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German Pages [334] Year 2016
Ottoman Studies / Osmanistische Studien
Band 3
Herausgegeben von Stephan Conermann, Sevgi Ag˘cagül und Gül S¸en
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Veruschka Wagner
Imagologie der Fremde Das Londonbild eines osmanischen Reisenden Mitte des 19. Jahrhunderts
Mit 3 Abbildungen
V&R unipress Bonn University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2366-3677 ISBN 978-3-7370-0613-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2016, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Erste Manuskriptseite des Seya¯hatna¯me-i Londra (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Digitalen Bibliothek des Münchener Digitalisierungszentrums).
Meiner Familie
Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . I. Thema und Fragestellung II. Methodisches Vorgehen . III. Quellenlage . . . . . . . . IV. Forschungsstand . . . . . V. Gliederung der Arbeit . .
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1. Das 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Entwicklungen im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Historischer Überblick Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Wirtschaftliche Entwicklungen in England im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Die Londoner Weltausstellung von 1851 . . . . . . . . . . . . 1.2.2.1 Im Vorfeld der ersten Weltausstellung . . . . . . . . . 1.2.2.2 The Great Exhibition of the Works of Industry of all Nations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.3 In Folge der Ausstellung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Historischer Überblick Osmanisches Reich . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Politische und wirtschaftliche Entwicklungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Die Beteiligung des Osmanischen Reiches an internationalen Ausstellungen im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Anglo-osmanische Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Die Gegenseitige Wahrnehmung der Osmanen und Europäer 1.4.1.1 Zur Entwicklung des »Türkenbildes« in Europa . . . . 1.4.1.2 Zur Darstellung der Europäer im Osmanischen Reich.
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Inhalt
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2. Reisen und Schreiben übers Reisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Revolution des Reisens im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . 2.2 Die Gattung Reisebericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Definitorische Ansätze und inhaltliche Komponenten . . . 2.2.2 Die Präfiguration des Reisenden . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Osmanische Reiseliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Vom osmanischen Gesandtschaftsbericht zur osmanischen Reisebeschreibung des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . .
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3. Der Reisebericht Seya¯hatna¯me-i Londra . . . . . . . ˙ 3.1 Zum Autor des Seya¯hatna¯me-i Londra . . . . . . ˙ 3.2 Zum Werk Seya¯hatna¯me-i Londra . . . . . . . . ˙ 3.3 Bemerkungen zur Übersetzung . . . . . . . . . . 3.3.1 Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Anmerkungen zu konkreten Umsetzungen 3.4 Kommentierte Übersetzung . . . . . . . . . . . . 3.5 Rekapitulation der Reise . . . . . . . . . . . . .
1.5 Die Anfänge der osmanischen Presse . . . . . . . . . . . 1.5.1 Die ersten auf Osmanisch erschienenen Zeitungen 1.5.2 Die Cerı¯de-i Hava¯dis . . . . . . . . . . . . . . . . ˙ 1.5.3 Die Zeit nach 1855 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Begrifflichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Verwendung von Stereotypen . . . . . . . . . . 4.1.3 Abgrenzung von Stereotyp und Image . . . . . . 4.2 Imagologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Forschungsschwerpunkte und Aufgabenbereiche 4.3 Der Vergleich als Grundlage der Analyse . . . . . . . 4.3.1 Der Vergleich in der Reiseliteratur . . . . . . . . 4.3.2 Die drei Techniken des Vergleichs . . . . . . . . 4.4 Stereotypenindikatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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5. Heteroimage und Autoimage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Heteroimage: Das Bild Englands und der Engländer im Seya¯hatna¯me-i Londra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ˙ 5.1.1 Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Antithetische Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Reziproke Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3.1 Die positive Darstellung der Engländer und Englands. 5.1.3.2 Die negative Darstellung der Engländer und Englands 5.1.4 Zwischenfazit Heteroimage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Autoimage: Das Bild der Osmanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Reziproke Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.1 Die positive Darstellung der Osmanen . . . . . . . . . 5.2.2.2 Die negative Darstellung der Osmanen . . . . . . . . . 5.2.3 Zwischenfazit Autoimage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Darstellungsmodi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Motiv des Staunens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Topos der Unbeschreibbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Glaubwürdigkeit des Autors / Beglaubigungsstrategien . . . . 5.3.4 Zwischenfazit Darstellungsmodi . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Der Vergleich des Seya¯hatna¯me-i Londra mit dem Seya¯hatna¯me-i Avrupa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Zu Mehmed Rauf, Verfasser des Seya¯hatna¯me-i Avrupa . . . ˙ 5.4.2 Zum Werk Seya¯hatna¯me-i Avrupa . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Vergleichende Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3.1 Formale Gegenüberstellung . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3.2 Inhaltliche Gegenüberstellung . . . . . . . . . . . . . 5.4.3.3 Sprachliche bzw. strategische Gegenüberstellung . . . 5.4.3.4 Zwischenfazit vergleichende Analyse . . . . . . . . . .
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6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teilübersetzung von Mehmed Raufs Seya¯hatna¯me-i Avrupa . . . . . . ˙
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9. Online-Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung
Hiermit möchte ich all denjenigen danken, die mich in meiner langen Promotionsphase auf unterschiedliche Weise unterstützt haben und somit ebenfalls einen Beitrag dazu geleistet haben, dieses Projekt zu Ende zu bringen. Mein Dank gilt meinen Professoren Frau Christine Schirrmacher und Herrn Stephan Conermann sowie Caspar Hillebrand, Sarah Dusend, Verena Ricken, Anke Dunsche, Seher Neöz, Elena Smolarz und Joel Holland, die mir Feedback und Anregungen gegeben, mich motiviert und für mich korrekturgelesen haben. Besonders möchte ich mich auch bei meiner Familie bedanken, die mir während der ganzen Zeit in allen Bereichen geholfen hat und stets an meiner Seite stand.
Vorwort
Stereotype beeinflussen die Wahrnehmung, reduzieren das Gegenüber auf wenige bestimmende Charakteristika und erlauben es, ein pauschalisiertes Bild zu entwerfen. Von nationalen Stereotypen lässt sich sprechen, wenn zwei oder mehrere Nationen in Kontakt miteinander kommen und auf vereinfachende Weise über die jeweils andere oder eigene Nation zu urteilen vermögen. Das ist nicht nur heute so, sondern fand ebenfalls in der Vergangenheit durchaus Anwendung. Welche Bilder und Wahrnehmungen ein osmanischer Reisender über die Engländer in seiner Reisebeschreibung seiner Leserschaft übermittelt und welche Rückschlüsse er dabei auf seine eigene Kultur zulässt, zeigt sich in der vorliegenden Studie, deren Kernstück ein osmanischer Reisebericht über London und England Mitte des 19. Jahrhunderts bildet.
Einleitung
Auszug aus Scherer: Londoner Briefe über die Weltausstellung, Leipzig 1851 London, 24. Mai – Die Türkische Sammlung gewinnt außerordentlich durch sorgfältiges Arrangement und geschmackvolle Decoration. Ihre Hallen öffnen sich gerade gegen das Transept, und verlangen daher besondere Beachtung. Aus mit Gold und Roth durchwirkten weißen Gazestoffen wölbt sich in Form einer Moschee leicht und gefällig ein Zelt, das der Halbmond überragt; von den Pfosten wehen die Fahnen und Roßschweife mit Türkischer Inschrift, und längs den Wänden hangen die Teppiche in bunter Farbenpracht. Da man erst vorgestern damit fertig geworden, so ist dies ein neuer Reiz, welcher den Effekt des Transepts verstärkt und allgemeines Lob erntet. Auch die innere Aufstellung der Gegenstände ist recht verständig und übersichtlich; die Rohprodukte sind systematisch geordnet – eine Erleichterung für den dabei interessierten Beschauer, welche z. B. der Zollverein ganz übersehen. Tabak behauptet natürlich einen Vorderplatz, und mit ihm verbunden ist ein Assortiment der kostbaren Pfeifen, worunter ein Schibuk, dessen Perlen- und Edelstein-Garnitur auf 10,000 Pfd. St. geschätzt wird. Aus einem Seitencabinet strömen alle Wohlgerüche Arabiens uns entgegen und würzen weit und breit die Umgebung. Von Metallwaren verdienen die Kupfer- und Bronzegefäße eine auszeichnende Erwähnung. Wir sehen darunter die Ausstattung einer vornehmen Küche und Haushaltung von Konstantinopel. Die Instrumente der sogenannten Janitscharen-Musik dürfen wir als ein der Türkei eigenthümliches Fabrikat nicht übergehen. Dies in den Vorhallen der Moschee. Im Innern begegnen wir einer reichhaltigen Garderobe des Harems, deren silber- und goldgestickte Gewänder uns an alle die Fatimen und Zuleiken des Theaters und an die Prinzessin Scheherazade in tausend und eine Nacht erinnern. Goethe’s westöstlicher Divan wird hier der Einbildungskraft lebendig. Von dem Serail auf dem goldenen Horn des Bosporus treten wir zurück in das schlichte Haus des Bewohners von Galata. Auch für seine Bedürfnisse ist in ordinairen, aber wohlfielen Stoffen gesorgt, und manche Bearbeitungen der Wolle und Seide werden im Orient so lange alle Europäische Concurrenz aushalten, als nicht Sitten und Lebensweise total sich ändert. Aegypten hat ein eigenes Gemach für sich, bietet aber außer Rohproducten, groben Geweben und einigen ausgestopften Fischen Nichts von Bedeutung.1 1 Scherer, Hermann: Londoner Briefe über die Weltausstellung, Leipzig 1851, S. 175ff.
16
I.
Einleitung
Thema und Fragestellung
Was Scherer hier in seinen Londoner Briefen über die Weltausstellung beschreibt, sind die Stände der Türkei und Ägyptens, die 1851 als selbstständige Teile des Osmanischen Reiches auf der ersten international angelegten Weltausstellung in London auftraten. Diese fand im eigens dafür gebauten, prestigeträchtigen Chrystal Palace statt und verkörperte die Machtentfaltung Großbritanniens, auf dessen Höhepunkt sie sich zu jener Zeit befand. Scherer liefert uns neben der Beschreibung von Ausstellungsexponaten einen Einblick nicht nur in die damalige Lage des Osmanischen Reiches, sondern auch in die europäische bzw. deutsche Sichtweise auf die damalige Situation der Großmacht. Beides wichtige Aspekte für die vorliegende Arbeit, geht es doch darum, anhand eines von einem Osmanen Mitte des 19. Jahrhunderts verfassten Reiseberichts über London und die dortige Weltausstellung ein Bild über England, die Engländer2 und die Osmanen herauszuarbeiten. Bei der International World Fair, wie sie genannt wurde, handelte es sich um ein Großereignis, welches internationales Interesse auf sich zog und neben zahlreichen Ausstellern tausende Besucher aus der ganzen Welt anlockte. Unter ihnen befand sich ein osmanischer Reisender, der über die Industrieausstellung und seine Erfahrungen in England während seines mehrmonatigen Aufenthaltes einen knapp hundertseitigen Bericht mit dem Titel Seya¯hatna¯me-i Londra (London-Reisebericht) verfasste. Der zu untersuchende Reisebericht fällt in eine spannende Zeit, nämlich das 19. Jahrhundert, das in der Forschung allgemein als langes Reformjahrhundert3 bezeichnet wird. Geprägt ist es von Veränderungen und Umbrüchen, die dem Imperium dazu verhelfen sollen, seine vor allem von Europa in Frage gestellte Existenz zu retten. In den 1850er Jahren, der Zeit, in der der Verfasser des London-Reiseberichts England besuchte, gab es einen »Modernisierungsschub«4 im Osmanischen Reich, der sich durch eine Orientierung an Europa und zahlreichen Reformen auszeichnet. Charakteristisch für diese Zeit ist auch die steigende Anzahl an Reisen in die europäischen Großstädte und deren anschließenden schriftlichen Abfassungen, mit denen die Autoren die Leserschaft im Heimatland über ihre Beobachtungen und Erfahrungen informieren. Dabei können Reiseberichte, wie auch andere Texte über andere Länder und Kulturen, zur Konstitution und Reproduktion von Fremd- und Selbstbildern dienen. Mit dem London-Reisebericht liegt uns eine einzigartige und 2 Dem damaligen als auch heutigen Alltagssprachgebrauch folgend wird der Begriff England bzw. analog dazu auch Engländer in der vorliegenden Arbeit synonym mit Großbritannien bzw. Briten verwendet. Siehe dazu auch Langford, Paul: Englishness Identified. Manners and Character 1650–1850, Oxford 2000, S. 12ff. 3 Kreiser, Klaus: Der Osmanische Staat 1300–1922, [= Oldenbourg Grundriß der Geschichte; 30], München 2001, S. 36; Ortaylı, I˙lber: ˙Imparatolug˘u’nun en Uzun Yüzyılı [Das längste Jahrhundert des (Osmanischen) Reiches], Istanbul 1983. 4 Kreiser, Klaus und Christoph K. Neumann: Kleine Geschichte der Türkei, Bonn 2005, S. 317.
Methodisches Vorgehen
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bislang in der Forschung kaum berücksichtigte Quelle vor, die im Blick auf das als Mutterland der Industrialisierung geltende England ein Bild nicht nur vom Anderen sondern auch vom gewünschten Selbst zeigt. Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen das Bild Englands und der Engländer und das Bild der Osmanen. Konkret geht es um die Beantwortung folgender Fragen: 1. Welches Bild Englands und der Engländer überliefert der Verfasser des vorliegenden Reiseberichts in seinem Text? 2. Wie sehen dabei die Eigendefinition der Osmanen und die eigene Positionierung aus? Neben dem konkreten Bild spielt die Frage nach der Art und Weise der Darstellung und der Vorgehensweise des Autors eine wichtige Rolle. Welche Verfahren und Strategien wendet der Verfasser des Reiseberichts auf inhaltlicher als auch auf sprachlicher Ebene an, um dem Leser das intendierte Bild zu vermitteln?
II.
Methodisches Vorgehen
Um das Bild des Eigenen und des Fremden in der vorliegenden Reisebeschreibung zu untersuchen, wird als Methode in erster Linie auf die Imagologie und die mit ihr in enger Verbindung stehenden Stereotypenforschung zurückgegriffen. Bei der Imagologie, die als literaturwissenschaftliche Forschungsrichtung innerhalb der Vergleichenden Literaturwissenschaft angesiedelt ist, ist die Fremdheit das tragende Konzept. Der Blick auf das Fremde wird vorausgesetzt und nationenbezogene Fremd- und Selbstbilder stehen im Mittelpunkt. Die meist stereoptypen Bilder der Fremd- und Selbstdefinition liefern sowohl eine Bewertung der Gruppe, auf die sie sich beziehen, als auch eine Charakterisierung der Gruppe, die solche Bilder prägen. Die Anderen dienen bei der Darstellung zur Abgrenzung und Definition des Eigenen. So sind es (auch in der Literatur) häufig Reisen, durch die Bilder des anderen Landes entstehen, denn auf der Reise vollzieht sich der tatsächliche Kulturkontakt. Dadurch ist es die Gattung der Reiseliteratur, die geradezu für eine Untersuchung nationaler Images prädestiniert ist. Die Vermittlung der darin enthaltenen Bilder des anderen Landes unterliegt allerdings bestimmten Strategien. Um eine möglichst adäquate Darstellung des Fremden zu erlangen, setzen viele Schreibende den Vergleich als Stilmittel ein. Vergleiche beschreiben dabei Unterschiede bzw. Gegensätze oder Gemeinsamkeiten bzw. Ähnlichkeiten und dienen dem Autor dazu, dem Leser das Erlebte und Beobachtete näher zu bringen. Auch in der Imagologie ist der Vergleich ein unverzichtbares Kriterium, weshalb er hier als Grundlage der Analyse dienen soll. Dabei wird erstens auf die von Beller entworfenen Techniken des Vergleichs innerhalb der Imagologie zurückgegriffen, bei der drei verschiedene Methoden zur Präsentation des Fremden und Eigenen zum Einsatz kommen. Durch deren Analyse soll das vom Autor konstruierte und überlieferte England- und Engländerbild herausgearbeitet werden. Es wird dabei beabsichtigt, mit dem Fremdbild (Heteroimage) der Engländer gleichzeitig das Eigenbild (Autoimage) der
18
Einleitung
Osmanen zu analysieren. Dafür können auch die Verfahren Bellers, insbesondere die der reziproken Argumentation, herangezogen werden. Unterstützend zu Bellers Techniken des Vergleichs bilden zweitens die von Pümpel-Mader entwickelten Stereotypenindikatoren auf sprachlicher Ebene einen weiteren Aspekt der Untersuchung. Dabei handelt es sich um eine charakteristische Wortwahl, Satzstruktur und Ausdrucksweise, durch die der Autor den Leser lenken kann, indem der Leser durch Andeutungen auf Textebene bereits eine bestimmte Erwartungshaltung gegenüber dem Ausgesagten einnimmt. Anhand dieser Verfahren kann erarbeitet werden, welche Methoden der Autor des Reiseberichts bei der Gegenüberstellung der eigenen und fremden Kultur zur Darstellung eines Fremd- und Eigenbildes einsetzt. Dabei geht es nicht um den Wahrheitsgehalt des Dargestellten, sondern um die wahrgenommene Wirklichkeit, d. h. um die Frage, welche Bilder auf welche Weise überliefert werden und zu welchem Zweck dies geschieht.5 Des Weiteren steht drittens die Frage nach der Verwendung bestimmter wiederkehrender Beschreibungsstrategien im Raum, die bei der Repräsentation des Eigenen und Fremden im vorliegenden Reisebericht auftreten. Durch die Herausarbeitung der für Reiseberichte typischen Strategien soll ermittelt werden, inwiefern sie dem Autor zur Untermauerung seiner Darstellungen der Engländer und Osmanen dienen. Schließlich wird viertens ein zweiter osmanischer Reisebericht aus derselben Zeit und mit demselben thematischen Schwerpunkt zum Vergleich herangezogen, um Parallelen und Abweichungen innerhalb der Darstellung von England und den Engländern zu ermitteln.
III.
Quellenlage
Die meisten Schriften, die über London und die erste internationale Industrieausstellung von 1851 berichten, wurden noch im Jahr der Ausstellung bzw. im Jahr darauf verfasst. Konzentriert man sich auf die europäischen Sprachen, so gibt es neben den offiziellen Berichten, die über die Londoner Industrieausstellung von 1851 in Auftrag gegeben wurden,6 eine Fülle an Berichten, die von Besuchern verfasst worden sind. So zählt zu den deutschen Schilderungen neben dem eingangs erwähnten Londoner Briefen von Scherer7 unter anderem Schle5 Zur ausführlichen Darlegung der methodischen und theoretischen Grundlagen der Analyse mit entsprechenden Literaturangaben siehe Kap. 4. 6 Henry Cole, verantwortlich für den Official Descriptive and Illustrative Catalogue of the Great Exhibition (London 1851), ließ beispielsweise vier große Bände veröffentlichen. Aus ebenfalls drei Teilen besteht ein Amtlicher Bericht über die Industrie-Ausstellung aller Völker zu London im Jahre 1851 (Berlin 1852), der von der Berichtserstattungs-Kommission der Deutschen Zollvereins-Regierungen verfasst wurde. William A. Drew, ein Beauftragter aus den Staaten, hält seine Eindrücke in einem Buch mit dem Titel Glimpses and Gatherings, During a Voyage and Visit to London and the Great Exhibition, in the Summer of 1851 (Boston 1852) fest. 7 Hermann Scherer fasste seine Londoner Briefe über die Weltausstellung (Leipzig 1851) in einem
Quellenlage
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singers Wanderungen durch England.8 Einen Überblick über die von Engländern abgefassten Werke und der auf Französisch festgehaltenen Beschreibungen liefert Claire Hancock in ihrem Werk Paris et Londres au XIXe siècle. Représentations dans les guides et récits de voyage (erschienen 2003).9 Zu den englischsprachigen Berichten zählen ebenfalls die von amerikanischen Besuchern angefertigten Reisebeschreibungen.10 Ein osmanischer Beobachter, Salaheddin Bey, beschreibt in seinem auf Französisch abgefassten Bericht über die Pariser Ausstellung von 1867 eingangs kurz die frühere Londoner Ausstellung von 1851.11 Neben diesen Reisebeschreibungen gibt es auch Autoren, die allgemein über die Merkwürdigkeiten Londons zur damaligen Zeit geschrieben haben.12 Auf Osmanisch konnten bisher zwei Reiseberichte ausfindig gemacht werden, die über die Londoner Weltausstellung berichten. Diese sind das Seya¯hatna¯me-i Londra ˙ (London-Reisebericht), dessen Verfasser unbekannt ist, und das Seya¯hatna¯me-i ˙ Avrupa (Europa-Reisebericht) von Mehmed Rauf. Beide Werke liegen in gedruckter ˙ Form vor. Aufgrund der mittlerweile guten Aufarbeitung osmanischer Texte in der Türkei ist das Seya¯hatna¯me-i Londra zudem online zugänglich. Über die Istanbuler ˙ Atatürk-Bibliothek (Atatürk Kitaplıg˘ı) ist das Werk unter der Signatur 914.21 SEY 914.21 SEY 1269 H/1853 113 erreichbar. Außerdem ist es auch über die digitale Bibliothek des Münchener Digitalisierungszentrums zugänglich. Zwei identische Ausgaben sind unter der Signatur 9148961 A.or. 612014 bzw. 9680890 A.or. 2007.49115
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Band zusammen und veröffentlichte sie noch im selben Jahr. Aus ihm stammt der zu Beginn dieser Arbeit verwendete Textausschnitt über den osmanischen Pavillon auf der Londoner Ausstellung. Schlesinger, Max: Wanderungen durch London, Berlin 1852/1853. Die Zahl der deutschsprachigen Englandreisebeschreibungen in der Zeit von 1827 bis 1860 beläuft sich auf etwa 80. Siehe Fischer, Tilman: Reiseziel England. Ein Beitrag zur Poetik der Reisebeschreibung und zur Topik der Moderne (1830–1870), [= Philologische Studien und Quellen; 184], Berlin 2004, Vorwort S. 13. In ihrer Bibliographie unterscheidet Hancock nicht nur zwischen von Franzosen und Engländern verfassten Beschreibungen, sondern auch zwischen Reiseführern (guides de voyage) und Reiseberichten (récits de voyage). Siehe Hancock, Claire: Paris et Londres au XIXe siècle. Représentations dans les guides et récits de voyage, Paris 2003. Greeley widmet beispielsweise einen Teil seiner Beschreibung London und den dortigen Gegebenheiten. Siehe Greeley, Horace: Glances at Europe: in a Series of Letters from Great Britain, France, Italy, Switzerland, & o. during the Summer of 1851. Including Notices of the Great Exhibition, or World’s Fair, New York 1851. Salaheddin Bey: La Turquie à l’Exposition Universelle de 1867, Paris 1867. Zum Beispiel Timbs, John: Curiosities of London: Exhibiting the Most Rare and Remarkable Objects of Interest in the Metropolis; with nearly Fifty Years’ Personal Recollections, 1855. Siehe hierzu zudem die Bibliographie von Hancock. Http://katalog.ibb.gov.tr/kutuphane2/kitablar/56000510004900055000510009500114001150 0069.pdf (08. 07. 2015). Für einen Zugang zum Text bedarf es zuerst einer Anmeldung. Http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10251676_00096.html (08. 07. 2015). Http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10250027_00098.html (08. 07. 2015).
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Einleitung
vollständig aufrufbar, wobei erstere weitestgehend von besserer Qualität und Lesbarkeit ist.16 Vollständig abgedruckt findet man den Bericht zudem in Fikret Turans Werk zum Seya¯hatna¯me-i Londra.17 Eine Übersetzung ins Französische wurde erst ˙ kürzlich veröffentlicht. Da die Übersetzung auf der Transkription Turans basiert, wurde der Originaltext nicht mit veröffentlicht.18 Mit dem Seya¯hatna¯me-i Avrupa ˙ stellt es sich wiederum anders dar. Bisher konnte keine vollständige Fassung ausfindig gemacht werden. Die einzige zugängliche Ausgabe, in der zehn Seiten des Berichts fehlen, befindet sich ebenfalls in der Atatürk-Bibliothek in Istanbul und ist mittlerweile unter der Signatur 914 MEH 914 MEH [t.y.] 1 online zugänglich.19
IV.
Forschungsstand
Reiseberichte erfreuen sich seit jeher großer Beliebtheit. Nicht nur in Europa, sondern auch im Osmanischen Reich (wenn auch zahlenmäßig nicht miteinander zu vergleichen) erlangte die Gattung im 19. Jahrhundert, was die quantitative Produktion anbelangt, ihren Höhepunkt. Auch die Forschung befasst sich mehr und mehr mit diesem Genre. Osmanische Reiseberichte rücken sowohl innerhalb als auch außerhalb der Türkei vermehrt ins Zentrum der Aufmerksamkeit.20 Große Fortschritte wurden in den letzten Jahren vor allem bei der Zugänglichkeit des Quellenmaterials erzielt. Insbesondere für das 19. Jahrhundert sind zahlreiche Quellen mittlerweile auch als Originale erreichbar.21 Es gibt brauchbare Aufarbeitungen des vorhandenen Materials und auch zahlreiche Neuausgaben von Texten aus dem 19. Jahrhundert (teilweise in Transkription, 16 Eine Ausnahme bildet die Titelseite, die in der anderen Ausgabe eindeutig von besserer Qualität ist. 17 Turan, Fikret: Seyahatname-i Londra. Tanzimat Bürokratının Modern Sanayi Toplumuna Bakıs¸ı. ˙Inceleme, Çeviri, Çeviri Yazı [Das Seyahatname-i Londra. Die Sicht eines TanzimatBürokraten auf die moderne Industriegesellschaft. Analyse, Übersetzung und Transkription], Istanbul 2009. 18 Mete-Yuva, Gül: Voyages dans la modernité – deux Ottomans à Paris et à Londres aus XIX siècle, Paris 2015. Das Werk beinhaltet neben der Übersetzung des Seya¯hatna¯me-i Londra die Übersetzungen des Reiseberichts von Hayrullah Efendi mit dem Titel ˙Yolculuk Kitabı (Rei˘ Übersetzung basiert auf einer Transkription. sebuch) aus dem Jahre 1867. Auch diese 19 Http://katalog.ibb.gov.tr/kutuphane2/kitablar/57000500004900055000510009500114001150 0069.pdf (08. 07. 2015). 20 Siehe dazu die Bibliographie von Hillebrand, Caspar: »A researchers’ list and bibliography of Ottoman travel accounts to Europe (2nd edition)«. Working Papers of the BMBF project »Europe from the outside – Formations of Middle Eastern views on Europe from inside Europe«, 2 (September 2014). Diese aktualisierte und bedeutend erweiterte Fassung des ersten Working Papers vom Juni 2013 ist abrufbar unter: http://www.europava.uni-bonn.de/ downloads/pdf/OttomanTravelAccountsToEurope_2ndEd_Sep14.pdf (09. 07. 2015). 21 Vor allem die Digitalisierung und der Zugriff über das Internet wurden in den letzten Jahren stark vorangetrieben.
Forschungsstand
21
teilweise in Türkeitürkisch). In der Sekundärliteratur wird der historische Hintergrund gut aufgearbeitet und die Beschreibungsgegenstände werden dabei zuverlässig erfasst, teilweise werden sogar ganze Kataloge von diesen angegeben. Ein Manko bleibt jedoch die Analyse ihrer spezifischen Funktion im inneren Diskurs. Zudem ist ein methodisches Defizit in der Sekundärliteratur auszumachen. Kritische Analysen literaturwissenschaftlicher, soziologischer und anthropologischer Natur fehlen insgesamt. Die bisherigen Studien sind von einer bisweilen erschreckend naiven, positivistischen Herangehensweise geprägt.22 Der Ansatz, Reiseberichte nicht rein als Wirklichkeitsbeschreibungen zu untersuchen, sondern sie neben ihrem faktualen Informationswert auch unter imagologischen Gesichtspunkten zu betrachten, ist noch nicht auf osmanische Texte übertragen worden.23 Auch weitere Ansätze der europäischen Reiseliteraturforschung sind noch kaum auf die osmanischen Berichte übertragen worden.24 Nur vereinzelt gibt es Studien zur Auseinandersetzung mit verschiedenen Themen. Wertvolle Ansätze für eine kulturübergreifende Reiseliteraturforschung bietet der Sammelband von Agai und Pataki. Agai stellt in seinem Beitrag drei Reiseberichte einander gegenüber und arbeitet ein methodisches Instrumentarium als Grundlage des Vergleichs heraus. Damit liefert er nützliche Ansätze für die weitere außereuropäische Reiseliteratur22 Siehe u. a. Asiltürk, Bâki: Osmanlı Seyyahlarının Gözüyle Avrupa [Europa aus der Sicht osmanischer Reisender], Istanbul 2000; Unat, Faik Res¸it: Osmanlı Sefirleri ve Sefaretnameleri [Osmanische Gesandte und Gesandtschaftsberichte], Ankara 1992 und S¸irin, I˙brahim: Osmanlı ˙Imgeleminde Avrupa [Europa in der osmanischen Wahrnehmung], Ankara 2009. Eine Ausnahme hinsichtlich der Methode ist S¸irin: Osmanlı ˙Imgeleminde Avrupa. Er beschäftigt sich mit dem Wissen osmanischer Reisender über Politik und Gesellschaft in Europa und versucht hierbei, die politische und gesellschaftliche Funktion der Texte zu berücksichtigen und zwischen dem Horizont des Reisenden und dem sich im Text präsentierenden Autor zu unterscheiden. 23 Für europäische Reiseberichte wurde der Ansatz bereits verwendet. Siehe beispielsweise zu deutschen Griechenland-Reiseberichten und den darin entworfenen subjektiven Griechenlandbildern Meid, Christoph: Griechenland-Imaginationen. Reiseberichte im 20. Jahrhundert von Gerhart Hauptmann bis Wolfgang Koeppen, [= linguae & litterae; 15], Berlin / Boston 2012. 24 Ausnahmen bilden die beiden folgenden Sammelbände: Im 2013 erschienenen Sammelband von Agai und Conermann werden außereuropäische Reiseberichte erstmals nach narrativen Strukturen untersucht. Siehe Agai, Bekim und Stephan Conermann (Hg.): »Wenn einer eine Reise tut, hat er was zu erzählen«. Präfiguration – Konfiguration – Refiguration in muslimischen Reiseberichten, Berlin 2013. Einen Beitrag zu osmanischen Reiseberichten darin liefern jeweils Bekim Agai (»Die Inszenierung der eigenen Reise als gute Geschichte im Anatolien- und Syrienreisebericht von S¸erefeddin Mag˘mumi 1895/96 – oder: Wie viel Reise steckt im Reisebericht?«), Caspar Hillebrand [»Narrative Strategien der Autor-Leser-Identifikation in Vor- und Nachwort von Hayrullah Efendis Europareisebericht (1863/64)«] und Veruschka Wagner (»Satirische Erzählelemente in der osmanischen Reisebeschreibung Seya¯hatna¯me-i Londra von 1852«). Der Sammelband von Elger und Köse befasst sich mit Ego-Dokumenten aus dem Nahen Osten. Zu osmanischen Gesandtschaftsberichten als Ego-Dokumente siehe darin Klein, Denise: »The Sultan’s envoys speak. The ego in 18th-century Ottoman sefâretnâmes on Russia«, in: Elger, Ralf und Yavuz Köse (Hg.): Many ways of speaking about the Self. Middle Eastern ego-documents in Arabic, Persian, and Turkish (14th–20th century), Wiesbaden 2010, S. 89–102.
22
Einleitung
forschung.25 Die Darstellung des Eigenen und Fremden innerhalb osmanischer Reiseberichte ist unter anderem Gegenstand des von Agai, Akyıldız und Hillebrand herausgegebenen Sammelbandes Venturing beyond borders.26 Mit der osmanischen Sichtweise auf Europa beschäftigen sich Einzelstudien wie auch Überblicksarbeiten sowohl in der Türkei als auch in Europa.27 Zu nennen sind hier vor allem Asiltürk28, S¸irin29, Unat30 und Korkut aber auch Yerasimos31 und Georgeon32. Einen umfassenden Überblick über die vorhandene Primär- und Sekundärliteratur zu osmanischen Reiseberichten über Europa bis zur Gründung der 25 Agai, Bekim: »Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was (?) erzählen. Der Reisebericht als kulturübergreifende inszenierte Grenzerfahrung – ein Vergleich der Reiseberichte des Ägypters Tahta¯wı¯, des Osmanen Muhibb Efendi und des Preußen von Moltke«, in: ders. und Zita Ágota ˙ ˙ (Hg.): Orientalische Reisende ˙ Pataki in Europa – europäische Reisende im Nahen Osten. Bilder vom Selbst und Imaginationen des Anderen, Berlin 2010, S. 13–38. Siehe auch Agai, Bekim: »Reisen im Wandel. Die Folgen einer veränderten Reiseinfrastruktur und politischen Wandels im 19. Jahrhundert für muslimische und europäischen Reiseberichte als Zeugnisse des Kulturkontakts«, in: Tamcke, Martin und Arthur Manukyan (Hg.): Protestanten im Orient, Würzburg 2009, S. 191–209. 26 Agai, Bekim, Olcay Akyıldız und Caspar Hillebrand (Hg.): Venturing beyond borders: Reflections on genre, functions and boundaries in Middle Eastern travel writing, [= Istanbuler Texte und Studien; 30], Würzburg 2013. Agai geht in seinem Beitrag der Frage nach der Rolle von Religion bei der Konstruktion von Identität und Alterität nach. Siehe Agai, Bekim: »Religion as a determining factor of the Self and the Other in travel literature. How Islamic is the Muslim worldview? Evliya Çelebi and his successors reconsidered«, S. 101–130. Im Mittelpunkt eines weiteren Aufsatzes von Agai steht die Frage nach der Funktion von Reiseberichten als inszenierte Grenzerfahrungen. Dabei ergibt sich, dass die Erörterung der Grenzen des Anderen die Grenzen des Eigenen sichtbar werden lassen und Grenzziehungen somit zum Zeugnis der Ausgangskultur werden. Siehe Agai, Bekim: »Die Grenze: Einblick in die Konstruktionen des Anderen – Der Reisebericht als inszenierte Grenzerfahrung«, in: Conermann, Stephan und Conrad Schetter (Hg.): Asiatische Grenzen? Grenzregionen und grenzübergreifende Interaktion in Asien, Berlin 2010, S. 31–57. 27 Eine erst kürzlich in Kanada erschienene Masterarbeit befasst sich ebenfalls mit diesem Thema. Siehe Eksigil, Arda: Ottoman visions of the West (15th–17th centuries), Montreal 2014. 28 Asiltürk liefert eine Untersuchung der Inhalte osmanischer Reiseberichte (Asiltürk: Osmanlı Seyyahlarının Gözüyle Avrupa und ders.: »The image of Europe and Europeans in OttomanTurkish travel writing«, in: Agai, Akyıldız und Hillebrand: Venturing beyond borders, S. 29– 51) sowie eine Bibliographie der Primärtexte (ders.: »Türk edebiyatında gezi kitapları bibliyografyası« [Bibliographie der Reiseberichte in der türkischen Literatur], in: Türk Kültürü ˙Incelemeleri Dergisi [Zeitschrift zur Untersuchung der türkischen Kultur] 2 (2000), S. 209– 240). Siehe auch ders.: »Osmanlı’nın Avrupa’yı tanımasında seyahatnâmelerin rolü,« [Die Rolle von Reiseberichten bei der Annäherung der Osmanen an Europa] in: Kubbealtı Akademi Mecmûası [Zeitschrift der Kubbealtı-Akademie] 27 (1998), S. 20–27. 29 S¸irin gibt in seiner Arbeit eine Übersicht mit inhaltlicher Kurzinfo und liefert dabei einen Vergleich der entstandenen Reisebeschreibungen. Siehe S¸irin: Osmanlı ˙Imgeleminde Avrupa. 30 Unat: Osmanlı Sefirleri ve Sefaretnameleri. 31 Yerasimos, Stéphane: »Explorateurs de la modernité. Les ambassadeurs ottomans en Europe«, Genèses 35, S. 65–82. 32 Georgeon, François (Hg.): Voyageurs et diplomates ottomans, [= Études Turques et Ottomanes. Documents de travail; 4], Paris 1995. Daraus insbesondere Kuneralp, Sinan: »Les Ottomans à la découverte de l’Europe: récits de voyageurs de la fin de l’Empire«, S. 51–57 und Hitzel, Frédéric: »Sefâretnâme. Les ambassadeurs ottomans rendent compte de leurs séjours en Europe«, S. 16–24.
Forschungsstand
23
Türkischen Republik stellt Hillebrand in seinem detailliert ausgearbeiteten und erweiterbaren Working Paper mit dem Titel A researchers’ list and bibliography of Ottoman travel accounts to Europe zusammen.33 In zwei Listen gibt er Reisezeitraum, Art des Reiseberichts, Name des Autors mit Titel der Reisebeschreibung und Reiseziel bzw. bibliographische Informationen zur Textart (Manuskript, Faksimile oder Druckausgabe), Schrift (arabisches oder lateinisches Alphabet), Sekundärliteratur und eventuelle Bearbeitungen wie z. B. Übersetzungen oder Transliterationen der einzelnen Reiseberichte an. Eine dritte Liste führt noch einmal ausführlich sämtliche Literatur zu osmanischen Europa-Reiseberichten auf. Bisher gibt es keine Studie, die sich explizit mit England als Reiseziel osmanischer Reisender befasst34 oder die beiden Englandreiseberichte Seya¯hatna¯me-i Londra und Seya¯hatna¯me-i Avrupa von 1851 bzw. 1852 miteinander vergleicht. Beide Reiseberichte finden Erwähnung in den genannten Überblicksarbeiten von S¸irin35 und Asiltürk36. Von dem erstgenannten Bericht, der im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht, gibt es zwei Übersetzungen ins moderne Türkisch, wobei die Arbeit von Turan zusätzlich eine Transkription und den Originaltext enthält.37 In seiner Einleitung macht Turan Angaben zum Autor; er liefert eine Charakterbeschreibung, die sich allein aus den gelieferten Informationen des Autors im Text selbst und Mutmaßungen Turans ergibt, da der Autor unbekannt ist. Er fasst in seiner Einleitung die Themenkomplexe des Werkes zusammen und geht in einem weiteren Kapitel auf den Schreibstil und die sprachlichen Besonderheiten ein. Zum Schreibstil hat Turan zusätzlich einen gesonderten Artikel verfasst, in dem er sich mit den im Text verwendeten Ausdrücken für Konzepte der Moderne, die sich in Form von Lehnwörtern oder neuen Wortkompositionen darlegen, befasst.38 Eine weitere Übersetzung des Seya¯hatna¯me-i Londra ins Französische ist – wie bereits erwähnt – erst kürzlich erschienen. Die Autorin nimmt die Moderne als Aufhänger ihrer Arbeit und liefert neben dem Londonreisebericht auch einen längeren Auszug aus dem Reisebericht von Hayrullah ˘
33 Hillebrand: »A researchers’ list and bibliography«. 34 Ein kurzes Kapitel dazu gibt es in Bedin, Cristiano: Edmondo de Amicis ve Ahmet ˙Ihsan Tokgöz’ün Seyahatnamelerinde Londra ˙Imgesi [Das Bild Londons in den Reisebeschreibungen von Edmondo de Amicis und Ahmet I˙hsan Tokgöz], Istanbul 2012. 35 S¸irin: Osmanlı ˙Imgeleminde Avrupa, u. a. S. 246f. 36 Asiltürk: Osmanlı Seyyahlarının Gözüyle Avrupa, u. a. S. 263. 37 Turan: Seyahatname-i Londra und Serçe, Erkan: Bir Osmanlı Aydınının Londra Seyahatnamesi [Der London-Reisebericht einen osmanischen Intellektuellen], Istanbul 2007. Die Transkription Turans ist – wie bei in der Türkei angefertigten Transkriptionen häufig – ohne diakritische Zeichen und auch nicht sehr sorgfältig erarbeitet. 38 Turan, Fikret: »Forming the modern lexicon of Tanzimat Turkish: Words and expressions of modernity in Seya¯hatna¯me-i Londra«, in: Turkic languages 11 (2), 2007.
24
Einleitung
Efendi aus dem Jahr 1863.39 Einzelne Passagen des Seya¯hatna¯me-i Londra hat bereits Wagner in einem Sammelbandbeitrag über narrative Strategien ins Deutsche übersetzt.40 Eine vollständige Übersetzung ins Deutsche mit einer inhaltlichen Analyse liegt hier demnach erstmalig vor.
V.
Gliederung der Arbeit
Die vorliegende Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel, die dem Einleitungsteil folgen. Die ersten beiden Kapitel dienen der Kontextualisierung und Einordnung des Themas. Das dritte Kapitel enthält das Herzstück der Arbeit, nämlich die Übersetzung des osmanischen Reiseberichts ins Deutsche. Die Kapitel vier und fünf umfassen den Theorie- und Analyseteil. Den Abschluss bildet das Fazit. Um die vorgeprägten Wahrnehmungsmuster der Reisebeschreibung nachvollziehen zu können, ist es unabdingbar den Kontext der Reise herauszuarbeiten. Dazu zählen sowohl der historische Hintergrund des Ausgangs- aber auch des Ziellandes, weshalb zuerst ein Blick auf die historischen Entwicklungen sowohl in Großbritannien als auch im Osmanischen Reich geworfen wird. Einen wichtigen Aspekt spielt dabei die erste internationale Weltausstellung in London 1851, die der Aufhänger beider Reisebeschreibungen ist. Im Anschluss an den historischen Überblick wird daher die Geschichte der Great Exhibition nachgezeichnet bzw. die Beteiligung des Osmanischen Reiches an dieser dargestellt. Da das Verhältnis von Selbst- und Fremdbild »von den konkreten Beziehungen ab[hängt], die zwischen den betreffenden Nationen herrschen,«41 folgt ein Abriss der anglo-osmanischen Beziehungen und die gegenseitige Wahrnehmung der beteiligten Kulturen, da diese ebenfalls von Bedeutung ist. Die Entwicklung eines »Türkenbildes« innerhalb Europas ist aufgrund der vorliegenden Literatur ein umfangreiches Unterfangen, während für die Untersuchung der Darstellung der Engländer kaum Material zur Verfügung steht. Dem Bild der Osmanen, zu dem lediglich Tendenzen nachgezeichnet werden können, folgt daher ein kurzer Überblick über das Bild der Europäer im Osmanischen Reich. Da der vorliegende Reisebericht zuerst in einer der ersten osmanischen Zeitungen des Reiches erschien, die bei der Vermittlung von westlichen Werten, Methoden und Wissen von Bedeutung waren, ist ein Unterkapitel der Entwicklungsgeschichte der os39 Mete-Yuva: Voyages dans la modernité. 40 Der Artikel befasst sich mit narrativen Strategien und satirischen Erzählelementen, die der Verfasser einsetzt, um seine Leserschaft nicht nur zu informieren, sondern auch zu unterhalten. Siehe: Wagner: »Satirische Erzählelemente«. 41 Chamot, Marek: »Polnische Auto- und Heterostereotypen während des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts«, in: Hahn, Hans Henning (Hg.): Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde, Oldenburg 1995, S. 140.
Gliederung der Arbeit
25
manischen Presse mit besonderer Darstellung eben dieser Zeitung gewidmet. Nach der Kontextualisierung folgt nach einem kurzen Überblick über die Revolution des Reisens im 19. Jahrhundert eine Auseinandersetzung mit dem Genre Reisebericht im Allgemeinen und der Entwicklung der osmanischen Reiseliteratur im Besonderen. Dabei soll aufgezeigt werden, wie schwierig eine klare Abgrenzung dieser Gattung ist und welche verschiedenen Kategorisierungen vorhanden sind. Das nächste Kapitel befasst sich mit dem London-Reisebericht selbst. Nach einer Einführung zu Autor und Werk folgen den Bemerkungen zur Übersetzung die kommentierte Übersetzung des Reiseberichts ins Deutsche und eine anschließende Rekapitulation der Reise. Die Reisebeschreibung wird dadurch in ihrer vollen Länge zum ersten Mal einem deutschen Publikum zugänglich gemacht. Sie ist die Basis der Analyse, zu der einzelne Phrasen entnommen und untersucht werden. Den theoretischen Grundlagen folgt die Analyse selbst, bei der das Bild Englands, der Engländer und der Osmanen mithilfe der verschiedenen Techniken des Vergleichs herausgearbeitet werden. Im darauffolgenden Unterkapitel werden die Darstellungsmodi untersucht, bei der der Autor bestimmte Beschreibungsmuster verwendet, um das von ihm transportierte Bild zu untermauern. Schließlich folgt die Gegenüberstellung des vorliegenden Reiseberichts mit einem weiteren osmanischen Europa-Bericht von 1851, dem eine kurze Einführung zu dessen Autor und zum Werk selbst vorausgeht. Die Arbeit wird durch ein Fazit abgeschlossen.
1.
Das 19. Jahrhundert
Um den im Mittelpunkt dieser Arbeit stehenden Text besser einordnen zu können, werden neben einem Überblick über die Entwicklungen im 19. Jahrhundert, der historische Hintergrund Großbritanniens als Zielort der Reise und des Osmanischen Reiches als Herkunftsland des Autors aufgearbeitet. Der ersten internationalen Weltausstellung, die Mitte des Jahrhunderts in London stattfand, und der Beteiligung der Osmanen an den interantionalen Weltausstellungen im 19. Jahrhundert wird jeweils ein eigenes Unterkapitel gewidmet. Zwischen den Darstellungen der eigenen und fremden Kultur besteht eine wechselseitige Beziehung, da das Eigene nicht ohne das Fremde existieren kann. Um die gegenseitige Wahrnehmung der Engländer und Osmanen nachvollziehen zu können, informiert ein Unterkapitel über das Bild der Osmanen in Europa und über das Bild der Europäer im Osmanischen Reich. Da der zu untersuchende Reisebericht zuerst in Teilen in einer osmanischen Zeitung abgedruckt wurde, rundet ein kurzer Überblick über die Entwicklungen der Zeitungen im Osmanischen Reich mit Schwerpunkt auf der Zeitung, in der der Bericht erschienen ist, den ersten Teil ab.
1.1
Entwicklungen im 19. Jahrhundert
Das 19. Jahrhundert gilt als das Zeitalter »der europäischen Expansion und des Imperialismus«42 oder »des Nationalismus«43, wird als »Maschinenzeitalter«44 bezeichnet oder mit dem Schlagwort »Fortschritt«45 in Verbindung gesetzt.
42 Putzger, Friedrich Wilhelm und Jörg Rentsch: Putzger – Historischer Weltatlas, Berlin 2004, S. 149. 43 Kohn, Hans: The Age of Nationalism. The First Era of Global History, New York 1962. 44 Klaeren, Jutta: Editorial, in: Osterhammel, Jürgen: Das 19. Jahrhundert, [= Informationen zur Politischen Bildung; 315], Bonn 2012, S. 3. 45 Koselleck, Reinhart: »Fortschritt«, in: Brunner, Otto, Werner Conze und Reinhart Koselleck
28
Das 19. Jahrhundert
Osterhammel nennt »asymmetrische Effizienzsteigerung«, »gesteigerte Mobilität«, »asymmetrische Referenzverdichtung«, »Spannung zwischen Gleichheit und Hierarchie« und »Emanzipation« als Eigenschaften des 19. Jahrhunderts.46 An der Vielzahl der Bezeichnungen ist leicht zu erkennen, wie facettenreich das »lange« 19. Jahrhundert war. Rückblickend werden diesem Säkulum Attribute zugeschrieben, die je nach Perspektive des Betrachters als ausschlaggebend gelten. Feststeht, dass in dieser Zeit eine Reihe von Entwicklungen ihren Lauf genommen haben. Im Jahr 1815 endete eine Epoche fortdauernder Kriege, die in Europa nur mit einzelnen Unterbrechungen seit 1792 geführt wurden. Die Rückkehr zur fürstlichen Territorialherrschaft sollte nun inneren und äußeren Frieden gewährleisten. »Doch die zunehmende Politisierung breiter Bevölkerungskreise, Bevölkerungswachstum und Massenarmut« führten zu Unruhen und Reformbestrebungen. Die Europäer drangen in ferne Weltregionen vor und sorgten so für ein Verschieben der Gewichte.47 Die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren daher durch die Festigung der Hegemonie Europas über außereuropäische Gesellschaften und die Stärkung der Kolonialimperien – insbesondere des britischen – geprägt.48 Das Vereinigte Königreich ging als der »große Sieger« hervor: Zum einen hatte es Kolonien hinzugewonnen, zum anderen war sein größter Rivale Frankreich nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Imperiums für Jahrzehnte politisch geschwächt.49 Nach dem Wiener Kongress von 1814/1815, bei dem versucht wurde, die Verhältnisse unter den Staaten Europas zu ordnen, bis zum Ausbruch des Krimkriegs 1853 blieben militärische Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Großmächten aus. Das Jahrhundert zwischen 1816 und 1913 war trotz der ab der Mitte des 19. Jahrhunderts folgenden Kriege das friedlichste der neueren europäischen Geschichte. Im 18. Jahrhundert gab es wesentlich mehr Kriegstote in Europa als im 19. Jahrhundert, obwohl mit der Industrialisierung die Produktion von Waffen mit hoher Zerstörungsgewalt zugenommen hatte.50 Zu Beginn des 19. Jahrhundert nahmen in Europa zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlicher Intensität drei politische Entwicklungen ihren Lauf:
46 47 48
49 50
(Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland 2, Stuttgart 1975, S. 408. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2011, S. 1288ff. Osterhammel: Das 19. Jahrhundert, S. 4. Konrad, Felix: »Von der ›Türkengefahr‹ zu Exotismus und Orientalismus: Der Islam als Antithese Europas (1453–1914)?«, in: Institut für Europäische Geschichte / IEG (Hg.): Europäische Geschichte Online (EGO), Mainz 2010, S. 33. Online abrufbar unter http://www.iegego.eu/konradf-2010-de (30. 04. 2014). Osterhammel: Das 19. Jahrhundert, S. 18. Osterhammel: Das 19. Jahrhundert, S. 19.
Entwicklungen im 19. Jahrhundert
29
»Konstitutionalisierung (Unterstellung sämtlicher politischer Organe unter ein überpersönliches Staatsgrundgesetz), Parlamentarisierung (Kontrolle der Exekutive durch gewählte Repräsentativversammlungen) und Demokratisierung (maximale Ausweitung der wahlberechtigten Aktivbürgerschaft).«51 Neben Russland kam Großbritannien eine Sonderstellung zu. Während das Zarenreich eine absolute Monarchie blieb, herrschte in Großbritannien eine »als fortschrittlich betrachtete Ordnung«.52 Durch das Reformgesetz aus dem Jahr 1832 wurde dort das politische System dergestalt modernisiert, dass es nunmehr auf rechtstaatlichen Grundlagen beruhte. Das Parlament und die ihm verantwortliche Regierung stellten die zentralen, auf dieser Rechtstaatlichkeit basierten Staatsorgane. Während die Monarchie an tatsächlicher Macht verlor, gewann sie an symbolischem Ansehen. »In ganz Europa blieb das 19. Jahrhundert bis zu seinem Ende eine Epoche der Monarchie, die – außerhalb des Zarenreiches – schwindende Macht durch erhöhten Glanz kompensierte.«53 Die Industrielle Revolution in Großbritannien begann bereits in den 1770er Jahren und prägte die Wirtschaft in einzelnen Gebieten, noch bevor die Industrialisierung auf dem ganzen Kontinent einsetzte. 1850 waren die meisten Bewohner Europas noch nicht mit der Fabrikindustrie in Kontakt gekommen. Man lebte weiterhin vorwiegend von der Landwirtschaft. Dasselbe gilt für Asien, wo es bis Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt keine Ansätze einer modernen Industrie gab und dessen Länder sich auf agrarischer Grundlage organisierten.54 Im Unterschied zu Japan und China hatte das Osmanische Reich aufgrund seiner geografischen Lage bereits seit Jahrhunderten Kontakt mit Europa. Auf die zunehmenden territorialen Verluste reagierte die osmanische Elite daher mit Reformbestrebungen, für die sie sich an westlichen Vorbildern orientierte. »Damit wurde das Osmanische Reich zur ersten der agrarischen Monarchien Asiens, die sich selbst ein Modernisierungsprogramm verordnete.«55 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm der Anteil der nichtadeligen Mittelschichten vor allem in den europäischen Städten zu. Sie setzten sich vor allem aus Kaufleuten, Staatsdienern und einer dritten Gruppe nichtmanueller Dienstleister, bestehend aus Ärzten, Anwälten etc., zusammen. Die bis zu diesem Zeitpunkt (scheinbar) unüberbrückbare Grenze zwischen Bürgertum und Aristokratie löste sich allmählich auf. »Das Bürgertum des frühen 19. Jahrhunderts [gewann] sein Selbstbewusstsein und seine Identität aus dem Genuss von Kultur und der Selbstvervollkommnung durch Erziehung und Bildung.«56 Auch wirt51 52 53 54 55 56
Osterhammel: Das 19. Jahrhundert, S. 20. Osterhammel: Das 19. Jahrhundert, S. 20. Osterhammel: Das 19. Jahrhundert, S. 20. Osterhammel: Das 19. Jahrhundert, S. 21ff. Osterhammel: Das 19. Jahrhundert, S. 26. Osterhammel: Das 19. Jahrhundert, S. 22.
30
Das 19. Jahrhundert
schaftlich wurde es zunehmend erfolgreicher. Eine neue bürgerliche Unternehmerelite stieg empor, verdrängte zwar nicht überall den alteingesessenen Adel, übertraf ihn aber an Reichtum. Um die Jahrhundertmitte begann ein wirtschaftliches Wachstum, das sich vor allem in den großen Städten niederschlug. Die Produktion nahm zu, das Pro-Kopf-Einkommen stieg, was wiederum Nachfrage auf dem Markt schuf. Das Bankwesen erlebte einen Aufschwung. Die zunehmende Produktion erklärt sich ihrerseits durch die technologische Verbesserung von Werkzeugen und Maschinen, eine immer effizientere Energienutzung, die Erhöhung der Umschlaggeschwindigkeit durch neue Verkehrsmittel wie Eisenbahn und Dampfschiff, die Expansion des nahen und fernen Handels und die Auswirkungen einer verbesserten Qualifizierung von Arbeitskräften.57
Neben der Entwicklung von Eisenbahn und Dampfschiff prägten Erfindungen wie der elektrische Telegraf (1809), Elektrolyse (1833), Elektromotor (1834), Photographie (1837) und Kunstdünger (1841) die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zudem wurden zunehmend Forschungsreisen unternommen und bedeutende Entdeckungen gemacht.58 Geprägt ist das 19. Jahrhundert durch den Gedanken des Fortschritts. Als ausschlaggebendes Kriterium galten dabei technische Innovationen. Hierbei steht die Great Exhibition [siehe Kap. 1.2.2] am Anfang einer Reihe von internationalen Ausstellungen, die dazu dienten, die Errungenschaften der Industrialisierung zu präsentieren. Die Londoner Weltausstellung war maßgeblich beeinflusst durch das Konzept des Fortschritts, das für »einen ganzen Komplex von Ideologien und politischen Konzepten […], insbesondere den Freihandel, einen universalen, humanistischen Optimismus, die Friedensbewegung, aber auch deren Gegenstück, den Imperialismus«59 steht. Obwohl sich die USA wirtschaftlich als auch geografisch rapide entwickelten und ihre Bevölkerungszahl stetig anstieg, gelang es ihnen das gesamte 19. Jahrhundert hindurch nicht, die Weltmacht zu erlangen. Diese hielt Großbritannien in der Hand, das sich von anderen Reichen durch die Vorrangstellung seiner Seeflotte unterschied, mit der es strategisch bedeutsame Meerengen kontrollierte. Zudem standen zahlreiche Kolonien unter der Herrschaft der britischen Krone.60
57 Osterhammel: Das 19. Jahrhundert, S. 40. 58 Putzger / Rentsch: Historischer Weltatlas, S. 140ff. 59 Mersmann, Arndt: ›A true text and a living picture‹. Repräsentationen der Londoner Weltausstellung von 1851, [= Horizonte; 29], Trier 2001, S. 94. 60 Osterhammel: Das 19. Jahrhundert, S. 29.
Historischer Überblick Großbritannien
1.2
31
Historischer Überblick Großbritannien
Die Gewerbeschau in London 1851 und das eigens dafür gebaute, prestigeträchtige Chrystal Palace verkörperten die Machtentfaltung Großbritanniens, auf dessen Höhepunkt es sich zu jener Zeit befand. Das Viktorianische Zeitalter, benannt nach der Regierungszeit Viktorias (1837–1901), ist geprägt durch den Aufstieg Großbritanniens zur führenden Welt- und Wirtschaftsmacht. Die Monarchie selbst verlor an politischer Bedeutung, da das Land nunmehr zunehmend von Industriellen, Händlern und Politikern gelenkt wurde. Durch die Wahlrechtsreformen demokratisierte sich das politische System und erlangte immer weiter an Legitimität. Die Bevölkerungszahl stieg während der Regierungszeit Viktorias aufgrund der Industrialisierung enorm an. Das Eisenbahnnetz wurde weiter ausgebaut und der Sektor für Industriegüter entwickelte sich rapide. Damit wuchsen die internationale Machtstellung und die globale Bedeutung Englands weiter.
1.2.1 Wirtschaftliche Entwicklungen in England im 19. Jahrhundert Wie überall in Europa, kann man auch in England im 18. und 19. Jahrhundert von einer demographischen Revolution sprechen. Die Bevölkerungszahl in England und Wales nahm von Mitte des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts von fünf auf sechs Millionen zu. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verzeichnete die englische Bevölkerung einen Anstieg um 40 Prozent. Das vorindustrielle Wachstum und der Anstieg der Agrarproduktion begünstigten eine steigende Geburtenrate, die durch einen Rückgang der Sterblichkeitsrate und Infektionskrankheiten begleitet wurde. Es kam aber nicht zu einem Zusammenbruch der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen, sondern zu einer grundlegenden Umstrukturierung, die durch eine »Industriewirtschaft mit steigender Produktion, relativ hohen Lebensstandards und anhaltendem Wachstum« gekennzeichnet war.61 Der Prozess, der unter dem Begriff der Industriellen Revolution in die Geschichte Eingang gefunden hat, veränderte die Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig. Bereits vor den technologischen Durchbrüchen im 19. Jahrhundert boten sich England günstige Voraussetzungen, wie etwa bestimmte Strukturen auf sozialer und institutioneller Ebene, die für die rasche Entwicklung gewerblicher und kommerzieller Aktivitäten hilfreich waren. Auch auf politisch-administrativer Ebene verfügte England über einige die Wirtschaft fördernde Be61 Niemann, Hans-Werner: Europäische Wirtschaftsgeschichte. Vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2009, S. 67.
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sonderheiten, wie der Aufbau eines objektiven Rechtssystems und einer gut funktionierenden Verwaltung, gesicherter Eigentumsrechte, Einrichtungen von Ministerien für Außenhandel, Marine und Finanzen und die Abschaffung von Steuerpachten und Ämterkauf. Zudem setzte sich das Parlament aus aristokratischen, kapitalistisch denkenden Grundbesitzern und bürgerlichen Kaufleuten zusammen.62 Ein weiterer Aspekt sind die zahlreichen hochqualifizierten Handwerker und Berg- und Hüttenleute, die aufgrund einer besseren wirtschaftlichen Lage und aus religiösen Gründen nach England einwanderten. Gleichzeitig stieg England zur führenden See- und Handelsmacht auf. Durch die Verabschiedung der Navigationsakte,63 die von Mitte des 17. Jahrhundert an 200 Jahre lang galt, wurde der ausländische Zwischenhandel ausgeschaltet und die Anbindung der Gebiete in Übersee an die Wirtschaft des Mutterlandes gefestigt. Güter durften nur auf englischen Schiffen bzw. auf Schiffen des Erzeugerlandes nach England importiert werden. Damit sicherte sich England den Handel und schaffte wichtige Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Durch ihre überlegene Seemacht gelang es England in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die führende Rolle im Sklavenhandel zwischen Afrika und der Karibik zu übernehmen. Niemann hält fest, dass die indischen Textilien zweifelsohne eine wichtige Rolle für die Etablierung und Aufrechterhaltung des auf Sklavenarbeit beruhenden Plantagensystems in der Karibik spielten, da etwa ein Drittel der Waren von englischen Händlern in Afrika gegen Sklaven eingetauscht wurden – auch wenn die Bedeutung der Gewinne aus der Herrschaft der East Indian Company (1757–1837) für die Industrielle Revolution umstritten bleibt.64 Das durch Elisabeth I. eingeführte Pfund, das eine stabile Währung über mehrere Jahrhunderte (16.–19. Jahrhundert) gewährte, sicherte dem Land Kredit, indem es den Darlehensgebern der Krone Sicherheit bot. Die englische Industrie profitierte von dem finanziellen Aufstieg, da sie von den Banken zu günstigen Konditionen dauerhaft Kapital erhielt.65 Was den Binnenmarkt angeht, so machte der Anteil der Exporte von gewerblichen Gütern, auf die sich England konzentrierte, etwa ein Drittel der industriellen Produktion aus. Zwei Drittel wurden demnach auf dem Binnenmarkt abgesetzt. Das zu Beginn erwähnte Bevölkerungswachstum, die produktive Landwirtschaft und das anwachsende Durchschnittseinkommen führten zu einer erhöhten Nachfrage nach gewerblichen Gütern. Niemann sieht einen 62 Niemann: Europäische Wirtschaftsgeschichte, S. 70f. 63 In der Navigationsakte (Navigation Act) wurde eine Reihe vom englischen Parlament verabschiedeter Gesetze festgelegt, die die englische Schifffahrt und den Seehandel regulierten. Siehe »Navigation Acts«, in: Encyclopaedia Britannica Online, http://www.britannica.com/ EBchecked/topic/406991/Navigation-Acts (30. 05. 2015). 64 Niemann: Europäische Wirtschaftsgeschichte, S. 71f. 65 Niemann: Europäische Wirtschaftsgeschichte, S. 72f.
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starken Zusammenhang zwischen der Ausdehnung des Binnenmarkts und der Bedeutung des Außenhandels durch den Anstieg von Importwaren.66 Den Leitsektor der Industriellen Revolution stellt die Baumwollproduktion dar, die bereits zur Mitte des 18. Jahrhunderts eine beachtliche Steigerung verzeichnete und überwiegend in Heimarbeit erfolgte. Der Übergang von der ländlichen Fertigung zur Facharbeit ging mit dem immer steteren Produktionszuwachs einher. Mit der Anwendung neuer Technologien wurde das Heimgewerbe von der Fabrikproduktion nach und nach abgelöst. Gewinnorientierte kapitalistische Unternehmer kontrollierten dort die Produktion und setzten einen anhaltenden Prozess technischer Innovationen in Gang, der von einzelnen Handwerkern in dieser Breite nicht hätte vorangetrieben werden können.67
Insbesondere arbeitssparende Erfindungen wurden angeregt, da das Arbeitskräfteangebot und die damit einhergehenden herkömmlichen Produktionsmethoden mit der wachsenden Nachfrage auf den Binnen- und Außenmärkten nicht mithalten konnten. Die Menge der verliehenen Patente ist ein Indiz für das rasche Tempo des technischen Fortschritts. Die zahlreichen technischen Erfindungen im Baumwollgewerbe sorgten für einen Rückgang der Produktionskosten, was wieder zu einem Anstieg der Nachfrage führte. Außer Baumwolle wurden die in reichem Maße und hoher Qualität vorhandene Kohle und Eisen zu den Grundelementen der Industriellen Revolution. Letzterer war der elementare Stoff für Maschinen, Brücken, Eisenbahnen und landwirtschaftliche sowie allerlei Gebrauchsgegenstände. Die Eisenindustrie konnte ihre Produktion im Zeitraum von 1788 bis 1806 vervierfachen. Ausschlaggebend hierbei war auch der Einsatz von Dampfmaschinen.68 Neben Kapitaleigentümern, Unternehmern und Wissenschaftlern hatten auch Ingenieure und Techniker großen Anteil am Aufbau der modernen industriellen Gesellschaft. Sie verkörpern in besonderem Maße die industrielle Revolution, die sich in England seit Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem in der Ausdehnung der technischen Infrastruktur der Eisenbahnlinien, Bahnhöfe, Brücken, Tunnel- und Kanalbauten, Docks, Häfen und Abwasseranlagen manifestiert. Entscheidend an der Ausbildung eines internationalen Transport- und Kommunikationssystems beteiligt, tragen sie maßgebend zur Entwicklung der modernen Weltverkehrswirtschaft bei und liefern damit auch eine der Voraussetzungen für die Entstehung und Ausbreitung der internationalen Industrieausstellung.69
66 67 68 69
Niemann: Europäische Wirtschaftsgeschichte, S. 73f. Niemann: Europäische Wirtschaftsgeschichte, S. 75. Niemann: Europäische Wirtschaftsgeschichte, S. 75ff. Haltern, Utz: Die Londoner Weltausstellung von 1851. Ein Beitrag zur Geschichte der bürgerlich-industriellen Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Münster 1971, S. 59.
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Im Laufe des 19. Jahrhunderts griff die Industrialisierung vom »Motor der Welt« aus auf den gesamten europäischen Kontinent über.70 Nach der Überwindung der schwersten Wirtschaftskrise Englands um 1840, stieg der Lebensstandard nach der Jahrhundertmitte an. Der »viktorianische Boom« begann71 und gipfelte in der ersten Internationalen Weltausstellung von 1851.
1.2.2 Die Londoner Weltausstellung von 1851 In der Zeit des weltweiten Aufschwungs der 1850er Jahre, mit der »die Blütezeit des Kapitals« beginnt, nahmen auch die Gewerbe- und Industrieausstellungen ihren Anfang. Sie spielten bei der Entwicklung von Technik und Produktivität eine wichtige Rolle, da sie den wirtschaftlichen Fortschritt beeinflussten, indem sie eine »Übersicht des Entwicklungsstands, der Ressourcen und Höchstleistungen der gewerblich-industriellen Produktion mit dem Ziel der Unterrichtung und Verbreitung von Informationen, der Steigerung des Absatzes und der Förderung allgemeinen Wettbewerbs« lieferten.72 Die Aufhebung der Kornzölle im Jahr 1846 und der damit einhergehende endgültige Übergang zum Freihandel hatten zur Wiederaufnahme des Plans einer großen nationalen Gewerbe- und Industrieausstellung beigetragen, deren Zweck eine weltwirtschaftliche Vernetzung und die Darstellung der Gewerbe- und Industrieproduktionen einzelner Länder war.73 Die Londoner Weltausstellung von 1851 war die erste der großen international angelegten Ausstellungen. 1.2.2.1 Im Vorfeld der ersten Weltausstellung Inspiriert durch die nationalen Industrieausstellungen, die zwischen 1798 und 1849 elf Mal in Paris stattfanden, entwickelte sich in England der Gedanke einer Schau mit internationaler Beteiligung.74 Zwar hatte der allgemeine britische Gewerbeverein (Society of Arts) bereits 1761 in London die erste Ausstellung gewerblicher Erzeugnisse ausgerichtet, aber eine nationale Gewerbeschau ohne lokale Beschränkung auf ihren Veranstaltungsort hatte im Gegensatz zu Frankreich, Belgien und Deutschland in England noch nicht stattgefunden.75
70 71 72 73 74 75
Maurer, Michael: Kleine Geschichte Englands, Bonn 2007, S. 355. Maurer: Kleine Geschichte Englands, S. 374. Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 1. Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 40. Kretschmer, Winfried: Geschichte der Weltausstellungen, Frankfurt am Main 1999, S. 21. Kretschmer: Geschichte der Weltausstellungen, S. 21f.
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Die Society of Arts bemühte sich schon im Vorfeld der internationalen Weltausstellung von 185176 Materialien für eine umfassende nationale Ausstellung zu gewinnen. Ihr Ziel war es »die Diskrepanz von industrieller Produktion und künstlerischer Formgebung« zu überwinden und beide Seiten des Fabrikationsprozesses zu berücksichtigen.77 Die vom Gewerbeverein organisierte Jahresausstellung von 1847 konnte einen Erfolg verzeichnen, der den Weg zur internationalen Weltausstellung mit ihrem breiten Spektrum an Exponaten ebnete.78 Dennoch ließ Prinz Albert, seit 1843 Vorsitzender des Vereins, den ersten Vorschlag zu einer englischen Nationalausstellung weitgehend unberücksichtigt. Als Henry Cole79 einen weiteren Entwurf vorlegte, zweifelte Prinz Albert zuerst an einer Unterstützung von Seiten der Regierung.80 Erst nach der Zustimmung des Handelsministeriums erteilte er schließlich eine Zusage und der Gewerbeverein beschloss 1849, eine britische Nationalausstellung auszurichten. Diese sollte 1851 das erste Mal und danach alle fünf Jahre stattfinden.81 Nach dem Entscheid zur Verwirklichung der Idee setzte sich Prinz Albert an die Spitze des Vorhabens, fehlte ihm doch als Deutscher die Etablierung einer festen Stellung im englischen Empire. Diese erhoffte er sich durch die Durchführung des Projekts zu erlangen. Mitglieder der Society of Arts reisten 1849 zur französischen Nationalausstellung, um Erfahrungen und Informationen zu sammeln. Die Idee zu einer internationalen Erweiterung der Ausstellung wurde auch aus Frankreich übernommen, wo bereits Pläne zu einer solchen Schau geschmiedet wurden.82 Der 30. Juni 1849 gilt als »Geburtsstunde der Londoner Weltausstellung«, als im Buckingham Palace die historische Konferenz stattfand, bei der endgültig eine Ausstellung mit internationalem Charakter beschlossen wurde und auch schon wichtige Aspekte wie Finanzierung, Aufbau, Organisation, Ausstellungsort etc. besprochen wurden.83 Probleme gab es in Fragen der Klassifikation und Anordnung der Exponate, der Preisvergabe und der Bildung 76 C. Wentworth Dilke, Mitglied der Society of Arts, stellte einen umfassenden Katalog der bezüglich der ersten Industrieausstellung in verschiedenen Sprachen erschienen Publikationen zusammen. Catalogue of a Collection of Works on or Having Reference to the Exhibition of 1851, in the Possession of C. Wentworth Dilke, London 1855, (Neuauflage: Cambridge 2011). 77 Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 40. 78 Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 39f. 79 Henry Cole war ein einflussreicher Bürger, der dem liberalen politischen Lager angehörte und erst 1845 zur Society of Arts gestoßen war. Siehe Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 38f und Kretschmer: Geschichte der Weltausstellungen, S. 22. 80 Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 41. Auf die Problematik, die es im Vorfeld der Ausstellung gab, geht auch unser Verfasser in seinem Reisebericht ein. Siehe Seite 14 des Originaltextes. 81 Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 41. 82 Kretschmer: Die Geschichte der Weltausstellungen, S. 21ff. 83 Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 45ff.
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einer Ausstellungsjury. Die Neuheit des Projektes und die damit einhergehende Unerfahrenheit der Organisatoren machten sich bei der Durchführung des Vorhabens bemerkbar. Die Ausstellung sollte zu Beginn vier Sektionen umfassen: Rohstoffe, Maschinen, Fabrikate und bildende Kunst. Später sollte sich diese Einteilung aber als zu allgemein und theoretisch herausstellen. Die vier Hauptgruppen wurden zwar beibehalten, aber in 30 Kategorien mit entsprechenden Unterabteilungen aufgelöst. Auf der Ausstellung selbst wurden die Stände nach Herkunftsländern aufgeteilt, in denen sich dann Exponate aus allen Sektionen befanden. Dieses nationale Aufteilungsprinzip nach Herkunftsländern wurde als grundlegende Organisationsregel in nahezu allen folgenden Weltausstellungen beibehalten, »in denen neben dem allgemeinen universalen Fortschritt stets das besondere Bild der einzelnen Nationen zur Darstellung kommt«.84 Als das Weltausstellungsprojekt der Öffentlichkeit verkündet wurde, erhielt es große Resonanz. Die positive Reaktion war darauf zurückzuführen, dass die Ausstellung als »Ausdruck des britischen Wirtschaftsliberalismus und der Forderung nach einem weltweiten Freihandel«85 angenommen wurde, gehörten doch der Liberalismus und Freihandel ohne Zweifel zu den historischen Bedingungen für das Entstehen der Weltausstellung. Diese Forderungen waren bereits zuvor in Ländern wie Frankreich und Belgien aufgetreten. Dass sich das internationale Vorhaben zuerst in Großbritannien durchsetzen konnte, ist dem Umstand der technologischen Überlegenheit, der expandierenden Industrie, der Übermacht zur See und der Tatsache, dass Großbritannien als erstes Land das Freihandelsprinzip in Europa einführte, geschuldet. Mit der Zustimmung im Inund Ausland und der Einwilligung der ausländischen Nationen an einer Partizipation wurde ein weiterer großer Schritt zur Verwirklichung des Unternehmens gesichert.86 Nach der Genehmigung von Seiten der Königin erhielt die Ausstellung die Bedeutung des wichtigsten nationalen Projektes. Es wurde eine Royal Commission einberufen, die dem Unternehmen die notwendige staatliche Autorität verleihen sollte. Die Kommission, deren Vorsitzender Prinz Albert war, bestand aus 24 hochrangigen Personen, darunter Regierungsmänner, Politiker und Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst, die dem Vorhaben, gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Unterstützung zusichern sollten.87 Die vorrangig behandelten Themen waren »das ökonomische Konkurrenzprinzip, die Forderung nach freiem Güteraustausch und der Stolz auf die politischen und sozialen Institutionen Englands«. Die Idee einer »Zurschau84 85 86 87
Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 83f und 86. Kretschmer: Die Geschichte der Weltausstellungen, S. 24f. Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 34 und 48f. Kretschmer: Die Geschichte der Weltausstellungen, S. 25.
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stellung aller Schätze und Reichtümer dieser Welt« sollte durch die Ausstellung verwirklicht und die »globale Dimension der weltwirtschaftlichen Entwicklung unter der Hegemonie Großbritanniens« vor Augen geführt werden.88 Im Laufe des Jahres 1950 entstanden landesweit insgesamt um die 330 lokale Ausstellungskomitees, die damit beauftragt waren, für die Unterstützung des Unternehmens zu werben und später die Aussteller und Exponate zu koordinieren. Schon während ihrer Vorbereitung wurde die Ausstellung zum Symbol nicht nur für den gesellschaftlichen Aufstieg der bürgerlichen Klasse und deren politisch-wirtschaftlichen Erfolg in Form der Durchsetzung von Wirtschaftsliberalismus und Freihandel, sondern auch zum Symbol einer nationalen Integration über Klassengegensätze hinweg.89
Nach dem Entscheid über die internationale Ausrichtung der Ausstellung wurde Kontakt mit dem Ausland aufgenommen. Die wichtigsten Handelspartner Großbritanniens waren Frankreich und Deutschland. Louis Napoleon stimmte umgehend einer Teilnahme Frankreichs zu, war er doch der Ansicht, dass Frankreich nur mit dem Verbündeten Großbritannien in Europa eine selbstständige Rolle übernehmen könne. In Preußen war die Reaktion zurückhaltender, aber man versicherte in Berlin, sich um eine breite Beteiligung der Industrie und des Zollvereins zu bemühen. Nachdem die Zusage der verschiedenen Länder erfolgt war, wurden dort jeweils besondere Komitees zur Vorbereitung auf die Teilnahme gegründet.90 In London selbst wurde beschlossen, für die Ausstellung ein eigenes Gebäude zu errichten. Dieses sollte im Hyde Park stehen. Allerdings sorgte ein Streit um das Ausstellungsgebäude fast für die Aufgabe des Projekts. Das 1850 einberufene Baukomitee91 hatte als Unterkommission der Royal Commission in- und ausländische Architekten dazu aufgefordert, Entwürfe für das Gebäude einzureichen. Architekturwettbewerbe bei öffentlichen Bauvorhaben wurden seit langem praktiziert. Am Ende entschied sich die Kommission jedoch gegen die insgesamt über 200 Zeichnungen und Skizzen, von denen 38 aus dem Ausland kamen, und
88 89 90 91
Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 50. Kretschmer: Die Geschichte der Weltausstellungen, S. 27. Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 107ff. Das Baukomitee bestand, abgesehen von zwei Adligen, aus drei Architekten und drei Ingenieuren. Der Bedarf an neuen Bauten wie Bahnhöfen, Fabriken, Museen, Bibliotheken etc., der mit dem Bevölkerungswachstum infolge der industriellen Revolution einherging, bedingte eine Umstrukturierung der Baukunst. Die Entstehung neuer Formen und der Einsatz neuer Materialien führten zu einer Zusammenarbeit von Ingenieuren und Architekten. Beispielhaft für diese Kooperation ist die für das 19. Jahrhundert charakteristische Fassadenarchitektur, »bei der die funktionale Konstruktion hinter der äußeren Dekoration des Baues zurücktritt«. Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 65f.
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legte einen eigenen Entwurf vor. Dieser Entwurf, der einen massiven Bau aus Ziegelsteinen vorsah, stieß jedoch bei seiner Veröffentlichung auf große Empörung und löste Diskussionen aus, die das Vorhaben an sich in Frage stellten. Schließlich wurde ein weiterer Entwurf eingereicht. Dieser stammte von Joseph Paxton, der zu jener Zeit leitender Gartenarchitekt auf dem Landsitz des Duke of Devonshire war, wo er 1840 den bis dahin größten Glasbau der Welt fertiggestellt hatte. Zusätzlich saß er als einer der führenden britischen Eisenbahnaktionäre im Direktorium der Midland Railway. Seine Idee war ein Bauwerk aus Eisen und Glas im Stil eines großen Gewächshauses, was der Notwendigkeit entsprechend, in kurzer Zeit zu geringen Kosten mit viel Raum und Licht geschaffen werden konnte.92 Zudem löste es unter anderem das Problem der Bäume im Park, da diese mit in den Bau integriert werden konnten und dadurch nicht gefällt werden mussten. Sein Vorschlag erhielt großen Beifall und löste nach Fertigstellung Faszination bei den Besuchern aus. Das Gebäude hat maßgeblich zum Erfolg der Ausstellung beigetragen.93 Der Chrystal Palace ist das erste im großen Stil gebaute Gebäude aus Eisen und Glas. Diese neue Glasarchitektur löste den HellDunkel-Kontrast der traditionellen Architektur auf. Schivelbusch spricht von einem »architektonischen Wahrnehmungsschock« für die Besucher der Weltausstellung.94 In nur sechs Monaten war das auf der folgenden Abbildung zu sehende Gebäude aus Glas und Eisen errichtet worden und betrug bei seiner Fertigstellung eine Länge von 563 und eine Breite von 124 Metern. Das Glasgewölbe in der Mitte hatte eine Höhe von 33 Metern.95 Die filigrane Eisen-Glas-Konstruktion verfügte über eine lichtdurchflutete Halle, die auf der nächsten Abbildung zu sehen ist und von der aus man über zwölf Treppen auf die Galerien gelangen konnte, wo sich 376 weitere Ausstellungsräume befanden. Die Grundfläche des Gebäudes war in gleichgroße Raster aus Quadraten aufgeteilt. Die Halle war mit Statuen und Pflanzen geschmückt.96
92 Im 19. Jahrhundert fanden neue Baumaterialien – Eisen und Glas – Verwendung in der Architektur. Laut Schivelbusch sind sie »direkter Ausdruck der multiplizierbaren Produktivität der industriellen Revolution«. Die Belastbarkeit und Festigkeit des Eisens ist größer als die bis dahin verwendeten Materialien. Zusammen mit dem Baumaterial Glas vervielfachte es die Kapazität überdachter Räume. Siehe Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München / Wien 1977, S. 45. 93 Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 73f. 94 Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 46. Die Geschichte der Eisenkonstruktionen verlief parallel mit der Geschichte der Weltausstellungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Siehe Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 176. 95 Kretschmer: Die Geschichte der Weltausstellungen, S. 15. 96 Kretschmer: Die Geschichte der Weltausstellungen, S. 31ff.
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Abb. 1: Der Nordeingang des Christallpalastes. Quelle: Tallis, John: Tallis’s history and description of the Crystal palace, and the Exhibition of the world’s industry in 1851, London 1852, S. 114.
1.2.2.2 The Great Exhibition of the Works of Industry of all Nations Zu der Eröffnungszeremonie war die Ausstellung noch nicht ganz aufgebaut. Verspätete Exponate trafen noch ein und unausgepackte Kisten standen herum.97 Entgegen der im Vorfeld geäußerten Absicht der Queen, die Ausstellung unter Ausschluss der Bevölkerung zu eröffnen, wurden Inhaber der teuren Saisontickets eingelassen. Nachdem sich 25.000 Besucher eingefunden hatten, wartete man am 1. Mai 1851 auf das Eintreffen der Queen. Diese wurde mit Trompetenfanfaren und Gewehrfeuer angekündigt und begrüßt. Prinz Albert hielt als Vorsitzender der königlichen Ausstellungskommission die Eröffnungsrede, nach der mit dem feierlichen Rundgang durch die Ausstellung begonnen wurde.98 Das Gebäude hätte durchaus mehr Besucher fassen können und später wurde das Fassungsvermögen der Ausstellungshalle auch mehrfach überschritten. Das Ziel der Royal Commission war es, den Einlasspreis so gering zu halten, dass alle Klassen die Ausstellung besuchen konnten. Die Regelung der Eintrittsfrage spiegelte jedoch die gesellschaftlichen Verhältnisse wieder. Die Eintrittspreise waren in drei Gruppen geteilt, um die Londoner Aristokratie und das Groß97 Kretschmer: Die Geschichte der Weltausstellungen, S. 15 u. 32. 98 Kretschmer: Die Geschichte der Weltausstellungen, S. 19.
