": d.h. sie zeigt sich „in ihren besonderen Gesetzen" als für unsere Urteilskraft faßlich. Sie erweist sich als subjektiv zweckmäßig und scheint in ihren „schönen" Gebilden so beschaffen zu sein, „als ob" sie für unsere Erkenntniskräfte angelegt wäre. Als zweckmäßiges Ganzes repräsentiert eine schöne Naturgestalt ein in sich geschlossenes System, in welchem besondere Erfahrungen der Natur zusammengefaßt sind. Reflektierende Urteilskraft aber vermag auch den Gedanken einer objektiven Zweckmäßigkeit in der Natur zu denken. Der Zweck ist Einigungsprinzip für eine Mannigfaltigkeit von Mitteln, die auf ihn hingeordnet sind: Dabei kommt eine dichtere, die Lücken des Zufalls ausfüllende Einheit zustande, als die gesetzliche Verbindung ist, die der Verstand in der mechanischen Natur herstellt. Daher gehören Zweck und System zusammen. Reflektierende Urteilskraft denkt die Natur als systematisch verfaßt, indem sie diese so beurteilt, „als ob" sie technisch planvoll angelegt wäre. Die Idee der Zweckmäßigkeit kann aber nur als Regel für die Urteilskraft gelten, nach der die Vernunft im Zeichen ihres eigenen Einheitshaushaltes die Natur so beurteilt, „als ob" sie vollständige systematische Einheit wäre. Systematik kann nur im Zeichen der Produktionsidee entwickelt werden, insofern Produzieren eine einigende Bewegung ist, in der Hervorbringendes und Produkt zu einem einigen Ganzen zusammengehen. Damit aber ein Gebilde Systemcharakter zu repräsentieren vermag, darf es nicht nur relative, äußere Zweckmäßigkeit zeigen: d. h., es darf nicht als Mittel zu einem von ihm verschiedenen Zweck auftreten. Vielmehr muß es als „innere" Zweckmäßigkeit existieren: d. i. als diejenige, D. i . : Kritik der Urteilskraft, 2. Teil, in: V , S. 357ff.

Kritik der teleologischen Urteilskraft

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derzufolge alles in einem Gebilde Mittel iind Zweck zugleich ist. Daraus resultiert auch das Prinzip des „Organs": denn in „einem solchen Producte der Natur wird ein jeder Theil so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existirend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht" 332 . Damit aber ganz deutlich werde, daß es sich hierbei um ein Gebilde der Natur handelt, muß noch hinzugesetzt werden, daß jedes Organ als ein die anderen Teile hervorbringendes Organ (Produktion) aufgefaßt werden muß. Solch ein Produkt muß, da es organisiertes und zugleich sich selbst organisierendes Wesen ist, als ein Naturzweck angesprochen werden können. Es ist als bedeutsam festzuhalten, daß der Begriff der Produktion im engsten Verbände mit demjenigen des Systems und der Organisation auftritt: Produzieren ist Hervorbringen des einen Teiles durch den anderen im Rahmen eines Systems, welches auf diese Weise als Ganzes selbst produziert wird. Ein organisiertes Wesen sei nicht bloß Maschine, die lediglich bewegende Kraft hat: vielmehr besitzt es in sich „bildende" Kraft, die den Materien, die sie noch nicht haben, mitgeteilt wird (Organisation). Die organisierenden, bildenden Kräfte durchdringen im Gegensatz zu den bewegenden Kräften die Materie und bringen Einigung des Durchdrungenen zu je einer Gestalt zustande. Die Maxime der Beurteilung der inneren Zweckmäßigkeit organisierter Wesen, welche sich Vernunft selbst auferlegt, hat den Inhalt: daß ein organisiertes Produkt der Natur als dasjenige beurteilt werden muß, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Durch diesen Grundsatz, den sich Vernunft bei ihrer Beurteilung der Natur auferlegt, ist es ihr möglich, in der Natur systematische Notwendigkeit zu denken. Nichts ist demgemäß in der Natur umsonst und geschieht von ungefähr. Es ist von JI!

A . a. O . , S. 373.

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Weiterführ, des transzendentalen Systemgedankens

einer „absoluten Einheit" der Vorstellung die Rede 333 . Auch der Begriff des systematischen Ganzen begegnet: es entspricht einer in sich zurücklaufenden gedanklichen Figur. So bringt z. B. der Baum die Blätter hervor, die ihrerseits wieder als Organe zur Reproduktion und Forterhaltung des Baumes fungieren. Die dabei maßgebende Prozeßfigur ist diejenige der in sich zurücklaufenden Kurve: das erinnert an gegenwärtige Überlegungen über kybernetische Steuerungsvorgänge. Lebendiges muß von der Vernunft der reflektierenden Urteilskraft überantwortet und im Zeichen von Bildung, Organisation, System und Produktion gedacht werden. Reflektierende Urteilskraft ist ein bloß subjektives Prinzip und soll zum „zweckmäßigen Gebrauche der Erkenntnißvermögen, nämlich über eine Art Gegenstände zu reflectiren", dienen 334 . In der „Dialektik" der teleologischen Urteilskraft geht es darum, daß die Ideen der reflektierenden Urteilskraft in ihrer richtigen Bedeutung verstanden werden: d. h. sie können nur als regulative, aber nicht als konstitutive Grundsätze auftreten. Verstehe ich z. B. die Aussage, daß alle Erzeugung materieller Dinge und ihrer Formen als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurteilt werden muß, und auch deren Gegensatz, daß einige Produkte der materiellen Natur nicht als nach bloß mechanischen Gesetzen beurteilt werden können, im Sinne bestimmender konstitutiver Urteilskraft, dann ergibt sich ein Widerspruch. Folgt mein Reden aber der richtigen Hermeneutik der reflektierenden Urteilskraft, dann wird dieser Widerspruch behoben. Die Aussage, daß Produkte der Natur ihrer Möglichkeit nach teleologisch beurteilt werden sollen, ist von derjenigen unterschieden, daß sie nur als teleologische möglich „sind". Behaupte ich die mechanische Verfassung A. a. O., S. 377. >" A. a. O., S. 385.

Der Begriff des Endzwecks der Natur

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der Natur, dann muß kein Widerspruch zu der Aussage entstehen, daß bei einigen Naturformen ein Prinzip als Leitfaden der Beurteilung zu wählen ist, welches nicht dem Mechanismus, sondern der Idee der Endursachen verpflichtet ist. Der Widerspruch wird vermieden, wenn ich letztere Aussage nur im Sinne der Beurteilung, nicht des Ist-sagens begreife. Der Begriff einer Technik der Natur nach Endursachen kann nicht dogmatisch behandelt werden. Man kann über ihn nicht in der Form der Ist-Aussagen reden, vielmehr steht die Hermeneutik dieses Redens im Zeichen des „als ob". Daher gehört die Teleologie als Wissenschaft zu keiner „Doctrin", sondern nur zur „Kritik", und zwar derjenigen der Urteilskraft 335 . Sie muß im Zeichen kritischtranszendentaler Stand-punktüberlegung stehen. Im Felde der Begriffe: Produktion, innere Zweckmäßigkeit, absolute Einheit begegnet auch der Begriff: „Individuum" 338 . Charakteristisch für das Individuum ist, daß es die Stoffe, die es aufnimmt, mit seiner eigenen Einheit durchdringt und zu seinem eigenen macht, so daß es in der Weise als „unteilbar" ( = in-dividuum, griech.: mofiav ) angesehen werden muß, als es in jedem einzelnen Teil als Ganzes gegenwärtig ist. Es ist sein eigenes Produkt. Zugleich auch zeigt es Selbständigkeit und Unabhängigkeit von anderen und erweist sich als einmalig. Da es ein sich selbst erzeugendes Prinzip darstellt, darf es „Originalität" für sich in Anspruch nehmen. 6. Der Begriff des Endzwecks Geschichtsphilosophie

der

Natur:

Das Naturprodukt, welches zugleich auch Selbstzweck ist, muß als „Endzweck" der Natur angesehen werden, weil es J5i

A. a. O., S. 417. A. a. O., S. 371.

282

Weiterführ, des transzendentalen Systemgedankens

der Reihe derjenigen Wesen ein Ziel setzt, die nur als Mittel existieren. Diese Stelle des Endzwecks nimmt der Mensch in der Natur ein. In diesem Zusammenhang umschreibt Kant den kategorialen Rahmen, innerhalb dessen seine Geschichtsphilosophie zu entwickeln ist. Natur hat dem Menschen die Erfüllung der Glückseligkeit und die „Cultur" seiner Anlagen zur Aufgabe und zum Zweck gemacht. Kultur ist die „Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit)" 337 . Durch kulturelle Bearbeitung werden die für die moralischen Zwecke tauglichen Naturanlagen im Menschen „gebildet". In diesen Überlegungen ist eine Geschichtsphilosophie angelegt, die als Erweiterung der teleologischen Urteilskraft anzusehen ist. Nur in einer bürgerlichen Gesellschaft kann die „größte Entwicklung der Naturanlagen" geschehen. Diese selbst fordert hinwiederum ein „weltbürgeiliches Ganze, d. i. ein System aller Staaten, die auf einander nachtheilig zu wirken in Gefahr sind". Solange dieses Ziel nicht erreicht wird, ist der Krieg unvermeidlich. Der Endzweck ist unbedingt, insofern er keines anderen Zweckes als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf 338 . Er nimmt die Stelle des Endes auf der Skala der Naturzwecke ein. Das ist nur möglich, insofern er sich auf ein außerhalb der Natur selbst stehendes absolutes Prinzip, dasjenige der Freiheit, gründet. Er ist nicht Zweck innerhalb der Naturbildungen, sondern umfaßt das „Dasein einer Welt", d. i. der Schöpfung selbst. Es wird notwendig, zwischen den einzelnen Zwecken innerhalb der Natur und dem Endzweck der Natur im Ganzen zu unterscheiden: Geht man von Gedanken der einzelnen Zwecke zu demjenigen des Welts

" A. a. O., S. 431. A. a. O., S. 434.

158

Der Begriff des Endzwecks der Natur

283

Urhebers über, dann befindet man sich im Bereich der „Physikotheologie". Der „Ethikotheologie" 339 dagegen kommt es darauf an, im Zeichen des Begriffs der Schöpfung der Welt im Ganzen und ihres Endzwecks, der seinerseits auf der Idee der Freiheit beruht, sowohl die Verfassung der Natur wie auch die Eigenschaft des Schöpfers zu erörtern. In diesem Bereich wird Natur im Zeichen der moralischen Zweckbestimmung „gewisser Wesen in derselben" betrachtet. Dadurch wird die Aufmerksamkeit auf die Zwecke der Natur gelenkt und auf die hinter ihren Formen verborgen liegende unbegreiflich große Kunst, den Ideen, „die die reine praktische Vernunft herbeischafft, an den Naturzwecken beiläufige Bestätigung zu geben" 340 . Die Vernunft sieht es a priori als Grundsatz ihrer von den praktischen Ideen her bestimmten reflektierenden Urteilskraft an, die Schöpfung unter dem Gesichtspunkt nicht bloß der allgemeinen Naturgesetzlichkeit, sondern auch einer moralischen Gesetzlichkeit zu beurteilen, insofern der Endzweck der Schöpfung der Mensch ist, der unter moralischen Gesetzen der Freiheit steht. Freiheit kommt in der menschlichen Existenz als außerhalb der Natur liegendes Prinzip zur Geltung 341 . Der Gedanke mündet in den moralischen Nachweis der Existenz Gottes ein: Gott tritt als Instanz auf, welche nötig ist, um zwei so heterogene Gesetzgebungen und Prinzipien wie diejenigen des moralischen Endzwecks und der Natur miteinander zu verbinden und den Gedanken einer physischen Möglichkeit der Realisierung moralischer Zwecke zu begründen. »» A. a. O., S. 442 ff. J 4 ° A. a. O., S. 445. 3 4 1 Der Freiheit der teleologischen Natur werden dadurch Schranken gesetzt, welche allein maßgebend beim Ingangkommen menschlicher Geschichte zu sein scheinen. In der „vernünftigen" Freiheit des Menschen tritt der Naturtreiheit eine ihr durch ihren Absolutheitscharakter überlegene Instanz gegenüber. Dadurch wird der Naturalismus des geschichtsphilosophischen Ansatzes Kants eingeschränkt.