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bürgertum nicht ihrer besonderen Stellung zu berauben. Erst nach der Einführung von vier »Schillings-Tagen« Ende Mai konnte sich auch das allgemeine Publikum den Eintritt leisten. In den ersten drei Tagen zählten die Veranstalter 58.000 Besucher und in der zweiten Woche schon mehr als 128.000. Mit der Einführung der vergünstigten Preise stieg die wöchentliche Besucherzahl auf über 200.000 und sank bis zum Ende der Ausstellung kein einziges Mal mehr darunter. Mitte Juni stieg sie sogar noch weiter auf 300.000 Besucher pro Woche und erreichte mit einer halben Million Besucher in der letzten Ausstellungswoche ihren Rekord.99 »Die Konzentration der Bemühungen des Jahrhunderts an einem einzigen Ort zog die Industrie der ganzen Welt an«, schreibt Giedion über die Anziehungskraft der Ausstellung.100 Insgesamt empfing die Great Exhibtion über den Zeitraum ihrer Dauer vom 1. Mai bis zum 11. Oktober sechs Millionen Besucher, davon mehr als 1,5 Millionen Gäste aus dem Ausland.101 Die Ausstellung bot Platz für mehr als 17.000 internationale Aussteller aus 94 Staaten und Ländern.102 Neben Großbritannien, das mit seinen Kolonien knapp die Hälfte der Aussteller stellte, waren Frankreich und Deutschland103 als die stärksten Nationen der Weltausstellung anzusehen. Neben diesen drei Industrienationen war eine Reihe von Staaten vertreten, die ebenfalls über ausreichend gewerblichindustrielle und technologische Entwicklungsgrundlagen verfügten, aber aufgrund ihrer geringen Ausstellerzahl nicht hervortraten.104 Da aber dennoch beinahe alle Völker, die am Welthandel teilnahmen, auf der Ausstellung vertreten waren, sprach man in Großbritannien schon bald von der Weltausstellung, der World’s Fair.105 Auf einer Fläche von über 86.000 Quadratmetern106 fanden Exponate aus den Sektionen Rohstoffe, Maschinen und Instrumente, Manufakturwaren und Kunstwerke ihren Platz. Die letzte Gruppe machte dabei nur einen Anteil von 4,9 Prozent aus. Die Ausstellung umfasste eine Fülle von Neuerungen und Verbesserungen bereits bestehender technischer Systeme im Bereich des Transportund Kommunikationswesens. In der Kategorie der Manufakturwaren wurden 99 Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 160f und Kretschmer: Die Geschichte der Weltausstellungen, S. 34f. 100 Giedion, Sigfried: Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition, Ravensburg 1965, S. 176. 101 Kretschmer: Die Geschichte der Weltausstellungen, S. 33ff. 102 Allein Großbritannien und seine Kolonien machten davon schon 33 aus. Siehe Haltern Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 168. 103 Frankreich verfügte mit Algier knapp über 1800 Aussteller. Der Zollverein und die norddeutschen Staaten über knapp 1700. Siehe: Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 207. 104 Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 207. 105 Kretschmer: Die Geschichte der Weltausstellungen, S. 32. 106 Kretschmer: Die Geschichte der Weltausstellungen, S. 32.
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Abb. 2: Eingangshalle des Aussellungsgebäudes. Quelle: The Transept of the Great Exposition: Science, Industry and Business Library: General Collection, The New York Public Library. »The transept of the Great Exhibition, looking north, held in London in 1851« The New York Public Library Digital Collections. 1858– . http://digitalcollections.nypl.org/items/510d47d9-c7d7-a3d9e040-e00a18064a99.
unter anderem unzählige Möbel, Textilien, Teppiche, Stoffe, Arbeiten aus Keramik, Porzellan, Glas, Gold und Silber ausgestellt. Großen Anteil nahm die mechanisierte Produktion ein, in deren Bereich die technischen Methoden und maschinelle Verarbeitung von Stoffen fiel. Deutlich tritt hier die Mechanisierung des Handwerks als ein Vorgang der allgemeinen Industrialisierung in Erscheinung, der seit dem 18. Jahrhundert immer stärker die traditionellen Berufs- und Lebensbereiche erfaßt und um die Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Zeichen der beginnenden Spezialisierung und Massenfabrikation einen ersten Höhepunkt erreicht hat.107
Die zahlreichen Berichte und Kataloge über den Stand des technisch-industriellen Fortschritts, die zum Teil während, aber vor allem nach der Ausstellung verfasst und veröffentlicht wurden, verdeutlichen das Ausmaß der Veranstaltung. Der Amtliche Bericht über die Industrie-Ausstellung aller Völker zu London im Jahre 1851 von der Berichterstattungs-Kommission des Deutschen Zollvereins 107 Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 183.
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(Berlin 1852) umfasst beispielsweise drei Bände. Die Ausstellungsstücke wurden in vier Kategorien mit jeweils noch weiteren Unterkategorien geteilt. Die erste Gruppe umfasste Rohstoffe und Materialien, die zweite Gruppe Maschinenwesen, Werkzeuge, Gegenstände des Land-, Wege-, Wasser- und Eisenbahnbaues, Schiffe, Waffen und Ausrüstungsgegenstände, landwirtschaftliche Geräte, naturwissenschaftliche, musikalische, horologische und chirurgische Instrumente und Apparate. In die dritte Gruppe gehörten Gewebe und Lederwaren, Papier-, Buchdruck- und Buchbinderwaren, Farbstoffe und Farben, Erzeugnisse der Bleiche, Färberei und Druckerei, Teppiche, Filzwaren, Stickereien, Stroh- und Gummiwaren und fertige Kleidungsstücke. Zur vierten Gruppe zählten Metall-, Glas- und Tonwaren und zur fünften Gruppe Holz- und Steinfabrikate, Kurzund Gemischtwaren. Die sechste Gruppe umfasste die Kunstsachen.108 Außer der Ausstellung der Exponate wurden zudem internationale Kongresse verschiedenster Bereiche abgehalten.109 Der Kristallpalast wurde nach Beendigung der Ausstellung und nach Abtransport der Exponate 1852 gemäß Parlamentsbeschluss wieder abgebaut. Von einer privaten Gesellschaft wurde er allerdings im Londoner Stadtteil Sydenham wieder aufgebaut und im Jahr darauf, 1853, erneut eröffnet. Dort stand er bis zu seiner Zerstörung durch einen Brand im Jahr 1936.110 1.2.2.3 In Folge der Ausstellung Großbritannien verfolgte mit der ersten Weltausstellung in London 1851 vor allem das Ziel, den Freihandel als internationales Organisationsprinzip zu werben.111 Daneben reichten die Auswirkungen und Ergebnisse der ersten internationalen Ausstellung von der Erleichterung der weltweiten Korrespondenz über die Ausweitung des Transportwesens bis hin zu Fragen des internationalen Rechts. Auch wenn manche Entwicklungen nicht direkt darauf zurückzuführen sind, so gehört zu den definitiven Auswirkungen der Londoner Weltausstellung vor allem die Gründung des Internationalen Kongresses für Statistik. Dieser trat unter der Präsidentschaft Adolphe Quetelet erstmalig 1853 in Brüssel zusammen. Der in- und ausländische Reiseverkehr hatte durch die Ausstellung an Aufschwung gewonnen. Die Vorläufer des europäischen Massentourismus zeichneten sich bereits ab. Zur selben Zeit breitete sich das internationale Telegrafennetz weiter aus. Dabei spielte Reuter, der während der Londoner Veranstal108 109 110 111
Amtlicher Bericht über die Industrie-Ausstellung aller Völker. Giedion: Raum, Zeit, Architektur, S. 176. Kretschmer: Die Geschichte der Weltausstellungen, S. 55. Kaiser, Wolfram: »Die Welt im Dorf. Weltausstellungen von London 1851 bis Hannover 2000«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 22/23 (2000), S. 1. Online abrufbar unter http:// www.bpb.de/apuz/25581/die-welt-im-dorf ?p=all (05. 07. 2015).
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tung in der Weltstadt eintraf, eine entscheidende Rolle. »Der freihändlerische Grundzug der Weltausstellung begünstigte von vornherein alle Bestrebungen, die die Schaffung und Expansion internationaler Wirtschaftsräume zum Ziel hatte.« Dies spiegelte sich im Postwesen wider, stand doch die Gründung der International and Colonial Postage Association in unmittelbaren Zusammenhang mit der Veranstaltung von 1851. Weiterhin wurden angesichts der technischen Erfindungen zum Schutz der Aussteller Regelungen für das internationale Patentund Urheberrecht angetrieben. Angeregt wurden auch Überlegungen zu einem internationalen Copyright, das jedoch erst 1886 mit der Berner Übereinkunft durchgesetzt wurde. Außerdem wurden verschiedene Kongresse einberufen, um unter anderem Fragen bezüglich des Handelsrechts, der Vereinheitlichung von Gewicht, Maß und Währung als auch der Zeitrechnung etc. zu diskutieren.112 Auch wenn in manchen Bereichen keine konkreten Ergebnisse erzielt werden konnten, so regte die erste Weltausstellung zu Diskussionen an und verlieh Impulse für spätere Umsetzungen. Die Society of Arts veranstaltete nach dem großen Erfolg von 1851 weitere Ausstellungen in verschiedenen Bereichen. Direkt in Folge der Great Exhibition fand eine internationale Erziehungs- und Unterrichtsausstellung statt, die im Sommer 1854 zum hundertjährigen Bestehen der Gesellschaft organisiert wurde. Diese Veranstaltung kann als Vorläufer der internationalen Fachausstellungen gesehen werden. Langfristige Auswirkungen hatte die Londoner Ausstellung im Erziehungswesen, zielte sie doch auch auf »die größere Verbreitung und Popularisierung technisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse« ab. Durch die Gründung spezieller Institutionen folgte der »Beginn des organisierten technischen Bildungswesens in Großbritannien.« Im Rahmen der gesellschaftlichen Entwicklung ist neben den Gewerbe- und Industrieausstellungen auch »die Museumsbewegung Ausdruck des allgemeinen bürgerlichen Bildungsbedürfnis, das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in zunehmendem Maße nach öffentlichen Einrichtungen verlangt«. Daher sei hier als letzte mittelbare Auswirkung der ersten Weltausstellung die Kunstgewerbebewegung genannt. Dem Versenden von Mustersammlungen in verschiedene Länder folgte die Gründung von Museen. In London entstand das »Museum of Ornamental and Decorative Art«, das den Kern des heutigen »Victoria & Albert Museums« bildet. Die Kollektion umfasste nicht nur Gegenstände aus Gewerbe und Industrie, sondern auch Handwerk und Kunst und zwar von der Antike bis zur Gegenwart. Unter dem Einfluss des Londoner Ausstellungsgebäudes, dem Chrystal Palace, dem »der Verdienst zu[kommt], am Anfang der Ausstellungsarchitektur zu stehen«, verbreiteten sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts vermehrt Winter- und Palmengärten in Eu-
112 Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 299ff.
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ropa. Neben der Architektur zeigten sich die Auswirkungen der World’s Fair auch in der Errichtung zahlreicher Parkanlagen und öffentlicher Gärten.113 Die Rolle der Gewerbe- und Industrieausstellungen bei der weltweiten Entwicklung von Technik und Produktivität und dem Aufstieg Englands zur Weltwirtschaft sind unverkennbar. Diese und die ihr folgenden internationalen Ausstellungen beeinflussten die wirtschaftliche Entwicklung, indem sie eine Übersicht des Entwicklungsstands, der Ressourcen und Höchstleistungen der gewerblich-industriellen Produktion mit dem Ziel der Unterrichtung und Verbreitung von Informationen, der Steigerung des Absatzes und der Förderung allgemeinen Wettbewerbs [lieferten].114
Somit illustrierte die erste Weltausstellung nicht nur die »zunehmende weltwirtschaftliche Vernetzung, sie wirkte ihrerseits auf diesen Prozess zurück«, indem sie eine »systematische Bestandsaufnahme, Katalogisierung und Bewertung der Produkte und der Leistungsfähigkeit fast aller Volkswirtschaften bot.« Dadurch regte sie sowohl Besucher als auch Aussteller zu neuen Ideen an und verlieh der Weltwirtschaft neue Impulse.115 Der universale Charakter und die weltweite ökonomische Bedeutung der internationalen Ausstellung wurde durch die Anzahl der ihr folgenden Ausstellungen sichtbar. Nach der als »Great Exhibition of the Works of Industry of all Nations« betitelten ersten Veranstaltung dieser Art fand nun bis zur Jahrhundertwende im Durchschnitt alle fünf Jahre eine Veranstaltung statt: 1851 in London, 1855 in Paris, 1862 erneut in London, 1867 wieder in Paris, 1873 in Wien, 1876 in Philadelphia, 1878 und 1889 in Paris, 1893 in Chicago und 1900 erneut in Paris.116 Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden große Ausstellungen unter anderem auch in New York (1853/ 1854), Sydney (1879/1880), Melbourne (1880/1881, 1888/1889), Brüssel (1888 und 1897), Antwerpen (1885 und 1894), Barcelona (1888), Turin (1884) und San Francisco (1894) abgehalten.117 Im 19. Jahrhundert waren diese Ausstellungen die einzigen Ereignisse, die die Weltöffentlichkeit ansprachen. Sie wurden relativ regelmäßig organisiert und dauerten etwa sechs Monate. Wurden bei der ersten Veranstaltung bereits sechs Millionen Besucher gezählt, so belief sich die Zahl knapp fünfzig Jahre später bei der Pariser Ausstellung von 1900 auf sogar 50 Millionen. Das Ziel dieser Organisationen formuliert Kaiser wie folgt:
113 114 115 116 117
Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 316ff. Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 1. Kretschmer: Die Geschichte der Weltausstellungen, S. 52. Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, Einleitung, S. 2. Geppert, Alexander C.T.: Weltausstellungen, in: Institut für Europäische Geschichte / IEG (Hg.): Europäische Geschichte Online (EGO), Mainz 2010. Online abrufbar unter http://www. ieg-ego.eu/gepperta-2013-de (25. 04. 2014).
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»Durch die Komprimierung und Inszenierung der Welt in einem Dorf ermöglichten die Weltausstellungen vor allem den internationalen Vergleich: von Traditionen, Produkten und Moden, von politischen Institutionen und sozialen Praktiken.«
Neben der gesellschaftlichen Akzeptanz technischer Innovationen und der Ausweitung des weltweiten Handels führt Kaiser noch weitere Funktionen der Ausstellung an. So ging es zum einen um die »politische Integration«, erhofften sich doch die Organisatoren eine Verbesserung der nationalen Lage. Zum anderen spielten »nationale Images« eine Rolle, da die Weltausstellungen das jeweilige Bild der teilnehmenden Länder prägten und sein Ansehen auf- oder aber auch abwerten konnten. Als dritten Punkt werden die »weltgesellschaftlichen Strukturen« genannt. Die Ausstellungen boten gesellschaftlichen Gruppen eine Möglichkeit, ihre Interessen durchzusetzen oder mit Vorurteilen aufzuräumen. Des Weiteren ermöglichten die Veranstaltungen die Entwicklung und Beeinflussung einer »globalen Agenda«. Neben dem Transfer politischer Kultur und der Gestaltung internationaler Beziehungen war »die langfristig wirksamste Thematisierung auf den Weltausstellungen […] die Propagierung der republikanischen bzw. demokratischen Staatsform gegen das monarchische Prinzip bzw. die europäischen Diktaturen.« Als schließlich letzten Punkt nennt Kaiser die »Bildung und Unterhaltung« als eine der bestimmenden Faktoren der internationalen Veranstaltungen. Durch die hohen Besucherzahlen und große Anzahl von Berichterstattungen wurde eine Verbreitung der neuesten Entwicklungen und Informationen garantiert.118
1.3
Historischer Überblick Osmanisches Reich
Während sich Großbritannien auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung – unter anderem symbolisiert durch die Londoner Weltausstellung – befand, ging das 19. Jahrhundert für das Osmanische Reich mit Umbrüchen und Veränderungen einher. Zahlreiche verlustreiche Kriege, die zur Aufgabe territorialer Gebiete führten, aber auch sichtbare und nachhaltige Reformen prägten diese Zeit. Die Reformen dienten der Modernisierung und Stabilisierung des Inneren und sollten die Einflussmöglichkeiten der Großmächte reduzieren. Kreiser nennt es daher das »Reform-Jahrhundert«.119 Es sollte das längste Jahrhundert in der Geschichte des Osmanischen Reiches werden.120 Reinkowski
118 Kaiser: »Die Welt im Dorf«, S. 1ff. 119 Kreiser: Der Osmanische Staat, S. 36. 120 Ortaylı: ˙Imparatolug˘u’nun en Uzun Yüzyılı [Das längste Jahrhundert des (Osmanischen) Reiches].
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Das 19. Jahrhundert
setzt seinen Beginn zeitlich sogar im 18. Jahrhundert mit dem Abkommen von Küçük Kaynarca 1774 an.121
1.3.1 Politische und wirtschaftliche Entwicklungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Das Abkommen kennzeichnet das Ende einer militärischen Auseinandersetzung mit Russland, die von 1768 andauerte und für die Osmanen mit einer Niederlage endete. Der Niederlage folgten tiefgreifende Transformationen, die durch Aufstände, territoriale Verluste (bis dato herrschte der Sultan über große Teile des Balkans, Anatolien, die arabische Welt im Nahen Osten, Ägypten, weite Teile Nordafrikas und die der Arabischen Halbinsel) und innere Konflikte geprägt waren. Die militärische Unterlegenheit führte dazu, dass Selı¯m III. (reg. 1789– 1807) zu einer Reihe von Maßnahmen griff, die unter der Bezeichnung Niza¯m-ı Cedı¯d (»Neue Ordnung«) in die Geschichte eingingen.122 Die Reformmaßnahmen Sultan Selı¯ms III. lösten Widerstand bei den Janitscharen und der Ulema123 aus, die befürchteten, ihre militärische Macht bzw. ihre wichtigen Ämter und damit ihren Einfluss auf den Staat zu verlieren. Die finanzielle Belastung durch die Reformen war ein weiterer Aspekt, weshalb sich auch die Bevölkerung gegen den Sultan und seine Maßnahmen auflehnte. Selı¯m III. löste noch vor seiner Absetzung die Niza¯m-ı Cedı¯d wieder auf. Sein Nachfolger wurde Mustafa¯ IV., der ˙˙ von1807 bis 1808 regierte. In dieser Zeit befand sich das Reich in einer Staatskrise, die durch blutige Aufstände gekennzeichnet war. Die Provinzen entzogen sich allmählich der Macht des neuen Sultans Mahmu¯d II. (reg. 1808–1839), dessen ˙ Handlungsfreiheit durch militärische Schwäche und die angespannte fiskalische Lage eingeschränkt war. Gebietsverluste und Bevölkerungsschwund ließen die Einnahmen sinken. Der osmanische Staatsschatz und die Wirtschaft litten zudem unter den Zwangsabgaben, die das Osmanische Reich nach dem Krieg mit Russland zu leisten hatte. Hinzu kam der durch die Industrielle Revolution ansteigende technologische Fortschritt Europas, von dessen Wirtschaft die osmanische abhängig war. Der internationale Handel änderte sich dahingehend, dass eine Ausweitung des osmanisch-europäischen Handels und eine Stagnation des Handels mit dem Osten zu beobachten war. Gleichzeitig zeichnete sich der Handel mit Europa durch ein zunehmendes Ungleichgewicht aus, da das Reich 121 Reinkowski, Maurus: Die Dinge der Ordnung – Eine vergleichende Untersuchung über die osmanische Reformpolitik im 19. Jahrhundert, [= Südosteuropäische Arbeiten; 124], München 2005, S. 11. 122 Kreiser und Neumann: Kleine Geschichte der Türkei, S. 283ff. 123 In den deutschen Sprachgebrauch eingegangene Bezeichnungen wie Ulema oder Pascha werden nicht translieteriert, sondern als solche übernommen.
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den europäischen Kaufleuten bessere Konditionen zugestand als den osmanischen.124 Wirtschaftlich betrachtet war das Reich um die Jahrhundertwende vor allem landwirtschaftlich ausgerichtet. Geldumlauf und -transfer waren hauptsächlich auf die großen Städte beschränkt. Wie viele andere vorindustrielle Länder basierte auch das osmanische System auf dem Prinzip der lokalen Selbstversorgung.125 Anfang des 19. Jahrhunderts folgte der Autonomie serbischer Gebiete die griechische Unabhängigkeitsbewegung und der Konflikt mit dem Gouverneur von Ägypten, Muhammad ʿAlı¯, dem es durch die Schaffung von Verwaltungs˙ und Wirtschaftsstrukturen gelang, der osmanischen Provinz Ägypten gegenüber der Zentralmacht zur Überlegenheit zu verhelfen.126 Den territorialen Verlusten stand die Reintegration arabischer Provinzen gegenüber. Unter Mahmu¯d II. ˙ wurde eine große Staatsreform eingeleitet, die zahlreiche Maßnahmen der Tanz¯ıma¯t-Epoche vorwegnahm. Kennzeichnend für die Verwaltungsreformen ˙ dieser Zeit waren eine schärfere Zentralregierung und die Einführung vorkonstitutioneller Beratungsgremien. Zum ersten Mal im Laufe der Geschichte wurde das religiöse Bildungswesen als reformbedürftig erkannt. Der Buchdruck und die periodische Presse setzten sich durch. Über die wichtigsten Städte verbreitete sich ein Netz staatlicher Schulen. Die Aufhebung des Janitscharenkorps (1826) bildete die Voraussetzung für alle weiteren Heeresreformen.127 Die ersten Ministerien wurden 1836 geschaffen. Das Interesse an den europäischen Ländern stieg, Auslandsaufenthalte und Auslandstudien wurden Kennzeichen der neuen bürokratischen und militärischen Elite. Eine neue Phase der Verwestlichung begann.128 »Mit dem kontinuierlichen Zerfall des Osmanischen Reiches wurde die Idee der Nachahmung der westeuropäischen Welt zu einem der bedeutendsten Elemente osmanischer Reformierungsbestrebungen«, fasst Konuk die Entwicklung zusammen.129 Was folgt, ist ein umfassendes Reformprogramm. Die Zeit der Tanz¯ıma¯t (von Tanz¯ıma¯t-ı Hayriyye = »wohltätige Verordnun˙ ˙ ˘ gen«) wurde mit dem Edikt von Gülha¯ne 1839 eingeleitet und bezeichnet die ˘ Epoche bis 1876. Mit ihm nahmen die Reformen ihren Lauf, von denen einige kaum Auswirkung hatten, nur auf größere Städte beschränkt waren oder gar nur auf dem Papier bestanden. Andere wiederum wirken noch in der kemalistischen 124 125 126 127 128 129
Kreiser und Neumann: Kleine Geschichte der Türkei, S. 285ff. Haniog˘lu, M. S¸ükrü: A Brief History of the Late Ottoman Empire, Princeton 2008, S. 19. Kreiser und Neumann: Kleine Geschichte der Türkei, S. 283f. Kreiser und Neumann: Kleine Geschichte der Türkei, S. 316ff. Kreiser: Der Osmanische Staat, S. 38. Konuk, Kader: »›Meine Herren, das nennt man einen Hut…‹ Kleidungsstrategien osmanischer Reisender in Europa«, in: Schlesier, Renate und Ulrike Zellmann (Hg.): Reisen über Grenzen. Kontakt und Konfrontation, Maskerade und Mimikry, Münster 2003, S. 79.
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Das 19. Jahrhundert
Republik fort. Das vom Großwesir Res¸id Pascha entworfene Edikt von Gülha¯ne ˘ bezieht sich vor allem auf »die Sicherheit des Lebens, den Schutz der Ehre und des Vermögens, die Fixierung der Steuern, die Art und Weise der Aushebung der nötigen Truppen und die Dauer ihrer Dienstzeit«.130 Die Öffnung nach Europa erfolgte in mehreren Bereichen. Im Zuge der Reformen wurden zahlreiche neue staatliche und administrative Institutionen gegründet. Gremien wurden eingeführt und das Rechtswesen wurde reformiert. Neue Schulen wurden errichtet, um Offiziere und Verwaltungsbeamte auszubilden. 1851 wurde die Encümen-i Da¯nis¸ (»Gesellschaft der Gelehrten«) ins Leben gerufen, die erste moderne Akademie der Wissenschaften im Nahen Osten.131 Das Verhältnis zwischen Landbesitzern und Landarbeitern und die Neuregulierung der Steuereinnahmen waren ebenfalls wichtige Aspekte der Reform. Das neue System sollte anhand von individuellem Kapital und tatsächlichem Erwerb geregelt werden. Die erste – wenn auch kurzlebige – osmanische Bank, Banque de Constantinople, wurde gegründet, um die traditionellen Darlehensgeber zu ersetzen. Eine weitere wirtschaftliche Betätigung in der Tanz¯ıma¯t-Zeit war die Industrialisierung. Neue ˙ Fabriken wurden zur Herstellung von Papier, Seide, Munition, Kleidungsstücke etc. errichtet. Dafür wurden Ingenieure und qualifizierte Arbeiter aus Europa herbeigeholt.132 Ein zweiter Erlass von 1856, Hatt-ı Hüma¯yu¯n (»Kaiserliches Handschreiben«) ˘ genannt, bestimmte das Verhältnis der Religionsgemeinschaften. Demnach galt der Islam weiterhin als Staatsreligion, jedoch waren alle männlichen Untertanen vor dem Gesetz gleich. Beide Erlasse, so Kreiser, stimmen dahingehend überein, dass »sie versuchen, die öffentliche Meinung Europas anzusprechen und Reformen im Inneren einzuleiten«.133 In den 1850er Jahren haben wir es mit einem Modernisierungsschub zu tun, dessen Auswirkungen insbesondere in den größeren Hafenstädten sichtbar wurden. Die ersten Telegrafenleitungen wurden gelegt, der Bau der ersten Bahnlinien wurde eingeleitet und die ersten Stadtverwaltungen eingesetzt. In der Zeit der Tanz¯ıma¯t wurden die Grundlagen für ein modernes staatliches Schul˙ und Hochschulsystems geschaffen, das noch in der türkischen Republik aner134 kannt wird. Neue Zeitschriften wurden publiziert, die verschiedene Themen wie Menschenrechte, Regierungsformen und wirtschaftliche Probleme ansprachen sowie über Entwicklungen aus dem Ausland berichteten. Das Interesse der osmanischen Elite am Westen nahm zu und der Fremdsprachenerwerb gewann an Bedeutung. Haniog˘lu weist allerdings darauf hin, dass die Verwestlichungs130 131 132 133 134
Zitiert nach Kreiser und Neumann: Kleine Geschichte der Türkei, S. 337. Kreiser, und Neumann: Kleine Geschichte der Türkei, S. 338. Haniog˘lu: A Brief History of the Late Ottoman Empire, S. 89ff. Kreiser und Neumann: Kleine Geschichte der Türkei, S. 338. Kreiser und Neumann: Kleine Geschichte der Türkei, S. 317.
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bestrebungen ein klassenorientiertes Phänomen waren. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts verbreiteten sich mehr und mehr europäisches Gedankengut und europäische Methoden.135
1.3.2 Die Beteiligung des Osmanischen Reiches an internationalen Ausstellungen im 19. Jahrhundert Die Beteiligung des Reiches an den internationalen Weltausstellungen ist ebenfalls ein Indiz für das Interesse an Europa. Mit der Provinz Ägypten hatte das Osmanische Reich zwei eigene Stände auf dem Expositionsgeländer der ersten internationalen Weltausstellung in London.136 Es hatte sich zum Ziel gesetzt, dort seine Produktivität in den Bereichen Agrar, Industrie und Handwerk zu demonstrieren und die Bemühungen des Sultans hinsichtlich der Entwicklung des Landes zu zeigen.137 Auch die osmanisch-englische Freundschaft, die sich seit der Tanz¯ıma¯t entwickelt hatte, war ein Aspekt für die Teilnahme gewesen.138 Mit dem ˙ ersten in England gebauten türkischen Dampfschiff namens Feyz˙-i ba¯rı¯ übersandte das Osmanische Reich von Istanbul nach Southampton139 ungefähr 700 Ausstellungsstücke, zu denen Lederwaren, Stoffe, Teppiche, Glaswaren, Handarbeiten aller Art, Lebensmittel etc. zählten.140 Auf der Ausstellung präsentierte sich das Land vor allem als Rohstofflieferant von wertvollen Kokons und Seide.141 Bevor die Exponate jedoch auf das Schiff geladen wurden, wurden sie kurze Zeit in Istanbul ausgestellt, so dass Staatsmänner, Gesandte, Händler und Gewerbetreibende diese betrachten konnten.142 Als Vertreter des Reiches reiste eine osmanische Kommission mit dem Handelsminister I˙sma¯ʿı¯l Pascha als Vorsitzender nach London.143 135 Haniog˘lu: A Brief History of the Late Ottoman Empire, S. 94ff. 136 Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 209. 137 Cerı¯de-i Hava¯dis vom 24. Zu l-kaʿda 1266 (1. Oktober 1850), Nr. 501. Siehe auch: Önsoy, ˙ Sanayii ve Sanayiles¸me Politikası [Die osmanische InRifat: Tanzimat Dönemi Osmanlı dustrie und Industrialisierungspolitik in der Tanzimat-Zeit], Ankara 1988, S. 59. 138 Önsoy: Tanzimat Dönemi Osmanlı Sanayii, S. 59. 139 Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 209f. 140 Eine detailgenaue Auflistung der Waren liefert Önsoy in seinem Werk Tanzimat Dönemi Osmanlı Sanayii, S. 60f. 141 Kreiser, Klaus: »Zu den Bayerisch-Türkischen Beziehungen zwischen 1825 und 1914«, in: Lermer, Andrea und Avinoam Shalem (Hg.): After One Hundred Years. The 1910 Exhibition »Meisterwerke muhammedanischer Kunst« Reconsidered, [= Islamic History and Civilisation; 82], Leiden / Boston 2010, S. 143. 142 Önsoy: Tanzimat Dönemi Osmanlı Sanayii, S. 59. 143 Vanke, Francesca: »Degrees of Otherness: The Ottoman Empire and China at the Great Exhibition of 1851«, in: Auerbach, Jeffrey A. und Peter H. Hoffenberg (Hg.): Britain, the Empire, and the World at the Great Exhibition of 1851, Hampshire 2008, S. 195.
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Das 19. Jahrhundert
Da das Schiff verspätet in Southampton anlegte, kamen die osmanischen Exponate erst nach der Eröffnung der Ausstellung in London an und wurden daher nicht in den ersten offiziellen Ausstellungskatalog aufgenommen.144 Obwohl den Waren des Osmanischen Reiches nur eine kleine Fläche zugeteilt wurde, erfreuten sich diese teilweise dennoch großer Bewunderung.145 Lothar Bucher beschreibt in seinen Skizzen zur Industrieausstellung den Stand wie folgt: Wer diese Abtheilung aufmerksam mustert, wird die durch russische Journalisten in deutschen, französischen und englischen Blättern verbreitete Lehre von der Schwäche und Fäulniß des türkischen Reiches bedeutend in Zweifel ziehen. Jedenfalls kommt die Türkei im Vergleich mit ihrem lüsternen Erben, Rußland, sehr gut weg. Abgesehen von edlen Metallen entwickelt sie einen größeren Reichthum von edlen Naturprodukten und sie hat eine Reihe von Gewerben aufzuweisen, die ohne Schutzzoll bestehen und große Märkte des Auslandes beherrschen. Die Berge von Concons und gesponnener Seide sind besser als Berge von Gold, die Waffenschmiede von Damaskus haben ihren alten Ruhm bewährt und die 64-Kanonenfregatte, welche die türkischen Beiträge brachte, wird als eins der schönsten Schiffe gerühmt, die je auf der Themse ankerten.146
Während auf der Ausstellung vermehrt neu entwickelte Maschinen und Geräte und die mit ihnen gewonnenen Textilien präsentiert wurden, bestanden die Exponate des Osmanischen Reiches vor allem aus traditionellen Agrarerzeugnissen und kunsthandwerklichen Produkten.147 Im Amtlichen Bericht über die Industrie-Ausstellung aller Völker zu London im Jahre 1851, die die Berichtserstattungs-Kommission der Deutschen Zollvereins-Regierungen verfasst hat, steht beispielsweise über die Waffen der Osmanen: Aus der Türkei waren mehrere sehr prachtvolle Waffen eingeliefert, darunter insbesondere einige lange Pistolen in der in jenem Lande geliebten Form, welche auch jetzt noch häufig nachgeahmt wird. Besonders geschmackvoll war der Beschlag der Kolben in getriebenem Silber mit Gold ausgelegt. Die älteren Pistolen hatten sehr lang gestreckte und nur wenig zurückgebogene Kolben, mitunter ganz vergoldet, mit ganzer Schäftung und sehr breiten silbernen oder goldenen Mundringen, die übergeschoben werden. Alle Gewehre und Pistolen hatten Steinschlösser, wie sie in der Türkei noch fast ausschließlich in Gebrauch sind. Die Läufe waren zum Theil von äußerst feinem
144 Im zweiten publizierten offiziellen Katalog erhielt das Osmanische Reich aber eine eigene Abteilung. Siehe Vanke: »Degrees of Otherness«, S. 197. 145 Salaheddin Bey: La Turquie à l’Exposition Universelle de 1867, S. 13. 146 Bucher, Lothar: Literaturhistorische Skizzen aus der Industrieausstellung aller Völker, Frankfurt am Main 1851, S. 132. 147 Önsoy, Rifat: »Osmanlı I˙mparatorlug˘u’nun katıldıg˘ı ilk uluslararası sergiler ve sergi-i umumi-i osmani (1863 I˙stanbul Sergisi)« [Die ersten internationalen Ausstellungen, an denen das Osmanische Reich teilnahm, und die Allgemeine Osmanische Ausstellung (Die Istanbuler Ausstellung von 1863)], in: Belleten XLVII/185 (1984), S. 199.
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schönen Damast, wie ihn zur Zeit höchstens die Lütticher übertreffen. Mehrere Gewehre zeichneten sich durch reichen Beschlag von Gold- und Silberblechen aus.148
Obwohl zum Ende der Ausstellung das Reich mit Auszeichnungen und Förderpreisen bedacht wurde,149 gibt es zahlreiche auf europäischen Sprachen verfasste Verzeichnisse und Berichte, in denen das Osmanische Reich keine oder kaum Beachtung findet und wenn, dann auch nur mit anderen Ländern gemeinsam behandelt wird.150 Bei der nächsten internationalen Weltausstellung, die 1853 in New York stattfand, gehörte das Osmanische Reich nicht zu den Teilnehmerstaaten. Erst bei der Pariser Weltausstellung, die zwei Jahre später folgte, war die Hohe Pforte wieder vertreten. Neben Großbritannien war Frankreich Verbündeter des Osmanischen Reiches, das zu jener Zeit gegen Russland im Krimkrieg (1853–1856) kämpfte. Es heißt, die politische Lage könne mit Einfluss auf die Beteiligung des Reiches an der Pariser Ausstellung gehabt haben.151 Die Exposition Universelle de 1855 legte neben den Industrieerzeugnissen einen weiteren Schwerpunkt auf die zeitgenössischen Künste, für die extra ein Palast errichtet wurde. Die aus verschiedenen Regionen zusammengestellten osmanischen Exponate waren zahlreicher als die bei der ersten internationalen Ausstellung, so dass daraus ein beachtlicher industrieller Fortschritt des Osmanischen Reiches gefolgert wurde. Das Reich wurde mit 27 Medaillen und zwanzig Auszeichnungen geehrt.152 Auch bei der 1862 erneut in London, dieses Mal aber im Kensington Garden stattfindenden Ausstellung war das Osmanische Reich zugegen.153 Die Exponate – von kunstvoll angefertigten Möbelstücken über Musikinstrumente bis hin zu Schmuckstücken154 – beliefen sich auf 787 Stück und nahmen nun mindestens doppelt so viel Fläche ein wie bei der ersten Londoner Weltausstellung. Es gab einen zusätzlichen Pavillon eigens für Kunstgegenstände. Die Quantität und Qualität der Produkte zeugte von einem weiteren Fortschritt im Bereich Land-
148 Amtlicher Bericht über die Industrie-Ausstellung aller Völker zu London, S. 710. 149 Salaheddin Bey: La Turquie à l’Exposition Universelle, S. 13. Eine genaue Auflistung der Medaillien und Auszeichnung ist bei Önsoy: Tanzimat Dönemi Osmanlı Sanayii, S. 62f zu finden. 150 Vanke: »Degrees of Otherness«, S. 197. 151 Germaner, Semra: »Osmanlı I˙mparatorlug˘u’nun Uluslararası Sergilere Katılımı ve Kültürel Sonuçları« [Die Beteiligung des Osmanischen Reiches an internationalen Ausstellungen und die kulturellen Konsequenzen], in: Tarih ve Toplum: yeni yaklas¸ımlar [Geschichte und Gesellschaft: neue Ansätze] 95 (1991), S. 34. 152 Salaheddin Bey: La Turquie à l’Exposition Universelle, S. 14. 153 Details zu den entsandten Exponaten siehe Önsoy: Tanzimat Dönemi Osmanlı Sanayii, S. 63ff. 154 Germaner: »Osmanlı I˙mparatorlug˘u’nun Uluslararası Sergilere Katılımı«, S. 34.
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Das 19. Jahrhundert
wirtschaft und Industrie. Die Jury überreichte den Osmanen 83 Medaillen und 44 Auszeichnungen.155 Im darauffolgenden Jahr veranstaltete das Reich in Istanbul erstmalig selbst eine nationale Ausstellung.156 Die Veranstaltung mit dem Namen Sergi-i ʿUmu¯mı¯-i ʿOsma¯nı¯ (»Allgemeine Osmanische Ausstellung«) wurde unter anderem mit dem Ziel veranstaltet, die Wettbewerbsfähigkeit des Osmanischen Reiches zu steigern, die inländischen Produkte zu präsentieren, zur Problemfindung bei den Herstellern beizutragen und gelungene Waren auszuzeichnen.157 Auch wenn man zu Beginn überlegt hatte, nur Produkte aus dem Inland auszustellen, wurden schließlich dennoch neu entwickelte Maschinen und Geräte aus Europa hinzugenommen. Es wurden Komitees einberufen, die bestimmten, welche Waren aus Istanbul und den ländlichen Gebieten ausgestellt werden sollten. Diese wurden dann in dreizehn Kategorien eingeteilt.158 Die am 27. Februar 1863 von Seiten Sultan ʿAbdülʿazı¯z in einem nur für Ausstellungszwecke extra errichteten Gebäude eröffnete und nach einer Dauer von fünf Monaten am 1. August desselben Jahres endende Veranstaltung159 erlangte großes Interesse und verdeutlichte die Vielfalt der landeseigenen Ressourcen.160 Die Veranstaltung wurde zu einem geschäftlichen und touristischen Ereignis. Unter den auf 100.000 bis 150.000 geschätzten Besucher, befanden sich auch Delegationen und Interessenten aus dem Ausland. Zudem berichteten die ausländischen Zeitungen über die Sergi-i ʿUmu¯mı¯-i ʿOsma¯nı¯.161 Als die wichtigste internationale Exposition, an der das Reich teilgenommen hat, gilt die Pariser Ausstellung von 1867. Die Zahl der Besucher der Exposition universelle d’Art et d’Industri belief sich auf elf Millionen; unter ihnen befand sich auch der osmanische Sultan ʿAbdülʿazı¯z.162 Von den 52.200 Aussteller, die dort ihre Waren präsentierten, gehörten knapp fünftausend Aussteller zum Osmanischen Reich, das somit nach Frankreich und England den dritten Platz einnahm.163 Es folgten die Teilnahmen an der Wiener Weltausstellung 1873 und 155 156 157 158 159 160 161 162
Salaheddin Bey: La Turquie à l’Exposition Universelle, S. 14f. Salaheddin Bey: La Turquie à l’Exposition Universelle, S. 23. Önsoy: Tanzimat Dönemi Osmanlı Sanayii, S. 71. Önsoy: »Osmanlı I˙mparatorlug˘u’nun katıldıg˘ı ilk uluslararası sergiler«, S. 208f. Germaner: »Osmanlı I˙mparatorlug˘u’nun Uluslararası Sergilere Katılımı«, S. 35. Salaheddin Bey: La Turquie à l’Exposition Universelle, S. 27f. Önsoy: »Osmanlı I˙mparatorlug˘u’nun katıldıg˘ı ilk uluslararası sergiler«, S. 233f. Zu Sultan Abdülaziz Europareise siehe u. a. Karaer, Nihat: Paris, Londra, Viyana: Abdülaziz’in Avrupa seyahati [Paris, London, Wien: Sultan Abdülaziz’ Europareise], Ankara 2003; Kutay, Cemal: Sultan Abdülaziz’in Avrupa seyahati [Sultan Abdülaziz’ Europareise], Istanbul 1991; Upton-Ward, Judy-Ays¸e: »European-Ottoman relations in the nineteenth century: the visit of Sultan Abdülaziz to Europe«, in: Çiçek, Kemal (Hg.): The great OttomanTurkish civilisation 1, Ankara 2000, S. 458–468. 163 Ausführliche Informationen zum Osmanischen Reich auf der Pariser Ausstellung von 1867 siehe Salaheddin Bey: La Turquie à l’Exposition Universelle.
Anglo-osmanische Beziehungen
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an der Exposition universelle de Paris de 1889, die anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Französischen Revolution stattfand. Eine weitere wichtige Ausstellung für das Osmanische Reich war die Chicago World’s Fair von 1893. Vertreten war die Hohe Pforte zudem auf der fünften Pariser Weltausstellung im Jahr 1900, die das neue Jahrhundert einleitete und als eine der erfolgreichsten Expositionen ihrer Art gilt.164
1.4
Anglo-osmanische Beziehungen
Die Beteiligung an den Weltausstellungen und die Knüpfung enger Beziehungen mit den Ländern Europas bedurften seiner Zeit, auch wenn Kontakte mit dem Ausland früh stattfanden. Ein Jahr nach der Eroberung Istanbuls 1453 durch Mehmed II. rief Venedig dort die erste ständige Gesandtschaft ins Leben. Noch ˙ im selben Jahrhundert folgten Polen und Russland und im Anschluss weitere europäische Länder.165 Das Osmanische Reich bediente sich ebenfalls seit dem 15. Jahrhundert Agenten zur Informationsbeschaffung, richtete aber erst Ende des 18. Jahrhunderts unter Selı¯m III. seine ersten dauerhaften Gesandtschaften in Europa ein. Doch bereits von der Gründung des Osmanischen Reiches bis zum Frieden von Küçük Kaynarca 1774 waren es insgesamt 205 Abordnungen von Gesandtschaften, die in 36 verschiedene Länder geschickt wurden. Das Ungleichgewicht zwischen den dauerhaft eingerichteten osmanischen und europäischen Vertretungen wird auf die politische und territoriale Überlegenheit des Osmanischen Reiches zurückgeführt. Das Reich erachtete diese Einrichtungen als nicht notwendig und beschränkte sich daher auf Bündnisse mit einzelnen Ländern, wie zum Beispiel der französisch-osmanischen Allianz von 1525.166 Die Beziehung zwischen Europa und dem Osmanischen Reich wurden im 16. Jahrhundert von zwei Figuren dominiert. Der französische König Franz I. verbündete sich mit Sultan Süleyma¯n I. (Süleyma¯n der Prächtige, reg. 1520–1566) gegen den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Karl V. Frankreich und das Osmanische Reich unternahmen einzelne Bestrebungen, die territoriale Ausbreitung des Herrschaftsbereiches des römisch-deutschen Kaisers zu verhindern.167 Die außenpolitische Zusammenarbeit wurde unter Ludwig XIV. inten164 Germaner: »Osmanlı I˙mparatorlug˘u’nun Uluslararası Sergilere Katılımı«, S. 38f. 165 Düzbakar, Ömer: »XV–XVIII. Yüzyıllarda Osmanlı Devleti’nde Elçilik Geleneg˘i ve Elçi I˙as¸elerinin Kars¸ılanmasında Bursa’nın Yeri« [Die Institution der Gesandtschaft im Osmanischen Reich und die Rolle Bursas bei der übernahme der Kosten für die Gesandten im XV– XVII. Jahrhundert], in: Uluslararası Sosyal Aras¸tırmalar Dergisi / The Journal of International Social Research, Volume 2/6 (Winter 2009), S. 183. 166 S¸irin: Osmanlı ˙Imgeleminde Avrupa, S. 131ff. 167 St. Clair, Alexandrine N.: The Image of the Turk in Europe, New York 1973, S. 8f.
54
Das 19. Jahrhundert
siviert, galt jetzt die Habsburgermonarchie als gemeinsamer Feind.168 In Großbritannien kam in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Interesse am Osmanischen Reich auf, was schließlich zur Gründung einer Handelsfirma 1581 führte.169 Auch andere Länder Europas waren an dem Austausch mit der Hohen Pforte interessiert. Europäische Händler für Wolle, Glas und andere Waren ließen sich in Istanbul in den Stadtteilen Galata und Pera nieder, die als Viertel der Ausländer und Knotenpunkt für Handel bekannt wurden. In dieser Zeit der Handelsbeziehungen bereisten Diplomaten, Händler und Reisende das Osmanische Reich.170 1580 wurden erstmalig britischen Händlern durch Sultan Murat III. gestattet, auf osmanischem Territorium Handel zu betreiben. Ein offizielles anglo-osmanisches Handelsabkommen wurde jedoch erst 1838 beschlossen.171 Die erste ständige Botschaft des Osmanischen Reiches wurde 1793 in London eingerichtet. Yu¯suf Aga¯h Efendi war der erste ständige Botschafter, den das Osmanische Reich nach England schickte. Nach und nach wurden auch ständige Botschafter in die anderen Großstädte Europas entsandt.172 Die von Yu¯suf Aga¯h Efendi an das Reich übermittelten Nachrichten enthielten Informationen über die diplomatischen Beziehungen der Engländer mit anderen Staaten, die das Osmanische Reich betrafen. So berichtete er beispielsweise, dass das Bündnisabkommen zwischen England und Russland keine Bestimmungen gegen das Osmanisch Reich enthielt und England keine freundschaftlichen Beziehungen mit Russland führte. Nachdem Yu¯suf Aga¯h Efendi dreieinhalb Jahre Dienst in England geleistet hatte, wurde er von I˙sma¯ʿı¯l Ferruh Efendi abgelöst.173 Für das Osmanische Reich nahmen diplomatische Beziehungen im 19. Jahrhundert an Bedeutung zu. Sie dienten als Mittel der Verteidigung, da durch sie Schaden abgewendet und Unterstützung gewonnen werden konnte. Die Bemühungen der in Europa eingesetzten Gesandten bestanden hauptsächlich im Erhalt des Territoriums oder der Vorherrschaft in diesen Gebieten.174 Unter dem
168 Miocˇinovic´, Boris (Hg.): Begegnungen zwischen Orient und Okzident, Ptuj 1992, S. 141. 169 Aksoy, Nazan: Rönesans ˙Ingiltere’sinde Türkler [Türken im England der Renaissance], Istanbul 2004, S. 94. 170 St. Clair: The Image of the Turk in Europe, S. 8ff. 171 Kütükog˘lu, Mübahat: »The Ottoman-British Commercial Treaty of 1838«, in: Hale, William und Ali I˙hsan Bag˘ıs¸ (Hg.): Four Centuries of Turco-British Relations. Studies in Diplomatic Economic and Culural Affairs, North Yorkshire 1984, S. 53ff. 172 Kürkçüog˘lu, Ömer: »The Adoption and Use of Permanent Diplomacy«, in: Yurdusev, A. Nuri et al. (Hg.): Ottoman Diplomacy: Conventional or Unconventional? Houndmills 2004, S. 133. 173 Kuran, Ercüment: Avrupa’da Osmanlı ˙Ikamet Elçiliklerinin Kurulus¸u ve ˙Ilk Elçiliklerin Siyasi Faaliyetleri 1793–1821 [Die Gründung der ständigen osmanischen Botschaften in Europa und die politischen Aktivitäten der ersten Gesandten 1793–1821], Ankara 1988, S. 9. 174 Davison, Roderic: »Tanzimat Döneminde Osmanlı Diplomasisinde Modernles¸mesi« [Die
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Begriff der Orientalischen Frage, mit dem die problematische Lage des Reiches nach zahlreichen territorialen Verlusten und politischen Einbußen bezeichnet wurde, ging es um die Aufrechterhaltung des Mächtegleichgewichts in Europa. Der aus westlicher Sicht »kranke Mann am Bosporus«, wie das Reich damals bezeichnet wurde, befand sich in einem Zwiespalt. Einerseits galt es als gleichberechtigt und andererseits hatte es eben diesen Status als solchen bereits verloren. Die europäischen Staaten waren durch ihre Einflussgebiete im Vorderen Orient genauso in die Situation verwickelt wie die zur Unabhängigkeit drängenden Nationalitäten auf dem Balkan.175 In den 1820er Jahre hatte England mit Russland kooperiert, um das Osmanische Reich zu einer Unabhängigkeit Griechenlands zu bewegen. Der Konflikt endete mit der Schlacht von Navarino 1827, an der sich England, Frankreich und Russland gegen die Osmanen beteiligten, und die die Unabhängigkeit der Griechen zum Ergebnis hatte. Infolge erklärte das Osmanische Reich den Russen den Krieg. Russland war deutlich überlegen, konnte eine Einnahme Istanbuls und der Bosporus-Meerengen jedoch wegen der anderen europäischen Mächte nicht riskieren, da für diese die territoriale Einverleibung nicht hinnehmbar war. Insbesondere England befürchtete eine Ausweitung Russlands und entschloss sich daher, eine pro-osmanische Politik zu führen.176 Dabei verfolgte es zwei Ziele: Erstens, die territoriale Gesamtheit des Osmanischen Reiches gegen Angriffe von außen zu schützen und zweitens, die inneren Entwicklungen dahingehend zu unterstützen, dass der Staat unabhängig blieb.177 Bis 1833 war sich England nicht darüber bewusst, dass Russland einen ernstzunehmenden Gegner im Nahen Osten darstellte. Während der Ägyptenkrise der 1830er Jahre verbündete sich Russland mit dem Osmanischen Reich, das um Hilfe gegen den Gouverneur von Ägypten, Muhammad ʿAlı¯, gebeten hatte. Erst mit der Unterzeichnung des ˙ Vertrags von Hünka¯r I˙skelesi, in dem sich das Osmanische Reich und Russland im Falle eines Angriffs gegenseitige Unterstützung zusicherten, erkannte England den Ernst der Lage. Russlands zunehmender Einfluss in der Region erregte nunmehr seine Besorgnis. Der englische Außenminister Canning war bereits nach seinem Besuch in Istanbul 1832 der festen Überzeugung, dass die osmanische Verwaltung Erneuerungen bedurfte, das Militär effektiver gestaltet werModernisierung der osmanischen Diplomatie in der Tanzimat-Zeit], in: I˙nalcık und Seyitdanlıog˘lu: Tanzimat Deg˘is¸im Sürecinde Osmanlı ˙Imparatorlug˘u, 291f. 175 Moser, Brigitte und Michael Weithmann: Landeskunde Türkei. Geschichte, Gesellschaft und Kultur, Hamburg 2008, S. 90. 176 Vanke: »Degrees of Otherness«, S. 192. 177 Bailey, Frank Edgar: »Palmerston ve Osmanlı Reformu (1834–1839)« [Palmerston und die osmanischen Reformen], in: I˙nalcık, Halil und Mehmet Seyitdanlıog˘lu (Hg.): Tanzimat Deg˘is¸im Sürecinde Osmanlı ˙Imparatorlug˘u [Das Osmanische Reich im Wandel der Tanzimat], Ankara 2011, S. 305.
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den und finanzielle Reformen durchgeführt werden müssten, damit es sich gegen den Einfluss anderer Staaten wie Russland durchsetzen konnte. Die osmanische Flotte befand sich in einem noch schlechteren Zustand als das Militär. Dennoch lehnte das Osmanische Reich das Hilfsangebot Englands zur Verbesserung der Zustände vorerst ab. England bemühte sich weiter, die Reformen im Inneren und gleichzeitig auch äußere Angelegenheiten zu unterstützen. Dass sich der osmanische Sultan schließlich vom Einfluss Russlands lossagen konnte, war unter anderem auch ein Verdienst der Bemühungen Englands.178 1839 wurde das Reich dennoch von Ägypten geschlagen und drohte zu kollabieren, wenn nicht England und andere europäische Staaten eingegriffen und zwischen Muhammad ʿAlı¯ und dem neuen osmanischen Sultan ʿAbdülmecı¯d ˙ vermittelt hätten.179 Bei der Vereinbarung des Freihandelsabkommens zwischen England und dem Osmanischen Reich ein Jahr zuvor spielte die Tatsache eine wichtige Rolle, dass das Osmanische Reich auf Unterstützung Europas gegen den Gouverneur von Ägypten angewiesen war.180 Dieser wurde 1841 aus Syrien zurückgedrängt und ein internationales Abkommen sorgte für eine Wiederherstellung der Machtverhältnisse. Während der folgenden kleineren Auseinandersetzungen zwischen dem Osmanischen Reich und Russland genossen die Osmanen stets die Unterstützung Englands. Die unbeständigen Beziehungen mit Russland endeten schließlich im Krimkrieg, der von 1853–1865 dauerte.181 Der außenpolitische Eckstein der Tanz¯ıma¯t-Zeit war ein informelles Bündnis ˙ mit England, basierend auf gemeinsamen Interessen und gegen den gemeinsamen Feind Russland. Das Osmanische Reich war gezwungen, seine Abwehr zu stärken und seine Widerstandskraft durch Bündnisse zu sichern. Für eine innere Stärkung und äußere Legitimität musste sich das Land modernisieren. Mehrere Faktoren spielten bei dem Bündnis mit England für das Osmanische Reich eine Rolle. Neben der Russophobie, die in der englischen Presse seit den 1830er Jahren offenbar wurde, sind hier der anglo-russische »Kalte Krieg« in Europa und Zentralasien, der Aufstieg der englischen Wirtschaft, ihr Interesse an der Levante und die Überlegenheit der englischen Flotte zu nennen. Für England stellte die russische Haltung gegenüber den Osmanen eine Bedrohung für seine Überlegenheit zur See und das Mächtegleichgewicht Europas dar. Das Osmanische Reich als Bollwerk gegen die russische Expansion wurde für die englische Abwehr daher zur Priorität zwischen den 1830 und 1880 Jahren.182
178 179 180 181 182
Bailey: »Palmerston ve Osmanlı Reformu«, S. 308ff. Vanke: »Degrees of Otherness«, S. 192. Kütükog˘lu: »The Ottoman-British Commercial Treaty«, S. 53ff. Vanke: »Degrees of Otherness«, S. 192f. Haniog˘lu: A Brief History of the Late Ottoman Empire, S. 77f.
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1.4.1 Die Gegenseitige Wahrnehmung der Osmanen und Europäer Durch die Beteiligung an internationalen Ausstellungen war das Osmanische Reich in der Lage, sein Bild in Europa selbst ein wenig mitzugestalten. Grundsätzlich gilt allerdings, dass Bilder anderer Länder sich dadurch auszeichnen, dass es sich bei ihnen um nationale Kollektivdarstellungen handelt, bei denen keine Einheitlichkeit herrscht. Wahrnehmungen gleicher nationaler Gruppen können sich daher widersprechen. Generell gilt, dass sie wandelbar sind und von zahlreichen Faktoren abhängen. Dazu zählen die geografische Nähe und die Beziehung des darstellenden und dargestellten Landes, historische Gegebenheiten, kulturelle und gesellschaftliche Aspekte, Ideologien etc.183 Diese Bilder wurden (und werden) mittels zahlreicher Medien, wie zum Beispiel Geschichtswerke, Kompilationen, Pamphlete, Reiseberichte, Erinnerungen und Tagebücher transportiert. Neben dieser Fülle an Schriftstücken gab bzw. gibt es zudem den Bereich der Kunst, über den ebenfalls mittels Theater, Musik und Malerei Vorstellungen über andere Kulturen und Länder verbreitet wurden.
1.4.1.1 Zur Entwicklung des »Türkenbildes« in Europa Was das Bild des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert anbelangt, so zählten zu diesen Medien Werke von Personen, die auf irgendeine Weise Kontakt mit den Osmanen hatten.184 Sie überlieferten und prägten »die Bilder über die Türken, ihre Herkunft, ihre militärische Stärke, ihren Staat und insbesondere über ihre Religion, den Islam.«185 Auch ein Ölgemälde aus dem 18. Jahrhundert, das als »Völkertafel« bekannt wurde, ist eben solch ein nationale Images übermittelndes Medium. Von dem in Österreich entstandenen Kunstwerk, das die Überschrift »Kurze Beschreibung der In Europa Befintlichen Völckern Und Ihren Aigenschafften« trägt, gibt es mehrere Exemplare. Die Tafel weicht nur gering von ihrer Vorlage ab, einem Stich des Augsburger Kupferstechers Friedrich Leopolds. 183 Kuran-Burçog˘lu, Nedret: »A Glimpse at Various Stages of t he Evolution of the Image of the Turk in Europe: 15th to 21st Centuries«, in Soykut, Mustafa (Hg.): Historical Image of the Turk in Europe: 15th Century to the Present: Political and Civilizational Aspects, Istanbul 2003, S. 23. 184 Hierzu können Diplomaten, Reisende, Kaufleute, Gefangene etc. gezählt werden. Siehe zum Beispiel den Beitrag Kuczynskis über die Berichte englischer Kaufleute, Pfarrer und Ärzte aus dem 17. und 18. Jahrhundert: Kuczynski, Ingrid: »›Subject to our eye‹ – Berichte englischer Kaufleute, Pfarrer und Ärzte aus dem Osmanischen Reich«, in: Schmidt-Haberkamp, Barbara (Hg.): Europa und die Türkei im 18. Jahrhundert / Europe and Turkey in the 18th Century, Bonn 2011, S. 247–259; aber auch den Beitrag von Renda zu Reisenden und ihren Berichten: Renda, Günsel: »Travellers and Images: Heritage Interpretation in a Historical Perspective«, in: Heritage, multicultural attractions and tourism 1 (1999), S. 255–273. 185 Miocˇinovic´: Begegnungen zwischen Orient und Okzident, S. 140.
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Dargestellt werden zehn bzw. elf verschiedene Völker mit ihren jeweiligen Charaktereigenschaften, die mehr oder weniger den damaligen ethnografischen Kriterien entsprechen. Stanzel nennt die Rubrik, in der Türken und Griechen als ein gemeinsames Volk186 dargestellt wurden, »die kurioseste Kolonne im Kuriositätenkabinett«. Dass zwischen Türken und Griechen, als deren äußeres Erkennungsmerkmal der Turban galt, nicht differenziert wurde, führt er auf das gemeinsame Territorium zurück, das wohl als Unterscheidungsmerkmal diente.187 Dieses Kriterium muss wohl auch der Grund sein, weshalb die Türken überhaupt auf das Gemälde der europäischen Völker aufgenommen wurden. Die Tafel schreibt den Türken oder Griechen (»Tirk oder Griech«) Epitheta wie »Verweichlichung, Faulheit und tyrannische Herrschaft« zu.188 Somit erhielt(en) diese Bevölkerungsgruppe(n) die schlechteste Bewertung auf der Darstellung, denn ihm/ihnen wurde nur Verachtung zuteil. Das Bild des devoten und trägen Türken wurde zum Teil auf die Klimatheorie189 zurückgeführt. Trägheit galt ge186 Petkov verweist in seiner Studie darauf, dass die Bezeichnungen »Greeks« und »Turks« in einem sehr weiten Sinn verwendet wurden. So wurden beispielsweise Südslaven generell einfach als »Türken« bezeichnet und »der Grieche« stand für Anhänger der östlich-orthodoxen Kirche. Siehe Petkov, Kiril: Infidels, Turks, and Women. The South Slavs in the German Mind ca. 1400–1600, Frankfurt am Main 1997, S. 78ff. Es gibt ähnliche Beispiele, bei denen ethnische oder nationale Zuordnungen stellvertretend für größere Einheiten stehen. In der deutschen Volksliteratur beispielsweise »steht ›der Türke‹ seit der frühen Neuzeit stellvertretend für ›den Orientalen‹ schlechthin: die ganze osmanische, also muslimische, nahöstliche und arabische Welt wird meist in diesem Terminus mit einbegriffen.« Siehe Cheesman, Tom: »Das Türkenbild als Eigenbild im Bänkelsang des 19. Jahrhunderts«, in: Gutenberg, Andrea und Ralf Schneider (Hg.): Gender – Culture – Poetics. Zur Geschlechterforschung in der Literatur- und Kulturwissenschaft. Festschrift für Natascha Würzbach, Trier 1999, S. 152. 187 Stanzel, Franz K.: Europäer. Ein imagologischer Essay, Heidelberg 1997, S. 54. Auch Konstantinovic´ führt die »Kontamination der Epitheta für die Türken und Griechen« auf die geschichtlichen Entwicklungen im Südosten Europas zurück. Demnach kam es seit jeher dazu, dass die Griechen mit den »Orientalen« gleichgesetzt wurden. Siehe Konstantinovic´, Zoran: »›Tirk oder Griech‹. Zur Kontamination ihrer Epitheta«, in: Stanzel, Franz K. (Hg.): Europäischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jahrhunderts, Heidelberg 1999, S. 312. 188 Stanzel: Europäer, S. 16. 189 Die Klimatheorie oder Klimazonenlehre versuchte eine naturwissenschaftliche Erklärung für das verschiedenartige Verhalten der Bewohner unterschiedlicher Regionen zu liefern. Das Klima bestimmte, so Stanzel, verstärkt durch die topographischen Besonderheiten eines Landes, Charakter und Temperament des Menschen, die in diesem Land wohnen. Im 16., 17. und frühen 18. Jahrhundert erlangte die Klimazonenlehre, die bis in die Antike zurückreicht, ihre größte europäische Ausbreitung. Die Erde wurde in drei Klimazonen geteilt: der kalte Norden, der heiße Süden und eine mäßige Zone dazwischen. In der Mittelzone besaßen »die Bewohner die Vorzüge sowohl der Nordländer (Ausdauer, Tapferkeit, mechanisches Geschick), als auch jene der Südländer (körperliche Agilität, geistige Beweglichkeit und Phantasie), nicht aber die Nachteile der jeweiligen Extremzonen (Schwerfälligkeit der Nordländer, gesteigerte Sinnlichkeit der Südländer usw.). Siehe Stanzel: Europäer, S. 28f und Beller, Manfred: »Climate«, in: ders. und Joep Leerssen (Hg.): Imagology. The Cultural Construction and Literary Representation of National Characters, [= Studia Imagologica;
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nerell als Ursache für Zeitlosigkeit und Unveränderbarkeit und war eine der beständigsten und am häufigsten wiederkehrenden Topoi, die den Bewohnern des Orients zugeschrieben wurden. Weitere Erklärungsversuche für den Charakterzug waren die Religion des Islam, eine despotische Regierungsform oder Tributzahlungen, durch deren Einnahmen Arbeiten überflüssig wurde.190 Wirft man jedoch einen Blick auf das europäische Türkenbild der letzten Jahrhunderte, so stellt man fest, dass dieses durchaus »vielfältig und dynamisch« und keineswegs »monochrom und statisch« war, und dass die Veränderung des Bildes von kulturellen, örtlichen, zeitlichen und ideologischen Faktoren beeinflusst wurde.191 Selbst Widersprüchlichkeiten sind keinesfalls abwegig, konnten die Osmanen doch alles bedeuten: Eine schreckliche Gottesplage und ein unergründlicher Mythos; die Möglichkeit der militärischen Karriere, aber auch jene eines grausamen Todes; Pracht und Glanz, aber auch Barbarei; wunderbarer Reichtum und grenzenlose Armut; muslimische Ungläubigkeit und katholische Treue.192
Es scheint, als habe man es gleichzeitig mit einem »imperium terrible et admirable« zu tun. Vor allem gilt jedoch, dass man nicht von einem verallgemeinerbaren europäischen Bild der Osmanen sprechen kann, da es abgesehen von dem Wandel, dem es unterlag, unterschiedlich rezipiert und repräsentiert wurde.193 Heppner formuliert die Problematik wie folgt: Es ist wohl schwer möglich, alle vorhandenen zeitgenössischen Nachrichten zum Thema ›Türken‹ wahrzunehmen und wegen ihres ungleichartigen Inhalts zusammenzufassen; deshalb kann ein ›Türkenbild‹ nur den gemeinsamen Nenner all dieser Quellen darstellen, ein Nenner, der zwangsläufig eine Verallgemeinerung und daher Vergröberung in sich trägt.194
190 191 192 193 194
13], Amsterdam / New York, S. 298–304 und ders.: Eingebildete Nationalcharaktere: Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie, Göttingen 2006, S. 239–259. Schiffer, Reinhold: Turkey Romanticized. Images of the Turks in Early 19th Century English Travel Literatur with an Anthology of Texts, Bochum 1982, S. 26f. Kuran-Burçog˘lu, Nedret: Die Wandlungen des Türkenbildes in Europa, Zürich 2005, S. 14f. Kmecl, Matjazˇ: »Zum Geleit«, in: Miocˇinovic´: Begegnungen zwischen Orient und Okzident, S. 11f. Siehe hierzu auch: Kuran-Burçog˘lu: Die Wandlungen des Türkenbildes, S. 46f. Heppner, Harald: »Das ›westliche‹ Türkenbild im Zeitalter der Aufklärung«, in: I. Uluslarası Seyahatnamelerde Türk ve Batı ˙Imaji Sempozyumu Belgeleri [Akten des I. Internationalen Symposion Türken und Europäerbild in den Reiseberichten], 28.10.–1. 11. 1985, [= Anadolu Üniversitesi Yayınları; 221 / Eg˘itim Fakültesi Yayınlaı; 6], Eskis¸ehir 1987, S. 97f. Zum Türkenbild speziell in der deutschsprachigen Literatur siehe u. a. Kula, Bilge: Alman Kültürü’nde Türk ˙Imgesi [Das Bild der Türken in der deutschen Kultur], Mersin 1992; Kleinogel, Cornelia: Exotik-Erotik zur Geschichte des Türkenbildes in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit (1453–1800), [= Bochumer Schriften zur deutschen Ltieratur; 8], Frankfurt am Main 1989; Kocadoru, Yüksel: Die Türken: Studien zu ihrem Bild und seiner Geschichte in
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Die Entstehung eines Türkenbildes reicht bis ins 11. Jahrhundert zurück, als die Türken in Anatolien ansiedelten. Bei der Verbreitung eines negativen Bildes bei den europäischen Völkern spielte die Kirche im 11. und 12. Jahrhundert eine wichtige Rolle. Nach der ersten Belagerung Konstantinopels Ende des darauffolgenden Jahrhunderts wandelte sich das Bild der Türken aufgrund der von den Europäern ausgehenden Furcht.195 Im 14. und 15. Jahrhundert wurde der Osmane generell gleichgesetzt mit Gräueltaten, für den Händler bedeutete er eine Quelle des Geldes, für die Regierungen sorgte er für Besorgnis, für die Kirchenoberhäupter personifizierte er das ungläubige Böse und für die Denker bildete er das Konzept für eine europäische Identität, dadurch dass sie sich ihm gegenüberstellten.196 Mit der Ausbreitung des Osmanischen Reiches nahm seine Bedrohung für Europa zu. Nach der Eroberung Konstantinopels macht KuranBurçog˘lu ein zwar stark reduziertes, aber dennoch nennenswert zweigeteiltes Bild der Türken aus.197 Während die näher an den Grenzen des Reiches gelegenen Länder ein vermehrt negatives Bild mit feindlicher Gesinnung darstellten, herrschte in den weiter entfernt liegenden Regionen positive Anerkennung.198 Von der sogenannten Türkengefahr liefert die »Türkenliteratur« im 15. und 16. Jahrhundert ein anschauliches Bild. Unterstützt durch die Errungenschaften
195 196 197
198
Österreich, Klagenfurt 1990; Ünlü, Selçuk: »Alman Edebiyat’ında Türk I˙majı« [Das Türkenbild in der deutschen Literatur], in: Türk Dünyası Aras¸tırmaları [Studien zur türkischen Welt] 15 (1981), S. 47–56. Kuran-Burçog˘lu: Die Wandlungen des Türkenbildes, S. 16ff. Fleet, Kate: »Italian Perceptions of the Turks in the Fourteenth and Fifteenth Centuries«, in: Journal of Mediterranean Studies, Vol. 5, No. 2 (1995), S. 170. Aksoy zeigt in ihrer Studie, dass entgegen der Annahme, die Türken seien im England der Renaissancezeit stets negativ dargestellt worden, dies nicht der Wahrheit entspricht und von einer heterogenen Darstellung zu sprechen ist. Artemel führt dies weiter aus und legt dar, dass es neben der vorweg negativen Präsentation der Osmanen im 16. Jahrhundert auch teils spöttische Darstellungen gab. Vor allem bestanden aber ein Bedarf an Handelsbeziehungen und Bündnissen und zuweilen sogar der Wunsch, den türkischen Kleidungsstil nachzuahmen. Siehe Aksoy: Rönesans ˙Ingiltere’sinde Türkler, S. 94 und 118 und Artemel, Süheyla: »›The Great Turk’s Particular Inclination to Red Herrin‹: The Popular Image of the Turk during the Renaissance in England«, Journal of Mediterranean Studies, vol. 5, No. 2 (1995), S. 188. In deutschen Reiseberichten aus dem 16. Jahrhundert werden die Osmanen, die sich zu jener Zeit auf dem Höhepunkt ihrer Herrschaft befanden, als Gefahr für die Christenheit dargestellt. Neben dem vermehrt negativen Bild, gibt es auch vereinzelte positive Darstellungen der Osmanen. Siehe Strauß, Johann: »Das Bild von Griechen und Türken bei deutschen Reisenden«, in: I. Uluslarası Seyahatnamelerde Türk ve Batı ˙Imaji Sempozyumu Belgeleri, S. 224ff. Kuran-Burçog˘lu: Die Wandlungen des Türkenbildes, S. 22, aber auch Stanzel: Europäer, S. 54. Trotz der Schwierigkeit einer Kategorisierung und Periodisierung des Bildes der Osmanen aus europäischer Sicht, wird sich hier an dem Versuch von Kuran-Burçog˘lu orientiert, die eine Einteilung in mehrere zeitliche Einheiten vornimmt. Es handelt sich um eine starke Reduzierung, die keinesfalls die Diversität des Bildes wiedergibt, aber eventuelle dennoch gewisse Tendenzen aufzuzeigen vermag.
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des Buchdrucks wurde der europäische Markt mit Nachschlagewerken, Meldungen, Abhandlungen und Augenzeugenberichten über »die Türken« überschwemmt.199 Allein im 16. Jahrhundert wurden knapp 2500 Schriften veröffentlicht, auf denen Osmanen abgebildet waren und die daher einen großen Einfluss auf das vermehrt negative europäische »Türkenbild« ausübten.200 Es begann aber auch eine Zeit, in der das Bild der Osmanen mehr und mehr stilisiert wurde. In der Malerei und im Theater wurden Motive verwendet, die einen exotischen Nahen Osten repräsentierten.201 Erst mit der Niederlage der Osmanen in Lepanto 1571, welche Kuran-Baruçog˘lu nach der Eroberung Konstantinopels als zweiten historischen Wendepunkt in der Geschichte der europäischen Osmanenrezeption bezeichnet, änderte sich das »Türkenbild«. Es folgte eine Phase der negativ-grotesken Darstellung.202 Im Maskenspiel, Drama und Ballett dienten die Darstellungen der Türken lediglich als Kontrast zum europäischen Heldentum oder als Spottobjekt, so St. Clair. Ähnlich sei es in der Literatur gewesen, in der negative Schilderungen vorherrschten. In den meisten Märchen des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts endeten die Helden in den gewaltsamen Händen der »Türken«. Allerdings wurden – was Textilien anbelangt – orientalische Motive und Accessoires imitiert. Auch die Buchbindung und Metallarbeiten übten großen Einfluss auf den Westen aus.203 Auf der anderen Seite galt das Interesse im besonderen Maße den Zuständen, Vorgängen und Strukturen im Osmanischen Reich, das für viele europäische Staaten eine große Bedrohung darstellte. In Italien, im Reich und in der Habsburger Monarchie war das Interesse für die Türken und den Orient bis in die Aufklärungszeit hinein geprägt von der überlieferten antiislamischen Polemik und der großen welthistorischen Konfrontation: Es galt mehr über den mächtigen, gefährlichen, islamischen Gegner im Südosten zu erfahren, um ihn besser bekämpfen zu können.204
Während Frankreich, England und die Niederlanden dem Osmanischen Reich nicht feindlich gesinnt waren, sondern sogar freundschaftliche und wirtschaftliche Beziehungen führten,205 wurde im Südosten Europas die osmanische
199 Schwob, Ute Monika: »Zum Bild der Türken in deutschsprachigen Schrift [sic!] des 15. und 16. Jahrhunderts. Zur Entstehung von Klischeevorstellungen«, in: I. Uluslarası Seyahatnamelerde Türk ve Batı ˙Imaji Sempozyumu Belgeleri, S. 175. 200 Göyünç, Nejat: »16. Yüzyılda Avrupa’da Türk I˙maji« [Das Türkenbild in Europa im 16. Jahrhundert], in: I. Uluslarası Seyahatnamelerde Türk ve Batı ˙Imaji Sempozyumu Belgeleri, S. 92. 201 St. Clair: The Image of the Turk in Europe, S. 10. 202 Kuran-Burçog˘lu: Die Wandlungen des Türkenbildes, S. 28f. 203 St. Clair: The Image of the Turk in Europe, S. 10ff. 204 Miocˇinovic´: Begegnungen zwischen Orient und Okzident, S. 140. 205 Miocˇinovic´: Begegnungen zwischen Orient und Okzident, S. 140.
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Das 19. Jahrhundert
Herrschaft bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts durchweg als »Tyrannei« wahrgenommen.206 Mit dem dritten Wendepunkt, der Niederlage der Osmanen bei der Belagerung Wiens, änderte sich das Bild in Europa erneut.207 Das Bild des Osmanischen Reiches wandelte sich vom »Schrecken der Welt« zum »kranken Mann am Bosporus«.208 Die ›Türkengefahr‹, eines der wichtigsten Antagonismusnarrative der frühen Neuzeit, verblasste nach der osmanischen Niederlage bei der zweiten Belagerung Wiens 1683 und das Bild des Türken wandelte sich vom bedrohlichen, unbesiegbaren Schrecken der Christenheit zum kuriosen, exotischen Nachbarn.«209
Es kam »ein positiveres Türkenbild, das eine Gravitation zu orientalischer Exotik erkennen läßt.«210 Der Verlust der osmanischen Vormachtstellung führte zudem zu intensiveren wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit den Ländern Europas. Das zunehmend positive Bild der Türken drückte sich auch in anderen kulturellen Bereichen aus. Die in Frankreich Ende des 17. Jahrhunderts begonnene und sich im 18. Jahrhundert in ganz Europa ausbreitende Turkophilie war in den Bereichen Literatur, Musik, Theater, Malerei und Bekleidung zu erkennen.211 An Beliebtheit erfreuten sich auch Darstellungen von Szenen aus dem osmanischen Volk, die in der bildenden Kunst als Turquerien212 bezeichnet wurden. Das Bedürfnis, die osmanische Welt künstlerisch zu erfassen, kam durch diese häufig vorkommenden Darstellungen zum Ausdruck.213 Zu dieser Modeerscheinung gehörten auch die im 18. Jahrhundert in Europa aufkommenden Märchen mit
206 Geier, Wolfgang: Südosteuropa-Wahrnehmungen. Reiseberichte, Studien und biographische Skizzen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, [= Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund; 39], Wiesbaden 2006, S. 83 und 129. Çırakman verweist in ihrem Artikel darauf, dass Wahrnehmungen anderer Länder auf Darstellungen ihrer jeweiligen Herrscherpersönlichkeiten und deren Politik begrenzt waren. Auch wenn das Osmanische Reich im 16. und 17. Jahrhundert als »tyrannisch« bezeichnet wurde, wurde dieses Konzept dennoch nicht durchgehend aufrecht erhalten. Siehe Çırakman, Aslı: »From Tyranny to Despotism. The Enlightenment’s Unenlightened Image of the Turks«, in: International Journal of Middle East Studies, Vol. 33, No. 1 (Feb. 2001), S. 50. 207 Kuran-Burçog˘lu: Die Wandlungen des Türkenbildes in Europa, S. 36. 208 Çırakman, Aslı: From the »Terror of the World« to the »Sick Man of Europe«. European Images of Ottoman Empire and Society from the Sixteenth Century to the Nineteenth, [= Studies in Modern European History; 43], New York 2002. 209 Schmidt-Haberkamp: Europa und die Türkei, Einleitung S. 10. 210 Stanzel: Europäer, S. 54. 211 Kuran-Burçog˘lu: Die Wandlungen des Türkenbildes in Europa, S. 37ff. 212 Unter dem Begriff Turquerie verstand man vom 16.–18. Jahrhundert »Werke der Bildenden Kunst, des Theaters oder der Musik, die türkischen Inhalt hatten oder Türken, beziehungsweise Türkinnen zeigten.« Siehe Miocˇinovic´: Begegnungen zwischen Orient und Okzident, S. 145. 213 Konstantinovic´: »›Tirk oder Griech‹«, S. 305.
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orientalischen Motiven.214 Ebenfalls der Einfluss der osmanischen auf die europäische Militärmusik erlangte unter der sogenannten Janitscharenmusik ihren Höhepunkt im 18. Jahrhundert.215 Generell bedeutete der Orient an sich »für die Europäer eine mysteriöse, bezaubernde Welt, die mit Exotik und sinnlichen Genüssen bezeichnet wurde.«216 Wie auch andere betont Çırakman in ihrer Studie, dass es bis zum 18. Jahrhundert kein kohärentes und beständiges Bild der Osmanen in Europa gegeben habe.217 Die ambivalente Einstellung gegenüber dem Osmanischen Staat führt sie unter anderem auf den Machterfolg des Reiches zurück. Erst im 18. Jahrhundert stimmen die europäischen Darstellungen der Osmanen insofern überein, als dass sie (abgesehen von der Bewunderung im künstlerischen Bereich) deutlich negativ besetzt sind. Grundsätzlich seien die Osmanen als »ignorant, träge, habgierig und hochmütig« oder aber als grausame Unterdrücker anderer ethnischer Gruppen dargestellt worden.218 Die Bereitschaft europäische Methoden zu übernehmen und die Reformierung osmanischer Institutionen im 18. Jahrhundert wurden von den Europäern weitgehend ignoriert, kritisiert sie. Während in früheren Jahrhunderten europäische Beobachter nach dem Erfolg oder Scheitern osmanischer Bestrebungen suchten, wurden ihre Berichte im 18. Jahrhundert von einem Eurozentrismus dominiert, der zu einer Hervorhebung der eigenen Leistungen gegenüber anderen führte.219 Das sich unter anderem durch Bewunderung manifestierte Interesse des 18. Jahrhunderts wich einem profitorientiertem Eifer, der sich im Kolonialismus des 19. Jahrhunderts niederschlug. Der Großteil des Orients, zu dem auch das Osmanische Reich zählte, wurde von Großbritannien und Frankreich dominiert. Das vorherrschende Bild war durch Rückstand und Teilnahmslosigkeit geprägt.220 Im 19. Jahrhundert herrschten Stereotype, die den Islam generell verurteilten. »In muslimischen Gesellschaften stagniere das Wissen«, hieß es, »und sei nur durch die Adaption europäischer Ideen und Normen wandelbar.« Der 214 Cheesman: »Das Türkenbild als Eigenbild«, S. 158. 215 St. Clair: The Image of the Turk in Europe, S. 21; Miocˇinovic´: Begegnungen zwischen Orient und Okzident, S. 185. 216 Kuran-Burçog˘lu: Die Wandlungen des Türkenbildes in Europa, S. 46. 217 In ihrer Studie hat es sich Çırakman zum Ziel gesetzt, europäische Bilder des Osmanischen Reiches nachzuzeichnen. Als Quelle dienen ihr literarische Produkte von u. a. Reisenden, Historikern und Politikern. Über eine Zeitspanne vom 16. bis zum 18. Jahrhundert verfolgt sie dafür die Entwicklungen der Darstellungen osmanischer Politik und Gesellschaft und geht dabei der Frage nach, wie und warum sich das Bild in den Köpfen europäischer Intellektueller verändert hat. Çırakman: From the »Terror of the World«. 218 Çırakman: From the »Terror of the World«, S. 150. 219 Çırakman: »From Tyranny to Despotism«, S. 59. Mit dieser Weltsicht des Eurozentrismus im 19. Jahrhundert setzt sich vor allem Edward Said in seinem Werk »Orientalism« kritisch auseinander. Siehe Said, Edward W.: Orientalism, London 1978. 220 Kuran-Burçog˘lu: Die Wandlungen des Türkenbildes in Europa, S. 46f.
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Islam sei unmodern, verhindere die Modernisierung und den Fortschritt und sei daher der Grund für die Unterlegenheit des Orients.221 Stereotype Bilder dieser Art dienten den Europäern »der Selbstvergewisserung und dem Nachweis ihrer zivilisatorischen Andersartig- und Besserwertigkeit und so auch der Stabilisierung ihres kulturellen Selbstbildes.«222 Politisch und militärisch war das Osmanische Reich seit Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nur mit der Überlegenheit der europäischen Kräfte konfrontiert, sondern auch mit einer wachsenden negativen Einstellung der Europäer gegenüber den Osmanen. The West, confident of its material and spiritual superiority, criticised Turkish practices as barbarous and savage. The Ottoman Empire was considered morally and religiously backward, and its traditional ways and customs became objects of derision.223
Das Bild der Osmanen in Europa verschlechterte sich zudem im Zuge des Unabhängigkeitskriegs der Griechen (1821–1830), mit dem »eine Welle von antiosmanischer Propaganda und Begeisterung für die Sache der Griechen« einherging. Die im akademischen Diskurs aus der Geschichte Europas ausgegrenzte Osmanenherrschaft224 wurde als »barbarisch« und »ihrem Wesen nach un-europäischen«225 stilisiert. Nach der griechischen Unabhängigkeit und den osmanischen Reformen trat ein positiveres Nationalbild zum Vorschein, auch wenn feindliche Urteile weiterhin häufig auftraten.226 In englischen Reiseberichten des 18. und 19. Jahrhunderts haben sich vor allem zwei Topoi über die Türken entwickelt: Sinnlichkeit und Trägheit. Als Erklärung dafür gelten die Religion, gesellschaftliche Institutionen und das Klima.227 Aber die Verfasser der Reiseberichte sehen sich mit einem Widerspruch konfrontiert, fanden sie die Osmanen zugleich bewundernswert als auch seltsam.228 Was die englischen Reisenden des 19. Jahrhunderts aber immer wieder 221 Konrad: »Von der ›Türkengefahr‹ zu Exotismus«, S. 34. 222 Eke, Norbert Otto: »Orient und Okzident. Mohammad, der Islam und das Christentum. Zur Darstellung kultureller Alterität um 1800 (mit einem Seitenblick auf die Bestände der Fürstlichen Bibliothek Corvey)«, in: Goer, Charis und Michael Hofmann: Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850, München 2008, S. 101. 223 Gökyay, Bülent: »From Western Perceptions to Turkish Self-Perception«, in: Journal of Mediterranean Studies, Vol. 5, No. 2 (1995), S. 260. 224 Konrad: »Von der ›Türkengefahr‹ zu Exotismus«, S. 33. 225 Osterhammel, Jürgen: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 2010, S. 51. 226 Schiffer: Turkey Romanticized, S. 17ff. 227 Schiffer, Reinhold: »Bilder türkischer Frauen und Männer in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts«, in: I. Uluslarası Seyahatnamelerde Türk ve Batı ˙Imaji Sempozyumu Belgeleri, S. 286. 228 Schiffer: »Bilder türkischer Frauen und Männer«, S. 295.
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betonen, ist, dass der zivilisatorische Fortschritt Sache der Europäer sei, eine Teilnahme daran den Türken versagt bleibe und »sie sozusagen in einem prächtigen, zeit- und wandellosen 1001 Nacht eingeschlossen« seien. Während man sich in Großbritannien zu Beginn des 19. Jahrhunderts demnach darüber einig war, dass das Osmanische Reich Reformen von oben bedurfte, waren die Auffassungen der Reisenden und Berichterstatter, dass die Osmanen dazu verurteilt seien, auf politischer und moralischer Ebene zurückzubleiben und den Standard der westlichen Zivilisation nicht erlangen könnten. In englischen Reiseberichten des 19. Jahrhunderts ist auszumachen, dass der Orient bzw. die Orientalen schon von Natur aus anders seien und dass Europa und der Orient in einem Gegensatz zueinander stünden. Englische Autoren hielten sich ihr kulturelles Überlegenheitsgefühl gegenüber den orientalischen Sitten bei und beurteilten die Osmanen aus dieser Position. Allerdings kann nicht mehr von einer konstanten Feindschaft gegenüber den Osmanen gesprochen werden, da sich mehr und mehr ein heterogenes nationales Bild auftat.229 1.4.1.2 Zur Darstellung der Europäer im Osmanischen Reich Generell wurden die Europäer im Osmanischen Reich unter der Bezeichnung »frenk« zusammengefasst.230 Einerseits wird der Begriff auf die Franzosen zurückgeführt, die mit ihrer 1535 ersten ständigen diplomatischen Vertretung in Istanbul als Vertretung aller Europäer fungierten.231 Eine andere weitaus plausiblere Erklärung ist die Zurückführung des aus dem Arabischen entlehnten Begriffs für die Franken, der später auf alle Europäer ausgedehnt wurde.232 Die erste osmanische Quelle, die bildliche Darstellungen von Europäern enthält, ist ¯ rifı¯ von 1558. Das Buch das Süleyma¯nna¯me des Historiografen (s¸ehna¯meci) ʿA umfasst zu der auf Persisch verfassten Geschichte über das Leben Sultan Süleyma¯ns des Prächtigen 69 Miniaturmalereien, von denen einige die in den Schlachten gegen das Osmanische Reich kämpfenden Europäer illustrieren.233 Im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts wurden politisch bedeutende Persönlichkeiten von Künstlern des Osmanischen Reiches dargestellt. Im 17. Jahrhundert begann sich die Haltung gegenüber dem Westen zu ändern. Durch das 229 Schiffer: Turkey Romanticized, S. 14ff. 230 Aus diesem Grund werden hier die Engländer nicht gesondert, sondern innerhalb des allgemeinen osmanischen Bildes der Europäer behandelt. 231 St. Clair: The Image of the Turk in Europe, S. 8. Zur Geschichte und Gebrauch der Bezeichnung ›frenk‹ siehe S¸akirog˘lu, Mahmut H.: »Frenk«, in: TDVI˙A 13 (1996), S. 197–199. 232 Lewis, Bernard: The Muslim Discovery of Europe, London 1982, S. 140. 233 Renda, Günsel: »The Image of the European in Eighteenth-Century Ottoman Painting«, in: Schmidt-Haberkamp (Hg.): Europa und die Türkei, S. 326 und Ebel, Kathrin: »Illustrated Manuscript and Miniature Paintings«, in: Ágoston, Gábor und Bruce Masters (Hg.): Encyclopedia of the Ottoman Empire, New York 2009, S. 268.
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wachsende Interesse an den westlichen Wissenschaften und ihrer Kultur kamen mehr und mehr Bücher an den osmanischen Hof, eine Übersetzungswelle begann und es wurden Werke über Europa und die Europäer samt Illustrationen verfasst.234 Diese beschränkten sich jedoch weitestgehend auf den kulturellen Bereich, während die politischen Systeme Europas von geringer Bedeutung blieben, da das Osmanische Reich aufgrund seiner Stellung es nicht als notwendig erachtete, Botschafter zu entsenden und Erkundungen einzuholen. Als Wendepunkt in den osmanisch-europäischen Beziehungen gilt das 18. Jahrhundert. Ein Wandel bezüglich der Wahrnehmung osmanischer Intellektueller gegenüber den Europäern war hauptsächlich in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts auszumachen.235 Intensivere Beziehungen in den Bereichen Handel und Diplomatie sorgten für engeren Kontakt. Anfang des Jahrhunderts wurden die ersten dauerhaften Gesandtschaften in Europa eingerichtet. Osmanische Gesandte überlieferten Informationen nicht nur über militärische Themen, sondern auch Lebensstil, Verhalten und Bräuche der Europäer. Zahlreiche Bücher und Zeichnungen fanden Eingang zum osmanischen Hof.236 Neben Kostümen wurden auch Alltagshandlungen der Portraitierten dargestellt und Kostümportraits aus europäischen Grafiken in die osmanische Miniaturmalerei übernommen.237 Der europäische Einfluss auf den kulturellen und gesellschaftspolitischen Bereich des Osmanischen Reiches verstärkte sich, aber auch das Bild Europas wurde mit den nach ihrer Rückkehr über ihre Erfahrungen in Europa berichtenden Gesandten geprägt. Sie übernahmen eine Art Vermittlerrolle bei der Wahrnehmung und Bekanntmachung der europäischen Länder.238 Aufgrund der fehlenden Fremdsprachenkenntnisse aufseiten der osmanischen Gesandten wurden griechische Übersetzer eingesetzt, die allerdings die Gesandten nach der Unabhängigkeit Griechenlands mit Fehlinformationen versorgten. Daraufhin wurden sie alle von Mahmu¯d II. im Jahr 1821 abgesetzt und ˙ die Botschaften geschlossen. Erst im Jahr 1834 wurden in denselben Hauptstädten wieder Botschaften eröffnet.239 234 Renda: »The Image of the European«, S. 327f. 235 Faroqhi, Suraiya: Travel and Artisans in the Ottoman Empire: Employment and Mobility in the Early Modern Era, New York 2014, S. 42. 236 Renda: »The Image of the European«, S. 329. 237 Förschler, Silke: »Zirkulation und Differenzierung von Motiven des kulturell Anderen: Kostümportraits in europäischen Reiseberichten und in der osmanischen Miniaturmalerei«, in: Schmidt-Haberkamp (Hg.): Europa und die Türkei, S. 350ff. 238 Turan, Namık Sinan: »Osmanlı Diplomasisinde Batı I˙mgesinin Deg˘is¸imi ve Elçilerin Etkisi (18. ve 19. Yüzyılar)« [Der Wandel des Bildes des Westens in der osmanischen Diplomatie und der Einfluss der Gesandten (18. und 19. Jahrhundert)], Trakya Üniverstesi Sosyal Bilimer Dergisi [Zeitschrift für Sozialwissenschaften der Trakya-Üniversität] 5 (2004), Nr. 2, S. 60. 239 Turan: »Osmanlı Diplomasisinde Batı I˙mgesinin Deg˘is¸imi«, S. 62.
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Das 19. Jahrhundert war geprägt von den Reformbestrebungen des Reiches, in deren Rahmen die Gründung des Außenministeriums (ha¯riciyye neza¯reti) 1836 ˙ ˘ fällt. Das Reich öffnete und orientierte sich am Westen. Während zuvor vermehrt Gesandte ihre Landsleute über die Europäer informierten, prägte in diesem Jahrhundert zunehmend das Genre der Reiseberichte die osmanische Vorstellung von den Europäern. Daneben wurde das Bild der Europäer zudem von den sich im Osmanischen Reich aufhaltenden europäischen Diplomaten als auch Missionaren mitgestaltet. Es lässt sich ein zwiegespaltenes Bild auf Seiten der Osmanen ausmachen, das einerseits durch Anerkennung und Bewunderung und andererseits durch Missachtung und Ablehnung gekennzeichnet ist. Als positiv wurde der Fortschritt der Zivilisation betrachtet, der auf den Aspekt der Bildung zurückgeführt wurde. Die Europäer galten unter anderem als vergnügungs- und prunksüchtig, aber auch als ehrenwert, tolerant und vaterlandsliebend. Ihr Engagement im sozialen Bereich sorgte für Bewunderung bei den osmanischen Betrachtern. Einen wichtigen Punkt stellte der technologische Fortschritt dar, der im 19. Jahrhundert mit dem Westen in Verbindung gebracht wurde. Das Bewusstsein für die eigene Umwelt und das Interesse an der eigenen Geschichte sind weitere positive Eigenschaften, die den Europäern zugeschrieben werden. Allerdings wird auch hauptsächlich ein Verfall der Moral und Sittenlosigkeit kritisiert.240 Das osmanische Bild der Europäer ist weit weniger erforscht als das »Türkenbild« der Europäer. Das liegt einerseits daran, dass das Interesse auf Seiten der Osmanen lange Zeit verhältnismäßig zurückhaltend war, aber andererseits diese Seite der gegenseitigen Wahrnehmung noch nicht ausreichend untersucht wurde. Faroqhi weist zum Beispiel darauf hin, dass die Rolle der muslimischen Religionsgelehrten bezüglich der Produktion eines osmanischen Bildes der Europäer noch einmal überdacht werden sollte, da ihre religiöse Ausbildung die Gelehrten nicht daran hinderte, sich wissenschaftliche Kenntnisse anzueignen und sich mit Nichtmuslimen darüber auszutauschen. Zudem müsse auch noch mehr über die Netzwerke herausgefunden werden, die in der Zeit vor und nach 1800 der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse dienten. Außerdem sei es hilfreich, nachzuvollziehen, wie osmanische Beobachter in den Hauptstädten Europas »systematische Beziehungen« wie etwa Handel, Kommunikation oder Geldtransfer betreffend wahrgenommen haben.241 Sowohl das hier dargestellte Bild der Engländer als auch das Bild der Osmanen liefern kein einheitliches und einseitiges Ergebnis. Was das Bild der Osmanen in Europa anbelangt, so müsste aufgrund seiner Differenziertheit an sich von Bildern im Plural gesprochen werden. Dann liefe man allerdings Gefahr, ein un240 Turan: »Osmanlı Diplomasisinde Batı I˙mgesinin Deg˘is¸imi«, S. 79f. 241 Faroqhi: Travel and Artisans in the Ottoman Empire, S. 43.
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überblickbares Spektrum an verschiedenen Darstellungen zu erhalten, die sich hinsichtlich zahlreicher Kriterien unterscheiden. Es wäre nicht möglich, einen Überblick zu präsentieren, der, wie hier beabsichtigt, gewisse Tendenzen nachvollzierbar machen soll. Das Bild der Engländer ist hingegen aufgrund der geringen zur Verfügung stehenden Literatur kaum nachzeichenbar. Folgendes lässt sich jedoch festhalten: Mitte des 19. Jahrhunderts, die Zeit, die von besonderer Relevanz für die vorliegende Arbeit ist, orientiert sich die osmanische Elite an der westlichen Kultur, die sie aufgrund ihres Fortschritts in verschiedenen Bereichen als vorbildlich und nachahmenswert ansah. Andererseits wiederum kritisiert sie bestimmte Verhaltensweisen und lehnt diese ab. Der Westen auf der anderen Seite sieht sich gegenüber den Osmanen aufgrund ihrer militärischen und politisch geschwächten Situation in vielen Bereichen überlegen.
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Bilder von anderen Ländern werden durch Medien transportiert und geprägt. Zu diesen Medien zählen auch Zeitungen. Lange vor der sogenannten Tanz¯ıma¯t-Zeit ˙ (1839–1876) wurden bereits Zeitungen im Osmanischen Reich veröffentlicht, die allerdings keine große Reichweite erlangten, da sie nur für einen kleinen Rezipientenkreis bestimmt waren. Ihre Zielgruppe waren die im Reich lebenden Minderheiten, auf deren Sprachen sie demnach auch verfasst wurden.242
242 Ende des 18. Jahrhunderts wurden in Istanbul beispielsweise drei Zeitungen auf Französisch publiziert: Le Bulletin de Nouvelles (1795–1786), La Gazetta Française de Constantinople (1796–1797) und Mercure Oriental (Mai 1797 – Juli 1797). Sie dienten dazu, die Leitmotive der Französischen Revolution an ihre Leserschaft in Istanbul zu übermitteln, die vor allem aus den dortigen nicht-muslimischen Minderheiten bestand, als deren gemeinsame Sprache Französisch galt. Siehe Budak, Ali: »Fransız Devrim’in Osmanlı’ya Armag˘anı: Gazete. Türk Basının Dog˘us¸u« [Das Geschenk der Französischen Revolution an die Osmanen: die Zeitung. Die Geburt der türkischen Presse], in: Turkish Studies – International Periodical For The Languages, Literature and History of Turkish or Turkic, Volume 7/3 (2012), S. 664f. Für eine leider weniger gelungene Übersetzung des Artikels ins Englische siehe Budak, Ali: »The French Revolution’s Gift to the Ottomans: The Newspaper. The Emergence of Turkish Media«, in: International Journal of Humanities and Social Science, Vol. 2 No.19 [Special Issue – October 2012], S. 157–169. Auch in Izmir brachten Anfang des 19. Jahrhunderts französische Kaufleute Zeitungen auf Französisch heraus. Siehe Kolog˘lu, Orhan: »Osmanlı Basını: I˙çerig˘i ve Rejimi« [Osmanische Presse: Inhalt und Bestimmungen], in: Tanzimat’tan Cumhuriyet’e Türkiye Ansiklopedisi [Türkei-Enzyklopädie von der Tanzimat bis zur Republik], 1 (1998), S. 69.
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1.5.1 Die ersten auf Osmanisch erschienenen Zeitungen Die erste auf Arabisch und Osmanisch auf Befehl des Gouverneurs von Ägypten, Muhammad ʿAlı¯ (1770–1848), 1829 in Auftrag gegebene Zeitung trug den Namen ˙ Vaka¯ʾı¯ʿ-i Misriyye (»Ereignisse Ägyptens«). Sie enthielt vorwiegend amtliche ˙ ˙ Bekanntmachungen, gesetzliche Bestimmungen und Durchführungen des Gouverneurs von Ägypten.243 Als Pendant dazu wurde von Sultan Mahmu¯d II. ˙ (reg. 1808–1839) erstmals 1831 die Takvı¯m-i Vaka¯ʾı¯ʿ (»Kalender der Ereignisse«), ˙ ˙ das offizielle Sprachrohr der Regierung, zu Beginn auf Osmanisch und Französisch veröffentlicht.244 Unter der Leitung des offiziellen Hofchronisten Esʿad Efendi (1789–1848) wurde die Zeitung vorbereitet und ihrer Leserschaft – vornehmlich Staatsbedienstete – dargeboten. Sie gilt als die erste osmanisch-türkische Zeitung und war Teil der Reformationsbewegungen unter Mahmu¯d II.245 Der ˙ Sultan selbst soll anonym Artikel veröffentlicht haben, in denen er Trends aus Europa befürwortete.246 Die Zeitung war wesentlich umfassender als die Vaka¯ʾı¯ʿ-i Misriyye und er˙ ˙ schien bereits nach kurzer Zeit mit jeweils unterschiedlichen Inhalten auf anderen Sprachen des Reiches.247 Ihre französische Ausgabe, Moniteur Ottomane, verhalf dazu, eine europäische öffentliche Meinung aus Sicht der Hohen Pforte zu bilden.248 Dennoch wird der damaligen Presse vorgeworfen, ein einseitiger Kommunikationskanal zwischen Regierung und Untertanen gewesen zu sein, der dazu diente, Informationen über und ein positives Bild der offiziellen politischen Entwicklungen zu vermitteln.249
243 Kolog˘lu: »Osmanlı Basını«, S. 69. 244 Haddad Adel, Gholamali, Mohammad Jafar Elmi und Hassan Taromi-Rad (Hg.): Periodicals of the Muslim World: An Entry from Encyclopaedia of the World of Islam, London 2012, S. 202 und Haniog˘lu: A Brief History of the Late Ottoman Empire, S. 94. 245 Budak: »Fransız Devrim’in Osmanlı’ya Armag˘anı«, S. 674f. 246 Berkez, Niyazi: The Development of Securalism in Turkey, New York 1998, S. 126. 247 Ab Januar 1832 erschien die Zeitung auf Griechisch und Armenisch, ab April desselben Jahres auf Arabisch und Persisch. Yazıcı, Nesimi: »Osmanlı Basınının Bas¸langıcı Üzerine Bazı Düs¸ünceler« [Einige Überlegungen zum Beginn der osmanischen Presse], in: Osmanlı Basın Yas¸amı Sempozyumu [Symposium zum Bestehen der osmanischen Presse], 6–7 Aralık 1999, S. 12. 248 Kolog˘lu: »Osmanlı Basını«, S. 70. 249 Haniog˘lu: A Brief History of the Late Ottoman Empire, S. 94.
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1.5.2 Die Cerı¯de-i Hava¯dis ˙ Erst mit dem Reformdekret von Gülha¯ne 1839 und dem Beginn der Reformen fing man an, sich mit der Bedeutung und Wirkkraft von Zeitungen auseinanderzusetzen. Im Juli 1840 erschien eine neue Zeitung: die Cerı¯de-i Hava¯dis (»Nachrichtenzeitung«). Für sie wurde im Osmanischen Reich erstmals die aus dem Italienischen übernommene Bezeichnung »gazete« (»Zeitung«) verwendet.250 Die Cerı¯de-i Hava¯dis und die Takvı¯m-i Vaka¯ʾı¯ʿ trugen zur Bildung der ˙ ˙ Intelligenzija in der Zeit der Tanz¯ıma¯t bei. Erstere legte ihren Schwerpunkt mehr ˙ auf politische und wirtschaftliche Themen und war die erste Zeitung, die Privatanzeigen Platz einräumte, während sich die Takvı¯m-i Vaka¯ʾı¯ʿ damit abtat, die ˙ ˙ in der staatlichen Druckerei gedruckten Bücher vorzustellen.251 Die Cerı¯de-i Hava¯dis war nach der Takvı¯m-i Vaka¯ʾı¯ʿ und der Tercüma¯n-ı Ahva¯l ˙ ˙ ˙ ˙ die dritte auf Osmanisch-Türkisch herausgegebene Zeitung. Ihr Besitzer war ein Brite namens William Churchill, der von Sultan ʿAbdülmecı¯d bei der Publikation der Zeitung Unterstützung erhielt, da die von der Regierung herausgegebene Takvı¯m-i Vaka¯ʾı¯ʿ nicht an die Auflagenzahl der von den in Istanbul lebenden ˙ ˙ anderen nationalen Bevölkerungsteilen veröffentlichten Zeitungen herankam. Zudem erschien die Takvı¯m-i Vaka¯ʾı¯ʿ nicht regelmäßig, weshalb man begann, ˙ ˙ Mitteilungen über die Verwaltung auch in der Cerı¯de-i Hava¯dis zu veröffentli˙ chen. Dies brachte der Zeitung den Ruf ein, eine halboffizielle Zeitung zu sein. Nachrichten, die die Behörden betrafen, wurden ohne Kommentierungen abgedruckt. Zuerst wurde sie alle zehn Tage, nach ihrer 139. Ausgabe einmal die Woche herausgegeben. Insgesamt beläuft sich die Zahl ihrer Auflagen mit Unterbrechungen auf 1212.252 Zu Beginn wurde sie an Ministerien, Gesandtschaften, Kaffeehäuser und Abonnenten verteilt. Da ihre Auflagenzahl nicht über 150 Stück hinauskam, wurde ihre Publikation 1843 nach der 138. Ausgabe eingestellt. Nachdem ihrem Besitzer vom Sultan ein Gehalt zugesprochen wurde, wurde die Produktion im selben Jahr erneut aufgenommen und mit der 139. Ausgabe fortgesetzt. Nach seinem Tod übernahm Churchills Sohn Alfred die Herausgabe der Zeitung. Nach der 1212. Ausgabe wurde der Name der Zeitung in Ru¯zna¯me-i Cerı¯de-i Hava¯dis (»Tägliche Nachrichtenzeitung«) geändert, unter dem sie bis ˙ 1918 bestand. Sie wurde die erste täglich erscheinende osmanische Zeitung des Reiches.253 Bereits vor der Namensänderung wurden Beiblätter mit dem Titel Ru¯zna¯me veröffentlicht, die unter anderem Nachrichten aus Kriegsgebieten überbrachten. Churchill selbst reiste an die Krim und arbeitete von dort als 250 251 252 253
Ebbüziya, Ziyad: »Cerı¯de-i Hava¯dis«, in: TDVI˙A 7 (1993), S. 406. Kolog˘lu: »Osmanlı Basını«, S. 71. Ebbüziya; »Cerı¯de-i Hava¯dis«, S. 406. Göncüog˘lu, Süleyman Faruk: ˙Istanbul’un ˙Ilkleri Enleri [Istanbuls Premieren und Rekorde], Istanbul 2004, S. 77.
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Kriegsberichtserstatter. Die Beliebtheit dieser Nachrichten sorgte für einen Anstieg der Auflagenzahl.254 Um den neugewonnenen Leserkreis nicht zu verlieren, vereinfachten die Herausgeber die Sprache, in der die Zeitung verfasst wurde und legten allmählich den schwerfälligen Kanzleistil ab, der die offiziellen Zeitungen prägte. Mit der einfacheren und direkteren Form der Sprache war der türkische Zeitungsstil geboren.255 Der Anspruch der Cerı¯de-i Hava¯dis – so im Vorwort der ersten Ausgabe – war ˙ es, den Wissenshorizont ihrer Leserschaft zu erweitern, deren Neugier zu wecken und über die Gegebenheiten im Ausland zu informieren.256 Die Zeitung brachte viele Neuerungen für den Journalismus im Osmanischen Reich mit sich, wie zum Beispiel Nachrichten über das Theater in Istanbul und die zusammengefasste Wiedergabe von einzelnen Theaterstücken, aufschlussreiche Informationen über ferne Länder, Paläontologie, Krankheiten, Versicherungen, Werbungen, Todesanzeigen, Leserbriefe etc.257 Die Nachrichten wurden ohne Titel und Interpunktionszeichen aneinandergereiht. Der Beginn einer neuen Mitteilung war nur durch einen kleinen Abstand zu erkennen. Die einzelnen Ausgaben der Zeitung bestanden aus vier Seiten und die Nachrichten wurden zu Beginn in zwei Spalten, später in drei Spalten verfasst. Es erfolgte eine Aufteilung in drei Rubriken Ha˙ va¯disa¯t-ı Da¯hiliyye (»Inländische Nachrichten«), Hava¯disa¯t-ı Ecnebiyye (»Aus˙ ˘ ländische Nachrichten«) und ˙Iʿla¯na¯t (»Annoncen«). In den Bereich »Inländische Nachrichten« fielen vor allem Verfügungen und offizielle Mitteilungen, Nachrichten über Istanbul und das Inland, den Sultan betreffende Jubiläen (Thronbesteigung und Geburtstag) und andere Gegebenheiten. Die in der Rubrik Ha˙ va¯disa¯t-ı Ecnebiyye abgedruckten Neuigkeiten über das Ausland wurden aus ausländischen Zeitungen übersetzt. Unter »Annoncen« wurden Immobilien, Maschinen etc. angeboten.258 Neben Artikeln und Erzählungen wurden wie auch in europäischen Zeitungen jener Zeit Reisebeschreibungen in Fortsetzung veröffentlicht, so zum Beispiel ein Sudan-Reisebericht (Su¯da¯n Seya¯hatna¯mesi) von 1846, eine Übersetzung des auf Arabisch verfassten Berichts des ebenfalls in den Sudan gereisten Sayyid Muhammad b. ʿAlı¯ Zayn al-ʿAbidı¯n259 und das Seya¯˙ 254 Haddad Adel, Elmi und Taromi-Rad: Periodicals of the Muslim World, S. 205. 255 Lewis, Bernard: The Emergence of Modern Turkey, London / Oxford / New York 1968, S. 147. 256 Die Zeitung deckte die Bereiche Inlandsnachrichten, Auslandsnachrichten und Kleinanzeigen ab. Neben wissenschaftlichen Themen wurden zu Beginn Artikel über Sittlichkeit und auch über Literatur verfasst. Später kamen Berichte im kulturellen Bereich und Nachrichten aus dem Ausland hinzu. Siehe Ebbüziya: »Cerı¯de-i Hava¯dis«, S. 406f; Tanpınar, Ahmet Hamdi: XIX. Asır Türk Edebiyatı Tarihi [Geschichte der türkischen Literatur im 19. Jahrhundert], Istanbul 2006, S. 141. 257 Haddad Adel, Elmi und Taromi-Rad: Periodicals of the Muslim World, S. 205. 258 Ebbüziya: »Cerı¯de-i Hava¯dis«, S. 407. 259 bin Zeynülabidin, Muhammad Ali: Tercüme-i Risa¯le-i Su¯da¯n [Wiedergabe des Sudan-Reiseberichts], Istanbul 1262 [1846].
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hatna¯me-i Londra, welches die Grundlage dieser Arbeit bildet. Bereits im Jahr 1850 begann die Zeitung Cerı¯de-i Hava¯dis über die Londoner Weltausstellung zu ˙ berichten, und zwar nicht wie zu erwarten wäre unter der Rubrik Auslandsnachrichten, sondern im Bereich der inländischen Themen. Die Ausgabe vom 24. Züʿl-kaʿda 1266 (1. Oktober 1850) mit der Nummer 501, informiert den Leser ˙ gleich zu Beginn, dass im kommenden Jahr in London eine Ausstellung stattfinden und dass sich das Osmanische Reich auf Ersuch der britischen Königin daran beteiligen werde. Die Ausstellungsstücke werden aus den verschiedenen regionalen Gebieten und den unterschiedlichen Sektoren zusammengetragen, schreibt die Zeitung. Auch in den folgenden Ausgaben berichtete die Zeitung weiterhin über die Weltausstellung und den Gegebenheiten in London. Mit den Autoren der Cerı¯de-i Hava¯dis verhielt es sich so, dass außer Münı¯f ˙ Pascha keiner seinen Namen unter die von ihm verfassten Nachrichten setzte, so dass ihre Identität im Allgemeinen anonym blieb. Dennoch konnten einige Namen im Nachhinein aufgedeckt werden.260 Es wird vermutet, dass die Verfasser durchweg Bürokraten gewesen sein sollen.261
1.5.3 Die Zeit nach 1855 Bis 1855 haben wir es mit einer Presse zu tun, die vorwiegend Bildung und Wissen vermitteln wollte. Der Bevölkerung sollte veranschaulicht werden, dass es Völker gab, die überlegen waren und von denen man profitieren konnte. Im Unterschied zur regierungsnahen osmanischen Presse gelang es den fremdsprachigen Zeitungen vielfältigere Themen anzusprechen und eine breitere öffentliche Meinung zu bilden. Zeitungen durften allerdings nur mit befristeten Genehmigungen gedruckt werden, die bei Ablauf verlängert werden mussten. Die osmanischtürkischen Zeitungen bemühten sich in einem vereinfachten Stil zu schreiben, so dass die Bevölkerung keine Schwierigkeiten hatte, sie zu verstehen. Aus den europäischen Sprachen übernommene Wörter wurden durch die Zeitungen in den Sprachgebrauch der Leserschaft eingeführt. Die Thematisierung der Sprache führte 1851 schließlich zur Gründung der Encümen-i Da¯nis¸ (»Gesellschaft der Gelehrten«),262 deren Ziel es war, die Wissenschaft zu fördern und die türkische Sprache weiterzuentwickeln.263 Während 1850 nur zwei osmanisch-türkische Zeitungen in Istanbul und Izmir gedruckt wurden, erschienen in anderen 260 Ebbüziya: »Cerı¯de-i Hava¯dis«, 407. 261 Herzog, Christoph: »Entwicklung der türkisch-osmanischen Presse im Osmanischen Reich bis ca. 1875«, in: Rothermund, Dietmar (Hg.): Selbstbehauptung und Aneignung. Antworten auf die europäische Expansion, München 1999, S. 27. 262 Kolog˘lu: »Osmanlı Basını«, S. 72f. 263 Mehr hierzu siehe Uçan, Abdullah: »Encümen-i Da¯nis¸«, in TDVI˙A 11 (1995), S. 177.
Die Anfänge der osmanischen Presse
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Sprachen wie etwa Französisch, Griechisch, Italienisch, Armenisch, Bulgarisch und Hebräisch bereits sechzehn Zeitungen. Nach dem Krimkrieg stieg die Zahl der in Istanbul von Europäern herausgegebenen Zeitungen weiter an. Bis 1860 war die osmanische Presse in den Händen von Zeitungen, die zwar die Reformen unterstützten, sich aber der Regierung gegenüber nicht kritisch äußerten.264 In den folgenden Jahren diversifizierte sich das osmanische Zeitungswesen und osmanische Intellektuelle versuchten durch publizistisches Engagement zu einer öffentlichen Meinungsbildung nach europäischen Vorbildern beizutragen.265 Mit der 1860 von Aga¯h Efendi gegründeten Tercüma¯n-ı Ahva¯l (»Dolmetscher der ˙ Verhältnisse«) begann eine neue Phase in der Geschichte der osmanischen und türkischen Presse. Die Zeitung gilt als die erste nicht-offizielle und unabhängige Zeitung des Osmanischen Reiches. Berichte über das In- und Ausland, Erlasse, Verlautbarungen bezüglich der Verwaltung, Reklame, aber vor allem die ersten auf Osmanisch-Türkisch verfassten politischen Artikel erschienen darin,266 war es doch ihr Ziel, zu Diskussionen und Überlegungen anzuregen. Ein weiteres wichtiges Thema, war die Erörterung der Rückständigkeit des Reiches, dem sich auch andere Zeitungen anschlossen.267 Fünfeinhalb Jahre nach ihrem Bestehen wurde die Publikation der Zeitung wieder eingestellt. Obwohl sie dreißig Jahre nach der Takvı¯m-i Vaka¯ʾı¯ʿ erschien, wird sie als der Beginn des türkischen ˙ ˙ Journalismus gesehen, dessen hundertjähriges Bestehen ein Säkulum nach ihrem ersten Erscheinen gefeiert wurde. Den Grund dafür sieht Topuz in der Tatsache, dass die beiden vorherigen Zeitungen von der Regierung (bzw. mit Unterstützung dieser) publiziert worden sind.268 1862 gründete I˙bra¯hı¯m S¸ina¯si, Mitherausgeber der Tercüma¯n-ı Ahva¯l, seine eigene Zeitung mit dem Namen Tasvı¯r-i ˙ ˙ Efka¯r (»Darstellung der Meinungen«). Die Zeitung erschien zweimal wöchentlich und behandelte Themen wie Menschenrechte, verschiedene Regierungsformen und wirtschaftliche Fragen, mit denen sich die Bevölkerung vorher noch nicht auf Ebene der Presse befasst hatte.269 Eine Neuerung, die sie mit sich brachte, waren die Leserbriefe. Im Unterschied zu Takvı¯m-i Vaka¯ʾı¯ʿ und Cerı¯de-i Hava¯dis ˙ ˙ wurden hier Meinungen von Lesern abgedruckt, die sich nicht auf Lob für den Sultan und seine Wesire beschränkten.270 1864 wurde der wachsende Einfluss der Presse durch das erste Pressegesetzt eingeschränkt. Eine Gruppe Oppositioneller 264 Kolog˘lu: »Osmanlı Basını«, S. 71ff. 265 Çıkar, Jutta R. M.: Fortschritt durch Wissen. Osmanisch-türkische Enzyklopädien der Jahre 1870–1936, [= Türkologie und Türkeikunde; 7], Wiesbaden 2004, S. 43. 266 Haddad Adel, Elmi und Taromi-Rad: Periodicals of the Muslim World, S. 207. 267 Kolog˘lu: »Osmanlı Basını«, S. 77. 268 Topuz, Hıfzı: 100 Soruda Türk Basın Tarihi [In 100 Fragen die Geschichte der türkischen Presse], Istanbul 1973, S. 10. 269 Topuz: 100 Soruda Türk Basın Tarihi, S. 15. 270 Kolog˘lu: »Osmanlı Basını«, S. 78.
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Das 19. Jahrhundert
bildete sich, zu denen unter anderem S¸ina¯si und Na¯mık Kema¯l gehörten. ˙ Nachdem S¸ina¯si 1865 aus politischen Gründen Istanbul verlassen hatte, übernahm Na¯mık Kema¯l die Veröffentlichung der Tasvı¯r-i Efka¯r. Ein Jahr darauf ˙ ˙¯ wurde die Zeitung Muhbir (»Korrespondent«) von ʿA lı¯ Suʾa¯vi ins Leben gerufen. ˙ Da die Zeitung Kritik an der Politik der Regierung übte, wurde sie bereits 1867 verboten. Obwohl noch im selben Jahr wieder ins Leben gerufen, konnte sie im Osmanischen Reich nach Suʾa¯vis Flucht nach Europa nicht länger bestehen.271 Trotz Zensur entwickelte sich auch das Zeitschriftenwesen, wobei politische Themen in den Hintergrund gedrängt wurden.272 Die erste osmanisch-türkische Zeitschrift mit dem Namen Mecmuʿa-i Fünu¯n (»Sammlung der Wissenschaften« – herausgebracht von der Cemʿiyyet-i ʿIlmiyye-i ʿOsma¯niyye / Osmanische Wissenschaftliche Gesellschaft) informierte ihre Leserschaft zwischen 1862 und 1867 über wissenschaftliche Entwicklungen in Europa.273 Durch das Sprachrohr der damals relativ neu entstandenen Zeitungen war es nun möglich, sich außerhalb des Auftrags des Sultans an das Volk zu wenden und über Gegebenheiten im Ausland zu berichten. In der Regierungszeit ʿAbdülʿazı¯z’ (1861–1876) wurden trotz starker Einschränkungen durch die Zensur weitere wichtige Zeitungen und Karikaturblätter veröffentlicht.274 Die satirische Presse thematisierte in den Zeitungen wie Diyojen (»Diogenes«) und Haya¯li (»Imaginär«) 275 politische und gesellschaftliche An˙ gelegenheiten.276 Zu den Zeitungen zählten unter anderem ʿI˙bret (»Exempel«) und Bas¯ıret (»Weitblick«). Erstere erschien drei Jahre lang von 1870 bis 1873. Sie ˙ wurde von Aleksan Sarrafyan herausgegeben und ihr Chefredakteur war Na¯mık ˙ Kema¯l. Sie wurde aufgrund ihres Inhalts verboten und ihre Redakteure ins Ausland verbannt. Bas¯ıret erschien bereits ein Jahr vor ʿI˙bret und zwar fünf Mal ˙ wöchentlich. Nachdem eine Reihe politischer Aktivisten das Osmanische Reich verlassen und sich in Europa niedergelassen hatten, begann man dort mit der ¯ lı¯ Suʾa¯vi beispielsweise veröffentlichte seine Veröffentlichung von Zeitungen. ʿA Zeitung Muhbir für eine gewisse Zeit weiter in London, wohin er geflohen war.277 ˙ Die Auflagenhöhe mancher Zeitungen war erstaunlich hoch im Verhältnis zur Zahl der alphabetisierten Bevölkerung. So erlangte die Tasvı¯r-i Efka¯r eine Auf˙ lage von 20.000, wobei ihr Rezipientenkreis womöglich noch größer war, da es 271 272 273 274 275
Topuz: 100 Soruda Türk Basın Tarihi, S. 18f. Çıkar: Fortschritt durch Wissen, S. 44. Haniog˘lu: A Brief History of the Late Ottoman Empire, S. 94. Çıkar: Fortschritt durch Wissen, S. 44. Diyojen war der Name der ersten Satirezeitung im Osmanischen Reich, die erstmals 1870 gedruckt wurde. Siehe Varlık, M. Bülent: Tanzimat’tan Cumhuriyet’e Mizah« [Satire von der Tanzimat bis zur Republik], in: Belge, Murat (Hg.): Tanzimat’tan Cumhuriyet’e Türkiye Ansiklopedisi [Türkei-Enzyklopädie von der Tanzimat bis zur Republik] 4 (1985), S. 1093. 276 Haniog˘lu: A Brief History of the Late Ottoman Empire, S. 94. 277 Topuz: 100 Soruda Türk Basın Tarihi, S. 19ff.
Die Anfänge der osmanischen Presse
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üblich war, Zeitungen in Cafés laut vorzulesen.278 Zum Ende des 19. Jahrhundert nahm die Zahl der Zeitungen rasant zu. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs erschienen im Osmanischen Reich 73 türkischsprachige Zeitungen (deren Anzahl 1915 allerdings wieder auf sechs gesunken war).279
278 Haniog˘lu: A Brief History of the Late Ottoman Empire, S. 94. 279 Kreiser: Der Osmanische Staat, S. 107.
2.
Reisen und Schreiben übers Reisen
Die wachsende Zahl der Reisenden im 19. Jahrhundert brachte auch eine ansteigende Verschriftlichung der Reise mit sich. In diesem Kapitel geht es zuerst um den Fortschritt des Reisens im 19. Jahrhundert. Anschließend folgt eine Auseinandersetzung mit der Gattung der Reiseberichte, um dann auf die osmanische Reiseliteratur einzugehen. Abschließend wird die Entwicklung vom osmanischen Gesandtschaftsbericht zum osmanischen Reisebericht im 19. Jahrhundert nachgezeichnet.
2.1
Die Revolution des Reisens im 19. Jahrhundert
»Der Pfiff der ersten dampfspeienden und funkensprühenden Eisenbahn, schrill und herausfordernd, ließ eine neue Epoche beginnen.«280 Als Teil der Industrialisierung revolutionierten Dampfschiff und Eisenbahn das Reisen im 19. Jahrhundert. Nachdem bereits seit Anfang des Jahrhunderts geplant wurde, sie zum allgemeinen nationalen Verkehrsmittel zu machen,281 eröffnete 1825 die erste öffentliche Eisenbahn für Personen- und Güterverkehr in Großbritannien. Sie führte von Stockton nach Darlington. Vier Jahre später, 1829, eröffneten die USA ein Streckennetz, das dem riesigen Kontinent dazu verhalf, zusammenzuwachsen. Es folgten 1831 Frankreich, 1835 Belgien und Deutschland, 1837 Österreich und Russland, 1839 die Niederlande und Italien. Der erste grenzüberschreitende und durchgehende Schienenverkehr begann 1843 zwischen Deutschland und Belgien. Die Entwicklung der Eisenbahn veränderte auch das »äußere Bild der Welt grundlegend«, mussten doch mithilfe von Brücken, Tunneln, Viadukten etc. landschaftliche Hindernisse überwunden werden.282 280 Löschburg, Winfried: Von Reiselust und Reiseleid. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt am Main 1977, S. 139. 281 Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 15. 282 Löschburg: Von Reiselust und Reiseleid, S. 139ff.
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Reisen und Schreiben übers Reisen
Die als erste moderne Bahnstrecke der Welt geltende Verbindung zwischen Liverpool und Manchester wurde 1830 eröffnet. Sie wurde ausschließlich mit Dampflokomotiven betrieben. In den darauffolgenden Jahren erlebte die Eisenbahn in Großbritannien einen immensen Aufschwung. Bereits 1840 verfügte das Land über eine Eisenbahnstrecke von 1348 Kilometern (1880 belief sich die Zahl auf 28854 Kilometer). Übertroffen wurde die nur von den Vereinigten Staaten. Das englische Eisenbahnnetz war in den Händen von Privatgesellschaften und ging erst 1948 in staatliche Hand über.283 Thomas Cook war der erste, der die Eisenbahn für seine Reiseveranstaltungen nutze. So führte er 1845 die erste Vergnügungsfahrt von Leicester nach London durch.284 165.000 Ausstellungsbesucher reisten 1851 mit Cook zur Londoner Weltausstellung. Sie machten etwa drei Prozent der gesamten Besucherzahl aus.285 1855 organisierte er die erste Auslandsreise, und zwar nach Paris zur dortigen Weltausstellung. Auch wenn Großbritannien eine Vorreiterrolle spielte, so holten andere Länder schnell auf. Um die Jahrhundertwende galten bereits die Deutschen als »Reiseweltmeister«.286 War zu Beginn die neue Art des Reisens mit viel Bangen verbunden, so wurde die Ängstlichkeit doch vom Staunen übermannt. Die »Vernichtung von Raum und Zeit«287 wurde durch das Reisen mit der Eisenbahn zum »Topos des Jahrhunderts«.288 Diese Vorstellung basiert auf der Geschwindigkeit, mit der sich das neue Verkehrsmittel bewegte, verkürzte sich doch die Fahrtzeit zu Beginn auf ein Drittel.289 Während mit der Postkutsche die durchschnittliche Reisezeit sechs bis sieben Stunden pro Tag betrug und eine Fahrt von Berlin nach Magdeburg beispielsweise zwei Tage dauerte, konnte man diese Strecke nun in nur fünf Stunden zurücklegen. Die Reisegeschwindigkeit wurde immer schneller und die Entfernungen immer kürzer. »Die Welt schien kleiner, das Leben länger geworden zu sein.« Nicht nur die Reisezeit verkürzte sich, auch die Preise sanken und die Anzahl der Menschen, die mit dem neuen Verkehrsmittel transportiert wurden, stieg.290 »Die Verkleinerung des Raums« und »die Schrumpfung der natürlichen Welt« waren den Repräsentanten von Industrie und Freihandel willkommen, emp283 284 285 286 287 288
Putzger und Rentsch: Historischer Weltatlas, S. 141. Hachtmann, Rüdiger: Tourismus-Geschichte, Göttingen 2007, S. 67f. Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 302. Hachtmann: Tourismus-Geschichte, S. 67f. Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, unter anderem S. 16 und 35. Wülfing, Wulf: »Medien der Moderne: Londons Straßen in den Reiseberichten von Johanna Schopenhauer bis Theodor Fontane«, in: Fuchs, Anne und Theo Harden (Hg.): Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Tagungsakten des internationalen Symposions zur Reiseliteratur, University College Dublin vom 10.–12. März 1994, Heidelberg 1995, S. 471. 289 Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 35. 290 Löschburg: Von Reiselust und Reiseleid, S. 140f.
Die Revolution des Reisens im 19. Jahrhundert
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fanden sie die zu bewältigenden Entfernungen für die Entfaltung des Welthandels doch als hinderlich.291 Nicht nur das Reisen mit der Eisenbahn, sondern das Transportsystem an sich wurde revolutioniert. Städte erhielten Bahnhöfe und wurden an das Schienennetz angeschlossen. Straßen wurden ausgebaut, zuerst Pferde-Trams, später elektrische Straßenbahnen entstanden, Kanäle als Verbindung zwischen Flüssen wurden angelegt. Dies sorgte für einen Anstieg von Transportgeschwindigkeit und -volumen, während die Kosten gesenkt wurden. Nicht nur Menschen, auch Güter konnten dadurch einfacher befördert werden.292 Die neue Art des Reisens wirkte sich auch auf Unterkünfte aus. Hotels entstanden und durch die bequemeren Reisebedingungen änderten sich Reisestil, -gepäck und -bekleidung.293 Mit dem Ausbau des Schienenverkehrs fand aber vor allem der elektrische Telegraf Verwendung, der schon vor der Eisenbahn zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt worden war, aber nicht eingesetzt wurde. Erst im Schienenverkehr, bei dem man auf Signale angewiesen war, kam der Telegraf als wichtigste technische Ergänzung zum Einsatz. Zunächst breitete sich das Telegrafennetz mit dem Eisenbahnnetz als Teil dessen aus. Erst später übernahm es die Funktion der Nachrichtenübermittlung im privaten und geschäftlichen Bereich.294 Noch vor der Ausbreitung des Schienennetzes fand bereits zu Wasser eine sensationelle Entwicklung statt. Das beschwerliche und gefährliche Reisen wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Dampfschifffahrt revolutioniert. Das erste Dampfschiff fuhr 1807 zwischen New York und Albany. Vor der Entstehung eines umfassenden Eisenbahnnetzes »konnte man von Wien schneller nach New York als nach Konstantinopel reisen«. 1819 überquerte das erste Dampfschiff den Atlantik und fuhr in 25 Tagen von der Westküste der USA nach Liverpool. Um 1820 setzte die große Auswanderungsbewegung von Europa nach Übersee ein, bei der Millionen von Menschen befördert wurden. Samuel Cunard gründete 1840 das erste transatlantische Schifffahrtsunternehmen, dem sieben Jahre später Hapag und ein weiteres Jahrzehnt später der Norddeutsche Lloyd und andere Reedereien folgten. Die erste Fahrt des Österreichischen Lloyd von Triest nach Istanbul und Ägypten dauerte 1837 »eine Rekordzeit« von lediglich zwei Wochen. Durch die zunehmenden Routen des Dampfschifffahrtsverkehrs verbesserten sich die Reisemöglichkeiten im 19. Jahrhundert ungemein.295 Mit der Zahl der Reisenden stieg auch die der Reiseberichte.
291 292 293 294 295
Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 16ff. Osterhammel: Das 19. Jahrhundert, S. 37. Löschburg: Von Reiselust und Reiseleid, S. 139ff. Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 32f. Löschburg: Von Reiselust und Reiseleid, S. 142.
80
2.2
Reisen und Schreiben übers Reisen
Die Gattung Reisebericht
Die Verschriftlichung von Reisen scheint als eigene Kategorie schwer zu (um)fassen zu sein. Versuche zur Erstellung einer Gattungspoetik des Reiseberichts – die sich übrigens beinahe ausschließlich auf die abendländische Literatur beziehen – hangeln sich an einzelnen Aspekten entlang, mithilfe derer Kriterien für eine Zuordnung geschaffen werden sollen.296 Eine Systematisierung des Genres ist aufgrund unterschiedlicher Inhalte und Schreibweisen allerdings nur schwer durchführbar.297 Die »inhaltliche Heterogenität«298 der Texte, ihre Wandelbarkeit und Flexibilität299 machen eine kategorische/gattungstechnische Einbzw. Abgrenzung nur schwer möglich. So lassen sich Reiseberichte oft von anderen Textsorten, in denen ebenfalls die Reise den Mittelpunkt bildet, nur schwer unterscheiden.300 Die Tatsache, dass sich einzelne Werke mit anderen Genres überschneiden, erschwert zudem eine Klassifizierung. Das Interesse daran, einen Bericht über »außergewöhnliche, mitteilenswerte Erfahrungen und Erlebnisse« zu verfassen, hat der Reisebericht beispielsweise mit der Geschichtsschreibung gemein, wodurch er als Sachprosa den epischen Gattungen zuzurechnen ist.301 Auch den Anspruch auf »historische Richtigkeit« teilt er mit Geschichtswerken.302 Die Reiseliteratur, so heißt es daher, sei eine »Sondergattung«303 und der Reisebericht gehöre zu den »hybriden Gattungsausprägungen«304. 296 Link hat eine viergliedrige Typologie der Reiseliteratur entworfen, die sich wie folgt aufteilt: 1. Reiseführer und -handbücher; 2. (populär-)wissenschaftliche Reiseschriften, Entdeckungs- und Forschungsberichte seit dem 16. Jahrhundert zu praktischen Zwecken; 3. Reisetagebücher, -berichte, -beschreibungen, -schilderungen, -erzählungen; 4. Reisenovellen und -romane. Siehe Link, Manfred: Der Reisebericht als literarische Kunstform von Goethe bis Heine, Köln 1963, S. 7–11. Zur Kritik an dieser Gliederung siehe: Neuber, Wolfgang: »Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik«, in: Brenner, Peter J.: (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt am Main 1989, S. 51f. 297 Hilmes, Carola: »Türkeiberichte in den großen Reisesammlungen des 18. Jahrhunderts«, in: Schmidt-Haberkamp (Hg.): Europa und die Türkei, S. 288. 298 Korte, Barbara: Der englische Reisebericht. Von der Pilgerfahrt bis zur Postmoderne, Darmstadt 1996, S. 21. 299 Korte: Der englische Reisebericht, S. 3f. 300 Als Nachbardisziplinen bezeichnet Harbsmeier Tagebücher, Memoiren, Autobiographien, Briefe, die auf Reisen verfasst wurden, topographische, historische, kosmographische und geographische Werke, Reiseführer und Reisehandbücher. Siehe Harbsmeier, Michael: Wilde Völkerkunde. Andere Welten in deutschen Reiseberichten der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1994, S. 26f. 301 Neuber: »Zur Gattungspoetik des Reiseberichts«, S. 53. 302 Hilmes: »Türkeiberichte in den großen Reisesammlungen«, S. 291. 303 Fischer, Manfred: Nationale Images als Gegenstand Vergleichender Literaturgeschichte. Untersuchungen zur Entstehung der komparatistischen Imagologie, [= Aachener Beiträge zur Komparatistik; 6], Bonn 1981, S. 38. 304 Neumann, Birgit und Ansgar Nünning: »Einleitung«, in: Gymnich, Marion, Birgit Neumann
Die Gattung Reisebericht
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Was die historische Entwicklung betrifft, so bildete sich eine Gattung, »die die Schilderung der Reiseerlebnisse des Verfassers selbst zum Hauptziel hat,« so Harbsmeier, erst mit den Pilgergeschichten des ausgehenden europäischen Mittelalters und den nahezu gleichzeitigen Entdeckungsgeschichten der frühen Neuzeit in einer umstandslos kenntlichen Form heraus, um dann zumindest bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts eine Rolle zu spielen.305
Die spätmittelalterlichen Pilgerberichte als »Vorläufer der Gattung der Reiseberichte« weisen erstmals einen Wechsel syntagmatischer und paradigmatischer Formen306 auf, welcher die Grundlage der Gattung der Reiseberichte in den nachfolgenden Jahrhunderten bildete. Ein weiteres Kriterium dieser Gattung ist die Tatsache, dass Personen jeden Standes in eben diesen Pilgerberichten ihre Erfahrungen und Eindrücke einer Öffentlichkeit schildern konnten.307 »Die Voraussetzungen und Bedingungen jedenfalls, unter denen sich bis dahin so viele weitgereiste Augenzeugen hatten Gehör verschaffen können, änderten sich,« so Harbsmeier, »mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert so radikal, dass in der Geschichte der Reisebeschreibungen abermals von einer Epochenschwelle gesprochen werden kann.« Ausschlaggebend dafür sind nicht nur die Veränderung der Rezeptionsbedingungen der Gattung, sondern auch die Produktionsverhältnisse ihrer Texte. Dies beruht auf der Tatsache, dass sich die schreibenden Reisenden darüber bewusst wurden, dass eine Fremddarstellung nicht um ein gewisses Maß an Selbstdarstellung umhin kommt. Die Bewusstwerdung über die eigene Welt und deren Unterscheidung von anderen Welten ist Grundlage für den Aufbau einer Gattung wie den Reisebericht.308 Während den Hauptzweck der Reisebeschreibungen des 18. Jahrhunderts ihr »Informationswert« ausmachte,309 wurden Reisebeschreibungen der Moderne nicht mehr nur als Medium zur Wissensvermittlung verstanden. Man nahm Abstand von der reinen Faktenbeschreibung und tendierte zu einer Beschreibung der erfahrbaren Realität.310 Kennzeichen der Reiseliteratur im 19. Jahrhundert waren ihre subjektive Prägung und ihre Funktion zu unterhalten.311
305 306 307 308 309 310 311
und Ansgar Nünning (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, [= Studies in English Literacy and Cultural History / Studien zur Englischen Literatur- und Kulturgeschichte; 28], Trier 2007, S. 18. Harbsmeier: Wilde Völkerkunde, S. 35. Nach Harbsmeier entsteht durch den Verlauf der Reise ein syntagmatischer Zusammenhang zwischen den verschiedenen Welten, die durch die Schilderung des Reisenden in eine paradigmatische Beziehung zueinander gelangen. Siehe Harbsmeier: Wilde Völkerkunde, S. 24. Harbsmeier: Wilde Völkerkunde, S. 25. Harbsmeier: Wilde Völkerkunde, S. 24ff. Hilmes: »Türkeiberichte in den großen Reisesammlungen«, S. 288. Meid: Griechenland-Imaginationen, S. 7. Fischer: Reiseziel England, S. 205.
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Reisen und Schreiben übers Reisen
2.2.1 Definitorische Ansätze und inhaltliche Komponenten Als gemeinsame Definition für die große Vielfalt an reiseliterarischen Texten, die unter verschiedenen Bezeichnungen wie etwa Reisebericht, Reisebeschreibung, Reiseschilderung, Reiseerzählung, Reisetagebuch etc.312 bekannt sind, formuliert Korte folgendes: Sie schildern eine Reise in ihrem Verlauf und stellen somit Erzähltexte dar. Dabei erhebt der Text den Anspruch und wird in diesem Sinne gelesen, daß die Reise tatsächlich stattgefunden hat und durch den Reisenden – oder die Reisende – selbst geschildert wird.313
Im heutigen Verständnis gelten Reiseberichte demnach als »Vertextung einer authentischen, autobiographischen Reiseerfahrung«314, es handelt sich also um ein Erlebnis und dessen reiseliterarische Verarbeitung315 durch den Reisenden selbst. Dabei gilt nur die auf der Reise erfahrene und nicht die gesamte Welt als Gegenstand der Gattung des Reiseberichts. Der Verlauf der Reise einerseits, als auch Erlebnisse, Erfahrungen, Beobachtungen andererseits sind Bestandteile dieser Texte, die durch den für die Gattung der Reiseberichte charakteristischen Wechsel zwischen dynamisch-narrativer und statisch-deskriptiver Erzählweise geschildert werden.316 Fehlen diese Bestandteile, ist der Bericht nach Harbsmeier nicht dieser Gattung zuzuordnen. Auch er betont, dass im engeren Sinne nur solche Beschreibungen als Reiseberichte gelten, die vom Reisenden selbst verfasst worden sind.317 Die Zuordnung von Werken zur Gattung Reiseliteratur erfolgt demnach über funktionale oder inhaltlich-thematische Aspekte und nicht über ihre Form.318 Dabei stand bis vor geraumer Zeit die Form im Mittelpunkt der literaturwissenschaftlichen und literaturgeschichtlichen Erforschung der Gattung und nicht ihr Inhalt.319 Gegenstand der Reiseliteratur ist vornehmlich die Beschreibung anderer Völker und Länder, weshalb der Reisebericht als eine Gattung angesehen wird, 312 Ich werde in dieser Arbeit die Begriffe Reisebericht, -beschreibung und -schilderung synonym verwenden. 313 Korte: Der englische Reisebericht, S. 1. 314 Korte: Der englische Reisebericht, S. 31. 315 Fried, István: »Imagologie als Teildisziplin der Vergleichenden Literaturwissenschaft«, in: Dukic´ (Hg.): Imagologie heute, S. 70. 316 Harbsmeier: Wilde Völkerkunde, S. 24. 317 Harbsmeier unterscheidet daher, was die Vorgeschichte der Gattung anbelangt, zwischen Reiseberichten und Reisebeschreibungen, je nachdem, welche Kriterien erfüllt werden. Siehe Harbsmeier: Wilde Völkerkunde, S. 36ff. 318 Jurk, Ilona: Zur Dialektik von Inhalt und Form in Reisedarstellungen des 19. Jahrhundert: Zum England-Bild in der deutschen Reiseliteratur zwischen Großer Französischer Revolution und Märzrevolution in Deutschland (1789–1848), Leipzig 1988, S. II. 319 Harbsmeier: Wilde Völkerkunde, S. 8 (Vorwort).
Die Gattung Reisebericht
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»die als Quelle der Fremderfahrung dient«.320 Wie auch bei anderen literarischen Werken werden mithilfe dieser Textgattung Bilder vom Anderen transportiert. »Seit alters spielen Geschichtswerke, Reiseberichte, Ethnographien und Enzyklopädien, die fremde Lebensformen, Kulturen, Nationen beschreiben, eine entscheidende Rolle beim Ausmalen und Verbalisieren der Bilder, die eine kollektive Phantasie von ›den Anderen‹ entwirft und mit rhetorischer Absicht verbreitet.«321 Dabei wollen Reiseberichte »die nahe oder ferne Fremde für ihr Publikum mehr oder weniger anschaulich erschließen.«322 Je größer die Entfernung von der eigenen Heimat, umso »lebensnotwendiger wird die Vereinfachung und damit Reduzierung erlebter Phänomene.« Es findet eine »Rückübersetzung« statt, durch die das Fremde in Kategorien des Eigenen gemessen wird.323 Dem Leser werden Beobachtungen in Kategorien, Metaphern und Bildern übermittelt, die in seiner Heimat bekannt sind.324 Darstellungskonventionen, Stereotype und Bilder des »imaginären Archivs der Herkunftskultur«, an die der Bericht gerichtet ist, fließen in die Beschreibung mit ein.325 »Tradierte Bilder, Wissensbestände und Wissenssysteme erlaubten die Einordnung des Unbekannten in Vertrautes und führten zugleich mit Hilfe von Stereotypen zu seiner Fixierung.«326 Der ständige, wenn auch zum Teil nur bewusste Rückblick auf die eigene Kultur wird als »Konvention der Reiseliteratur, das Fremde mit dem Blick auf das Heimische zu lesen,«327 betrachtet. Darstellungen anderer Länder können daher den Autoren als Mittel der Selbstreflexion über die Zustände im eigenen Land dienen.328 Dabei wird dem Fremden niemals neutral gegenübergestanden, denn entweder wird das Eigene oder das Fremde idealisiert.329
320 Fried: »Imagologie als Teildisziplin der Vergleichenden Literaturwissenschaft«, S. 70. 321 Harth, Dietrich: »Fiktion des Fremden. Vorbemerkung des Herausgebers«, in: ders. (Hg.): Fiktion des Fremden. Erkundung kultureller Grenzen in Literatur und Publizistik, Frankfurt am Main 1994, S. 7. 322 Hilmes: »Türkeiberichte in den großen Reisesammlungen«, S. 291. 323 Eickelkamp, Regina: Reise – Grenze – Erinnerung. Spuren des Verschwindens und die ›Erfindung der Wirklichkeit‹ in ausgewählten Texten Michel Tourniers, Heidelberg 2008, S. 231f. 324 Burghartz, Susanna: »Aneignungen des Fremden. Staunen, Stereotype und Zirkulation um 1600«, in: Huwiler, Elte und Nicole Wachter (Hg.): Integration des Widerläufigen. Ein Streifzug durch geistes- und kulturwissenschaftliche Forschungsfelder, Münster 2004, S. 110. 325 Burghartz: »Aneignungen des Fremden«, S. 110. 326 Burghartz: »Aneignungen des Fremden, S. 110. 327 Fuchs, Anne: »Der touristische Blick: Elias Canetti in Marrakesch. Ansätze zu einer Semiotik des Tourismus«, in: dies. und Harden: Reisen im Diskurs, S. 85. 328 Jurk: Zur Dialektik von Inhalt und Form in Reisedarstellungen, S. II. 329 Eickelkamp: Reise – Grenze – Erinnerung, S. 231f.
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Reisen und Schreiben übers Reisen
2.2.2 Die Präfiguration des Reisenden Der Verfasser des Reiseberichts teilt mit seinem Leser eine Welt »gemeinsamer Selbstverständlichkeiten und Nichthinterfragbarkeiten«, die er durch die Beschreibung einer anderen Welt zur Sprache bringt.330 »Das Bild des Fremden, das der Reisebericht in seiner Darstellung entwirft, unterliegt so von vornherein Vorstellungen, welche die eigene Kultur hervorgebracht hat.«331 Brenner bezeichnet den Reisebericht daher als »ein wesentlich soziales Phänomen, dessen Funktionen in aller Regel durch gesellschaftliche Erwartungen bestimmt« sind.332 Dass die Wahrnehmung des Reisenden durch die Erwartungshaltung des Rezipienten beeinflusst ist, kommt nicht erst bei der sprachlichen Umsetzung seiner Beobachtungen zum Ausdruck, sondern bereits während seines Kontakts mit der fremden Kultur.333 Auch wenn davon ausgegangen wird, dass »der Reisebericht auf einen authentischen, außerliterarischen Vorgang der Begegnung mit dem Anderen rekurriert«334, obliegt seine narrative Umsetzung allein dem Verfasser. Die Darstellungsform des Reiseberichts ist daher abhängig von verschiedenen Faktoren wie dem sozialen Status des Reisenden, seiner Einbindung in die Mentalität gesellschaftlicher Gruppen, seinem Bildungsstand, seinen Vorkenntnissen, seinen Interessen und seiner allgemeinen Wahrnehmungsfähigkeit.335 Die persönliche Voreingenommenheit und Wahrnehmungsmuster des Reisenden fließen in seinen Bericht ein,336 da sich die objektive Beschreibung fremder Länder und Kulturen nicht von der subjektiven Wahrnehmung des Beschreibenden trennen lässt.337 Es erfolgt »die Darstellung der Außenwelt durch ein erlebendes Subjekt«.338 Dabei ist »die in den unterschiedlichen Schreibweisen eingebundene konstruktive Seite von Wahrnehmung und Beschreibung« grundlegend für den Wissenserwerb.339 Neben individueller Erfahrungs- und Schreibperspektive,
330 Harbsmeier: Wilde Völkerkunde, S. 23. 331 Brenner, Peter J.: »Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts«, in: ders. (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt am Main 1989, S. 15. 332 Brenner: »Die Erfahrung der Fremde«, S. 6. 333 Brenner: »Die Erfahrung der Fremde«, S. 15. 334 Kuczynski, Ingrid: »Verunsicherung und Selbstbehauptung – der Umgang mit dem Fremden in der englischen Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts«, in: Fuchs und Harden: Reisen im Diskurs, S. 56. 335 Brenner: »Die Erfahrung der Fremde«, S. 27. 336 Fischer: Reiseziel England, S. 289. 337 Hilmes: »Türkeiberichte in den großen Reisesammlungen«, S. 288. 338 Fischer: Reiseziel England, S. 289. 339 Hilmes: »Türkeiberichte in den großen Reisesammlungen«, S. 291.
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Subjektivität und Standortgebundenheit ergänzen weitere Faktoren wie Eindrücke, Empfindungen und Gedanken die Beobachtungen.340 Erschwert wird der Prozess der Wahrnehmung auch durch dynamische Entwicklungen, denen die Beobachtungsgegenstände selbst unterliegen. Sie wandeln sich im Laufe der Zeit. »Zudem erfordert die unüberschaubare Menge der Beobachtungsgegenstände Selektionsprozesse. Der Beobachter muss aus der Menge des Beobachteten auswählen, und dieser Prozess der Selektion ist wieder von Interessen und Neigungen geprägt.«341
Reiseberichte entstehen aus den drei Phasen der Vorbereitung, Wahrnehmung und schriftlichen Fixierung. Zur Vorbereitung gehören im Vorfeld gesammelte Informationen und Anregungen, die aus Büchern, den Erzählungen vorheriger Reisender, Bildern etc. entnommen werden können und »alle zusammen die vorweggenommene Quelle unserer Vor-Urteile bilden«. Infolgedessen werden die Erfahrungen in der Fremde »durch den Rahmen des präkonditionierten subjektiven Wahrnehmungshorizontes selektiv beschränkt«. Schließlich trifft der Autor eine Auswahl seiner Erfahrungen und Beobachtungen und schreibt diese in »traditionellen, stilistischen und rhetorischen Ausdrucksformen« entsprechend nieder.342 Nünning entwickelte in Anlehnung an Ricœrs »Kreis der Mimesis« ein dreidimensionales Modell bestehend aus Präfiguration, Konfiguration und Refiguration. Der Begriff der Präfiguration deutet auf eine »vorgängige, außerliterarische Wirklichkeit« hin, auf die Reiseberichte bezogen und durch die sie präformiert sind. Das heißt, dass Reiseberichte im Kontext von Kulturen entstehen, durch deren Versionen und Konzepte von Reisen und Identität sie geprägt sind. Als Konfiguration wird die Darstellung der während einer Reise besuchten Orte und die gemachten Erfahrungen mit bestimmten narrativen Mitteln bezeichnet. »Dabei rekurrieren [die Texte] in der Regel auf bestimmte ›Wahrnehmungsformen‹, auf individuelle und kollektive Gedächtnisinhalte sowie auf Stereotypen vom Eigenen und vom Anderen bzw. Fremden, gestalten oder konfigurieren sie jedoch durch spezifisch ästhetische, narrative und deskriptive Verfahren jeweils modellhaft neu.«
Die Refiguration bezeichnet jenen Aspekt der Inszenierung des Reisens, der auf die außerliterarische Wirklichkeit zurückwirkt. Reiseberichte sind wie andere Bereiche der Literatur an der Ausformung einer kollektiven Identität und Vorstellungen von Selbst- und Fremdbildern maßgeblich beteiligt.343 340 Godel, Rainer: »Das Fremde ist das Eigene ist das Fremde«, in: Colloquium Helveticum: cahiers suisses de littérature générale et comparé 42 (2011), S. 132f. 341 Godel: »Das Fremde ist das Eigene ist das Fremde«, S. 120. 342 Beller, Manfred: »Das Bild des Anderen und die nationalen Charakteristiken in der Literaturwissenschaft«, in: ders: Eingebildete Nationalcharaktere, S. 42. 343 Nünning, Ansgar: »Zur Präfiguration / Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht: Grundzüge einer narratologischen Theorie, Typologie und Poetik der Reiselite-
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Neben der Frage nach der Funktion von Reisebeschreibungen bleibt die Frage nach deren Realitätsgehalt aus Sicht der mentalgeschichtlichen Analyse zweitrangig.344 Seit ihren antiken Anfängen zählen zu den Topoi der Reiseliteratur, dass der Reisende als Lügner gilt und der Reisebericht eine Gattung ist, deren Wahrheitsgehalt wenig Vertrauen verdient.345 Fiktionalität bedeutet aber nicht das »intentionale Abweichen vom Faktischen einer vorgegebenen Realität, sondern vielmehr von dem, was einer Gesellschaft an einem bestimmten geschichtlichen Ort als das Glaubhafte erscheint.« Bei der literaturwissenschaftlichen Analyse von Reiseliteratur hebt sich die Einteilung in fiktiv und realitätskonform daher auf. »Gegenstand ist nicht mehr die Übereinstimmung des jeweiligen Texts mit der ›Wirklichkeit‹, sondern sein selbstbestimmtes Verhältnis zu ihr und zugleich auch seine materielle, thematische Bandbreite.«346 Beller betont, dass in jeder Epoche und in allen Breiten der Erfolg einer Reise darin liegt, wieviel man gesehen und erlebt hat, wie viele Bekanntschaften man gemacht hat und welchen Nutzen man für den Rest seines Lebens in der Heimat daraus ziehen kann.347
2.2.3 Osmanische Reiseliteratur Die Problematik der Zuordnung von Texten zum Thema Reisen lässt sich auch auf die osmanische Reiseliteratur übertragen. Die Schwierigkeit einer Definition osmanischer Reiseberichte beginnt mit der Uneindeutigkeit des Begriffs seya¯hatna¯me348 (»Reisebeschreibung«), dessen moderne türkische Entsprechung ˙ gezi yazısı349 bzw. gezi kitabı350 lautet. Während manche unter der Bezeichnung
344 345 346 347
348
349 350
ratur,« in: Gymnich, Marion, Ansgar Nünning, Vera Nünning und Elisabeth Wåghäll Nivre (Hg.): Points of Arrival: Travels in Time, Space, and Self / Zielpunkte: Unterwegs in Zeit, Raum und Selbst, Tübingen 2008, S. 14. Eckert, Désirée: Von Wilden und wahrhaft Wilden. Wahrnehmungen der »Neuen Welt« in ausgewählten europäischen Reiseberichte und Chroniken des 16. Jahrhundert, Hamburg 2012, S. 13. Brenner: »Die Erfahrung der Fremde«, S. 14. Neuber: »Zur Gattungspoetik des Reiseberichts«, S. 51f. Beller, Manfred: »Typologia reciproca: Über die Erhellung des deutschen Nationalcharakters durch Reisen«, in: Beller: Eingebildete Nationalcharaktere, S. 105. Derselbe Aufsatz ist erstmals erschienen in: Wiedemann, Conrad (Hg.): Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Ein Symposium, Stuttgart 1988, S. 30–47. Das Kompositum setzt sich zusammen aus dem arabischen Wort siya¯hat (Reise) und dem ˙ persischen na¯me (Schreiben, Brief). Es findet jedoch weder im Arabischen noch im Persischen Verwendung. Trotz seiner türkischen Entsprechungen (gezi yazısı bzw. gezi kitabı) findet der Begriff seyahatname (so die heute gängige Schreibweise) noch heute Verwendung. Wörtlich: »Reiseschreiben« bzw. »Reiseabhandlung«. Wörtlich: »Reisebuch« bzw. »Reisewerk«.
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seya¯hatna¯me alle in diesen Bereich fallenden Texte zusammenfassen,351 und den ˙ Begriff als »gemeinsame Bezeichnung für Werke, die anlässlich einer aus unterschiedlichen Gründen durchgeführten Reise verfasst worden sind,« ansehen,352 gilt diese Bezeichnung für andere Historiker wiederum als eigenständige Kategorie innerhalb des Genres Reiseliteratur.353 Gökyay spricht in seinem 1973 erschienen Artikel bereits die Problematik der Genrezuordnung für Reisebeschreibungen an und erachtet eine Definition der seya¯hatna¯me insofern als schwierig, als sich die gattungsspezifischen Merkmale solcher Werke unterscheiden. Er betrachtet eine Kategorisierung als inhaltliche Einschränkung, da die Grenzen oft verschwimmen.354 So kann es vorkommen, dass manche Reiseberichte Reiseführern gleichen355 oder sich mit anderen literarischen Gattungen überschneiden. Die gattungsanalytische Verortung des Reiseberichts gestaltet sich daher schwierig, da er kein einheitliches Format zu besitzen scheint. Cos¸kun verweist ebenfalls auf die Schwierigkeit einer Kategorisierung aufgrund der Heterogenität der einzelnen Texte, da diese je nach Schreibintention unterschiedliche inhaltliche, formale und stilistische Merkmale aufwiesen.356 Für Herzog und Motika stellt der Reisebericht, insofern er die Reise des Erzählers berichtet, selbst ein Subgenre der Gattung Autobiographie dar.357 Cos¸kun ist hingegen der Ansicht, dass das seya¯hatna¯me als Unterkategorie der Gattung ˙ Memoiren gesehen werden kann, während Asiltürk die Meinung vertritt, dass sich die Gattung Reiseberichte dahingehend von Memoiren oder Tagebüchern unterscheide, dass der Ausgangspunkt eines Reisenden nicht die ihm widerfahrenden Geschehnisse, sondern die Erkundung neuer Länder und deren Leute und Kulturen etc. sind. Des Weiteren grenze sich der Reisebericht von den beiden anderen Gattungen in seiner Absicht ab, die Öffentlichkeit bei der Rückkehr des Verfassers über die Beobachtungen in der Fremde zu informieren, so Asiltürk. Daher beschreiben die Reisenden Dinge, die sie selber für interessant und un351 Siehe Cos¸kun, Menderes: »Seyahatna¯me. Türk Edebiyatı«, TDVI˙A 37 (2009), S. 13–16. 352 Yazıcı, Hüseyin: »Seyahatna¯me«, in: TDVI˙A 37 (2009), S. 9. Die Übersetzungen aller Zitate stammen von der Verfasserin der vorliegenden Arbeit. 353 Herzog, Christoph und Raoul Motika: »Orientalism Alla Turca: Late 19th / Early 20th Century Ottoman Voyages into the Muslim ›Outback‹«, in: Die Welt des Islam 40, 2 (2000), S. 140–195. 354 Gökyay, Orhan S¸aik: »Türkçe’de Gezi Kitapları« [Reisebücher auf Türkisch], in: Türk Dili – Aylık Dil ve Edebiyat Dergisi [Türkische Sprache – Monatliche Sprach- und Literaturzeitschrift], Yıl 22, Cilt XXVII, Sayı 258, 1 Mart 1973, S. 457. 355 Auf diesen Aspekt kommt auch Dumont in seinem Artikel zu sprechen. Siehe Dumont, Paul: »Western exoticism in the accounts of Ottoman travellers in Europe«, in: Geybullayeva, Rahilya und Peter Orte (Hg.): Stereotypes in Literatures and Cultures – International Reception Studies, Frankfurt am Main 2010, S. 133. 356 Cos¸kun, Menderes: »Seyahatname ve sefaretnameler« [Reisebeschreibung und Gesandtschaftsberichte], in: Halman, Talât Sait (Hg.): Türk Edebiyatı Tarihi 2, Ankara 2006, S. 327. 357 Herzog und Motika: »Orientalism Alla Turca«, S. 161.
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gewöhnlich halten, sowohl von ihrem eigenen Standpunkt aus, als auch von dem ihrer anvisierten Leserschaft.358 Die wichtigste Eigenschaft dieser Kategorie ist laut Cos¸kun das Berichten über Ereignisse, Kenntnisse und Unterschiede die Mentalitäten betreffend, die der Verfasser während seines Aufenthaltes in der fremden Region gesammelt hat. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass Übertreibungen und zum Teil sogar Lügen und Erfindungen diese Textgattung kennzeichnen.359 Zu den Merkmalen, die auf die Zugehörigkeit einer Erzählung zur Gattung der Reiseberichte hinweisen, gehören unter anderem die Einteilung in Beginn, Ausführung und Ende der Reise, die Chronologie der Reise, Prosa als Darstellungsform und die Erzählung in Ich-Form.360 Der gemeinsame Aufhänger ist demnach die Reise, nach oder während der ein die Reise selbst betreffendes Werk verfasst wurde. Herzog und Motika merken jedoch an, dass der osmanische Reisebericht als ein literarisches Genre dennoch nicht einfach dadurch definiert werden kann, dass er die Erzählung einer Reise beinhaltet, denn es gibt seya¯hatna¯me, die zwar die Bezeichnung im Titel tragen, aber keinerlei narrative ˙ Elemente bezüglich einer Reise aufweisen.361 Trotz dieser problematischen Ausgangslage versucht Cos¸kun dennoch anhand einzelner Kriterien, Texte nach bestimmten Charakteristiken systematisch zu bündeln und Unterkategorien der Gattung Reiseliteratur zu schaffen. Er verweist darauf, dass bis zum 19. Jahrhundert recht wenige osmanische Reiseberichte verfasst worden sind und diese Texte je nach Eigenschaft anderen Kategorien zugeordnet worden seien. Er selbst nimmt folgende Einteilungen des für ihn übergeordneten seya¯hatna¯me vor: seya¯hatna¯me, die die Reise als Grundlage der Erzäh˙ ˙ lung nehmen und dem Leser über die in der bereisten Region erlebten und gesehenen Unterschiede berichten, ihn dabei unterhalten, neugierig machen und begeistern. Als zweite Kategorie wählt Cos¸kun Gefangenenberichte (esa¯retna¯me). Er bezeichnet sie als wichtigste Quelle für den Kontakt zwischen Osmanen und anderen Zivilisationen. Die zum Teil in Briefform verfassten Erzählungen gleichen vereinzelt Abenteuerberichten. Eine weitere Kategorie bilden die in Reimform geschriebenen hasbiha¯l362 bzw. sergüzes¸tna¯me363. Schwerpunkt bilden die Strapa¯ ˙ ˙ zen, die der Verfasser in seinem Leben und in der Fremde erlebt hat. Eine weitere Gruppe bilden für Cos¸kun die Pilgerberichte (hac seya¯hatna¯meleri), die den Leser ˙ ˙ 358 359 360 361 362
Asiltürk: »Osmanlı’nın Avrupayı Tanımasında Seyahatnâmelerin Rolü«, S. 25. Cos¸kun: »Seyahatna¯me. Türk Edebiyatı«, S. 13. Agai: »Die Grenze: Einblick in die Konstruktion des Anderen«, S. 35f. Ausführlicher hierzu siehe Herzog und Motika: »Orientalism Alla Turca«, S. 162ff. Bezeichnung von Werken für die Schilderung der eigenen Lage bzw. Besprechung. Siehe Steuerwald, Karl: »hasbıhal« in: Türkisch-Deutsches Wörterbuch / Türkçe-Almanca Sözlük, Istanbul 1998, S. 465. 363 Bezeichnung für solche Werke, die sowohl die Geschehnisse als auch die Empfindungen und Gedanken der Personen wiedergeben, aus deren Perspektive die Geschehnisse geschildert werden. Siehe Tavukçu, Orhan Kemal: »Sergüzes¸tna¯me«, in: TDVI˙A 36 (2009), S. 559.
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über die Reiseroute mit ihren einzelnen Stationen und die auf der Pilgerfahrt zu beachtenden Riten informieren. Unter der Kategorie der enzyklopädischen Reiseberichte werden die Reisebeschreibungen zusammengefasst, die vor allem über die geografischen und geschichtlichen, aber auch administrativen und kulturellen Gegebenheiten der bereisten Region informieren. Beim Verfassen können abgesehen von den eigenen Notizen des Schreibenden schriftliche und mündliche Quellen verwendet werden. Großteile des Fahrtenbuchs von Evliya¯ Çelebı¯364 fallen in diese Rubrik. Als eine weitere Gruppe sieht Cos¸kun die Reisebeschreibungen, die unter den Bezeichnungen fetihna¯me365, ru¯zna¯me366 und menzilna¯me367 zu subsu˙ mieren sind. Meist werden darin Feld- oder Siegeszüge oder die Reise eines Sultans oder Staatsmannes von einer dritten Person dargestellt. Bei der Schilderung vermischen sich historische und biographische Informationen mit den eigentlichen Darstellungen. Desweiteren sieht Cos¸kun Gesandtschaftsberichte (sefa¯retna¯me) als Unterkategorie des seya¯hatna¯me. Das bezeichnende Kriterium ist dabei, dass ˙ sie zu offiziellen politischen und historischen Zwecken, und zwar von Gesandten oder Beauftragten in Prosa oder Reimform verfasst worden sind.368 Während Cos¸kun das sefa¯retna¯me also als Unterkategorie des seya¯hatna¯me ˙ einordnet, unterscheiden Herzog und Motika in ihrem Artikel zwischen den beiden eigenständigen Genres seya¯hatna¯me und sefa¯retna¯me.369 Auch Lewis ist ˙ der Ansicht, dass sich osmanische Botschaftsberichte allmählich zu einem eigenen Genre entwickelten und insbesondere ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen hohen Informationsgehalt über europäische Zustände aufweisen.370 Was die Osmanische Reiseliteratur im 19. Jahrhundert anbelangt, so orientierte sie sich einerseits an ihren modernen europäischen Vorbildern, anderer-
364 Evliya¯ Çelebı¯ war ein osmanischer Reisender und Schriftsteller, der im 17. Jahrhundert lebte und alle Regionen des Osmanischen Reiches als auch viele Nachbarländer bereist hat. Bekannt wurde er durch sein Fahrtenbuch mit dem Titel Seya¯hatna¯me, in dem er über seine zahlreichen Reisen berichtet. Eine von Robert Dankoff und˙Semih Tezcan zusammengestellte Bibliographie, die alle Werke von und über Evliya¯ Çelebı¯ umfasst, ist unter der Webadresse http://tebsite.bilkent.edu.tr/evliya.pdf aufrufbar. 365 Bezeichnung für Briefe und Erlasse, die über erlangte Siege und eroberte Gebiete berichten. Siehe Aksoy, Hasan: »Fetihna¯me«, in: TDVI˙A 12 (1995), S. 470. 366 Bezeichnung für Berichte, die über die täglichen Aktivitäten der Sultane informieren. Siehe Sarıcaog˘lu, Fikret: »Ru¯zna¯me«, in: TDVI˙A 35 (2008), S. 278. 367 Bezeichnung für Werke, die meist täglich über den Hergang von Feldzügen oder Schlachten berichten. Siehe Sarıcaog˘lu: »Ru¯zna¯me«, S. 278. 368 Cos¸kun: »Seyahatna¯me. Türk Edebiyatı«, S. 13ff. und ders.: »Seyahatname ve sefaretnameler«, S. 327–344. 369 Herzog und Motika: »Orientalism Alla Turca«, S. 140–195. 370 Lewis, Bernard: Die Welt der Ungläubigen. Wie der Islam Europa entdeckte, Frankfurt am Main 1987, S. 114.