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Weiterführ, des transzendentalen Systemgedankens

Der Gedanke eines Zweckes innerhalb der Natur und derjenige eines umfassenden Endzweckes der Natur überhaupt treten in eine dialektische Spannung zueinander, welche auch als diejenige zwischen Freiheit der produzierenden Natur und Freiheit des vernünftigen Wesens Mensch interpretiert werden kann. In diese Spannung stellt Kant methodisch und inhaltlich seine geschichtsphilosophischen Überlegungen. In seiner ersten geschichtsphilosophischen Abhandlung beschreibt er den Gang der Geschichte zunächst „am Leitfaden physischer Verhältnisse". Es ist hier von einer Natur die Rede, der es um die Realisierung von „Absichten" geht 342 . Hier zeigt sich die Vernunft in der Gestalt ihrer reflektierenden Urteilskraft in der Lage, auch das Tun und Lassen der Menschen in den Gang einer Natur einzubeziehen, die als planmäßig, absichtlich und zusammenhängend zu beurteilen ist. In dieser Perspektive gesehen begegnet Natur dem vernünftigen Subjekt als Bereich freiwilliger Ordnung und Zweckeinheit. Da man bei Menschen und ihrem Spiel im Großen keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann, müsse es die Vernunft versuchen, ob sie nicht eine „Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne" 343 . So sieht sich das geschichtsphilosophische Denken dazu veranlaßt, einen Übergang von der mechanischen, gefesselten Natur zur Natur freiwilliger Zweckordnung zu machen. Kant spricht in der Sprache der freien Natur, wenn er in der Geschichte eine „Natur" solcher Art am Werke sieht, die ihre Geschöpfe mit Anlagen ausstattet, welche ausgebildet und zweckdienlich eingesetzt werden sollen. Der Mensch wird in dieser Sprache als Tier angesprochen, 3(8 Vgl. meine Abhandlung: Der Zusammenhang zwischen Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie bei Kant, Kant-Studien, 56. J a h r g . (1966), S. 430 ff. s " Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlidier Absicht (1784), in: VIII, S. 15—31; Zitat: S. 18.

Der Begriff des Endzwecks der Natur

285

welches Vernunft hat. Alle Naturanlagen eines Geschöpfes seien bestimmt, „sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln"344. Auch Vernunft als Naturanlage müsse vom menschlichen Geschlecht vollständig ausgebildet und in einer die Tradition und Kommunikation einschließenden Entwicklungsgeschichte über die Generationen hinweg „kultiviert" werden. Vernunft ist Verselbständigüng, daher gebührt ihr eine von den Gebilden der sonstigen Natur unterschiedene Entwicklung, die durch Versuche, Übungen, Unterricht, durch Sprache und Kommunikation von „einer Stufe der Einsicht zur anderen allmählich fortzuschreiten" vermag. In der Absicht der Natur selbst liegt es, daß sich der Mensch von ihr am Ende emanzipiere und alles, was über die mechanische Anordnung seines „thierischen Daseins" geht, überwinde, um keiner anderen „Glückseligkeit oder Vollkommenheit theilhaftig" zu werden, „als die er sich selbst frei von Instinct, durch eigene Vernunft, verschafft hat" 345 . Durch einen Antagonismus der Kräfte treibt Natur den Menschen zu einer Art gesellschaftlicher Vereinigung und zum Fortschritt in dieser Gesellschaft. Aber mittels der Stufe, die ihm die Natur selbst anbietet, tritt er auf einen anderen, vernünftigen Stand und vermag „eine pathologisch-abgediungene Zustimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze" zu verwandeln. Es ist die Absicht der Natur, eine menschliche Geschichte der Überwindung von Natur in Gang zu bringen: an deren Ende steht die eine, „allgemein das Recht verwaltende bürgerliche Gesellschaft" 348 . Die Herstellung einer geschichtlichen Wirklichkeit, in der es vollkommen gerecht zugeht, ist uns von der Natur „auferlegt", zugleich aber vom Sittengesetz „gefordert". Im letzteren Falle wird unsere A. a. O„ VIII, s . 18. " 5 A. a. O., VIII, S. 19. A. a. O., VIII, S. 22.

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Weiterführ, des transzendentalen Systemgedankens

menschliche Freiheit angesprochen. Natur ist in Harmonie und zugleich in Konkurrenz mit der praktischen Vernunft getreten, welche aus ganz anderen, nämlich moralischen Motiven uns dasselbe Ziel „auferlegt". Kant spricht am Ende der Abhandlung von einer „Rechtfertigung der Natur oder besser der Vorsehung". Sie geschieht dadurch, daß die Harmonie der Natur mit Vernunft zwar nicht bewiesen, aber als eine Art Postulat der reflektierenden Urteilskraft aufgezeigt wird. 7. Der ewige

Friede

Große Themen der Geschichtsphilosophie Kants sind vom Gedanken an den Fortschritt des Geschichtsverlaufes zu Zielen, die der praktischen Vernunft gemäß sind, und von der Frage der Vorhersagbarkeit des geschichtlichen Fortschritts bestimmt. Solch ein geschichtliches Ziel menschlicher Kultur ist der ewige Friede. Das Adjektiv „ewig" deutet darauf hin, daß hier eine praktische, apriorische Idee zu Grunde liegt: wie Kant in seiner Abhandlung „Zum ewigen Frieden" (1795) betont, ist diese Idee nicht „leer", sondern ist eine moralische Aufgabe, deren Verwirklichung in der Geschichte möglich ist. Es gibt eine Garantie dafür, daß die Geschichte dem Zustand des ewigen Friedens entgegengeht, der, wenn er erreicht sein wird, mit Verläßlichkeit auch bestehen wird. Diese Gewähr wird durch die „große Künstlerin Natur .. aus derem mechanischen Laufe sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet" gegeben. Wieder begegnet der geschichtsphilosophische Begriff der Natur, die vom Standpunkt reflektierender Urteilskraft aus als „Künstlerin" anzusprechen ist. In dieser Rolle verfolgt Natur ihre eigenen Zwecke und erweist sich auch in unserer Geschichte als machtvolle Instanz, die wir als „Schicksal" oder auch, wenn

Der ewige Friede

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wir dem Gedanken einer weisen Leitung des Weltlaufs Ausdruck verleihen wollen, als „Vorsehung" 'ansprechen: am ehrlichsten aber ist der Name „Natur" 347 . Beurteilen wir die Natur nach der Analogie menschlich künstlerischen Verhaltens, dann ist es möglich, sie in Harmonie zu den Zwecken zu sehen, welche uns die praktische Vernunft unmittelbar vorschreibt. Diese Harmonie sei zwar eine „Idee", die in theoretischer Absicht überschwenglich sei, in praktischer Hinsicht aber, z. B. im Hinblick auf den Pflichtbegriff vom ewigen Frieden „dogmatisch und ihrer Realität nach wohl gegründet" 348 . Wenn die als zwecktätig beurteilte Natur vorausgesetzt wird, die sich mechanischer Gesetze bedient, so bietet der Naturlauf an keiner Stelle und in keinem Augenblick eine schwache Stelle, an der der Zufall oder auch das „Wunder" Platz finden könnte 349 . Der ewige Friede liegt auch in den Absichten der gesdiiditsbildenden Natur. Kant nennt drei technische Maßnahmen, durch welche die Natur für die Erreichung dieses Zieles gesorgt hat: 1. hat sie es Menschen in allen Erdgegenden möglich gemacht, dort leben zu können; 2. hat sie Völker durch den Krieg in alle Gegenden zerstreut, um auch noch die unwirtbarsten Landstriche zu bevölkern und 3. hat sie durch eben dasselbe Mittel die Völker genötigt, in mehr oder weniger gesetzliche Verhältnisse miteinander zu treten: der Krieg hat z. B. die Völker dazu genötigt, Staaten zu gründen und Grundeigentum durch Recht zu sichern, um damit die Voraussetzung der Kultur des Bodens zu geben. Die dabei gewonnenen Produkte »" VIII, s. 361. VIII, S. 362. 310 VIII, S. 362: „Der Gebrauch des Worts Natur ist auch, wenn es wie hier bloß um Theorie (nidit um Religion) zu thun ist, schicklicher für die Schranken der menschlichen Vernunft (als die sie sich in Ansehung des Verhältnisses der Wirkungen zu ihren Ursachen innerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung halten muß) und bescheidener, als der Ausdruck einer für uns erkennbaren Vorsehung

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Weiterführ, des transzendentalen Systemgedankens

gaben Anlaß zur Knüpfung von Handelsbeziehungen zwischen den Völkern, durch die ein friedliches Verhältnis unter ihnen begünstigt wurde. Wenn aber in der Geschichte nicht die freie Natur nach ihren eigenen Absichten mit uns mechanisch verfahren und uns dadurch zu unfreien Objekten machen soll, dann ist es von unserer Seite aus nötig, daß wir die Zwecke, welche sie über unsere Köpfe hinweg zu realisieren sucht, in Freiheit auf Grund unserer praktischen Vernunft annehmen und selbst wählen. Dabei bedienen wir uns des den Zwecken unserer praktischen Vernunft angepaßten Mechanismus der Natur. Ihm gegenüber verhalten wir uns als frei handelnde Wesen, auch wenn wir im Hinblick auf unsere Zugehörigkeit zur Erscheinungswelt der Naturnotwendigkeit unterworfen sind. Die Naturgesetzlichkeit wirkt sich im Hinblick auf das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen so aus, daß der Eine den Anderen kraft seiner selbstsüchtigen Neigungen zu vernichten sucht. Gerade die Selbsucht jedes Einzelnen aber bringt ihn dazu, sich selbst und die anderen unter allgemeine Zwangsgesetze zu stellen. Diesen Mechanismus muß die staatsbildende Vernunft benutzen, die Rechtsinstitutionen schaffen muß, um die Kräfte der Einzelnen „so gegen einander zu richten, daß eine die anderen in ihrer zerstörenden Wirkung aufhält, oder diese a u f h e b t . . ,"350. Auf diese Weise werden die in diese Verfassung gezwungenen Menschen zwar nicht moralisch gut, aber doch wenigstens „gute Bürger". Es kommt hier auf legales, nicht auf moralisches Verhalten an: um rechtmäßiges äußeres Verhalten der Menschen zu erreichen, bedarf es nur einer Ausnützung des Mechanismus der Natur, um „den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen in einem Volk so zu richten, daß sie SM

VIII, S. 366.