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seits war sie aber auch vom sefa¯retna¯me stark beeinflusst.371 Fasst man das seya¯hatna¯me nicht als übergeordnete Kategorie für die osmanische Reiselitera˙ tur auf, sondern als eigene Untergattung, so lohnt sich ein Blick auf seine Entwicklung im Zusammenhang mit dem sefa¯retna¯me, das bis zur Ausbreitung des seya¯hatna¯me eine wichtige Rolle spielte. ˙ 2.2.4 Vom osmanischen Gesandtschaftsbericht zur osmanischen Reisebeschreibung des 19. Jahrhunderts Laut Definition ist das sefa¯retna¯me ein von einer ins Ausland beorderten Gesandtschaft verfasster offizieller Bericht,372 der nach dem Wiedereintreffen in der Heimat über ihre Aktivitäten informiert. Die Reise selbst, über die nach der Rückkehr offiziell Bericht erstattet werden muss,373 geschieht im Auftrag des Sultans meist zur Verkündung der Thronbesteigung, zur Vertretung des Sultans bei Krönungsfeierlichkeiten, zur Überbringung von Schreiben und Geschenken des Sultans, zur Informationsbeschaffung über zwischenstaatliche Beziehungen oder zur Entsendung von vom Ausland beorderten Gesandten.374 Die politische Gewichtung der Berichte ist dennoch recht gering. Grundsätzlich wurde nicht über den offiziellen Austausch mit den Staatsmännern der bereisten Länder berichtet, sondern über die Aktivitäten der Gesandten,375 das Prozedere und die Vorgaben des Protokolls.376 Köhbach verweist auf die Vielschichtigkeit der sefa¯retna¯me, die sowohl von Gesandten selbst, in deren Auftrag oder aber von nichtoffiziellen Personen verfasst worden sein können.377 Etwa 75 Prozent der osmanischen Gesandtschaftsberichte – Angaben über die genaue Anzahl der Berichte variieren – befassen sich mit Europa und der Rest mit muslimischen Ländern in Afrika und Asien.378 Erstmals erschienen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts von Gesandten verfasste Berichte. Den Anfang macht der Gesandtschaftsbericht von Kara Mehmed Pascha aus dem Jahre 1665. Die meisten osmanischen Gesandt˙ schaftsberichte stammen jedoch aus dem 18. Jahrhundert. In dieser Zeit sorgten 371 Herzog und Motika: »Orientalism Alla Turca«, S. 196. 372 Bozkurt, Nebi: »Sefa¯retna¯me«, in: TDVI˙A 36 (2009), S. 288. 373 Köhbach, Markus: »Der anonyme Bericht über die Gesandtschaft I˙brahim Pas¸as nach Wien 1719/20«, in: I. Uluslarası Seyahatnamelerde Türk ve Batı ˙Imaji Sempozyumu Belgeleri, S. 134. 374 Unat: Osmanlı Sefirleri ve Sefaretnameleri, S. 17ff. 375 Köhbach: »Der anonyme Bericht über die Gesandtschaft«, S. 134. 376 S¸irin: Osmanlı ˙Imgeleminde Avrupa, S. 148. 377 Köhbach: »Der anonyme Bericht über die Gesandtschaft«, S. 134. 378 S¸irin: Osmanlı ˙Imgeleminde Avrupa, S. 143ff. Auf die bibliografische Übersicht von Hillebrand wurde bereits in FN 20 verwiesen.
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politische Rückschläge für die Intensivierung diplomatischer Beziehungen mit dem Ausland.379 Die offiziellen Europaberichte dienten der Hohen Pforte dazu, Informationen über militärische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Strukturen der westeuropäischen Länder zu erlangen.380 Einen wichtigen Markstein in der Geschichte der osmanischen Reiseliteratur bilden die Beschreibungen von Yirmi Sekiz Çelebı¯ Mehmet Efendi, der im Auf˙ trag von Sultan Ahmet III. (1703–1730) nach Paris reiste, um die diplomatischen Beziehungen mit Frankreich zu pflegen. Diese Reise und der im Anschluss daran verfasste Bericht sorgten für kulturelle Veränderungen sowohl in Europa als auch im Osmanischen Reich. Der Stil der Turquerie im Bereich Architektur, Musik und Mode wurde eingeleitet. In Istanbul begann man, Gartenanlagen im französischen Stil anzulegen, und auch die Mode orientierte sich an der in Europa. Eine der wichtigsten Errungenschaften war allerdings der arabische Buchdruck, dessen offizielle Einführung nach einem mehrere Jahrhunderte andauernden Verbot, welches ausschlaggebend für die Verzögerung der Entwicklung der osmanischen Literatur und Presse war, auf die Gesandtschaft Yirmi Sekiz Çelebı¯ Mehmet Efendis zurückgeht.381 Der osmanische Markt für gedruckte Medien war ˙ vergleichsweise neu und überschaubar, was mit einen Grund für die relativ geringe Anzahl veröffentlichter osmanischer Reiseberichte darstellt.382 In der Regierungszeit Selı¯ms III. (1789–1807) stieg das Interesse des Osmanischen Reiches am Westen. Parallel dazu begannen vermehrt Regierungsangestellte, Diplomaten und Berichterstatter die weite Welt zu erkunden und eine Leserschaft über ihre unternommenen Reisen zu informieren. Gab es vorher nur eine kleine Anzahl an ausgewählten Rezipienten, so war es dank der Entwicklung des Druckwesens nun möglich, ein breiteres Publikum zu erreichen. Die osmanische Reiseliteratur nahm vor dem 19. Jahrhundert einen nur sehr geringen Teil der literarischen Produktion ein. Allenfalls durfte die geringe Anzahl der in Auftrag verfassten Gesandtschaftsberichte von einem ausgewählten Publikum gelesen werden.383 Im Unterschied zur europäischen Reiseliteratur, die Bestandteil fast jeder größeren Gelehrtenbibliothek oder Lesegesellschaft im 18. Jahrhundert war,384 entwickelte sich die osmanische Reiseliteratur erst im
379 380 381 382 383 384
S¸irin: Osmanlı ˙Imgeleminde Avrupa, S. 149. Konuk: »›Meine Herren, das nennt man einen Hut…‹«, S. 79. Konuk: »›Meine Herren, das nennt man einen Hut…‹«, S. 79f. Herzog und Motika: »Orientalism Alla Turca«, S. 162. Dumont: »Western exoticism«, S. 130. Osterhammel, Jürgen: »Distanzerfahrung. Darstellungsweisen des Fremden im 18. Jahrhundert,« in: König, Hans-Joachim, Wolfgang Reinhard und Reinhard Wendt (Hg.): Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung, [= Zeitschrift für Historische Forschung; 7], Berlin 1989, S. 13.
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19. Jahrhundert zu einem Genre, das Eingang in weitere Leserkreise gefunden hatte.385 Die Zahl der osmanischen Reisenden nach Europa nahm im 19. Jahrhundert im Zuge der Verwestlichungs- und Modernisierungsbestrebungen des Osmanischen Reiches zu. Ihr Ziel war es, Europa kennenzulernen und die osmanische Öffentlichkeit zu informieren.386 Es gab verschiedene Anlässe, die die Osmanen im 19. Jahrhundert dazu bewegten, (nach Europa) zu reisen. So fanden sich unter den Reisenden etwa Diplomaten oder Personen, die im Auftrag der Hohen Pforte reisten; Studenten, die zur Ausbildung an europäische Universitäten gingen; Ärzte und Ingenieure, die zur Weiterbildung ins Ausland gingen; Offiziere der Armee oder Marine; Händler und Geschäftsleute; wohlhabendere Bürger, die unter anderem aus gesundheitlichen Gründen reisten. Kuneralp ergänzt die Liste noch durch zwei weitere Kategorien, nämlich politisches Exil und Kriegsgefangene.387 Viele osmanische Reiseberichte wurden von Staatsangestellten im Auftrag der Regierung geschrieben. Im Unterschied zum Genre des sefa¯retna¯me war dies jedoch kein maßgeblicher Aspekt.388 Mit den vereinfachten und preiswerteren Möglichkeiten des Reisens und der Öffnung des Osmanischen Reiches nach Westen nahmen auch die Reisebeschreibungen über Europa zu. Durch die Erneuerungen in den Transportwegen wurde das Reisen vereinfacht. Wo zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit einer Reisezeit von einem halben Jahr zu rechnen war, dauerte die Reise von Istanbul nach Paris am Ende des gleichen Jahrhunderts nur noch drei Tage.389 Die wirtschaftliche und politische Überlegenheit Europas könnte ebenfalls ein Kriterium für den Anstieg der Europa-Reisen sein. Zweifelsohne dienten diese und die in Verbindung verfassten Reiseberichte aber zumindest einem ausschlaggebenden Wissenstransfer.390 Getrieben wurden die osmanischen Reisenden durch das Bedürfnis nach Eroberung und Aneignung von westlichem Wissen und Technologie. Dies sollte wiederum dazu verhelfen, so Dumont, den Untergang des Reiches und die Gefahr einer politischen Abgrenzung abzuwenden. Osmanische Reiseberichte des 19. Jahrhunderts haben nach ihm daher alle eins gemeinsam: »They all explore the paths that are supposed to lead to survival and regeneration.« Die meisten verfügbaren Reiseberichte wurden in dieser Zeit veröffentlicht. Zu den beliebtesten europäischen Reisezielen gehörten damals vor allem Frankreich, Italien und Österreich-Ungarn.391 Auch
385 386 387 388 389 390 391
Osterhammel: »Distanzerfahrung«, S. 13f. Asiltürk: »Osmanlı’nın Avrupayı Tanımasında«, S. 21. Kuneralp: »Les Ottomans à la découverte de l’Europe«, S. 52. Herzog und Motika: »Orientalism Alla Turca«, S. 160. Dumont: »Western exoticism«, S. 131. Herzog und Motika: »Orientalism Alla Turca«, S. 149. Dumont: »Western exoticism«, S. 130ff.
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England war ein von den vornehmlich aus Istanbul stammenden Osmanen im 19. Jahrhundert viel besuchtes Land.392 Dass die meisten osmanischen Reiseberichte aus dieser Zeit eher touristischen Reiseführern gleichen denn Erzählungen mit spannenden Geschichten, führt Dumont darauf zurück, dass das Reisen in jener Zeit aufgrund der neuen Transportmöglichkeiten keine aufregende Sache mehr war.393 Reiseberichte über Europa spielten eine wichtige Rolle bei der Vermittlung der europäischen Kultur und Zivilisation im Osmanischen Reich.394 Neben der Vermittlung von Informationen an den Leser über Hotels, Restaurants, Sehenswürdigkeiten, Transportmittel etc., wie es die Funktion der meisten Reisebeschreibungen war, dienten manche auch als »savoir-vivre handbooks«. Diese widmeten sich intensiv dem Verhalten und den Umgangsformen der Europäer, denen man in höheren Kreisen nachzuahmen bestrebt war. Mit dem Europareisebericht von Hayrullah Efendi (1818–1866), den er 1863/1864 verfasste, entsteht ein neues literarisches Genre: »a hybrid combination of travelogue« bestehend aus Reiseführer für Touristen, Benimmhandbuch und Abhandlungen über die europäische Gesellschaft.395 Zusammenfassend erklärt Dumont, dass osmanische Schilderungen westlicher Kultur von immer wiederkehrenden Vorurteilen durchdrungen sind und sich einzelne Aspekte wiederholen. Aufgrund der Tatsache, dass die großen osmanischen Städte denen in Europa in nichts nachstanden, bezeichnet Dumont die Anerkennung und den Neid, der von den meisten osmanischen Reiseberichtsverfassern geäußert wurde, als ein rhetorisches Mittel. »In the ideological context of the time,« argumentiert er, »East and West had to be different from each other, even if they were obviously part of one same world.«396 Die in den osmanischen Reiseberichten dargestellte europäische Kultur wird durch eine Dichotomie dominiert, die sich durch Bewunderung einerseits und Abneigung andererseits zeigt. Während auf der einen Seite die Wissenschaft, Bildung und Technologie gelobt werden, werden auf der anderen Seite Sittenlosigkeit, Egoismus und Prasserei kritisiert. »This combination of conflicting attitudes is so common in Ottoman travel literature that it can be considered as one of the rules of the genre.« In fast allen von Dumont untersuchten Berichten werden positive Stereotype durch negative ausgeglichen. Insbesondere wenn die technologische Überlegenheit des Westens ausführlich thematisiert wird, folgt
392 393 394 395 396
Kuneralp: »Les Ottomans à la découverte de l’Europe«, S. 56. Dumont: »Western exoticism«, S. 132f. Asiltürk: »Osmanlı’nın Avrupa’yı Tanımasında«, S. 20. Dumont: »Western exoticism«, S. 133. Dumont: »Western exoticism«, S. 136.
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generell eine Verurteilung des moralischen Verfalls, der ihrer Ansicht nach charakteristisch für die europäische Gesellschaft war.397 Wie Dumont in seinem Artikel zeigt, ist die widersprüchliche Haltung gegenüber der bereisten Kultur, die sich im Großteil der westlichen Reiseliteratur zeigt, auf ihr osmanisches Pendant übertragbar. Wunsch und Faszination gehen mit Ablehnung und Missbilligung einher.398 In den Reisebeschreibungen wird sich nicht nur gängiger Stereotypen bedient, sondern auch die Gesellschaft des Ziellandes wird kritisch dargestellt. So entgeht den Reisenden auch das Elend in den Städten, die Kinderarbeit und der Alkoholkonsum nicht, von dem sie ihrer Leserschaft berichten.399 Allerdings bildeten auch Themen wie europäische Kultur, Literatur und Staatsführung Interessenschwerpunkte der osmanischen Reiseliteratur.400
397 398 399 400
Dumont: »Western exoticism«, S. 138f. Dumont: »Western exoticism«, S. 131f. Kuneralp: »Les Ottomans à la découverte de l’Europe«, S. 57. Konuk: »›Meine Herren, das nennt man einen Hut…‹«, S. 82.
3.
Der Reisebericht Seya¯hatna¯me-i Londra ˙
Einleitend zur Übersetzung werden hier zuerst der Autor und das Werk vorgestellt. Anschließend folgen ein paar Überlegungen zur Übertragung von Begrifflichkeiten aus dem europäischen auf einen außereuropäischen Sprachraum und Bemerkungen zur konkreten Vorgehensweise in der Übersetzung. Das Kernstück dieses Kapitels und der gesamten Arbeit bildet die Übersetzung ins Deutsche, der anschließend eine inhaltliche Rekapitulation folgt.
3.1
Zum Autor des Seya¯hatna¯me-i Londra ˙
Die vorliegende Reisebeschreibung mit dem Titel Seya¯hatna¯me-i Londra (hier˙ nach SL) wurde – so die Vermutungen – von einem osmanischen Bürokraten und 401 Intellektuellen verfasst, dessen Namen wir durch das Werk selbst nicht erfahren, bemüht sich der Autor doch redlich, die Preisgabe seiner eigenen Identität zu vermeiden. Muss er persönliche Angaben machen wie Name, Alter oder Wohnort, ersetzt er diese durch das Adverb »soundso« (füla¯n) und umgeht auf diese Weise Identifikationsmerkmale bezüglich seiner eigenen Person. Das Wenige, das im Reisebericht über den Autor auszumachen ist, (aber dennoch keinen Rückschluss auf seine Identität zulässt,) muss man dessen eigenen Beschreibungen darin entnehmen. So erfährt man zum Beispiel über ihn, dass er des Arabischen mächtig ist402 und sich, wenn auch gebrochen, auf Französisch verständigen kann.403 Dem Leser wird mitgeteilt, dass der Autor Muslim (ehl-i islam) und Untertan des Osmanischen Reiches (tebaʿa-i devlet-i ʿalı¯ye) ist. In dem diese Informationen enthaltenden Dialog, den er auf seine Selbstauffassung hindeu401 Siehe Turan: »Forming the modern lexicon«, S. 160 und ders.: Seyahatname-i Londra, S. 1. Auch S¸irin und Kuneralp sind der Ansicht, dass es sich bei dem Autor um jemanden handelt, der im osmanischen Staatsdienst stand. Siehe S¸irin: Osmanlı ˙Imgeleminde Avrupa, S. 248 und Kuneralp: »Les Ottomans à la découverte de l’Europe«, S. 54. 402 N. N.: Seya¯hatna¯me-i Londra [London-Reisebericht], Istanbul 1852, S. 13. 403 N. N.: Seya¯hatna¯me-i Londra, S. 9 und 10.
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Der Reisebericht Seya¯hatna¯me-i Londra ˙
tend wiedergibt, sagt eine Dame über ihn, dass er sehr freundlich, intelligent, ehrenwert und respektvoll sei (ünsiyyetli ve bega¯yet fata¯netli, ¸sa¯ya¯n-ı ikra¯m ve ˙ seza¯-va¯r-ı ihtira¯m). An einer kurz darauf folgenden Stelle verrät der Autor sei˙ nem Publikum zudem, dass er ein feiner Mensch sei (zurafa¯dan oldug˘uma).404 ˙ Auf diese wenigen Fälle beschränken sich dann aber auch schon die Angaben, die zu seiner Person in diesem Reisebericht zu finden sind. Die Vermutung Serçes, es könne sich bei dem Verfasser womöglich um Mehmed Rauf handeln,405 erweist sich nicht als richtig. Serçes Annahme basiert ˙ auf dem Wissen, dass Mehmed Rauf im selben Jahr wie der Autor des SL nach ˙ London gereist ist und einen Reisebericht mit dem Titel Seya¯hatna¯me-i Avrupa (hiernach SA) verfasst hat. Serçe, dem die Reisebeschreibung Mehmed Raufs zu ˙ dem Zeitpunkt nicht vorlag, schlägt daher vor, die beiden Reiseberichte hinsichtlich ihres Inhalts miteinander zu vergleichen. Der Vergleich macht deutlich, dass sich die beiden Reiseberichte, trotz thematischer Überschneidungen, eindeutig voneinander unterscheiden [siehe Kap. 5.4]. Turan hingegen hegt die Vermutung, dass es sich bei dem Autor um einen gewissen Süleyman handeln muss. Bei der Durchsicht maltesischer Zollunterlagen sei er auf der Passagierliste der Tagus, dem englischen Schiff, mit dem der Verfasser des SL nach eigenen Angaben nach London gereist ist, auf einen Namen gestoßen, der als G. Soliman gelesen werden könne. Turan argumentiert, dass der Name die französische Entsprechung Süleymans sei und dass Pässe und andere offizielle Dokumente zu jener Zeit auf Französisch ausgefertigt worden seien. Da der Autor zudem selbst behauptet, der einzige Osmane an Bord gewesen zu sein, müsse es sich zu hoher Wahrscheinlichkeit bei diesem Soliman also um ihn handeln.406 Die Vermutung Turans wird schließlich durch S¸irin bestätigt, der meint, die Identität des Autors des SL nun endgültig aufgedeckt zu haben. In einem erst kürzlich verfassten Beitrag über das Bild Europas in der spätosmanischen und frührepublikanischen Zeit407 erläutert er in einer Fußnote, dass es sich bei dem Verfasser des SL um einen gewissen Süleyman Efendi handeln müsse, von dem er vermutet, er sei ein Industriespion gewesen. Im Londoner Nationalarchiv sei S¸irin auf Dokumente gestoßen, die darauf hindeuten, dass das Osmanische Reich drei Studenten mit den Namen Süleyman, Ressam und I˙brahim nach England geschickt habe. Zwei von ihnen seien aber nach Istanbul zurückgekehrt und nur Süleyman sei in London geblieben. Während Turan die Anonymität des Verfassers damit begründet, dass dieser erstens sein zum Teil unangemessenes Verhalten in England schildere und zweitens seinen Bericht für 404 405 406 407
N. N.: Seya¯hatna¯me-i Londra, S. 29. Serçe: Bir Osmanlı Aydının Londra Seyahatnamesi, S. 8. Turan: Seyahatname-i Londra, S. 3. S¸irin, I˙brahim: Images of Europe in the Late Ottoman Empire and Early Turkish Republic, unveröffentlichtes Working Paper, S. 7f.
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eine Zeitung geschrieben habe, bei der es gebräuchlich gewesen sei, die Identität der Autoren geheim zu halten,408 führt S¸irin die Geheimhaltung des Autors Namen auf dessen Spionagetätigkeiten für das Osmanische Reich zurück.409 Festzuhalten ist, dass es sich hierbei weiterhin um Vermutungen handelt, die einer genauen Prüfung bedürfen. Auch wenn wir nun nicht genau wissen, um wen es sich bei dem Reiseschreibenden tatsächlich handelt, so können wir doch gewisse Eingrenzungen vornehmen. Gereist sind in dieser Zeit nämlich nur Personen auf Anweisung der osmanischen Regierung oder aber wohlhabende Leute. Beides setzt einen gewissen Bildungsstand voraus, der wiederum nur der osmanischen Elite zuteilwurde. So zeichnet sich diese u. a. durch Kenntnisse des Französischen aus, über die auch der Verfasser des SL zu verfügen behauptet. Die Verwendung von Fachtermini deutet zudem auf einen bürokratischen Hintergrund. Gehen wir davon aus, dass die Erzählungen unseres Autors der Wahrheit entsprechen, so ist festzuhalten, dass er angesichts der von ihm besuchten und erkundeten Ortschaften mit einer recht großen Explorationslust ausgestattet war. Sein Interesse und seine Neugier lassen ihn vor nichts zurückschrecken, führen ihn zu den unterschiedlichsten Orten und verleihen ihm Einblick in die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, über die er im SL berichtet. Es liegt jedoch keine Überlieferung »nackter Informationen« vor, sondern ein subjektiv orientierter Bericht, der emotional gefärbt ist durch die Darstellung persönlicher Erlebnisse, Meinungsäußerungen, Kommentare, Gedanken etc. Es handelt sich um »die Darstellung der Außenwelt durch ein erlebendes Subjekt«.410 Der Reisende und der Erzähler sind in diesem Falle gleich, d. h. wahrnehmendes und erzählendes Ich sind identisch. Neben dem Informationsgehalt geht es dem Autor offensichtlich um Unterhaltung, die er dem Leser durch Inhalt, Form und Einsatz von Erzählstrategien in seinem Text vermittelt.411 Der Schreibstil des Autors ist ungezwungen und unterhaltsam, was dem Bericht Leichtigkeit verleiht.
3.2
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Der Autor bezeichnet sich selbst als seyya¯h (Reisender) und den von ihm ver˙ fassten Bericht an mehreren Textstellen als seya¯hatna¯me (Reisebeschreibung). ˙ Welche Kriterien aber müssen ungeachtet der Eigenbenennung erfüllt sein, um dem Anspruch eines seya¯hatna¯me gerecht zu werden? Auffällig ist, dass der 408 409 410 411
Turan: Seyahatname-i Londra, S. 2. S¸irin: Images of Europe in the Late Ottoman Empire, FN 10. Fischer: Reiseziel England, S. 289. Zur Funktion der narrativen Strategien im SL siehe Wagner: »Satirische Erzählelemente«.
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vorliegende Text durch die zum Teil fehlenden gängigen Merkmale, zu nennen sind hier insbesondere der Verzicht auf einen chronologischen Aufbau sowie eine Schilderung der Rückreise, die Anonymisierung des Autors und der durch satirische Erzählelemente hinterfragbare Wahrheitsanspruch, nicht dem typischen Genrebild von Reiseberichten entspricht. Es gibt zudem keinerlei Anhaltspunkte einer zeitlichen Strukturierung, was ebenfalls ungewöhnlich für einen Reisebericht ist. Die Reise selbst hat die Funktion einer Rahmenhandlung, die als Erzählklammer für die zahlreichen Binnenhandlungen in Form von Anekdoten dient. Dass sich der Aufbau des Werkes thematisch und nicht chronologisch gestaltet, dürfte seiner Publikationsgeschichte in Form einzelner Aufsätze in der Zeitschrift Cerı¯de-i Hava¯dis412 geschuldet sein. Teile des Werkes wurden nämlich im ˙ Jahr nach der Reise (1852) in Fortsetzung in mehreren Ausgaben dieser Zeitung veröffentlicht. Der erste Teil wurde in der 574. Ausgabe vom 15. April 1852 (24. Cuma¯da¯ l-a¯hira 1268), der letzte in der 601. Ausgabe vom 18. November 1852 (5. ˘ Safer 1269) abgedruckt.413 Vollständig, als 92 Seiten umfassendes Buch, wurde die ˙ anonyme Reisebeschreibung noch im selben Jahr (1269/1852–1853) von der Druckerei der Zeitung (Cerı¯de-i Hava¯dis Matbaʿası) unter dem Titel Seya¯hat˙ ˙ na¯me-i Londra herausgebracht.414 Sie zählt zu den wenigen, etwa 15 monografischen Reiseberichten (darunter auch mindestens vier sefa¯retna¯me genannte Gesandtschaftsberichte415), die bis 1878 gedruckt worden sind.416 Da Zeitungen bei der Vereinfachung der offiziellen Sprache in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine große Rolle spielten,417 ist auch das SL – bis auf die Lobpreisung Allahs, seines Propheten und des Sultans zu Beginn – in einem einfachen und verständlichen Schreibstil verfasst, wie es in der Cerı¯de-i Hava¯dis ˙ gebräuchlich war.418 Auffällig sind die europäischen Lehn- und Fremdwörter, aber auch neue Wortschöpfungen, mit denen die Reisebeschreibung gespickt ist. Dieses Verfahren kann als eine Strategie zum sprachlichen Umgang mit der
412 »Nachrichtenzeitung«, Name einer der frühesten türkischen Zeitungen (gegr. 1840). Siehe Ebbüziya: »Cerı¯de-i Hava¯dis«, S. 406f.; Tanpınar: XIX. Asır Türk Edebiyatı Tarihi, S. 141. Für weitere Informationen zur Entwicklung der osmanischen Presse und der Zeitung Cerı¯de-i Hava¯dis im Besonderen siehe Kap. 1.5. 413 Es finden sich hierzu fehlerhafte Angaben bei S¸irin (Osmanlı ˙Imgeleminde Avrupa, S. 247) und Turan (Seyahatname-i Londra, S. 1). 414 S¸irin: Osmanlı ˙Imgeleminde Avrupa, S. 247. Es gibt zwei Übersetzungen ins moderne Türkisch, wobei die von Turan auch eine Transkription enthält. Turan: Seyahatname-i Londra und Serçe: Bir Osmanlı Aydının Londra Seyahatnamesi. 415 Zur Entwicklung der osmanischen Reiseliteratur siehe Kap. 2.3. 416 Herzog und Motika: »Orientalism Alla Turca«, S. 149. 417 Tanpınar: Türk Edebiyatı Tarihi, S. 110. 418 Tanpınar: Türk Edebiyatı Tarihi, S. 142.
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Technologie und den Aspekten der Moderne, denen sich der Autor gegenüber sieht, bezeichnet werden.419 Der Aufbau der Reisebeschreibung gliedert sich folgendermaßen: Dem Titel folgt ein kurzer persischer Vers, eine Einleitung, die eine Lobpreisung Allahs, seines Propheten und des Sultans, die Erwähnung der Londoner Weltausstellung und des Reiseberichts selbst sowie eine Ansprache an die Leserschaft enthält. Der Beschreibung der Anreise, die selbst nur einen sehr geringen Teil des Reiseberichts in Anspruch nimmt, folgen die Darstellung des Aufenthaltes und das Ende, in dem der Autor ein weiteres Mal das Verfassen der Reisebeschreibung rechtfertigt (seinen Landsleuten Bericht zu erstatten über die Gegebenheiten und Besonderheiten Londons bzw. England im Allgemeinen) 420, ohne jedoch die Rückreise und Heimkehr zu thematisieren, wie dies zu erwarten wäre.421 Der Großteil der Schilderungen ist den Erlebnissen und Beobachtungen in London bzw. England gewidmet. Bei der Beschreibung handelt es sich um einen durchgehenden Text, der nicht chronologisch, sondern thematisch aufgebaut, und formal nur durch die bereits erwähnten Worte »Beginn der Erzählung« (ibtida¯-yı beya¯n) und »Ende« (temmet) gerahmt ist, wobei der Autor vor »Ende« noch Platz für eine Erklärung zum Druck und Inhalt des Buches und eine Danksagung eingeräumt hat. An mehreren Stellen im Text gibt es grafische Kennzeichnungen, die jeweils einen Themenwechsel markieren. Die einzigen Zeitangaben finden sich zu Beginn der Erzählung, wenn der Verfasser sein Abreisedatum in Istanbul nennt und über die Dauer der einzelnen Etappen bis zu seiner Ankunft in England berichtet.422 Im Verlauf der Beschreibung macht der Autor nur noch vereinzelt Datumsangaben, um zu berichten, was er an dem einen oder anderen Tag gemacht hat. Aus dem Reisebericht geht aber nichts über die Länge des eigentlichen Aufenthaltes in England hervor. Der Leser wird von einer Erzählung zur nächsten geführt. Dabei kommt es vor, dass sich Punkte wiederholen oder überschneiden. Es handelt sich um einen sehr detailreichen Text, der auf die unterschiedlichsten Aspekte menschlichen Lebens eingeht423 und seiner Leser419 Siehe hierzu Turan: Forming the modern lexicon, vor allem S. 163ff. 420 N. N.: Seya¯hatna¯me-i Londra, S. 92. 421 An einer einzigen Stelle im Bericht erwähnt der Autor lediglich seine Heimreise, die nämlich anstehe und daher keine Zeit mehr lasse, weitere Gespräche mit dem Hausbesitzer zu führen, in dessen Haus er wohnte. SL, S. 28. 422 Turan merkt in einer Fußnote an, dass sich der Autor hier bei der Gesamtdauer der Schiffsreise wohl vertan haben muss. Die Reise soll laut englischen Tageszeitungen nicht wie der Autor sagt siebzehn, sondern zwanzig Tage gedauert haben. Siehe Turan, Seyahatname-i Londra, FN 8. 423 Korte spricht der Gattung der Reiseberichte die Möglichkeit zu, »unterschiedlichste Beobachtungen, Erfahrungen und Reflexionen in einem Text nebeneinanderzustellen«, der Reisebericht als ein »Sammelsurium« also, »in das potenziell alles einfließen kann, das einem Reisenden mitteilenswert erscheint.« Siehe: Korte: Der englische Reisebericht, S. 9.
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schaft von Kuriositäten im Ausland berichtet.424 S¸irin ist der Auffassung, dass sowohl der Autor des Seya¯hatna¯me-i Londra als auch Mehmed Rauf 425 von ˙ Mustafa¯ Sa¯mi Efendis Avrupa Risa¯lesi426 als erstem Reisebericht neuen Stils in˙˙ sofern beeinflusst worden sind, dass auch sie ihren Lesern vor allem alltägliche Beobachtungen mitgeteilt haben. Bei den früheren Gesandtschaftsberichten hingegen, die im Auftrag des Sultans zur Information des Hofes verfasst wurden, nahmen solche Aspekte kaum Raum ein.427 Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei dem Verfasser der Reisebeschreibung tatsächlich um einen Industriespion handelt, dann kann es durchaus zutreffend sein, dass der Besuch der Weltausstellung – wie von einigen Historikern vermutet428 – der Hauptgrund der Reise war. Aus dem Text selbst geht allerdings nicht eindeutig hervor, dass der Autor allein aus diesem Anlass nach London gereist ist. Er spricht zu Beginn seines Berichts zwar von dem Besuch der Weltausstellung als allgemeinem Motiv vieler Reisender, der Ausstellung selbst räumt er in seinen Schilderungen im Vergleich zu anderen von ihm behandelten Themen jedoch nur sehr wenig Platz ein.
3.3
Bemerkungen zur Übersetzung
Bei einer Übersetzung sieht man sich grundsätzlich bestimmten Problematiken ausgesetzt, die durch verschiedene Faktoren bestimmt werden. Die Nähe zum Originaltext, die Übertragbarkeit stilistischer Eigenheiten des Verfassers, die Beibehaltung der Intention des Autors, die subjektive Gestaltungsfreiheit des Übersetzers sind einige der Punkte, mit denen sich der Übersetzer auseinanderzusetzen hat. Im Vorfeld der Übersetzung des vorliegenden Reiseberichts aus dem Osmanischen ins Deutsche werden hier ein paar Vorüberlegungen und Anmerkungen zur konkreten Umsetzung erörtert.
424 Im Teil Rekapitulation der Reise [Kap. 3.5] werden die einzelnen Themen aufgeführt. 425 Mehmed Rauf besuchte im selben Jahr wie der Verfasser der vorliegenden Reisebeschrei˙ London und die Weltausstellung und verfasste einen Reisebericht darüber: Mehmed bung ˙ Rauf: Seya¯hatna¯me-i Avrupa [Europa-Reisebericht], Istanbul 1851. Ein Vergleich der beiden Reisebeschreibungen findet sich in Kap. 5.4. 426 Mustafa¯ Sa¯mi Efendi: Avrupa Risa¯lesi [Europa-Bericht], Istanbul 1840. ˙ ˙ Osmanlı ˙Imgeleminde Avrupa, S. 246f. Asiltürk verweist ebenfalls in seinem Artikel 427 S¸irin: darauf, dass Mustafa¯ Sa¯mi Efendis und Sadık Rifat Pas¸as Berichte nachkommende Reise˙ von ihnen behandelten unterschiedlichen ˙ ˙ die beschreibungen ˙beeinflusst hätten, indem Themen von da an als Grundlage genommen worden seien. Siehe Asiltürk: »Osmanlı’nın Avrupayı Tanımasında«, S. 22. 428 Asiltürk: Osmanlı Seyyahlarının Gözüyle Avrupa, S. 263 und Turan: Seyahatname-i Londra, S. 1.
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3.3.1 Vorüberlegungen Die Anwendung von Begrifflichkeiten aus dem europäischen Sprachraum auf ein Thema aus einem außereuropäischen Sprachraum stellt grundsätzlich eine Schwierigkeit dar. Europäische Begriffe sind, da alle Begriffe auf einer historischen Erfahrung basieren, durch die europäische Geschichte vorgeprägt. Sie transportieren also Konzepte und Gedankengut, die bei ihrer Anwendung auf außereuropäische Phänomene auf diese übertragen werden. Dies lässt sich jedoch nicht umgehen, denn europäische Begriffe und Fragestellungen bilden den Hintergrund, vor dem in Europa jede Arbeit zur außereuropäischen Geschichte gelesen wird. Sie sind das Bekannte, zu dem das Fremde in Beziehung gesetzt werden muss, um verständlich zu werden.429
Problematisch wird es dann, wenn diese Begriffe die Bedeutung der außereuropäischen Bezeichnungen nicht mehr abdecken können.430 Neben dieser grundsätzlich bestehenden Problematik weisen Doganalp-Votzi und Römer auf die Möglichkeit hin, dass Wörter im konkreten Fall des hier relevanten Osmanisch-Türkischen im Laufe der Zeit einem Bedeutungswandel innerhalb des Sprachgebrauchs unterliegen oder sie grundsätzlich keine eindeutigen Bedeutungsinhalte besitzen.431 Dies wirft die Frage nach der Übertragbarkeit von begrifflichen Inhalten auf, mit der sich auch Pernau in ihrem Beitrag beschäftigt, nämlich ob eine Übersetzung ihrem Original überhaupt gerecht werden kann.432 Bei der Übersetzungsarbeit ist es daher von Nöten, Erklärungsarbeit zu leisten, um Ungenauigkeiten und Missverständnisse weitestgehend zu vermeiden. Dieser Punkte soll hier anhand einzelner prägnanter Begriffe im Vorfeld der Übersetzung deutlich gemacht werden und dazu dienen, die Vorgehensweise bei der Übersetzung mancher Begriffe zu erläutern. Besonders schwierig gestaltet sich in osmanischen Quellen der Umgang mit Wörtern wie devlet und hüku¯met. Doganalp-Votzi und Römer stellen bezüglich ˙ der Terminologie fest, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts hüku¯met im Osma˙ nisch-Türkischen nicht einheitlich verwendet wurde. Während zu Beginn der Tanz¯ıma¯t der Begriff hüku¯met oftmals mit »Verwaltung« gleichgesetzt wurde, ˙ ˙ fand zum Ende des 19. Jahrhundert keine eindeutige Unterscheidung zwischen »Regierung« und »Staat« statt. Devlet hingegen wurde im Osmanischen des 429 Pernau, Margit: »Transkulturelle Geschichte und das Problem der universalen Begriffe. Muslimische Bürger im Delhi des 19. Jahrhunderts«, in: Schäbler, Birgit (Hg.): Area Studies und die Welt. Weltregionen und die neue Globalgeschichte, Wien 2007, S. 120. 430 Pernau: »Transkulturelle Geschichte«, S. 120. 431 Doganalp-Votzi, Heidemarie und Claudia Römer: Herrschaft und Staat: Politische Terminologie des Osmanischen Reiches der Tanzimatzeit, Wien 2008, S. 156. 432 Pernau: Transkulturelle Geschichte, S. 121.
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19. Jahrhunderts zur Bezeichnung von »Staat« im modernen Sinne herangezogen, wobei der Terminus schon lange davor in der Bedeutung »Staat, Reich und Imperium« meist in Zusammensetzungen Verwendung fand. Dazu zählt auch das Hendiadyoin devlet ve millet (»Staat und Volk«), das im 19. Jahrhundert einen weiteren Aspekt durch die Doppelung von »Staat und Nation« hinzugewinnt, was laut Doganalp-Votzi und Römer im modernen Sinne den Nationalstaat bezeichnen könne.433 Neben millet benutzt der Autor für die Bezeichnung des Volkes auch den Begriff a¯ha¯lı¯, der unter anderem die Bedeutung »Bevölkerung, Einwohner« haben kann und daher erst aus dem Kontext erschlossen werden muss. Die gängigsten Wortkombinationen mit devlet sind (auch in der vorliegenden Reisebeschreibung) devlet-i ʿOsma¯nı¯ye und devlet-i ʿalı¯ye, die in ihrer Verwendung eher die abstrakte Bezeichnung für das Osmanische Reich darstellen und in dieser Arbeit auch als solches übersetzt werden. Neben dieser Eigenbenennung werden aber auch andere Staaten, Mächte und Reiche mit devlet bezeichnet, so zum Beispiel der Staat Frankreich oder der Staat Italien, wie Doganalp-Votzi und Römer anführen.434 Da der Autor durchaus zwischen devlet und kraliyet (Kö˙ nigreich) unterscheidet, wird ˙Ingiltere devleti hier daher mit »der Staat England« oder »der englische Staat« übersetzt. Steht der Begriff devlet alleine, scheint er in dem vorliegenden Reisebericht jedoch auch im Sinne von Regierung oder eben Verwaltung verwendet worden zu sein und wird daher je nach Kontext dementsprechend übersetzt. Hüku¯met wird grundsätzlich in Anlehnung an die obige ˙ Erklärung und zur Unterscheidung zu devlet mit »Regierung« übersetzt. Der Begriff des vekı¯l kann sowohl die Bedeutung »Minister« als auch »Stellvertreter, Verweser« tragen. Was gemeint ist, kann nur aus dem Kontext erschlossen werden. Eine eindeutige Unterscheidung ist allein in der Pluralform abzulesen, von der es zwei, nämlich die arabische und die türkische gibt. Wird die arabische Pluralform vükela¯ gebraucht, so sind damit die Minister gemeint, während der türkische Plural vekiller auf die anderen Bedeutungen des Wortes hinweist. Dieser Terminus gilt nicht nur für osmanische, sondern auch für Minister anderer Staaten.435 In der vorliegenden Reisebeschreibung findet nur der arabische Plural Gebrauch, weshalb davon auszugehen ist, dass der Autor den Begriff auch im Singular für die Bezeichnung von Ministern verwendet. Ein weiterer synonym verwendeter Begriff zu vekil ist na¯zır, wobei er im vorliegenden ˙ Reisebericht nur in Form von neza¯ret »Ministerium« einmalig Erwähnung fin˙ det.
433 Doganalp-Votzi und Römer: Herrschaft und Staat, S. 156, 173 und 214. 434 Doganalp-Votzi und Römer: Herrschaft und Staat, S. 171ff. 435 Doganalp-Votzi und Römer: Herrschaft und Staat, S. 131ff.
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Ein weiterer in diesem Kontext zu nennender Terminus ist meclis, der im 19. Jahrhundert im Osmanisch-Türkischen für die europäischen Parlamente, darunter auch das englische Parlament, aber auch für verschiedene Gremien, Räte oder repräsentative Versammlungen im Osmanischen Reich verwendet wurde436. Im vorliegenden Text dient der Begriff in Komposition mit anderen Wörtern auch für die Bezeichnung von Englands Vereinen, Gesellschaften und bisweilen auch Klubs oder aber in Form von tica¯ret meclisi für die Handelskammer. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff meʿmu¯r, der im heutigen Sprachgebrauch die Bedeutung »Beamter« trägt. Inwiefern ist dieser Begriff jedoch auf Personen mit dieser Bezeichnung Mitte des 19. Jahrhunderts übertragbar? Meʿmu¯r taucht sowohl alleine als auch in Komposition mit devlet als devlet meʿmu¯ru bzw. meʾmu¯r-ı devlet437 auf. Heute eindeutig in der Bedeutung des Staatsbeamten438, ist das Kompositum Mitte des 19. Jahrhunderts weniger eindeutig zu definieren. Nach Sami ist ein devlet meʿmu¯ru »ein Mann, der sich im Dienste des Staates befindet oder jemand, der durch den Auftrag eines Auftraggebers damit betraut ist, eine Arbeit zu verrichten.«439 Für sich alleine trägt der Begriff die Bedeutung von »jemandem, der einen Auftrag erhält, mit einer Arbeit betraut wird oder verpflichtet ist.«440 Der Autor verwendet dieselbe Terminologie sowohl für die Personen im Osmanischen Reich als auch in England. Generell wird in der Übersetzung so vorgegangen, dass neben der Beibehaltung der Originalbegriffe in Klammern (in Abgrenzung zum heutigen Sprachgebrauch) sprachlich weniger konnotierte Begriffe verwendet werden. Im Falle des meʿmu¯r wird daher mit »Angestellter bzw. Bürokrat« anstelle »Beamter« gearbeitet.
3.3.2 Anmerkungen zu konkreten Umsetzungen Als Übersetzungsgrundlage dient der 1852/1853 (1269) von der Druckerei der Zeitung Cerı¯de-i Hava¯dis vollständig herausgebrachte Reisebericht mit dem Titel Seya¯hatna¯me-i Londra. Die 2009 von Fikret Turan veröffentlichte Transkription und Übersetzung ins Türkische dient dabei nur zu Vergleichszwecken, aber nicht der grundlegenden Orientierung, da zum Teil gravierende Fehler darin enthalten sind.441 Lediglich einzelne inhaltliche Hinweise sind hilfreich und werden daher 436 437 438 439
Doganalp-Votzi und Römer: Herrschaft und Staat, S. 139ff. Im Text kommt die Pluralform meʾmu¯rı¯n-ı devlet vor. Siehe Steuerwald, »devlet memuru«, in: Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 221. S¸emseddin Sami: »[ «ﻣﺄﻣﻮﺭma¯ʾmu¯r], in: Ka¯mu¯s-ı Türkı¯ [Osmanischlexikon], Istanbul 2004, S. 1261. Übers. d. Vf. 440 S¸emseddin Sami: »[ «ﻣﺄﻣﻮﺭma¯ʾmu¯r], in: Ka¯mu¯s-ı Türkı¯, S. 1261. Übers. d. Vf. 441 Teilweise wurden ganze Zeilen oder aber einzelne Begriffe ausgelassen. Unleserliche Worte
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in den Fußnoten kenntlich gemacht. Die 2015 veröffentlichte Übersetzung ins Französische, die auf Grundlagen der Transkription Turans vorgenommen wurde,442 lag bei der Bearbeitung des Textes noch nicht vor. Der Reisebericht umfasst im Original 92 Seiten, deren ursprüngliche mittige Paginierung am oberen Seitenrand in der vorliegenden Übersetzung durch Nummern in eckigen Klammern im Textverlauf kenntlich gemacht ist. Weitere Zahlen werden ausgeschrieben, soweit dies im Originaltext der Fall ist, und als Ziffern dargestellt, wenn im Ausgangstext so vorgegeben. Ausnahme bildet hierbei die Wiedergabe von Kalenderdaten, deren Tages- und Jahresangaben in der deutschen Übersetzung in Form von Ziffern stehen. Textteile in eckigen Klammern sind Hinzufügungen der Übersetzerin und sollen zum besseren Verständnis dienen. In runden Klammern werden osmanische Originalausdrücke kursiv und in Transliteration wiedergegeben, wenn diese nicht exakt übersetzbar sind, sie für den Leser von Interesse sein könnten oder sie für die anschließende Analyse relevant sind. Mit Ausnahme von Personen-, Ortsnamen, Sprachbezeichungen und Nationalitätszuordnungen werden sie grundsätzlich in Kleinbuchstaben geschrieben. Als Grundlage dafür dient die I˙A-Transliteration. Nur die Vokale arabischer und persischer Wörter werden mit Längenzeichen versehen. Türkische und insbesondere europäisch stämmige Begriffe werden lediglich mit Sonderzeichen dargestellt. Als Kriterium dienen im Allgemeinen die Vorgaben durch Develliog˘lu443 und dem vom Institut für Türkische Sprache herausgegebenen Türkischlexikon444. Weitere osmanische Originalbegriffe, für die es keine deutschen Entsprechungen gibt und die im Text immer wiederkehren (z. B. Geldoder Maßeinheiten), werden kursiv und in Transliteration im Fließtext selbst wiedergegeben. Bei ihrer ersten Nennung findet sich eine entsprechende Erläuterung in der Fußnote. Begrifflichkeiten, die in den deutschen Sprachgebrauch eingegangen sind, wie z. B. Tughra, werden als solche wiedergegeben. Auch sie erhalten bei ihrer ersten Nennung eine Erläuterung in der Fußnote. Unterschiedliche Schreibweisen ein- und derselben osmanischen Begriffe werden in der Übersetzung vereinheitlicht. Die für das Osmanische typischen Doppelungen mit redundanter Bedeutung werden – insofern es keine Entsprechungen im Deutschen gibt – auf einen Begriff reduziert. Stilistische Feinheiten wie etwa Reime (bed-hu¯y ve arbede-cu¯y [46]) gehen bei der Übersetzung wurden nicht kenntlich gemacht, sondern frei interpretiert und so in die Übersetzung eingebaut. Dasselbe gilt für unverständliche Passagen. Die Transkription weist zahlreiche Fehler auf und ist nicht konsequent durchgeführt, zumal sie den wissenschaftlichen Ansprüchen nicht gerecht wird, da keine diakritischen Zeichen verwendet wurden. 442 Mete-Yuva: Voyages dans la modernité. 443 Develliog˘lu, Ferit: Osmanlıca-Türkçe Ansiklopedik Lu¯gat [Enzyklopädisches Wörterbuch Osmanisch-Türkisch], Ankara 2004. 444 Türk Dil Kurumu: Türkçe Sözlük [Türkischlexikon], Ankara 1988.
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leider verloren. Als schwierig erweist sich auch die Übertragung der stellenweise im Text mitschwingenden Ironie. Ortsnamen, fremdsprachige Begriffe etc. werden ihrer heutigen Schreibweise angeglichen. Das vom Autor nicht zögerlich verwendete Passiv wird zur besseren Lesbarkeit teilweise in Aktiv verwandelt, ohne explizit darauf aufmerksam zu machen. Genauso verhält es sich mit den vermehrt eingesetzten Substantivkonstruktionen, die durch Verbalsätze aufgelöst werden. Dasselbe gilt auch für die häufig verwendeten Demonstrativpronomen, die gegebenenfalls durch Artikel ersetzt werden. Wenn Personalpronomen nicht eindeutig zuzuordnen sind, werden sie durch die erneute Nennung des Substantivs kenntlich gemacht. Dasselbe gilt umgekehrt, wenn eine wiederholte Nennung des Substantivs den Lesefluss beeinträchtigen sollte, wird es durch ein Personalpronomen ersetzt. An einigen Stellen spricht der Autor, wenn er von sich spricht, nicht nur in der Ersten Person Singular, sondern auch in der Ersten Person Plural.445 Obwohl im Kontext oder weiteren Textverlauf meist ersichtlich, wird in der Zielsprache die erste Person Singular verwendet und in einer Fußnote auf diese Besonderheit hingewiesen. Vom Autor oft gebrauchte, aber aufgrund ihrer permanenten Wiederkehr störende Ausdrücke wie »der oben erwähnte« (müs¸a¯rün-ileyha¯) werden ebenfalls zur besseren Lesbarkeit des Textes teilweise aufgehoben. Wörtliche Rede wird durch Anführungszeichen kenntlich gemacht, auch wenn diese – wie alle weiteren Satzzeichen – grundsätzlich im Original fehlen. Markierungen im Ausgangstext, die auf einen thematischen Wechsel hinweisen, werden in der Übersetzung übernommen.446 In Klammern stehende Fragezeichen machen kenntlich, dass ein Begriff oder Zusammenhang im Originaltext nicht erschlossen werden konnte oder als fragwürdig gilt. Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass sich die Bedeutung eines Begriffes im Laufe der Zeit verändert hat, dass wir es mit einer falschen Schreibweise zu tun haben oder dass sich der Autor eines falschen Begriffes bedient hat. Auf die falsche Schreibweise einzelner Wörter wird nur dann hingewiesen, wenn diese in der Transliteration wiederkehren. Für unverständliche Textpassagen, deren genauer Inhalt nicht geklärt werden kann, finden sich in den Fußnoten Anmerkungen. Dort stehen ebenfalls Erläuterungen und Ergänzungen zu den im Text vorkommenden Inhalten, was zum besseren Textverständnis beitragen soll. Es wurde versucht, die Wortwahl des Autors weitestgehend wiederzugeben, um die Authentizität des Textes beizubehalten. So wird beispielsweise anstelle von »Lokomotive« »Dampfwagen« (vapur ʿarabası) verwendet. Nur vereinzelt wird in die Satzstruktur eingegriffen, wenn für das logische Verständnis eine Umstellung der einzelnen Satzglieder von Nöten ist. 445 Zur Verwendung des Bescheidenheitsplurals siehe Kap. 5.2. 446 Nicht bei jedem Themenwechsel wurden Markierungen verwendet. Diese Inkonsequenz deutet darauf hin, dass sie eventuell noch zu einem anderen Zweck dienten.
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Der Reisebericht Seya¯hatna¯me-i Londra ˙
Kommentierte Übersetzung447 [2] 448 London-Reisebericht (Seya¯hatna¯me-i Londra) ˙ Im Namen dessen, der den Geist zum Schwunge schuf, Des Meisters, der das Wort auf unsrer Zunge schuf.449
Hochgelobt sei der Schöpfer der Welt, der Herr des Königreichs, der Mächtige und Gnädige, ihm gebührt der Ruhm, wie er Ihm angemessen ist, Ihm, der ungezählte Gnaden dem Menschengeschlecht angedeihen lässt. Er schuf den Menschen, das höchste aller Geschöpfe, den er durch Sprache und Wissen vor den anderen Geschöpfen ausgezeichnet hat. Er hat ihnen mannigfaltige mündliche Überlieferungen und Gesetze des Propheten und die Offenbarung vermacht. »Denkt (darüber) nach, (ihr alle) die ihr Einsicht habt!«450 Auf diesen erhabenen Befehl hin erwarben sie Lehren und Kenntnisse und machten Bekanntschaft mit dem Verborgenem und den Stadien der Erkenntnis. Mögen sie gesegnet sein, die Freuden der Geschöpfe, der an erster Stelle kommende Prophet, der Fürsprache einlegt auf dem Platz des Jüngsten Gerichts und alle erhabenen Propheten, [sowie] die Angehörigen und Gefährten des Propheten. Mit der Übermittlung der Offenbarung und der Aufzeigung des rechten Weges [3] wird die Religionsgemeinschaft auf die Seite des Allbarmherzigen gerufen und ihre Erkenntnis mit Ratschlägen und Belehrungen gefestigt.451 Allah lasse sein Reich ewig weiter bestehen, die Gerechtigkeit seines Sultanats fortdauern und seine Güte und Wohltätigkeit in beiden Welten vermehren452, Beherrscher der Welt und prächtigster aller Herrscher, Sultan der beiden Kon447 An dieser Stelle sei vor allem Prof. Dr. Edhem Eldem, Dr. I˙brahim S¸irin und Dr. Henning Sievert gedankt, die mir bei Verständnisfragen zur Seite standen. 448 Die Zahlen in eckigen Klammern geben die Paginierung des Originaltextes wieder. Der Reisebericht beginnt auf der zweiten Seite. 449 Anfangsvers aus Saʿdı¯s (pers. Dichter, geb. 1190 in Schiraz) Werk Bu¯sta¯n. Dieser Hinweis befindet sich bei Turan: Seyahatname-i Londra, FN 1 der Transkription auf S. 121. Deutsche Übersetzung nach Friedrich Rückert (Scheich Saadi: Bostan, Diwan, Gulistan. Aus dem Persischen übertragen von Friedrich Rückert, München 1988, S. 217). 450 Satz stammt aus Vers 2 der Sure 59 al-Hasˇr (Die Versammlung). Dieser Hinweis befindet sich ˙ bei Turan: Seyahatname-i Londra, Transkiption S. 121, FN 1, ist aber auch im Text selbst durch grafische Zeichen als besondere Textstelle gekennzeichnet. Deutsche Übersetzung aus Paret, Rudi: Der Koran, Stuttgart / Berlin / Köln 1996, S. 388. 451 In vielen osmanischen Texten kommen arabische Sequenzen vor, bei denen es sich häufig um Verse aus dem Koran oder um Prophetenüberlieferungen handeln kann. Dies hier ist eine Lobpreisung Gottes und des Propheten, welche so wie hier generell am Beginn eines Buches zu finden ist. Siehe Bug˘day, Korkut: Osmanisch: Einführung in die Grundlagen der Literatursprache, Wien 1999, S. 88. 452 Diese Aufzählung hier im Nebensatz sowie der Vers aus Sure 59 weiter oben sind im Originaltext auf Arabisch geschrieben.
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tinente und der beiden Meere453, Hüter der beiden Heiligtümer454, Sohn des Sultans, ʿAbdülmecı¯d455 Ha¯n456, Sohn von Sultan G˙a¯zı¯457 Mahmu¯d458 Ha¯n, möge ˙ ˘ ˘ der allgütige Gott sein Leben und seinen Ruhm vermehren und stets seinen gnadenvollen kaiserlichen Körper bei Kräften halten, unser Gebieter, der ehrwürdige Padischah, möge während seiner erhabenen Regierungszeit seine hohe Sultanspersönlichkeit in jeder Hinsicht besser als die seiner Vorgänger sein.459 Es wird von niemandem angezweifelt werden, dass während seiner erhabenen Regierungszeit Wissen und Kenntnisse einen wünschenswerten Grad erreichten und die Reihen der Untertanen des Osmanischen Reiches (tebaʿaʾ-i devlet-i ʿalı¯ye) daran teilhatten. Da es in den gerechten Zeiten eines solch gütigen Padischahs einem jeden obliegt, nach Vollkommenheit zu streben, so bemüht er sich nach seinen eigenen Fähigkeiten und gemäß seiner Bedürfnissen, diese zu erlangen. Die Mittel sind in dieser segensreichen Zeit vorhanden. *460 Kommen wir zum Thema. Um die handwerklichen und landwirtschaftlichen Güter zu betrachten, wurde von Seiten der Regierung Englands in London im Jahre 1268 nach der Hidschra und 1851 nach christlicher Rechnung im sogenannten Kristallpalast (billu¯r sara¯y) 461 eine Exposition (ekspozisyon), d. h. eine ˙ Ausstellung (sergi) eröffnet. Um die Ausstellung zu besichtigen und um von manchen Dingen, deren Untersuchung erforderlich ist, Kenntnisse und Einblicke in sie zu erhalten, sind aus allen Ländern Beauftragte (ma¯ʾmu¯rlar) und Besucher nach London gereist. Für die Reise wurde eigens ein Schiff eingesetzt, um die von Seiten des Osmanischen Reiches (devlet-i ʿalı¯ye) zur Versendung bestimmten verschiedenen landwirtschaftlichen und handwerklichen Waren und die Beauftragten hinüberzusetzen. Wer wollte, fuhr kostenlos mit. Die Übriggebliebenen kamen mit einem anderen Schiff gereist. Auch meine Wenigkeit befand sich angelegentlich der dank des Sultans durchgeführten Reise dort. Stolz bin ich umhergereist und habe die von mir beobachteten Zustände und 453 454 455 456 457 458 459 460 461
Gemeint sind Asien und Europa und das Mittel- und das Schwarzmeer. Medina und Mekka. ʿAbdülmecı¯d I. (geb. 1823) herrschte von 1839 bis zu seinem Tod 1861. Oder Khan ist der Titel osmanischer Sultane. Siehe Steuerwald: »han (I)«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 363. Oder Gazi ist der Ehrentitel für besonders verdiente Feldherren. Siehe Steuerwald: »gazi«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 317. Mahmu¯d II. (geb. 1785) war von 1808 bis zu seinem Tod 1839 Sultan des Osmanischen ˙ Reiches. Dies ist eine typische panegyrische Lobpreisung auf einen osmanischen Herrscher. Der Inhalt ist meist ähnlich, unterscheidet sich lediglich durch die Länge der aufgezählten Zuweisungen oder durch einzelne Begriffe. Im Originaltext befinden sich zwischen manchen Sinnabschnitten grafische Kennzeichnungen, die hier in Form dieser Sternchen wiedergegeben werden. Die Londoner Weltausstellung von 1851 fand im eigens dafür errichteten Chrystal Palace im Hyde Park statt. Siehe Kap. 1.2.2.
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Situationen, die meiner bescheidenen Untersuchung unterliegen, in einem Werk zusammengefasst. Ich habe es in meiner bedauernswerten Lage und mit meinen geringen Kenntnissen [4] in aller Bescheidenheit gewagt, einen Bericht (risa¯le) mit dem Namen Seya¯hatna¯me-i Londra zu verfassen, mit dem Ziel, das Zeitalter ˙ des Padischahs zu rühmen. Und wenn es viel gibt, dass ich nicht beschrieben habe, dann nur deshalb, weil es mir nicht gelungen ist, Untersuchungen (tahk¯ık) ˙˙ ˙ und Beobachtungen vorzunehmen. Und wenn die Erzählungen aufgrund meiner mangelnden Schreibfähigkeit in Unordnung geraten sein sollten, dann obliegt es dem Wohlwollen der Fachleute, mit dem Stift der Vergebung die Fehler beiseite zu räumen.
Beginn der Erzählung462 Zunächst verabschiedete ich mich von meiner Familie (familyam) 463 und stieg dann am 7. Receb des Jahres 67464, dem Tag, an dem ich Istanbul verließ und das Fieber der Trennung und Sehnsucht mein Herz (dil ü ca¯nım) brennen ließ, auf das englische Schiff mit dem Namen Tagus465 und bezog eine Kabine im vorderen Teil des Schiffes. Mit nur vierzehn Reisenden stachen wir in See (rehrev-i semt maksu¯d olub). Am nächsten Tag erreichten wir Gelibolu und Çanakkale und am ˙˙ Tag darauf (bir gün bir gece müru¯runda) Izmir. Erneut erfasste mich der Abschiedsschmerz und abgesehen von einem Armenier gab es keinen Freund, mit dem ich mich hätte unterhalten können. Außerdem lenkten mich die Mahlzeiten der Engländer (I˙ngilizler), die es fünf Mal am Tag gab, von den Umständen, die mir mein Kummer bereitete, ab. Schließlich konnte man nach fünf Tagen Malta sehen. Als sie mir »Geh hoch und schau es dir an!« sagten, war ich hocherfreut. Denn sieht man einen Ort zum ersten Mal (insa¯n görmedig˘i yeri görünce), dann lässt das Heimweh ein wenig nach und so füllte sich auch mein Herz (dil), das voller Trennungsschmerz war, mit Freude. Was ist die Welt doch seltsam (ʿacı¯b), dass sich allerorten Umgang und Verhalten voneinander unterscheiden. Auch die Bewohner Maltas fuhren mit Ruderbooten auf das Schiff zu und drängten die Reisenden mit einer seltsamen (ʿacı¯b), dem Arabischen ähnelnden Sprache auf 462 Sowohl die Übersetzungen der Seite 5, als auch der Seiten 9–20 wurden bereits im Sammelbandbeitrag Wagner: »Satirische Erzählelemente« veröffentlicht. Die Übersetzung wurde in der Zwischenzeit an einigen Stellen überarbeitet und verbessert. 463 Zum Gebrauch von Fremdwörtern und modernen Begrifflichkeiten im SL siehe Turan: »Forming the Modern Diction of Tanzimat Turkish«, S. 159–181. 464 8. Mai 1851. 465 Die Tagus war eines der von der britischen Reederei Peninsular and Oriental Steam Navigation Company eingesetzten Schiffe zur Personenbeförderung. Siehe Howarth, David und Stephen Howarth: The story of P&O, The Peninsular and Oriental Steam Navigation Company, London 1986, S. 13f.
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ihre Ruderboote. Auch ich wurde von einem Ruderer ergriffen, der mich sogleich in sein Boot beförderte. Als wir am Steg anlegten, war es nicht möglich, ihn dazu zu bringen, weniger als elf g˙uru¯¸s466 zu nehmen. An Land kamen gleich vierzig, fünfzig Nichtsnutze daher, von denen manche für den Basar und andere für die Gaststätten warben, und versuchten ohne Rücksicht auf Verluste an Geld zu kommen. [5] Schließlich kam die Polizei (z˙a¯bıta), und hätte ich mich nicht [bei ˙ dieser] beschwert, wäre ich von jenen nicht losgekommen (ellerinden yakayı ˙ sıyıramamıs¸ımdır). Malta ist eine kleine, im Mittelmeer gelegene Insel, vier˙ undvierzig Meilen (mı¯l) 467 von der Küste entfernt (bahr-ı sefı¯d’de kırk dört mı¯l ˙ ˙ ˙ du¯runda), die kleiner als Lemnos468 ist und seit fünfzig Jahren unter der Herrschaft Englands steht. Auch wenn die erwähnte Insel über zwei Häfen verfügt, so sind diese [doch] durch eine schmale Landzunge (bir dil gibi burun ile) voneinander getrennt, in deren Mitte ein Leuchtturm steht. Die Stadt dieser Insel ist unter dem Namen Valletta bekannt. Um die Stadt herum gibt es Burgen von der Art, die eine Bezwingung durch feindliche Belagerung unmöglich machen. So konnte der oben erwähnte Staat [England] die besagte Insel vor fünfzig Jahren in der Absicht sie zu erobern [erst] nach etwa zwei Jahren Belagerung mit Mühe einnehmen. An der Spitze einer dieser Burgen waren tausendeinhundertundfünfzig Kanonen aufgestellt und obwohl England etwa zehn große und kleine Schiffe an dieser Insel vor Anker liegen hat, konnte ich bei unserer Ankunft jedoch lediglich ein bis zwei Schiffe sehen, da die meisten zu Ausbildungszwecken (bera¯-yı taʾlı¯m-i sana¯yiʿi) in See gestochen waren. Die besagte Insel sieht ˙ recht ungewöhnlich (g˙a¯yet tuhaf) aus, da die sie umgebenden Burgen und die von ˙ oben sichtbare Kirche und anderen großen Gebäude von außergewöhnlich schönem Aussehen sind. In der Stadt gibt es keine Gebäude aus Holz, denn alle Gebäude sind aus dem für Malta bekannten Kalkstein (bizim bildig˘imiz ma¯lta ˙ tas¸ından) gebaut. Da dieser Stein weich ist, sind ihre Straßen mit mehr Staub bedeckt als die Wüste Arabiens (ʿArabista¯n ku¯mlug˘undan). Auf der besagten ˙ Insel gibt es einen Regierungsrat (meclis), der aus einem von England bestimmten Gouverneur (ka¯ʾimmaka¯m) und sechs [weiteren] Mitgliedern (a¯ʿz˙a¯) ˙ ˙ besteht. In der Stadt, in der manche alte Waffen gelagert werden, gibt es außer einem Palast und Kirchen nichts weiter Sehenswertes (s¸a¯ya¯n-ı seyr ü tema¯¸sa¯ bir ¸sey görülmemis¸dir). Als ich vom Kapitän (kapudan) erfuhr, dass ein paar Geräte ˙ vom Schiff beschädigt seien und wir daher die Nacht bleiben müssten, holte ich mir eine Erlaubnis ein, am Abend ins Theater gehen zu dürfen. Als ich jemanden 466 Geldeinheit im Osmanischen Reich. Siehe Steuerwald: »kurus¸«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 568. Ein g˙uru¯¸s entspricht 40 para und 120 akçe. Siehe Pamuk, S¸evket: A Monetary ˙ History of the Ottoman Empire, Cambridge 2000, S. 163. 467 = ﻣﻴﻞmı¯l, gemeint ist mı¯l-i bahrı¯ / deniz mili entspricht 1852 m, also hier etwa 81 km. Siehe Steuerwald: »deniz mili«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 214. 468 Griechische Insel in der Ägais, auch Limnos genannt.
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von der Schiffsbesatzung damit beauftragte, mich über [den Zeitpunkt] der Abfahrt zu unterrichten, um [rechtzeitig] zum Schiff zurückzukehren, hörte dies ein Malteser mit. Als ich noch im Theater saß, schreckte ich (ʿaklım bas¸ımdan ˙ giderek) in der ersten Szene von den drängenden Worten des Maltesers »Steh auf! Steh auf! Das Schiff fährt ab!« auf und folgte diesem Kerl Hals über Kopf (bu herifiñ arkasına düs¸üb). [6] Am Kai angekommen sprang er in ein Boot und ließ ˙ ˙ mich einsteigen. Als wir uns näherten, war tatsächlich schwarzer Rauch zu sehen. Da ich ihm nicht gleich nach dem Einsteigen ins Boot Geld gegeben hatte, weigerte er sich weiterzufahren (gitmem deyü), ließ die Ruder fallen und verlangte zwanzig g˙uru¯¸s. Schließlich bezahlte ich den genannten Betrag und nahm mir vor, den Kerl, sobald ich das Schiff bestiegen hätte, der Polizei zu melden. Als wir näher kamen, erkannten wir, dass es sich um ein französisches Schiff handelte, und wir kehrten um. Auch wenn ich den Kerl, sobald ich an Land war, der Polizei übergeben wollte, so entfloh dieser, kaum dass wir uns genähert hatten und ich blieb im Boot sitzen. Ich überlegte kurz und ging anschließend wieder zum Theater, wo ich pünktlich zur letzten Szene ankam. Später nahm das Schiff etwa fünfundzwanzig Passagiere und um die hundertfünfzig polnische Männer (lehlülerden dahı yüzelli kadar adam) auf und verließ Malta. Nach vier Tagen er˙ ˘ reichten wir Gibraltar, an dessen Küste es genauso starke Strömungen wie im Bosporus gibt, so dass man sie nicht passieren kann. Die Strömungen bilden vom Atlantik kommend an der Küste Afrikas Strudel und gleichen denen im Bosporus. Im Mittelmeer gibt es keinen sonderbareren Ort (ag˙reb bir yer) als Gibraltar469, der nur aus kahlen Bergen und Felsen besteht (hı¯ç yes¸illiksiz tag˙ ve ˙ kayadan ʿiba¯ret). Zudem sieht Gibraltar aus wie ein Schuh (pabuc ¸seklinde), ˙ dessen hinterer Teil hoch ist. Die Küste ist die Spitze und an einer Seite ist er durch eine Lasche (dı¯l) mit Spanien verbunden. Die Burgen von Gibraltar sind in die Felsen gebaut und [die Besichtigung] dieser in Stein gehauenen Burgen dauert zwei Stunden. Alle zehn Schritte ist eine Kanone aufgestellt. Dass die Kanonen so aufgereiht sind, ist eigentümlich (g˙ara¯ʾiba¯tdan470 bulunmus¸dur). Dort gibt es viele Höhlen und uns wurde sogar die St. Michael Höhle gezeigt. Außer den erwähnten Burgen gibt es nichts weiter zu besichtigen, abgesehen von einer Einkaufsstraße (ça¯rs¸u¯), die eine Meile (bir mı¯l) lang ist. Auf den Dächern der Häuser sind Rinnen angebracht, um – wie in Istanbul – Regenwasser aufzufangen. Da es in Gibraltar keine Debatten um Zölle gibt (gümrük lakırdısı ˙ olmadıg˘ından), wird der Ort als Lager für die aus allen Herren Länder gelieferten Waren genutzt, und die Händler (erba¯b-ı tica¯ret) entkommen dadurch den Zollkosten. Weil das die Durchgangspassage nach Marokko und Algerien ist, findet man hier die verschiedensten Leute. [7] Es gibt auch eine Truppe schot469 Im Text steht hier fälschlicherweise Malta. 470 Im Text wie folgt geschrieben: g˙ara¯yba¯tdan.
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tischer Soldaten, die auf ihren Köpfen große Kalpaks und an den Füßen kurze Strümpfe trugen und deren Schenkel nackt waren. Weil [ihre Aufmachung] den albanischen Trachten ähnelte, gefielen sie mir von allem am besten. Von dort gelangten wir471 an das Kap Trafalgar, vor dem das Schiff des berühmten Napoleon Bonaparte von den Engländern (I˙ngilterelüler) versenkt wurde. Am folgenden Tag erreichten wir gegen Mittag Lissabon, den Königssitz des Staates Portugal, um die verbrauchte Kohle durch neue zu ersetzen (kömür dökmekle almak içün). Auch wenn es für das Schiff Zeit war abzulegen, gewährte uns der ˙ Kapitän fünf–sechs Stunden. Wir bestiegen mit ein paar Freunden die Wagen und fuhren umher. Die Straßen von Lissabon sind weder breit noch gerade und zudem auch noch sehr steil. Die Straßen eines Viertels, das auf einer Anhöhe lag, waren sehr schön in Form eines Schachbretts (s¸atranc resminde) angelegt. In ˙ einem Geschäftsviertel mit dem Namen [Rua] Augusta waren die Plätze der Juweliere, Kurzwarenhändler und anderer anständigen Gewerbetreibenden (temiz esna¯f) und auch der Platz, an dem der Markt aufgestellt wurde, war recht ˙ passabel und schön gestaltet. Ihre Ausflugsorte waren ebenfalls nicht schlecht. Auch wenn sie mir damals sehr schön erschienen, so reichten sie aber nicht an die Gärten und Parks heran, die ich später noch zu sehen bekommen sollte. Daher stehen sie jetzt, infolge meiner gestiegenen Erwartungen, sehr weit unten. In den Gärten mit Maulbeerbäumen und anderen Obstsorten rings um die Stadt wurden schöne Villen (kös¸kler) errichtet, deren Besitzer kommen, um sich dort auszuruhen. Diese schönen Häuser (ha¯neler) habe ich [ jedoch] selbst nicht gesehen. In ˘ der Stadt gibt es viele Halunken und Bettler. Die Halunken belästigen einen von der einen, die Bettler von der anderen Seite. Die Bettler legen ihre Wunden bloß, halten sie einem ins Gesicht, strecken sie entgegen und drängen einen dazu, ihnen Geld zu geben. Und die anderen ergattern sich mit verschiedenen Belästigungen welches. In der Stadt gibt es keine Brunnen und keine Müllmänner. Der Müll wird allerorts auf die Straße geworfen und man wartet, bis der Allmächtige (hak) es regnen lässt und der Müll vom Regen fortgetragen wird. ˙ ˙ Aufgrund der Wasserknappheit gibt es viele Wasserverkäufer, von deren Rufen man gestört wird. In der nächsten Nacht erreichten wir den Golf von Biskaya, ein heikler Ort, [8] an dem die Wellen des Meeres am stärksten schlagen und die Schiffe große Mühe haben, ihn zu passieren, und bei starkem Wind viele Schiffe versinken. Schließlich erblickten wir am sechzehnten472 Tag nach unserer Abreise aus Istanbul (Der-saʿa¯det) von weitem im Nebel die Küste Englands und einen Fel471 Im Text erste Person Singular. 472 Turan weist in seinem Werk darauf hin, dass sich der Autor hier bei der Berechnung der Tage vertan haben muss, da das Schiff zwanzig Tage nach seiner Abfahrt, nach Aussagen englischer Zeitungen nämlich am 28. Mai 1851, in England angekommen sei. Turan: Seyahatname-i Londra, FN 8 in der Übersetzung auf Seite 40.
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sen, der wie mit Kreide umrandet war, und auf dem offenen Meer umherfahrende Fischerboote. Am nächsten Tag erreichten wir endlich den Hafen von Southampton. Als wir an Land gingen, wurden wir [hier] im Gegensatz zu Malta weder nach unserem Pass (pasaport) noch nach einer Zollbescheinigung gefragt und auch keiner belästigte uns damit, in sein Boot zu steigen (benim kayıg˙ıma gel ˙ deyü). Jeder war mit seiner eigenen Arbeit beschäftigt. Nur diejenigen, die nichts zu tun hatten, blickten, da wir Ausländer (ecnebı¯) waren, mit Staunen (hayra¯n ˙ hayra¯n) auf unsere Kleidung. Am Zoll durchsuchten sie sehr gründlich unsere ˙ Sachen, um sicherzugehen, dass wir keinen Tabak und solche verbotenen Dinge mit uns führten. In der Gaststätte (lokanda), in die wir auf Empfehlung des ˙ Kapitäns gingen, hatten sich die Polen, die mit uns reisten, Emigranten, die schon vorher gekommen waren, und verschiedene Reisende aus Amerika und Europa eingefunden, so dass es keinen Platz mehr gab. Mit Mühe haben wir uns in eine Ecke gedrückt und so beobachtete ich die vielen unterschiedlichen Leute dort. Es ist bekannt, dass Southampton, wo zahlreiche Schiffe mit verschiedenen Waren aus Indien und anderen Gegenden ankommen, ein wichtiger Handelsort ist. In diesem Gedränge sprach niemand ein Wort, aber der ein oder andere wunderte sich (tahayyürde kalur) über meinen Fes, den ich aufhatte (bas¸ımızda fes ol˙ ˙ mag˙la), und fragte sich, was denn dieses rote Ding wohl sei. Als wir uns schließlich erhoben, um nach London weiterzureisen, wurde mir meine Tasche (çantamı) gestohlen. Ich geriet in Panik (elim ayag˘ım tutus¸ub) und als ich »Um ˙ ˙ Gotteswillen, Señor (senyor)! Meine Tasche wurde gestohlen. Was soll ich tun?« rief, verständigte der Gaststätteninhaber (lokandacı), der ein guter Mensch war, ˙ die Polizei. Nach kurzer Sucherei wurde der Dieb gefasst, meine Tasche gefunden und mir zurückgegeben. Er wurde für schuldig gesprochen und ins Gefängnis geworfen. Da mir diese schnelle Gerichtsverhandlung gefiel, wartete ich noch ein paar weitere ab und nach dem, was ich gesehen habe, muss der Angeklagte nach der Urteilssprechung, für den Fall, dass er schuldig gesprochen wird, Tausend g˙uru¯¸s zahlen. Diese Tausend g˙uru¯¸s kann er auch zahlen, indem er für sich einen Bürgen findet, und wenn er das nicht kann, muss er für drei Monate ins Gefängnis gehen. Dieses Verfahren hat mir sehr gut gefallen. [9] Auch wenn wir Southampton bei Sonnenuntergang mit der Eisenbahn verlassen hatten, konnten wir, als wir London erreichten, nichts mehr sehen, da es schon Nacht geworden war. Zuerst gingen wir ans Ufer, wo fünf bis zehn aneinander gebundene Wagen standen, an deren Spitze ein Dampfwagen rauchte (vapur ʿarabası yanar oldı). Wir wurden im letzten untergebracht (bizi kıçtaki ʿarabaya koydılar). Sobald alle eingestiegen waren, fuhr die Eisenbahn in Windeseile los und glitt dahin. Orte und Plätze flossen geradezu wie Wasser an uns vorbei, während wir blieben, wo wir waren, und dennoch war es so, als flögen wir. Wir sahen sogar die dünnen Drähte, die Telegraf genannt werden. Damit keine Tiere und ähnliches unter den Wagen kommen, gab es Wächter mit seltsamer Kleidung (kılıfı pek tuhaf olub), ˙ ˙
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die während dieser schnellen Fahrt ihre Arme herausstreckten und aufpassten.473 Schließlich erreichten wir London und kamen ins Zentrum. Ein Franzose namens Monsieur Renaud (mösyö Rı¯no), der zwar kein Türkisch (Türkçe) konnte, ich aber etwas Französisch (Fransa lisa¯nı), unterhielt sich ein wenig mit mir und wir freundeten uns an. Da er London gut kannte, brachte er mich zu einem Gasthaus. Ich legte mein schweres Gepäck (ahma¯l ü iska¯lim) ab und ruhte mich ˙ ein wenig aus und dazu war offen gestanden die Aufnahme und Bewirtung sehr gut. Ich sah, dass dies ein feiner und hübscher Ort war, an dem alles, wie bei uns in den Nächten zum Fastenmonat Ramadan (ramaz˙a¯n), mit Öllämpchen geschmückt und mit Petroleumlampen hell (gündüz mı¯sa¯li) erleuchtet war. Da ich nicht länger warten konnte, verließ ich alsbald mit dem Franzosen das Gasthaus und wir gingen voller Bewunderung (hayra¯n hayra¯n) durch die Stadt. Vor allem ˙ ˙ gefielen mir die verschiedenen ansehnlichen Vorführungen der Apotheker, die sie darboten, indem sie hinter mit buntem Wasser gefüllten runden Schalen Kerzen anzündeten. Auch wenn mir alles in London gut gefallen hat, habe ich doch keine schöneren Gebäude als die der Wirtshäuser (meygede) gesehen. Da sich die Engländer zum Unterhalten in Wirtshäusern treffen (I˙ngilizleriñ soh˙ ˙ betga¯hları meygedeler oldıg˙ından), ist die Zahl der ein- und auskehrenden Frauen und Männer (karı ve erkek) immens, und auch am Ladentisch arbeiten ˙ vor allem Frauen. Rakı (ʿarak) 474 und andere alkoholische Getränke werden [den ˙ Kunden] nicht wie in den griechischen (Ru¯m) Tavernen aus Fässern, sondern aus Schläuchen am Ladentisch den Kunden, je nach Wunsch, [10] eingeschenkt. Da diese Engländer (bu ˙Ingilizlüler) in nichts Charakterstärke zeigen, überschreiten sie auch was Essen und Trinken anbelangt das vernünftige Maß. Schließlich sind wir am Abend mit dem bereits erwähnten Monsieur Renaud fast eine Stunde gemeinsam unterwegs gewesen. Obgleich in manchen Gegenden Londons die Straßen wegen der Belästigung durch Prostituierte (fa¯his¸eleriñ sarkındısından) ˙ ˙ ˙ nicht zum Spazieren gehen geeignet waren, gibt es für solche wollüstigen Geschäfte keine gesonderten Plätze. Besucher (misa¯fir) wie wir übernachteten in Gasthäusern und so gingen der Franzose und ich gemeinsam in ein französisches Gasthaus475 und blieben die Nacht dort. Da ich bereits davon gehört hatte, wie teuer London sei, und mit meinen Ausgaben achtsam und sorgsam umzugehen hatte und eine behagliche Rückreise bedachte, fragte ich am Morgen gleich nach dem Aufstehen meinen erwähnten Gefährten (refı¯kim) in gebrochenem Fran˙ 473 Vor dem Einsatz des elektrischen Telegrafs waren Personen dafür zuständig, die Strecken auf Hindernisse oder entgegenkommende Züge hin zu beobachten. Siehe Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 32. 474 Der Autor verwendet diesen Begriff für türkischen Anisée wohl eher generell für alkoholische Getränke, da es kaum vorstellbar ist, dass es in englischen Kneipen zu jener Zeit Rakı gab. 475 Gemeint ist wohl das schon vorher erwähnte Gasthaus.
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zösisch (yarım lisa¯nla), wieviel g˙uru¯¸s die Miete betrüge. Er fragte den Inhaber auf Französisch und wir erfuhren, dass er wöchentlich zweihundertfünfzig g˙uru¯¸s verlangte. Aus Gefälligkeit meinem Gefährten gegenüber habe ich die eine Nacht, die ich dort geblieben bin, bezahlt, aber sonst konnte ich es mir eigentlich nicht leisten, so viel Geld auszugeben. Ich erklärte ihnen, dass ich in ein zwei Tagen [das Gasthaus] verlassen werde. Ich informierte mich bei anderen Gaststätten und erfuhr, dass aufgrund der Ausstellung (sergi) viele Leute aus den verschiedensten Gegenden angereist und dadurch überall die Preise angestiegen waren476, wohingegen sonst die Zimmer monatlich fünfhundert bis sechshundert g˙uru¯¸s kosteten. Da diese Kalkulationen in keiner Weise für mich geeignet waren, studierte ich eingehend die Preise. Denn Reisende (seyya¯h¯ın-i ʿa¯lem) wissen, dass auf der ˙ Welt jede Region ihre eigenen Regeln hat und keine stimmt mit der anderen überein. Die wichtigste Voraussetzung des Reisens ist, dass man bei der Ankunft von den Kundigen die Gewohnheiten vor Ort erfährt und sich dementsprechend verhält. Wenn ich keinen Umgang mit einigen der klugen Köpfe, die sich mit London auskannten, gehabt und kein Wissen über die Stadt erworben hätte, ich hätte fünf Mal so hohe Ausgaben gehabt. Als eine vorausschauende Person beunruhigte [11] die Vorstellung meinen bescheidenen Verstand, dass ich mich offensichtlich vollkommen in Unkosten stürzen würde, wenn ich in diesem Gasthaus bliebe. Aufgrund des geringen Preises mietete ich mir für vierhundert g˙uru¯¸s ein Zimmer bei einer vornehmen Familie (familya). Da mein vorheriger Aufenthaltsort eine Unterkunft eigens für Ausländer (ecnebı¯ler) war, betrachtete mich dort niemand [mit Argwohn], aber in dieser von mir gemieteten Unterkunft wohnten nur Einheimische (yerlüler) und die sahen mich alle böse (bed bed) an, zeigten auf mich und sagten dabei [verächtlich] »Türke« (Türk Türk). Es ging soweit, dass ich es leid war, das Wort »Türke« zu hören. Wie dem nun auch sei, war davon abgesehen der genannte Ort recht sauber und so blieb ich solange ich mich in London aufhielt dort wohnen und ging nur zum Essen in die Gaststätten. Wie Europa-Reisende wohl wissen (seyyah¯ın-i Avru¯pa¯nıñ maʿlu¯mları¯ ˙ oldıg˙ı üzere), sind die Engländer (I˙ngilizler) für ihr vieles Essen und Trinken bekannt. Während des Essens wollen sie nicht angesehen werden und schauen auch selber niemanden an, lachen und plaudern nicht. Da sie an nichts anderes denken als an Essen und Trinken, gibt es in der Gaststätte zwischen jedem Sitzplatz eine Schutzwand (parmaklık). Ihre Speisen bestehen aus Kartoffeln und ˙ ˙ Fleisch, das nicht durchgebraten und noch blutig ist. Dazu trinken sie Bier und Wein (arpa su¯yı¯ ve ¸sara¯b). Dadurch, dass sie sich nicht so vielseitig ernähren, profitieren nur ihre Körper davon. Im Vergleich zu anderen Europäern sind die Londoner (Londra a¯ha¯lisi) dermaßen fettleibig, dass der dicke Gemischt476 Im Text fälschlicherweise negiert durch die Formulierung »die Preise nicht angestiegen waren« (ücretlerini artırmag˙a sebeb olmayub).
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warenhändler gegenüber dem Brunnen von Karaköy im Stadtteil Galata neben diesen geradezu lächerlich wirkt. Und weil sie sonst während des Essens an nichts herankommen, sägen sie ein Loch in den Tisch, so dass ihr Bäuche hineinpassen. Es gibt sogar solche, die so enorm fettleibig sind, dass sie unfähig sind zu laufen und sich zu bewegen, und sie werden gegen Geld dem Volk vorgeführt. Die Londoner messen ihren Handelsgeschäften so viel Bedeutung bei, dass sie zu ihrer Arbeit hasten, als eilten sie zu Bett. Es ist unwahrscheinlich, dass sie sich untereinander kennen. Da sonntags keine Geschäfte gemacht werden, sitzen sie rat- und tatlos da, mit tiefstem Bedauern darüber, dass sie an diesem Tag keinen Handel treiben können. Wie eine Herde (hayva¯na¯t birikindisi) versammelt sich ˙ die Händlerzunft (ta¯ʾifaʾ-i tücca¯ra¯n) zum Essen und Trinken in Punsch˙ Schänken (punçcu dükka¯nları), [12] wo keiner das Wort des anderen verstehen kann. Dadurch, dass die Londoner in ihrem Geschäftsleben so ehrgeizig sind, gibt es niemanden, der zu einem nach London Gereisten kommt und ein paar Worte mit ihm wechselt. Aber es gibt viele verschiedene Orte wie die Fabriken (fabrika), in denen die Kuriositäten der Industrie (sana¯yiʿ-i g˙arı¯be) produziert ˙ ˙ werden, und die großen Gebäude, die es wert sind, eine Reise dorthin zu unternehmen und sie zu besichtigen. Die Besucher verbringen ihre Zeit, indem sie diese jeden Tag besichtigen, und kehren mit einer Studie über Ruhm und Reichtum der Zivilisation und Menschlichkeit anhand dieser Kuriositäten der Industrie (sana¯yiʿ-i g˙arı¯be) und überraschenden Gegenständen (es¸ya¯ʾ-i ʿacı¯be) ˙ zurück. Das Gebäude, in dem ich wohnte, war das Wohnhaus eines Mannes, der bei einem Geldwechsler (sarra¯f hidmetinde bulunan) arbeitete. Seine Familie war ˙ ˘ sehr vornehm und bemühte sich stets um einen höchst ehrenhaften und respektvollen Umgang mir gegenüber. Wenn Freunde und Bekannte (ya¯ra¯n u ahba¯[b]) nach London kämen und hier blieben, bin ich mir vollkommen sicher, ˙ dass sie sich hier selbstverständlich bestens ausruhen und Zeit verbringen könnten und ihre Zufriedenheit darüber zum Ausdruck bringen würden. Mit den »Omnibus« genannten Wagen Englands (I˙ngiltere) ist es ein Leichtes, hierhin und dorthin zu fahren. Sie sehen wie Ochsenkarren aus, sind aber oben geschlossen und nehmen zahlreiche Personen auf. Vorne sitzt ein Fahrer (ʿarabacı) und hinten sind eine Treppe und ein weiterer Mann, und zwischen dem vorne und hinten ist eine Schnur gespannt. Wenn ein Zusteigender aus der Ferne seine Hand hebt, zieht der hintere Mann an der Schnur und der Fahrer hält sofort die Tiere an, um den Fahrgast für drei g˙uru¯¸s die Stunde einsteigen zu lassen. Dadurch, dass die Straßen so breit sind, stoßen die entgegenkommenden Wagen nie zusammen und rauschen sogar schnell in Windeseile dahin. Während meines Aufenthalts fiel mir bei einem Besuch im Theater (tiyatro) am Ende einer Opernaufführung eine Gruppe feiner Damen in reizenden Kleidern ins Auge. Als ich mich aufmachte sie kennenzulernen, richteten sie sich
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bereits an mich, und, ihr Wohlwollen und ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringend, machten wir uns gemeinsam auf den Weg. Auf eindringlichen Wunsch ihrerseits gingen wir alle zusammen in ein Lokal. Ich bestellte ihnen reichlich und zwar vom [13] recht teuren Essen. Als ich mich indes erkundigte und erfuhr, dass unsere Ausgaben tausend g˙uru¯¸s überschreiten würden, wurde mir klar, dass diese von der Sorte Frauen waren, die gerne leichtlebig ausgingen und verwöhnt waren. Daraufhin gab ich vor, hinaus zu gehen und ließ meinen Fes neben ihnen liegen, um dann ebenso schnell die Flucht zu ergreifen und erst wieder vor meiner Unterkunft zum Stehen zu kommen. Nachdem ich so weitere fünfzehn Tage verbracht hatte, traf ich zufällig einen vornehmen Araber (evla¯d-ı ʿArabdan bir zarı¯f adam) mit sehr guten Englischkenntnissen. Da ich selbst Arabisch kann, ˙ haben wir uns unterhalten und uns gut verstanden (o benden ben ondan mahzu¯z ˙ ˙ olub). Wir trafen uns am Stadtrand von London und besichtigten gemeinsam tagein tagaus viele Orte. Als ich einmal in Europa fast in Geldnöte geriet, überstand ich diese Dank seiner Hilfe. Lassen Sie uns nun zu der Ausstellung (sergi) kommen, die von Zeit zu Zeit in England eröffnet wird und von denen es recht viele gibt. Dort werden Tiere, Getreide, Pflanzen, verschiedene Vogelarten und derlei Dinge ausgestellt und in großem Maße Handel mit ihnen betrieben. Man bemühte sich Handel, Gewinn und Profit zu fördern, indem den Interessenten durch ganz unterschiedliche Vergünstigungen Vorteile gewährt wurden. Als vor drei Jahren in Frankreich die Ausstellung eröffnete wurde, die alle fünf Jahre stattfindet und nur Waren aus Frankreich ausstellt, wurden ein paar Mitglieder der englischen Handelskammer (maʿaku¯d ve niza¯ma¯t-ı tica¯ret ve mukayyıda¯tına mahsu¯s meclis), von der später ˙ ˙ ˙ ˙˙ ˙ noch die Rede sein wird, nach Paris geschickt. Sie fassten alle von ihnen beobachteten Handelsgeschäfte schriftlich zusammen und brachten [die Dokumente] nach London, um sie Prinz Albert477 vorzuzeigen. Die Organisation einer allgemeinen Ausstellung (ekspozisyon) speziell für England wurde genehmigt und ˙ zur Abstimmung dem Parlament (meclis) vorgelegt. Prinz Albert wurde mitgeteilt, dass nichts einzuwenden sei, solange diese Angelegenheit ausgeführt wurde, indem man vom Volk Geld sammelte. Sollte es aber dem Staat (devlet) schaden, könne die Ausstellung nicht akzeptiert werden und müsse daher abgelehnt werden.478 Es erstaunte (tahayyür) mich, über diesen Umgang mit dem Prinzen ˙ zu hören, war er doch der Gemahl der königlichen Majestät und die einflussreichste [Person] Englands. 477 Ehemann Königin Victorias, der von 1819–1861 lebte. 478 Die Finanzierung der Ausstellung stellte sich als ein Problem dar. Die britische Regierung lehnte es einerseits ab, öffentliche Mittel zur Verfügung zu stellen, machte es aber andererseits für die offizielle Anerkennung des Vorhabens zur Voraussetzung, dass eine solide Finanzierung gewährleistet war. Eine Anleihe auf dem privaten Kapitelmarkt löste das Problem fürs erste. Siehe Kretschmer: Geschichte der Weltausstellungen, S. 25.
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Die erwähnte Handelskammer (tica¯ret meclisi) hat meinen Recherchen zufolge (tahk¯ıkime göre) eine beratende Funktion (bezl-i efka¯r ve müta¯laʾa olu˙˙ ˙ ˙ nacak mahall) bei der Durchführung der Handelsangelegenheiten und deren ˙ ˙ Entwicklung. Konkret heißt das, welche Fabrikate, [14] Lebensmittel etc. in welche Länder geschickt werden sollten, damit der Ertrag steigt, was auf dem Markt eine große Nachfrage hat, durch welche Produkte die Staatskasse Gewinn erzielen wird, was aus den anderen Ländern eingeführt und ins Ausland geschickt werden soll, damit der Handel wächst, kurzum das Vermehren des Gewinns aus Import und Export ist die Aufgabe der besagten Kammer. Nachdem es über das Vorhaben der Londoner Ausstellung (Londra sergisi) reichlich Gerede und Meinungsverschiedenheiten gegeben hatte, fragte man sich, auf welche Weise die verschiedenen Exponate für die Ausstellung [überhaupt] gesammelt werden sollten, und es hieß, dass [alle] eingehenden Vorschläge ergebnislos sein würden. Daraufhin äußerte die Bevölkerung ihre Bedenken und erhob Einwände. Als auch die Mitglieder der Kammer im Begriff waren, sich [von dieser Idee] abzuwenden, verkündeten fünf wohlhabende Leute (eg˙nı¯ya¯dan bes¸ za¯t), dass diese [Ausstellung] in jeder Hinsicht viel Nutzen mit sich bringen würde. Allein eine Person mit dem Namen Monsieur Peto unterschrieb eine Verpflichtungserklärung (taʿahhüd senedi), fünfzigtausend Lira479 beizusteuern.480 Die anderen taten es ihm gleich, woraufhin [auch] die Bevölkerung begann, im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten (ʿala¯ hadduhum) Geld zu ˙ spenden (iʾa¯ne akçası) 481. ˙ Nachdem die Angelegenheit geklärt war, wurde allen anderen Ländern mitgeteilt, dass ihnen mit der Unterbreitung ihrer Fertigkeiten und Waren auf der Ausstellung (sergi) ein Privileg zuteilwerden würde. Man glaubte jedoch nicht gleich daran und da insbesondere die Amerikaner (Amerikalular) gegenüber ˙ allen anderen in Sachen Kunstfertigkeit überlegen sind, meinten die Engländer, dass durch diese List von ihnen mit Leichtigkeit technische Fertigkeiten gestohlen würden. Daher schickten sie sich an, sich zurückzuziehen, weshalb mit dem Bau [des Ausstellungsgebäudes] gar nicht erst begonnen werden konnte. Durch die Überzeugungskraft der Franzosen (Fransalular), der Zustimmung 479 Der Autor meint wohl Englische Pfund. 480 Samuel Morton Peto gehörte zu den führenden Londoner Finanz- und Geschäftsleuten, die vor allem im Eisenbahnbau im In- und Ausland hervortraten. Neben Arthur Kett Barclay, William Cotton, Sir John William Lubbock und Baron Lionel Nathan Rothschild war er einer der Schatzmeister des von der Society of Arts eingerichteten Preisfonds und Mitglied des Finanzkomitees. Der von der Royal Commission eingerichtete Garantiefonds zur Finanzierung der Ausstellung nahm mit einer von Samuel Morton Peto eingereichten Summe von 50.000£ seinen Anfang. Siehe Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 57 und 82. 481 Die Society of Arts war für die finanzielle Durchführung der Ausstellung unter anderem auf Spenden angewiesen. Siehe Haltern: Die Londoner Weltausstellung, S. 51.
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kluger Köpfe und der Unterstützung der Exzellenz Louis Napoleon und anderer Herrschaften kam die Angelegenheit doch [noch] zustande. Daraufhin wurden einige Londoner Ingenieure einberufen und es wurde eine günstigere Errichtung [des Gebäudes] besprochen. Nachdem der Vorschlag von einem aus ihren Reihen, eine außerordentlich elegante Konstruktion nur aus Eisen und Glas zu errichten, angenommen wurde, begann man mit dem Fundament des Gebäudes und baute dieses [auch] zu Ende.482 Genau wie man »Isfahan ist die halbe Welt« (I˙safaha¯n nısf-ı ciha¯n) sagt, kann man jetzt über diese Stadt »London ist das ˙ ˙ halbe England« (Londra nısf-ı ˙Ingiltere) sagen. Wegen der vielen Menschen˙ mengen entzieht sich die Stadt jeder Beschreibung (bir vasfa makru¯n göre˙ ˙ meyerek). [15] Zumindest kann ich sagen, dass das Wort »Ausstellung« (ekspozisyon) auf ˙ den Straßen, in den Gaststätten, Häusern und Läden nicht mehr wegzudenken war, so dass nichts anderes mehr gesprochen wurde als beispielsweise »Wem gehört der kommende Wagen? – Zur Ausstellung. Und diese Geschäfte? – Zur Ausstellung. Und dieses Lokal? – Zur Ausstellung.« Es ging sogar soweit, dass man die Namen mancher Leute vergaß und nur noch von der Ausstellung sprach. Beim Zusammentreffen mit einem Freund wurde das Wort »Ausstellung« schon ausgesprochen, bevor man nach dem Wohl fragte. Samstags, montags und donnerstags konnten die wohlhabenderen Leute für dreißig und an den anderen Tagen die ärmeren Leute eine Eintrittsgebühr (duhu¯lı¯ye) von vierzehn g˙uru¯¸s ˘ entrichten und die Ausstellung besuchen. Am Dienstag, den 12. Receb des Jahres 67483 stieg ich mit meinem484 Reisebegleiter485 an dem Ort, an dem wir uns befanden, in einen als »cab« bezeichneten, seltsam geformten (ʿacı¯b-ül-s¸ekl) Wagen auf vier Rädern, mit zwei quadratischen Fenstern, dessen Fahrer oberhalb der Fahrgäste saß, und fuhren zum Serpentine See486, der nicht unweit des Ausstellungsgeländes lag. Die Gegend ähnelt den Kag˘ıthane-Wiesen.487 Endlich näherten 482 Das Baukomitee, welches als Unterkommission der Royal Commission mit der Planung des Ausstellungsgebäudes betraut war, hatte Architekten aus dem In- und Ausland dazu aufgefordert, Entwürfe für das Ausstellungsgebäude einzureichen. Es waren insgesamt 245 Zeichnungen und Skizzen, davon 38 aus dem Ausland eingegangen. Die Kommission entschied sich aber für einen eigenen Vorschlag, der bei seiner Bekanntmachung wiederum einen Schwall der Empörung auslöste. Nach einer langen Debatte, die fast zu der Aufgabe des Projektes führte, tauchte schließlich doch noch ein weiterer Entwurf auf, der angenommen und durchgesetzt wurde. Siehe Kretschmer: Geschichte der Weltausstellungen, 28f. 483 13. Mai 1851. 484 Wörtlich: unserem. 485 Gemeint ist der Franzose, den der Autor bereits mehrmals erwähnt hat. 486 Der See liegt im Hyde Park im heutigen Zentrum Londons. Damals wohl noch außerhalb des Stadtzentrums. 487 Kag˘ıthane, ein historischer Stadtteil Istanbuls, war zur Zeit des Osmanischen Reiches ein beliebter Ausflugsort, der sowohl zu Feierlichkeiten als auch zur Erholung genutzt wurde. Siehe Aktepe, Münir: »Kag˘ıthane«, in: TDVI˙A 24, S. 166–169.
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wir uns dem Ausstellungsgebäude, das schon von weitem zu sehen war und wie ein Kreuz488 aussah. Auf seinem Dach waren in Reihen Flaggen angebracht. Ich betrachtete es eingehend. An einer der acht Türen, von denen jeweils vier Eingänge und vier Ausgänge waren, entrichteten wir unsere Eintrittsgebühr. Nach dem Erhalt unserer Tickets (bilyet) und eines Übersichtsplans (taʿrife) gingen wir hinein. Ich wusste nicht, wohin ich schauen sollte, so dass mein Kopf sich drehte und ich so verblüfft (mütehayyır) war, dass ich aufgrund meiner Verwirrtheit ˙ (s¸as¸kınlıg˙ımdan) sogar meinen Reisebegleiter verlor, infolgedessen mir die Be˙ sichtigung an jenem Tag nicht viel einbrachte. Dennoch lief ich ein wenig umher und betrachtete die von den Ländern und Regierungen (düvel ü hüku¯met) ge˙ sandten Waren und Güter, die an unterschiedlichen Stellen ausgestellt waren. Die Exponate der Hohen Pforte (devlet-i ʿalı¯ye) waren neben den Aufgängen zur mittleren und zweiten Etage ausgestellt und mit der erhabenen Tughra489 seiner Majestät des Kalifen veredelt. Ich habe gesehen, dass sie ordentlich aufgereiht waren und sich rechts und links davon Waffen und albanische Kleidung befanden. Mir ist aufgefallen, dass den anderen Ausstellungstücken nicht so viel Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde wie einem »Ku¯h-e Nu¯r« genannten Edelstein490 in Form eines Eies, welcher der Königin [16] zuvor als Geschenk aus Indien überreicht worden war, und um den zu sehen sich die Besucher gegenseitig drängend in einer Menschenmenge bewegten. Außerdem erregten ein mit einem wohlriechenden Wasser gefüllter herrlicher Springbrunnen aus Preußen, ein aus Elfenbein geschnitzter Stuhl aus Indien, eine Druckmaschine, bei der das Papier nicht – wie wir es kennen (bildig˘imizce) – einfach flach aufgelegt, sondern von oben nach unten eingelegt und gedruckt wurde, und das Arbeiten eines wasserbetriebene Rades, das neunzigtausend Kantar491 Last heben kann, mehr Aufsehen als alles andere. In der Tat ist alles eine Rarität und besonders die Schnitzarbeiten an einem Bücherschrank, einem Stuhl und einem Sofa sind so unbeschreiblich (taʿrı¯f kabu¯l e˙tmez), dass ich davon ausgehe, dass sie einmalig ˙ sind. Auch die von den Mexikanern (Meksikalular) aus Bienenwachs herge˙ 488 Das Ausstellungsgebäude, fast vollständig aus Glas und Eisen konstruiert, bestand aus drei Längsschiffen, die stufenförmig aufeinander folgten und wiederum in ihrer Mitte durch ein Querschiff (Transept) in je eine östliche und westliche Hälfte geteilt wurden. Der Grundriss und die Architektur des Gebäudes wurden daher mit der Kreuzform einer Kathedrale und ihren zwei Seitenschiffen verglichen. Zum Aufbau des Gebäudes siehe: Kretschmer: Geschichte der Weltausstellungen, S. 18 und 72f. und Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 167. 489 Namenszug des Sultans. Siehe Steuerwald: »tug˘ra«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 952. 490 Ku¯h-i Nu¯r , wörtlich: »Berg des Lichts« ist der Name eines großen Diamanten, über dessen Herkunft sich die Forscher nicht einig sind. Erwähnung findet er erstmals 1656. Siehe Steuerwald: »Kûhinur«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 561 und Arnold, T. W.: »Ku¯h-i Nu¯r«, in: The Encyclopaedia of Islam, S. 23. 491 Gewichtseinheit, 1 yeni kantar (eine neue Kantar) entspricht ungefähr 100 Kilo. Siehe Steuerwald: »kantar«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 482.
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stellten winzig kleinen Puppen, die sie ihrer Volksgruppe gemäß angekleidet haben, gefielen mir überaus gut. Obwohl es eigentlich notwendig wäre, meine Beobachtungen bei jedem Ausstellungsbesuch zu wiederholen und ausführlich zu beschreiben, wurden sie hier zusammenfassend behandelt. Auf der Ausstellung (sergi) selbst kommt es nicht zu Diebstählen (sırkat), aber ˙ draußen bieten sich den Taschendieben (yan kesiciler) aufgrund des Gedränges viele Gelegenheiten. Obwohl die Polizeiangestellten (z˙abıt¯ıye ma¯ʾmu¯rları) auf˙ passen und sich bemühen, gelingt ihnen der Diebstahl (hırsızlık) durch ver˙ ˘ schiedene Listen, die sich jeder Beschreibung entziehen (taʿrı¯fe gelmez). Es sind darunter Gaunereien solcher Art, die den Schneidern verhelfen Geld zu verdienen, indem Gehröcke von Männern mit spitzen Haken aufgeschlitzt werden, so dass die armen Männer ihre Gehröcke von einem Schneider wieder nähen lassen müssen. So bedient sich dieser Diebstahl nicht Gewalt noch Schlägen, sondern kann als List (çabkınlık) gesehen werden. Ich möchte von dem ˙ ˙ Schwindel, den ich vorher noch nie gesehen und von dem ich auch noch nie gehört habe, nun da ich ihn hier sehe und höre, detailliert berichten. Eine Bande hat dies förmlich zu ihrem Gewerbe gemacht. Wie in einer Schule versammeln sie Kinder an einem Platz und geben ihnen Puppen mit Glöckchen in die Hand und bringen ihnen bis zur Perfektion bei, sich diese gegenseitig umzuhängen und wieder wegzunehmen, ohne dass die Glöckchen [17] erklingen. Den Berichten der Cerı¯de-i Hava¯dis492 zufolge hat eine Bande, bevor sie nach London kam, der dortigen Polizei mitgeteilt, dass sie sehr durchtriebene Diebe seien, die kämen und vor nichts zurückschreckten, und dass sie sich auf etwas gefasst machen könnten. Es ist offensichtlich, dass, wenn diese – Gott bewahre – nach Istanbul oder in andere Städte kämen, es keine Rettung vor ihren Raubzügen (yag˙ma u g˙a¯retler) gäbe, da diese Diebe nicht von derart sind, die wir kennen. Pantoffeln und Schuhe zu stehlen oder den Fes vom Kopf zu entwenden hat für sie keine Bedeutung. Wir hingegen halten uns in Cafés, in der Moschee oder an Orten wie diesen auf, ohne Acht zu geben, gerade so, als befänden wir uns zu Hause. Eine andere Bande kommt zu den Polizisten und fleht sie an: »Lassen Sie uns doch bitte zur Besichtigung auf die Ausstellung, wir werden auch wirklich nichts stehlen!« Dies ähnelt der bekannten Erzählung vom Schlosser, zu dem solch ein Dieb kam und sagte: »Nimm so viel Geld (g˙uru¯¸s) wie du willst von mir, aber mach mir ein praktisches Werkzeug, mit dem ich Taschentücher und so weiter aus Taschen stehlen kann.« Gesagt getan, stahl er als erstes die Geldbörse des Schlossers aus dessen Hosentasche, und der arme Schlosser blieb verdutzt zurück. Die Echtheit dieser Geschichte kann ich damit bestätigen, dass mir meine Handschuhe aus der Tasche gestohlen wurden. Die von diesen Dieben meist 492 »Nachrichtenzeitung«, Name einer der frühesten türkischen Zeitungen (gegr. 1840). Siehe Steuerwald: »ceride«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 153.
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angewandte Taktik ist jedoch, zu mehreren an einem Ort einen Streit anzufangen, bis sich Leute um sie versammeln, an denen sie dann frei Diebstahl begehen können. Dann gibt es auch manche [Leute], die zur Ausstellung gehen, aber ohne den unteren Teil ihres Gehrocks, sondern nur noch mit einem Gehrock in Form eines Oberhemdes bekleidet nach Hause zurückkehren. Manche Diebe reihen sich auch zu acht bis zehn Personen hintereinander auf, treten in eine Menschenmenge ein und setzen ihren alten Hut einem Mann mit neuem Hut auf. Dessen [Hut] geben sie dann ihrem Hintermann weiter, der sich damit davon macht. Sie selbst setzen den alten Hut ihres nächsten Hintermannes auf, halten diesen fest an ihren Kopf und sagen dem von ihnen bestohlenen Mann (herif) ˙ direkt ins Gesicht: »Es sollte jeder so flink wie ich reagieren und seinen Hut nicht einfach stehlen lassen.« Da in Europa in allen Bereichen stets Fortschritte [18] gemacht werden, werden auch beim Diebstahl zahlreiche Werkzeuge verwendet. Wer weiß, vielleicht ist es auch hier bald möglich, Dampfkraft (vapur kuvveti) ˙ einzusetzen! Engländer sind untereinander keine [guten] Freunde (I˙ngilizler biri birine ya¯r olmayub) und da sie außer einem Gruß keine Anstalten machen, ihre Bekanntschaften zu vertiefen, ist es nicht möglich, jemanden, den man schon seit zig Jahren (kırk yıl) sieht, zu treffen oder auf der Straße auch nur einen Gruß zu ˙ ˙ äußern (u¯g˙u¯rlar olsun de˙mek), wenn nicht einer der engsten Freunden (eʿazz ahibbasindan bir kimse) vermittelnd eingreift und einem die Person [mit den ˙ Worten] »das ist Herr Soundso, er ist solch eine Person« vorstellt. Da sie vor allem auch keine überflüssigen und unnützen Wörter wechseln, geschah Folgendes, als ich bei der Rückkehr von der Ausstellung mit meinem Reisebegleiter einen Freund (du¯st) von mir traf. Als ich ihn mit den Worten »Mas¸allah493, woher kommst du?« begrüßte, kniff mich mein genannter Begleiter und gab mir Zeichen, die »Sei still! Was machst du?!« heißen sollten. In diesem Moment entstand sofort eine angespannt Situation, die zu einem Streit hätte ausarten können. Nachdem der Mann weggegangen war, drehte sich mein Begleiter um und warnte mich mit den Worten: »Bist du denn verrückt? Engländer (I˙ngilizler) sind nicht wie andere. Stell bloß nicht solche Fragen!« Auch wenn eine Freundschaft (du¯stluk) entstanden ist, gehört es dennoch nicht zu ihren Sitten, dass man zu ˙ ihnen nach Hause gehen kann, wann man möchte, und essen und trinken kann, was man möchte. Das Schönste ist jedoch, dass es insbesondere diese erzwungenen Freundschaften nicht gibt. Während England doch gerade an der Spitze der Zivilisation (kema¯l-ı medenı¯yet) steht, verwunderte mich (mu¯ceb-i taʿaccüb), dass die Bevölkerung derart bekümmert (mera¯klı) ist. Ich sann darüber nach und musste feststellen, ˙ 493 Ausdruck der Bewunderung oder des Lobs, zur Abwertung des bösen Blicks. Wörtlich: »Was Gott gewollt hat«. Siehe Steuerwald: »mas¸allah«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 612.
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dass sich seit meiner Ankunft in London auch mein Zustand verändert hatte. Da in England der Himmel stets bedeckt ist und man kein Sonnenlicht zu sehen bekommt, befällt Schwermut die Menschen und schließlich werden sie melancholisch. Auch ich werde jeden Tag von dieser Schwermut ergriffen. Und weil diese Melancholie immer mehr zu einer Niedergeschlagenheit wird, hört man täglich über hundertmal, dass sich wieder Leute erhängt, ins Meer geworfen, sich erwürgt oder von einem hohen Gebäude gestürzt haben. Da wir in der Mehrheit im Osmanischen Reich (mema¯lik-i ʿOsma¯nı¯ye) es nicht gewohnt sind, solche unschönen Nachrichten zu vernehmen, sind wir davon äußerst ergriffen. Kurz gesagt, ist es bedauerlich, dass das Leben der Engländer (I˙ngilizler), wo sie doch Literaten sind, [19] einen solchen Verlauf nehmen muss.494 Eines Tages brachte mich mein Reisebegleiter dorthin, wo der Fluss mit dem Namen Themse fließt, und führte mich ein wenig herum. Das dortige Verfahren hat mir sehr gut gefallen, denn auf beiden Seiten des Flusses gibt es »dock« genannte große Bassins (havuz˙), an denen sich die Zollstationen befinden. ˙ Schiffe, die aus Amerika oder Indien mit Waren und Gütern beladen einfahren, gelangen von besagtem Fluss direkt in die Bassins. Nachdem ihre Ware abgeladen und dem Zoll vorgeführt wurde, wird die vom Händler gebrachte Fracht mithilfe von Bürokraten (ma¯ʾmu¯rlar) ordentlich verkauft und der Gewinn (akçeleri) 495 ˙ dem Besitzer ausgezahlt. Die übrig gebliebene Fracht wird später beglichen. * In London gibt es mehr als fünfzehn Theater, von denen das hervorragendste den Namen der Königin trägt und wunderbar elegant ist.496 Es kann mehr als fünftausend Besucher aufnehmen und auf die Bühne passen über sieben- bis achthundert Darsteller. Dieses Theater ist sehr bekannt und da die Vorführungen viel Freude bereiten und die Königliche Majestät auch meist selbst anwesend ist, ist die Zahl der Zuschauer unüberschaubar (hadd ü hesa¯bı olmayub).497 Da das ˙ ˙ Theater nicht alle aufnehmen kann, stellen sich die Menschen sogar schon bis zu zweieinhalb Stunden vorher an und warten. Manche schicken jemand anderen an ihrer statt. Sie betreten alle wie die Soldaten in Reih und Glied langsam (sıra sıra ˙ ˙ yavas¸ yavas¸) das Theater und diejenigen, die jemand anderes geschickt haben, bekommen von diesen ihre Nummer (numero) und gelangen damit auf ihren Platz. Die Tatsache, dass der Eintritt für dieses Theater fünfundfünfzig g˙uru¯¸s 494 Vermutlich bezieht sich der Verfasser hier auf die Tatsache, dass England seit Voltaires Lettres philosophique von 1734 als »nation de philisophes« gilt. Siehe Wülfing: »Medien der Moderne«, S. 475. 495 Akçe bzw. akça (hier in der Pluralform) war die kleinste Silbermünze im Osmanischen Reich. ˙ dem dritten Teil eines para (S. FN 466). Siehe Steuerwald: »akça«, TürkischSie˙ entspricht Deutsches Wörterbuch, S. 20. 496 Gemeint ist »Her Majesty’s Theatre«. 497 Mitte der 50er Jahre verfügte London über mehrere Theater. Die Queen selbst besuchte diese regelmäßig zu Aufführungen. Siehe Seaman, Lewis Charles Bernard: Life in Victorian London, London 1973, 154ff.
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beträgt, ist für die Unterhaltung und Freude, die es vermittelt, recht preiswert. Da ich aber mit ein paar Freunden (üç dört arkadas¸ım) zusammen dort war, für die ˙ es zu teuer geworden wäre, jemanden an ihrer statt zu schicken, mussten wir uns wohl oder übel damit abfinden, uns gemeinsam anzustellen und zu warten, bis wir eintreten durften. Und als ich die Größe, vollkommene Eleganz und Schönheit dieses Theaters erblickte, und die Feinheit der »loggia« genannten gesonderten Plätze, die sich ringsum befanden, sah, schaute ich mich voller Bewunderung (maʿa al-istig˙ra¯b) sehr eingehend um, da ich vorher noch nie ein solch anmutiges Gebäude gesehen hatte. Es ist nicht üblich, im Theater Öllampen zu verwenden (ya¯g˙ yakmak), und da daher alles mit Petroleumlampen (kana¯dı¯l-i ˙ ˙ ˙ g˙az) [20] so sehr beleuchtet war, dass es nicht mehr ersichtlich war, ob es Nacht oder Tag war, gelangte ich an den Punkt, mein Zeitgefühl zu verlieren. Jeder, der es gesehen hat, weiß (görenleriñ maʿlu¯mu oldıg˙ı üzere), dass es zu den festen Gewohnheiten der Theaterbesucher gehört, an besonderen Tagen wie dem Sonntag schöne Kleidung anzuziehen und einen weißen Schlips, eine Weste und schwarze Hosen zu tragen. Wer sich nicht daran hält, wird zurückgewiesen und fortgeschickt. Besonders an dem Abend, an dem ich dort war, gab sich, weil auch die Königliche Hoheit498 kommen sollte, jeder besonders Mühe um die Einhaltung dieser Sitte. Als wir auf unseren reservierten Sitzen Platz nahmen und auf das Kommen der Königin warteten, wurde der Vorhang der verzierten Loggia, auf dem sich das kunstvolle der Königin eigene Wappen mit den Insignien des Königreichs befand, gehoben. Während sich vier- bis fünfhundert Darsteller in Reihen aufstellten und mit den übrigen Zuschauern das Eintreffen der Königin erwarteten, saßen alle still und leise [auf ihren Plätzen]. Und als die Königin eintraf, erhoben sie sich gemeinsam und mit dem Einsatz der Darsteller und des Orchesters begannen alle zusammen einer Soldateneinheit gleich wie aus einem Mund auf ihr langes Leben und Glück ein lobendes Gedicht und bekundeten ihr höchsten Gehorsam und Ergebenheit. Dass sie (bunlar) ihrer Königin solch Ehrerbietung und Gehorsamkeit entgegenbringen, hat mich dermaßen gerührt, dass ich hätte weinen können. Am Ende stand die Königin selber auf und gewährte den Umstehenden einen huldvollen Blick. Als der Vorhang geschlossen wurde, nahmen alle Platz und eine Viertelstunde später begann die Vorstellung. Als ich einmal in Istanbul die berühmte Oper »Robert der Teufel«499 besucht habe, hat sie mir so sehr gefallen, dass ich es bedauern müsste, hier in London so viel Geld fürs Theater ausgegeben zu haben, aber selbst wenn dieser Abend fünfzigtausend g˙uru¯¸s gekostet hätte, wäre ich wieder zufrieden hinausgegangen. 498 Im Text cena¯bları wohl versehentlich gedoppelt (kra¯lı¯çe cena¯bları cena¯bları). 499 Die von Giacomo Meyerbeer komponierte Oper˙Robert le Diable hatte 1831 ihre Uraufführung. Sie gilt als eine der erfolgreichsten Opern des 19. Jahrhunderts. Siehe »Opera«, in: Encyclopaedia Britannica online, http://www.britannica.com/EBchecked/topic/429776/ opera/27841/Grand-opera-and-beyond (23. 03. 2015).
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Denjenigen, die mit der Weltgeschichte vertraut sind, bleibt nicht verborgen, dass auf der unendlich weiten Welt jeder Staat und jede Regierung (her bir devlet ve hüku¯met), die bisher in Erscheinung getreten sind, sich in ihren Gesetzen und ˙ Regulierungen vom jeweils anderen unterscheiden und ihre inneren [21] und äußeren Angelegenheiten auf eigene Weise verwalten. Die Bezeichnungen von Regierungsoberhäuptern und deren Angestellten sind nicht gleich und alle haben verschiedene Bedeutungen und ein anderes Ansehen. Genauso war es während der Dauer meines Aufenthalts in London, so dass ich mir über die Art der Verwaltung und Führung des Staates England (I˙ngiltere devleti) Gedanken machte. Ich fragte und erkundigte mich bei manchen Personen, mit denen ich mich getroffen hatte, und ging oftmals zu den Regierungseinrichtungen (ma¯ʾmu¯rı¯yet mahalleri) und informierte mich so über die tatsächlichen Gegeben˙ heiten, um über sie urteilen und sie verstehen zu können. Über die Gesetze und Regulierungen dieses Staates (devlet) habe ich mich auf diese Weise in Kenntnis gesetzt und ich habe beobachten können, dass die königliche Hoheit die Größte der Engländer (I˙ngilizleriñ eñ büyüg˘i) und Oberhaupt des Volkes (raʾı¯s-i milletı¯) ist. Außer für den Ministerpräsidenten (bas¸ vekı¯l) wird keinem die Bezeichnung Minister (vükela¯) verliehen, wie es [sonst] in den übrigen Staaten und Regierungen (devlet ve hüku¯met) [der Fall ist]. Zum Beispiel wird derjenige, der den ˙ Posten des Außenministers (umu¯r-ı ecnebı¯ye neza¯retı¯) innehat, Erster Sekretär ˙ des Amtes für Außenangelegenheiten (da¯ʾireʾ-i ha¯ricı¯ye ser-ka¯tibı¯) genannt. ˘ Handel und andere Angelegenheiten werden den Vorsitzenden der jeweiligen Kammern in die Hand gegeben und auf diese Art gehandhabt. Der Staat (devlet) hat ein Parlament mit dem Namen »House of Commons«, das sich aus etwas über sechshundert Abgeordneten zusammensetzt, und ein weiteres Parlament (millet meclisı¯) der Adligen mit dem Namen »House of Lords«, das aus etwas über vierhundert Abgeordneten besteht. Die Mitglieder des Parlaments (meclis) wechseln alle sieben Jahre. Aus den »borough«500 genannten Bezirken und größeren Ortschaften werden Mitglieder gewählt und ernannt. Abgeordnete des Parlaments der Adligen werden aus den angesehenen Familien (büyük familyalardan) ausgesucht und zu ständigen Mitgliedern ernannt. Das englische Volk (I˙ngiltere a¯ha¯lisi) ist seit jeher in zwei Parteien geteilt. Die eine heißt »Tory« und die andere »Whig«. Während die Whig-Partei501 durchweg beabsichtigt, eine neue Verfassung (konstitusyon) durch die Erneuerung der alten Gesetze und ˙ Ordnungen zu entwickeln, ist das Hauptziel der Tory-Partei, die alten Methoden und Grundlagen zu festigen und beizubehalten. Zwischen ihnen herrschen permanent Konflikte und Animositäten, so dass die eine Seite wahrlich wie die Engländer (I˙ngiliz) und die andere wie die Franzosen (Fransız) ist. Da sie 500 Bezeichnung für die städtischen Wahlkreise. 501 Im Text steht hier fälschlicherweise die Tory-Partei.
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(bunlarıñ) jeweils der Meinung der anderen widersprechen und wann immer möglich [22] einander in böswilliger Gesinnung entgegentreten, besteht keine Möglichkeit einer Koalition. Die Königliche Hoheit befürwortet im Parlament das Mehrheitsprinzip und je nachdem, in welchem Teil sich die Mehrheit befindet, müssen alle Amtsträger aus diesem Teil gewählt werden. Wenn die genannten Amtsträger während der Debatten (tezekkür) keine Mehrheit erlangen, ¯ müssen sie selbstverständlich zurücktreten. Dann erhält die Führungsperson der anderen Partei eine Audienz bei der Königin und dieser wird auferlegt, erneut Mitglieder und Amtsträger zu wählen, indem sie ihre Parteigänger zusammenruft und ihnen die Ämter anbietet. Die Liste mit den Namen derjenigen, die zusagen, wird umgehend der Königlichen Hoheit überreicht. Die Ausführung dieser Ämter wird gemäß den gültigen Gesetzen durchgeführt.502 Gerichts- und Polizeiangelegenheiten werden indessen vom Volk geregelt und von Seiten der Regierung wird nicht interveniert. Jede Ortschaft hat seine eigene Polizeikraft, die einmal im Jahr wechselt. Auf Entscheid der Landbesitzer und Gewerbetreibenden wird unter den gebildeten Gewerbetreibenden ein intelligenter und umsichtiger Mann zum Bürokraten ernannt. Niemand mischt sich in die Erledigung der Angelegenheiten ein. Angelegenheiten werden [nämlich] so gehandhabt, dass jeder Bezirk Londons einen eigenen Verwalter (muhta¯r) hat, der ˘ alle Belange seinem Ermessen und seinem Geschick nach regelt. Es gibt ein 503 504 mahkeme-i ʿörfı¯ye und ein mahkeme-i millı¯ye . Im Falle einer Angelegenheit ˙ ˙ wird dieser zuerst dem mahkeme-i ʿörfı¯ye und dann dem mahkeme-i millı¯ye zur ˙ ˙ Prüfung und Entscheidung vorgelegt. Die Person, die – wie oben aufgeführt – gewählt wird, ist mit den örtlichen Polizeiangelegenheiten betraut und der Vorgesetzte aller Polizeikräfte. Er ist der Stadt London unterstellt, erhält ein Gehalt von zweihundertfünfzig g˙uru¯¸s und wird jedes Jahr [neu] gewählt. Bei der Wahl kommen alle hochrangigen Regierungsvertreter zur Gratulation. Die Königliche Hoheit überreicht ihm wohlwollend die Schlüssel der Stadt zur Aufbewahrung. Hiernach darf sich niemand, ob groß ob klein, gegen seine Befehle widersetzen und es ist auch nicht möglich, dass jemand wider die Gesetze des Landes [23] handelt. Mehr oder weniger unterrichtet er die Regierung über offizielle Angelegenheiten. Kurz gesagt, auch wenn die Wachangelegenheiten der Londoner Bevölkerung in Sektionen geteilt ist, ist ihr Zusammenhalt außerordentlich.
502 Die Erläuterungen zu den Parlamentswahlen und der Regierungsbildung bleiben hier leider etwas unverständlich. 503 In etwa »Gericht für Gewohnheitsrecht«, was aber als solches nicht existiert hat. Vermutlich spricht der Autor hier vom Court of Common Please (Gericht für allgemeine Angelegenheiten) als eines der Common Law Courts. 504 Landgericht, vermutlich Common Law Courts.
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Für diese Leute ist es ein unerhört schlimmer Umstand, für etwas Geld zu nehmen, das nichts mit Handel zu tun hat. Als nach [Abzug der] Ausgaben für die Ausstellung (ekspozisyon) sechzigtausendsechshundert kı¯se505 an Plus nicht be˙ legt werden konnten, wurde es zuerst als angebracht gesehen, diese den Gewerbeinhaber als Zugewinn für die Zurschaustellung ihrer Fertigkeiten zu bewilligen. Später wurde das aber für nicht angemessen erachtet und ich habe aus der Nähe miterlebt (karı¯n-i ittila¯ʿ olmus¸dır), dass dies lange diskutiert und ˙ ˙˙ erörtert wurde. Die Polizeiangelegenheiten werden von fünftausend Personen in angemessener Weise ausgeführt. Die Bevölkerung leistet vollkommenen Gehorsam (kema¯l-ı inkiya¯d ve muta¯ʿat kılınmakda). Die Polizeikräfte stehen in den für sie ˙ ˙ ˙ ˙ von Seiten der Polizeibehörde bestimmten Bezirken für ihre Aufgaben bereit. Ihre Aufgaben bestehen darin, aufgewiegelte Unruhen zu bekämpfen, diejenigen nach Hause zu schicken, die auf der Straße bleiben, weil sich ihnen vom vielen Verkehr der Kopf dreht,506 und bei ähnlichen Vorfällen gemäß der Gesetze, die für die Allgemeinheit gültig sind, zu handeln und auftretende Brände den Feuerwehrleuten zu melden.507 Es bedarf wohl keines Kommentars, dass sie – wie es auch ihr Amt gebührt – bei der Regierung und dem Volk aufgrund ihrer Stellungen beim Staat und Volk äußerst angesehen sind. Wie ich aus den Erzählungen mancher Leute, mit denen ich [Gelegenheit hatte,] mich zu unterhalten, erfuhr, hatten sich sogar einmal mehr als tausend Leute an einem Ort versammelt und sich erdreistet, Unruhen auszulösen. Sie wagten es, untereinander Streitigkeiten anzuzetteln. Knapp sechzig Polizeikräfte bemerkten diese Gruppe und trieben sie auseinander. Von den Unruhestiftern wurden sechzig Personen, die
505 Die ursprüngliche Form von kese, einem Beutel Gold (als Werteinheit von 500 g˙uru¯¸s). Siehe Steuerwald: »kese«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 518. 506 Neben der Luft- und Wasserverschmutzung stellte der Verkehr im damaligen London ein großes Problem dar. Die schmalen Straßen innerhalb der Stadt waren durch größtenteils ungeregelten Verkehr verstopft, wo sich Schlamm und Pferdedung mischte und die Sicht durch Ruß und dichten Rauch verschlechtert wurde. Siehe Seaman, Life in Victorian London, S. 59. 507 Eine Eigenheit der britischen Feuerwehr war der Einsatz von Polizeiangestellten als Feuerwehrmänner. Aufgrund von Brandgefahr und hohen Kosten für Brandschutz, wurde sich in manchen Städten dafür entschieden, Polizisten mit dem Löschen von Bränden zu beauftragen. Diese sollten für dasselbe Gehalt oder ein wenig Zuschuss bei einem Brand als Feuerwehrmänner eingesetzt werden und ansonsten weiter als Polizisten fungieren. Diese Regelung war deshalb attraktiv, da die Regierung eine finanzielle Unterstützung für die Polizeikräfte, aber nicht für Feuerbrigaden bewilligte. Neben den Polizeiangestellten gab es allerdings auch Angestellte der Versicherungsgesellschaften, städtische Angestellte und freiwillige Feuerwehrmänner. Diese Form der polizeilichen Feuerwehr bestand bis 1941. Siehe Blackstone, Geoffrey Vaughan: A History of the British Fire Service, London 1957, S. 146.
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der Auslöser für die Auseinandersetzungen waren, gefasst und auf die Polizeiwache (ba¯b-ı z˙abıt¯ıye) gebracht. ˙ Als ich eines Tages mit der Bahn spazieren fuhr, wollte sich eine Person aus dem reichen Umfeld beim Aussteigen vordrängen (bir ayak evvel dis¸aru çıkmag˙ı ˙ ˙ istemis¸). Der Polizist, der sich vor der Tür des Gefährts befand, hinderte ihn [ jedoch] daran, da der Reihe nach ausgestiegen werden sollte. Der Besagte fühlte sich in seiner Ehre verletzt und schlug den Polizisten. [24] Aufgrund dessen brachte ihn der Polizist gemäß der Vorschriften zur Polizeiwache. Vor Gericht wurde ihm eine dreimonatige Haftstrafe auferlegt. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Es ist ein Beweis dafür, dass die Verordnungen der Polizei von Tag zu Tag mehr Durchsetzungskraft erlangen. Eine große Stadt wie London wird dementsprechend von einer Polizeieinheit von fünftausend Mann verwaltet. Während meines Aufenthalts in London habe ich von zwei Streitigkeiten abgesehen keine Auseinandersetzungen mitbekommen, und diese sind aufgrund des Bemühens der Polizei sehr schnell behoben worden. Diejenigen, die es gesehen haben, wissen, dass man nicht genug davon bekommen kann, die Londoner Basare und Märkte wegen ihrer großen Eleganz und in den Läden und Geschäfte in Anbetracht ihrer Stabilität und Ordnung umherzustreifen und zu schauen und es einem dessen nie überdrüssig wird. Eines Tages sogar, als ich durch die Straßen lief, kam ich an einem Geschäft wie das eines Kurzwarenhändlers (tuhafcı) vorbei. Als ich hineinsah, erblickte ich ˙ Vitrinen mit kunstvollen Scheiben, in denen reihenweise Fleisch, auf dem der Preis geschrieben stand, ausgestellt war.508 Obwohl jedes kıyye509 acht oder neun g˙uru¯¸s entsprach, lief mir beim Anblick des an so einem schönen Platz ausgelegten fetten Fleisches das Wasser im Mund zusammen und ich blieb vollkommen verblüfft (mütehayyıra¯ne) stehen. Da ich auf dem Kopf einen Fes trug, erkannte ˙ der Metzger, dass ich ein Ausländer (ecnebı¯) bin. Er bat mich herein und gab mir mit Zeichen zu verstehen, dass er heute noch drei oder vier Ochsen schlachten werde. Ich trat ein und betrachtete den Laden eingehend. Rinder und Schafe werden in London an einem dafür eigens vorgesehenen Ort gehalten, und da sie nicht an Menschen gewöhnt sind, sind sie recht wild. Sobald sie einen Menschen erblicken, stürzen sie sich auf ihn und können ihn dabei, Allah510 bewahre, tödlich verletzen. Daher ist es sogar verboten, sie durch die 508 In den 50er Jahren waren für Waren in London allgemein feste Preise gültig, auch wenn die Produkte nicht unbedingt mit Preisschildern versehen waren. Der »typische Laden« war ein Einzelunternehmen wie der des hier beschriebenen Metzgers. Siehe Seaman, Life in Victorian London, S. 90. 509 Ebenfalls unter der Bezeichnung okka bekannte türkische Gewichtseinheit, die 400 dirhem ˙ ˙ Steuerwald, »okka«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, bzw. 1283 Gramm entspricht. Siehe S. 706 und Kallek, Cengiz: »Okka«, in: TDVI˙A 33 (2007), S. 338. 510 Es wird der Begriff »Allah« übernommen, wenn der Autor diesen verwendet. Alle anderen
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Stadt zu führen. Es ist nicht möglich, sie an den Beinen zusammenzubinden und zu schlachten, so wie wir es aus Istanbul kennen (bizim ˙Istanbulʿda gördig˘imiz gibi). Daher richten die Londoner Metzger kleine Hunde ab. Wenn ein Rind geschlachtet werden soll, bringen sie das Tier an eine bestimmte Stelle im Hinterhof des Ladens, die mit Gitterstäben umgeben ist und in dessen Mitte sich ein großer Ring befindet. Sogleich lassen sie zwei Hunde los, die dem Rind direkt an die Kehle gehen. Sie hängen sich wahrlich wie Blutegel fest, so dass es unmöglich wäre, die Hunde von ihm zu trennen. Das arme Vieh [25] versucht sie abzuschütteln, aber selbst wenn es sich zu Boden wirft, kann es sich von den Hunden nicht befreien. Nachdem es einige Zeit gekämpft hat, ist es so erschöpft, dass der Metzger ihm ein Seil um die Hörner legen kann, dessen Ende er durch besagten Ring zieht. Ganz langsam zieht er dann den Kopf des Rindes auf den Boden des Ringes, schlägt dann mit einem Beil, das wie eine Keule aussieht, solange auf die Stirn, bis das Tier ganz benommen ist und schneidet danach mit einem Messer, das wie eine Rasierklinge aussieht, die Kehle durch. Kurz gesagt, muss er sich, um ein paar Rinder zu schlachten, einen ganzen Tag abmühen (ah¸sama kadar ug˙ra¯¸sur). Die erwähnten Hunde sind so gut abgerichtet, dass sie ˙ ˘ ein Rind vor sich hertreiben und zu der Stelle bringen, wo sie es haben wollen. Aufgrund seiner tierischen Instinkte weiß das Rind, dass ein kleiner Hund – genauso wie er sich an seine Kehle geheftet hat – ihn auch töten könnte, daher widersetzt es sich nicht und lässt sich sogar von dem Hund vor sich hertreiben. Weil die Hunde Londons aggressiv sind, bekommen sie bei Spaziergängen ein Maulkorb (ta¯sma gibi bir kafesli ¸sey) um. Es gibt aber auch so gut erzogene ˙ ˙ Hunde, die wie ein Mensch alles verstehen, was gesagt wird, und darauf reagieren, so dass nur noch fehlt, dass sie selbst sprächen. Kurz gesagt, bin ich über folgendes erstaunt (taʿaccüb e˙derim). Als ich mir eines Tages angeschaut habe, wie in Beyog˘lu511 bei einem Rindermetzger ein Büffel (manda) geschlachtet wurde, sah ich, wie sich ein albanischer Metzger einen riesigen Büffel packte, ihn mit sich zerrte und mit einem Wurf auf den Boden beförderte. Er ergriff die Hörner und setzte sogleich das Messer an der Kehle an. Auf diese Weise hat er innerhalb einer Viertelstunde allein ein riesiges Rind geschlachtet. Wenn er bis zum Abend schlachten müsste, würde er vielleicht hundert Tiere schaffen. Obwohl das so ist, mühen sich die Londoner Metzger hingegen mit ihrer umständlichen Vorgehensweise beim Schlachten von zwei oder drei Tieren den ganzen Tag ab. Ich vermute, dass, wenn es die erwähnten Hunde nicht gäbe, sie noch erheblichere größere Schwierigkeiten hätten, ein Rind zu schlachten. Bezeichnungen für Gott wie zum Beispiel hoda¯ werden mit »Gott«, »Herr«, »Herrgott« oder ˘ ähnlich übersetzt. 511 Name eines historischen Stadtteils auf der europäischen Seite Istanbuls. Für weitere Informationen siehe: Tuncel, Metin: »Istanbul«, in: TDVI˙A 23 (2001), S. 240.
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An einem Ort mit dem Namen Greenwich512, der zweieinhalb Stunden von London entfernt ist, gibt es Heilbäder und elegante Badehäuser (ılıcalar ve zarı¯f ˙ hamma¯mlar). Die Stadtbevölkerung geht sehr häufig dorthin. Bei der Eröffnung ˙ der bis zu einer Woche dauernden Jahrmärkte finden allerlei Gauklereien, verschiedene Zaubereien und Spielereien statt. Da eine eingehende Erzählung zu ausführlich und dadurch langweilig werden würde, verzichte ich darauf, jedes Ereignis [26] einzeln zu erläutern, und berichte nur über manche von mir gemachten Erkundungen (tahk¯ıka¯t). ˙˙ ˙ So bin ich mit ein paar (üç dört) meiner neu gewonnenen Freunde (ahba¯b) ˙ also auf eine der kleinen Fähren (vapurlar) gestiegen, deren Gebühr drei bis vier g˙uru¯¸s beträgt und die alle halbe Stunde dorthin fahren, und wir haben uns auf den Weg gemacht. Es ist ohnehin ganz leicht [dorthin zu reisen], da man auch über Land mit der Eisenbahn fahren kann. Aber an dem Tag, an dem wir uns dorthin begaben, fuhren die Fähren alle fünf Minuten. Es war ein ziemliches Gedränge, aber [die Fahrt] verlief fröhlich. Auf der einen Seite des besagten Ortes befindet sich eine bewaldete Anhöhe. [Auf der anderen Seite] sind auf einem weiten Gelände Stände (ça¯dırlar) in Gruppen aufgestellt, zwischen denen Straßen und Wege verlaufen, wie bei unseren Schulfesten (?) und wie an den Fischtagen zum Osterfest der Christen. Wie bei uns die Zigeunergruppen (ta¯ʾifaʾ-i kıbt¯ıya¯) Affen und Bären zum ˙ ˙ ˙ Tanzen bringen, führen die Engländer (I˙ngilizler) wilde Tiere, kleinwüchsige Menschen und desweiteren sonderbare Gegenstände (ʿacı¯b-ül-heykel nesneler) vor und man kann sich alles wie im Theater, Zirkus und in Vergnügungslokalen ausgiebig anschauen. Indem alle Verkäufer wie beschrieben durch die Anordnung ihrer Stände Gassen schaffen, können die Handwerker ihre Waren an ihren Ständen anbieten. In einem Bereich (da¯ʾire) wurde etwas zur Wissenschaft der Chemie, das heißt mit einer Reihe von Arzneimitteln und Mineralien ausgestellt. Auch die Gaukler (hokkaba¯zlar) haben ihren eigenen Bereich. Das, was sie machen, bringt den ˙ ˙˙ Menschen an den Rand des Fassbaren (du¯ça¯r-ı vartaʾ-ı tahayyür). Wären sie in ˙ ˙ Istanbul, würde niemand mehr an etwas anderes denken und jeder müsste sein Leben damit verbringen, nur über die von ihnen dargestellten Sachen nachzusinnen. Als ich zum Beispiel sah, dass ein indischer Gaukler ein langes Schwert ganz langsam vollständig seinen Rachen hinuntergeschoben hat, so dass nur noch der Griff herausschaute, und dass das Schwert nicht manipuliert war, da er es einem der umstehenden Männer aus dem Gürtel gezogen und so geschluckt
512 An der Themse gelegener Stadtteil im Südosten Londons, der im 19. Jahrhundert noch eine eigene Ortschaft war. Siehe »Greenwich«, in: Encyclopædia Britannica Online, http://www. britannica.com/place/Greenwich-borough-London (20. 07. 2015).
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hatte, überkam mich ein Unwohlsein. Ich war fast drei Tage krank und der beklemmende Gedanke, wie so etwas wohl ging, ließ mich nicht mehr los. Nun kennen auch ihre Glücksspiele (kuma¯rba¯zlık) keine Grenzen und zu dem ˙ ˙ Seltsamsten (eñ tuhaflarından), das ich gesehen habe, gehört Folgendes: Sie ˙ graben eine Grube mit einer Breite von zwei drei ars¸un513 und setzen in ihre Mitte einen Pfosten und darüber eine Kiste oder etwas Ähnliches. Wer es schafft, durch den Wurf eines Stockes gegen den Pfosten die Kiste [27] außerhalb der Grube zu befördern, der darf sie behalten. Jeder, der es nicht schafft, zahlt einen Betrag, den er [vorher] festlegt. Nachdem dies angekündigt wurde, wird der Stock aus einer Entfernung von fünf Schritten (adımlık) geworfen. Dann spielen sie so ˙ etwas wie Kästchenrücken, indem ein paar Leute unter kleine Behälter Weizenkörner legen und ein Mann diese im Handumdrehen vertauscht. Wenn er eine Person fragt, wo deren Weizenkorn liegt (seniñ bug˙dayıñ nerde) und diese das weiß, bekommt sie das vereinbarte Geld. Wenn nicht, muss sie zahlen. Das sind die raffinierten Glücksspieler. [Dann gibt es noch solche], die einen für dumm verkaufen, indem sie eine Gebühr für [die Nutzung von] Ferngläsern nehmen, mit denen man angeblich alles sehen kann. Oder sie testen die Kraft mancher Männer mit dicken Oberarmen, indem sie sie auf Kissen schlagen lassen und ihnen dann mitteilen, ihre Kraft betrüge soundsoviel (seniñ kuvvetiñ ¸su kadar) ˙ ˙ und die Kraft des anderen soundsoviel. Kurz gesagt, es gibt nichts, was die Engländer (I˙ngilizler) nicht täten, um Geld zu verdienen. Am besagten Ort gibt es allerdings schöne Bäche und Bäume, die Schatten spenden, wo Familien (familyalar) spazieren gehen, junge Leute auf Pferden umhertraben können und sich die Seele erholen kann. Obwohl das so ist, laufen die Engländer (I˙ngilizler) wieder hoffnungslos mit langen Gesichtern, ohne zu plaudern und grübelnd umher, als seien sie vom Schicksal geschlagen und gingen [nur] spazieren, um ihren Kummer zu vertreiben. Bis abends habe ich über ihre Situation nachgedacht und bin schließlich zu dem Ergebnis gekommen, dass es nichts auf der Welt gibt, was sie amüsieren könnte. Es ist jedem bekannt (cümleye maʿlu¯mdir), dass Reisen der Welt und den Menschen zu Bildung verhelfen. Die Beobachtung manch sonderbarer Ereignisse (vuku¯ʿa¯t-ı g˙arı¯be) und ungewöhnlicher Umstände (keyfı¯ya¯t-ı ʿacı¯be) führt zu ˙ Kenntnissen und Wissen. Denn in dieser weiten Welt voller Eigentümlichkeiten (g˙ara¯yı¯b-nüma¯y-ı ʿa¯lemde) 514, gelten für jeden Ort, der in seiner Schönheit in Erscheinung tritt, seine eigenen Traditionen und Regeln und das unterschiedliche Benehmen und Verhalten seiner Bewohner wird sichtbar. Es ist au513 Bzw. ars¸ın ist eine frühere Bezeichnung für das Längenmaß von einer Elle. Siehe Steuerwald: »ars¸ın«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 57. 514 Fehlerhafte Schreibweise im Original. Müsste wie folgt geschrieben sein: g˙ara¯ʾib- nüma¯y-ı ʿa¯lemde.
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genscheinlich, dass, wenn die angesehene Natur des Menschen etwas bedarf, jeder dazu befähigt ist, den Preis dafür zu bezahlen, um den Gedanken in die Tat umzusetzen. Dadurch werden die Wissenschaft und Industrie auf der Welt Wirklichkeit. Die Geschwindigkeit ihres Erwerbs ist jedoch an jedem Ort eine andere. So ist beispielsweise die großherrliche Hauptstadt des Gerechten515 das Zentrum der hohen Wissenschaften516 und der europäische Kontinent der Entstehungsort der Kuriositäten der Industrie (sana¯yı¯ʿ-i g˙arı¯be) und der sonderbaren Wissenschaften (maʿa¯rif-i ʿacı¯be). Von den Bewohner [28] dieses Erdteils gibt jeder endlos viel Geld aus, um auf seine Weise Zeit zu verbringen und Wissen zu erlangen. Genauso verhält es sich mit der Londoner Bevölkerung, die unter der Bezeichnung »club« Versammlungsorte gründete und einrichtete und für ein paar Tausend kı¯se akçe schöne ˙ Gebäude dafür erbauten, um Zeit zu verbringen und die Wissenschaften und Kenntnisse, nach denen sie streben, auf einfachem Wege und unter äußerster Erheiterung ihrer Gemüter zu erwerben.517 In diesem Zusammenhang legen sie auch gleich gute Grundregeln fest. An besagten Veranstaltungsorten sind alle Bereiche von Wissenschaft und Bildung und auch Vergnügungs- und Spaßveranstaltungen, die Freude und Heiterkeit verbreiten, vorhanden. Jeder einzelne hat seinen eigenen Ort. Die Londoner schreiben sich in einen dieser [»clubs«] ein und gehen jeden Tag zu einer der genannten Lehrveranstaltungen, [die zu besuchen] sie sich verpflichtet haben und verbringen dort Zeit mit Gleichgesinnten. So [kommen] manche zum Lesen von Büchern oder Zeitschriften und manche, um über Geschichte zu diskutieren. Einige [kommen], um Spiele zu spielen, und andere wiederum nur, um in Gesprächen ihre Kenntnisse über den Handel zu erweitern. Die besagte Bevölkerung (a¯ha¯li-ye merku¯me) hat eben nicht das Be˙ dürfnis wie andere Stadtbewohner in Kaffeehäuser (kahve ha¯nelerde) zu gehen ˙ ˘ und nach treuen Freunden (ahba¯b-ı sada¯kat-s¸iʿa¯r518) oder Gleichgesinnten ˙ ˙ ˙ (ahilla¯-yı hem-efka¯r) zu suchen. Sie gehen, wenn sie nichts zu tun haben, in die ˘ Klubs, in die sie eingeschrieben sind, haben dort Spaß und erweitern gleichzeitig ihre Fähigkeiten und Kenntnisse. Die Besitzer des Hauses, in dem ich wohnte, waren äußerst zuvorkommend und sehr um mein Wohlbefinden bemüht. Sie bedauerten meine fehlenden Sprachkenntnisse und gaben sich außerordentlich Mühe, sich mit Handzeichen und Andeutungen auszudrücken. Nachdem einige Zeit vergangen war und wir 515 Istanbul. 516 Gemeint sind die Koran- und Hadithwissenschaften. 517 Zur Entstehungsgeschichte und Vielfalt der britischen Klubs siehe Timbs, John: Club Life of London: with Anecdotes of the Clubs, Coffee-Houses and Taverns of the Metropolis During the 17th, 18th, and 19th Centuries, London 1866. 518 Im Original fälschlicherweise ohne ›t‹ ( )ﺻﺪﺍﻗﺸﻌﺎﺭgeschrieben.
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uns ein wenig unterhalten konnten, blieb uns keine Zeit mehr, da meine Heimreise (ʿavdetimiz) anstand. In Anbetracht der Tatsache, dass eine ausführliche Beschreibung all dessen, was ich gesehen habe, zu weitschweifig und störend wäre (mu¯cib-i itna¯b u tasdı¯ʿ oldı¯g˙ına mebnı¯), beginne ich hier mit der ˙ ˙ Beschreibung von ein paar Dingen, die ich Nächtens gesehen habe. So bin ich einmal an einen Kasino genannten Vergnügungsort gegangen und machte dort Halt. Die Musik und die Stimmen dort reißen einen in einem Grade mit, dass man vor Freude verrückt werden könnte. Es befinden sich unter Einheimischen wie auch Fremden sowohl anständige als auch vergnügungssüchtige Leute, [29] so dass deren Begierden und Gelüste in Bewegung geraten und Sorgen und Kummer dort ein Ende finden. Da habe ich auch den schönsten Tanz im Polka-Stil gesehen, der mir äußerst gut gefallen hat. Obwohl ich den Quadrille genannten Tanz nicht kannte, fasste mich eines der drei vier Mädchen, die mich umringt hatten, an der Hand und forderte mich zum Tanzen auf. Auch wenn sie sich über mich lustig machten, konnte ich schließlich nicht mehr an mich halten und tanzte mit dem Mädchen. Als später eines der Mädchen nach meinem Namen fragte und das Mädchen neben mir: »Er heißt soundso und er wohnt in dem soundso Viertel, ist Muslim und kommt aus dem Osmanischen Reich. Genau genommen ist er eine achtbare Person, die freundlich, sehr intelligent, ehrenwert und respektvoll ist. Er ist soundso alt,« antwortete, wandelte sich die Freude meiner Wenigkeit in Erstaunen und Verwunderung (taʿaccüb ve tahayyür). Als das Mädchen sich aufmachte zu gehen, folgte ˙ ich ihr, insbesondere da sie bei mir eindeutig den Eindruck erweckt hatte, eine Hure (ru¯spı¯) zu sein. Als ich mich mit dem Benehmen eines Schürzenjägers (zanpara) 519 aufmachte, tauchten auch die anderen Mädchen wieder auf und gesellten sich zu uns. Gemeinsam erreichten wir den Stadtteil Paddington, in dem ich wohnte, und betraten das Haus, in dem ich blieb.520 Als sie anfingen laut zu lachen und sich [über mich] zu amüsieren, verstand ich langsam, dass ich mich falscher Vorstellungen hingegeben hatte und sie Hausfrauen mit Familie waren. Ich wurde ganz verlegen, aber da sie, wie oben bereits erwähnt und berichtet, gutherzig waren, verhielten sie sich in keiner Weise abweisend. Fast über einen Monat lang unterhielten und amüsierten sie sich gemeinsam über diesen Vorfall. Dass es mir gefiel, wie sie sich so amüsierten, überzeugte sie schließlich in ihrer Meinung, dass ich ein feiner Mensch sei. Genauso wie Englands Wind und Wetter nichts Erfreuliches an sich haben, ist das Antlitz der Sonne, die die Erde mit Wärme und Licht versorgt, mit Staub (g˙uba¯r-ı g˙ama¯m) bedeckt. Aus diesem Grund ist auch das Gemüt und Naturell 519 Heutige Schreibweise zampara. 520 Der Autor verwendet hier, wenn er von sich selber spricht, wieder die erste Person Plural anstelle des Singulars.
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der Bewohner verstimmt (mug˙ber) 521. Da bei allen tiefer Missmut herrscht und es keine Kaffeehäuser (kahve dükka¯nları) zum Unterhalten und Reden gibt, können ˙ sich Fremde (g˙ureba¯ takımı), die keine Freunde und Bekannte haben, auf kei˙ ˙ nerlei Weise amüsieren. Gott sei Dank hatte ich ein paar [30] Freunde, mit denen ich mich unterhalten konnte, um so von meiner Trübsal befreit zu werden und Heiterkeit zu erlangen. Die meiste Zeit gingen wir in den Zoo im Regent’s Park522 und ich erfreute mich am Anblick der verschiedenen wilden Tiere und Vögel. Unter diesen besagten Tieren befanden sich ein weißer Bär, der anderthalb mal so groß wie ein Büffel war, eine unförmige, äußerst lange und breite Schlange, ein Flusspferd, das als Geschenk aus Ägypten gekommen war, und vor allem bunte Sittiche, die aus Indien und Amerika gebracht worden waren, sowie sehr seltsame (tuhaf tuhaf) Affen und Paviane. Sobald diese Affen die Menschengruppen, die ˙ ˙ kamen, um sie anzuschauen, erblickten, vertrieben sie die Schamhaften unter den Besuchern mit mancherlei an den Tag gelegtem erotischen Gebaren, welches man sich im Traum nicht vermag vorzustellen. Es gab aus der Gegend von Kaffraria523 stammende Wildesel im Tigerkleid (kaplan tonunda yaba¯n ˙ ˙ es¸ekleri) 524, aus Indien herangeschaffte Büffel, die wie Kamele Höcker auf dem Rücken hatten, aus Afrika und China herbeigebrachte sehr edle und anmutige Rehe und weitere derartige Tiere. Abgesehen davon wurden im Vergnügungspark Surrey525 verschiedene Tiere frei laufen gelassen. Dank der dort abends aufgeführten akrobatischen Darbietungen und Theatervorführungen war dies ein sehr unterhaltsamer Ort. Das Geld, das bei dem Besuch dieser beiden Unterhaltungsplätze als Eintrittspreis erhoben wurde, brachte innerhalb eines Jahres eine hohe Summe zusammen. [Dennoch] reichte der Ertrag nicht für die Höhe der eigentlichen Ausgaben des Parks. Da er jedoch für die Tierkunde (ʿilm–i 521 Das Wortspiel des Autors mit den Begriffen g˙uba¯r und mug˙ber, die derselben Wurzel entstammen, geht bei der Übersetzung leider verloren. 522 Der Regent’s Park ist ein heute im nördlichen Teil des Stadtzentrums von London gelegener Park, der 1841 dem öffentlichen Publikum zugänglich gemacht wurde und sich damals noch außerhalb der Stadt befand. Siehe »Regent’s Park«, in: Encyclopaedia Britannica online, http://www.britannica.com/EBchecked/topic/495963/Regents-Park (10. 02. 2015). 523 Kaffraria ist die Bezeichnung für die portugiesischen und britischen Kolonialgebiete entlang der Südostküste Afrikas. Besonders im 19. Jahrhundert wurde für die indigene Bevölkerung der aus dem Arabischen entlehnte Begriff ka¯fir verwendet und bezeichnend für das Territorium. Siehe »Kaffraria«, in: Encyclopaedia Britannica online, http://www.britannica.com/ EBchecked/topic/309532/Kaffraria (10. 02. 2015). 524 Der Autor spricht hier höchstwahrscheinlich von Zebras, die es schon damals im Londoner Zoo gab. Siehe Vevers, Gwynne: London’s Zoo. An anthology to celebrate 150 years of the Zoological Society of London, with its zoos at Regent’s Park in London and Whipsnade in Bedforshire, London 1976, S. 18. 525 Der Autor hat den Namen der Grafschaft im Süden Englands in runde Klammern gesetzt. Es war üblich, in osmanischen Texten, übernommene fremdsprachliche Bezeichnungen in runde Klammern zu setzten, nur macht der Autor dies ausschließlich an dieser Stelle. Der Grund dafür ist nicht ersichtlich.
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hayva¯nı¯) von Nutzen war, leistete ein Verein Jahr für Jahr finanzielle ˙ Unterstützung.526 Eines Tages kam ich mit ein paar Freunden zu einem Klub (cemʿiyyet), wo wir einige Leute beobachteten, die an ihren Händen mit Watte gefüllte Handschuhe trugen und sich gegenseitig schlugen. Unter ihnen befand sich sogar das größte Talent im Fausttraining (yumruk taʿliminde) und da kein Engländer etwas gegen ˙ Faustkampf (I˙ngilizce kim olursa olsun yumruk g˙avg˙a¯sı mezmu¯m olmadı¯g˙ından) ¯ ˙ einzuwenden hat, erkannte der Adel den oben Erwähnten als Meister (üsta¯d) an. Dank des Adels kann er jährlich hundert bis zweihundert Tausend g˙uru¯¸s verdienen. Wer bei diesen Schlägereien über das bessere Können verfügt und die schnellere Hand hat, erhält wie der nationale Meisterringer (millet bas¸ pehliva¯nı) 527 eine besondere Auszeichnung. Falls [31] jemand anderes Anspruch auf besagte Auszeichnung erhebt, müssen beide ohne Handschuhe bis zum Tode kämpfen. Wer siegt, erhält die Auszeichnung. Wie reizbar und hitzköpfig die Engländer (I˙ngilizler) auch sind, sie sind nicht sehr nachtragend. Wenn zum Beispiel zwischen zwei Männern ein Streit ausbricht, legen beide höchstpersönlich gleichzeitig auf der Straße ihre Gehröcke ab und prügeln sich bis zur Erschöpfung. Der Besiegte verspürt keineswegs ein Rachegefühl, so dass sie sich an den Händen fassen und gemeinsam in eine Bar (meyha¯ne) einkehren. Da danach keine Feindschaft zwischen ihnen herrscht, ˘ erheben sie die Gläser, unterhalten sich und schließen Freundschaft (ülfet). Während der Schlägerei können die Zuschauer nicht dazwischen gehen. Wenn keiner als Sieger hervorgeht, kommt ein Angestellter der Polizei, trennt sie voneinander und bringt sie der Angelegenheit entsprechend auf die Dienststelle. Badehäuser (hamma¯mlar), wie es sie in Istanbul (Der-saʿa¯det) und anderen ˙ Städten gibt, sind in England nicht vorhanden. Wohlhabende und etwas reichere Mittelständige gehen an dafür vorgesehene Plätze und waschen sich dort selbst, indem sie in kleine Becken aus Blech steigen und die sich auf einer Seite befindenden Kalt- und Warmwasserhähne aufdrehen. Da es fünf bis zehn g˙uru¯¸s kostet so zu baden, ist es nicht jedem gegeben, sich dort zu waschen. Daher gehen sie dafür an die entsetzlich stinkenden Plätze an der Meeresküste.
526 Die 1826 gegründete Zoological Society of London errichtete 1828 den Zoologischen Garten, der vorerst rein wissenschaftlichen Zwecken dienen sollte und nur Mitgliedern der Gesellschaft (bereits im Eröffnungsjahr belief sich ihre Zahl auf über Eintausend) vorbehalten war. Er bestand aus zwei Standorten: dem Regent’s Park in London und Whipsnade in Bedfordshire. 1847 wurde der Zoo für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Aufgrund seiner reichen Vielfalt an Tieren galt er als Vorbild für andere Zoos. Siehe Street, Philip: The London Zoo, London 1956, S. 11ff. 527 Ringen gilt als türkischer Nationalsport und blickt auf eine jahrhundertelange Tradition zurück. Noch heute wird u. a. in Edirne jährlich ein Ringfestival veranstaltet. Siehe Özcan, Abdülkadir: »Güres¸«, in TDVI˙A 14 (1996), S. 317–320.
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In London selbst gibt es keine Brunnen, aber in jedem Haus fließt Süßwasser durch Wasserrohre. Reiche Leute waschen sich morgens und abends vor dem Zubettgehen die Hände und das Gesicht. Vor allem putzen sie sich derart die Zähne, dass diese kein bisschen schmutzig bleiben. Um anderen die Sauberkeit ihrer Zähne zu zeigen, lachen sie sehr oft unangebracht und prahlen selbst im Gespräch durch häufiges Öffnen ihres Mundes damit. Die berittenen Soldaten (süva¯rı¯ ʿaskerleri) tragen alle Schnurrbart (bıyık). Die ˙ gesamte übrige [32] Bevölkerung hingegen trägt keinen. Aus Respekt gehört es sich, dass die Wenigen, die Schnurrbart tragen, sich diesen, bevor sie die Villen der Adligen betreten, rasieren. Es ist nicht Brauch, sich wild einen Vollbart (sakal) wachsen zu lassen, sondern nur einen halben Bart, bei dem sie sich die ˙ Wangen nicht rasieren. Da es bei ihnen Konvention ist, dass sie ihre Haare jeden Morgen und Abend pflegen, bei Versammlungen ohne Kopfbedeckung erscheinen und die Kahlköpfigen unter ihnen Perücken aus unechtem Haar tragen, habe ich in den Klubs keinen einzigen Weißhaarigen gesehen. Was das Handwerk des Barbiers (berber) angeht, so sind sie darin keinesfalls begabt. Als ich eines Tages in einen Barbierladen ging, um mich rasieren zu lassen, war ich aufgrund seiner Ausstattung und Sauberkeit voller Bewunderung (hayret). Ich dachte seine ˙ Kunstfertigkeit und Geschicklichkeit in diesem Handwerk so bewerten zu können, aber er schaffte es nur mit viel Ach und Krach, [mich] in einer halben Stunde zu rasieren. Daher rasiert sich der Großteil der Bevölkerung Englands [lieber] selbst. Um neue Produkte bewerben und Kunden zum Kauf anzuregen, werden viele verschiedene Ankündigungen (iʿla¯na¯t) gemacht. Zum Beispiel: »bei Herrn528 Soundso gibt es« oder »im Laden von Soundso werden sehr guter und günstiger Schnupftabak, Tabak und dergleichen Waren verkauft«. Es fahren aber auch Wagen, deren Seiten mit verschiedenen Reklameplakaten beklebt sind, durch die Straßen und kündigen an, dass in einem Stadtteil eine bestimmte Fabrik eröffnet hat. Oder auf einem freien Gelände werden an den Rändern recht große Holzwände aufgestellt, auf die ringsherum viele verschiedene Anzeigenzettel geklebt werden. Um einen von zwei Ladenbesitzern, die sich auf derselben Höhe befinden und dasselbe Gewerbe betreiben, zu preisen und den anderen schlecht zu machen, werden für einzelne Tage Leute angestellt, die etwas wie eine Kiste tragen, aus der nur deren Köpfe und Füße rausschauen und die so durch die Gegend laufen. Sobald jemand vorbeikommt, wird er von den Männern aufgehalten und sie gehen ihm nicht aus dem Weg, bis er die Annoncen, die ringsum 528 Im Originalwerk steht »sa¯nu¯re« ()ﺳﺎﻧﻮﺭﻩ, dessen Bedeutung nicht ganz geklärt werden konnte. Eventuell meinte der Autor Señore, daher hier mit »Herr« übersetzt. Turan ist in seiner Übersetzung allerdings der Ansicht, der Autor meine »numara« (Nummer) und übersetzt dies später ins Türkeitürkisch mit »cadde« (Straße). Siehe Turan, Seyahatname-i Londra, S. 64 in der Übersetzung und S. 144 in der Transliteration.
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auf ihnen stehen, gelesen hat. Selbst nachts tragen sie Lampen (fenar) auf ihren Köpfen und bringen [die Leute] dazu, die Anzeigetafeln zu lesen. Um ihr Gewerbe an jeder Ecke und auf den Basaren anzukündigen, stellen sogar manche den einzelnen Buchstaben ihres Namens, der Nummer und dem Stadtteil ihres Geschäfts entsprechend Männer ein [33] und lassen in deutlicher Schrift jeweils einen Buchstaben auf einer langen Umhängetafel aus Pappe (mukavva¯dan bir ˙ uzu¯n setri) auf ihren Rücken schreiben und schicken sie [gemeinsam] von Stadtteil zu Stadtteil. Die so am Straßenrand wartenden Reklameverteiler geben jedem ordentlich aussehendem Mann, von dem sie annehmen, dass er des Lesens mächtig ist, einen Reklamezettel in die Hand. Von diesen Ankündigungen abgesehen stehen zudem an jedem Laden in sehr dicken Buchstaben die Nummer, der Name des Ladenbesitzers und sein Gewerbe. Manche setzen noch ganz andere Zeichen (ʿala¯met). Vor den Schnupftabakläden sind zum Beispiel menschengroße Puppen aufgestellt und die Beschriftungen an den Wänden der Fabriken stehen in so großen Lettern, dass man sie aus einer Meile Entfernung lesen kann. Mit was auch immer sich die Bevölkerung Englands beschäftigt, sie verschwenden all ihre Gedanken und ihren Geist daran. Da sie dadurch, wo immer sie entlanggehen, keinen Blick für andere Dinge als ihre eigenen Angelegenheiten haben, bedürfen sie solcher Anzeigen. Da es aber offensichtlich ist, dass sie im Laufe der Zeit ihre Anziehung verlieren und daher weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen werden, versteht sich von selbst, dass natürlich neue Dinge erfunden und der Bevölkerung unterbreitet werden. In England gibt es einen geheimen Klub mit dem Namen »Gesellschaft der Hässlichen Gesichter« (zis¸t-ru¯ya¯n meclisi) 529, der von Zeit zu Zeit zusammenkommt. Der Hässlichste und Unansehnlichste erhält den Vorsitz in der Gesellschaft und ihm wird vor allen anderen Respekt gezollt. In seinem Besitz befindet sich ein Messer mit goldenem Griff, welches das Symbol des Vorsitzenden ist. Sobald ihm ein noch hässlicherer Mensch vor Augen tritt, überreicht er diesem das besagte Messer und tröstet sich damit, dass es noch jemand Unansehnlicheren als ihn (benden dahı kerı¯h ül-manzar kimesne var imis¸) für dieses Amt ˙ ˘ des hässlichsten Gesichtes gibt. Dies ist eine der Merkwürdigkeiten (g˙ara¯ʾib), die mir zu Ohren gekommen sind. Obwohl ich es zuerst nicht für wahr halten konnte, kam ich dazu, nachdem ich weitere Erkundungen (tahk¯ıka¯t) eingeholt hatte, ˙˙ ˙ solch eine kuriose Sache (müteʿacciben bir nevʿ) zu glauben. Den Beerdigungszeremonien von Verstorbenen aus der normalen Bevölkerung habe ich in London oft beigewohnt, aber ich habe nur ein oder zwei Beerdigungsfeiern von Adligen erlebt. Der Leichnam lag in einem Wagen, der die 529 Der Club of Ugly-Faces ist Mitte des 19. Jahrhunderts nur einer der zahlreichen Londoner Vereine. Vergleiche das bereits erwähnte Werk von Timbs: Club Life of London.