Der ewige Friede

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sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nöthigen und so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssen" 351 . Die republikanische Verfassung sei die einzige, deren Staatsgesetze so beschaffen sind, daß sie der Freiheit der Individuen gerecht werden. Daher lautet der erste „Definitivartikel zum ewigen Frieden", daß die bürgerliche Verfassung in jedem Staate republikanisch sein solle 352 . Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen einem Staat zum anderen bestimmt der zweite Definitivartikel zum ewigen Frieden: „Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein." Im Hinblick auf das „Weltbürgerrecht" bestimmt der dritte Definitivartikel, daß es auf Bedingungen der allgemeinen „Hospitalität" eingeschränkt sein solle: d. h., daß auf Grund des Rechtes „gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde" jedem Menschen das Recht zustehen soll, sich besuchsweise auf dem Territorium eines fremden Staates aufzuhalten und sich „zur Gesellschaft anzubieten" 353 . Diesen „Definitivartikeln" gehen folgende „Präliminarartikel" zum ewigen Frieden vorher: 1. solle kein Friedensschluß für einen solchen gelten, dessen Vertrag in absichtlich getarnter Weise Stoff für einen künftigen Krieg enthält; 2. soll kein selbständiger Staat von einem anderen Staat durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden können; 3. sollen stehende Heere mit der Zeit ganz aufhören; 4. sollen keine Staatsschulden in Absicht auf Kriegsrüstung gemacht werden; 5. darf sich kein Staat in die Verfassung und Regierung eines anderen Staates gewalttätig einmischen; schließlich muß 6. auch das Verhalten der Staaten im Kriege untereinander so beschaffen sein, daß das wechselseitige Vertrauen, welches Voraussetzung 351 852 15S

V I I I , S. 366. V I I I , S. 349. VIII, S. 358.

Kaulbadi, Immanuel Kant

19

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für einen künftigen Frieden ist, nidit verloren geht (es darf keine Anstellung von Meuchelmördern, Giftmischern usw. geben). Auf die Frage, ob das menschliche Geschlecht im Ganzen in einem „beständigen Fortschreiten zum Besseren" begriffen sei, kann nur dann eine a priorische Antwort gegeben werden, wenn der „Wahrsager" die Begebenheiten, die er prognostiziert, selber herbeiführt. Es ist uns Menschen nicht möglich, uns in „den Standpunkt der Vorsehung", der über aller menschlichen Weisheit hinausliegt, zu versetzen. Will man eine wissenschaftlich begründete, nicht nur prophetische Aussage über beständiges Fortschreiten des Menschengeschlechts zu einer besseren moralischen Verfassung machen, dann muß man sich irgendwie auf „Erfahrung" stützen können. Wie beim „Calcul der Wahrscheinlichkeit im Spiel" werden wir dann wohl im Allgemeinen den Gang vorhersagen können, aber nicht „ob es sich in meinem Leben zutragen und ich die Erfahrung davon haben werde, die jene Vorhersagung bestätigte" 354 . Kant weist auf eine geschichtlich empirische Gegebenheit hin, die er als „prognostisches Geschichtszeichen" deutet. Es handelt sich dabei nicht um ein äußerlich sichtbares Geschehen, sondern nur um eine innerlich feststellbare „Denkungsart" des Menschen: sie hat sich anläßlich der französischen Revolution als allgemeine, öffentlich bekundete Sympathie erwiesen. Dieses empirische Faktum der „Teilnehmung" an der Revolution eines „geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen", mag den Schluß auf ein Fortschreiten in folgender Hinsicht rechtfertigen: daß sich 1. das Bewußtsein des Rechts, daß ein Volk von anderen Mächten nicht gehindert werden dürfe, sich eine bürgerliche Verfassung zu geben, JS1

Streit d e r Fakultäten, VII, S. 84.

291

Wissenschaft und Gesellschaft

wie sie ihm selbst gut zu sein dünkt 355 , zur Geltung bringt und 2. daß das Bewußtsein mächtig wird, daß nur diejenige Verfassung eines Volks an sich rechtlich und moralisch gut sei, die ihrer Natur nach so beschaffen ist, daß der Angriffskrieg nach Grundsätzen vermieden werden soll. Keine andere als die republikanische Verfassung ist, wenigstens der Idee nach, hierzu in der Lage. Kant nimmt ein echt geschichtliches Prinzip in Anspruch, auf das er die Vorhersage einer Besserung der Verfassung des Menschengeschlechts stützt: maßgebend ist der Gedanke, daß kein in der Geschichte geschehener Schritt rückgängig gemacht werden kann: „denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte . . ."356. 8. Wissenschaft

und Gesellschaft

(bzw.

„Volk")

In diesem geschichtsphilosophischen Horizont begegnet auch die Frage nach dem Fortschritt wissenschaftlicher Kultur. Das Prinzip der Kritik durch reine theoretische und praktische Vernunft führt zu dem Ergebnis, daß jedes vernünftige Wesen auf Grund der gesetzgeberischen Rolle seiner Vernunft Richter über den Gültigkeitsanspruch theoretischer und praktischer Ideen sein kann: die Publizität aber findet dadurch eine Einschränkung, daß es einer reifen Vernunftkultur bedarf, um die richtigen Maßstäbe der Beurteilung zur Geltung zu bringen. In der Schrift „Streit der Fakultäten" wird es der philosophischen als der „unteren" Fakultät anheimgestellt, die von jeder Staats155

VII, S. 25. V I I , S. 88.

19'

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räson unabhängigen Interessen der Vernunft zu vertreten und die Sprache der Kritik gegenüber den im Bereich anderer Fakultäten auftretenden Wissenschaften zu führen. In der Universität findet Wissenschaft ihre staatliche Institutionalisierung. Ihre Einteilung in Fakultäten (theologische, juristische, medizinische Fakultät als „obere" und die philosophische Fakultät als „untere") zeigt, daß außer dem vernünftigen Motiv der Arbeitsteilung auch noch dasjenige des staatlichen Interesses beteiligt ist. Zu den oberen Fakultäten werden nur diejenigen gezählt, an denen die Regierung selbst interessiert ist, während die „untere" Fakultät nur das Interesse der Wissenschaft selbst vertritt. Die Regierung interessiere das am meisten, „wodurch sie sich den stärksten und daurendsten Einfluß aufs Volk verschafft, und dergleichen sind die Gegenstände der oberen Facultäten" 357 . Daher behalte sich die Regierung das Recht vor, die Lehren der oberen Fakultäten zu sanktionieren: durch normierte Bibelauslegung, das Landrecht und die Medizinalordnung. Die „untere" Fakultät repräsentiere die Berufung der Vernunft zu freier Beurteilung: sie habe es mit dem wissenschaftlichen Interesse, d. i. mit demjenigen der Wahrheit zu tun, „wo die Vernunft öffentlich zu sprechen berechtigt sein muß: weil ohne eine solche die Wahrheit (zum Schaden der Regierung selbst) nicht an den Tag kommen würde, die Vernunft aber ihrer Natur nach frei ist und keine Befehle etwas für wahr zu halten (kein crede, sondern nur ein freies credo) annimmt" 358 . Außer den zwei Arten von Fakultät und der Regierung tritt in den Kantischen Überlegungen noch ein vierter Mitspieler auf: das „Volk" (bzw. die Gesellschaft). Es spielt eine Doppelrolle. Zunächst handelt es sich um die Rolle des 357 158

VII, S. 19. VII, S. 20.

Wissenschaft und Gesellschaft

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Ungelehrten gegenüber den Gelehrten der Fakultäten: diese, soweit sie den oberen drei Fakultäten angehören, als Wundermänner anzusehen, ist das Volk der Ungelehrten gerne bereit (Wahrsager und Zauberer). Diesem Kult arbeitet die Philosophie entgegen, um der „magischen Kraft, die ihnen und den damit verbundenen Observanzen das Publicum abergläubisch beilegt, zu widersprechen . . ."359. Der Streit zwischen Philosophie und den anderen Fakultäten muß auf die Vertreter der Wissenschaft beschränkt bleiben. Würde er unbefugterweise vor den Richterstuhl des Volks, „dem in Sachen der Gelehrsamkeit gar kein Urteil zusteht", gebracht, so würde er aufhören, ein gelehrter Streit zu sein: Gesetzwidrigkeit und Anarchie wären das Ergebnis. Aber noch eine andere Rolle des Volks ist zu bedenken: Der Staat und die ihn repräsentierenden Fakultäten haben die Pflicht, „Volksaufklärung" als „öffentliche Belehrung des Volks von seinen Pflichten und Rechten in Ansehung des Staats, dem es angehört" zu leisten 360 . Fortschritt und Kultur der Vernunft müsse von oben nach unten, nicht von unten nach oben, durch staatliche Institutionen und nicht im Vertrauen auf Bildung der Jugend in häuslicher Unterweisung geschehen 861 . Jeder hat in seiner Vernunft eine Richterin, die ihn über seine Pflichten und Rechte belehrt: deren „Verkündiger und Ausleger" im Volk sind nicht die vom Staat bestellten, amtsmäßigen, sondern die „freien" Rechtslehrer, d. i. die Philosophen: sie richten sich an den Staat im Namen des Volks und dazu muß der Weg der Publizität in Anspruch genommen werden, deren Verbot einer Hemmung des Fortschritts eines Volks zu einer besseren inneren und äußeren Verfassung gleichkommen würde. VII, S. 31. •«• VII, S. 89. ,6t VII, S. 92.

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Weiterführ, des transzendentalen Systemgedankens 9. Pragmatische

Vernunft und

Anthropologie

Kant hat seine Aufmerksamkeit als Lehrer und Schriftsteller auch auf Fragen gelenkt, die nicht dem Denken und Sprechen der systematischen Problemtradition angehören, die uns aber als Lebenden auf dieser Erde und unter Mitmenschen angehen. In diesen Umkreis gehören seine Uberlegungen zur physischen Geographie362 und zur Anthropologie in pragmatischer Absicht. In diesem Zusammenhang haben auch seine Thesen zur Pädagogik ihren Ort363. Man hat mit Recht von einer Art inoffizieller Philosophie Kants gesprochen, in welcher er den Fragen und Antworten des dem unmittelbaren Leben und seiner Bewältigung zugewandten Denkens Raum gibt. In diesem Sinne führt Kant ein aufklärerisches Kultur- und Erziehungsprogramm durch, in dem er seinen Schülern und Lesern Erfahrungen über die Welt aufschließt, in der wir uns als Menschen verwirklichen, leben und uns behaupten sollen. Hier kommt es darauf an, vor allem Weltkenntnis und Menschenkenntnis zu gewinnen, um unsere pragmatischen Möglichkeiten wissend und gekonnt wahrzunehmen. Die dabei zu erwerbende „Weltkenntnis", die sich aus Erfahrungen der Natur und des Menschen zusammensetzt, gehört in den Bereidi handelnder bzw. pragmatischer Vernunft364. Während die der systematischen Philosophie Kants angehörenden reinen Vernunfterkenntnisse in der theoretischen oder praktischen Vernunft beheimatet sind, hat es die pragmatische Vernunft mehr mit „Erfahrung" zu tun. Diese „bekommen wir Kants „Physische Geographie" ist 1802 von Rink „auf Verlangen des Verfassers aus seiner Handschrift herausgegeben und z. T . bearbeitet" worden (IX, S . 151—436). Derselbe Herausgeber besorgte auch die Veröffentlichung von Kants Pädagogik, die 1803 erschien (IX, S . 437—499). J M Vgl. W . Ritzel, Kant und die Pädagogik, in: Pädagogische Rundschau, 18. J g . (1964), H. 3. s " IX, S. 157.