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Form eines Grabsteins nach europäischer Art hatte, den schwarze Federn schmückten [34] und vor den dunkle Pferden bespannt waren. Sechs Offiziere hielten schwarze, Ehrenband genannte Bänder, die an sechs Stellen heruntergelassen wurden. Voran schritt der Zeremonienmeister (tes¸rı¯fa¯tcı), der einen mit schwarzen Federn geschmückten schwarzen Hut auf dem Kopf trug und schwarz gekleidet war. Um Arm und Rücken hatte er ein dünnes schwarzes Tuch (bürüncük) gebunden.530 Drei weitere Männer geleiteten den Leichnam. Einmal habe ich der Beerdigung eines Oberst (mı¯r-ala¯y) beigewohnt. Es war ein Bataillon von Soldaten zugegen, die ihre Gewehre mit dem Bajonette nach unten geschultert hatten. Die Offiziere trugen ein dünnes schwarzes Tuch an ihren Armen und an den Trommeln der Kapelle fanden sich auch diese Tücher. In einer Atmosphäre der Schwermut und einem Zustand des Schauerns, der einen in Trauer versetzt und zum Weinen bringt, trugen sie den Leichnam zu Grabe. Verwandte, Angehörige und Offiziere saßen in Trauerkleidung in schwarzen Wagen und zogen langsam in der Prozession mit. Der Wagen, in dem sich der Leichnam befand, war schwarz bedeckt und zu beiden Seiten hingen die Stiefel des Verstorbenen. Dann folgten seine Orden, sein Säbel und seine Mütze. Während ein Priester das Gebet sprach, wurde der Leichnam beerdigt. Schließlich feuerten die Soldaten ihre Gewehre ab und zogen eine freudige Melodie spielend davon. Wie schon seit jeher beschrieben, versetzt das seltsame Tun und Gehabe (ahva¯l-ı ʿacı¯be ve etva¯r-ı g˙arı¯be) dieser Engländer (bu ˙Ingilizler) den mensch˙ ˙ lichen Verstand in Erstaunen (muhayyir-i ʿuku¯l olub). Eine ihrer Interessen ˙ ˙ (mera¯klarından biri), die sich wirklich auf alles richten, ist ihr Gefallen an ˙ Wetten. Sie veranstalten so Dinge wie Hahnen- oder Hundekampf oder lassen kleine Hunde auf Ratten oder andere Tiere los, um dann darum zu wetten, welcher Hund der beiden konkurrierenden Seiten die meisten Ratten tötet, und nehmen dann das Geld, dass sie [vorher] untereinander ausgemacht haben. Nirgends [sonst] sieht man solch einen Gefallen an Wetten wie bei ihnen. Eines Tages habe ich sogar gesehen (gördüm), wie zwei Metzgergesellen beim Anblick von zwei auf der Straße kämpfenden Ochsen miteinander wetteten, welcher Ochse wohl sterben und welcher überleben werde. Der Grund für diesen Gefallen an Wetten liegt darin, dass in England öffentliches Glücksspiel regelrecht verboten ist. Da das menschliche Wesen aber dem mühelos [35] erzielten Gewinn, dem Überfluss und dem Anspruch an Überlegenheit verfallen ist, ist die Wettangelegenheit stets allgegenwärtig. Insbesondere in einer dieser erwähnten Veranstaltungen mit Hunden und Ratten (sıçan) habe ich Folgendes beobachten können: In ein großes Becken, in das kein Wasser eingelassen war, wurden zahlreiche Mäuse (fa¯re) gesetzt. Nacheinander ließen die Wettbeteiligten von 530 Vermutlich spricht der Autor hier von einem Trauerflor.
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zwei Seiten ihre kleinen Hunde hinein. Diese stürzten sich auf die Mäuse. Am Ende wurde gezählt, wie viele getötet und wie viele übrig geblieben waren. Wenn feststand, welcher Hund die meisten gefangen hatte, erhielt [sein Besitzer] die vereinbarten akçe. Bei dem Geld handelte es sich mehr als um zehn Tausend ˙ g˙uru¯¸s. Dadurch gab es in London nur sehr wenige Mäuse. Während meiner Beobachtungen bekam man von Mäusefängern eine [Maus] für drei g˙uru¯¸s. Den meisten Leuten fehlte es in ihren Häusern daher nicht an Mäusekäfigen und Hühnerställen. Davon abgesehen gab es Laufwettbewerbe, Pferde- und Schiffsrennen. Die Schiffe hatten kaum die Werkbank verlassen, da wetteten die Besitzer bereits mit den Worten: »Mein Schiff ist schneller als deins!« »Nein, meins ist schneller als deins!« »Was gibst du mir, wenn meins deins überholt?« Dieses Verhalten ähnelt der Angelegenheit vom Feilschen um Fische im Meer.531 Selbst Irrsinn, Phantasie- und Wahnvorstellungen, denen so mancher Intelligenter unter den Engländern (I˙ngilizler) verfallen ist, sind von einer ganz anderen Natur. Manch einer behauptet, dass er, wenn er sich wie Platon in einen runden Raum zurückziehe, der nur ein Fenster hat und sonst vollkommen verschlossen ist, durch Askese alles schlussfolgern könne.532 Dies hat zur Folge, dass sie schrittweise ihre Vorstellungskraft und ihr Begriffsvermögen verlieren und wirres Zeug und Unsinn reden. Sie haben ulkige und ungewöhnliche braunrote Kopfbedeckungen (as¸karla¯k ?), die ein ars¸un533 lang sind. Auf dem Rücken ˙ tragen sie einen von den Schultern bis zum Boden reichenden, unglaublich (ʿacı¯b) durchlöcherten Stoff. Bis er verschlissen ist und zerfällt, flicken sie ihn immer wieder, so dass es einem indischen Gewand gleicht, das aus allen Farben – rot, grün, gelb, violett – besteht. In diesem Gewand und mit ungepflegtem Bart (saka¯l bıyık birbirı¯ne ka¯rıs¸ub), der bis zum Bauch gewachsen ist (ya¯rı beline dek), ˙ ˙ ˙ ˙ treten sie von Zeit zu Zeit auf die Straße, um angeblich den Zustand der Menschen in Erfahrung zu bringen. Manche finden auch Gefallen daran, an Tieren herumzuspielen. Einige von ihnen malen verschiedene Zeichnungen auf die Mäuler und Rücken von Pferden, stutzen ihre Schweife und Ohren und hängen Glöckchen an ihre Nasen. Jeden Tag [36] verlassen sie ihre Arbeit und gehen ohne zu trinken und essen zu den Tieren, so als seien sie von ihnen besessen, und schauen sie voller Bewunderung (hayra¯n ˙ hayra¯n) an. ˙ Ich habe selbst gesehen, wie einer dieser Leute (mera¯klu¯larıñ birı¯si) einem der ˙ von ihm gehaltenen Hähnen die Federn rupfte und dem armen Tier an drei, vier
531 Gemeint ist das verfrühte Feilschen um noch nicht einmal gefangene Fische. 532 Der Autor macht hier eine Anspielung auf das Höhlengleichnis Platons. 533 Siehe FN 513.
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Stellen Verbrennungen zufügte, um sich gegen Augenschmerzen ein Kantharidenpflaster (pehliva¯n yakısı) für seinen Nacken herzustellen.534 ˙ Dennoch sind sie keine Verrückten, die ihren Anstand verlieren und die man nicht bändigen kann. Diese Dinge passieren nicht aus Armut oder aus sonst einem Grund. Ihre zahlreichen Vorlieben liegen in ihrem Charakter begründet. Es gehört zu der Art der Menschen hier, dazu geneigt und gewillt zu sein, stets jeder Sache auf den Grund zu gehen. Die obengenannte Bevölkerung ist in drei Klassen (sınıf) geteilt. Die erste ist ˙ die Klasse der Adligen.535 Ihre in ihrer Natur und ihrem Charakter begründete Vornehmheit und Höflichkeit, [aber auch] ihre uneingeschränkten Ausgaben und hohen Kosten sind nicht zu beschreiben (da¯ʾire-i taʿrı¯fden bı¯ru¯n). Die zweite [Klasse] ist die der Geschäftsleute und Händler. Da sie der Mittelschicht angehören, streben sie nach Erhabenheit, wenn sie nach oben zu den Adligen schauen, und wenn sie nach unten schauen und überlegen sind, kann man sich ihnen vor lauter Hochnäsigkeit nicht nähern. Da sich die erwähnten Adligen über die Vollkommenheit ihrer Würde und ihres Ansehens bewusst sind, amüsieren sie sich, indem sie den genannten Hochnäsigen Schmeicheleien vorgaukeln. Sie geben sehr viel Geld aus, so dass diese ausführlich beschriebenen, der Neugier (mera¯k) zugeneigten Leute, die zu dieser feinen Gesellschaft gehören, zum Bei˙ spiel für eine Blume, einen Hund oder einen Affen, an dem sie Gefallen finden, ohne zu zögern die verlangten fünfzig oder sechzig Tausend g˙uru¯¸s ausgeben. Sie lassen Kutter bauen und Regatten veranstalten und geben für solche Dinge Tausende von kı¯se aus. Und wenn sie ihr Geld ausgeben, so wie es üblicherweise Leute tun, die ihr Erbe verschleudern, machen einige Schulden, die bis ans Ende der Welt nicht abzuzahlen sind. Um in ihrem eigenen Land nicht mehr so viel Geld (akçe) zu verausgaben, fassen sie schließlich den Entschluss, an einen ˙ günstigen Ort zu gehen und dort wenig Geld auszugeben. Daher gehen sie in die Fremde und bemühen sich sehr, ihre Schulden zu begleichen. Die dritte Klasse ist die des einfachen Volkes. Zu ihr gehören Arbeiter und die Gruppe der gewöhnlichen Handwerker. Es sind aber nicht solche Handwerker und Arbeiter wie wir sie aus Istanbul (Der-saʿa¯det) kennen, [37] die freitags und 534 Die genaue Prozedur dieses Vorganges bleibt aufgrund fehlender Erläuterungen im Text etwas unverständlich. 535 Die gesellschaftliche und politische Stellung des Adels war Mitte des 19. Jahrhunderts fast genauso stark wie hundert Jahre zuvor. Auch wenn die wirtschaftliche Macht nicht mehr in seinen Händen lag, so hatte die Industrielle Revolution das soziale Gefüge Englands nicht von Grund auf umgestoßen. Zwar kamen neue Elemente, wie das Industriebürgertum und Fabrikarbeiterschaft hinzu, aber die früheren Hierarchien verschwanden nicht. Die Gesellschaft war geprägt durch soziale Gegensätze und Konflikte. Dennoch bestanden zwischen den adligen Landbesitzern und der wohlhabenden Mittelschichten trotz aller sozialen Unterschiede vielfältige Verbindungen. Siehe Niedhart, Gottfried: Geschichte Englands im 19. und 20. Jahrhundert, [= Geschichte Englands in drei Bänden; 3], München 1996, S. 39f.
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an anderen freien Tage ihre schönen Kleider anziehen, an Orten der Unterhaltung herrliche Musik spielen lassen, etwas essen und dann wieder an ihre Arbeit gehen. Diese Schicht setzt sich aus komischen Gestalten zusammen, die immer in dreckigem Zustand mit schmutzigen Kleidern, fettigen Hüten, zerschundenen Schuhen und ungepflegten Haaren und Bärten unterwegs sind. Es sind unangenehme Leute, in einem unmenschlich unordentlichen Zustand und mit andersartigem Äußeren.536 Wenn wir aber auf die Vaterlandsliebe (hubb-i vatan) [zu sprechen] kommen, ˙ ˙ ist die Gleichgesinnung und Einigkeit dieser benannten Klassen mit keinem anderen Ort zu vergleichen (mak¯ıs olmayub). Sie achten nichts außer ihren Staat ˙ und ihr Volk (devlet ve millet) und zwar so, als ob Menschen (benı¯ a¯dem), die keine Engländer (I˙ngilizler) sind, keine von Allah gewollten Geschöpfe seien. Sie halten an dieser Auffassung fest und bemühen sich seit jeher um deren Aufrechterhaltung. Daher ist mir auch während meines Aufenthaltes nie zu Ohren gekommen, dass jemand zum Beispiel sagte, die Franzosen (Fransızlar) haben dies gemacht und es ist gut geworden, oder an dem und dem Ort ist das und das gut. Wenn mir manchmal so etwas entfuhr, wandten sich deshalb die Männer, die den Zusammenhang meiner Worte verstanden hatten, [von mir] ab. Selbst wenn man fragt, »Wie sind die Amerikaner (Amerikalular)?«, die ja, was Glauben, ˙ Religion, Bräuche, Sitten, Sprache und Gesetze betrifft, durch und durch Engländer (I˙ngiliz) sind, antworten sie »Sie sind Esel.«, oder geben ihnen Spottnamen und sagen, dass sie wie soundso aussehen. Besonders die Franzosen (Fransızlar) betrachten sie als hinterlistige Menschen und nennen sie »Monsieur Frog«, also Frosch. Auch die anderen [Völker] hatten zahlreiche dergleichen Spitznamen. Wäre es etwa erforderlich, das seltsame Verhalten (etva¯r-ı ʿacı¯be) zu ˙ beschreiben, dann würden Schriftsteller Ewigkeiten und ihr ganzes Leben damit verbringen, sehr dicke Bücher zu verfassen und nicht fünf oder zehn solcher kurzen Berichte (risa¯le) 537. Lassen Sie uns nun auf den Reichtum der Adligen zu sprechen kommen. Da aus ihren Mündern nie die Worte para538 oder g˙uru¯¸s kommen, sondern sie von
536 In den einzelnen Stadtteilen Londons herrschten immense soziale Unterschiede. Die Arbeiterklasse lebte zum Teil in slumartigen Verhältnissen, während die Aristokraten und höhere Mittelschicht in wohlhabenden Gebieten in ihren Villen verweilten. Seaman, Life in Victorian London, S. 43f. 537 Als risa¯le bezeichnet der Autor auch seinen vorliegenden Reisebericht (z. B. auf S. 56 des Originaltextes). 538 Osmanische Geldeinheit, die dem vierzigsten Teil eines g˙uru¯¸s entspricht und ab dem 17. Jahrhundert die ältere Einheit akçe (dritter Teil eines para) langsam ablöste. Siehe ˙ Wörterbuch, S. 735 und Akyıldız, Ali: »Para«, in: Steuerwald: »para«, Türkisch-Deutsches ˙ TDVIA 34 (2007), S. 164.
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[größeren Summen wie] Millionen (milyon), kı¯se und hazı¯ne539 reden, habe ich ˙ nach Nachweisen dafür gesucht. Durch Nachforschungen (bi’l-tahk¯ık) hat meine ˙˙ ˙ Wenigkeit die Gewissheit erlangt, [38] dass eine Person hundertfünfundzwanzig g˙uru¯¸s die Minute verdient. Auf welche Summe sich das Jahresgehalt des Obenerwähnten beläuft und wo sich die Einkommensstufen der anderen befinden, ist im Vergleich dazu zu beurteilen. Wer in England eine Einladung zum Essen540 (z˙¯ıya¯fet) erhält, rasiert sich und legt ein weißes Halstuch, Weste, Handschuhe, eine schwarze Hose und ein kurzes, vorne offenes Jackett an. Bis die Zeit des Essens gekommen ist, wartet man in einem [anderen] Zimmer. Wenn das Essen zubereitet ist, wird man von einem Diener abgeholt und geht zu dem Platz, an dem der Tisch eigens dafür gedeckt ist. Man setzt sich dorthin, wo sein Name steht, und beginnt mit dem Essen. Zwischendurch wird getrunken. Es gehört zu ihren Ess- und Trinkgewohnheiten, dass, sobald absehbar ist, dass sich das Essen dem Ende neigt, alle Damen, die sich am Tische befinden, aufstehen und die Herren die Gläser zu den später dargereichten kleineren Speisen erheben, bis sie restlos betrunken sind. Auch wenn heute in Städten wie London dieser Brauch des übermäßigen Betrinkens nicht mehr gepflegt wird, besteht er heutzutage dennoch in manchen Gegenden unter den Adligen bei ihren Zusammenkünften weiter. Seinen Mitteln entsprechend dekoriert jeder die Mitte seines Tisches mit zahlreichen Figuren und Gegenständen aus Gold und Silber und verschiedenen Blumen. Bei den Reichen sind selbst die Teller, Gabeln, Löffel und dergleichen ganz aus Silber. Die Adligen kleiden ihre Diener wie sie möchten. Sie haben sich sogar eine Genehmigung (ruhsat) von Seiten der Regierung (taraf-ı hüku¯metden) ˙ ˙ ˘˙ eingeholt, um sie in Soldatenuniformen kleiden zu dürfen. Von Zeit zu Zeit und insbesondere, wenn solche Einladungen zum Essen stattfinden, tragen ihre Diener auf dem Kopf mit Goldfäden541 durchzogene Bänder und Hüte, die mit Goldfäden542 bestickten Rosen verziert sind, kurze, bis an die Knie reichende Hosen, lange Strümpfe bis über die Knie, Schuhe mit Schleifen, die mit einer silbernen Spange verziert sind, und über den Schultern breite Tücher aus goldbestickten543 Stoffen oder Seide. Diese Tradition wird seit sehr vielen Jahren aufrecht erhalten und da sie seit jeher die ihren [39] Dienern zugeteilte Kleidung nicht verändert haben, weiß man anhand der Bekleidung, um wessen Diener es sich handelt.
539 Entspricht einer Summe von 16.000 g˙uru¯¸s, bezeichnet aber auch die Staatskasse des osmanischen Reiches. Siehe Steuerwald: »hazine«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 379f. 540 Auch Dinner oder Bankett. 541 Oder Silberfäden. 542 Oder Silberfäden. 543 Oder silberbestickten.
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Es ist nicht Brauch, dass die Gäste den Dienern Trinkgeld geben, aber angenommen, einer würde etwas geben, käme bei dem Diener möglicherweise der Gedanke und die Frage auf, ob ein Auftrag folgen würde. Diese Einladungen zum Essen finden in England sehr häufig statt. Wenn sich vom Minister (vükela¯) oder Staatsangestellten (meʾmu¯rı¯n-i devlet) bis zum Fabrikarbeiter Gesprächsbedarf unter ein paar Leuten ergibt, wird direkt ein Essen veranstaltet. In Anbetracht dessen ist es möglich, dass sich einflussreichere und wohlhabendere Leute den ganzen Tag bei solchen Essen befinden. Bei Versammlungen wird einer der geladenen Gäste vor Ort zum Vorsitzenden der Versammlung gewählt. Für ihn wird extra am Kopf der Tafel ein Stuhl platziert, der höher als die Übrigen ist. Wenn man sich für einen Abschied oder dergleichen versammelt hat, erhebt der besagte Vorsitzende sein Glas zuerst auf die königliche Majestät und dann auf ihren Gemahl und darauf, dass ihre Herrschaft stets mit Freude erfüllt sein werde. Nachdem das Glas geleert ist, wird auf die Person, die Anlass für dieses Festmahl ist, eine drei bis fünfminütige oder dem Anlass entsprechend eine einstündige Rede voller Lob und wunderbarer Worte gehalten und auf ihn angestoßen. Nachdem bei solchen Arbeitstreffen der Königin, ihrem Gemahl und ihrer Familie Unterwürfigkeit und Verbundenheit bekundet wurden, beginnt man, die eigentliche Angelegenheit zu erörtern. Es kam schon vor, dass manche dieser Vereinigungen bis zu zwölf Stunden dauerten. Damit es bei Versammlungen von Gesellschaften, die zum Beispiel aus dreihundert bis fünfhundert Personen bestehen, nicht zu Schwierigkeiten und Ärgernissen kommt, werden besondere Restaurants ausgewählt. Es wird von jedem Geld (akçe) eingesammelt, ˙ um in diesen Restaurants wunderbare Banketts zu veranstalten. Da ich mich an Orten, an denen Versammlungen stattfanden, aufgehalten habe, habe ich gesehen, dass Chemie und Physik brauchbare Wissenschaften sind. Da sie jedoch zu den Angelegenheiten gehören, deren Erkenntnis einer langen Zeit bedarf, habe ich davon Abstand genommen, Gedanken daran zu verschwenden [40] und sie zu studieren. Mesmerismus (mesmerizm) 544 ist eine unterhaltsame Sache. Eines Tages habe ich beobachtet, wie er angewandt wurde545. Im ersten Moment habe ich es zwar nicht glauben wollen, aber nachdem ich es ein paar Mal gesehen und darüber nachgedacht hatte, bin ich fast darüber verrückt geworden, mir zu überlegen, durch was und auf welche Weise so etwas wohl möglich ist. Da die meisten 544 Als Mesmerismus (Hypnosetechniken) wird die von dem Arzt F.A. Mesmer (1734–1851) entwickelte Lehre von der Heilkraft des »animalischen Magnetismus« bezeichnet. Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand der Mesmerismus große öffentliche Beachtung. Siehe: »Mesmerismus«, in: Der Brockhaus – in drei Bänden, Bd. II, Leipzig 2005, S. 650 und »Mesmerismus«, in: Brockhaus Enzyklopädie – in vierundzwanzig Bänden, Vierzehnter Band, Mannheim 1991, S. 495. 545 Im Original aktiv: Wie sie [die Engländer] es durchgeführt haben.
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Engländer (I˙ngilizler) gegen546 die Leute sind, die dies betreiben, erklären sie es für erlogen und entrüsten sich darüber, während es jeden Tag in ihren Vierteln praktiziert wird. Deshalb sind die Diskussionen darüber schon zur Gewohnheit geworden. Da auch ich die Frage nach dem Wahrheitsgehalt (yalanmı gerçekmi) klären und der Sache auf den Grund gehen wollte (ma¯ddeyi tahk¯ık e˙tmek içün), ˙˙ ˙ ging ich zu den führenden Meistern (bas¸ üsta¯dları) bei den wirklich großen Veranstaltungen. Als ich mich traute auszusprechen, dass ich es gerne ausprobieren wollte, sagten sie »sehr gern« und riefen eine junge Frau (ta¯ze karı). ˙ Die Frau mit blassem Gesicht kniete sich vor den Meister. Dieser starrte ihr in die Augen und erhob seine Hände, als wolle er sie anfallen und ihr nach dem Leben trachten. Dann fing er an, seine Hände zu öffnen und zu schließen und gab [ihr] das Zeichen, zu ihm zu kommen. Nachdem sie schließlich eine Zeit lang so innegehalten hatten, überkam die Frau eine schwere Müdigkeit und sie fiel sogleich in Ohnmacht. Dann rief der Meister mich zu sich und sagte: »Lass es uns ausprobieren!« In meiner Hand hatte ich eine Silbermünze547 und eine Münze von fünf para und forderte ihn auf, sie zu fragen, was ich in meiner Hand hielte. Sobald der Meister gefragt hatte, antwortete sie: »Zwei osmanische akçe. Eine ˙ davon ist eine Silbermünze, aber wie viel die andere wert ist, weiß ich nicht.« Auch wenn meine Neugier dadurch noch größer wurde, war ich noch nicht überzeugt. Als ich daher »Zieh sie doch aus. Mal sehen, ob sie dann hören kann!« sagte, sprang der Meister sofort auf und sprach: »Ich mach alles, was du sagst. Sie hört nichts.« Auch wenn er sie [daraufhin] verschiedenen Qualen und Schmerzen aussetzte, bemerkte die Betroffene überhaupt nichts davon. Als ich bei einer anderen Sitzung wieder auf einen der besagten Meister traf und das Thema Mesmerismus zur Sprache kam, sagte ich: »Ach mein verehrter Lehrmeister (ca¯nım muʿallim), von dir sagt man, dass du auf diesem Gebiet der Beste seiest. Lass mich dir gegenüber treten und wende es auf mich an. Ansonsten besteht keine Möglichkeit, dass ich daran glaube.« Als ich dies ausgesprochen hatte, sagte er »sehr schön« und führte verschiedene Dinge durch. Da mit mir aber nichts passierte, sagte er, um die Blamage von sich abzuwenden »Dein Bauch ist zu voll. Du musst erst Hunger bekommen, damit es wirkt. Das ist eine geistige Angelegenheit, dafür ist es nötig, dass der Körper [41] ein wenig abnimmt«, und schickte mich weg. Dieses Thema ist im Grunde nicht abwegig, aber ich war zu der Auffassung gelangt, dass seine Durchführung schwierig ist. Daraufhin bin ich, um Erkundigungen bezüglich des Mesmerismus (mesmerizm tahk¯ıkinde) einzuholen, ˙˙ ˙ 546 Schreibfehler im Original: ﺟﺼﻢanstatt ﺧﺼﻢ. 547 ˙Ikilik mecidiyye bzw. ikilik ist die Bezeichnung für eine alte Silbermünze aus der Zeit Sultan ʿAbdülmecı¯ds I. Sie entsprach 80 para. Siehe Steuerwald: »ikilik«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 422 und DI˙A: »mecidiye«, in: TDVI˙A 28 (2003), S. 239.
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umhergezogen und habe mich an den Stellen, wo ich dem Phänomen begegnet bin, eingehend umgeschaut und [die Sache] überprüft. Da sie dies auch in Theatern und anderen Vergnügungsorten (a¯ra¯mga¯h) als Gaukelkunst durchführen, habe ich begonnen, ihre Tricks auszukundschaften. Ich habe gesehen, dass die Fragen nicht einfach fallen gelassen werden, sondern andersartig waren und es zwischen den beiden548 bestimmte Worte und Begriffe gab. Auch das Zufügen von Schmerzen erschien mir vorgetäuscht. Dennoch ähnelte es nicht so sehr den Gaukelkünsten, die ich in anderen Gesellschaften gesehen habe. Daher scheint es nicht möglich zu sein, sich in dieser Sache von seinen Zweifeln befreien zu können. In der Medical Society of London549 (Londra meclis-i tıbbı¯yesinde) wird seit ˙ jeher über den Magnetismus (manyetizma) 550 diskutiert. Heute möchte der Großteil der Mitglieder diese Sache verbieten. Wenn daher einer gefragt wird, was in einer bestimmten Zeile eines beliebigen Buches stehe, und er sagt, dass dort das und das steht und er es somit lesen kann, werden ihm hunderttausend g˙uru¯¸s erteilt. Sollte er es allerdings nicht wissen, so wurde beratschlagt und für angemessen erachtet, die Lehrmeister zu bestrafen. Weil sich dort viele intelligente Männer engagieren und dadurch ihre eigentlichen Aufgaben vernachlässigen, wurden von der Polizei Angestellte [dafür] beordert. Auch wenn England und insbesondere die Stadt London einen Fundus verschiedener Disziplinen (mahzen-i fünu¯n-i ¸setta¯) ist, gibt es in der besagten Stadt ˘ eine Bibliothek mit dem Namen British Museum551, die über fünfhundert gedruckte Bücher und mehr als hunderttausend Manuskripte verfügt. Es handelt sich um eine große Bibliothek, in der es Bücher in allen Sprachen gibt und die drei Mal die Woche geöffnet ist. Auch wenn manche Leute [tatsächlich] zum Lesen kommen, finden sich an den Öffnungstagen ein- bis zweihundert Leute in der Bibliothek ein, von denen aber meinen Beobachtungen zufolge nur ein paar Personen (üç bes¸ kis¸i) lesen. Die Übrigen beschäftigen sich damit, die Ornamente an den Türen und Wänden und die Verzierungen und Einbände der Bücher zu betrachten. Denn es gehört nicht zu den Gewohnheiten der Engländer (I˙n548 Hier sind der Meister und sein Gehilfe / seine Gehilfin gemeint. 549 Die Gesellschaft wurde 1773 in London gegründet und besteht noch heute. Siehe Cunningham, Peter: »Medical Society of London,« in: The Dictionary of Victorian London, Online-Zugang: http://www.victorianlondon.org/organisations/medicalsocietyoflondon. htm (21. 02. 2015) und siehe die offizielle Seite der Gesellschaft unter http://medsoclon don.org. 550 (Tierischer) Magnetismus ist eine andere Bezeichnung für Mesmerismus. Siehe FN 544. 551 Der Name der Bibliothek ist aufgrund eines offensichtlichen Schreib- bzw. Druckfehlers ( )ﺍﺗﺶ ﺗﻮﺭﻳﻴﻢnicht eindeutig zuzuordnen. Es muss aber die British Museum Library (heute British Library) gemeint sein, die damals an drei Tagen dem öffentlichen Publikum zugänglich war. Siehe Picard, Liza: Victorian London. The Life of a City 1840–1870, London 2005, S. 211f.
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gilizler), innezuhalten und sich lange Zeit einem Thema zu widmen. Zu ihren Interessen zählt [eher], unterwegs zu sein und sich gleichzeitig mit verschiedenen Disziplinen und unterschiedlichen Gegenständen intensiv zu beschäftigen. Vielleicht ist das auch die Sache, auf die sie am meisten Wert legen. Auch wenn es neben der erwähnten Bibliothek [42] noch ein oder zwei weitere gibt, die über hunderttausend oder hundertzehntausend Bände verfügen, geht niemand dorthin. Ich bin ebenfalls ein paar Mal zu dieser genannten großen Bibliothek gegangen und habe angesteckt durch die englische Art die dort vorhandenen türkischen (Türkı¯), arabischen und persischen Bücher in die Hand genommen, meinen Gefallen (tahsı¯n) an ihnen mit den Worten »Mas¸allah, wie schön, wie ˙ schön!« kundgetan und bin wieder gegangen. Auch wenn es dort nur wenige Bibliotheken gibt, ist die Zahl der Buchhändler sehr groß, so dass es in jedem Geschäftsviertel zahlreiche Läden gibt, die wie die Läden der Kurzwarenhändler elegante Vitrinen (ca¯mlar) haben. Außerdem sieht man in manchen Straßen Anzeigen, die für Orte werben, an denen unterrichtet wird. Es wird bekannt gegeben, dass es Unterricht und Lektionen zu Chemie, Geographie, Tierhaltung, Seidenraupenzucht, Geometrie, Medizin, Zauberkunststücken und zu allen weiteren kleinen und großen Themenbereichen gibt. Die Lehrer, die dort sind, halten Vorträge und erklären jeden Tag und zu jeder Stunde nacheinander all diese Themen. Der Unterricht kostet nur fünf g˙uru¯¸s und wer möchte, tritt ein, lernt seine Lektion und geht wieder. Als auch ich diese Anzeigen gesehen hatte, fragte ich mich, wie wohl Anatomie (tes¸rı¯h) sei, bezahlte einen Fünfer und ging hinein. In dem Saal schauten mehr als ˙ zweihundert Leute vollkommen hingerissen (hayra¯n hayra¯n) zu. Ich sah, dass ˙ ˙ der Lehrer mit einer Lupe einen Floh [so groß] wie ein Kamel erscheinen ließ. Als ich weiter ging, [erkannte ich,] dass die Lehrer zu Demonstrationszwecken keine Menschen sondern Tiere sezierten und deren Eingeweide zeigten. Kurz gesagt, ich habe keine Ahnung, ob die Engländer (I˙ngilterelüler) von diesem Unterricht etwas verstanden haben, aber da selbst ich schon nichts verstanden habe, sah es so aus, als bestünde es aus sehr viel Maskerade (masharalık). Und da die Eng˙ ˘ länder (I˙ngilizler) sich nicht vergnügen und Leute von trübsinniger Natur sind, versteht es sich, dass diese Anlässe wenigstens eine Möglichkeit zum Nachdenken bieten, wo sie sich in Gruppen versammeln und ihre Zeit verbringen können. Als sie nach der erwähnten Demonstration der Eingeweide zu erörtern begannen, auf welche Weise die Schiffe, die zur Entdeckung des Eismeers (bahr-i müncemidı¯) ˙ entsandt wurden, verschwunden sind und noch immer gesucht werden, überkam mich die Langeweile. Ich bedauerte den Fünfer, den ich ausgegeben hatte, und ging davon. Die Gebräuche und Sitten Englands sind von hässlicher und schöner Natur. Wenn jemand etwas darüber lernen möchte (ög˘reneyim derse), wie sich die guten und schlechten Dinge der Welt und der Menschheit verhalten, [43] sollte eine mit
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Kosten verbundene Reise auf sich nehmen, in die Stadt London gehen und etwa zwei Jahre dort verweilen. Es ist bekannt (maʿlu¯m olub), dass es in England zahlreiche Wissenschaften gibt. Unter der Bevölkerung gibt es eine Vielzahl an Leuten, die unter anderem in den Bereichen Mesmerismus, Magnetismus, Belletristik, Chemie und Physik sehr bewandert sind. Es gibt viele Leute, deren menschlicher Verstand angesichts der ausgeführten Wissenschaften und Künste in ein Meer von Gedanken und Phantastereien (tahayyür) gerät. ˙ Bis hier habe ich die Lage der meisten Kenner dieser Wissenschaften (fünu¯n erba¯bı) dargestellt.* Nun, die im Dienst stehenden Soldaten Englands sind nicht nach dem Losverfahren (kurʿa kes¸¯ıdesiyle) eingezogen worden.552 Ihre Einberufung (tahrı¯r) ˙ ˙ hängt von ihrem eigenen Wunsch ab. Auch ihre Anordnung und Organisation besteht nicht aus den herkömmlichen Rängen wie in den anderen Ländern. Wenn der Einsatz der besagten Soldaten als erforderlich angesehen wird und mehr Einberufungen benötigt werden, greift man auf die zurück, die sich vorher bereits freiwillig gemeldet haben. Gibt es genug Freiwillige, wird entsprechend der Erfordernisse verfahren. Andernfalls werden an die Seite der Kompaniefeldwebel (bölükleriñ bas¸ ça¯vus¸ları) Soldaten der Militärkapelle (muzıka neferleri) be˙ ordert und gegen Bezahlung (akçe iʿta¯ʾsıyle) in verschiedene Gegenden entsandt. ˙ ˙ Sie spielen Militärmusik in den Restaurants und Bars der Orte, an denen sie landen, und geben Geld aus. Während sie davon sprechen, wie erholsam es beim Militär ist, lauschen ihnen die an sie gedrängten Stadt- und Landbewohner. Sie stoßen mit verschiedenen Getränken an, die die besagte Menge ihnen reicht, und beziehen in ihre Gespräche mit ein, dass die königliche Hoheit zum Militärdienst ermuntert. Die versammelten Leute bekommen Lust und bitten darum, aufgenommen zu werden. In dem Moment holt der Feldwebel (bas¸ ça¯vus¸) eine Summe Geld aus seiner Tasche und überreicht sie mit der Frage: »Akzeptierst du, dich gegenüber unserer Königin zu verpflichten und für einen monatlichen Sold Soldat zu werden?«553 Sofern diejenigen, die zugesagt haben, sich am nächsten Tag nicht umentscheiden und einwilligen, für ein paar Jahre als Soldaten be552 In der Zeit nach der Tanz¯ıma¯t wurden junge Männer per Losverfahren in den Militärdienst aufgenommen. Männer ˙gleichen Jahrgangs zogen Zettel, auf denen ihre Namen standen. Diejenigen, die ein ›k‹ auf ihrem Zettel stehen hatten, wurden zum Militärdienst berufen. Develliog˘lu: »kur’a«, Osmanlı-Türkçe Ansiklopedik Lûgat, S. 527. 553 Vermutlich ist hier der Queen’s Shilling gemeint, der bei der Anwerbung von neuen Mitgliedern der britischen Armee den Empfänger dazu verpflichtete, sich einschreiben zu lassen. Durch die Annahme des Schillings stimmte der Angeworbene dem Sold zu und trat somit dem Militär bei. Siehe »Queen’s Shilling (or King’s Shilling),« in: Wright, Edmund (Hg.): A Dictionary of World History, online publication 2007, http://www.oxfordreference. com/view/10.1093/acref/9780192807007.001.0001/acref-9780192807007-e-3029?rskey=Ox H4Hh&result=3059 (24. 03. 2015).
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reitzustehen, erhalten sie die entsprechenden Anweisungen, nicht noch einmal umkehren und desertieren zu können und bei Ungehorsam hohe Bestrafungen bis hin zum Todesurteil auferlegt zu bekommen. Danach beginnen die Aufnahmen.554 Der Sold dieser Soldaten ist neben der Zuwendung (taʿyı¯na¯t) den Bedürfnissen angemessen (hadd nisa¯bında) und folgendermaßen [44] aufgeführt: ˙ ˙ Solde der Infanterie (pı¯ya¯de): einfacher Soldatentageslohn (nefer yevmı¯yesi) [daily pay of a soldier] 555 7,5 Gefreiter (onbas¸ı) [corporal] 7 Unteroffizier (ça¯vus¸) [sergeant] 10 Feldwebel (bas¸ ça¯vus¸) [sergeant-major] 13,5 Leutnant (müla¯zım-i sa¯nı¯) [second lieutenant] 24 Oberleutnant (müla¯zım-i evvel) [first lieutenant] 58 Hauptmann (yüzbas¸ı) [captain] 75 kol ag˘a¯sı556 [major] 116 ˙ Oberstleutnant (ka¯ʾimmaka¯m) [lieutnant] 170 ˙ ˙ Da der Posten des Oberst (mı¯ra¯la¯ylık) [colonel] in England offiziell (resmı¯) ist, ˙ jährlich 33 000557 In England ist [der Posten] des Generals (ceneral) [general] in drei geteilt: Der erste ist der des kommandierenden Generalleutnants (ferı¯k) [divisional ˙ general], Tagelohn 2,5 Stück Lira558 Der zweite ist der des Generalmajors (liva¯) [brigadier], Tagelohn 2 Stück Lira Der dritte ist der des Brigadegeneral (müla¯zım-i liva¯) [brigadier general], 2 Stück Lira
554 Zu diesem Thema siehe Beckett, Ian: »The Amateur Military Tradition«, in: Chandler, David (Hg.): The Oxford Illustrated History of the British Army, Oxford / New York 1994, S. 402– 416. 555 Die englischen Bezeichnungen der Ränge in den eckigen Klammern wurden übersetzt nach Redhouse, Sir James: Yeni Türkçe-I˙nilizce / New Turkish-English Dictionary, Istanbul 1981. 556 Offiziersrang zwischen Hauptmann und Major. Siehe Steuerwald: »kolag˘ası«, TürkischDeutsches Wörterbuch, S. 543. Könnte daher eher dem Rang eines Stabshauptmannes entsprechen, wobei Kekule vorschlägt, die Bezeichnung »Hauptmann erster Klasse« zu verwenden, während yüzba¯¸sı mit »Hauptmann zweiter Klasse« übersetzt werden sollte. Siehe Kekule, Stephan: Über Titel, Ämter, Rangstufen und Anreden in der offiziellen osmanischen Sprache, Halle an der Saale 1892, S. 15. Die englische Bezeichnung lautet adjutant major oder lieutnant comander. 557 Hier nennt der Autor neben den 33.000 noch eine weitere Summe, nämlich 3,5 Stück Lira. Es ist nicht ersichtlich, warum er das tut. 558 Hier gibt der Autor zum ersten Mal die Geldeinheit Lira (lı¯ra¯) an. Bei den vorher genannten Gehältern muss es sich um einen niedrigeren Geldwert (?) handeln.
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Gehälter der Kavallerie (süva¯rı¯): einfacher Soldatentageslohn (nefer yevmı¯yesi) 7,5 Gefreiter (onbas¸ı) 10 Unteroffizier (ça¯vus¸) 13,5 Feldwebel (ba¯¸s ça¯vus¸) 22,5 Leutnant (müla¯zım-i sa¯nı¯) 65 Oberleutnant (müla¯zım-i evvel) 88 Hauptmann (yüzbas¸ı) 117 kol ag˘a¯sı559 230 ˙ Oberstleutnant (ka¯ʾimmaka¯m), jährlich 240 000560 ˙ ˙ Da der Posten des Oberst (mı¯ra¯la¯ylık) offiziell ist, jährlich 33 000 ˙
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Zudem erhalten sie ausreichend Verpflegung, die bei der Infanterie und der Kavallerie gleich ist. Nun bekommt die Infanterie täglich hundertzehn dirhem561 Fleisch und hundertzwanzig dirhem Brot. Während diese Versorgung fast drei g˙uru¯¸s beträgt, zieht der Staat (devlet) dafür vom täglichen Sold der besagten Soldaten nur sechsunddreißig para ab. Die Soldateneinheit sammelt es ein und bereitet das Nötige gemeinsam vor. Die einzelnen Einheiten bereiten ihr Essen zu und verzehren es. Die Truppe der Offiziere (z˙a¯bıta¯n) isst unter Gleichrangigen, ˙ das heißt alle Hauptmänner (yüzbas¸ı) sind an einem Ort, alle müla¯zım562 sind zusammen und alle Unteroffiziere (ça¯vus¸) sind ebenfalls versammelt und nehmen ihr Essen zu sich. Dabei ist allerdings sowohl Besoldung als auch Zuwendung bei der Truppe der Artillerie (tobcı takımı) höher ist als bei den anderen. ˙ ˙ ˙ Bei der Aufstellung der Gehälter ist der aufgelistete offizielle Oberst (resmı¯ mı¯ra¯la¯y) von der Königin ernannt und sinekure ohne Aufgaben. Der eigentliche Posten des Oberst liegt generell in der Hand desjenigen, der den Rang des Oberstleutnants (ka¯ʾimmaka¯m) innehat. ˙ ˙ Der englische Militärdienst dauert mindestens sieben Jahre und wenn jemand bei der Beendigung nicht austreten möchte, werden Besoldung und Zuwendung vorschriftsgemäß erhöht. Da sie in der Kriegskunst über keine Kenntnisse und Fertigkeiten verfügen, kann man aus der Klasse der einfachen Soldaten (nefer takımı) vom Rang eines Feldwebels (bas¸ ça¯vus¸) nicht weiter zum General (ce˙ ˙ neral), Oberst (mı¯ra¯la¯y), Oberstleutnant (ka¯ʾimmaka¯m) oder Oberleutnant ˙ ˙ 559 Siehe FN 556. 560 Hier womöglich eine Null zu viel, da der Oberstleutnant nicht mehr als der Oberst verdienen sollte. 561 Name einer alten Silbermünze als auch einer Gewichtseinheit (Drachme), entspricht dem 400. Teil einer okka = 3,1 Gramm. Siehe Steuerwald: »dirhem«, Türkisch-Deutsches Wör˙ ˙ auch FN 509. terbuch, S. 231. Siehe 562 Bezeichnung für die Ränge unterhalb des Hauptmannes (yüzbas¸ı).
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(müla¯zım-i evvel) aufsteigen. Um über [die Posten] vom Oberstleutnant (ka¯ʾimmaka¯m) bis zum Leutnant (müla¯zım-i sa¯nı¯) zu sprechen, so wird bei einer ˙ ˙ freiwerdenden Stelle je nach Anzahl der Anwärter aus den Abgängern der Militärschule von der rangniedrigeren bis zur freigewordenen Stelle [46] aufgerückt. Wer sich von den Anwärtern zuerst eingeschrieben hat, steigt zum Leutnant (müla¯zım-i sa¯nı¯) auf. Außerdem verkaufen [Offiziere] vom Oberstleutnant (ka¯ʾimmaka¯m) bis zum müla¯zım563 Ränge gegen Geld: der des Leutnants (mü˙ ˙ la¯zım-i sa¯nı¯) zu neunzigtausend und der des Hauptmanns (yüzba¯¸sı) zu hundertfünfzigtausend und der des kol ag˘a¯sı564 zu fünfhundert kı¯se und der des ˙ Oberstleutnants (ka¯ʾimmaka¯m) und die darüber für fünfzigtausend [kı¯se]. Von ˙ ˙ Seiten der Regierung wurde für den Leutnant (müla¯zım-i sa¯nı¯) 565 ein Preis von tausendfünfhundert kı¯se festgelegt. Da vermehrt die Adligen diesen Soldatenberuf begehren, verpflichten sie sich dafür. Wenn sie jedoch nach Indien oder in andere heiße Gebiete geschickt werden sollen, bezahlen sie jemand anderem, den sie [an ihrer Stelle] schicken, hundert- oder hundertfünfzigtausend. Dadurch verlieren sie ihren Rang und beginnen [erneut] als müla¯zım566. Kurz gesagt wird, was auch immer passiert, dem System keinerlei Beeinträchtigung oder Schaden zukommen. Der Rang eines Majors (biñbas¸ı) wurde bei dieser Offiziersklasse aufgehoben. Wenn zwischen Engländern (I˙ngilterelüler) ein Streit oder eine Auseinandersetzung entfacht, benutzen sie dabei keine verletzenden Gegenstände. Da sie ohnehin nicht bösartig oder streitlustig sind, kämpfen sie bei dem sich zutragenden Streit, der durchaus menschlich ist, wie bereits oben ausführlich beschrieben nur mit den Fäusten. Wenn allerdings zwischen den vornehmen Leuten heikle Situationen entstehen, die die Ehre verletzen (hetk-i perde-i na¯mu¯s) und vor der Öffentlichkeit zu Herabsetzung und Beleidigung führen, wird beim Parlament und vor Gericht Klage wegen Ehrverletzung (iddiʿa¯-yi na¯mu¯s) erhoben. Angenommen, man rempelt auf der Straße jemanden mit seiner Schulter an oder tritt jemandem auf den Fuß und entschuldigt sich mit »Verzeihen Sie!« und die Entschuldigung wird angenommen, wie schön! Falls nicht, gilt dies als Einladung zum Streit und zur Feindseligkeit. Es werden ein oder zwei Vermittler auf jeder Seite eingeschaltet, die sich bemühen, die beiden Seiten zu versöhnen. Falls die besagte Auseinandersetzung so nicht beigelegt werden kann, wird für diese Angelegenheit ein Tag für ein sogenanntes Duell ausgemacht und die beiden Kontrahenten und ihre Vermittler treffen sich an einem geheimen Ort. Mit einem Abstand von 563 564 565 566
Siehe FN 562. Siehe FN 556. Leutnant müsste weniger bekommen als Hauptmann und Oberleutnant. Siehe FN 562.
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fünfundzwanzig ziraʿ567 und geladenen Revolvern in ihren Händen (yedlerine birer tolu pis¸tov) treten sie einander gegenüber und schießen aufeinander. Wenn ˙ dabei einer von beiden stirbt oder verwundet wird, ist der Streit aufgehoben. Die Regierung (hüku¯met) [47] hat mit dieser Angelegenheit nichts zu tun. Manchmal ˙ kommen Menschen zu Tode und da sich das nicht für die Menschheit ziemt, wird sich bemüht, dies zu unterbinden. Dennoch ist dieser Brauch seit langer Zeit bei den Menschen hoch angesehen. Und weil die hiesigen Leute ohnehin Konflikte nicht mögen, ist es offensichtlich, dass sie diesen Umgang, der zu solchen tödlichen Vorfällen führen kann, als Methode zur Erledigung solcher Angelegenheiten hinnehmen. Deswegen verfahren die besagten Leute auf diese Weise, ohne die Regierung zu informieren. Dies beschränkt sich jedoch nicht nur auf Konfrontationen mit Revolvern. Wenn einer von beiden Kontrahenten den Ort der Entscheidung bestimmt und zu einer Austragung des Konflikts auffordert, wird [das Duell] bestritten, indem der andere mit der von ihm bestimmten Waffe zum Gegenangriff antritt und das Recht erhält, den ersten Schuss zur Begleichung der Feindschaft abzugeben. Einmal wurde ein Apotheker von seinem Kontrahenten aufgefordert, an so einen besagten Ort zu kommen. Auch wenn dieser mit seinen Sekundanten zusammen dorthin kam, nahm er, als über den Einsatz von Revolvern verhandelt wurde, die Herausforderung nicht an und holte [stattdessen] eine Schachtel aus seiner Tasche. Da er mit dem Handwerk des Apothekers und nicht mit den Praktiken des Kampfes vertraut war, lagen in der besagten Schachtel seinem Handwerk entsprechend zwei Tabletten, von denen eine Gift und die andere ein Heilmittel enthielt. Er schlug zur Austragung des Konflikts vor, dass sein Kontrahent die eine und er die andere schlucken sollte. Da [sein Vorschlag] jedoch keinen Zuspruch fand, sahen die beiden Kontrahenten notwendigerweise von ihrer Feindschaft ab. Solche Duelle und Ähnliches kommen immer wieder vor. * In London trifft man nur sehr selten auf Häuser aus Holz, denn die Gebäude sind allesamt solide gebaut aus Stein und Ziegeln. Daher kann bei einem Feuer, auch wenn das halbe oder sogar das ganze Gebäude in Flammen steht, dieses mit Wasserpumpen (tulumbalar) gelöscht werden.568 In England (bu ˙Ingiltere de) ˙ wird für Häuser, Läden und sogar Möbel eine Versicherung (sig˙orite) ab567 Entspricht wie ars¸un dem Längenmaß einer Elle. Siehe FN 513. 568 Zur damaligen Zeit wurden in Istanbul die Häuser aus Holz gebaut, weshalb bei einem Brandfall das Feuer von einem Gebäude auf das andere überging. Um gegen die dadurch zustande kommenden großen Brände vorzugehen, wurde in Istanbul erstmals Anfang der 20er Jahren des 18. Jahrhunderts eine Einrichtung zum Feuerlöschen (tulumba ocag˙ı) offiziell eingerichtet, die gegen die zahlreichen Brände vorgehen sollte. Zu ˙Beginn bestand sie aus einer an die Janitscharen gebundene Militäreinheit von ca. 50 Mann. Im Laufe des Jahrhunderts verzehnfachte sich ihre Zahl, so dass im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in jedem Stadtteil Wasserpumpen zum Feuerlöschen bereitstanden. Siehe Çelik, Yüksel: »Tulumbacı«, in: TDI˙VA 41 (2012), S. 369–371.
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geschlossen. Bei einem Brand geht der Besitzer ganz gelassen und ohne sich umzudrehen hinaus und der Schaden bleibt an den Versicherungsleuten (sig˙oriteciler) hängen. Das Thema Versicherungen ist allgemein bekannt (mevadd-i maʿlu¯me olub). Bevor jemand zum Beispiel sein Haus versichern lässt, wird sein Wert (kaç kı¯se deg˘eri) ermittelt. Wenn sich dieser auf elftausend g˙uru¯¸s beläuft, ˙ werden jährlich fünfundzwanzig g˙uru¯¸s [48] der Versicherungsgesellschaft (sig˙orite kumpanyası) gezahlt, von denen siebzehn g˙uru¯¸s an die Regierung gehen ˙ und acht g˙uru¯¸s der Gesellschaft bleiben. Hunderttausend und zweihunderttausend werden analog hierzu berechnet, so dass der jeweiligen Gesellschaft aufgrund der Versicherungen für Häuser Tausende von kı¯se (bı¯ñ kere yüz bı¯ñ kı¯se) bezahlt werden. Da alle Häuser versichert sind, ist auf einem großen Blech der Name der [ jeweiligen] Gesellschaft gedruckt und über der Tür angebracht. Nun befinden sich in den einzelnen Vierteln des Feuers wegen Wasserleitungen. Wenn ein Brand gemeldet wird, werden die Wasserpumpen der [ jeweilig zuständigen] Gesellschaft dorthin gebracht. Zuerst wird schnurstracks eine Drehleiter, an deren Spitze sich ein Korb befindet, bis zum Vorderfenster ausgefahren. Ein Mann steigt mit hinauf, um festzustellen, in welchem Zustand sich das Innere [des Hauses] befindet. So wie er in den Korb gestiegen ist, kommt er auch im Nu wieder hinunter. Je nachdem werden die Wasserpumpen an die Hähne der Wasserleitungen (su yolınıñ mu¯slu¯kları) angeschlossen und fünfzehn ˙ ˙ ˙ Mann auf der einen und fünfzehn Mann auf der anderen Seite halten [das Wasser auf das Feuer]. Es ist klar, dass das Feuer dieser Maßnahme nicht standhalten kann. Ihre Schläuche sind nicht aus Leder, sondern aus Segeltuch, das extra angefertigt wird und dessen Nahtstellen sorgfältig mit Kautschuk (g˙ume lastik) ˙ behandelt werden.569 An der Spitze des Rohrs befindet sich ein runder Aufsatz in Form einer Kugel, der innen hohl ist und viele Löcher hat. Dieses Rohr kann man nicht einfach in die Hand nehmen und ausfahren, sondern nur schnell in einen Raum halten. Und wenn die Wasserpumpe betätigt wird, trifft das rasch aus den Löchern schießende Wasser alles und löscht geschwind das Feuer.570 Die Feuerwehrmänner (tulumbacıları) haben kein weiteres Gewerbe und keine weitere ˙ 569 Die Instandhaltung der Lederschläuche war wesentlich aufwendiger, da diese regelmäßig eingeölt werden mussten, um das Trocknen und somit Brüche des Materials zu vermeiden. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in Großbritannien die Lederschläuche durch Schläuche aus Segeltuch ersetzt, die biegsamer waren, zudem nur ein Viertel des Gewichtes ausmachten und dadurch einfacher zu handhaben waren. Siehe Blackstone: A History of the British Fire Service, S. 142ff. 570 1848 wurde von Alfred Moore, Wasseringenieur von Warrington, in Zusammenarbeit mit J.F. Bateman, Wasseringenieur von Lancashire, der für die Installation des Systems in der Stadt zuständig war, der Ballhydrant entwickelt. Die Erfindung dieses Hydranten und die Versorgung mit Wasserleitungen brachte zwei neue Vorrichtungen zum Feuerlöschen mit sich: die Schlauchtrommel und den Schlauchkarren. Siehe Blackstone: A History of the British Fire Service, S. 142.
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Aufgabe.571 Sie gehen jeden Tag in ihre Viertel und sind dort mit den Werkzeugen zum Feuerlöschen beschäftigt.572 Sie tragen einen Überwurf, der nicht schnell in Brand gerät, und auf ihren Köpfen einen Helm. Eine Gruppe trägt auch eine Art Panzerhemd, das aus Eisendrähten hergestellt ist und das eine gewisse Zeit dem Feuer standhält. Mit dieser Angelegenheit befassen sich außer der Bezirksfeuerwehr (mahalle tulumbası) 573 auch die Versicherungsgesellschaften. Es ˙ ˙ kommt hier nicht vor, dass sich alle versammeln, sich extra um die Wasserpumpe drängen und Wasserträger Wasser herbeibringen, so wie wir es kennen (öyle bildig˘imiz gibi). Und falls jemand vorbeikommen und sich einmischen [49] sollte, wird er mit Schlägen vertrieben. Ohne dass überhaupt Gerede darüber aufkommt, dass es an jenem Tag ein großes Feuer gab, wird es ohne viel Aufsehen gelöscht. Eines Tages hat es sogar in dem von uns bewohnten Viertel gebrannt, aber außer denjenigen, die sich im Haus aufgehalten hatten, hat niemand etwas davon mitbekommen. Erst nach dem Aufstehen am nächsten Tag bemerkte ich beim Vorbeigehen, dass die Hälfte des Hauses komplett vernichtet war. Kommen wir auf Brände an Orten zu sprechen, zu denen es keinen Zugang gibt. Für diese gibt es extra große Eimer, die von Hunderten Leuten, aufgestellt in zwei Reihen, an einem derer Enden gefüllt und von Hand zu Hand weitergereicht werden. Bei so viel Einsatz wird sogar solch ein [Feuer] mit Leichtigkeit gelöscht. Bei diesen Bränden passiert aber auch viel Betrügerei (hileka¯rlık). Wenn der ˙ ˙ Hausbesitzer den Gegenwert seines Hauses oder seiner Möbel von der Versicherung bekommen möchte, wird ihm solange nichts ausbezahlt, bis nicht eingehend [alles] ermittelt und aufgeklärt wurde, auch dahin gehend, ob nicht aufgrund einer Feindschaft etwas vorgefallen ist. Kurz gesagt, kommt es in London den Berechnungen nach zu durchschnittlich zwei Bränden am Tag. Es wird berichtet, dass es in den Fabriken (fabrikalar) jedoch vermehrt vorkommt ˙ und man sogar erlebt hat, dass diese ziemliches Ausmaß annehmen können. 574 Einmal habe selbst das Parlamentsgebäude gebrannt. Ein Chemiker namens
571 Die Feuerwehr in Großbritannien bestand aus festangestellten als auch aus freiwilligen Feuerwehrmännern. Die bei den Versicherungsgesellschaften angestellten Feuerwehrmänner bildeten einen wichtigen Bestandteil des britischen Brandschutzsystems. Siehe Blackstone: A History of the British Fire Service, S. 122ff. Im Unterschied hierzu bestand im Osmanischen Reich insbesondere die mahalle tulumbacılıg˘ı (die Bezirksfeuerwehr) aus ˙ S.˙370. freiwilligen Helfern. Siehe Çelik: »Tulumbacı«, 572 Zur damaligen Zeit wurde ein britischer Feuerwehrmann im Durchschnitt täglich zu drei Einsätzen gerufen. Siehe Blackstone: A History of the British Fire Service, S. 118. 573 Siehe FN 568. 574 Der Brand des Parlamentsgebäudes (Houses of Parliament) am 16. Oktober 1834, bei dem der Westminster Palace und die St. Stephan’s Chapel fast vollkommen zerstört worden sind, gilt als eine der größten Brandkatastrophen Großbritanniens. Siehe Blackstone: A History of the British Fire Service, S. 118.
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Phillips575 hatte ein Mittel erfunden, das mit Hilfe eines bestimmten Apparats in die Mitte eines Feuers geworfen wurde und dieses in kurzer Zeit löschte. Ich befand mich in London, als dieses Mittel an Gebäuden, geteerten Gegenständen und weiteren Dingen erprobt wurde. Der Erfindungsgeist des oben Genannten erschien unermesslich. Während allen der Kopf schwirrte und man sich fragte, was das wohl sei und wie es wohl [dem Feuer] entgegenwirkte, haben einige kluge Köpfe darüber nachgedacht und herausgefunden, wie er dieses Mittel entdeckt und entwickelt hat und wie es funktioniert. Nun verfügt Luft, die für jede Flamme, jedes Ein- oder Ausatmen oder dergleichen verantwortlich ist, über gewisse Eigenschaften. Wenn [diese] Eigenschaften proportioniert und ausgeglichen sind, entsteht wie bei der Verbindung von Geist und Körper eine Materie. Wenn über eine Flamme eine Glasglocke, die alles abdichtet, gestülpt wird und die Glocke groß und weit genug ist, um den Körper und die Flamme zu ernähren, [50] geht die Kerze nicht aus und brennt weiter. Auch wenn eigentlich aufgrund von fehlender Luft die Flamme beim Überstülpen von einem ganz kleinen Gefäß sofort erlischt, so geschieht dies aufgrund eines der Mittel, das in jenem Moment durch einen nicht vorhandenen Ausgleich der Materie entgegenwirkt. So als wenn zum Beispiel in einem Zimmer, ohne dass sich dort jemand befindet, eine Kerze brennt, unterscheidet sich das von einer brennenden Kerze in einem Zimmer, das voller Leute ist, denn das durch den Atem der Leute erzeugte Gas sorgt dafür, dass das Licht der Kerze erlischt. Die genannte Person hat lange danach geforscht, bei welcher Substanz dieser Zustand entsteht, und sie im Kalk (kı¯rec) gefunden. Er fügte noch einige Ingredienzien hinzu, verstärkte [die Wirkung] und gelangte durch von ihm selbst durchgeführte Experimente [zu seiner Erkenntnis]. Er ließ die Regierung wissen, dass er mit einem bestimmten Mittel jeglichen Brand löschen könne. Zu Beginn der oben beschriebenen Experimente wurde aus altem Holz ein großes Gebäude gebaut, dass mit Lumpen und Papier gefüllt wurde. Alles stand sofort in Flam575 In dieser Zeit befassten sich einige Chemiker damit, Feuervernichter bzw. Feuerlöscher zu entwickeln, indem sie versuchten einen der Stoffe, die Feuer zum brennen braucht, zu eliminieren. Der bekannteste unter ihnen ist Phillips, der für seinen Feuervernichter (Fire Annihilator) 1841 ein Patent erhielt. Seine Erfindung bestand aus zwei zylinderartigen Gefäßen, dessen innerer Holzkohle, Gips und Pottaschenitrat enthielt. In der Mitte dieser Mixtur befand sich eine Glasflasche, die wiederum Pottaschechlorat und Zucker enthielt und mit einer weiteren Flasche mit Schwefelsäure verbunden war. Das äußere Gefäß enthielt Wasser und beide Gefäße waren mit einem Querrohr verbunden. Beim Aufschlagen zerbrachen die Flaschen, so dass ihr Inhalt entflammte. Die beiden Behälter waren durch Löcher und Bohre miteinander verbunden, so dass sich der Dampf des erhitzten Wassers mit dem Gas des brennenden Inhalts mischte. Diese Mischung aus Dampf und Gas wurde aus einem Rohr ausgestoßen und bildete eine dichte Wolke, welche laut Phillips und seinen Unterstützern selbst das größte Feuer rasch löschen sollte. Auf der Londoner Weltausstellung von 1851 erhielt diese Erfindung sogar einen Preis. Siehe Blackstone: A History of the British Fire Service, S. 144.
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men und der besagte Phillips brachte die genannten Utensilien. Sobald er es an verschiedene Stellen auswarf, entstand Rauch, und die Flammen und die Glut des Feuers erloschen. Einige waren selbst dadurch noch nicht überzeugt und bauten für ein großes Feuer ein geteertes Ding in Form eines Schiffes. Es brannte wie ein Dreidecker (üç anba¯rlı) 576 brennen würde. Es ist bekannt (maʿlu¯mdır), dass, nachdem von allen bezeugt wurde, dass das Feuer mit diesem neuen Mittel gelöscht wurde, der besagten Person ein Patent für ihre Erfindung gegeben wurde. Chemiker sagen, dass diese Materie nicht nur aus der Wirkkraft von Kalksubstanz besteht, sondern aus vielen Stoffen zusammengesetzt ist. Zu Londons Merkwürdigkeiten (ʿaca¯yı¯b) 577 gehört eine Art des Fischens. Ich habe aus nächster Nähe gesehen, dass die Londoner an ihren freien Tagen mit dem Fischen beschäftigt sind und darin ihr vollkommenes Pflichtbewusstsein den höchsten Grad erlangt. In dem Fluss, der vor der Stadt London fließt, und in seinen Nebenarmen gibt es kleine Fische, aufgrund derer an den Feiertagen mehr als tausend Leute an seinem Ufer zusammenkommen. Da sich die Fische dort in der Mitte des Gewässers herumtreiben, ist es nicht möglich, sie wie in Istanbul gesehen mit Angeln [51] zu fangen. Sie hängen eine Feder an die Spitze einer Gerte, die so lang ist wie die einer Kutsche, und befestigen darunter an einem Haar eine Spitze. So sind sie von morgens bis abends am Flussufer beschäftigt. Die [Anzahl der] Fische hat sich jedoch im Laufe der Zeit durch das ständige Angeln mit solchen Geräten wie der Gerte verringert. Aufgrund ihres tierischen Instinktes machen sie sich davon, sobald sie die Angel sehen. Die Angler sind äußerst glücklich, wenn sie ab und an drei oder vier Fische fangen. Da sie jedem erzählen, sie seien begabte Angler und hätten in einem Monat vier Fische gefangen, könnte man es ja vielleicht auch in der Zeitung verkünden. Und wenn es auch in Istanbul wahrlich ein Interesse am Angeln gibt, so ist dies [hier] im wahrsten Sinne ebenfalls zu einer Wissenschaft (fenn) geworden, zu der es die notwendigen Geräte und die [theoretischen] Grundlagen (usu¯l) gibt. Eine An˙ gelausrüstung in London kostet fünf bis sechs g˙uru¯¸s. Als ich eines Tages am Flussufer entlang ging, sah ich Leute am Wasserrand versammelt. Beim Näherkommen erkannte ich, dass sie mit dem Fischen beschäftigt waren. Als ich auf gebrochenem Englisch (yarım lisa¯n ile) einen von ihnen ansprach, sagte er mir: »In den neunzehn Tagen seit Monatsbeginn hatte ich drei Fische an der Angel, aber der Mann hier hat in dieser Zeit sieben bis acht Fische gefangen.« Als ich – neugierig auf die Fische aus diesem Fluss – zu dem Mann herüber ging und ihn danach fragte, zeigte er mir voller Stolz die Fische. Was ich sah, waren seltsame 576 Linienschiff mit drei Batterien übereinander. Siehe Steuerwald: »üçambarlı«, TürkischDeutsches Wörterbuch, S. 972. 577 Neben der eigentlichen Schreibweise (ʿaca¯ʾib) existiert auch die hier verwendete Schreibweise ()ﻋﺠﺎﻳﺐ. Siehe Zenker, Julius Theodor: »ʿacı¯b«, in: Türkisch-Arabisch-Persisches Handwörterbuch, Bd. I/II, 2. Auflage, Hildesheim / New York 1979, S. 623.
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(ʿaca¯yı¯b) Fische so klein wie ein Finger. Als ich »was kann man mit denen schon anfangen« sagte, schaute mich der Mann durch und durch böse an. Kurz gefasst, fühlt sich die hiesige Bevölkerung wie allem und in jedem Bereich auch dem Fischen verpflichtet. Die Reichtümer der wohlhabenden Leute Englands sind vom Hörensagen bekannt. Sie wohnen in verschiedenen Villen und Palästen und geben Tausende von kı¯se zu ihrem Vergnügen und ihren Freuden aus. Im Gegensatz zu ihnen ist die Situation der armen Schicht erbärmlich.578 Sie ist hungrig und mittellos und klagt wie in eine einsame Ecke gedrängte Fliegen. Die Zahl derjenigen, die Geld brauchen, ist unüberschaubar (hadd ü hesa¯bı yokdır). Die meisten von ihnen ˙ ˙ ˙ sind Irländer, die, da sie in ihrem eigenen Land (mahallerinde) kein Auskommen ˙ haben, in eine große Stadt wie London ziehen, mit dem Traum, dass sie in der bedeutenden Hauptstadt des Königreiches mit Sicherheit eine Arbeit finden und leben können.579 Aufgrund der hohen [52] Bevölkerungszahl580 bleiben sie jedoch auf der Straße und sterben hungers. All diese armen Leute waren nicht von Beginn an mittellos. Es sind Geschäftsleute, von denen manche Händler und manche Fabrikbesitzer waren, bis die Händler dem Luxus verfallen sind und sich die Industriellen nach einer neuen Erfindung keine Grundlagen schafften, sondern mit ihrem Gewinn [gleich] etwas Neues hervorbringen wollten, um ihren Namen und Ruf aufrechtzuerhalten und sie schließlich – so habe ich durch häufiges Nachfragen herausfinden können (rehı¯n-i tahk¯ıkim olmus¸dur) – auf ˙˙ ˙ jedes Geld angewiesen sind (bir pu¯la muhta¯c). ˙ Ein weiterer Grund, warum die Zahl der Mittellosen bis heute ansteigt, ist, dass geheiratet wird, ohne über Kinder und Nachkommen nachzudenken, obwohl der Mann noch mehr als sein eigenes Auskommen auch das seiner Frau regeln muss. Schließlich bekommen sie drei oder vier Kinder, sind nicht in der Lage, sich zu versorgen und alle werden sie bedürftig. Kurz gesagt, es gibt verschiedene Abstufungen, aber die meisten finden keine Unterkunft und erfrieren im Winter auf der Straße oder verhungern. Die anderen wenigen finden zumindest einen Unterschlupf und sind in der Lage, gegen Verpflegung einen Dienst zu leisten. 578 Das rasante Wachstum Londons zur Zeit der Industriellen Revolution schaffte hohen Wohlstand für einen kleinen Teil der Bevölkerung, während viele Arbeiter in extremer Armut in Elendsvierteln ihr Dasein fristeten. Der Großteil der Bevölkerung, nämlich etwa zwei Drittel, gehörte der sozialen Unterschicht an. Ihr Einkommen machte lediglich ein Viertel des Volkseinkommens aus. Die Hälfte der Unterschicht lebte in Armut am Rand oder unterhalb des Existenzminimums. Siehe Niedhart: Geschichte Englands im 19. und 20. Jahrhundert, S. 43f. 579 Die europaweite Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts wirkte sich besonders auf Irland aus, wo ihr in der Zeit von 1846 bis1852 ein Achtel der Bevölkerung zum Opfer fiel. Siehe Osterhammel: Das 19. Jahrhundert, S. 40. 580 Die Zahl wird Mitte des 19. Jahrhunderts für London auf Zweimillionen geschätzt. Siehe Niedhart: Geschichte Englands, S. 43.
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Manche arbeiten auch in Krankenhäusern. Ein Teil lebt davon, Hemden oder Westen oder andere alte Kleidung, die sie erhalten, zu flicken oder [andere] niedere Dienste zu leisten. Da das Betteln verboten ist,581 werden diejenigen, die es [dennoch] wagen, vertrieben oder bekommen eine Strafe. Mit der Errichtung von zahlreichen Hospitälern (ispitalya), Armenküchen (ʿima¯retler) und vielen Badeeinrichtungen (mag˙seller) 582, wurde mithilfe der Spenden von den Reichen und der Bevölkerung Londons eine Maßnahme ergriffen, um die Armen aus ihrer aussichtslosen Lage zu befreien. Dennoch ist es nicht möglich, [die Armut] zu überwinden und sie los zu werden. Ihnen wird in aller Form nahegelegt, in ihre Länder zurückzukehren. Wenn ihnen dies nicht möglich ist, bleiben sie in ihrer Armut gefangen. Wer an etwas Geld kommt, verfällt aus Kummer dem Trinken und lebt weiter in kümmerlichen Verhältnissen. Ich bin vielen Leuten begegnet, die keine Arbeit finden konnten und daher heruntergekommen und elend umherzogen. Unter ihnen war auch ein Schneiderlehrling, der keine Arbeit und kein Einkommen hatte und seit über einem Jahr [nur] gegen Verpflegung Dienst leistete583. Ich habe auch einen Seemann gesehen, der mit der Annahme kam, dass die Häfen von London der Knotenpunkt der Schifffahrt seien. Da sich [seine Hoffnung] nicht erfüllt hatte, lebte er ohne Gehalt von Essensresten. Diejenigen, mit denen ich sprach, sagten mir, dass es einen Sekretär gab, der gerade noch in einer der Armenküchen [53] unterkommen konnte. Die meisten derjenigen, die in äußerste Verzweiflung geraten, begehen absichtlich eine Straftat, um ins Gefängnis geworfen zu werden und dort zumindest einen Platz zum Schlafen und etwas zu Essen zu bekommen. Dann sind da noch die Fabrikarbeiter, die vom Hungertod bedrohte Kinder (sibya¯n) gegen etwas Essen dafür einsetzen, den ˙ Staub zwischen den Rädern (çarhlar) mit ihren Händen aufzusammeln. Und ˘ wessen Todesstunde noch nicht gekommen ist, erledigt seine Arbeit und überlebt. Die meisten geraten aber zwischen die Räder und kommen dabei ums Leben. Um das Mitleid der Wohlhabenden zu erlangen, stechen manche die Augen ihrer Neugeborenen aus, schneiden ihre Ohren ab oder brechen ihnen die Arme. Da die Fabrikbesitzer diese Gruppe von armen Arbeitern wie Sklaven (esı¯r gibi) Tag und Nacht siebzehn Stunden haben arbeiten lassen, hat die Regierungen eingegriffen. Im Gegensatz zu der Armut dieser mittellosen Leute hat der Reichtum der wohlhabenden Schicht, von der in dieser Reisebeschreibung (seya¯hatna¯me) berichtet wurde, ein solches Ausmaß erreicht, dass, wie uns be˙ kannt ist (maʿlu¯mumuzdır), eine noch immer in Istanbul ansässige Person (Der581 Wörtlich: çünke bunlarca dilenme ma¯ddesi memu¯nʿ oldıg˙ından. 582 Mit mag˙sel bzw. g˙usülha¯ne ist eigentlich der Raum für die rituelle Ganzwaschung gemeint. ˘ Siehe Steuerwald: »gusülhane«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 345. 583 Im Original ist das Wort »Dienst« (hidmet) nur unvollständig durch ein ›h‹ und ein ange˘ ˘ deutetes ›m‹ dargestellt.
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saʿa¯det’de ika¯met üzere bulunan bir za¯t) täglich hundertzwanzig g˙uru¯¸s verdient ¯ ˙ und eine andere (biri) ein Einkommen von einem englischen Lira die Minute hat.584 Denjenigen, die in der Weltgeschichte bewandert sind, bleibt es nicht verborgen, dass das Erlernen der weltlichen Ereignisse den Horizont erweitert und allen Schichten viel Nutzen bringt. Daher legen die Europäer großen Wert auf das Studium der Geschichte. Um außerdem Kenntnis von täglichen Gegebenheiten zu erlangen, werden Zeitungen (g˙azeteler) produziert, über die sie dann Nachrichten aus der Welt erhalten. Und auch in London werden eben auf diese Weise Nachrichten über zahlreiche Zeitungen verbreitet. Und selbst ein wild gewordener Hund findet seinen Platz auf den Seiten. Daher ist die hiesige Bevölkerung nicht darauf angewiesen, von jemand anderem Nachrichten über Ereignisse zu erhalten, sondern kann sie durch Zeitungslesen [selbst] in Erfahrung bringen. Sie sind also auch so schweigsam, weil sie alles aus den Zeitungen erfahren können und nicht ihre Freunde im Gespräch danach fragen müssen. Da die Zeitungen keine Hauptabnehmer (bas¸lıca müsterileri) wie in Istanbul (I˙stanbul) haben, werden sie einzeln verkauft. Der Einzelverkauf der Zeitungen hat den Vorteil, dass die Zeitungsleute (g˙azeteciler) die Nachrichten erfahren, bevor sie jemand anderes hört, [54] und versuchen, ihre Zeitungen interessant (tuhaf) zu gestalten. ˙ Sie bemühen sich und sind darauf bedacht, mehr als die anderen zu verkaufen. Beim Verfassen wird nicht auf einen guten Stil geachtet. Es geht vielmehr um den Inhalt der Nachrichten. Sie malen die Ereignisse mehrmals mit ein paar Hinzufügungen aus und verbreiten sie so in der Welt. Die besagten Zeitungen werden auf den Straßen an dreißig oder vierzig Stellen mithilfe verschiedener Ankündigungen verkauft. Es gelingt ihnen, [den Verkauf] aufrechtzuerhalten, indem sie [zum Beispiel] eines Tages in der Zeitung schreiben, dass ein Mann erschossen wurde. Ein paar Tage später wird durch die Straßen gerufen, dass die Angelegenheit bezüglich des vor kurzem erschossenen Mannes untersucht wurde (tahk¯ık olunub) und in ihrer Zeitung (g˙azetemize derc) darüber berichtet ˙˙ ˙ wird. Weil solche Nachrichten für hiesige Leute unerlässlich (mecbu¯r) sind, stürzen sie sich auf die Zeitungen, bis alle aufgekauft sind. Die oben erwähnte Nachricht wurde sogar in drei oder vier verschiedenen Zeitungen an einem Tag veröffentlicht. Eine hat mir sogar besonders gut gefallen. Die Verkäufer verkündeten laut: »Ein Journalist mit dem Namen Gruber585 (?) hat den Zustand des vor ein paar Tagen angeschossenen Mannes und den Grund dafür gebührend recherchiert und berichtet in unserer Zeitung darüber. Wer sich 584 Der Autor spielt hier womöglich auf bestimmte in Istanbul lebende Personen an, die der Allgemeinheit bekannt sind. Vielleicht auch auf den Engländer William Churchill, dem Herausgeber der Zeitung, in der der vorliegende Reisebericht abgedruckt wurde. 585 Im Original wie folgt geschrieben: ﻗﻮﺭﻫﺒﻪ.
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darüber informieren möchte, möge unsere Zeitung kaufen.« Und so verkauften sie ein paar Tausend Zeitungen. Auch ich war neugierig darauf und kaufte mir eine. Nachdem ich sie gelesen hatte, erkannte ich, dass die besagte Nachricht genauso wie in den vorherigen Zeitungen beschrieben war und nur hinzugefügt worden war, dass, als dieser Mann noch bei Gesundheit war, eines Tages ein Barbier zu ihm gekommen war, um ihn zu rasieren, er dies aber nicht wollte und sich daher nicht rasieren ließ. So behaupten sie also, die Wahrheit geschrieben zu haben und verkaufen, indem sie die Leute täuschen, ein paar Tausend Zeitungen. Es ist so, dass täglich bis zu hundertfünfzig Schiffe aus dem Ausland nach London kommen und Nachrichten bringen. Die Zeitungsleute haben extra Männer, die sich zu den Schiffen begeben, um Neuigkeiten in Erfahrung zu bringen. Während das Schiff noch dabei ist, sich aus der Ferne zu nähern, fahren sie zu diesem hin, nehmen die Nachrichtenblätter entgegen und kehren wieder zurück. Wenn das Schiff angelegt hat, verkünden sie [bereits] die Neuigkeiten. Aus Amerika und Indien fahren ständig Schiffe im Hafen mit dem Namen Southampton ein und aus. Da sie zahlreiche Nachrichten mitbringen [55], stehen einzelne Männer der Zeitungsleute am besagten Hafen und beobachten vom Ufer aus die Schiffe mit dem Fernglas. Sobald sie sie aus der Ferne sehen, steigen sie in ihre überaus schnellen Boote und fahren den Schiffen entgegen. Sie nehmen die Nachrichtenblätter an sich und gelangen vor dem Schiff an die Anlegestelle. Die besagten Blätter lesen sie [allerdings schon] im Boot und schicken sie mit Hilfe von Telegrafen umgehend an ihre Zeitungsleute, so dass die Nachrichten verkündet werden, bevor das Schiff [überhaupt] angekommen ist. Wie sie Nachrichten über Telegrafen erhalten, ist jedoch eine seltsame Sache (bir tuhaf ¸seydir). ˙ Jemand, der nicht Bescheid weiß, versteht trotz Lesens kein Wort. Eines Tages habe ich sogar ein Zeitungshaus (g˙azeteha¯ne) besichtigt und ˘ nachdem ich mir ihre Druckmethoden angeschaut hatte, kam gerade eine Nachricht per Telegraf ein. Um die Nachricht der Stunde zu erfahren, fragte ich den Zeitungsmann auf Französisch danach. Da dem Mann die Sprachen und Sitten der Ausländer vertraut waren, verstand er, dass sich meine Frage darauf bezog, den Inhalt des Telegramms zu erfahren. Er schrieb die Nachricht auf Französisch auf und reichte sie mir. Daraufhin habe ich gelesen, was auf diesem Zettel stand. »[?] 586 Jamaika – zwei – August587 – zwanzig – sechs – Antillen – Krieg – beenden – eine – Million – Zinsen – fünfzigtausend – in Havanna – Sturm –
586 Im Original wie folgt geschrieben: ﻏﺮﺑﺖ ﺩﺳﺘﻦist der Name eines Handelsschiffes, wie weiter unten deutlich wird. Dort in leicht abgewandelter Form, nämlich mit ›t‹ anstelle von ›t‹ geschrieben, konnte der Name dennoch nicht identifiziert werden. 587 Der Monatsname konnte nur vermutet werden. Weiter unten wird durch den Textzusammenhang ersichtlich, dass ein Monat gemeint ist. August ist wie auch Turan bemerkt
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hundert – Schiffe – Erträge – Jamaika – Regen.« Wie oft ich es auch las und wie sehr ich auch darüber nachdachte, ich verstand nichts und der Zeitungsmann fragte, warum ich so verdutzt (mütehayyır) sei. Ich sagte, dass ich mit diesem ˙ Schreiben überhaupt nichts anfangen könne, [und fragte], was denn das für eine Nachricht sei. Er antwortete: »Wenn morgen unsere Zeitung erscheint und Sie sie lesen, werden Sie verstehen, um was es sich in dieser Nachricht handelt.« Dieser Text kam mir geradezu wie Unsinn vor! Da ich unbedingt wissen wollte, was darin geschrieben stand, konnte ich die Nacht vor lauter Neugier nicht schlafen und ging früh am Morgen gleich hinaus auf die Straße. Ich kaufte die Zeitung und las die besagt Nachricht, die da sagte: »Am gestrigen Donnerstag kam das Schiff mit dem Namen [?] 588 der Indien-Kompanie von den Antillen und überbrachte die Nachricht, dass es von Jamaika Zeitungen und Nachrichtenblätter vom Zweiten des vergangenen Monats und vom sechsten August gebracht habe. Die Händler haben von den eine Million Schulden, die die Mexikaner [56] bei den Londonern haben, fünfzigtausend Rial überbracht. Zwanzig – (?) 589 Mit dem Aufkommen sehr heftiger Stürme sind außer den Zerstörungen in der Stadt fast hundert Handelsschiffe gesunken und beschädigt worden. Auch auf Jamaika gab es einen starken Sturm, der aber nicht so große Schäden hinterließ. Auf den Antillen sei zuvor die Cholera ausgebrochen, da es aber nicht so heftig gewesen war, konnte sie ohne größeren Schaden überstanden werden. Der Ertrag von Zucker und Kaffee ist Gott sei Dank gestiegen.« Dass sie aus so einem Unsinn eine solche Nachricht herausfiltern, also dass sie die Berichte der Ereignisse chiffriert und mit Kürzeln schreiben, ist ein Beweis dafür, dass sie [auch] dies [wieder] aus äußerster Notwendigkeit heraus tun mussten. In England gibt es Gerichte verschiedenen Charakters. Wenn jemand, der sich etwas zu Schulden hat kommen lassen, ein Mörder, Dieb, Schwindler, Unruhestifter oder dergleichen ist, wird er sofort ins Gefängnis geworfen. Danach wird die ihm obliegende Strafe vollstreckt. [Personen, die] mit anderen kleinen Vergehen zur Polizei gebracht werden, werden zu einer Zahlung von tausend und wenn zwei Leute für ihn bürgen, ebenfalls tausend g˙uru¯¸s verpflichtet und bis zum Tag des Gerichtsentscheids freigelassen. Der weitere Verlauf wurde zu Beginn dieses Berichts (risa¯le) beschrieben. Eines Tages hatte ein Mann namens Sir Hamilton seine Frau totgeschlagen und als ich davon hörte, dass er zur Vernehmung vor Gericht gebracht würde, ging ich dorthin, um den Prozess zu verfolgen. Es waren Tausende von Männern und Frauen mit Kind und Kegel auf den Straßen und es war kein Platz zum Vorbeigehen oder Stehen. Und hätte man (siehe FN 17 seiner Transkription in Seyahatname-i Londra) dem Begriff ﻭﺭﻫﻘﻮﺯbzw. ﻭﺭﻗﻮﺯ am nächsten. 588 Siehe FN 586. 589 Die Bedeutung der ausgeschrieben Zahl Zwanzig mit folgendem Längsstrich im Original konnte nicht ausgemacht werden.