Pragmatische Vernunft und Anthropologie

295

durch die Sinne" 3 6 5 . „Weil nun aber unsere Sinne nicht über diese Welt hinausreichen: so erstrecken sich auch unsere Erfahrungserkenntnisse bloß auf die gegenwärtige Welt." Diese zerfällt in Natur, welche Gegenstand des äußeren Sinnes ist und in den Bereich der „Seele" oder des „Menschen", einen Gegenstand des inneren Sinnes. Beides zusammen ergibt „Weltkenntnis". Die Kenntnis des Menschen wird in der Anthropologie, diejenige der Natur in der physischen Geographie oder „Erdbeschreibung" geleistet. Die „Kenntnis der Welt" und die zu ihr gehörende „Erfahrung" im Sinne der pragmatischen Vernunft wird nicht durch wissenschaftlich-methodisches Verfahren der theoretischen Vernunft gewonnen: vielmehr gehört zu ihr die Kunst, die „erworbenen Erkenntnisse in Anwendung zu bringen und einen seinem Verstände so wie den Verhältnissen, in denen man steht, gemäßen, nützlichen Gebrauch von ihnen zu machen, oder unsern Erkenntnissen das Praktische zu g e b e n . . ," 366 . Auch der pragmatischen Vernunft ist es um System und damit um ein Ganzes zu tun: denn das Ganze ist hier die Welt, „der Schauplatz, auf dem wir alle Erfahrungen anstellen werden". Allen einzelnen Erfahrungen, die wir z. B. im Hinblick auf die Natur der Menschen machen, um ihr Verhalten, ihre Schwächen und Stärken, ihre positiven und negativen Möglichkeiten kennenzulernen, stehen im Zeichen einer vorgefaßten „Idee von der Kenntnis der Welt", die den Grundriß des Hauses bedeutet, in dem wir unsere Erfahrungen sammeln. Diese Idee gibt uns in pragmatischer Hinsicht einen „architektonischen Begriff". Die Quelle dieser Art von Erfahrung, welche zur Weltkenntnis gehört, >® IX, S. 156. J , t IX, S. 157 f.

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Weiterführ, des transzendentalen Systemgedankens

schließt sich beim Umgang mit Menschen und auf Reisen auf 387 . Besonders in der von Kant selbst herausgegebenen „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" (1798)388 treffen sich Gedankengänge aus der Philosophie der teleologischen Natur, der Moralphilosophie, der Geschichtsphilosophie und Philosophie der „Kultur". Kant nimmt bei seinen Bemühungen um Weltkenntnis und Weltorientierung Anteil an einer Bewegung der Aufklärung, die sich durch Titel wie: „Der Philosoph für die Welt" charakterisiert 369 . Hier klingt zugleich auch das Wandermotiv an, welches in Goethes Wilhelm Meister zum Thema geworden ist. Die Präsenz der Erfahrungen, die wir beim Umgang mit Menschen und auf Reisen gewonnen haben, und die uns zugleich Könnerschaft in der Behandlung von Menschen und in der Erreichung unserer Lebenszwecke vermittelt, entspricht einem Reifezustand unseres pragmatischen Bewußtseins, den Kant als „Erfahrenheit" bezeichnet 370 . Man muß den Weg zum Stande der Erfahrenheit gegangen sein, wenn man über Leben und Welt nicht nur „vernünftelnd", sondern vernünftig, im Sinne „versuchter Vernunft", sprechen und denken will. Pragmatische Vernunft hat Interesse an dieser Erfahrenheit, um das Leben überlegen beurteilen und sich als erfolgreich erweisen zu können. Obgleich der Mensch nur einen Teil der Erdgeschöpfe ausmache, verdiene es Weltkenntnis genannt zu werden, 387 H. Heimsoeth, Astronomisches und Theologisches in Kants WeltVerständnis, Akademie-Abhandlung der Mainzer Akademie, W i e s b a d e n 1963. MS VII, S. 117—333. 389 So der charakteristische Titel einer Schrift bei dem aufklärerischen Popularphilosophen J. J . Engel (Frankfurt und Leipzig 1803). 370 Vgl. Nadiridit von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem W i n t e r h a l b j a h r von 1765—1766, in: II, S. 303—313; ebenso mein Aufsatz: Weltorientierung, Weltkenntnis und pragmatische V e r n u n f t bei Kant, in: „Kritik und Metaphysik", Heimsoeth zum 80. Geburtstag, Berlin 1966, S. 60 ff.

Pragmatische Vernunft und Anthropologie

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wenn man ihn „seiner Species nach als mit Vernunft begabtes Erdwesen" zu erkennen vermag. Im Gegensatz zu physiologischer Menschenkenntnis, in der dasjenige erkannt wird, was die Natur aus dem Menschen macht, geht es der pragmatischen um dasjenige, was er selbst „als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll". Diese Anthropologie will uns in den Stand setzen, durch Kenntnis unserer menschlichen Natur die positiven Möglichkeiten und zugleich die Hemmnisse zu erkennen, die beim Umgang mit den Menschen zu bedenken sind und auch bei der Absicht einzurechnen sind, die Wirklichkeit menschlicher Verhältnisse zu verbessern 371 . Im ersten Teil, der „Anthropologischen Didaktik", wird das menschliche Erkenntnisvermögen nach der Seite des sinnlichen Vorstellens und Anschauens, der Einbildungskraft und des Gedächtnisses, des Sprach- und Bezeichnungsvermögens, der Fähigkeit, den Verstand zu gebrauchen usw. abgehandelt. Diese Vermögen werden empirisch als Möglichkeiten beschrieben, mit denen uns die Natur ausgestattet und durch welche sie unsere Stellung zur Welt bestimmt hat. Das zweite Buch dieses Abschnittes handelt vom Gefühl der Lust und Unlust, wobei das Gefühl für das Angenehme von demjenigen für das Schöne (Geschmack) unterschieden wird. Das im dritten Buch behandelte Begehrungsvermögen porträtiert die Affekte, Leidenschaften und zugleich auch moralische Möglichkeiten des Menschen. Im zweiten Teil, der „Anthropologischen Cha3,1 VII, S. 120: .Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reiths, in welchem sich die Landescollegia der Regierung desselben befinden, die eine Universität (zur Cultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Innern des Landes sowohl, als auch mit angränzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten einen Verkehr begünstigt, — eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntniß als auch der Weltkenntniß genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann."

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Weiterführ, des transzendentalen Systemgedankens

rakteristik", gibt Kant ein Bild vom Charakter der Einzelperson des Geschlechts, des Volks, der Rasse und der Gattung. Vom Standpunkt der pragmatischen Vernunft aus ist ein Abschnitt wie derjenige „von der Neigung zum Vermögen, Einfluß überhaupt auf andere Menschen zu haben", von besonderer Bedeutung. Daß Kant es bei der Porträtierung der Menschennatur auch darauf abgesehen hat, daß die Menschen durch Kenntnis ihrer selbst den Weg der Kultur ihrer Möglichkeiten finden, kommt besonders in dem Schlußabschnitt über den „Charakter der Gattung" zum Ausdruck. Hier kommt er auf die „pragmatische Anlage der Civilisirung durch Cultur, vornehmlich der Umgangseigenschaften" zu sprechen 372 . Der Mensch sei einer Erziehung „sowohl in Belehrung als Zucht (Disziplin) fähig und bedürftig". In Übereinstimmung mit seinen geschichtsphilosophischen Thesen erklärt Kant, daß bei den Tieren jedes Individuum seine ganze Bestimmung erreiche, während bei den Menschen nur die Gattung dieses Ziel gewinne. Das menschliche Geschlecht könne sich nur durch „Fortschreiten in einer Reihe unabsehlich vieler Generationen" zu seiner Bestimmung emporarbeiten. Dieser Fortgang könne zwar gehemmt, aber nie ganz rückläufig gemacht werden. Der Mensch sei durch seine Vernunft dazu bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein und sich in ihr durch Kunst und Wissenschaften zu „cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren". Auf dem Felde der pragmatischen Vernunft faßt sich der Mensch am Leitfaden anthropologischer Überlegungen als ein Wesen auf, welches sich zu realisieren, zu vervollkommnen und zu behaupten hat. Dabei wird eine Natur im Menschen in Anspruch genommen, welche mit ihm > " VI, S. 323.

Die vier metaphysischen Ansätze

299

Zwecke geschichtlichen Fortschritts und Kultivierung seiner Anlagen verfolgt. Dieser Naturbegriff repräsentiert eine Vereinigung von Vernunftidee und Erscheinung. Es ist jetzt wieder der Schritt zur theoretischen Vernunft zurück zu tun, wo diese Vereinigung auf dem Felde der Metaphysik in rein theoretischer Sprache geschieht; die dabei eingeschlagene Richtung soll bis zu den letzten Ansätzen des Opus postumum verfolgt werden.

IV. Programm und Methode der neuen Metaphysik und die Weiterentwicklung im Opus postumum 1. Die vier metaphysischen

Ansätze

Kant nimmt den traditionellen Begriff der Metaphysik als einer Wissenschaft aus reiner, von Erfahrung ungetrübter Vernunft auf: Er wendet sich den Aufgaben der Metaphysik wieder zu, nachdem er das „kritische Geschäft beendet" hat. So kommt eine neue Metaphysik auf kritischer Basis zustande. Man dürfte die Metaphysikansätze bei Kant wohl auf die Formeln folgender vier Konzeptionen bringen können: 1. Gibt er eine im Sprachgebrauch der Tradition so zu nennende „allgemeine" Metaphysik (Ontologie), als deren Prinzipien die synthetischen Grundsätze der Kritik der reinen Vernunft anzusehen sind, die einer allgemeinen, reinen Naturwissenschaft das Seinsfundament geben. Das Besondere dieser „ontologischen" Grundsätze besteht darin, daß sie nicht nur die Seinsstruktur der Erfahrungsgegenstände, sondern auch der Möglichkeit der Erfahrung selbst fundieren. 2. Begegnet eine im Sprachgebrauch so zu nennende „besondere" Metaphysik (metaphysica specialis: psychologia, cosmologia, theologia rationalis) im Sinne

300

Programm und Methode der neuen Metaphysik

einer Theorie der Noumena (Ideen) im negativen Verstände: hier wird z. B. nachgewiesen, daß die Idee der Freiheit vor dem Forum theoretischer Vernunft nicht als unmöglich beurteilt werden muß (transzendentale Dialektik der Vernunftkritik). 3. Wird eine metaphysica specialis im positiven Sinne auf dem Boden praktischer Vernunft geleistet: hier wird z. B. die Idee der Freiheit, die von der theoretischen Vernunft aus nur negativ und problematisch bestimmt werden konnte, in ihrer positiven Realität aufgefaßt. 4. Kant gibt dem Wort „besondere" Metaphysik eine neue Bedeutung: das leitet zugleich zum vierten Ansatz über. Er unterscheidet hier eine Metaphysik der Natur und eine Metaphysik der Sitten. Im ersteren Falle handelt es sich um eine apriorische Theorie, in welcher ein Übergang von den allgemeinen transzendentalen Gesetzen, die den Gegenstand möglicher Erfahrung überhaupt begründen, zu besonderen Gegenstandsformen der Natur erfolgt. In der Metaphysik der Sitten, die ihrerseits wieder in eine metaphysische Rechtslehre und eine metaphysische Tugendlehre zerfällt, geht es darum, die apriorische metaphysische Theorie ohne Einbuße ihrer Apriorität mit besonderen Sätzen anzureichern, durch die ein Ubergang von allgemeinen Prinzipien der praktischen Vernunft (Anwendung) auf die besondere, durch Erfahrung einsichtige Natur des Menschen möglich wird. Nachdem die ersten drei Ansätze bisher zur Sprache gekommen sind, hat jetzt der Schritt zum vierten zu geschehen, bei dem zunächst die Metaphysik der Natur an der Reihe ist. 2. Metaphysik

der

Natur

Kant kennzeichnet das Verfahren und das Programm der besonderen Metaphysik der Natur etwa folgendermaßen: als erste oberste Sätze sind die transzendentalen Grund-

Metaphysik der Natur

301

sätze maßgebend, die den Gegenstand der Natur, begriffen als Zusammenhang der Erscheinungen unter Gesetzen, bestimmen. Dem Bereich dieser Grundsätze steht auf der anderen Seite als empirischer Pol gegenüber die Summe der erfahrungswissenschaftlichen Sätze der Physik. Zwischen beiden Polen muß als sie beide vermittelnd die besondere Metaphysik der Natur entwickelt werden. Dazu ist es nötig, in die Sprache der transzendentalen Grundsätze Begriffe aufzunehmen, die durch eine gewisse transzendentale Idealisierung aus dem Bereich physikalischer Begriffe hergeleitet wurden. Dazu gehört z. B. derjenige des Körpers bzw. der Materie überhaupt. J e nach dem Erkenntniszweck werden ihm ausgewählte Eigenschaften zugesprochen, auf Grund deren von ihm weitere apriorische Aussagen gemacht werden können. So bringt z. B. metaphysische „Phoronomie" die Materie als „das Bewegliche im Räume" in den Ansatz. Daraus resultieren nur solche Aussagen über Materie, die sich aus dem Begriff der Bewegung ergeben. Dazu gehört auch ein entsprechendes Modell vom Räume, der hier nicht als reine Form des Anschauens, sondern eher als der Behälter gedacht wird, innerhalb dessen Bewegungen vor sich gehen. Wird dieser als absolut umfassend und daher selbst ruhend angesetzt, dann heißt er „absoluter" Raum, während beweglich gedachte Räume als „relative" angesprochen werden. Das geschieht im Sinne des Newtonischen Sprachgebrauchs 373 . Es ist die Rede von der „Construction" einer zusammengesetzten Bewegung, insofern diese aus zwei oder mehreren gegebenen Bewegungen in der apriorischen Anschauung so dargestellt wird, daß daraus eine einzige Bewegung „entspringt" 374 . m Vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft in: IV, S. 465—565, vgl. S. 480. S71 A. a. O., IV, S. 486.

(1786),

302

Programm und Methode der neuen Metaphysik

Gemäß den Kategorienklassen Quantität, Qualität, Relation und Modalität gibt Kant einen Aufbau aus vier Disziplinen der Metaphysik der Natur, von denen jede ihre besondere Zielsetzung hat, auf die hin die Wahl der Prädikate angelegt ist, die der Materie zukommen: es handelt sich jeweils um die metaphysische Grundlegung der Phoronomie, der Dynamik, der Mechanik und der Phänomenologie. Die Methode Kants in der besonderen Metaphysik ist so beschaffen, daß einerseits an der apriorischen Sprache festgehalten wird. In deren Zusammenhang werden jedoch idealisierte Begriffe, welche Erfahrungen spiegeln, sowie deren Namen aufgenommen. Die verschiedenen Auswahlmöglichkeiten für solche Begriffe führen zu verschiedenen Ansätzen: je ärmer und abstrakter die in einen Ansatz aufgenommenen Begriffe sind, um so distanzierter ist ein Ansatz gegenüber der empirischen Wirklichkeit. Je reicher aber der Ansatz, um so näher ist die sich aus ihm ergebende Theorie zur Wirklichkeit. So kann Nähe und Ferne der Theorie gegenüber der Empirie durch Wegnahme oder Zusatz solcher Begriffe reguliert werden: je nach dem waltenden Erkenntnisinteresse. Von der Phoronomie zur Mechanik führt eine abgestufte Skala zunehmender Konkretion. In der Metaphysik der Dynamik, die auf den soeben angedeuteten Ansatz für die Phoronomie folgt, wird Materie als Ergebnis von ursprünglichen Kräftewirkungen begriffen. Während sie in der Phoronomie lediglich als Mannigfaltigkeit von abstrakten, beweglichen Punkten aufgefaßt wurde, wird sie jetzt als den Raum „erfüllend", als ausgedehnt in Ansatz gebracht: Materie verdanke ihre Fähigkeit, einen Raum zu erfüllen (Undurchdringlichkeit, Solidität), dem Zusammenwirken zweier Kräfte, aus denen sie resultiert: zusammen wirken dabei „Anziehungskraft" und „Zurück-

Metaphysik der Natur

303

stoßungskraft" (Attraktion und Repulsion bzw. Expansion). Würde nur die erstere Kraft wirken, dann müßte sich Materie zu einem einzigen Punkt zusammenziehen, während in dem Falle, in dem nur die Expansion am Werke wäre, eine Zerstreuung ins Endlose stattfinden müßte. Materie „hat" diese Kräfte nicht, sondern „ist" Resultat des Zusammenwirkens beider. In der Metaphysik der „Mechanik" tritt zu den bisher angenommenen Konstituentien der Materie, der Beweglichkeit und Raumerfüllung noch die Bestimmung hinzu, daß sie „bewegende Kraft" habe: sie kann eine ihr eigentümliche Bewegung einer anderen „mitteilen". Bei allen Veränderungen der körperlichen Natur, so lautet das erste von Kant genannte Gesetz der Mechanik, bleibt die Quantität der Materie im Ganzen dieselbe, unvermehrt und unvermindert. Das zweite Gesetz lautet, daß alle Veränderung der Materie eine äußere Ursache haben müsse, d. h., daß diese Veränderung nicht aus ihr selbst heraus geschehen kann. Materie hat keine „schlechthin innere Bestimmungen und Bestimmungsgründe" 375 (Gesetz der Trägheit, formuliert von Galilei). Dem Newtonschen: actio = reactio entspricht das von Kant angeführte dritte mechanische Gesetz, demzufolge in aller Mitteilung der Bewegung die Wirkung und die Gegenwirkung einander jederzeit gleich sind. Die Metaphysik der Phänomenologie reflektiert den Stand des Subjekts gegenüber der Materie als Gegenstand der Erfahrung überhaupt. Demnach ist die geradlinige Bewegung einer Materie in einem empirischen Räume zum Unterschied von der entgegengesetzten Bewegung dieses Raumes gegen die Materie ein bloß „mögliches" Prädikat S7S A. a. O., I V , S. 543. Materie verhält sich also immer nie autonom. „Trägheit" ist Ausdruck der Heteronomie.

heteronom,

304

Programm und Methode der neuen Metaphysik

(Möglichkeit). Der Gedanke einer Bewegung ohne jede Relation auf eine andere Materie, d. i. an eine absolute Bewegung, ist „unmöglich". Im Einklang mit der These Newtons von der Relativität der geradlinigen Bewegung und der Absolutheit der Kreisbewegung erklärt Kant die letztere als ein „wirkliches" Prädikat bewegter Materie (Wirklichkeit). Was die Notwendigkeit angeht, so erzwingt sie bei jeder Bewegung eines Körpers, die sich als relativ gegen einen anderen erweist, eine entgegengesetzte gleiche Bewegung dieses anderen. In Bemerkungen zum „absoluten Raum" Newtons wird erklärt, daß er kein Gegenstand der Erfahrung sein könne, sondern als bloße „Idee" fungiere, insofern er als das alle empirischen Gegenstände und Vorkommnisse Umgreifende und Enthaltende vorgestellt wird. Der leere absolute Raum ist für die theoretische Vernunft unbegreiflich: wenn die metaphysische Körperlehre am Ende bei der Idee des leeren und absoluten Raumes angelangt sei, zeige sie „einerlei Schicksal mit allen übrigen Versuchen der Vernunft", die den Prinzipien der ersten Gründe der Dinge nachstrebt. Auf diesem Wege kann sie nicht bei Bedingtheiten stehenbleiben: aber auch das Unbedingte zu begreifen ist ihr verwehrt. Es bleibt ihr, wenn Wißbegierde sie auffordert, das absolute Ganze aller Bedingungen zu erfassen, nichts anderes übrig, „als von den Gegenständen auf sich selbst zurückzukehren, um anstatt der letzten Grenze der Dinge die letzte Grenze ihres eigenen, sich selbst überlassenen Vermögens zu erforschen und zu bestimmen" 376 . ™ A. a. O., IV, S. 565. Als methodische Fortsetzung des Kantisdien Programms der besonderen Rechtsmetaphysik können Überlegungen von Anselm Feuerbadi angesehen werden. In seiner Landshuter Antrittsrede über „Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnis zur positiven Rechtswissenschaft" (neuerdings wieder gedruckt tu: C. J . A. Feuerbach, C. J. A. Mitlermeyer, Theorie der Erfahrung in der Rechts-

Metaphysik der Sitten 3. Metaphysik

der

305

Sitten

Sie besteht aus Metaphysik des Rechts und Metaphysik der Moral (metaphysische Tugendlehre). Das Programm und die Methode der Metaphysik der Sitten wird durch die Aufgabe bestimmt, zwischen reinen Grundsätzen der praktischen Vernunft und solchen Sätzen zu vermitteln, die sich aus der Erfahrung der rechtlichen bzw. moralischen Natur des Menschen ergeben. Diese Vermittlung zwischen den Polen der reinen praktischen Vernunft und der Empirie des praktischen Lebens leistet die „besondere" Metaphysik der Sitten. Sie folgt einem apriorischen Weg, wobei sie allerdings von einem Begriff vom Menschen ausgeht, den sie aus der Erfahrung der Menschennatur gewonnen und auf solche Weise idealisierend zurechtgelegt hat, daß sie den Menschen als Bezugspunkt naturrechtlicher Relationen auffassen kann. W i e in der Metaphysik der Natur z. B. die Beweglichkeit, Ausgedehntheit und Undurchdringlichkeit der Materie zur Sprache kam, so muß hier das menschliche Subjekt als in vieler Weise bedürftig, abhängig von natürlichen Interessen, leiblich und zugleich auch als vernünftig in den Ansatz gebracht werden. Die Gesetze, die als solche „praktisch" werden, statt im Stil der Naturgesetze die Vorgänge in der Erscheinungswelt und die dort vorkommenden „Handlungen" unter Wissenschaft des 19. Jh., Frankfurt 1968) spricht er davon, daß sich die positive Erfahrung mit der reinen Gesetzgebung der Vernunft und deren Wortführerin, der Philosophie, verbinden müsse. In diesem Zusammenhang ist auch von der „Anwendung" des höchsten Rechtsprinzips auf das wirkliche Leben die Rede. Zwischen Vernunft und Erfahrung ergibt sich eine unübersehbare Menge von „Zwischenstufen", die man „als Brücken" ansehen müsse. Das allgemeine Vernunftgesetz müsse „auf die Bedingungen, unter denen der Mensch in der Erfahrung existiert, auf die empirischen Verhältnisse seines Lebens und Wirkens" angewendet werden. W ä h r e n d hier Kant von „Konstruktion" spiicht, ist bei Feuerbach von „Darstellung" des reinen Vernunftgesetzes die Rede (in der zitierten Ausgabe S. 68). Kaulbadi, Immanuel Kant

20

306

Programm und Methode der neuen Metaphysik

Regeln zu bringen, sind Gesetze der Freiheit und heißen zum Unterschied von den Naturgesetzen „moralisch". Schreiben sie nur äußere Handlungsfiguren vor, dann handelt es sich um „juridische" Gesetze. In dem Falle aber, in dem die Gesetze auch die Forderung enthalten, daß sie selbst innere Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen, handelt es sich um moralische Gesetze. Kant erinnert daran, daß im ersteren Falle von Legalität, im zweiten von Moralität der Handlung gesprochen wurde. Dem entspricht die Unterscheidung zwischen Freiheit „im äußeren Gebrauche" und einer solchen, die sich sowohl im äußeren als auch im inneren Gebrauch der durch Vernunftgesetze bestimmten Willkür zeigt 377 . So umfaßt praktischmoralische Freiheit auch Freiheit im äußeren Sinne, so wie die Zeit als Form des inneren Anschauens alle Gegenstände des inneren wie die des äußeren Sinnes umfaßt. An anderer Stelle kommt der Gedanke der Stellung des Subjekts zum objektiven Gesetz deutlich zum Ausdruck, indem von Gesetz-gebung die Rede ist. Mutet das Gesetz dem Subjekt ein „Du sollst" um der gesetzlichen Form selbst willen zu, dann ergibt sich eine moralische Pflicht: während es dann um die juridische Pflicht geht, wenn es nicht im Gesetze mitgegeben wird, daß nur die Idee der Pflicht als solche Motiv sein darf. Die metaphysische Methode des Übergangs des allgemeinen praktischen Vernunftgesetzes zu den Normen des rechtlichen Zusammenlebens schließt eine „Construction" allgemeiner Begriffe wie z. B. desjenigen der Freiheit ein. Das allgemeine Prinzip des Rechts bestimmt jede Handlung als „recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem 5 , 7 Vgl. Die Metaphysik der Sitten ziell S. 214.