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umkehren müssen, so hätte es dafür keine Lücke gegeben. Wie dem auch sei, ich wurde durch das Gedränge weiter nach vorne geschoben. Der vorstehende Richter (bas¸ ha¯kim) und die Rechtsvertreter (daʿva¯ vekı¯lleri) ˙ erscheinen in besonderen Gewändern. Und zwar tragen die englischen Richter und Rechtsvertreter lange schwarze Roben (fera¯ce) und bedecken ihre Köpfe, die vorstehenden Richter tragen künstliches Haar, das bis zum Rücken reicht, und sie rasieren ihren Schnurrbart und ihre Bärte. Nachdem nun der vorstehende Richter in dieser Aufmachung auf einen großen und erhöhten Platz gestiegen war und sich gesetzt hatte, nahmen ihm gegenüber die Schreiber und an seiner Seite die Rechtsvertreter Platz. Aufgrund der Menschenmenge hat der Ort einen solchen Zustand [57] angenommen, dass daneben ein Hamam (hamma¯m) einem ˙ kühlen Raum (serda¯b) gleichkäme. Um den Prozess zu beobachten, geduldeten wir uns und nahmen es auf uns, zu warten. Wir harrten aus bis zum Abend und bis der Fall abgehandelt war. Einmal läuteten Glocken und alle nahmen ihre Hüte vom Kopf und achteten sittsam auf das, was der vorstehende Richter zu sagen hatte. Nachdem er auf bestimmte Art das Gebet und ein paar Worte gesprochen hatte, wurden einige bereitstehende Polizeiangestellte damit beauftragt, den Mörder (ka¯til herif) zu bringen. Der Mörder wurde ohne Fesseln mit ein paar ˙ ˙ Dingen wie einem blutigem Hemd und Taschentuch, einem mit Blut verklebtem Messer, einer blutverschmierten Hose, blutigem Haar und weiteren solchen Dingen, die als Beweismittel vorgelegt werden sollten, hereingebracht. Dabei stießen und schubsten sich die anwesenden Leute alle gegenseitig an, als käme ein großer Festzug vorbei, den es unbedingt zu sehen und zu bewundern gelte. Sie standen dabei auf, machten Krach und riefen laut, dass es den Rechtsvertretern und mir590 zu viel wurde. Zudem wurden die Augen des Mörders ganz groß und seine Haare standen ihm vor lauter Wut zu Berge. Er war von Kopf bis Fuß verdreckt und hatte ein finsteres Aussehen, so dass diejenigen, die ihn sahen, [danach] vom Unglück verfolgt waren (göreniñ is¸i ra¯st gelmez). Er, der böse und widerwärtig und in den Augen der Menschheit als unsittlich und verabscheuenswert galt, stand auf einer Seite. Der Verteidiger, der den Mörder den Praktiken der Regierung gemäß offiziell verteidigt, und der Ankläger591, der ihm gegenübertritt, trafen aufeinander. Da in den Prozessen Englands die Familien ihre gesamten Rechtsansprüche auf die Regierung übertragen, ist es nicht möglich, egal wie die Verhandlung ausgeht, sich nicht einverstanden zu erklären. Daher wird mit Hilfe der Rechtsvertreter in Anwesenheit der Richter [der Prozess] erörtert und zu einem Ende gebracht. Ihre Gesetze sind von der Art, dass, wenn sie den Schuldigen zum Sprechen gebracht haben, sie ihn vier bis fünf 590 Erste Person Plural im Original. 591 Der Autor nennt den Verteidiger daʿva¯cı und den Ankläger vekı¯l-i daʿva¯, was nach heutigem Sprachgebrauch umgekehrt sein müsste.
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Stunden festhalten und, um ihn zu verwirren, immer wieder befragen. Der erwähnte Richter fängt damit an, den Mann einzeln nach seinem Namen, seinem Namenszusatz (s¸öhret), seinem Alter und seinem Vergehen zu fragen. Streitet der Mann alles ab und lügt, beginnen die Fragen von Vorne. Zwischendurch kommen wütende und aufgebrachte Sätze wie »Bringt diesen Mörder weg.« [58] Schließlich nach bis zu fünf Stunden Verhör sagt [der Richter]: »Dies ist ein langwieriger Prozess, der nicht an einem Tag abzuhandeln ist. Bringt diesen Mann wieder in die Zelle. Wir schauen morgen weiter.« Er ließ die an jenem Tag gemachten Aussagen schriftlich festhalten. Wenn einen das Interesse gepackt hat, einer Sache auf den Grund zu gehen (tahk¯ık), ist es selbstverständlich, dass man sich bemüht und anstrengt, bis man ˙˙ ˙ mit der Sache vertraut ist. Auch wenn Gott (huda¯) und ich allein nur wissen, ˙ welchen Strapazen ich an jenem Tag in dieser Menschenmenge ausgesetzt war, erreichte ich am nächsten Tag in Neugier darauf, wie es wohl weiterginge (bakalım ne olacak), vor allen anderen das Gericht. Ich suchte mir einen Platz und ˙ ˙ setzte mich, um alles sehen zu können. Ich gehörte zu den Zuschauern, die [als erstes] hereingefunden hatten. Was ich gesehen habe, waren insgesamt vierundzwanzig Männer und Frauen, die als Zeugen aussagten. Als er an der Reihe war, sprach der Ankläger, dass der Mörder die erfolgte Tat abstreite, sei nicht ausreichend. Es müsse bewiesen werden, dass er möglichenfalls diese schlimme Tat nicht begangen habe. Danach gingen die anwesenden zwölf Richter, um den Fall zu beschließen, in ein anderes Zimmer. Nachdem sie sich besprochen hatten, kam der vorstehende Richter und trug ein großes schwarzes Ding auf seinem Kopf, das für den Tod stand. Er setzte sich auf seinen Platz und sprach zum Mörder: »In allen Religionen ist festgeschrieben, dass entsprechend der Gesetze für Menschheitsrecht eine Person, die es wagt, jemanden ihresgleichen umzubringen, zum Richtplatz gebracht und dort hingerichtet werden muss. Daher werden sie auch dich noch heute auf dem Soundso-Platz (füla¯n meyda¯nda) hängen. Lass uns gleich zum Herrn (mevla¯) beten, damit er dir im Jenseits Gnade und Gunst erweist.« Nachdem er diese Belehrung gesprochen hatte, befahl er, die Angelegenheit mit dem besagten Mörder zu beenden. Umgehend kamen Polizeiangestellte und führten den Mann ab. An jenem Tag überkam mich ein Unbehagen und ich wollte eigentlich nicht zum Richtplatz gehen, aber wie es nun auch gekommen sein mag, ging ich stolpernd und der Ohnmacht nahe dorthin, um mir auch das anzuschauen. Neben dieser Ansammlung von Menschen wirkten andere [Versammlungen] geradezu wie Einöden. Klein und Groß sammelten sich, als wollten sie einem großen Festzug zuschauen, und auch Verkäufer und Taschenspieler waren anwesend. Die Händler schlossen ihre Geschäfte, [59] als wäre es ein Feiertag, und machten sich auf, um gegen Gebühr auf die bereitgestellten Bretterbühnen zu klettern und zuzuschauen. Aber Allah stehe mir bei, in meinem Leben habe ich noch nie einen schlimmeren Tag als jenen erlebt!
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Sie machen nämlich solch eine Zeit des Unheils und Übels wie einen Freudentag zu einem Geschäft von Tausenden von kı¯se. Dabei kommt es zu unterschiedlichen Schäden wie gebrochenen Armen, verwundeten Köpfen und gestohlenem Geld. Da eben solche Plätze zu Ausflugsorten der dortigen Gaunergruppen (I˙ngiliziñ çapkın takımı) werden, habe ich es mir, obwohl ich mich sehr ˙ ˙ ˙ geschämt habe, nicht nehmen lassen, über fünfundzwanzig g˙uru¯¸s Platzgeld zu zahlen und mir alles angesehen. Ich habe einen riesigen Balken gesehen, der aus einem Holzkasten, der wie die Innenseite eines Fensters aussah, herausragte und um den Seile hingen. Während sie die Vorbereitungen zum Hängen trafen, verkauften Maler das Bild des Typen (herif), der gehängt werden sollte. ˙ Schließlich wurde der Mörder [selbst] auf den Richtplatz gebracht. Der Arme (bı¯ça¯re) machte Anstalten, etwas zu sagen, aber in dem Durcheinander beachtete ihn niemand und keiner hörte ihm zu. Zehn Minuten nachdem er gebracht wurde, zog man ihm einen schwarzen Sack über den Kopf. Er musste auf ein Holzgestell steigen und während um seinen Hals Stricke lagen, wurde die Falltür des Schranks betätigt. Seine Füße verloren den Halt, er erstickte und starb. Aber durch sein Leid ist auch meine Kraft und Standhaftigkeit wie mit einem Dolch des Schmerzes (hançer-i ız˙tıra¯bla) abgeschnitten worden und erloschen.* ˙ ˘ Die Zeitungsleute haben eine Reihe von Männern, die ihnen Nachrichten bringen und die täglichen Ereignisse ermitteln. Wie [andere] Handwerke ist auch dies ein Beruf. Jeder Zeitungsmann hat vierzig bis fünfzig Männer, denen er für jede übergebrachte Nachricht fünfundvierzig para pro Zeile bezahlt. Um die bei manchen Versammlungen gehaltenen Reden schriftlich festzuhalten und in die Zeitungshäuser zu übermitteln, wendet eine Reihe von Männern auch die Stenographie genannte [Methode] an. Die Typen (herifler), die die Nachrichten ˙ beschaffen, treiben sich in der Stadt oder auf dem Markt herum, gehen zu manchem Treffen und Festessen und warten höchst aufmerksam auf Vorkommnisse. Ihre Berichte, die auf detaillierten Beobachtungen beruhen, übergeben sie den Zeitungsleuten. Die Stenographen gehen zudem zu Versammlungen, die abgehalten werden, [60] und überbringen [ebenfalls] die von den Versammlungsmitgliedern gehaltenen Reden den Zeitungsleuten, die dann in den Zeitungen abgedruckt werden. Sie verfügen über eine gewisse Ausdauer, da [beispielsweise] das englische Parlament (I˙ngiltere meclisı¯) nachts zusammenkommt und die Person mit dem Posten des Außenministers (ha¯ricı¯ye vekı¯lı¯) eine ˘ Rede von zwei bis drei Stunden hält. Die übrigen Mitglieder (a¯ʿz˙a-yi sa¯ʾire) geben nacheinander ihre Stellungnahmen (beya¯n-i maʿlu¯ma¯t) dazu ab. Währenddessen sind von jedem Zeitungshaus vier bis fünf Männer anwesend und schreiben [alles] ohne einen Buchstaben auszulassen mit. Sie wechseln sich alle Viertelstunde ab und jede Viertelstunde wird auch [das Geschriebene] zum Zeitungshaus gebracht, so dass einerseits die Schriftsetzer (mürettibler) die Schrift setzen und andererseits die Zeitungsschreiber (muharrir) fleißig weiterschreiben. Am ˙
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nächsten Morgen werden die Zeitungen schon früh mit viel Eifer verkauft. Da es eine schwierige Aufgabe ist, diese gehaltenen Reden vollständig mitzuschreiben, gibt es in Europa eine Kunst des Schreibens, die auf Geschwindigkeit und Kürze abzielt und Stenographie heißt. Die Herausforderung im Schreiben besteht darin, dass von jedem Zeitungsmann ein paar Leute anwesend sind und dass das, was vierzig bis fünfzig Leute schreiben, zu einander passen und die einzelnen Abschnitte glaubwürdig sein müssen. Obwohl die meisten großen Zeitungshäuser mit Dampf (vapur) betrieben werden, sind für die Beschaffung von Nachrichten mehr als zweihundert Personen angestellt. Es gibt Männer, die damit beauftragt sind, Nachrichten aus anderen Ländern zu schreiben. Dem Korrespondenten (ka¯tib) aus Paris wird beispielsweise zehntausend g˙uru¯¸s und den Schreibern (yazanlar) aus Irland und anderen Ländern wird jedem ein Monatsgehalt von zweitausend g˙uru¯¸s gezahlt. Da es ihnen hauptsächlich darum geht, Nachrichten zu bekommen, ist ihnen egal, wie hoch die Kosten dafür sind. Um an Nachrichten zu gelangen,592 wird manchmal von einem Zeitungsmann (g˙azeteci) die Eisenbahn (timur yolları) oder Postschiffe (posta vapurları) gepachtet. Trotz der Kosten nimmt die Zeitung mit dem Namen Times täglich sechzigtausend g˙uru¯¸s und noch drei bis vier weitere bekannte Zeitungen ebenfalls fünfzehn bis zwanzigtausend g˙uru¯¸s ein. Davon decken zwei Drittel die Kosten und ein Drittel bleibt dem Zeitungsmann. Die meisten dieser bekannten Zeitungen werden in Form einer Teilhaberschaft (hisse-da¯rlık usu¯li) geführt. Von der genannten ˙ ˙˙ ˙ ˙ Zeitung Times ist jeder Anteil tausend kı¯se wert und sie besteht aus vierundzwanzig Anteilen. Eine Person mit dem Namen Walter593 verfügt über sechzehn Anteile [61] und da er allmählich auch die übrigen kauft, ist es so, als gehörten ihm sämtliche Einnahmen dieser Zeitung. Diese Zeitungen enthalten viele Nachrichten. Jede Seite der bereits erwähnten Zeitung Times verfügt über je dreiundzwanzig Zeilen und ist [so umfangreich] wie ein Buch von bis zu sechshundert Seiten. Sie enthält fünfzehn bis zwanzigtausend wichtige Nachrichten und es werden täglich dreißig bis vierzigtausend Exemplare gedruckt. Demnach erlangt sie jährlich ein Volumen von bis zu fünfzig dicken Wörterbüchern (ka¯mu¯s). Die Zeitungsleute (za¯t-i g˙azete) in London sind sehr einflussreich. ¯ ˙ Wenn eine Zeitung will, ist sie so mächtig, dass sie Minister (vükela¯) aus ihren Ämtern befördern kann. Die Regierung (devlet) hatte Untersuchungen (kes¸f ü tahk¯ık) bezüglich der Lage der Mittellosen eingeleitet und strebte gründliche ˙˙ ˙ Überlegungen an, um diese für immer aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Die 592 Im Originaltext fälschlicherweise Verneinung (hava¯dis almamak anstelle von hava¯dis ˙ ˙ ˙ almak). ˙ 593 John Walter war Eigentümer und Verleger des Tagesblattes Times und Enkel des Begründers John Walter (der Erste). Er übernahm nach dem Tod seines Vaters John Walter (der Zweite) den Posten des Direktors. Siehe Dodgson Browman, William: The Story of »The Times«, London 1931, S. 180f. Siehe dort auch für weitere Informationen zur Geschichte der Times.
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Zeitung594 mit dem Namen Chronicle hielt es nicht für angemessen, dass nach den Verhandlungen [so viel] Zeit vergangen war und die Angelegenheit sich [dadurch] sehr verzögert hatte. Daher gab sie diesbezüglich ein paar Tausend kı¯se aus und suchte die erforderlichen Stellen auf. [Danach] ging man nach Frankreich und berichtete der Regierung (devlet) nach der Rückkehr nach London [das Ergebnis] der dortigen Untersuchungen (kes¸f ü tahk¯ık) und erklärte, dass man ˙˙ ˙ [ebenfalls] jener Maßnahmen bedürfe und bat um die Durchführung dieser Notwendigkeit. Ich habe aus der Nähe mitbekommen (karı¯n-i ¸suhu¯dum olmus¸˙ dır), dass die Zeitungen der Regierung Nachrichten überbringen, wie zum Beispiel, dass von der und der Botschaft an diesem oder jenem Tag ein offizielles Schreiben herausgegeben wird und sich drei Tage lang bemüht wird, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Was das Thema Steuern angeht, so sind diese in London an dem Punkt angelangt, dass von dem Geld, das jemand von seinem Vater erbt, eine von Seiten der Regierung festgelegte Abgabe (resm-i mı¯rı¯) von fünfzehn Prozent eingefordert wird. Außerdem werden auch für Pferde, Wagen, Diener, Fenster und Haushunde Steuern erhoben. So gelten für Pferde und zweirädrige Wagen unterschiedliche Beträge. Während jedoch von jemandem, der einen Wagen hat, zwanzig g˙uru¯¸s genommen werden, muss jemand, der zwei oder drei Wagen hat, für jeden [Wagen] vierzig zahlen. Und wer noch mehr hat, muss mit ein wenig mehr Aufschlag fünfzig oder sechzig g˙uru¯¸s pro Wagen zahlen. Für Pferde und Diener wird daher von jedem, der ein oder zwei Pferde und Diener hat, pro [Pferd oder Diener] jeweils dreißig g˙uru¯¸s verlangt, und von jedem, der mehr hat, [62] hundert bis hundertfünfzig. Auch die Steuern für Fenster und Hunde werden auf diese Art [berechnet]. Davon abgesehen werden weitere Steuern für die Beleuchtung der Straßenlaternen, die Straßenreinigung, die Abwasserreinigung, die Instandhaltung der Bürgersteige und Wasserrohre, für die Versorgung der Armen in den Kirchen und Armenküchen und für die Medikamente Kranker und Schwacher, die im Krankenhaus liegen, erhoben. Und ich habe selbst gesehen, wie von jedem für die Versicherung seines Hauses eine Gebühr eingezogen wurde. Da die Londoner, kurz gesagt, abgesehen von der Luft, die sie atmen, für alles Steuern bezahlen, sind sie vollkommen überwältigt und staunen nicht schlecht (kema¯l-i istig˙ra¯b ile parmakları ag˙zında kalur), wenn sie, falls sie ˙ ˙ Istanbul (Asita¯neʾ-i ʿalı¯ye) nicht kennen595, das erste Mal dorthin kommen und im Stadtteil Galata596 die unzähligen Fenster der großen Steinhäuser, die vielen
594 Im Original g˙azeteci und nicht g˙azete. 595 Schreibfehler im Original : ﻛﻮﻣﺎﺭﻣﺶ. Gemeint ist wohl görmemis¸. 596 Galata ist der Name eines alten Istanbuler Stadtteils auf der europäischen Seite, in dem ab dem 16. Jahrhundert hauptsächlich Ausländer und ihre Vertretungen ansässig waren. Ab dem 18. Jahrhundert lebten in Galata viele europäische, vorwiegend genuesische, Händler,
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Pferde, Diener und Hunde sehen. In Istanbul (Der-ʿalı¯ye) habe ich gesehen, dass sie sich angesichts der vielen Fenster, Pferde, Diener und Hunde darüber wunderten (taʿaccüb eyledikleri), wie viel Handel wohl betrieben werde und welch reiche Leute es wohl gäbe, und konnte das erst jetzt, wo ich in London bin, nachvollziehen. Wenn man von London aus an einen anderen Ort fährt, gibt es nur die Gebühr für die Züge der Eisenbahn (timur yollarda bulunan vapur ʿarabası) und keine weiteren Kosten. Und da die Stadt auch keine Tore hat, steigt man zu Beginn der Eisenbahnstrecke ein und fährt bis dorthin, wo man möchte. Niemand fragt: »Woher kommen Sie und wohin fahren Sie?« Man bezahlt nur die Gebühr für den Zug, in den man gestiegen ist. Es gibt drei Arten von Postwagen. Der erste ist für die Reichen und Angesehenen, der zweite für den Mittelstand und der dritte ist für die gewöhnlichen Reisenden und die Gebühren sind dementsprechend festgelegt. Da die Hochwertigkeit und Eleganz dieser Züge (ʿarabalar) denjenigen, die sie [selbst] gesehen haben, als auch jenen, die in Istanbul (Der-ʿalı¯ye) ihre Bilder betrachtet haben, bekannt ist, wird hier auf eine erneute Beschreibung verzichtet. Eines Tages verabredeten wir uns mit einigen Freunden, um das bekannteste Schloss (sara¯y) 597 der Königlichen Hoheit zu besichtigen, und bestiegen, da die Gebühr für den Erste-Klasse-Wagen zu teuer war, einen Wagen der zweiten Klasse. Ohne dass nach einem Fahrschein gefragt [63] wurde, verließen wir London. Da diese Züge mit höchster Geschwindigkeit fahren, ist nur ein Geräusch zu vernehmen. Man weiß nicht, ob man steht oder fährt. Wir erkannten nur anhand der immer weniger werdenden Häuser, dass wir uns von London entfernten. Bei der Strecke von London bis zum besagten Schloss handelt es sich um einen schönen Weg, der breit und von recht großen, aneinandergereihten Bäumen gesäumt ist, die bestimmt hundert Jahre alt sind. Auf dieser Route von London zum Schloss gibt es aneinandergrenzende Gärten und alte Paläste, die zu den Besitztümern der Adligen gehören. Noch nie wurde etwas Vergleichbares gesehen (mislı¯ görülmemis¸dir). Selbst die Landhäuser der Bauern und Hirten sind aus Stein und so elegant, dass man – aus der Ferne betrachtet – denken könnte, es handle sich um Anwesen hoher Würdenträger. Nach kurzer Zeit erreichten wir das besagte Schloss. Man konnte sehen, dass es von einem Wald die dort ihrem Beruf nachkamen. Siehe Ortaylı, I˙lber: »Galata«, in: TDVI˙A 13 (1996), S. 303– 307. 597 Vermutlich ist hier das Schloss Windsor gemeint, das 35 km westlich der Londoner Innenstadt liegt und sich über eine Fläche von fünf Hektar erstreckt. Auf dem Gelände befindet sich auch die St.-Georges-Kapelle, auf die der Autor zu sprechen kommt. Bewohnt wird das Schloss seit dem 9. Jahrhundert. Siehe »Windsor Castle«, in: Encyclopaedia Britannica online, http://www.britannica.com/EBchecked/topic/645241/Windsor-Castle (06. 03. 2015).
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aus mächtigen und großen Bäumen, die in Reihen angelegt sind, und von einem wunderschönen Weg wie der, den wir oben beschrieben haben, umgeben ist. Dieses Schloss ist ein altes imposantes Gebäude in Form einer Burg, das solide und groß und unmöglich zu beschreiben ist (taʿrı¯f ü tavs¯ıfı¯ dereceʾ-i imka¯ndan ˙ bı¯ru¯n). Zuerst betraten wir die Kirche (kilisa) 598, die im Inneren des Palastes gelegen ist, und schauten sie uns an. Zwar bin ich in manche Kirchen in Istanbul (I˙stanbul) und anderen Städten gegangen, ohne eine in dieser Art gesehen zu haben, die so elegant und solide [zugleich] war. Die Fenster dieser Kirche waren alle verschiedenfarbig und jede Scheibe war ein sehr kunstvolles Bild. In der Kirche standen vierzehn Bänke, die für ausgewählte Personen bestimmt waren. Eine war sogar für Louis-Philippe599 und auf ihr befand sich sein eigenes Wappen. Es ist offenkundig, dass sich Eleganz und Hochwertigkeit der verschiedenen Gemälde (?) (ersa¯m) bei den Leuten größter Bekanntheit erfreuen. Dann bin ich noch in die Waffenkammer des Schlosses gegangen und habe dort die verschiedenen Waffen, [darunter auch] antike Waffen und insbesondere zwei große Kanonen gesehen, die zu den Kriegsgeräten gehörten, die der englische Staat (I˙ngiltere devleti) im Indienkrieg den Sikhs abgenommen hatte. [64] Diese waren vollständig mit Gold und Silber verziert und ihre Karren aus Adlerholz (ʿu¯d) und Sandelholz (sanda¯l) gefertigt. Sie waren so kunstvoll und elegant gearbeitet, dass ˙ es keiner Erwähnung bedarf, dass die Kanonen der Europäer daneben wie Kinderspielzeug wirkten. Für die offiziellen Festessen der Königlichen Hoheit gab es eigens ein geräumiges Esszimmer, in dessen Mitte ein recht großer Tisch stand. Damit die obenerwähnte Königin und ihr Gemahl einander gegenüber sitzen konnten, waren auf beiden Seiten des Tisches zwei schwere, kostbare, äußerst kunstfertige und elegant anmutende Holzstühle nur für sie aufgestellt. Sollten sie während des Essen miteinander reden wollen, wäre dies aufgrund der immensen Geräumigkeit des Schlosses nur durch lautes Schreien gelungen. Da es jedoch vor den geladenen Gästen unangemessen wäre und mit lauter Stimme zu sprechen ihrer Stellung widersprach, wurde – vergleichbar den Rohren der Dampf[-maschine] – ein Rohr entwickelt, das die Form eines Wasserpfeifenschlauches hat und dessen eines Ende an den Stuhl der Majestät und das andere Ende an den Stuhl ihres Gemahls befestigt war. Auf diese Weise kann die Königliche Hoheit während der Festessen [mit ihrem Gatten] sprechen. Dieser Tisch ist so groß und schön geschmückt, dass alle Minister (vükela¯), Parlamentsmitglieder (a¯ʿz˙a¯-yı¯ meca¯lis) und Gesandte (süfera¯) bei diesen Festessen daran Platz nehmen können. Die 598 Es handelt sich um die in der vorhergehenden Fußnote erwähnten St.-Georges-Kapelle. 599 Vermutlich Louis-Philippe I., König von Frankreich, der nach seiner Abdankung 1848 ins Exil nach Großbritannien zog. Er starb jedoch bereits ein Jahr vor der Englandreise unseres Autors, nämlich am 26. August 1850. Siehe »Louis-Philippe«, in: Encyclopaedia Britannica online, http://www.britannica.com/EBchecked/topic/349203/Louis-Philippe (06. 03. 2015).
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Zimmer dieses Schlosses sind eins schöner als das andere und die Sofas, Stühle und weiteren Möbel in ihnen sind nicht zu vergleichen mit den Dingen, die wir kennen (bizim gördig˘imiz ¸seylere g˙ayr-ı mak¯ıs). Würde man sie alle einzeln ˙ beschreiben wollen, wäre ein weiteres Buch wie meine Reisebeschreibung (seya¯hatna¯mem) nicht ausreichend. Zudem sind sie von derart, dass der Men˙ schenverstand nicht in der Lage ist, sie gebührend zu beschreiben (havsalaʾ-i ˙ ˙ bes¸er la¯yıkıyla tavs¯ıfe muktedir olmaz). Um dieses Schloss herum gibt es or˙ ˙ ˙ dentlich und schön angelegte Wälder und Gärten, in denen sich unterschiedliche Blumen, verschiedene und große Bäume und zahlreiche elegante Wasserbecken befinden, die nicht zu beschreiben sind (taʿrı¯fı¯ dereceʾ-i tasvı¯rden bı¯ru¯n). ˙ Nachdem wir diesen ausführlich dargestellten Ort besichtigt hatten, kam ein Regiment berittener Soldaten (bir a¯la¯y süva¯rı¯ ʿaskerı¯) aus dem persönlichen Gefolge ihrer Majestät der Königin [65] zur Durchführung ihrer Übungen. Dabei konnten wir sehen, dass sie ihr Wissen und ihre Fähigkeit in der Kriegskunst (fünu¯n-i harbı¯ye) dermaßen ausgearbeitet hatten, dass sie wie dampfgesteuerte ˙ seelenlose Maschinen den Befehl des Offiziers umgehend ausführten. Diese Soldaten sind nicht mit denen anderer Regimenter zu vergleichen (mak¯ıs ol˙ mayub). Sie haben die Stellung eines Hauptmannes (yüzbas¸ı) und jeder einzelne von ihnen ist ein mutiger Mann von großer Statur. Ihre Reitpferde sind acht bis zehn Tausend g˙uru¯¸s wert und ihre täglich getragene Uniform ist viel teurer als die Kleidung der anderen Soldatenregimenter. In dieses Regiment kann man sich nicht einfach einschreiben. Zuerst einmal muss man groß gewachsen und gut gebaut sein und zweitens darf man nicht von niedriger Abstammung sein, sondern es ist Voraussetzung, adlig zu sein. Eine Reihe von Untersuchungen (tahk¯ık) ˙˙ ˙ zeigen, dass selbst diejenigen, die all das erfüllen, darum ersuchen müssen, aufgenommen zu werden. Die Einkaufsviertel Englands sind groß und in den Läden wird alles verkauft. Eine Reihe von Produkten ist mit Bezeichnungen versehen und ihre Preise stehen fest, so dass man nicht [darüber] verhandeln kann. Es gibt dort Mittelsmänner, die ständig in Bewegung sind und den Einkäufern beim Übersetzen oder Vermitteln helfen. Auf den Schildern über den Türen steht: »Abgesehen davon, dass wir für alle Sprachen einen Übersetzer haben, haben wir sogar einen Übersetzer für Türkisch.« Sie eröffnen auch große Märkte, auf denen Konkurswaren wie Schirme und derlei Kram angepriesen werden.600 Will man dann etwas kaufen, verlangen sie einen höheren Preis als angegeben. Junge Frauen kommen und nötigen einen mit verschiedenen Verlockungen, teure Dinge zu kaufen. Wenn ein 600 Ein weiteres kennzeichnendes Merkmal der damaligen Zeit waren die Straßenmärkte, die von Lebensmitteln über Kleidung bis hin zu Möbelstücke alles zum Verkauf anboten und in allen Stadtteilen zu finden waren. Da es keine Einschränkungen bezüglich der Geschäftszeiten gab, konnten die Märkte teilweise bis Mitternacht dauern. Siehe Seaman, Life in Victorian London, S. 83ff.
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Mann mit seiner Schwester oder einer anderen Frau, die zu ihm gehört, in die Stadt geht und etwas kaufen möchte, denken die Händler, es sei seine Geliebte, und bieten ihm allerlei Zeug zu erhöhten Preisen an und bedrängen ihn. Wenn der Kunde gewandt ist, geben die Händler irgendwann auf. Sie sehen davon ab, teure Sachen zu verkaufen, und holen Dinge für zwei oder drei g˙uru¯¸s hervor. Die Kunden aber halten sie daraufhin noch weiter auf Trab, was zeigt, dass sie äußerst durchtrieben sind. Wenn jemand aus Istanbul (I˙stanbul) [66] etwas von hier aufgrund des günstigen Preises bestellen möchte, so wissen manche Fachkundigen, dass es besser ist, dies zu unterlassen. Eines Tages kam es dazu, dass ich einen Schirm kaufen wollte. Während ich in dem Glauben loszog, ich könne einen günstig erwerben, sah ich, dass manche bankrottgegangenen Händler Waren im Wert von zehn g˙uru¯¸s für drei g˙uru¯¸s verkauften. Ich geriet aus dem Häuschen (ʿaklım bas¸ımdan giderek) und machte ˙ mich sofort daran, einen Schirm zu kaufen. Als mir am Ende aber klar wurde, dass sie ihn mir für den doppelten Preis gaben, bin ich fortgegangen und habe es, um meine übrigen geliebten Freunde davon zu unterrichten, [hier] aufgeschrieben und kundgetan. Die Sache mit den Badestätten am Meer (deñiz hamma¯mları) ist eine der ˙ Merkwürdigkeiten (umu¯r-i g˙arı¯be) Englands. Die meisten befinden sich ein paar Stunden außerhalb Londons. Mittels der Eisenbahn (timur yolu) kann man in den Zug (ʿaraba) steigen [und dorthin fahren]. Nach einem Bad kehrt man in kurzer Zeit einfach wieder zurück. Auch wenn es sehr unterhaltsam ist, gibt es in gewisser Weise Dinge zu sehen, die gegen die guten Sitten verstoßen (muha¯lif-i ˘ edeb). Da auch das Wasser sehr kalt ist, ist das Thema Baden, was uns anbelangt, schwierig. Davon abgesehen gibt es auch Ebbe und Flut, die besonders in den Orten Ramsgate und Margate601 vorkommen. Wenn zum Beispiel jemand ins Wasser geht und dann plötzlich Ebbe kommt, dann bleiben seine Kleider, wo sie sind, und er selbst landet einen Gewehrschuss weit von ihnen entfernt. Die Leute so lächerlich im Wasser zu sehen, ist wahrlich eine komische Begebenheit (tuhaf ˙ bir keyfı¯yet). Abgesehen davon gehören auch die Zugtiere zu den Kuriositäten (ʿaca¯yı¯ba¯t). Ihre Körper sind drei Mal so groß wie die der Pferde bei uns und ihre Hufe sind dementsprechend auch drei Mal so breit und stark. Obwohl sie dazu geeignet wären, benutzt man sie nicht zum Umherreiten und lässt sie auch keine Lasten schleppen. Man nennt sie »cart«602 und ihre Bezeichnung stimmt tat-
601 Ab Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich die Stadt Margate an der Küste im Südosten Englands zu einem der führenden englischen Seebäder. Genau wie die Nachbarstadt Ramsgate war sie traditionelles Ausflugsziel der Londoner Bevölkerung, die von den Sandstränden angezogen wurden. Siehe Oulton, Walley Chamberlain: Pictures of Margate, and its Vicinity, London 1820, passim. 602 »Cart« lautet die Bezeichnung für Pferdewagen und nicht für Pferde selbst.
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sächlich mit ihrer Größe überein.603 Am sonderbarsten (ag˙reb) ist aber das Ausmaß der Wagen, als dass jeder [so groß] wie die Behausung eines Mittellosen ist. Wenn man diese Zugpferde nach Istanbul (I˙stanbul) bringen würde, könnten sie aufgrund ihrer enormen Kraft ganz leicht schwere Lasten tragen. Es ist offensichtlich, dass sie von äußerstem Nutzen wären. Auch wenn sie dadurch eindeutig in die Gruppe der Kamele fallen, sind sie nicht so beweglich und auch nicht so artig. Da sie zur Rasse der arabischen Pferde gehören, laufen sie stets im Trab, wenn man sie reitet. Eine weitere [Pferde-]Rasse [67] kann keine Lasten tragen und läuft an bestimmten Tagen zum Vergnügen [der Leute] Rennen. Die eigentlichen Reittiere stammten von dieser Rasse ab. Dann gibt es noch eine Rasse von der Gattung der Ponys, die sehr klein ist und von den Orkney-Inseln stammt. In London trifft man gar nicht auf sogenannte Maulesel. Selbst Esel kommen selten vor und werden wenn nur vor Karren und so weiter gespannt. Da sie zu nichts anderem zu gebrauchen sind, machen von ihnen am meisten Verkäufer Gebrauch. Genauso nutzen sie auch Hunde, um Gemüse und derartige Dinge zu tragen. Es gehört nicht zu den Gebräuchen dieser Verkäufer, beim Verkauf auf den Straßen laut zu rufen, aber die ausländischen Vertreter preisen ihren eigenen Sitten entsprechend alles laut beim Namen an. In London gibt es viele jüdische Altwarenhändler, die früh morgens laut »ole’clo, ole’clo«604 rufend durch die Straßen laufen. Sie rufen nicht um des Rufens Willen, sondern weil man sie sonst aufgrund der lauten Geräusche ihrer Wagen nicht hören kann. Dennoch sind ihre Bemühungen vergebens. Obwohl die Engländer (I˙ngiltere a¯ha¯lisi) sehr ehrenwerte Männer (mükerrem adamlar) sind, ist es bei ihnen nicht Brauch, einander, wann immer sie Lust haben, zu besuchen und in Freundschaft und Geselligkeit zusammenzukommen. Selbst auf den Straßen sind alle mit ihrer Arbeit beschäftigt. Dass sie nicht wie andere Völker enge Bekanntschaften pflegen, wurde bereits oben beschrieben. Ihre Art der Zuwendung beruht auf offiziellen Festessen. Die hochrangigen Leute gehen das ganze Jahr über täglich von Festmahl zu Festmahl und dass sie noch nicht einmal Zeit haben, einen Tag daheim zu bleiben, entgeht dem Auge des Betrachters nicht. Abgesehen von den Festessen gehen alle eine Stunde vor Mitternacht zur sogenannten Gesprächszeit (vakt-i mahsus-i mülakat) einander besuchen. Auch wenn man, Tanzveranstaltungen eingeschlossen, einer Einladung folgt, bleibt man bis zum Morgen beisammen. Der Gastgeber bringt [seinen Gästen] nicht nur den erforderten Respekt entgegen, sondern bietet 603 Das Wort »kart« hatte im Osmanisch-Türkischen unter anderem die Bedeutung »groß«. ˙ Siehe S¸emseddin Sami: »«ﻗﺎﺭﺕ, Kâmûs-ı Türkî, S. 1020. Das Wortspiel geht durch die Übersetzung verloren. 604 »Ole’clo« soll für old clothes stehen und von jüdischen Verkäufern gebrauchter Kleidung beim Verkauf auf den Straßen gerufen worden sein. Siehe Phillips, Watts: The Wild Tribes of London, London 1855, S. 58.
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ihnen gegen Morgen auch Suppe in Teeschalen an. Bei ihnen ist es nicht üblich, Zigaretten zu rauchen. Sehr angesehene und geachtete Personen bekommen im Ruhezimmer Zigarren angeboten. Sie bereiten ihren Kaffee derart [dünn] zu, dass aus einer Tasse Kaffee, so wie wir ihn trinken, zwanzig oder dreißig Tassen gezuckerter Kaffee herauskommen, [68] so dass sogar das Ornament am Tassenboden zu erkennen ist. Ihr Tabak ist viel zu stark, schmeckt abscheulich und ist nicht zu genießen. Dennoch kauen manche Leute den Tabak in ihrem Mund als kauten sie auf Kaugummi. Wenn sie in aus weißem Porzellan hergestellten Tabakspfeifen, deren Holme ein halbes ars¸un länger sind als sie selbst, Tabak rauchen, setzt sich der Nikotin (zifı¯r) ab. Sie werden nicht mehr sauber und sind nach zweimaligem Benutzen gleich verfärbt. Diese Pfeifenholme (çubuklar) ˙ verkaufen sie für je sechzehn para. Ich hatte ein paar okka605 Istanbuler Tabak bei ˙˙ mir. Wenn ich manchen Leuten, mit denen ich verkehrte, Tabak für eine Zigarre (birer çig˙arolık) gab, nahmen sie diesen sehr gern entgegen. Berechnet man die ˙ Geschenke, die ich im Gegenzug dafür bekommen habe, so beläuft sich der 606 dirhem Tabak, den ich gegeben habe, auf einen miska¯l607 Gold. Wo doch ˙ Rauchtabak in England so rar ist und im Osmanischen Reich (mema¯lik-i ʿOsma¯nı¯ye) äußerst beliebt und daher viel gehandelt wird, ist es doch sehr überraschend (taʿaccüb ü istig˙ra¯b), dass [hier] dafür keine Nachfrage besteht. Die hiesige Bevölkerung ist allerdings dem Teetrinken ziemlich verfallen und zwar so sehr, dass sie Tag und Nacht Tee trinkt. Es gibt nicht den Brauch, bei Besuchen Tee zu wünschen, vielmehr bietet der Gastgeber selbst Tee in Tassen608 an. Auch wenn der Besuch es wünscht, würde er es nie mit Worten bekunden. Den Löffel in der Tasse zu lassen bedeutet, dass man keinen Tee mehr möchte, wenn man ihn [ jedoch] auf den Unterteller legt, heißt das, dass man gerne noch mehr Tee hätte. Diesbezüglich wird berichtet, dass ein Franzose diese Regel nicht gekannt haben soll und bei einem Besuch beim Teetrinken seinen Löffel ständig auf den Unterteller gelegt habe, woraufhin der Gastgeber kannenweise Tee nachschüttete (harıl harıl çay toldırmakda). Obwohl der arme Mann, dadurch, ˙ ˙ dass er den Sachverhalt nicht erkannt hatte, angesichts der großen Mengen Tee kurz davor war zu platzen, habe er aus Scham nichts sagen können und reichlich [weiter] getrunken. Als der Tee ihm schließlich bis zum Halse stand und er »um Gotteswillen mein Herr, es reicht, genug, ich ertrage nicht noch mehr zu trinken« sagte, tat der Gastgeber überrascht und antwortete, »warum haben Sie denn nicht
605 Siehe FN 509. 606 Siehe FN 561. 607 Name einer Gewichts- und Geldeinheit, die Mitte des 19. Jahrhunderts 1,5 dirhem und ca. 4,8 Gramm entsprach. Siehe Kallek, Cengiz: »Miskal«, in: TDVI˙A 30 (2005), S. 182. 608 Im Osmanischen Reich war es üblich, wie heute noch in der Türkei, Tee aus Gläsern und nicht aus Tassen zu trinken.
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den Löffel in die Tasse getan, um das zu verstehen zu geben (biz de bilelim)«, um so den Franzosen zu verspotten. Die Küchen der Londoner Häuser sind wie Vorratskammern (mahzen), das ˘ heißt, es sind Gruben, die sich hinter dem Zaun befinden, der um das Haus gezogen ist. Ohne hinabzusteigen, erkennt man nicht, dass es sich um Küchen handelt. Der Kohlenkeller befindet sich gleich daneben, so dass sie, wenn nötig, [die Kohle] durch ein Loch werfen. Holz wird hier überhaupt nicht verwendet und Holzkohle ist auch nur selten zu finden. [69] Sie gebrauchen Steinkohle, deren Ruß immense Spuren hinterlässt, die Luft verschlechtert und die Umgebung verschmutzt. Davon abgesehen schadet sie den Bäumen, so dass das Obst rar und ungesund ist. Demjenigen, der hier eine Zeit lang bleibt und sich an Wasser und Luft gewöhnt hat, schadet die Luft den Aussagen der Ärzte zufolge nicht. Kommen wir auf die Dienstangestellten (us¸ak) zu sprechen. Egal wie reich jemand in England ist, er hat höchstens fünf Diener. Die Besitzer reicher Haushalte, die ein Einkommen von zweihunderttausend g˙uru¯¸s im Monat haben, bezahlen davon die notwendigen Steuern ihrer Dienstangestellten. Genau aus diesem Grund stellt niemand Dienstangestellte ein. Die Leute gehen selbst zum Gemüseladen, zum Fleischer und zum Obsthändler, kaufen, was sie brauchen, werfen es sich auf den Rücken und bringen es nach Hause. Sie organisieren mit [nur] einem Dienstmädchen (besleme karı) die Arbeit eines ganzen Haushalts ˙ mit fünf oder sechs Kindern. Das Dienstmädchen bereitet das Essen vor, wäscht die Wäsche, kümmert sich um die Bedürfnisse der Kinder und wenn nötig, erledigt sie auch Näharbeiten und andere Dinge. Sie bleibt für ein geringes Gehalt dort wohnen, bis sie verheiratet ist. Die Diener befassen sich nicht wie sie mit allen Dingen, sondern ereifern sich nur für die Aufgabe, die ihnen zugeteilt wurde. Kurzum, dass die Angelegenheit mit den Dienstangestellten rückläufig ist, wissen diejenigen, die es gesehen haben (asha¯b-ı ¸suhu¯duñ maʿlu¯mlarıdır). ˙˙ Die Hausbesitzer wohnen nicht auf der obersten, sondern stets auf der mittleren Etage, wo die ganze Familie mit ihren eigenen Aufgaben beschäftigt ist, Bekannte und Freunde, die zu Besuch kommen, empfangen und bewirtet werden. Nachstehend geht es um die Irrenhäuser (tı¯ma¯r ha¯ne), von denen manche die ˘ schöne Bezeichnung Heilanstalt (da¯r ül-s¸ifa¯) erhalten, andere wiederum in die Kategorie der Armenküche für die Bedürftigen fallen. In die großen gehen die Mittellosen ganz unbekümmert und halten sich dort auf. Auch wenn es [dort] nichts Erfreuliches gibt, kamen wir mit Hilfe der Angestellten niederen Dienstranges hinein und konnten uns ein paar Mal mit Freunden umschauen. Wir haben gesehen, dass die Arme der vollkommen durchgedrehten Irren (pek çılg˙ın deliler) an einem Stück Holz fixiert sind und sie Westen tragen, die es ihnen unmöglich machen, sich zu bewegen. Wenn man darauf achtet, was sie sagen, wird einem beim Gedanken [70] daran, was sie tun würden, – Allah, der All-
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mächtige, stehe uns bei! – ganz Angst und Bange. Den Irren widerfährt überhaupt keine ungerechte Behandlung. Ihre Rechte werden stets respektiert, auf ihr Essen und Trinken und ihr Vergnügen aufs Äußerste geachtet. Sie lassen sie Theater spielen und gewähren ihnen ihre Spinnereien. Außerdem treiben sie ihnen ihre Hirngespinste aus (dima¯g˙larındaki hara¯retı¯ iza¯le ederler), indem sie jeden Tag ˙ kaltes Wasser über ihre Köpfe schütten. Sie bekommen Spiele wie Dame, Backgammon, Schach usw. vorgelegt, so dass sie spielen können, was sie wollen. Manchmal werden auch Dinge wie Tee und Sorbet zubereitet. Eines Tages, als wir umhergingen, verfiel einer dieser eigenartigen (tuhaf) Irren in die Wahnvor˙ stellung er sei aus Fett (yag˙) und schrie: »Ich schmelze und gehe zugrunde! Zur Hilfe, Freunde, ich gehe verloren und von meinem Körper wird nichts übrigbleiben!« Unter den vornehmen Leuten gibt es [auch] komische Verrückte, die nicht in der Irrenanstalt untergebracht werden, sondern um die sich im Schutze ihrer Häuser gekümmert wird. Ihren Wahnsinn (cünu¯n) nennt man jedoch Schwermut (mera¯k). Manche sind der Musik, andere den Maschinen und Techniken der ˙ Produktion und wieder andere der Luftfahrt leidenschaftlich verfallen und sie phantasieren tagein tagaus davon. Es ist zwar nicht erforderlich, das Thema Wahnsinn (ma¯dde-i cinnet) eingehend darzulegen, aber genauso wie die Leute der anderen Länder nichts über unsere Verrückten wissen und diejenigen, die über Wissen verfügen, darüber schreiben, wurde der Zustand der Heil- und Pflegeanstalten der Engländer (I˙ngilizler) zur Erläuterung in diesen kleinen Bericht (risa¯lecik) aufgenommen. Es gibt viele Dinge (s¸eyler) aus Stein und Bronze, die symbolisch für Ereignisse errichtet wurden. Jedes einzelne wurde als Andenken an eine Sache (ma¯dde) aufgestellt. Darunter gibt es auch konstruierte Körper großer und bedeutender Personen an bestimmten Orten und Plätzen, auf denen Lieder, Reime, Klagegedichte und Daten stehen. Jedoch lässt das Interesse an Althergebrachtem und der Wunsch, Namen und Eindruck zu hinterlassen, die Engländer (I˙ngilizler) stets darauf bedacht sein, den ewigen Schutz dieser [Statuen] mit besonderen Wachleuten zu gewährleisten, da die kunstvollen Figuren teils zerstört und beschmiert werden. Die Gehälter dieser Wachleute sind sehr hoch. Sie beobachten und durchstreifen Viertel für Viertel. Es stellt sich jedoch heraus, dass sie dennoch nicht dagegen ankommen und nicht in der Lage sind, die Figuren vor Zerstörungen zu schützen. Die »square« genannten Parkanlagen sehen sehr schön aus. Damit sind die Parkanlagen in den Vierteln gemeint, die quadratisch und jeweils an allen vier [71] Seiten von aneinandergereihten Häusern umgeben sind. Sie haben gemeinsame Gärtner und von jeder Ecke gibt es eigene Wege und eigene Tore, die nach innen führen. Ohne Genehmigung ist es Leuten, die nicht zu den An-
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wohnern des Viertels gehören, nicht gestattet, einzutreten.609 Ein Park mit schöner Aussicht befindet sich außerhalb Londons. Da es ein sehenswerter Ort ist, habe ich ihn mehrmals besucht und besichtigt. Es gibt sein Bild in gedruckter Form, daher kennen ihn diejenigen, die es gesehen haben.610 * Dass das Thema Handel ein beachtenswertes Thema ist, steht fest. Ich habe die Banken Londons gesehen, aber [zuerst] keine gründliche Nachforschung (tah˙ k¯ık) betreiben können. Zunächst bin ich zu einer kleinen Bank gegangen und ˙ ˙ habe dort gesehen, dass an die hundert Angestellte (ka¯tib) im Stehen dabei waren, ständig etwas zu schreiben und abwechselnd die Angelegenheiten der Kunden (girenler) innerhalb kurzer Zeit zu erledigen. Zu einem späteren Zeitpunkt hatte ich aus Istanbul (Der-saʿa¯det) einen Wertbrief (poliçe) über zehntausend g˙uru¯¸s erhalten. Als ich [zu einer großen Bank] ging und ihn vorlegte, hat einer [der Angestellten] ihn mir sogleich aus der Hand genommen und über die Schriftstücke, die schon zahlreich an der Wand hingen, gesteckt. Er drehte sich um und fragte mich: »Welches Geld (para) hättest du gerne?« Ich antwortete: »Ich hätte gerne Gold.« Er gab mir ohne Zögern die Goldstücke im Wert von zehntausend g˙uru¯¸s mit Abzug von hundert g˙uru¯¸s in die Hand. Als ich darüber verwundert war und ihn erstaunt (hayra¯n hayra¯n) anblickte, schickte man mich mit ˙ ˙ den Worten »Los! Steh hier nicht rum, geh!« weg. Angesichts dieser lobenswerten Handlungen (muhassena¯t) wäre ich jedoch selbst dann einverstanden gewesen, ˙ hätten sie mich geschlagen, hatte es mir doch so gut gefallen, dass mir gegen Aushändigung des Wertpapiers das Geld mit wenig Abzug ausgehändigt wurde. Die Größe dieser Bank ist so [immens], dass sie keiner Beschreibung bedarf (taʿrı¯fden müstag˙nı¯ gibidir). Zur Sicherheit gibt es sogar Waffen darin, wie ich beim herabsteigen in den Lagerraum gesehen habe. Offenkundig lassen sich ein großer Platz und Geldbeutel, die wie Munition in Gruppen aufgereiht sind, nur durch Waffen schützen. Als ich mich erkundigte, wie viel kı¯se Geld sich hier befinde, antwortete der Angestellte (ma¯ʾmu¯r), dass es sich wohl um vierzig Mal Hunderttausend handeln müsse, aber ich vermute stark, dass er [zu] wenig genannt hat. Einmal haben sie mir, um mich in Staunen (taʿaccüb) zu versetzen, eine kleine Papiertüte in meine Hand gelegt und gefragt, wie viel dirhem das wohl seien. Ich antwortete mit fünfundzwanzig bis dreißig dirhem. Als sie dann sagten, dass es fünfundachtzigtausend kı¯se seien, war ich verblüfft (s¸as¸dım kaldım). Die ˙ Anzahl der in dieser Bank beschäftigten Männer beläuft sich auf fast fünf609 Das wichtigste Element der Londoner Garden Squares sei, so Giedion, der eingeschlossene Garten mit Grünfläche, der nur für die Anlieger zugänglich war. Umschlossen war der Garten von den umliegenden Häuserreihen, wie im vorliegenden Reisebericht beschrieben. Die ersten einzelnen und weit verstreuten Flächen wurden im 17. Jahrhundert angelegt und waren dem öffentlichen Publikum freigegeben. Giedion: Raum, Zeit, Architektur, S. 432ff. 610 Aufgrund der Vielzahl an Parkanlagen in und um London und der dürftigen Informationen im Text, konnte nicht ausgemacht werden, um welchen Park es sich hier handelt.
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hundert. Sie ist die angesehenste unter den Banken [72] und die Bank der Regierung.611 In England sind zwanzig bis dreißig verschiedene Arten von Papiergeld im Umlauf. Die geschätztesten und wertvollsten darunter sind die von dieser Bank, von der vier Komma soundsoviel Millionen g˙uru¯¸s im Umlauf sind. Das Budget ist vorhanden und steigt stetig an. Und wie bereits angeführt, wird auf Wunsch und ohne zu zögern mit ein wenig Abzug Geld gewechselt. Der wichtigste Vorzug (eñ bas¸ muhassena¯t) des Staates England (I˙ngiltere devleti) sind diese ˙ Feinheiten der Bank. Eine weitere Sache, die mich in London in Staunen (istig˙ra¯b) versetzt hat, ist die Situation der Blinden. Ihr Gespür- und Wahrnehmungsvermögen ist selbst bei den Sehenden nicht vorhanden. Da sie in Europa für alles eine Abhilfe finden, errichten sie, um die Blinden von der unreinen Unwissenheit (çirka¯b-ı cehl) zu befreien, eigens ein Gebäude und bringen darin diese Gruppe von Leuten unter, die von Geburt an blind sind oder später erblindeten. Um Bildung zu erlangen und ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, erhalten sie vom Königreich und einigen Wohlhabenden eine ausreichende Summe. Eines Tages bin ich zu diesem Ort gegangen, um ihn zu besichtigen. Zuerst bin ich in ihre Schulen gegangen und habe gesehen, dass vierzehnjährige Blinde Bücher vor sich hatten und einige sogar damit beschäftigt waren, zu schreiben. Sie lasen und schrieben geradezu wie Sehende. Die Mädchen erledigten ganz feine Näharbeiten und strickten Strümpfe. Ein fünfzehnjähriges Mädchen, das an Pocken erblindet und deren Sehkraft zerstört war, konnte [die Farben] Schwarz, Blau und Weiß unterscheiden. Die Bücher der Blinden sind nicht wie die gedruckten Bücher. Da die Buchstaben erhöht gedruckt sind, können die Blinden mit ihren Fingern die Buchstaben ertasten und erkennen. Dadurch können sie schnell und korrekt lesen. Sie benutzen auch Zeichensysteme. Zum Beispiel gibt es eine besondere Schnur. Wenn sie sich etwas sagen wollen, machen sie [unterschiedliche] Knoten in diese Schnur, wobei jeder Knoten für einen Buchstaben steht. Wenn sie ihn in die Hand nehmen, wissen sie, was gemeint ist und verhalten sich dementsprechend. Sie haben genau wie andere Schulen auch Kantinen und jeder kennt seinen eigenen Platz. Sie setzen sich und essen genau wie Sehende. [73] Obwohl sogar die Dienstangestellten blind sind, erkennen sie denjenigen, der etwas möchte, anhand seiner Stimme und bringen es ihm geradewegs. Auf diese Weise erfüllen sie jeden Dienst. Am sonderbarsten (ag˙reb) ist es, wenn zwei Blinde aufeinandertreffen, sie sich ohne zu sprechen erkennen. Unter ihnen gibt es viele begabte und geschickte Leute, die zahlreiche Kunsthandwerke hervorbringen. Gelegentlich werden manche erstaunlichen (ma’a-l taʿaccüb) Gegenstände von 611 Vermutlich spricht der Autor hier von der Bank of England, der heutigen Zentralbank des Vereinigten Königreichs. Siehe »Bank of England«, in: Encyclopaedia Britannica online, http://www.britannica.com/EBchecked/topic/187805/Bank-of-England (09. 03. 2015).
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dort der Bevölkerung vorgezeigt und darauf hingewiesen, dass sie das Werk von Blinden sind. Ein Teil der Blinden ergreift den Beruf des Schreiners und ist so ausgebildet, dass die von ihnen angefertigten Schubladen, Tische und ähnlichen Dinge nicht jedem Schreiner gelingen würden. Die von den Mädchen genähten Hemden und weiteren verschiedenen Kleidungsstücke rufen Erstaunen (istig˙ra¯b) hervor. Wie sie den Faden einfädeln, ist unbegreiflich. Obwohl unsere Augen – Allah sei Dank – mit Augenlicht gesegnet sind, ist es [uns] nicht möglich, mit [nur] einem Griff einen Faden einzufädeln, während sie den Faden in die eine Hand und die Nadel in die andere Hand nehmen und in nur einem Augenblick den Faden durchziehen. Beim Kleidernähen kommt es bei ihnen nicht vor, dass sie falschen Stiche ausführen und ungenau nähen, indem sie grobe Stiche setzen, so wie wir es von manchen Schneidern kennen. Aus den Reihen der Blinden sind wohl sogar zahlreiche Schriftsteller hervorgegangen. Der bekannteste Dichter Londons, von dem es zahlreiche Werke und viele Verse gibt, soll von ihnen kommen.612 Den Blinden bleibt nichts verwehrt. Damit sie quasi wie die Sehenden eine Handwerk erlernen und auf dieser Welt nicht wie die Tiere der Schönheit der Bildung fern bleiben [müssen], bemüht, finanziert und bestrebt man seit jeher ihre Ausbildung. Seither wurden täglich verschiedene Dinge zu ihrer Erleichterung entwickelt. Fachleute, die bessere Methoden finden, um die Ausbildung dieser Leute zu vereinfachen, werden als Meister zu ihnen geschickt. Es wird ununterbrochen Aufwand betrieben. Man beobachtet, dass diese Leute zahlreiche Werke und Schriften hervorbringen. Auch wenn eine Möglichkeit gefunden wurde, damit sie lesen und schreiben können, ist es jedoch offenkundig, dass sie für den Bereich der Geographie nicht geeignet sind. Dennoch gehen recht begabte Geografiker unter ihnen hervor [74], die die sehenden Fachleute in Staunen (taʿaccüb) versetzen. Und zwar verhält es sich so, dass die Buchstaben in ihren Geografiebüchern erhaben gedruckt werden. So können sie wie oben beschrieben mit ihren Fingern die Buchstaben erkennen und den Inhalt lesen. Auf die dünnen Linien, welche die Grenzen aller Länder auf der Landkarte markieren, werden dünne Drähte angebracht. Mithilfe dieser Drähte erkennen und unterscheiden sie, um welches Land es sich handelt. Sie erfassen sogar die Namen der Länder. Kurz, alles, was auf der Landkarte dargestellt ist, begreifen und verstehen sie genau wie die Sehenden. Während ich über diese sie betreffende sonderbaren Situation (ha¯la¯t-ı ˙ g˙arı¯beler) nachdachte, hat eine Person, mit der ich gesprochen habe, Folgendes berichtet: Ein blinder Wohlhabender sei nach Europa gereist. Er habe sich bei den 612 Vermutlich ist hier von dem bekannten englischen Dichter John Milton (1608–1074) die Rede. Siehe »John Milton«, in: Encyclopædia Britannica. Encyclopædia Britannica Online, http://www.britannica.com/EBchecked/topic/383113/John-Milton/260513/Early-transla tions-and-poems (11. 03. 2015).
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Leuten nach der Lage ihrer Länder erkundigt und eine Reisebeschreibung (seya¯hatna¯me) verfasst. Fragte man ihn später etwas zu den Orten, die er besucht ˙ hatte, habe er wie auswendig gelernt ausführlich und ohne Auslassung seine Beobachtungen berichtet. Genauso habe er auch das Aussehen der Gebäude in diesen Ländern beschrieben. So sind also der Scharfsinn und die Intelligenz der Blinden von ihrer Behinderung nicht betroffen. Dass sie [in der Lage sind zu] schreiben ist erstaunlich (ʿaca¯yı¯b). Obwohl sie nicht sehen können, verlieren sie nie die Zeile. Auch wenn sie wie ein Meister der Schönschrift (hatta¯t-ı ma¯hir) ˘ ˙˙ ˙ gerade schreiben, können sie die von ihnen geschrieben Wörter [ jedoch] nicht lesen. Dabei gibt es von ihnen sogar ein paar Werke über die Schreibkunst (fenn-i ins¸a¯ʾ). Kurz gesagt, ist die Kunstfertigkeit der Blinden unbeschreiblich (ka¯bil-i ˙ tavs¯ıf ü takrı¯r deg˘ildir). Auch für die Stummen haben sie sechs, sieben besondere ˙ ˙ Orte, an denen sie die Geschicke und Fertigkeiten erlernen und menschliche Gepflogenheiten vervollkommnen. Es ist lehrreich, diese zu besichtigen. Da ich für den Besuch dieser der Regierung zugehörigen Einrichtungen eine Genehmigung erhalten hatte, war sicher, dass mich, egal wohin ich auch ging, keiner daran hindern würde, einzutreten. Da es offenkundig ist, dass es für Reisende (seyya¯h) wie mich unbedingt erforderlich ist, Orte zu besuchen, die nie gesehen ˙ und von denen nie gehört wurde, hatte ich die Absicht, während meines gesamten Aufenthaltes in London alle sehenswerten Orte zu besichtigen. Daher bin ich zu den Wohnstätten (a¯ra¯mga¯hlar) [75] der Stummen gegangen. Ich habe ihre Gebäude, ihre Situation und ihr Verhalten gebührend recherchiert (tahk¯ık e˙tdim). Die besagten Einrichtungen sind wie große Kasernen ge˙˙ ˙ baut. Im Innern gibt es über das ganze Gebäude verteilt Gemeinschaftsräume, Unterrichtsräume, eine Küche und Kantinen. Es handelt sich um recht eindrucksvolle, große Gebäude. In den Schlafsälen ringsum gibt es extra für die Stummen aufgereihte Betten. Zwischen jeweils zwei Betten gibt es tischartige Schränke (masa ¸seklinde dolablar) 613 und [auf ihnen] ordentlich aufgestellte Wassergläser und Krüge. Um die notwendigen Aufgaben dieser Stätte zu erledigen, werden extra Bedienstete eingestellt. Ihre Kantinen sind sehr sauber und schön, ihre Speisen und Getränke werden köstlich zubereitet und auf ihre Kleidung wird auch aufs äußerste geachtet. Ihre Schulen sind wie die übrigen Schulen Londons geregelt. Sie haben bis zu fünf, sechs Lehrer, von denen allerdings zwei genau wie sie stumm sind. Als ich anfing, diesen Ort zu besichtigen, betrat ich einen Garten, in dem eine Reihe von Kindern miteinander spielten. Während sie eine Art Fangspiel spielten (esı¯r almacayı oynamakda) 614, wie ich es von den ˙ 613 Der Autor meint vermutlich Kommoden. 614 Wörtlich: »Gefangennahme spielen«. Dabei handelt es sich um ein Kinderspiel, bei dem es darum geht, Spieler von der gegnerischen Mannschaft zu fangen und so das Spiel zu gewinnen.
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Kindern Istanbuls kenne, besichtigte ich bis zum Unterrichtsbeginn ihre Schlafsäle, Unterrichtsräume und andere Zimmer. Sobald ein Zeichen die Kinder auffordert, in die Schule [zu gehen], kommen alle der Reihe nach hinein und die Lehrer beginnen mit dem Unterricht. Da die Stummen auch nicht hören können, muss man ihre Art des Unterrichts erst gehört und gesehen haben, um es zu glauben. Daher hatte auch ich meine Zweifel und bin mit in die Schule gegangen. Wie bekannt (maʿlu¯m oldıg˙ı üzere), sind Stumme, auch wenn sie über eine Stimme verfügen, zu einer richtigen Aussprache nicht imstande, da sie nicht hören können. Auch wenn sie in der Lage sind, fünfzehn Laute hervorzubringen, ist es schwer, die Aussprache manch ähnlicher Buchstaben zu erlernen. Die englische Sprache besteht aus fünfundzwanzig Buchstaben und sie werden mit den drei Gliedern der zehn Finger gezeigt und auf diese Weise beigebracht. Die Schüler sind in fünf Klassen geteilt. In der ersten lernen sie diese Buchstaben und leichte Wörter. In der zweiten Klasse werden ihnen leichte Sätze vermittelt, damit sie sich mitteilen können. In der dritten Klasse [76] beschäftigen sie sich peu à peu mit den Wissenschaften. Zwar ist es möglich, mit diesen Zeichen ein paar Dinge zu äußern, aber es ist ausgeschlossen, Zweifel oder Mutmaßungen zu beschreiben. In der dritten Klasse lernen sie alle wichtigen Wörter und versuchen, ihre Bildung zu vervollkommnen. Jeden Sonntag zu einer bestimmten Zeit vermitteln die Lehrer mithilfe dieser Zeichen[sprache] Anstand und Moral, [zu dessen Einhaltung] alle aufgefordert werden. Damit also in England Blinde, Stumme und andere mit körperlichen Behinderungen nicht als Menschen ausgeschlossen werden, lernen sie, moralische und charakterliche Tugenden zu erlangen. Diese Gruppen verlassen mit zwanzig, fünfundzwanzig Jahren die Schule, verkehren und verständigen sich genau wie gesunde Leute mit der Bevölkerung und zeichnen sich durch Kunst- und Handfertigkeiten aus. Da Stummheit bei den meisten Familien an die Kinder weitergegeben wird, wurde ihnen von Seiten der Regierung (devletce) verboten [untereinander] zu heiraten. Es scheint, dass Landwirtschaft in London nicht für den Gewinn, sondern rein für die Wissenschaft betrieben wird. Sogar Düngemittel bringen sie von Orten, die vier Monate entfernt liegen. Sie bringen also aus Peru Vogeldünger615, den sie mehr als den normalen Dünger verwenden. Ein kantar davon entspricht zweiunddreißig g˙uru¯¸s. Den normalen Dünger erhalten sie dadurch, dass Kinder, wenn sie auf der Straße ein Pferd sehen, das seinen Schweif hebt, einander zurufen. [Daraufhin] setzen sich vierzig, fünfzig Kinder in Bewegung, sammeln [den Dung] ein, füllen ihn in Säcke auf ihren Rücken und bieten ihn den 615 Guano wurde ab dem 19. Jahrhundert als Dünger in der Landwirtschaft verwenden. Er entsteht aus den Exkrementen von Seevögeln und kommt hauptsächlich von den peruanischen Inseln. Siehe »Guano«, in: Encyclopædia Britannica Online, http://www.britannica. com/EBchecked/topic/247789/guano (13. 03. 2015).
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Landwirten an. Außerdem habe ich an den Orten, die ich jeden Tag besichtige, gesehen, dass sich bei Regenwetter verschiedener Dung vermischt. Die Kinder sammeln den Schlamm der Straßen in Behältern als »fertigen Düngesaft« (ha¯z˙ır ˙ ¸serbetli gübre) und liefern ihn als solchen ebenfalls voller Freude (sevine sevine) ab. Ich bin ein paar Mal in die landwirtschaftlichen Gegenden gegangen und habe beobachtet, wie auch die Saat und das Bestellen der Äcker mit Dampf[maschinen] (vapur) ausgeführt werden. Da sie [bei dieser Arbeit] keine Ochsen einsetzen, spannen sie Pferde so groß wie Hengste an. Da sie Rindfleisch lieben, essen sie nur davon. Ihre stählernen Pflüge sind sehr gut. Wenn sie eine Ansammlung von ein paar Leuten, das heißt Zuschauern erblicken, überkommt sie das Bedürfnis nach Unterhaltung [77] und sie veranstalten umgehend einen Wettkampf. Einer der Wettkämpfe besteht darin, auf einem fünfhundert ars¸un großen brachliegenden Feld geradeaus zu fahren und als erster anzukommen. Sie tragen lange weiße Arbeitskittel, Hosen bis zu den Knien und von da abwärts bis zu den Fersen Gamaschen. Dieses Feld von fünfhundert ars¸un ist ein so vollkommen flacher Boden, dass ich niemanden aus der Bahn habe geraten sehen. Sie reihen das geschnittene und eingesammelte Getreide ordentlich in vierekkigen Bündeln auf, so dass kein Regen hindurchsickert. Sie haben keinen Dreschplatz (harman), sondern dreschen das Getreide ganz einfach mit Rä˘ derwerken mit zwei Messern (iki bıçaklı çarhlar). Wenn sie aus einem kile616 ˙ ˘ [Saat] nicht [mindestens] sieben kile Ertrag erwirtschaften, sprechen sie in dem Jahr nicht von Gewinn. Das ist aber nicht überraschend, da sie [dafür] sehr viel Mühe und Geld aufbringen. Daher ist die von der Regierung festgelegte Zehntenabgabe und Grundsteuer (ʿös¸r ü rüsu¯m mı¯rı¯ye) 617 auch nichts für diese Landwirte. Auch wenn sie weder für die Aussaat, noch für Käse, Öl und so weiter zahlen, entrichten sie stattdessen den Besitzern der Ländereien übermäßig viel Pacht (ica¯re). Es ist bekannt (derka¯r), dass sie für ein dönüm618 Land bis zu zweihundert g˙uru¯¸s zahlen müssen. Auch wenn ein Gewinn abzusehen ist, kann man beobachten, dass sie der Armut nicht entkommen. Der Grund dafür ist, dass, wenn der Ertrag (ha¯sıla¯t) für die Zahlung der Pacht nicht ausreicht, es ˙ ˙ vertraglich festgehalten ist, dass sie diese von ihrem eigenen Vermögen (kı¯sesinden) entrichten müssen. Und wenn sie keinen Ertrag haben, bedeutet die Bodenpacht (yer kira¯sı) Einbußen für sie. Da sie sich sehr um die von ihnen
616 Türkisches Kornmaß, das einem Scheffel entsprach, d. h. 35,27 Gramm. Siehe Steuerwald: »kile«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 535. 617 Die hier genannte Zehntenabgabe und Grundsteuer waren typische Kennzeichen des osmanischen Timar-Systems. Siehe I˙nalcık, Halil: »Timar«, in EI, Volume X, Leiden 2000, S. 502–507. 618 Türkisches Flächenmaß, das etwa 920 Quadratkilometern entspricht. Siehe Steuerwald: »dönüm«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 242.
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gehaltenen Kühe kümmern, geben diese nicht weniger als vier, fünf okka619 Milch ˙˙ pro Tag. Die Engländer (I˙ngilizler) haben nur wenig Schafe und keine Ziegen. Da es bei ihnen nicht gern gesehen ist, Schafsfleisch zu verspeisen, sind sie sehr darauf angewiesen, Rind zu essen. Ihre Schafe sind dünn und es gibt keine Karaman-Schafe620. Als ich ihnen von ihren Schwänzen und ihrer Größe berichtete, waren sie überrascht (taʿaccüb) und manche glaubten mir sogar nicht. Da es in London nicht erlaubt ist, unnütz umherzuziehen, darf niemand auf den Straßen herumlungern. Passiert das doch, wird [die Person] aufgegriffen, weggeführt und erforderliche Maßnahmen werden ergriffen. Eines Tages habe ich zufällig etwas Seltsames (tuhaf bir ¸sey) dieser Art beobachtet. Die Polizei hat ˙ drei, vier Vagabunden [78] mit verschlagenem Blick und zerlumpten Kleidern im Alter von zwölf, dreizehn Jahren aufgegriffen und weggeführt. Als ich fragte, wohin sie gebracht würden, und sie mit »zum Gericht« antworteten, heftete ich mich an ihre Fersen und ging mit. [Im Gericht] sah ich, dass es vor lauter Menschen nur so wimmelte (izdiha¯m-ı na¯sdan biñ ayak bir ayak üstünedir). Als ˙ ˙ ˙ ich nach vorne gelangte, sah mich der Richter mit meinem Fes auf dem Kopf und erkannte, dass ich gekommen war, um diese merkwürdige (tuhaf) Gerichtsver˙ handlung zu verfolgen. Mit einer Geste der Aufforderung wies er mir einen bestimmten Platz zu. Dann kamen die Kinder herein. Als der Richter sie fragte: »Wessen Kinder seid ihr? Habt ihr kein Zuhause und geht ihr denn nicht zur Schule?«, antwortete der Älteste unter ihnen: »Wir sind die Söhne von Soundso. Wir haben ein Zuhause, aber unsere Eltern schicken uns aus Bosheit weder zur Schule, noch bringen sie uns ein Handwerk bei. Zu Hause dulden sie uns auch nicht und sie geben uns auch kein Geld. So irren wir elend und jämmerlich vor Hunger und Durst durch die Straßen. So helfen Sie uns doch, mein Herr! Wenn es so weiter geht, haben wir nicht lange zu leben und werden sterben! Sind wir nicht bedauernswert? Denn egal welche Arbeit, wir sind dankbar dafür. Wir bitten um Unterschlupf.« Was sie sagten erfuhr ich, indem es mir im Nachhinein jemand übersetzte. Ihre Aussagen dauerten eine halbe Stunde und der Richter ließ sie einzeln sprechen und hörte ihnen zu. Ihn ergriff Mitleid und er sprach Dinge wie: »Ach, welch Jammer! Wer hat solche Kinder und wirft sie auf die Straße?« Er schickte eines der Kinder mit einem Polizeiangestellte seinen Vater holen. Die Eltern und Schwestern kamen. Als man den Vater nach der Sachlage befragte, antwortete er: »Ich bin Arbeiter. Manch einer dieser gottlosen Bastarde (ka¯fir pı¯çler) kippt kaltes Wasser in den Topf, wenn man Fleisch gekocht hat und dabei ist, es [von der Kochstelle] runterzunehmen. Ein anderer stopft sich ein Stück 619 Siehe FN 509. 620 Schafe mit großem Fettschwanz und stark riechendem Fleisch aus der Region um Karaman im südlichen Inneranatolien, aus deren Wolle auch Teppiche hergestellt wurden. Siehe Steuerwald, »Karaman (koyunu)«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 489 und Köster, Rudolf: Eigennamen im deutschen Wortschatz: Ein Lexikon, Berlin 2003, S. 88.
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Brot in die Tasche, wenn man einen Braten (keba¯b) zubereitet und bis der fertig ist, hat er mehr als die Hälfte davon aufgegessen. Ein anderer [wiederum] füllt den Topf mit Steinen. Kurzum es gibt keine Schandtaten (s¸eyta¯nlık) und keinen ˙ ˙ Unsinn (çapkınlık), den sie in meinem Laden und in meinem Haus nicht ange˙ ˙ stellt hätten. Sie dranglasieren sich tagein tagaus mit den Utensilien vom Arbeitstisch, mit Stickrahmen, Nähkorb oder anderen Haushaltsgeräten ihrer Mutter. Grenzenlos ist der von ihnen angerichtete Schaden und Schmerz. Daher, geschweige denn sie in die Schule zu schicken, möge Allah umgehend ihre Leben nehmen und mich von ihnen befreien!« Als der Richter sich zu den Kindern wandte und fragte: »Kinder, ihr lebt [79] auf der Straße. Wovon ernährt ihr euch?« [sagte der Vater], »Fragen sie doch die Kinder nicht.« Als diese mit »Wir ernähren uns vom Hundewaschen« antworteten, mussten wir alle schmunzeln. Sie wurden nicht freigelassen, sondern alle vier in eine Anstalt für ungehorsame Kinder geschickt. Die Jagd in London ist anders als überall sonst. Nur Landgutsbesitzer (çiftlik sa¯hibleri) lassen eigens Vögel und andere wilde Tiere in Wäldern frei und erteilen ˙ ˙ Freunden, die zur jährlich Anfang September stattfindenden Jagd gehen wollen, Genehmigungen oder gehen gemeinsam mit ihnen [auf die Jagd]. Kurz gesagt, ein Mann kann nicht einfach wie er möchte sein Gewehr nehmen und zur Jagd gehen. Die Einhaltung dieser Jagdregeln ist für sie auch eine Art Vergnügen. Wenn jemand, ohne eine Genehmigung vom Waldbesitzer zu erhalten, dennoch auf die Jagd geht, wird er falls erforderlich, egal um wen es sich dabei handelt, bis nach Australien verbannt. Man kann auch nicht einfach sagen, »ich gehe und jage in einem freien Gelände«, denn hier ist es nicht wie in anderen Ländern. Es gibt keinen noch so kleinen Flecken Erde, den nicht irgendjemand besitzt. Daher traut sich niemand außerhalb seines eigenen Hauses zu agieren. Und wenn es doch einer wagt, betrachten sie ihn als Feind und reagieren mit Verbannung und Strafe. Am zweiten September sagte einer meiner Freunde, mit denen ich verkehrte: »Komm, mach dich auf, ich nehme dich mit zur Jagd!« Gemeinsam mit noch ein paar Leuten fuhren wir mit dem Wagen zum Anfang der Eisenbahnstrecke (timur yolları). Der Dampfwagen (vapur ʿarabası) stand bereit und wir stiegen ein. Innerhalb einer halben Stunde erreichten wir das Landgut (çiftlik), das so weit entfernt lag wie Istanbul (Der-saʿa¯det) von Edirne und einem Bekannten dieser Person gehörte. Wir betraten das von ihm bewohnte Schlösschen (kasr). Der Bekannte bereitete die Jagdutensilien vor und war sogleich bereit, ˙ ˙ aufzubrechen. Ich erhielt ein Gewehr und Ausrüstung und wir gingen in den Wald. Nach ein, zwei Schüssen flogen von hier und dort Rebhühner und andere Vögel auf. Es waren solche, die [entweder] köstlich schmecken oder solche, die man ausgestopft hinter Glas betrachten kann. Wir jagten ein paar von ihnen und kehrten zurück. Zur Essenszeit kamen wir wieder in London an. Ich hatte dort
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Vögel gesehen, die ich sonst nirgends gesehen habe. Es ist auch nicht möglich, mit leeren Händen von dort zurückzukehren. Die Jagd auf Wildtiere unternehmen [die Engländer] meist zu Pferd. Zuerst schicken sie einen Fuchs los. Während der dann hin und her rennt, [80] werden die Jagdhunde losgelassen. Der Fuchs stöbert die Bauten von Hasen und anderen Tieren auf und die Hunde rennen gleich hinter ihm her. Hinter den Hunden lassen die Jäger die Zügel locker. Schließlich verfolgen sie den armen Fuchs solange, bis er erledigt ist. Ich habe noch nirgends die Ausdauer von Tieren beobachten können. Aber bei dieser Art [der Jagd] gibt es viele Verluste. Die Hunde jagen wie besessen hinter dem Fuchs her, ohne sich davon abschrecken zu lassen, in den Abgrund zu stürzen oder gegen einen Baum zu prallen. Wer den Fuchs als erstes auffindet, hängt einem Brauch entsprechend seinen Schwanz stolz an den hinteren Teil seines Sattels. Wie zuvor beschrieben, zählen die Gewohnheiten der Engländer (I˙ngilizler) zu den Merkwürdigkeiten (ʿaca¯yı¯ba¯t) und können sowohl von hässlicher als auch schöner Natur sein. Wenn sich jemand aufmachen würde, alle Gegebenheiten niederzuschreiben, wäre er damit beschäftigt, sehr viele Bücher zu verfassen. Und selbst dann wäre es nicht möglich, zu einem Ende zu kommen. Unter der englischen Bevölkerung gibt es niemanden, der sich freier bewegen kann als die ledigen Mädchen (ba¯kire kızlar). Da sie so zierlich sind, ist es bei ihnen nicht ˙ Brauch, sie vor Vollendung ihres zwanzigsten Lebensjahres zu verheiraten. Bis dahin haken sie sich bei ihren Freunden und Bekannten unter und gehen mit ihnen ohne Argwohn und Bedenken spazieren. Aus Achtung ihren Gewohnheiten gegenüber kämen sie niemals auf den Gedanken, sich misslich zu verhalten. Nachdem sie jedoch verheiratet sind, blicken sie, vom Händchenhalten ganz zu schweigen, jemand anderem außer ihrem Ehemann nicht einmal mehr ins Gesicht. Ehrenwerte Damen können nachts nicht auf die Straße gehen. Tun sie es doch, werden sie, wenn sie nicht in einen Wagen steigen und sich so fortbewegen, notgedrungen für Prostituierte (fa¯his¸e) gehalten. Da die Engländer ˙ (I˙ngilizler) keine Bordelle (ka¯r ha¯neler) haben, einigen sich diejenigen, die sich ˘ ihren Begierden hingeben [wollen], auf der Straße, arrangieren einen Platz und begeben sich dorthin. Wenn sie tagsüber auf die Straße gegangen sind, war es früher wohl der Brauch [der Prostituierten], ihre Kleidung falsch herum zu tragen und ihre Köpfe mit etwas Buntem zu bedecken. Die erwähnten ledigen Fräulein gehen zu Veranstaltungen. Ich bin mit den Töchtern mancher Freunde ins Theater und zu anderen gewöhnlichen Orten der Unterhaltung gegangen und habe das Verhalten der Engländer (I˙ngilizler) beobachtet. Eines Tages habe ich dabei gesehen, wie drei seltsame (tuhaf) Männer zusammensaßen, diskutierten ˙ und sich dabei amüsierten. Sobald sie uns sahen, riefen sie uns als Zeugen ihrer Unterhaltung hinzu und ließen uns Platz nehmen. [81] Ich erfuhr, dass es bei dem Thema ihrer Unterhaltung darum ging, vom Herrgott (hakk) im Übermaß ˙ ˙˙
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Wohlstand zu erbitten. Sie verkündeten, dass derjenige, der in der Lage sei, das meiste zu erflehen, als Sieger hervorgehen werde. Sobald der erste sagte: »Wenn doch nur mit englischen Nadeln621 Säcke genäht würden und ich so viel Gold wie Berge auf der Welt hätte, um diese Säcke zu füllen«, stand der zweite auf und sagte: »Wenn doch nur das Mittelmeer aus Tinte wäre und Zahlen geschrieben würden, bis die Tinte verlaufen wäre, dann die Zahlen alle einzeln in eine Heft geschrieben und zusammengerechnet würden, mir danach das Heft überreicht würde und der Betrag von Lira in Gold umgerechnet und mir überreicht würde.« Daraufhin fing der Dritte an, dafür zu beten, dass sich die Wünsche [der anderen beiden] erfüllen mögen. Ich fragte mich, was der Typ wohl [anschließend] sagen würde und forderte ihn auf: »Mein Lieber, beende das Gebet und sprich endlich deine Bitte, bevor wir uns in Unmögliches versteigen.« Als er »Lass mich beten, denn nachdem sie so viel Geld bekommen werden, krepieren sie und ich erbe [alles], wo ich doch ihr Verwandter bin« sagte, fielen wir vor Lachen um. Eine weitere seltsame (tuhaf) Begebenheit, die man so hört, ist die folgende. ˙ Ein unter dem Namen Hacı Baba bekannter, recht skurriler (muz˙hak) Mann aus ˙ Persien habe sich lange Zeit in London aufgehalten. Da er etwas leichtgläubig war, führte er mit den Töchtern angesehener und ehrenhafter Leute lockere Freundschaften. Er hielt ihre Zwanglosigkeit für Gelüste und schmiedete einen Komplott gegen eine der jungfräulichen Töchter. Er dachte eine Weile über die Möglichkeiten nach, einen Ort aufzutun, und zog in Erwägung, was passieren könnte, wenn das Mädchen sich [ihm] nicht hingäbe. Dabei stieß er in einer Zeitung auf eine absurde Mitteilung (dört bes¸ saçma lakırdı). Darin stand, dass, ˙ ˙ wenn ein Mann eine Frau zum Beischlaf verführen möchte, sie sich unmöglich verweigere hinzugeben, wenn er sich mit ihr an einem sehr regnerischen und stürmischen Tag unter einem [Brücken-] Gewölbe (kemer) unterstelle. Er wartete einen solchen regnerischen Tag ab. Als schließlich ein stürmisches Wetter mit Regen und Flut aufkam, trat dieser besagte Baba vor die Tür und ging zum Haus seines Freundes. Er klopfte an die Tür und rief den Namen des Mädchens. Als das Mädchen ihm gegenüberstand, sprach er und drängte sie: »Auf, lass uns ausgehen und uns amüsieren! Ich habe große Langeweile.« Ganz gleich wie sehr das Mädchen darauf bestand und antwortete »Mein Lieber, bei diesem Wetter geht man doch nicht auf die Straße. Komm hinauf. Mein Vater und meine Mutter sind auch da. Lass uns zusammen essen, trinken und Spaß haben«, hörte Hacı Baba nicht auf [82] und flehte und flehte, bis das Mädchen herauskam. Während er 621 Nadeln wurden nach ihrer Dichte und Länge in drei verschiedene Kategorien geteilt: ordinäre, halbenglische und englische. Die letzte Sorte war die am sorgfältigsten gearbeitete und kam aus den Fabriken Englands. Siehe Precht, Johann Josehl: Technologische Encyklopädie oder alphabetisches Handbuch der Technologie, der technischen Chemie und des Maschinenwesens. Zum Gebrauch für Kameralisten, Ökonomen, Künstler, Fabrikanten und Gewerbetreibende jeder Art, Zehnter Band, Stuttgart 1840, S. 320f.