(1797), i n : VI,

S. 203—493,

spe-

Metaphysik der Sitten

307

allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann" 378 . Dieser Satz ergibt eine Konstruktion der Freiheit analog dem physikalischen Begriff des freien Spielraums körperlicher Bewegungen, die unter dem Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung stehen. Im folgenden mögen beispielsweise einige repräsentative Themen der Rechtsphilosophie im Zeichen der Konstruktion betrachtet werden, es wird an ihnen sichtbar, wie der „Ubergang" von der Moral zum Recht methodisch realisiert wird. Seine vermittelnde Funktion soll sich auch in der Uberwindung des Gegensatzes zwischen Naturrecht und positivem, wirklich geltenden Recht bewähren. Aufschlußreich hierfür ist die Theorie des Besitzes. Der apriorische Begriff der praktischen Vernunft vom Recht gründet sich auf die Idee des Gebrauchs meiner Freiheit in Rücksicht auf die Freiheit der anderen. Dieser Satz muß durch Begriffe, die sich aus der wirklichen Natur des Menschen ergeben, angereichert werden, damit aus ihm Sätze der „besonderen" Metaphysik ableitbar sind, in denen sich die konkrete rechtliche Wirklichkeit spiegeln kann. Da sind z. B. anthropologische Bestimmungen wie diejenige, daß der Mensch eine leibliche Natur hat, daß körperliche Gegenstände „außer" ihm existieren, daß er sie in Besitz nehmen und „gebrauchen" kann, in den Ansatz einzubauen. Auf der so erweiterten begrifflichen Basis ist die Unterscheidung zwischen dem sinnlichen und dem intelligiblen bzw. dem „physischen" und dem „bloß rechtlichen" Besitz zu machen. Ersterer ist Inhabung (detentio): er bedeutet die physische Bemächtigung einer Sache, die nur empirisch beschrieben werden kann. Die Möglichkeit des empirischen Besitzes hängt von meinen physischen Kräften und der Ausdehnung meines Gewaltbereiches ab. Uber A. a. O., VI, S. 230. 20'

308

Programm und Methode der neuen Metaphysik

diese empirische Rechtsperspektive geht das juridische Denken hinaus, um den Standpunkt der praktischen Vernunft einzunehmen, welche die Willkür nach Gesetzen der Freiheit bestimmt. Diese intelligible Perspektive weist über das Recht einer Person, „in Ansehung ihrer selbst", d. h. im Hinblick auf ihre subjektive Leibsituation, hinaus, um einen Besitz auch „ohne Inhabung als nothwendig zum Begriffe des äußeren Mein und Dein" zu statuieren. Alle „Bedingungen der Anschauung, welche den empirischen Besitz begründen, müssen weggeschafft (von ihnen abgesehen) werden, um den Begriff des Besitzes über den empirischen hinaus zu erweitern und sagen zu können: ein jeder äußere Gegenstand der Willkür kann zu dem rechtlich Meinen gezählt werden, den ich . . . in meiner Gewalt habe, ohne im Besitz desselben zu sein" 379 . Der Begriff des intelligiblen Besitzes gründet sich auf das rechtliche Postulat der reinen praktischen Vernunft, daß sich die Rechtssubjekte unter ein gemeinsames Gesetz einigen müssen, unter dem sie sich so verhalten, daß jede brauchbare Sache auch das Seine von irgend jemandem werden könne. Damit ist zugleich die praktische Realität des Begriffes vom intelligiblen Besitz erwiesen (transzendentale Deduktion). Der Begriff eines bloß rechtlichen, intelligiblen Besitzes ist von empirischen Raum- und Zeitbedingungen unabhängig, aber er hat praktische Realität und muß auf Gegenstände der Erfahrung anwendbar sein. Der Vernunftbegriff des intelligiblen Besitzes bestimmt erst unmittelbar den reinen „Verstandesbegriff" eines Besitzes überhaupt (Begriff des Habens). Dieser Verstandesbegriff steht zwischen Empirie und Vernunft: gleichwohl ist er apriorisch. Ich besitze z. B. einen Acker im Sinne des intelligiblen Besitzes, obgleich ich nicht auf ihm stehe und ihn durch physische Gewalt verteidige. "» A. a. O., VI, S. 252.

Metaphysik der Sitten

309

So kann ich einen Gegenstand im intelligiblen Sinne den „meinen" nennen, da er mir nach einem Gesetz der Freiheit zugerechnet wird, so daß ich selbst lädiert werde, wenn ihn ein anderer in seine Gewalt zu bekommen versucht. Der Gedankengang fängt von der reinen praktischen Vernunft und ihrem rechtlichen Postulat an, jeden Gegenstand meiner Willkür als objektiv mögliches Mein oder Dein anzusehen und zu behandeln 3 8 0 . Er führt in der Richtung der Konkretion des rechtlichen Lebens zu anthropologisierenden Begriffen wie denjenigen vom äußeren Mein und Dein, dessen „Exposition" am Leitfaden der Kategorien Substanz, Kausalität und Gemeinschaft ergibt, daß die äußeren Gegenstände meiner Willkür folgende drei sind: „ 1) eine (körperliche) Sache außer mir; 2) die Willkür eines anderen zu einer bestimmten That (praestatio); 3) der Zustand eines Anderen in Verhältniß auf mich; .. ,"381. In der Theorie von der äußeren „Erwerbung" ist die Rede von der ersten bzw. ursprünglichen Erwerbung, die ich durch leibliche „Apprehension" in einem in Raum und Zeit geschehenden empirischen Vorgang leiste. Es folgt die „Bezeichnung" dieses Besitzes, um jeden anderen von seinem unberechtigten Gebrauch abzuhalten, und schließlich wird der Akt der Besitznehmung durch die „Zueignung" als durch ein intelligibles Geschehen (Akt) vollendet, für welches ein „äußerlich allgemein gesetzgebender Wille" in der Idee maßgebend ist, durch den alle Rechtssubjekte a priori vereinigt sind, so daß er jeden zur Übereinstimmung mit meiner Willkür verpflichtet. W ä h r e n d der erste Schritt auf der Seite des Begriffes des empirischen Besitzes steht, gehört der dritte Schritt in den Bereich des intelligiblen Besitzes. Der zweite Schritt, die Bezeichnung, vollzieht den » A. a. O., VI, S. 246. A. a. O., VI, S. 247. SM

310

Programm und Methode der neuen Metaphysik

Übergang von der intelligiblen zur empirischen Sphäre. Die ursprüngliche Erwerbung findet statt, wenn der angeeignete Gegenstand noch in keinem anderen Besitz war: sie kann nur diejenige des Bodens sein. Alle Menschen haben ein Recht da zu sein, wohin sie die Natur oder der Zufall ohne ihren Willen gesetzt hat. Der Erdboden ist gemeinsamer Besitz aller Menschen, die auf diesem Planeten existieren: zu einem solchen wird er durch eine Idee der praktischen Vernunft deklariert, derzufolge die Menschen befugt sind, den Platz auf der Erde, der infolge ihrer Kugelgestalt endlich ist, nach Rechtsgesetzen zu gebrauchen. Die ursprüngliche Besitznehmung ist freilich einseitig: sie ist bloße Bemächtigung. Aber sie ist durch praktische Vernunft, d. h. zugleich durch einen alle Rechtssubjekte a priori vereinigenden absolut gebietenden Willen zu rechtfertigen: dadurch wird der W e g von der Einseitigkeit zur Allseitigkeit und gemeinsamen Übereinstimmung bezeichnet. Die Realisierung dieses allgemeinen Willens und der praktischen Vernunft kommt der Herstellung einer bürgerlichen Verfassung gleich, die den bloßen Naturzustand ablöst. Während der letztere nur eine provisorische Erwerbung begründet, führt der erstere zu einer dauernden Erwerbung. Im bürgerlichen Zustand ist ein „austheilendes Gesetz des Mein und Dein" 382 bestimmend, welches von einem ursprünglichen und apriorisch-einigen Willen der Rechtssubjekte gegeben wird, der alle rechtlichen Akte und Gesetzgebungen erst begründet und daher nicht selbst durch einen solchen Akt begründet werden kann. Auch die Realität des Begriffs ursprünglicher Erwerbung wird erwiesen (Deduktion): sie ergibt sich aus dem Gedanken an den allgemein verbindenden und vereinigten Willen, welcher den Gebrauch der Sachen rechtlich verteilt • 8 I A . a. O., VI, S. 267.

Metaphysik der Sitten

311

und auf diese Weise ihren intelligiblen Besitz begründet, obgleich „der Gegenstand . . . ein Sinnenobject ist" 3 8 3 . Da unter „Eigenthum" der äußere Gegenstand zu verstehen ist, der „der Substanz nach das Seine von jemandem" ist, folgt, daß es sich hierbei nur um eine körperliche Sache handeln könne, nicht um eine Person: denn diese repräsentiert die Menschheit als einen Selbstzweck, der nicht bloß als Mittel für andere Zwecke gebraucht werden darf. War bisher vom „Sachenrecht" die Rede, so wird in dem Abschnitt über das „persönliche Recht" über denjenigen Besitz gesprochen, der die „Willkür" eines Anderen zum Gegenstand hat, mir nach einem Freiheitsgesetz gewisse Leistungen zu erfüllen. Dabei wird der „Vertrag" maßgebend, welcher als Akt der „vereinigten Willkür zweier Personen, wodurch überhaupt das Seine des Einen auf den Anderen übergeht", bestimmt wird 384 . Das „Äußere", was durch Vertrag erworben wird, ist nicht eine Sache, sondern eine Tat der anderen Person, zu der sie sich in freier Entscheidung mir gegenüber in Durchführung eines uns a priori gemeinsamen praktischen Willens verpflichtet hat. Auch in dem Abschnitt über das „auf dringliche Art persönliche Recht" wird deutlich, daß die auf Prinzipien der reinen praktischen Vernunft gründenden Rechtsbegriffe an der Idee eines wirklichen, die Rechtssubjekte a priori vereinigenden Willens aufgehängt und von ihr her als „real" erwiesen werden müssen. Im Eherecht z. B. ist es der a priori einige und vereinigende Wille der beiden Partner, der den Ehevertrag begründet. In die hier maßgebenden Begriffe geht die geschlechtliche Natur der menschlichen Subjektivität ein: das menschliche Subjekt bedarf des Andersgeschlechtlichen zum „Gebrauch". Damit aber die 183 5,1

A. a. O., VI, S. 268. A. a. O., V I , S. 271

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Programm und Methode der neuen Metaphysik

Menschheit des Anderen bewahrt bleibe und dieser nicht nur zum Mittel der Befriedigung werde, geschieht ein überschritt über die Einzelheit und Privatheit jeweils des einen der Partner zu einer Gemeinsamkeit praktischer Vernunft: die Realisierung dieser Gemeinsamkeit ist die Ehe. Im Geschlechtsakt mache sich ein Mensch selbst zur Sache: das widerstreitet dem Rechte der Menschheit in seiner eigenen Person. Die Rechtsgesetze aber stellen im Kontrakt der Ehe diese Menschheit in jedem Partner wieder her, insofern die eine Person von der anderen „gleich als Sache erworben" wird, diese erworbene Person aber ihrerseits wieder sich dadurch als Person gewinnt, daß sie selbst als erwerbende auftritt. So gewinnt „sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her" 385 . Einen Staat nennt Kant „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen". Die praktische Vernunft kennt einen „Staat in der Idee", dessen gesetzliche Form als a priori notwendig eingesehen wird. Er repräsentiert reine Rechtsprinzipien, die jedem wirklichen Staat als Norm dienen sollen. Der Staat enthält drei Gewalten: die Herrschergewalt in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt in der des Regierers und die rechtsprechende Gewalt in der Person des Richters. Die gesetzgebende Gewalt hängt an dem übereinstimmenden und vereinigten Willen aller „Staatsbürger". Deren „Attribute" sind gesetzliche Freiheit, bürgerliche Gleichheit und bürgerliche Selbständigkeit 386 . Für das Bürgerrecht gelten folgende Grundthesen: 1. Staaten befinden sich von Natur aus in einem nichtrechtlichen Zustand, wenn man sie in ihrem äußeren Verhältnis 185 A. a. O , VI, S. 278. " • A . a . O . , VI, S. 313 ff.; vgl. audl den Aufsatz „Uber den Gemeinsprudi: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" (1793), in: VIII, S. 273—313. bes. S. 289—306.

Metaphysik der Sitten

313

gegeneinander betrachtet. 2. Dieser Zustand ist prinzipiell ein Zustand des Krieges. 3. Ein Völkerbund nach der Idee eines ursprünglichen gesellschaftlichen Vertrages ist zur Erreichung des dauernden Friedens notwendig. 4. Diese Verbindung muß von Zeit zu Zeit erneuert werden. Das letzte Ziel des Völkerrechts ist der ewige Friede, der zuletzt als eine bloß regulative Idee zu gelten hat, an die aber kontinuierliche Annäherung möglich ist. Die dazu dienenden politischen Grundsätze sind realisierbar 387 . Einen Verein einiger Staaten, der dazu dienen soll, den Frieden zu erhalten, kann man den „permanenten Staatencongreß" nennen. Der Gedanke eines Weltbürgerrechts kommt in den Blick, wenn man bedenkt, daß Natur die Menschen auf einen abgeschlossenen Boden, nämlich die Kugeloberfläche der Erde, hingestellt hat. Es gibt ein ursprüngliches Recht auf den Boden, der dem menschlich-leiblichen Subjekt durch seine physische Existenz zugewiesen worden ist. Alle Völker stehen „ursprünglich" in einer Gemeinschaft des Bodens, die noch keine rechtliche Gemeinschaft des Besitzes ist. Jedes Volk hat ein Recht, mit dem anderen in eine mögliche Wechselwirkung (Kommerzium) zu treten, ohne darum vom anderen als Feind behandelt zu werden: Dieses auf die „mögliche Vereinigung aller Völker in Absicht auf gewisse allgemeine Gesetze ihres möglichen Verkehrs" gehende Recht könne das „weltbürgerliche" genannt werden 388 . Auch im zweiten Teil der „Metaphysik der Sitten", der die metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre abhandelt, ist es darauf abgesehen, apriorische Prinzipien der praktischen Vernunft im Sinne des Programms besonderer 181 A. a. O., VI, S. 350; vgl. f e r n e r : Zum ewigen Frieden (1795), in: VIII, S. 341—386. 188 A. a. O., VI, S. 352.

314

Programm und Methode der neuen Metaphysik

Metaphysik auf eine immer noch apriorische Sprache zu bringen, in der auch Begriffe vorkommen, die der Situation des menschlichen Subjekts entspringen. Daher ist jetzt von der „Tugend" als einer subjektiven moralischen Verfassung des Subjekts die Rede. „Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht. — Alle Stärke wird nur durch Hindernisse erkannt, die sie überwältigen kann; bei der Tugend aber sind diese die Naturneigungen, welche mit dem sittlichen Vorsatz in Streit kommen können" 389 . Tugend, formal genommen, sei die in der festen Gesinnung gegründete Ubereinstimmung des Willens mit der Pflicht: daher gibt es in dieser Hinsicht nur eine einzige Tugend. Faßt man aber den „Zweck" bzw. den Inhalt (Material) ins Auge, so ergeben sich mehrere Tugenden. Die „Verbindlichkeit zu der Maxime", die diesem Zweck vorschreibt, heißt „Tugendpflicht". Das oberste Prinzip der Tugendlehre sei: „handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann" 390 . Die Pflichten werden in solche gegen sich selbst und gegen Andere eingeteilt. Die ersten können einschränkend oder erweiternd (positive Pflichten gegen sich selbst) sein: In den einschränkenden Pflichten werden Verbote ausgesprochen, die dem Zweck der Natur des Menschen entgegenzuhandeln verbieten. Die positiven Tugendpflichten dagegen gebieten es, den eigenen Talenten und Naturanlagen „Kultur" angedeihen zu lassen. Ihre Devise ist: mache dich vollkommener als die bloße Natur dich schuf. Mit anderen Worten: Werde freies Werk deiner selbst. Dieser objektiven Einteilung der Pflichten geht eine „subjektive" parallel, die sich auf die Unterscheidung zwischen 189

A. a. O., VI, S. 394. A. a. O., VI, S. 395.

Metaphysik der Sitten

315

dem animalischen und dem moralischen Subjekt der Pflicht gründet. Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst, vom natürlichen Standpunkt aus betrachtet, besteht in der Selbsterhaltung seiner animalischen Natur. Die Pflicht gegen sich selbst, als moralisches Wesen betrachtet, schließt Untugenden wie: Lüge, Geiz und falsche Demut aus. Der Mensch ist der Gesetzgebung seiner eigenen praktischen Vernunft verpflichtet, die auch Gericht über sein Handeln abhält: das „Gewissen" ist die erfahrene Gegenwart des „inneren Gerichtshoies im Menschen" 391 . Im Gewissen zeigt sich die Bewegung des dauernden inneren Dialogs, den ich von verschiedenen Standpunkten aus mit mir selbst führe. Das „erste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst" lautet: „Erkenne (erforsche, ergründe) dich selbst.. ."392. Versuche, dein eigenes Herz zu durchschauen, ob es gut oder böse sei und ob die Quellen deiner Handlungen lauter oder unlauter seien. „Das moralische Selbsterkenntniß, das in die schwerer zu ergründende Tiefen (Abgrund) des Herzens zu dringen verlangt, ist aller menschlichen Weisheit Anfang." 393 Hieran hängt die bedeutende Rolle, die Kant der „Wahrhaftigkeit" zuweist. Im Hinblick auf den objektiven Zweck des Menschen gibt es Pflichten gegen sich selbst, z. B. diejenige der Kultur der eigenen Geistes- und Seelen- und Leibeskräfte. Diese Pflichten können nicht im Detail bestimmt werden: sie heißen daher unvollkommen. Was die Tugendpflichten gegen andere angeht, so ist hier die Unterscheidung zwischen Liebespflichten und den Pflichten der Achtung maßgebend. Liebe wird nicht als „Gefühl", d.i. als ästhetisches Wohlgefallen an anderen, 3,1 3

A. a. O., VI, S. 438. " A. a. O., VI, S. 441. A. a. O., VI, S. 441.

3,3

316

Programm und Methode der neuen Metaphysik

sondern als Lust an der Vollkommenheit anderer Menschen verstanden. Sie muß als Maxime des Wohlwollens gedacht werden, die das „Wohltun" zur Folge hat 394 . Liebespfliditen sind: Wohltätigkeit, Dankbarkeit, Teilnehmung. Der Tugendpflicht der Achtung für andere Menschen ist das Laster des Hochmuts, des Übelredens und der Verhöhnung entgegengesetzt. Innigste Vereinigung der Liebe mit der Achtung ist Fundament für die Freundschaft. Vertrauen und übereinstimmende Auffassung der Dinge machen es den Freunden möglich, sich gegenseitig zu erschließen und aus dem Gefängnis des Alleinseins auszubrechen, um die Freiheit erweiterten Lebens zu genießen. Ein Gesamtüberblick vor allem über die „besondere" Metaphysik Kants macht deutlich, daß sich hier die philosophische Vernunft ans Werk macht, den Reichtum des Seienden auf die Sprache philosophischer Begriffe zu bringen und die Welt als systematische Ordnung zu begreifen. Im Dienste des Systemgedankens steht dabei das Unternehmen, eine Brücke von den allgemeinen Prinzipien der reinen Vernunft zu den besonderen empirischen Gegebenheiten herzustellen. Systemgedanke und einigende Durchdringung der erscheinenden Wirklichkeit durch den philosophischen Begriff gehören zusammen. Wenn man das bedenkt, so werden die Neuansätze im Opus postumum als Fortsetzung und Verschärfung des Systemprogramms der Metaphysik deutlich. In den Fragmenten des nachgelassenen Werkes schwebt Kant ein System der Transzendentalsphilosophie vor, in welchem von der reinen Vernunft des Subjekts her die Erfahrung nicht als Bruchstück bzw. Aggregat, sondern als System dadurch verwirklicht wird, daß die „Kräfte", welche das natürliche Bewußtsein in die äußere Dingwelt verlegt, als A. a. O., VII, S. 449

Neuansätze im Opus postumum

317

in Wahrheit aus der inneren geistigen Bewegung des Subjekts selbst hervorgehend aufgefaßt werden. Damit nimmt Kant einen Begriff von Kraft unter transzendentalphilosophisch-kritischen Voraussetzungen wieder auf, der sich bei Leibniz gezeigt hat, der die „Kraft" als Vermögen des verbindenden Vorstellens begriffen hat. 4. Neuansätze

im Opus

postumum395

Das in dieser Hinsicht maßgebende Programm benennt Kant als dasjenige des „Übergangs", insbesondere von der Metaphysik zur Physik. Was hat es mit diesem Ausdruck auf sich? Dieser Übergang wird als Bewegung des philosophischen Denkens verstanden, durch welche eine Einigung zwischen reiner Vernunft und Erfahrung zu dem Ziele geschieht, daß der zunächst unübersehbare und nur aggregathaft zusammengestellte Bereich der Erfahrung in ein System, ein Ganzes verwandelt wird. Wenn hier versucht werden soll, aus den vielen z. T. einander heterogenen Ansätzen der verschiedenen Convolute dieses nachgelassenen Werkes eine durchgehende Konzeption herauszulesen, so mag zunächst das Programm des Ubergangs im Zeichen einer Systematisierung der bewegenden Kräfte betrachtet werden. Dabei sind folgende Modelle maßgebend: 1. werden die bewegenden Kräfte als Ursachen verstanden, welche in der Natur Wirkungen vor allem in der Form von Ortsbewegungen hervorbringen. Dieser Art sind z. B. auch Anziehung und Abstoßung. Die physischen Kräfte werden aber nicht nur in die Position des Gegenstandes der Naturerkenntnis gerückt, sondern 385 Es handelt sich dabei um nachgelassene Fragmente aus Kants letzten J a h r e n (1796—1803), die zum ersten Male in diplomatisch getreuem Abdruck und in ihrer Gesamtheit in den Bdn. XXI und XXII der Akademieausgabe (1936 u. 38) erschienen. (Hrsg. von G. Lehmann).

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übernehmen auch die Funktion des „Affizierens" der Sinnesorgane des beobachtenden Subjekts. Dadurch ist das Subjekt der Einwirkung gewisser Kräfte ausgesetzt, auf die es angewiesen ist, um überhaupt Erfahrungen zu gewinnen. Andererseits kann das Subjekt nicht über sie verfügen und bleibt in einer gewissen zufälligen Abhängigkeit von ihnen: jedenfalls solange sie als äußere Kräfte interpretiert werden müssen. Die dadurch entstehenden Erfahrungen sind unter dieser Voraussetzung nur aggregathaft, können auch nicht den Rang des Systems gewinnen. Daher muß die Philosophie in der Durchführung des Übergangsprogramms den Gedanken eines „Systems" der bewegenden Kräfte zu realisieren suchen. So heißt es im 2. Convolut398, daß es im Bereich der empirischen Naturforschung zuerst nötig sei, darüber belehrt zu werden, wie und nach welchem Prinzip man die mannigfaltigen bewegenden Kräfte der Materie aufsuchen soll. Dieses Geschäft habe die Funktion einer philosophischen Propädeutik der Physik, um „diese mit der Metaphysik zu verknüpfen, ohne welche die letztere, welche ein System werden soll, in dieser Qualität nie erwartet werden kann". Dabei muß die systematische Form der wissenschaftlichen Erkenntnis a priori gegeben sein: sie stellt das Fach werk dar, welches durch die empirischen Inhalte, die durch die Naturforschung geliefert werden, nach Prinzipien ausgefüllt wird „und so die Physik auf den Wert eines Systems Anspruch machen kann" 397 . Kant versucht, dieses System am Leitfaden seiner Kategorien zu entwickeln und findet dabei Kräfte folgender Art: Schwere, Druck (Quantität), Flüssigkeit oder Festigkeit, Elastizität (Qualität), Stoß oder Druck (Relation), Verdrängung eines Körpers durch einen anderen (Modalität). 39t 3

XXI, S. 861. " XXI, S. 169.

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Metaphysische Naturwissenschaft (Philosophia naturalis) ist die systematische Wissenschaft von den bewegenden Kräften der Materie im Weltraum. Das System kann nur auf Begriffen und Lehrsätzen a priori beruhen: es darf den Namen einer Metaphysik der Natur tragen. Zugleich muß es aber auch auf Erfahrungsprinzipien gegründet werden und darf in diesem Betracht als Physik angesprochen werden. Letztere allein schafft nur Aggregate von Wahrnehmungen und keine Vollständigkeit des Systems. Physik als solche ist nur fragmentarisch und nicht systematisch. Daher muß, damit ein empirisches System zustande kommen kann, ein Ubergang von der Metaphysik zur Physik geschehen. Die Vermittlung zwischen transzendental-apriorischen Grundsätzen und Erfahrungsbereich, welche schon in den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft angefangen wurde, muß durch den neu unternommenen „Übergang" noch weiter vorgetrieben werden, weil sonst die Gefahr besteht, daß ein für das System „gefährlicher Sprung den Leitfaden der Philosophie abreißen und die Sätze derselben dem Spiel der Meinungen und Hypothesen überliefern würde" 398 . Damit nun das Subjekt dem Postulat des Systems gerecht zu werden vermag und sich zufällig von außen einwirkenden Kräften nicht als ausgesetzt erfährt, muß es die Mannigfaltigkeit dieser Kräfte in sich hineinnehmen, um sie auf diese Weise gedanklich verfügbar zu machen und sie in die Form des Systems zu bringen. Dadurch ergibt sich ein Motiv für die Annahme der Theorie der „Selbstaffektion". Das Subjekt stellt auf Grund seiner leiblichen Existenz ein System dieser bewegenden Kräfte dar: die Vorgänge seiner eigenen Leiblichkeit repräsentieren ihm das Geschehen in der äußeren Natur. XXI, S. 177.

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Wenn sich gezeigt hat, daß die Überlegungen des Opus postumum die Gedankengänge der metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft in der Richtung der Uberwindung des Grabens zwischen Apriorität und wirklicher Erfahrung fortsetzen, dann liegt die Frage nahe, ob nicht ein entsprechender Übergang auch in der Metaphysik der Sitten zu geschehen hat. Es gibt in der Tat Bemerkungen im Opus postumum, in denen Kant eine entsprechende Aufgabenstellung andeutet, in der es darauf ankäme, einen Übergang von den rechtsphilosophischen und tugendphilosophischen Grundsätzen der Metaphysik der Sitten zur empirischen Wissenschaft von den moralischen Möglichkeiten des Menschen (man könnte von einer moralischen Anthropologie sprechen, wie sie etwa in Adam Smith' Theorie der sittlichen Gefühle (Ethologie) vorgelegt wird) zu leisten. In diese Richtung scheint z. B. ein Satz wie der zu deuten: „Auch Ideen der moralischpraktischen Vernunft haben bewegende Kräfte auf die Natur des Menschen .. ,"399. Im folgenden möge die Ubergangsproblematik noch einmal von einer anderen Seite her dargestellt werden, wobei vorausgesetzt werden soll, daß die dabei verfolgten Gedankengänge sowohl im Hinblick auf eine Metaphysik der Natur wie auch auf eine Metaphysik der Sitten Gültigkeit haben. Man hat von der „transzendentalen Methode" bei Kant gesprochen. Diese kann man grob so charakterisieren: zunächst „isoliert" Kant die reine Vernunft in verschiedenen Richtungen: als theoretische und als praktische Vernunft. Er stellt sie auf den Stand ihrer eigenen Spontaneität und reinigt sie von allen empirischen Beimischungen. Ist dieser Schritt geschehen, welcher etwa der traditionellen „analyXXII, S. 59.

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tischen Methode" entspricht, dann folgt eine Umwendung des philosophischen Gedankens: die reine Vernunft muß ihren W e g wieder zur Unmittelbarkeit der Empfindung des Wahrnehmens und sinnlichen Anschauens zurückfinden. Das ist dem Verfahren der „synthetischen Methode" analog. Auf diesem Wege begegnet das Denken Problemen der „Anwendung" und der Durchdringung von empirischer Mannigfaltigkeit durch Vernunftsystematik. Das Problem des Übergangs von reiner transzendentaler Vernunft zur Erfahrung kommt an verschiedenen zentralen Stellen der Kantischen Philosophie ins Spiel: so z.B. im Bereich der Schematismustheorie, in den System- und Zwecküberlegungen in der Kritik der Urteilskraft, im Programm der „besonderen Metaphysik" der Natur und der Sitten, und zuletzt ausdrücklich in den Ansätzen des Opus Postumum. Es ist vom „Übergang" von der Metaphysik der Natur zur Physik die Rede. Ein analoges Programm. Das soll besagen, daß die allgemeinen transzendentalen Grundurteile, auf welchen die Verfassung der Natur gründet, auf ihre Formstrenge verzichten, ihre Isoliertheit gegenüber dem empirischen „Material" aufgeben und sich gleichsam in das Gebiet der Empfindung hineinarbeiten. Im Bereich des Materials selbst, welches von der wirklichen Erfahrung aufgenommen wird, die z. B. Physik leistet, werden jetzt immer weitere, vielleicht bisher verborgen gebliebene apriorische Strukturen gesucht. Das Empfindungsmaterial wird nicht von vornherein als hoffnungslos aprioritätsfremd behandelt. Die Vernunft sucht sich selbst auch noch in der Empfindung und durchdringt damit denjenigen Bereich, der vom Standpunkt der Vernunftkritik aus als radikal alogisch angesehen wird. Auf diese Weise versucht Vernunft die ganze Wirklichkeit zu durchdringen und als System zu begreifen. Der Ubergang, um den es sich handelt, wird durch die Aufgabe bezeichnet, das „System der Kaulbach, Immanuel Kant

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bewegenden Kräfte" der Natur a priori zu entwickeln. Diese Kräfte sind, empirisch gesehen, Momente der Wirkung, welche ein Ding auf das andere ausübt: aber sie sind auch Faktoren des Geschehens, bei welchem das empfindende Subjekt im Hinblick auf seine Sinnesorgane „bewegt" wird, sind also bei der „Affection" der Sinnesorgane im Spiele. Eine transzendentale Untersuchung des Systems dieser Kräfte läuft also gleichzeitig auf eine transzendentale Lehre von der Empfindung hinaus 400 . Daher werden jetzt auch von der transzendentalen Theorie her gesehen solche Eigenschaften der Materie wie Rauheit, Glätte, Weichheit, Härte, Flüssigkeit, Festigkeit usw. zum apriorischen Gegenstand gemacht. Um die Aufgabe einer apriorischen Entwicklung des Systems der bewegenden Kräfte zu lösen, muß eine Wendung des Bewußtseins von den ersdieinend-dinglichen Kräften zu denjenigen, welche „in mir" am W e r k e sind, vollzogen werden. Die Kräfte müssen, um auch als Gegenstände der äußeren Erfahrung erkannt werden zu können, primär durch „innere" Erfahrung aufgeschlossen werden. Soll ein apriorisches System der bewegenden Kräfte in der Natur möglich sein, dann muß sich der Philosoph selbst auf seine Erfahrung der inneren Bewegung berufen können: Apriorität wird zugleich als Innerlichkeit der Bewegung und der sie hervorbringenden Kräfte interpretiert. Damit hat die „äußere" Affektion ihre Rolle ausgespielt: das volle Gewicht fällt jetzt auf die Affektion innerer Art. Kant spricht von der „Selbstaffection", welche durch die Spontaneität des „Ich denke" im Bereich der inneren Erfahrung geleistet wird. In diesem Zusammenhang ist von „selbstbewußten, bewegenden Kräften des Subjects" die Rede. Es kommen zur "" Vgl. mein Budi: Der philosophische Begriff der Bewegung, KölnGraz 1965, S. 205 ff.

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Sprache die „Erscheinungen a priori zum Behuf eines Systems empirischer Erkenntnis", was „unmöglich und widersprechend" zu sein scheint, denn Erscheinungen enthalten Empfindung. Aber den Widerspruch versucht Kant durch den Gedanken zu lösen, daß die „Wahrnehmung äußerer Gegenstände nichts anders ist als der Actus des Subjects durch welchen dies sich selbst afficirt und Wahrnehmungen nichts anders als mit Bewußtseyn verbundene bewegende Kräfte eben desselben sind, durch welche der Verstand nur so viel nach Principien für das Empirische (passive der Vorstellungen) aushebt als er selbst zum Behuf möglicher Erfahrung hinein gelegt hat" 401 . Das Subjekt wird sich seiner eigenen Kräfte in der Selbstaffektion bewußt: es legt diese seine Kräfte in einem apriorischen systematischen Entwürfe aus und erfährt sie zugleich als innere Wirklichkeit. Dadurch ergibt sich das Vor-bild eines Systems bewegender Kräfte, die sich auch in der äußeren physischen Welt objektiv spiegeln. Es ist konsequent, wenn in diesem Zusammenhang Empfindung im apriorischen Sinne auf den Plan tritt. So heißt es, daß die „Empfindung welche die selbsteigene Wirkung des wahrnehmenden Subjects ist in der That nichts anders als die sich selbst zur Zusammensetzung bestimmende bewegende Kraft ist und die Wahrnehmung äußerer Gegenstände nur die Erscheinung der Automatie der Zusammenfügung der das Subject afficirenden bewegenden Kräfte selbst ist" 402 . Das Verfahren der Apriorisierung auch äußerer Wahrnehmung führt dazu, daß diese in Wahrheit als „Erscheinung" eines „inneren" Vorganges begriffen wird, der selbst Bewegung und Erfahrung innerer Wirklichkeit ist. Die XXII, S. 391 £.