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eilig einen Platz suchte, bekam es das Mädchen mit der Angst zu tun. Als sie einen Freund ihres Vaters erblickte, rief sie [ihm zu]: »Um Gottes Willen! Befrei mich von diesem Verrückten! Wer weiß, was dieser Typ vorhat, er sucht einen überdachten Ort!« Daraufhin schloss sich der Mann ihnen an und an einer Straßenecke wimmelten sie Hacı Baba ab. Danach zog Hacı Baba noch eine Zeit lang auf der Suche nach einem Mädchen und einem überdachten Ort durch die Straßen.622 Es ist bekannt (maʿlu¯m olub), dass die Engländer (I˙ngilizler) stets nach ihrer Arbeit streben und betrübt und nachdenklich sind. Sie haben nichts zu lachen und wissen sich nicht zu amüsieren. Es gehört jedoch auch zu den Merkwürdigkeiten (g˙arı¯be), dass die Erwachsenen der meist wohlhabenden Schicht wie die Kinder Spiele erfinden und sich in ihrer arbeitsfreien Zeit hiermit beschäftigen, so dass sie wiederum nicht in der Lage sind, Platz zu nehmen, um Konversation und Freundschaften zu führen (muhabbet ve ülfet e˙demezler). Da ˙ manche von ihnen viel Geld haben, haben sie nichts zu tun (is¸ güç bilmez) und sind [daher] dauernd darauf aus, miteinander zu spielen. Ihre Spiele hingegen sind unvergleichlich. Das bekannteste darunter ist ein Ballspiel. Es wird von bestimmten erfahrenen Spielern (mahsu¯s ustalar) auf den Plätzen Londons ge˘˙ ˙ ˙ spielt. Da es zwei Parteien gibt, gehört es zu ihrer Sitte, dass die Verlierer den Gewinnern ein Bankett ausrichten oder einen [vorher] vereinbarten Gegenstand übergeben. Bei diesem Spiel gibt es zweiundzwanzig Personen, von denen elf auf einer Seite stehen. Später werden die elf auf dieser Seite ausgetauscht und die anderen elf kommen an die Reihe. Zu Beginn werden am einen und am anderen Ende des Platzes drei Pfosten aufgestellt, bei denen jeweils zwei Männer stehen. Die übrigen sieben Personen stehen verteilt (nokta nokta). Von den besagten zwei ˙˙ ˙˙ Männern steht jeweils einer am Kopf der Pfosten. Mit einem Gegenstand, den sie in ihren Händen halten und der wie ein Brotschieber (ekmekci küreg˘i) aussieht, schlagen sie den Ball auf die gegenüberliegenden Pfosten. Wenn der Ball nicht in dem Moment, in dem er den Pfosten umzuwerfen droht, gefangen und auf bestimmte Weise geworfen wird, werden die Plätze getauscht. Der Ball ist nicht so wie wir ihn kennen. Er ist sehr fest und fliegt daher sehr weit. Die anderen [Spieler], die aufgereiht stehen, laufen deshalb an die Stelle, an der [der Ball] gelandet ist und bringen ihn zurück. Bis alle Pfosten fallen, müssen sie hundertfünfundzwanzig Mal die Plätze tauschen. Wenn sie sie nicht zum Fallen bringen können, endet die Partie zwischen den beiden Seiten nicht, sondern die 622 Bei Hacı bzw. Hajji Baba handelt es sich um eine fiktive Person aus dem Roman Hajji Baba of Ispahan. Der 1824 in drei Bänden erschienene Roman wurde von Justinian Morier verfasst, der als Diplomat im Iran tätig gewesen war. Auf sarkastische Weise beschreibt Morier die Erlebnisse eines stereotypen Charakters, der als gewitzt und durchtrieben gilt. Bereits im selben Jahr erschien eine deutsche und französische Übersetzung. Siehe Abbas, Amanat: »Hajji Baba of Ispahan«, in: Iranica, Vol. XI, Fasc. 6, S. 561–568.
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anderen zehn Personen kommen auf den Platz und treten gegeneinander an. Und wenn am Ende auch nicht [alle Pfosten] gefallen sind, wird das Spiel [83] beendet.623 Aber gewiss gilt eine der beiden Parteien als Sieger und sie führen das Bankettessen oder die Vereinbarung aus. Das Spiel besteht aus reiner Muskelkraft und bedarf äußerster Aufmerksamkeit. In England fordern sich die einzelnen Grafschaften (eya¯let) gegenseitig heraus. Sie spielen um Tausende kı¯se, wobei sie bekannte erfahrene Spieler (usta) einsetzen. Sogar das Team von Essex, ˙ welches das berühmteste ist, kam nach London zum Spiel und kehrte als Sieger mit tausendeinhundert kı¯se zurück. Während der Spiele werden Stände aufgebaut und zahlreiche Verkäufer und Zuschauer kommen zusammen und sind ausgelassen. Das ist [sozusagen] der Ringsport (pehliva¯nlıg˙¯ı) 624 Englands. Es gibt noch weitere Spiele, deren Lächerlichkeit (masharalık) sehenswert ist. Ge˙ ˘ standene Männer rollen bei vollem Bewusstsein Bälle von beiden Seiten auf aufgereihte Glasbehälter in Form von Orangen oder beschäftigen sich mit weiteren Spielen ähnlich dem Kreiseldrehen oder Rutschen. Dann gibt es noch das Hufeisenwurfspiel, bei dem sie ein Ding wie einen sehr großen Bootsnagel (temel çivisi) festmachen und aus der Ferne ein Hufeisen werfen. Wenn es an der Deichsel (keser) hängenbleibt, gewinnt der Mann, der es geworfen hat. Wenn er es in die Nähe wirft, gilt auch das als Sieg. Dieses Spiel ist wie das, bei dem man eine Stelle markiert und [diese] dann mit Steinen zu treffen versucht. Sie haben auch sehr große Pfeile und Bögen, so wie wir sie kennen. Große Gelände werden mit Markierungen versehen und [dort] sind sie dann dauernd mit dem Bogenschießen beschäftigt. Der siegreiche Bogenschütze, das heißt, der den weitesten Schuss erzielt, darf sich in die alten Gewänder kleiden, die früher in England getragen wurden. Das erwähnte Ballspiel und das Bogenschießen sind beliebter und angesehener als die anderen [Spiele]. Tierwettkämpfe wurden [bereits] in einem anderen Abschnitt beschrieben. Die Wettrennen (pı¯ya¯de kos¸ısı) sind eine ˙ noch erstaunlichere (dahı as¸urı taʿaccüb) Angelegenheit, denn das Laufen bei ˘ ihnen kann nicht als Laufen bezeichnet werden. Die Geschichte des Mannes, der eine Meile in einer Stunde zurückgelegt hat und tausend Meilen ohne stehen zu bleiben gegangen ist, gehört zu den wahren Begebenheiten. Diese Tatsache wird übereinstimmend überliefert.625 Es handelt sich um einen Mann, den wir gesehen haben. Sein Lauf geht aber nicht über die Landesgrenzen hinaus. Stattdessen läuft er immer wieder dieselbe Strecke von einer Meile ohne stehen zu bleiben. 623 Der Autor versucht hier höchstwahrscheinlich den Nationalsport Englands, nämlich Cricket zu beschreiben. 624 Zur Bedeutung des Ringsports im Osmanischen Reiche siehe FN 527. 625 Der Bericht über einen Mann in England, der eine Wette eingegangen ist und behauptet hat, er könne in einer Stunde eine Meile laufen und ohne Pause tausend Meilen schaffen, steht in einer früheren Ausgabe der Zeitschrift Cerı¯de-i Hava¯dis. Siehe Cerı¯de-i Hava¯dis vom 16. Muharram 1267 (21. November 1850), Nr. 507. ˙
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Auch wenn ich noch weitere seltsame (tuhaf) Spiele gesehen habe, wäre ihre ˙ ausführliche Beschreibung jedoch geradezu [84] wie die Schilderung von Kindereien (çocuklarıñ ceviz ve kaydırak oyunlarını taʿrı¯f gibi). Daher wurde davon ˙ ˙ ˙ abgesehen. Das Puppenspiel (kukla oyunı) in London ist nicht so wie wir es kennen und ˙ ˙ erleben (bizim bildig˘imiz ve gördig˘imiz gibi). In den Straßen gibt es Kisten (sandık) von der Größe der Bühne des Karagöz[theaters] 626. Der Puppenspieler ˙ ˙ steigt hinein und wenn der Trommler (ta¯vulcı) und der Flötenspieler (mıska¯lcı) ˙ ˙ ihre Instrumente spielen, spielt er mit seinem Mund hohe Töne auf der Oboe (zu¯rna¯). Der Vorhang öffnet sich, die Puppen kommen zum Vorschein und die Vorführung beginnt. Der Unterschied zum Karagöz-Spiel ist, dass sich Karagöz hinter dem Vorhang und dieser hier aber davor befindet. Ein weiterer Gegensatz zu unseren Marionetten ist, dass unsere Figuren ohne sie aus dem Vorhang hervorzuholen auf der Kiste gespielt werden und dass unsere Figuren als überaus originell (tuhaf) und kunstvoll (musannaʿ) angesehen werden. Und diese Ita˙ ˙ liener, die überall Straßenmusik (sandık muzıkacılıg˘ı) spielen! Gerade in Eng˙ ˙ ˙ land und besonders in London laufen sie Tag und Nacht durch die Straßen und leiern die Leierkästen auf ihren Schultern als würden sie Kaffee mahlen. Obwohl Betteln verboten ist, nehmen sich diejenigen, die es [dennoch] tun, [irgend-]ein Klimbim (tıng˙ırdı¯) in die Hand und gehen damit von Tür zu Tür. ˙ Auch wenn sie die Leute belästigen, sind sie nicht wie unsere Bettler, die, nachdem sie tausend Male fortgejagt worden sind, noch immer nicht gehen. In London habe ich gesehen, wie ein Mann sechs verschiedene Instrumente auf einmal bediente. Mit seinem Kopf spielte er ein Ding aus der Reihe der Musikinstrumente, mit seinem Mund eine Flöte, mit seinen Händen eine Laute, mit seinem Ellbogen eine große Trommel, die auf seinem Rücken hing, mit seinen Knien Becken und mit den Füßen leierte er den Leierkasten. Außerdem predigen die Geistlichen unentgeltlich an jeder Straßenecke. Hier und da stellen sie Rednerpulte auf und predigen. Manche rufen zum Protestantentum auf, manche untersagen den Leuten den Genuss von Alkohol oder ähnliche Laster, Vergehen oder Streitigkeiten. Dann fordern sie diejenigen, die daran glauben und sich für den Weg des Geistlichen entscheiden, dazu auf, das zu beschwören und nehmen ihnen den Schwur ab. Kurz, es gibt zahlreiche solcher Dinge, deren Betrachtung einem Freude bereiten und die sehenswert sind. Selbst 626 Bei Karagöz handelt es sich um die Hauptfigur aus dem bekannten Schattenspiel Karagöz und Hacivat. Mit aus Leder gefertigten Figuren, die hinter einem Vorhang mit Stäben geführt werden, werden unterschiedliche Alltagssituationen dargestellt. Das Bewegen der Figuren, ihr Sprechen, Geräusche und Musik wird zumeist nur von einer Person übernommen. Die Herkunft des traditionellen Schattenspiels ist umstritten, kann im Osmanischen Reich aber bis ins 16. Jahrhundert zurückgeführt werden. Karagöz findet erstmals im 17. Jahrhundert Erwähnung. Siehe And, Metin: »Karagöz«, in: TDVI˙A 24 (2001), S. 401–403.
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wenn man niemanden kennt, mit dem man sich treffen könnte und auch sonst nichts Freudenvolles zu tun hat, könnte man von den erwähnten Kuriositäten (tuhafı¯ya¯t) tausende am Tag betrachten. Und wenn man davon genug hat, kann ˙ man sich die immensen Gebäude anschauen. Und wenn man auch das leid ist, kann man sich Antiquitäten, die Tiere und Bäume in den Museen [und Gärten], die ausgefallenen (g˙arı¯be) Handarbeiten bei den Juwelieren und die verschiedenen [85] eleganten, schönen und bezaubernden Kunstwerke hinter den Glasscheiben der Geschäfte anschauen. Tut man das, kann man sich alleine ohne Langeweile zwei Jahre lang vergnügen und umherschweifen. Eines Tages sind wir in eines der großen und hohen Gebäude, das von ihnen Saint-Paul-Kirche627 genannt wird, gegangen und haben es besichtigt. In ihrem Innern befinden sich sowohl die Gräber der angesehensten Männer als auch Steinstatuen bekannter Menschen aus London. Ihre Verzierungen sind nicht zu beschreiben (zı¯netlerı¯ ha¯riç-i da¯ʾireʾ-i taʿrı¯f). Die Kuppel der erwähnten Saint˘ Paul[-Kirche] ist anderthalb Mal so groß wie der Feuerturm628. Da es kein höheres Gebäude gibt, steigen [diejenigen Leute] hinauf, die London vollständig sehen möchten. Daher sind auch wir hinaufgestiegen und haben geschaut. Aber da wir zur Mittagszeit dort waren, war vor lauter Dunst nichts zu sehen. Später sind wir noch einmal eines Morgens frühzeitig hingegangen und konnten die ganze [Stadt] sehen. Und wahrhaftig, ich kann die Anmut und die Dimension der Gebäude nicht beschreiben (taʿrı¯f e˙demem)! Neben dieser Kirche steht ein schmaler Turm, der zweimal so groß wie der Feuerturm von Istanbul (I˙stanbul kule-i harı¯k¯ı) ist. Der Turm wurde an der Stelle gebaut, wo einst ein großes Feuer ˙ ˙ ˙ Londons aufhörte. Als Zeichen des Brandes sind auf der Spitze [des Turmes] Flammen angebracht. Allah bewahre, wer von Liebeskummer ergriffen ist, stürzt sich von dort in den Tod! Kurz, es gibt unzählige (hadd ü hesa¯bı yokdır) solcher ˙ ˙ ˙ [Bauten], aber wer sie nicht selber sieht, kann nur durch unsere Beschreibungen eine Vorstellung davon bekommen und sich daran erfreuen. In London wurden Durchfahrtsstraßen eröffnet, die Kanal genannt werden. Sie sind zehn bis fünfzehn ars¸un breit, führen Süß- oder Salzwasser und dienen dazu, Fracht mit dem Boot von einem Ort zum anderen zu transportieren. Sie werden von privaten Gesellschaften (kumpanyalar) verwaltet. Die von den ˙ Booten eingeforderte Gebühr beträgt je nach Entfernung nicht weniger als 627 Die Saint-Paul-Kathedrale, in der viele bedeutende Persönlichkeiten beigesetzt wurden, befindet sich im alten Stadtkern von London. Siehe »Saint Paul’s Cathedral« in: Encyclopædia Britannica Online, http://www.britannica.com/EBchecked/topic/517978/SaintPauls-Cathedral (16. 03. 2015). 628 Wie im weiteren Textverlauf ersichtlich, ist ein Feuerturm in Istanbul (vom Autor als ˙Istanbul kule-i harı¯k¯ı bezeichnet) gemeint, vermutlich der Beyazit-Turm, der 1749 gebaut ˙ als Feuerwache ˙ ˙ wurde und diente. Die Istanbuler Feuerwehr benutzt den Turm noch heute. Siehe Ertug˘rul, Özkan: »Beyazıt Yangın Kulesi«, in: TDVI˙A 6 (1992), S. 54–55.
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hundert g˙uru¯¸s.629 Dies ist so erstaunlich (ʿaca¯yı¯b), da beide Seiten des Wassers mit befestigten Wegen (kaldırım) versehen sind und große Schlepper (maʿv˙ nalar) von starken Pferden gezogen werden. Auch wenn sie keine Segel verwenden und die Stellen, an denen die Boote manchmal vorbei müssen, hoch sind, haben sie die Durchfahrt auf solch eine äußerst geschickte Weise gelöst, dass man nur staunen kann (insa¯nı hayretde bırag˙ıyor). Wenn das Boot ansteigen muss, ˙ wird aus den großen Becken Wasser gelassen und das Boot fährt in einen Kanal mit zwei Toren. Wenn sich das untere Tor schließt, hebt das Wasser das Boot auf die gewünschte Höhe. Und wenn die hohe Stelle passiert wurde und [das Boot] hinabsteigen muss, wird das Wasser, sobald das untere Tor geschlossen ist, nach unten abgelassen und [das Boot] sinkt. Zum Großteil [86] besteht die Fracht dieser Boote aus Kohle. Auf ihre Fahrten nehmen die Bootsführer ihre Familien mit. In London gibt es kaum Brunnen (kuyu) und überhaupt gar keine Wasser˙ speicher (sahrınç), denn die Wasserstraßen sind sehr geschickt angelegt. Mit ˙ Hilfe von Maschinen (fabrikalar) wird aus den Flüssen Wasser herbeigebracht ˙ und von Gesellschaften an jeden seinem Geldbeutel entsprechend separat verteilt. Auch wenn es auf der Welt schon viele Kunststücke gegeben hat, die man gesehen und von denen man gehört hat, so gab es noch nie etwas wie die Darbietungen der Akrobaten von London. Für die Engländer (I˙ngilizler) zählen nämlich sogar ihre Spiele zur übrigen Arbeit, weshalb sie bei ihrer Ausübung äußerste Sorgfalt walten lassen und ihr Leben dafür riskieren. Im Umfeld der Ausstellung gibt es Theatervorstellungen und Akrobaten [-darbietungen], deren Beschreibung weder mündlich noch schriftlich möglich ist (lisa¯n ve tahrı¯r ile ˙ taʿrı¯fı¯ muha¯l olub). Da ich aber neugierig bin, habe ich mir alles einzeln ange˙ schaut und ganz besonders viele Fertigkeiten, Spiele und Kunststücke kennengelernt. Diese aber wie sie [selbst] auszuführen, ist [viel] zu gefährlich. Außerdem haben sie sonderbare Marotten (tuhaflıkları da ʿacı¯b olub) und der von den ˙ ˙ Spaßmachern durchgeführte Ulk gehört sich nicht. Im Zirkus werden kleine, schwarz angemalte Kinder in Sätteln auf den Rücken von Straußen gesetzt, die zum Laufen gebracht werden. Selbst wenn man sich [nur] vorstellt, auf welche Weise die auf bizarre Art (s¸ekl-i ag˙reb) schwarz bemalten Kinder mit den listigen Augen und den Gerten in ihren Händen auf diesen unförmigen (ʿacı¯bü’l-heykel) Straußen reiten und wie seltsam (tuhaf) sie scheinen, überkommt einen das ˙ Lachen. Es ist jedoch unbedingt sehenswert, wie sehr sie [die Tiere] zum Laufen antreiben, ohne dabei ihre Köpfe vor Steinen und Bäumen zu schützen. Während 629 Im 18. Jahrhundert wurden die Straßen und Kanäle von Kapitalgesellschaften verwaltet und gegen eine Gebühr zur Benutzung freigegeben. Dabei wurde zwischen Transportweg und Transportmittel unterschieden. Siehe Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 21.
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ihrer Darbietungen drehen sie förmlich durch. Auch wenn Geschicklichkeit und Gewagtheit der Pferdeakrobaten nicht zu beschreiben sind (hı¯c taʿrı¯fe gelmez), sind andere leichte Gegebenheiten darstellbar. So bringen sie bei der Darbietung mit Elefanten einen großen und einen kleinen Elefanten herbei. Zuerst geben sie dem kleinen Elefanten etwas Arrak (ʿarak) und etwas Wein (ba¯de) und lassen ihn ˙ tanzen. Danach flößen sie mit seinem Rüssel dem großen Elefanten [Alkohol] ein. Während er den Leierkasten vor sich spielt, tanzt der kleine Elefant dazu. Kurz gesagt, das Gehabe und Getue zwischen den Elefanten, das menschliche Gebaren wie die Höflichkeit, das gelegentliche Grollen und Schmollen [87] versetzen den Menschen in Staunen (hayret). Als ich das erste Mal hinging, war ˙ der große Elefant krank. Der kleine Elefant wurde gerufen, um sich nach dem Wohlbefinden zu erkunden. Nachdem das Musizieren und Tanzen vorbei war, ließen sie die Elefanten tischlern, und sie führten geradezu wie ein Mensch mit ihren Rüsseln und Beinen eine Reihe von Dingen wie das Holzschneiden, Hobeln und Ähnliches aus. Danach setzte man ihnen ihr Futter vor und gab ihnen mit dem Schlauch Wasser. Anschließend brachte man sie zur Erholung zu ihrer Schlafstätte. Zweifelsohne ist es genaugenommen eine Kunst, solch große Elefanten lammfromm zu bekommen und tanzen zu lassen. Als ich dann noch sah, wie einer der Akrobaten (ca¯nba¯zlardan biri) mit seiner Faust eine Marmorplatte zerschlug, fragte ich äußerst erstaunt (kema¯l-i taʿaccübümden) nach. Als er »wenn du mir zwanzig g˙uru¯¸s gibst, bringe ich es dir bei« sagte, bezahlte ich höchst zufrieden und wir gingen zu einen abgelegenen Ort. Ich schaute und sah, dass auf einem großen Amboss ein Stein lag. Der Akrobat näherte sich dem Stein und brach ihn durch einen leichten Schlag mit der Faust entzwei. Er brachte einen weiteren Stein und legte ihn auf den Amboss. Er rief mich zu sich und erklärte mir die Schlagtechnik. Als ich zuschlug, zerbrach der Stein, ohne dass meine Hand wehtat. So wie ich die Sache verstanden habe, kann man mit einem kleinen Gegenstand einem großen Gegenstand Schaden zufügen. Denn die ganze Kraft des kleinen [Gegenstandes] geht auf den großen über, dessen Kraft geht vollständig auf den unter sich, und der unter ihm befindliche [Gegenstand] wirkt sich auf den oberen aus. Da der Stein auf Eisen liegt, zerbricht er mit der von oben wirkenden Kraft. Eines Tages legten sie einen Akrobaten auf den Rücken und platzierten auf seinen Bauch einen kolossalen Mühlstein. Obwohl sie mit Hunderten von Hammerschlägen den Stein bearbeiteten, geschah ihm nichts, da das Obere hart und das Untere vom Körper her klein und weich war. Ich habe die einst in der Cerı¯de-i Hava¯dis beschriebene Reliefkarte gesehen, deren Maße fast so groß wie die Kuppel der Hagia Sophia (Aya Sofya ca¯miʿı¯) 630 ˙ 630 Der Kuppeldurchmesser der Hagia Sophia beträgt 32 Meter. Siehe »Hagia Sophia« in: Encyclopædia Britannica Online, http://www.britannica.com/EBchecked/topic/251562/HagiaSophia (18. 03. 2015).
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sind. Sie ist nicht leicht anzufertigen, sondern gehört zu den Dingen, für die man viel Zeit und noch mehr Können und Geschick braucht. Da ich631 viel durch Rumelien632 gereist bin, scheinen mir jedoch die Berge falsch dargestellt. In London gibt es Panoramen633, die noch größer sind als das, was sich die Europäer vor ein paar Jahren [88] in den Nächten des Fastenmonats Ramadan (ramaz˙a¯n) in der Gegend um (Sultan) Ba¯yezı¯d634 mit Ferngläsern (?) (pertevsu¯z) angeschaut haben. Zudem gibt es auch Dioramen635, deren Betrachtung mir zuteilwurde, ich aber außerstande bin zu beschreiben (vasfında pek ʿa¯ciz ü ka¯˙ ˙ sırım). Wenn man an einem Ort wie dem Theater sitzt, öffnet sich plötzlich ein ˙ Vorhang und es kommt einem so vor, als befände man sich in einem anderen Land. Während es dann zu regnen beginnt und man vor Kälte zittert, kommt [auf einmal] die Sonne hervor und man fängt an zu schwitzen. Gleich darauf wird es Nacht und anschließend Tag. Kurz gesagt, man gerät vollkommen ins Staunen (adam bütün bütün ¸sas¸ırub) und läuft Gefahr, verrückt zu werden. Während wir so dasaßen, fanden wir uns plötzlich in einer Kirche wieder. Dann gab es ein Erdbeben, die Kirche stürzte ein und wir befanden uns [daraufhin] in einem 631 Erste Person Plural im Original. 632 Osmanische Bezeichnung für die Balkanhalbinsel und den osmanischen Provinzen in dieser Region. Siehe I˙nalcık, Halil: »Ru¯meli˙«, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Edited by: P. Bearman, Th. Bianquis, C.E. Bosworth, E. van Donzel, W.P. Heinrichs. Brill Online, http://referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaedia-of-islam-2/ru-meli-COM_0940 (18. 03. 2015). 633 Panoramen sind perspektivische Darstellungen von Ereignissen oder Landschaften, die auf einem flachen oder runden Hintergrund aufgemalt wurden und dementsprechend entweder vor dem Betrachter aufgerollt wurden oder den Betrachter umgaben. Bei letzterem steht der Betrachter auf einer Plattform in der Mitte einer zylindrischen Fläche, an dessen Wänden sich das sogenannte Rundgemälde befindet. Siehe »Panorama«, in: Encyclopædia Britannica Online. http://www.britannica.com/EBchecked/topic/441452/panorama (20. 03. 2015). In London selbst gab es an unterschiedlichen Orten verschiedene Panoramen zu sehen. Das älteste war das Burford’s Panorama aus dem Jahr 1790. Des Weiteren gab es unter anderem ein Diorama im Regent’s Park, die Panoramen »London by Day« und »Paris by Night« im Colosseum, von dem hier berichtet wird, die Dioramen in der Gallery of Illustration in Regent Street und das Panorama von Paris und Versailles in der Linwood Gallery in Leicester Square. Siehe Clarke, H.G. and Co.: London as it is to-day, London 1851, S. 167– 182. Von dem ebenfalls in Leicester Square anlässlich der Weltausstellung errichteten Wyld’s Great Globe berichtet Mehmed Rauf in seinem Reisebericht detailliert. Rauf: Seya¯hatna¯me-i ˙ Avrupa, S. 30. 634 Ba¯yezı¯d (heute Beyazıt) ist der Name eines Stadtteils auf der europäischen Seite Istanbuls benannt nach Sultan Ba¯yezı¯d (1447–1512). Im Originaltext allerdings falsch geschrieben ()ﺳﻠﻄﺎﻥ ﺑﺎﻳﺰ. 635 Als Diorama wird ein dreidimensionales Ausstellungsstück bezeichnet, bei dem die dargestellten Gegenstände meist in Miniaturform in einem Schaukasten stehen. Der flache oder halbrunde Hintergrund besteht aus einer Landschaftsmalerei oder einer Fotografie. Ein durchscheinender Vorhang und Lichteffekte werden eingesetzt, um den Eindruck der Dreidimensionalität zu verstärken. Siehe »Diorama«, in: Encyclopædia Britannica Online, http://www.britannica.com/EBchecked/topic/164378/diorama (20. 03. 2015).
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Garten und so fort. Anschließend erschien ein Bild, das so hoch war wie zwei große Männer. Es wurde direkt vor unseren Augen immer weiter aufgerollt und es dauerte eine halbe Stunde, bis es vorüber war. Darauf wurden die Länder und Gegenden so wirklichkeitsgetreu dargestellt, dass die Panoramen, die mit Ferngläsern (?) betrachtet werden, nicht damit zu vergleichen sind. Die Länder und Gegenden, die ich darauf gesehen habe, habe ich so wahrgenommen, als hätte ich sie [selbst] bereist. Und das am helllichten Tag! Besonders hat mir der Mississippi in Amerika gefallen. Die Gesamtlänge dieser Bildrolle betrug etwa [die Strecke] vom Tophane zum Dolmabahçe636. Kommen wir zu dem Colosseum genannten soliden Bauwerk, das so groß ist wie ein Hippodrom (at meyda¯nı). Dieses Gebäude ist wahrlich wie eine Kuppel, die umschlossen ist.637 Man geht hinein und sieht auf einen Blick ganz London und fühlt sich dabei, als sei man mitten in der Stadt. Und wenn man von außen guckt, scheint es, als schaue man von außen auf London. Die Darstellung ist von höchster Kunstfertigkeit und man kann nicht unterscheiden, ob es die Stadt selbst oder deren Reproduktion ist.
Abb. 3: The Colosseum. Quelle: London Regent’s Park (Hg.): A picturesque guide to the Regent’s park; with accurate description of the Colosseum, the Diorama, and the Zoological Gardens, London 1829, S. 27.
Außerdem ging ich mit einigen Bekannten an einen Ort, in dessen Parterre sich ein Zimmer befand, in dem wir zehn bis fünfzehn Leute sitzend vorfanden. Wir setzten uns dazu. Während wir uns unterhielten, hob sich das Zimmer in die
636 Tophane ist ein Stadtteil im Istanbuler Bezirk Beyog˘lu und Dolmabahçe ein Stadtteil im Bezirk Bes¸iktas¸. Beide Stadtteile liegen auf der europäischen Seite der Stadt und ihre Entfernung beträgt ca. zwei Kilometer. 637 Bei diesem 1827 errichteten Bauwerk handelt es sich wie auf der Abbildung zu sehen um einen sechzehneckigen Kuppelbau im Londoner Regent’s Park. In seinem Inneren befinden sich eine Reihe von einem gewissen Mr. Hornor angefertigte Panoramazeichnungen, die London und seine Umgebung darstellen. Das Gebäude wurde 1874 zerstört. Siehe Timbs: Curiosities of London, S. 221–224.
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Höhe (ota bir mürtefiʿ mahale nakl olundı). Als ich darüber überrascht (taʿac˙ ˙ ˙ cüb) war, fingen die Engländer (I˙ngilizler) zu lachen an.638 In London gibt es einen Mann mit dem Namen Gum Elastic, der scheinbar keine Knochen hat und dessen Glieder daher einfach so in alle gewünschte Formen gezogen [89] und gestreckt werden können. Er verkehrt in einer Gaststätte (lokanda) und wer ihn sehen möchte, geht dort hin, trinkt einen Punsch ˙ (punc) oder Kaffee und beobachtet ihn währenddessen. Auch ich639 bin eines Tages dorthin gegangen und habe gesehen, wie er, nachdem ihn ein Mann wie einen Lumpen zusammengeknüllt und gerollt hatte, seinen Kopf zwischen die Beine gesteckt und seine Hände von hinten auf die Schultern gelegt bekam. Nun, um es kurz zu fassen, er formte ihn, wie er wollte, und ließ ihn sich am Ende sogar mit seinem eigenen Mund oberhalb des Rückens küssen. Es ist durchaus berechtigt, zu behaupten, nirgends etwas Erstaunlicheres (ag˙reb) gesehen zu haben. Ärzte haben diesen Mann für zwanzig Tausend g˙uru¯¸s gekauft, um ihn nach seinem Tod sezieren zu können. Überdies werden in einem Park mit dem Namen Vauxhall640, in dem es Theater und Varietés (ca¯nba¯z ha¯ne) gibt, Feuerwerke und Musikveranstaltungen ar˘ rangiert. Zudem steigen zahlreiche Menschen mit unterschiedlichen [Heißluft-] Ballons in die Lüfte. Dort gibt es auch eine schwarze Frau, zwei Männer und ein Kind, die aus einem unbekannten Land kommen. Es heißt, sie kämen aus einem Ort mit dem Namen Haiti641 und werden gegen Geld den Leuten vorgeführt. Dabei handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch um eine Spielerei der Engländer (I˙ngilizler). Ihre Sprache klingt wie Pfeifen. Die Zirkusleute fragen sie mit Handzeichen, als würden sie einen Affen tanzen lassen, wie man einen Löwen hält, und der schwarze Kerl beschreibt [dies] ohne Worte und wild gestikulierend. Sie führen noch weiteren Unfug (masharalıklar) dieser Art aus. ˘ Auch wenn ihre Ringkämpfer (pehliva¯n) erstaunlich (ʿaca¯yı¯b) sind, so sind sie nicht so geschickt wie unsere muslimischen Ringer642 und das sehen [selbst] sie ein. Außerdem habe ich gesehen, wie sie von ihrem Kopf abwärts mit einem Ding aus Blech [ausgestattet] bis auf den Meeresgrund hinabgestiegen sind. Einer meiner Freunde zeigte Interesse und machte sich daran, hinabzusteigen. Sobald es jedoch beim Absteigen dunkel wurde, fing er an zu schreien. Nun war auch 638 Es konnte nicht ausgemacht werden, welche Örtlichkeit der Autor hier beschreibt. 639 Erste Person Plural im Original. 640 Vauxhall Gardens, am Südufer der Themse gelegen, war der erste, erfolgreichste und am längsten bestehende Vergnügungspark Londons. Siehe Gascoigne, Bamber: Encyclopedia of Britain. The A–Z of Britain’s Past and Present, New York 1993, S. 667. 641 Turan vermutet, dass es sich womöglich um Haiti handelt, da das Wort ( )ﺧﻮﺗﻨﻴﻄﻮﻥaufgrund der Schreibweise sonst keinem anderen Ort zuzuordnen sei. Er führt dies auf eine falsche Schreibweise für das Englische Hatian zurück. Siehe Turan: Seyahatname-i Londra, FN 25 in der Transkription auf S. 189. 642 Siehe FN 527.
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mein Interesse geweckt und ich stieg hinab. Auch wenn es nicht so beängstigend ist, so überkommt einen doch, da man es nicht kennt, ein Unbehagen. Und diese Flöhe, die einen Wagen ziehen, wie erstaunlich sehen die doch durch ein Vergrößerungsglas aus! Und diese Flohtänze! Die Flöhe werden mit einem ganz dünnen Faden angebunden und da es in ihrer Natur liegt zu hüpfen, fangen sie an, ununterbrochen zu tanzen, sobald winzige Musikinstrumente neben ihnen zum Einsatz kommen. Diese Musikinstrumente werden durch ihre Bewegungen zum Spielen gebracht. Ihr Gehüpfe ist auch nicht etwa ungeordnet, sondern sie werden zu zweit aneinander gebunden und fangen wahrlich an zu tanzen. Manche bekommen untereinander Krach und streiten sich. Kurzum, [90] es gibt nichts, was sie nicht mit den armseligen Flöhen anstellen. * Als ich eines Tages Richtung Eisenbahn ging, tauchte ein großer Wagen auf und alle traten näher, um hineinzuschauen. Gerade als auch ich mich aufmachte, um nachzusehen, verlangten sie [auf einmal] eine Gebühr. Ich bezahlte drei g˙uru¯¸s und sah, dass sie alle untereinander unverträglichen Tierarten gezähmt (alıs¸dırıp) und nebeneinander untergebracht hatten. So hielten sie zum Beispiel Maus und Katze, Katze und Hund, Marder und Huhn und dergleichen einander feindlich gesinnte [Tiere] am selben Ort. Sie verstanden sich so gut, dass sie teilweise sogar mit einander tollten (s¸akalas¸maları vardır). Sie haben es oben˙ drein geschafft, Raubvögel zu bändigen (ta¯ʾnı¯s e˙tmis¸dir). Derweilen legte eine chinesische Dschunke (çin kayıg˙ı) an und ich ging hin, um sie mir anzuschauen. ˙ Bug und Heck dieses Schiffes sind sehr hoch und die Mitte ist niedrig, die Segel aus Schilf (ha¯sır) und der Mast aus recht dickem Bambus (kamıs¸), den es in der ˙ ˙ ˙ Gegend um China und Indien gibt. Das Heck ist rund und im Inneren verfügt sie über eine [große] Kabine, die mit kunstvollen Steinen verziert ist. Da die Chinesen eine allgemeine Vorliebe für Ornamente haben, ist das Schiff sehr prachtvoll gearbeitet. Die seltsamen Gegebenheiten (ahva¯l-ı g˙arı¯be) und kuriosen Angelegenheiten ˙ (keyfı¯ya¯t-ı ʿacı¯be), die ich in London zu sehen bekam, habe ich bis hierhin schriftlich festgehalten, und die zu besichtigenden wunderbaren Plätze und eindrucksvollen Gebäude habe ich ausführlich beschrieben. Alle ungewöhnlichen Dinge (her umu¯r-ı g˙arı¯be) Londons zu beschreiben liegt außerhalb des Darstellbaren (ha¯ric-i havsalaʾ-i kalem). Man braucht nicht zu erwähnen, dass, ˙ ˙ ˙ ˘ wenn man alles gebührend beschreiben würde, es ein Band so breit wie ein großes Wörterbuch (ka¯mu¯s) gäbe. Daher wurden nur äußerst staunenswerten Bege˙ benheiten (dereceʾ-i niha¯yet istig˙ra¯b) beschrieben. Jeder, der sich infolge der Dinge, die ich von Beginn meines Reiseberichts (seya¯hatna¯me) an geschildert ˙ habe, dazu bemüßigt fühlt, sich in eine solch schöne Stadt aufzumachen, nach London zu reisen und die eindrucksvollen Plätze zu besichtigen, um zu lernen und Erfahrungen zu sammeln, sollte wissen, dass die Bevölkerung des Osmanischen Reiches (mema¯lik-i ʿOsma¯nı¯ye a¯ha¯lisi) und die Londoner sehr stark in
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ihren Sitten und Benehmen voneinander abweichen. Beispielsweise darin, dass wenn wir an einem Ort zusammenkommen, wir uns begrüßen, gemeinsam eintreten und uns mit jedem im guten Einvernehmen befassen. Sie hingegen grüßen niemandem und unterhalten sich mit keinem, den sie nicht kennen. Wenn sie nicht jemand untereinander bekannt macht, vermeiden sie Unterhaltungen. Als einmal sogar ein Franzose (Fransız) und ein Engländer (I˙ngiliz) sich am selben Ort befanden und der Gehrock des Engländers Feuer fing, sagte der Franzose, als er das sah, »Um Gottes Willen mein Herr, [91] Ihr Gehrock brennt!« Obwohl er dies drei oder viermal wiederholte, reagierte er [der Engländer] nicht, da sie [vorher] niemand untereinander bekannt gemacht hatte. Als der Franzose daraufhin in Aufregung geriet, sprach der Engländer: »Sonderbar! Ich kenne dich nicht. Was kümmert es dich?« Daraufhin grämte sich der Franzose und schwieg. Als dann zufällig auch sein Gehrock Feuer fing, rief der Engländer, der dies sah, einen Angestellten und beauftragte ihn damit, der Person zu sagen, dass ihr Gehrock brenne. Dadurch hatte er es vermieden, ihn persönlich anzusprechen und zu warnen. Es ist sogar so, dass wenn mehrere Familien fünfzig Jahre im selben Haus wohnen, die oben Wohnenden mit den unten Wohnenden und die unten Wohnenden mit den oben Wohnenden keinen freundschaftlichen Kontakt pflegen. Sie würdigen sich beim Hinein- und Hinausgehen noch nicht einmal eines Blickes. Auch wenn Charakter und Verhalten der besagten Bevölkerung grob erscheinen mögen, erweisen sie großen Respekt und einen ehrenvollen Umgang gegenüber jemandem, mit dem sie durch eine Mittelsperson eine freundschaftliche Beziehung eingegangen sind. Sie zeichnen sich gegenüber ihren Freunden und Bekannten jedoch nicht wie wir mit Aufrichtigkeit, Freundschaft und Brüderlichkeit aus. Ja wenn sogar ein Fremder (ecnebı¯) manche Stadtteile Londons lobt, sagen die Engländer (I˙ngiltere a¯ha¯lisi) unschöne Dinge wie: »Mann, das ist doch gar nichts. Das gibt es ja überall.« Die englische Bevölkerung zeigt der Polizei gegenüber großen Respekt, so dass die Polizisten keine Waffen tragen, sondern nur einen Stock, an dessen Spitze der Name der Königin eingraviert ist. Wenn sie diesen aus der Ferne hochhalten, bleibt jeder, egal um wen es sich dabei handelt, dort stehen, wo er sich gerade befindet. Wenn jemand auf die Dienststelle (kapu) gebracht werden muss, be˙ rühren sie ihn sanft mit dem Stock und führen ihn wie ein Schäfchen davon. Selbst wenn sie einen Dieb festhalten möchten, reicht es, den Stock zu zeigen. Die von mir643 beschriebenen Gegebenheiten sollen nicht als eine Förderung der üblen Nachrede gegenüber den Engländern (I˙ngilterelüler) verstanden werden. Meine Absicht besteht lediglich darin, die von mir beobachteten Ereignisse ausführlich zu berichten. Wer auch immer jedoch nach England reist 643 Hier und in den folgenden Sätzen erste Person Plural im Originaltext.
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und sich aufmacht, solch ein Buch zu verfassen, wird es nicht anders machen können. Falls er sich für die Unwahrheit entscheidet, kann ich nichts dafür. Auch wenn das zu Erzählende zur Ausstellung nicht so kurz war, wie von mir beschrieben, so wurde, da ihre Einzelheiten seit der Eröffnung in der Cerı¯de-i Hava¯dis in Folge erschienen sind, es nicht als notwendig erachtet, [92] diese zu wiederholen. Dieser Bericht (risa¯le) sah bei der Fertigstellung nicht so aus. Aufgrund seiner Unordnung und der Detailgenauigkeit einiger Dinge war er zum Druck nicht geeignet. Erst durch die Korrektur von Seiten der Cerı¯deha¯ne644 hat ˘ er diese Form erlangt. Dafür sei gedankt. Ende. Dieser London-Reisebericht, der alle Gegebenheiten Londons umfasst, wurde von der Druckerei der Cerı¯de-i Hava¯dis gedruckt. Das Jahr 1269.
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Rekapitulation der Reise
Wie bereits festgestellt wurde, haben wir es bei der vorliegenden Reisebeschreibung weniger mit einer tatsächlichen Schilderung des Verlaufs der eigentlichen Reise bis hin zum Zielort zu tun, sondern hauptsächlich mit einer Beschreibung des Zielortes selbst, nämlich Londons und seiner Bewohner. Die Beschreibung dieser Weltstadt ist Gegenstand vieler Reiseberichte. Von London, das – neben Paris – bereits im 18. Jahrhundert »für das verwirrende Leben außerhalb der gewohnten engen Grenzen und für die Stadt als Metapher der großen Welt«645 steht, geht im 19. Jahrhundert eine Faszination aus, die viele Besucher anzieht, die vom »England-Fieber«646 ergriffen sind. Die sogenannte Großstadt-Schilderung gehört zu den Standardthemen, die innerhalb des Genres der Reiseliteratur einen großen Teil einnehmen kann und die sich aus Publikumserwartung und Beschreibungspraxis heraus ergibt. »Die literarische Darstellung der Großstadt folgt«, so Fischer, »wiederkehrenden Wahrnehmungsperspektiven und Beschreibungsschablonen«, die aus einem Netz aus Aussagen, Vergleichen, Topoi und Perspektiven bestehen. Speziell für London, aber auch für die Großstadt an sich gibt es daher bestimmte Beschreibungsmuster, die dem Leser dazu dienen, sich überhaupt eine Vorstellung von dem 644 Das »Zeitungshaus« ist der Name der Druckerei, in der die Zeitung Cerı¯de-i Hava¯dis und der vorliegende Reisebericht gedruckt wurden. 645 Beller: »Typologia reciproca«, S. 109. 646 Wülfing: »Medien der Moderne«, S. 470.
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Erzählten machen zu können. Fischer fasst die wiederkehrenden Topoi zusammen: »Ewige Rastlosigkeit, enormer Lärm, permanentes Gewühl aus Menschen und Fuhrwerken, die pausenlose Bewegung sowie die hohe Luftverschmutzung gesellen sich in Reiseberichten zu der Bewunderung des Glanzes der Läden und Equipagen, der breiten Straßen und der sicheren Trottoirs sowie der allnächtlichen Gasilluminationen.«647
Der Autor des SL behandelt in seiner Reisebeischreibung grundsätzlich verschiedene gesellschaftliche, kulturelle und politische Fragen, teilt aber auch persönliche Eindrücke, Emotionen, Gedanken und Kommentare mit. Seine Absicht liegt darin, mit seiner Darstellung die Leserschaft in seiner Heimat über die von ihm gemachten Beobachtungen in England zu informieren. Da er den Anspruch erhebt, dass sein Reisebericht alle Gegebenheit Londons umfasst (is¸bu Londra Seya¯hatna¯mesi Londra’nıñ cümle ahva¯lini ca¯miʿ oldug˘u ha¯lde), spricht er ˙ eine Fülle an Themen an. Diese Vielfalt lässt sich zudem dadurch erklären, dass die Reisebeschreibung – wie bereits dargestellt – zuerst in Fortsetzung aus 27 Teilen in einer Zeitung erschienen ist und daher auch aus 27 in sich abgeschlossenen Erzählungen besteht. Die von Fischer erwähnten Topoi greift auch der Verfasser des SL auf. Die Schilderungen seiner Eindrücke über London bewegen sich zwischen Bewunderung, Staunen und Missfallen. Aufgrund der Weltausstellung, die zur Zeit seines Aufenthaltes stattfindet, ist die Stadt im Ausnahmezustand. Während europäische Reisende jener Zeit London stets Paris, der damaligen anderen Weltstadt Europas, gegenüberstellen, wählt unser Autor aus einem anderen Kulturraum kommend eine andere Stadt zum Vergleich. »Genau wie man »I˙safaha¯n nısf-ı ciha¯n« (Isfahan ist die halbe Welt) sagt, kann man jetzt über diese Stadt »Londra nısf-ı I˙ngiltere« (London ist das halbe England) sagen« [14]. Die Dimension Londons, die zur damaligen Zeit über zwei Millionen Einwohner zählt, wird in anderen Reiseberichten noch deutlicher, wo die Stadt gleich als eigene Welt betrachtet wird.648 Es liegt in der Tradition der Großstadtschilderungen, dass sich die Begeisterung des Autors für eben dieses Ausmaß der Stadt niederschlägt. Formulierungen wie »eine solch schöne Stadt« [90] oder aber die »bedeutende Hauptstadt des Königreiches« [51] spiegeln im SL diese Bewunderung wieder. Was die Gebäude in London anbelangt, so spricht der Verfasser des SL von deren Größe und Anmut [85], die ihm zeitweise die Sprache verschlagen, so dass er keine Worte zur Beschreibung dieser finden kann. Er vergleicht den Aufbau von Einrichtungen mit denen von Kasernen [75] und geht auf die einheitliche Struktur der Häuser ein. »Die Uniformität der Bebauung« wie sie 647 Fischer: Reiseziel England, S. 602f. 648 Siehe Fischer: Reiseziel England, S. 612ff.
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Fischer nennt, sei der Grund dafür, dass viele Reisende den Vergleich mit Kasernen anführen. Massenhafte Vervielfältigung und ein Konglomerat aus immer gleichen Teilen sind kennzeichnend für das Stadtbild Londons.649 Neben der zum Ausdruck gebrachten Begeisterung für die Stadt und ihre Gebäude, erfährt man allerdings auch negative Seiten über London, so zum Beispiel wie teuer die Stadt ist und dass manche Stadtteile aufgrund von Prostitution nicht zu besuchen sind. Zum gängigen London-Bild gehören zudem die Erwähnung von Rauch und Smog, eine »beständig über London schwebende Dunstglocke aus Steinkohlestaub«650, wie Fischer sie nennt. An mehreren Stellen in seinem Reisebericht kommt unser Autor darauf zu sprechen. Beispielsweise bei der Besichtigung des Feuerturms, der dem Besucher einen Blick über die Stadt bieten soll, stellt er fest, dass »vor lauter Dunst nichts zu sehen« [85] ist. Folgerichtig führt er diesen Zustand auf den Gebrauch von Steinkohle zurück. »Sie gebrauchen Steinkohle, deren Rauch immense Spuren hinterlässt, die Luft verschlechtert und die Umgebung verschmutzt« [69]. Daneben bringt der Verfasser des SL allerdings seine Bewunderung für die unterschiedlichen kulturellen Einrichtungen, Möglichkeiten zur Freizeitbeschäftigung651 und von verschiedenen Seiten ergriffene Maßnahmen im sozialen Bereich wie die Armenküchen zum Ausdruck. Erwähnung finden auch Bibliotheken, Museen und Theater, deren Eleganz und Schönheit der Autor beschreibt. Genauso verhält es sich mit den Einkaufsmöglichkeiten in London. Die Sauberkeit und Stabilität der Geschäfte fallen dem Autor ins Auge, über die er sagt, dass »man nicht genug davon bekommen kann« und »es einem davon nie überdrüssig wird« [24], egal wie oft man sie durchläuft. Er beschreibt die Parkanlagen, von denen es zahlreiche in der Stadt selbst, aber auch außerhalb Londons gibt. Er besuchte mehrfach einen dieser außerhalb gelegenen Parks »mit schöner Aussicht«, da es »ein sehenswerter Ort« [71] ist. Seinen Namen erfährt der Leser nicht. Zentrale Themen der vorliegenden Reisebeschreibung sind Technik und Fortschritt, mit der sich der Autor während seines Aufenthaltes in England konfrontiert sieht. Die schnelle Raumbewältigung durch die Eisenbahn ist generell ein Topos des beginnenden 19. Jahrhunderts. Reisende staunen über die Geschwindigkeit, mit der sie sich nun fortbewegen können und bringen dies in 649 Fischer: Reiseziel England, S. 618. 650 Fischer: Reiseziel England, S. 615. 651 Abgesehen von den der wohlhabenderen Bevölkerung vorbehaltenen Etablissements wie Museen, Kunstausstellungen etc. bot London, das zur damaligen Zeit als Welthauptstadt nicht nur in den Bereichen Politik, Handel und Finanzwesen, sondern auch Kultur bekannt war, viele weniger formelle Unterhaltungsangebote. Dazu zählten Dioramen und Panoramen, Ausstellungshallen wie die Egyptian Hall in Picadilly, Vergnügungsparks mit Maskenbällen, Marionettentheatern und viele weitere Veranstaltungen. Auch die Anzahl der Clubs hatte Mitte des 19. Jahrhunderts eine beachtliche Größe erreicht. Siehe Seaman: Life in Victorian London, S. 165ff.
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ihren Schriften zum Ausdruck.652 Über die Eisenbahn, die er in seinem Leben erstmals bestiegen hat, berichtet unser Autor ziemlich zu Beginn seiner Schilderungen. Ihre Geschwindigkeit und das Gefühl, das die Fahrt mit ihr bei ihm hervorruft, setzt er mit dem Fliegen gleich [9]. In direktem Zusammenhang steht auch eine weitere Neuerung, nämlich die des Telegrafen, die der Autor mit »dünnen Drähten« bezeichnet (ebenfalls [9]). Schivelbusch nennt das »physische Erscheinen« des Telegrafen in Form von Mast und Draht als bedeutsames Zeichen des Reisens jener Zeit. »Der Eisenbahnreisende nimmt die am Abteilfenster vorüberfliegenden Telegraphenmaste und -drähte wahr. Er sieht nie allein die Landschaft, durch die er fährt, sondern immer auch diese Maste und Drähte, die zur Eisenbahn gehören wie die Schienen.«653
Neben Eisenbahn und Telegrafen ist das Dampfschiff ein weiterer wichtiger Aspekt des modernen Reisens, aber auch Hotels, Visa, Zollkontrollen und Quarantäne zählen dazu.654 Man erfährt vom Autor des SL, dass in Southampton im Unterschied zu Malta weder nach einem Pass noch nach einer Zollbescheinigung verlangt wurde [8]. An anderer Stelle weist er darauf hin, dass die Hotels im ohnehin teuren London aufgrund der vielen Besucher für die Weltausstellung erhöhte Preise haben und dass er selbst in einem für ihn zu teuren Hotel einem Freund zuliebe einmal übernachtet habe [10]. Auffällig ist, dass in anderen Englandreiseberichten aus jener Zeit dieselben thematischen Schwerpunkte wie in der vorliegenden Reisebeschreibung auszumachen sind. Den Insassen einer Irrenanstalt Wasser über den Kopf zu gießen, scheint beispielsweise eine zweifelhafte Heilmethode zu sein, die mitunter auch bei anderen ausländischen Beobachtern Verwunderung hervorruft.655 Zu den wiederkehrenden Topoi innerhalb von Englandreisebeschreibungen zählt auch, dass den Engländern vor lauter Arbeit nicht viel Zeit für ihre Freizeit bleibt, ihnen sich aber dennoch die Möglichkeit bietet, zu ihrem Vergnügen ins Theater, in Konzerte, Parks etc. zu gehen. Das Ess- und Trinkverhalten und der Besuch in der Taverne gehören ebenfalls zu den häufig behandelten Themen,656 genauso wie
652 653 654 655 656
Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 16ff. Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 34. Siehe Herzog und Motika: »Orientalism Alla Turca«, 175f. Siehe unter anderem: Jurk: Zur Dialektik von Inhalt und Form, S. 75ff. Beispielhaft sei hier Johanna Schopenhauer genannt, die in ihrem Werk »Reise durch England und Schottland« (1818) ebenfalls auf diese Themen zu sprechen kommt. Neben anderen England-Reisenden untersucht Jurk in ihrer Arbeit das England-Bild Johanna Schopenhauers in deren Werk. Siehe Jurk: Zur Dialektik von Inhalt und Form, S. 75.
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Kinderarbeit, Armenhäuser, Gerichtsverhandlungen,657 Landschaftsdarstellungen und die Gastfreundschaft der Engländer.658 Neben diesen Aspekten sind das politische System Englands, die Polizei, Einkaufsmöglichkeiten, Industrie, Vereine, Sport, Körperpflege, gesellschaftliche Klassen, das Wetter, Klubs und andere Veranstaltungen jeglicher Art Gegenstand der Erzählungen. Weiter reicht das inhaltliche Spektrum von Umgangsformen und Bräuchen der Engländer, über deren Arbeitsmoral und Einstellung zur Freundschaft. Einen weiteren wichtigen Punkt bilden zudem die Themenfelder Finanzen und Bekanntschaften, die einem Reisenden die notwendigen Verbindungen schaffen. Dumont begründet dies folgendermaßen: »The traveller who embarked on a two month journey across unfamiliar Western lands did not need courage and resistance; beside a passport, what he really needed was financial means and the names of persons he could contact in case of difficulty.«659
Auf manche Bereiche kommt unser Autor gleich an mehreren Stellen zu sprechen, verweist aber auch zuweilen auf bereits behandelten oder noch ausstehenden Erzählstoff. Neben all diesen Themen berichtet unser Autor eingehend über das Verhalten der Engländer. Insbesondere ihre Hast und Eile sind Gegenstand mehrere Erzählungen (zum Beispiel [11]). Außerdem kritisiert er ihre Unfreundlichkeit und ihr Desinteresse gegenüber anderen (beispielsweise [18]) und kommt auf die enormen Menschenmassen in der Stadt zu sprechen ([14] u. a.). Dies stimmt mit den Beobachtungen anderer Londonbesucher überein. Die Eindrücke deutscher Reisender fasst Fischer wie folgt zusammen: »Das Tempo und die Hektik erscheinen den Reisenden ungewohnt, die Gleichgültigkeit und Anonymität der Menschen untereinander bestürzend, die verdichteten Menschenmassen geradezu bedrohlich.«660 Dass sich den Menschen in London vom vielen Verkehr der Kopf dreht [23], erwähnt auch der Verfasser des SL. Der vorliegende Reisebericht gliedert sich durch die Auswahl seiner Themen in die Reihe der Londonreiseberichte ein. Insgesamt liefert uns der SL eine Gesellschaftsanalyse der Briten aus der Sicht eines Osmanen. Dadurch wird eine Kultur in einem anderen kulturellen Rahmen reflektiert. Wir erhalten Informationen über die beschriebene, aber auch beschreibende Kultur. Die Besonderheit dabei ist, dass der hier zu behandelnde Ausgangstext von einem aus dem osmanischen Kulturraum stammenden Autor über die Briten verfasst wurde und hier nun wieder aus dem europäischen Blickwinkel dem Leser zu657 Jurk arbeitet diese Themenschwerpunkte beispielhaft bei Ida Hahn-Hahns »Meine Reise in England« (1848) heraus. Siehe Jurk: Zur Dialektik von Inhalt und Form, S. 80ff. 658 Siehe Jurk: Zur Dialektik von Inhalt und Form, S. 92f. 659 Dumont: »Western exotism«, S. 132. 660 Fischer: Reiseziel England, S. 603.
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gänglich gemacht wird. Es findet sozusagen eine Rückübersetzung kultureller, politischer und gesellschaftlicher Gegebenheiten statt. Was die Verwendung von Kalenderdaten angeht, so fällt auf, dass im SL sowohl Angaben nach der christlichen als auch nach islamischer Zeitrechnung gemacht werden. Zu Beginn seiner Reise nennt der Autor sein Abreisedatum nach dem Kalender der Hidschra, während im weiteren Verlauf auch Daten nach dem gregorianischen Kalender angegeben werden. Teilweise nennt er auch beide Möglichkeiten, zum Beispiel an der Stelle, an der er von der Errichtung des Kristallpalastes in London »im Jahre 1268 nach der Hidschra und 1851 nach christlicher Rechnung« [3] berichtet. Bei der Lektüre des Berichts fällt zudem auf, dass er Originalbegriffe verwendet, die er dann seinem Leser erläutert. Um beispielsweise zum Ausstellungsgebäude zu gelangen, steigt er »in einen als ›cab‹ bezeichneten seltsam geformten (ʿacı¯b-ül-s¸ekl) Wagen auf vier Rädern, mit zwei quadratischen Fenstern, dessen Fahrer oberhalb der Fahrgäste saß« [15]. Auch dieses Verfahren ist eine Auffälligkeit anderer Reisebeschreibungen. Insgesamt lässt sich feststellen, dass wir es mit einem interessierten und neugierigen, teils misstrauischen Autor zu tun haben, der den Sachen auf den Grund gehen will und daher laut eigenen Angaben eingehend recherchiert und erst dann dem Leser Bericht erstattet. Bei Dingen, die er nicht selbst beobachtet hat, verweist er auf Dritte, die ihm darüber berichteten. Bei diesen Beschreibungen fällt grundsätzlich die Selbstdarstellung des Autors auf, die hier kurz angesprochen werden soll. Er stellt sich abgesehen von der Einleitungs- und Abschlusspassage des Berichts, wo er sich mit bestimmten Formulierungen als bescheiden und unterwürfig präsentiert (»Auch meine Wenigkeit befand sich durch die dank des Sultans durchgeführte Reise dort« [3]), stets als Sympathieträger, Schelm oder sogar als Held dar. Er ist mutig, neugierig, unterhaltsam, beliebt und seinen Mitmenschen überlegen. Er verweist auf die Wichtigkeit seiner Erfahrungen und deren schriftlichen Fixierung, um sie dem Leser zugänglich zu machen. Diese Selbstüberschätzung ist typisch für osmanische Reisebeschreibungen jener Zeit. »Authors (or editors) frequently seem anxious to contribute to their own overestimation by putting forward self-referential passages in their travelogues claiming the importance and extraordinary character of their experiences and observations to justify the writing and particularly the printing of their reports.«661
Der Leser erhält den Eindruck, es mit einem selbstbewussten, wenn nicht sogar eingebildeten Mann zu tun zu haben. Sein Anspruch, so macht er es an mehreren Textstellen, aber auch in seiner Schlussbemerkung der Reisebeschreibung noch einmal deutlich, sei es, einen Bericht zu schreiben, der seine Leserschaft in der 661 Herzog und Raoul: »Orientalism Alla Turca«, S. 158.
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Heimat ausführlich über alle Gegebenheiten Londons informiert. Dabei entwirft er ein Bild der Engländer und Englands und gleichzeitig ein Bild der osmanischen Gesellschaft, auf das das folgende Analysekapitel genauer eingeht.
4.
Theoretische Grundlagen
Das 19. Jahrhundert war geprägt von der Gegenüberstellung des Eigenen und des Fremden sowie jenen in ganz Europa verbreiteten Bildern und Stereotypen, die sich aufgrund eines als wahr angenommenen politischen Diskurses formten.662 Ein Mittel, über das Bilder und Stereotype von anderen Ländern (und damit eingeschlossen Kulturen, Gesellschaften, Mentalitäten etc.) entstehen und sich verbreiten, war und ist noch heute die Literatur. Daher enthält eine Vielzahl von Texten – darunter auch Reiseberichte – bildhafte Darstellungen, die dazu dienen können, Ideologien zu verbreiten.663 Jede dieser Darstellungen entsteht aus einer individuellen Perspektive und ist die Aussage eines einzelnen Sprechers. Die gemeinhin anerkannten Bilder von anderen Ländern setzen sich daher aus vielen Einzelbewertungen zusammen und spiegeln das kollektive Bild einer Kultur wider. »Die sogenannten kollektiven ›Bilder‹ oder ›Vorstellungen‹ sind Konstrukte aus Meinungen und Mentalitäten, die dazu dienen, eine Vielfalt oder auch eine ungefähre Gesamtheit von Eindrücken zu umschreiben, und die in jeglicher Art von Textsorten im Gewand selektiver und verallgemeinernder Stereotypen erscheinen.«664
Für die Analyse des Fremd- und Eigenbildes sind aus den Fachbereichen Imagologie und Stereotypenforschung die hier im Folgenden dargestellten theoretischen Ansätze grundlegend. Der Definition von Begrifflichkeiten folgt eine kurze Darstellung der Stereotypenforschung, die in direktem Verhältnis zur Imagologie steht, deren Grundlagen und Aufgaben im Anschluss präsentiert werden. Die von Beller in der Imagologie herausgearbeiteten drei Techniken des Vergleichs und die von Pümpel-Mader konzipierten Stereotypenindikatoren bilden den Schwerpunkt der Analyse und werden im letzten Unterpunkt des Theorieteils aufgeführt.
662 Fried: »Imagologie als Teildisziplin der Vergleichenden Literaturwissenschaft«, S. 66. 663 Corbineau-Hoffmann, Angelika: Einführung in die Komparatistik, Berlin 2004, S. 196. 664 Beller: »Das Bild des Anderen«, S. 29f.
202
4.1
Theoretische Grundlagen
Begrifflichkeiten
Einzelne thematische Schwerpunkte betreffend gibt es in der Wissenschaft zahlreiche Definitionen verschiedener Begriffe und Konzepte, die zum Teil erheblich voneinander abweichen. Um eine gemeinsame Ausgangsposition und Grundlage für die Analyse der vorliegenden Arbeit zu schaffen, werden im Folgenden zuerst einmal hier relevante Begriffe hinsichtlich ihres Inhalts sowie ihrer Verwendung definiert.
4.1.1 Definitionen Im allgemeinen Sprachgebrauch werden die Begriffe »Stereotyp«, »Vorurteil« und »Klischee« gleichbedeutend verwendet, wobei »Klischee« nahezu synonym mit »Stereotyp«, aber als Begriff weniger wissenschaftlich ist665 und eher die alltagssprachlich geläufige Bezeichnung darstellt666. In Metzlers Lexikon Sprache wird unter dem Stichpunkt »Vorurteil« auf den Beitrag zu »Stereotyp« verwiesen und somit nicht weiter differenziert.667 In der Psychologie bezeichnet ein Stereotyp allerdings »ein relativ erfahrungsresistentes, gleichförmig über eine Gruppe verteiltes System von Ansichten, Anschauungen, Urteilen oder Werten, das die Trägergruppe entlastet und die Komplexität und Uneinheitlichkeit des stereotypisierten Sachverhaltes über Gebühr reduziert.«668
Die Inhalte von Stereotypen scheinen »unveränderbar und überzeitlich gültig« zu sein.669 Gleichzeitig handelt es sich bei Stereotypen laut Hahn nicht um »neutrale Feststellungen«, sondern um »emotionale Werturteile«.670 Anwendung findet der Begriff auf unterschiedlich definierte Gruppen, was zudem mit sich bringt, dass 665 Stüben, Jens: »Deutsche Polen-Bilder. Aspekte ethnischer Imagotype und Stereotype in der Literatur«, in: Hahn: Historische Stereotypenforschung, S. 49. 666 Florack, Ruth: Bekannte Fremde: zur Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur, [= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 114], Tübingen 2007, S. 39. Dennoch wird er in der Imagologie als sich im Text manifestierte sprachliche Elemente verwendet. Siehe Beller, Manfred: »Fremdbilder, Selbstbilder«, in: Zymner, Rüdiger und Achim Hölter (Hg.): Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis, Stuttgart / Weimar 2013, S. 97 und Seeber, Ulrich: »Zur Rolle von Klischee und Stereotyp in der englischen Literaturkritik und Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts«, in: Blaicher: Erstarrtes Denken, S. 261. 667 Glück, Helmut (Hg.): Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart / Weimar 2005, S. 729. 668 Knoblock, Clemens: »Stereotyp«, in: Glück, Helmut (Hg.): Metzler Lexikon Sprache, S. 645. 669 Stüben: »Deutsche Polen-Bilder«, S. 49. 670 Hahn, Hans Henning: »Stereotypen in der Geschichte und Geschichte im Stereotyp«, in: ders. (Hg.): Historische Stereotypenforschung, S. 198.
Begrifflichkeiten
203
»die wertende Aussage gleichzeitig verallgemeinernd ist.«671 Vorurteile hingegen »sind stabile negative Einstellungen gegenüber Gruppen bzw. Personen, die dieser Gruppe angehören. Sie beruhen oftmals nicht auf eigenen Erfahrungen, sondern werden übernommen.«672 Während Stereotype nicht unbedingt negativ besetzt sein müssen und auf einer starken Reduzierung des Realitätsbewusstseins basieren, handelt es sich bei Vorurteilen um meist abwertende Urteile, die nicht auf Eigenerfahrung beruhen und daher vorab gefällt werden. Vorurteile beziehen sich nur auf Menschengruppen, orientieren sich an einem bestehenden Wertesystem und sind daher wandelbar. Sie sind eng mit einem positiven Selbstbild verbunden und ihr Wahrheitsgehalt bleibt strittig.673 Was den Wahrheitsgehalt von Stereotypen angeht, so kann ein Stereotyp auch dann verwendet werden, wenn der Sprecher selbst nicht von der Aussage überzeugt ist, diese aber in manipulativer Absicht einsetzen möchte. Dann gibt der Sprecher die Überzeugung nur vor.674 Fried betont, dass sich Stereotype »keinesfalls anhand der Fremderfahrung gegenseitigen Verstehens, sondern laut der Ordnung und Vorstellung eines wahren oder als wahr angenommenen politischen ›Diskurses‹ formten.«675 Während das Konzept der Stereotype bereits in der Antike verwendet wurde,676 geht der Begriff des Stereotyps zurück auf den amerikanischen Publizisten Walter Lippmann, der ihn erstmals in seinem 1922 erschienenen Buch677 im Sinne von »pictures in our head« verwendete.678 Besonders wirksam und verbreitet ist der nationale bzw. ethnische Stereotyp.679 Nationale Stereotype sind charakteristisch für eine Sichtweise, die bestimmte Themen und Fragestellungen einer zeitlichen oder räumlichen Verfremdung unterzieht.680 Zugespitzt formuliert verweisen »nationale Stereotype auf das (rudimentäre) Wissen, das die Leser über ein Volk haben.«681 Über die Funktion eines verallgemeinernden, emotional aufgeladenen Werturteils hinaus kann ein nationales Stereotyp 671 Hahn, Hans Henning und Eva Hahn: »Nationale Stereotypen. Plädoyer für eine historische Stereotypenforschung«, in: Hahn, Hans Henning (Hg.): Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen, [= Mitteleuropa–Osteuropa. Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas; 5], Frankfurt am Main 2002, S. 20f. 672 Bergmann, Werner: »Was sind Vorurteile?« [= Informationen zur Politischen Bildung; 271], Bonn 2005, S. 4. 673 Bergmann: »Was sind Vorurteile?«, S. 4f. 674 Hahn und Hahn: »Nationale Stereotypen«, S. 20f. 675 Fried: »Imagologie als Teildisziplin der Vergleichenden Literaturwissenschaft«, S. 66. 676 Stanzel: Europäer, S. 19. 677 Lippmann, Walter: Public Opinion, New York 1922. 678 Hahn: »Stereotypen in der Geschichte und Geschichte im Stereotyp«, S. 190. 679 Hahn und Hahn: »Nationale Stereotypen«, S. 20f. 680 Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 198. 681 Florack: Bekannte Fremde, S. 39.
204
Theoretische Grundlagen
»oft auch die Wahrnehmung von Sozialordnungen und deren potenzieller oder tatsächlicher Veränderung, die Einstellung zu Modernisierungsprozessen, zum Stellenwert von Religion in der Gesellschaft und schließlich zu grundsätzlichen moralischen Werthaltungen [beinhalten].«
Viele nationale Stereotype des 19. und 20. Jahrhunderts beziehen sich auf das Thema Modernisierung. In den Beschreibungen von Städten wie Paris oder London werden u. a. Stereotype eingesetzt, die einerseits den Verfall der Sittlichkeit monieren, andererseits aber wirtschaftlichen und technischen Fortschritt loben.682 Was Informationsgehalt und Realitätsbezug des Stereotyps anbelangt, so stellt es »eine Art Wegweiser […] zu dem Benutzer des Stereotyps, zu dessen aktueller Befindlichkeit, und wozu er eigentlich das Stereotyp braucht« dar. Gesellschaften setzen es dann ein, wenn sie beabsichtigen, Gemeinsamkeiten zu schaffen. Die Wir-Gruppe wird durch »einen gewissen Stereotypen-Konsens« gestärkt. Ein Stereotyp hat eine »gleichzeitige Integrations- und Abgrenzungs- oder gar Ausschließungsfunktion« inne. Nach innen wird integriert, während nach außen abgegrenzt wird. Diese Doppelfunktion findet sich in beiden Varianten des Stereotyps: dem Auto- und Heterostereotyp.683 Man verwendet den Begriff des Autostereotyps, wenn die Vorstellungen einen selbst oder die Eigengruppe betreffen, und den des Heterostereotyps, wenn eine Fremdgruppe gemeint ist.684 Zusammengefasst sind Stereotype »Wege und Ausdruck der Identitätssuche und -formulierung«, »Instrumente praktischen Handelns«, haben »eine Funktion beim Brückenschlagen« und sie sind ein »Element der ›schönen‹ Künste«.685 Nicht zu vergessen ist dabei, dass Stereotype nur in ihrem Kontext untersucht werden können, da sie »durch die besondere Verwendung eines Wortes in einem besonderen Kontext« entstehen.686
4.1.2 Verwendung von Stereotypen Bei der Verbreitung von Wissen und Nachrichten spielten das Druckereiwesen, das Aufkommen einer Massenpresse und die unter anderem damit verbundene Alphabetisierung im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle. Auch der ansteigende Gebrauch nationaler Stereotype sieht Hahn darin begründet. Zudem nennt er die internationalen Beziehungen als wichtigen Faktor für das vermehrte Auftreten 682 Hahn und Hahn: »Nationale Stereotypen«, S. 54f. 683 Hahn und Hahn: »Nationale Stereotypen«, S. 27ff. 684 Garleff, Michael: »Stereotypen in der deutschbaltischen Literatur«, in: Hahn (Hg.): Historische Stereotypenforschung, S. 175. 685 Hahn: Stereotyp, Identität und Geschichte, S. 12. 686 Hahn und Hahn: »Nationale Stereotypen«, S. 23.
Begrifflichkeiten
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nationaler Stereotype, da sich die Völker so im permanenten Wettstreit mit anderen befanden. Die Idee der Nationalstaaten ist ebenfalls in jenem Zeitraum zu verorten. Loyalitätsempfinden und kollektives Bewusstsein verstärkten den Entstehungs- und Entwicklungsprozess nationaler Auto- und Heterostereotype,687 die in einer sich bedingenden wechselseitigen Beziehung stehen. Die Definition des Eigenen wird dabei über das Fremdbild erlangt, welches zum »unverzichtbaren Medium der Abgrenzung vom Anderen« wird.688 Schwarz ist der Überzeugung, dass »die Literatur zu den wichtigsten Kommunikations- und Persuasionsmitteln gehört, durch die nationalstereotypisiertes Denken gebildet oder gesteuert wird.« Aufgrund fehlender anderer Quellen werde der Nationalcharakter aus der Literatur abgeleitet, so Schwarz, um dann anschließend über die Literatur wieder weitergegeben zu werden. Daher komme der Literatur in der Erzeugung und Verbreitung nationaler Stereotype eine ganz besondere Rolle zu.689 Die Bedeutung von Reiseberichten dabei formuliert Nünning wie folgt: »Ebenso wie Literatur sind auch Reiseberichte an der Ausformung und Reflexion von kollektiven Identitäten und von verbreiteten Vorstellungen vom Reisen, von anderen Ländern und Völkern sowie von Selbst- und Fremdbildern (individueller wie kollektiver Art) in nicht unwesentlichem Maße beteiligt.«690 Daher haben sich Reiseerfahrungen und Entdeckungsreisen »im 18., 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als besonders geeignet erwiesen […], um Dokumente zur Vorurteils- und Stereotypenforschung zu sammeln.«691 Pümpel-Mader stellt fest, dass entgegen der Annahme, Erzählungen dienten nicht der Vertextung von Stereotypen, diese durchaus in schriftlichen Texten auftauchten. Daher fänden sich stereotype Ausdrucksformen als Textteile in einzelnen Textsorten wieder. Als besonders »stereotyp-affirmativ« bezeichnet sie Reisebeschreibungen.692 Derselben Ansicht ist Meid, der darauf hinweist, dass Stereotype besonders geeignet sind, Wahrnehmungs- und Beschreibungsmuster zu schaffen, die insbesondere in Reisebeschreibungen auftreten.693 Begründet wird dies folgendermaßen: »Jede Form des Grenzganges fordert Stereotype gleichsam heraus oder birgt solche bereits in sich.« Sobald ein Individuum eine Grenze überschreitet, ist es mit dem Anderen konfrontiert. Diese Konfrontation 687 Hahn: »Stereotypen in der Geschichte und Geschichte im Stereotyp«, S. 197f. 688 Aschmann, Birgit und Michael Salewski (Hg.): Das Bild »des Anderen«. Politische Wahrnehmung im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2000, Vorwort. 689 Schwarz, Egon: »Die sechste Schwierigkeit beim Schreiben der Wahrheit. Zum Gruppendenken in Leben und Literatur«, in: Paulsen, Wolfgang (Hg.): Die USA und Deutschland. Wechselseitige Spiegelungen in der Literatur der Gegenwart, Bern 1976, S. 14ff. 690 Nünning: »Zur Präfiguration / Prämediation«, S. 14. 691 Beller: Eingebildete Nationalcharaktere, S. 9. 692 Pümpel-Mader, Maria: Personenstereotype. Eine linguistische Untersuchung zu Form und Funktion von Stereotypen, Heidelberg 2010, S. 330 und 405. 693 Meid: Griechenland-Imaginationen, S. 11f.
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Theoretische Grundlagen
setzt identifikatorische Prozesse in Gang. »Je weiter ich mich von dem mir Bekannten entferne, desto wichtiger wird für mich eben diese Definition des Eigenen und damit einhergehend auch des Fremden.«694 Diese räumliche Distanz und den Grad der Fremdheit bezeichnet Stanzel bei der Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdbild als Parameter der Stereotypie.695 Die dadurch entstandenen nationalen Charakteristiken werden nicht nur in der Reiseliteratur, sondern in literarischen Texten allgemein als positiv oder negativ bewertete Eigenschaften dargestellt, die einer Nation zugeschrieben werden.696
4.1.3 Abgrenzung von Stereotyp und Image Der Forschungszweig der komparatistischen Imagologie steht in engem Zusammenhang mit der Stereotypenforschung. Beim Rückgriff auf Bilder vom anderen Land (Images) spielen Stereotype eine zentrale Rolle. Boerner bezweifelte grundsätzlich, dass eine klare Trennung zwischen Klischees, Stereotypen, Vorurteilen und Darstellungen anderer Länder möglich ist, von denen seiner Auffassung nach verschiedene nebeneinander existieren können.697 In einem seiner zahlreichen Beiträge zur komparatistischen Imagologie schreibt Dyserinck ebenfalls, dass es sich bei literarischen Bildern vom anderen Land um Vorstellungen bzw. Stereotypen handele.698 Jedoch ist nicht jedes Bild ein Stereotyp. Der Untersuchungsbereich der »Disziplin vom Bild des anderen Landes« – wie sie Corbineau-Hoffmann die Imagologie in ihrer Einführung in die Komparatistik nennt699 – geht daher über die Stereotypenforschung hinaus. Erst wenn imagotype Bilder von Völkern und Nationen sich den Veränderungen der Wirklichkeit nicht anpassen werden sie zu Stereotypen. Imagotype »stehen in der Spannung zwischen Verzeichnung und symbolischer Verdichtung der Realität; die Übergänge zu Stereotypen sind fließend.« Zudem müssen literarische Bilder von Völkern oder Nationen nicht gleich bleiben, da sie einem Wandel unterliegen können. Stereotype sind währenddessen dadurch gekennzeichnet, dass sie suggerieren, die Wesenseigenschaften von Völkern seien unveränderbar,700 auch 694 695 696 697
Eickelkamp: Reise – Grenze – Erinnerung, S. 230. Stanzel: Europäer, S. 33. Beller: »Das Bild des Anderen«, S. 21. Boerner, Peter: »Das Bild vom anderen Land als Gegenstand literarischer Forschung«, in: Sprache im technischen Zeitalter 56 (1975), S. 317f. 698 Dyserinck, Hugo: »Komparatistische Imagologie. Zur politischen Tragweite einer europäischen Wissenschaft von der Literatur«, in: ders. und Karl Ulrich Syndram (Hg.): Europa und das nationale Selbstverständnis. Imagologische Probleme in Literatur, Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, Bonn 1988, S. 13. 699 Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 204. 700 Stüben: »Deutsche Polen-Bilder«, S. 48ff.
Imagologie
207
wenn sie austauschbar sind.701 Aufgrund dieser definitorischen Unterscheidung wird sich in der Imagologie gegen die Verwendung des Begriffs Stereotyp ausgesprochen, da es sich bei nationalen Bildern eben nicht um beständige und unwandelbare Phänomene handelt. Fischer ist der Ansicht, dass der Begriff innerhalb der Imagologie daher »unbrauchbar und irreführend« sei.702 Dennoch gilt die Analyse von Stereotypen als Aufgabe der Imagologie.703
4.2
Imagologie
Die Imagologie als hier verwendeter Forschungsansatz bedarf zuerst einmal einer einführenden Darstellung und Erläuterung. Dabei soll neben der Entwicklung dieses Fachbereichs auf seine Forschungsinhalte und Funktionen eingegangen werden. Ergänzend dazu wird ein Blick auf die Stereotypenforschung geworfen, die in engem Zusammenhang mit der Imagologie steht. Anschließend wird der Vergleich sowohl in der Imagologie als auch in Reiseberichten erörtert, um dann abschließend auf die Techniken des Vergleichs einzugehen, die die Grundlage der Analyse bilden. Daneben werden kurz Stereotypenindikatoren skizziert, die in Ergänzung zu den Techniken des Vergleichs für die Untersuchung herangezogen werden. Kennzeichnendes Merkmal ist bei allem die zueinander in Abhängigkeit stehenden Fremd- und Selbstbilder.
4.2.1 Grundlagen Die Vergleichende Literaturwissenschaft/Komparatistik beschäftigt sich mit Fremdheit. Dabei wird das Fremde704 nicht ausgegrenzt, sondern steht im Zentrum der komparatistischen Fragestellungen. Die Komparatistik beschränkt sich nicht nur auf den innerliterarischen Bereich, vielmehr untersucht sie auch die 701 Hahn und Hahn: »Nationale Stereotypen«, S. 33. 702 Fischer, Manfred: »Komparatistische Imagologie. Für eine interdisziplinäre Erforschung national-imagotyper Systeme«, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie 10/1 (1979), S. 36. 703 Grabovszki, Ernst: Vergleichende Literaturwissenschaft für Einsteiger, Wien / Köln / Weimar 2011, S. 119. 704 Wierlacher definiert das »Fremde« »grundsätzlich als das aufgefasste Andere, als Interpretament der Andersheit und Differenz, also als Relationsbegriff.« Siehe Wierlacher, Alois: »Konturen und Aufgabenfelder kulturwissenschaftlicher Xenologie«, in: ders. (Hg.): Kulturthema Kommunikation: Konzepte – Inhalte – Funktionen. Festschrift und Leistungsbild des Instituts für Internationale Kommunikation und Auswärtige Kulturarbeit (IIK Bayreuth) aus Anlass seines zehnjährigen Bestehens 1990–2000, Möhnesee 2000, S. 270. In der Imagologie wird grundsätzlich nicht zwischen »fremd« und »anders« unterschieden. Die Darstellung des Fremden geschieht über das Bild des Anderen.
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Theoretische Grundlagen
Relationen zwischen der Literatur und anderen Bereichen des Wissens. Eigentlicher Gegenstand der Komparatistik ist damit nicht nur die Fremdheit selbst, sondern auch jener »mit Fremdheit durchsetzte kulturelle Raum, der von literarischen Texten aufgerufen, ja sogar erst geschaffen wird.«705 Bei der Imagologie, die in der Vergleichenden Literaturwissenschaft angesiedelt ist, geht es im weitesten Sinne um die Beziehung zwischen Text und Kultur und im Konkreten – wie es der Name vermuten lässt – um Bilder, d. h. Vorstellungen und Meinungen, die sich in literarischen Texten manifestieren.706 Diese Bilder handeln in der Regel von einem Kollektiv, wie etwa einer Nation.707 Daher spricht man dort von komparatistischer Imagologie, »wo die Fremdheit Züge einer nationalen Imago, eines Bildes vom anderen Land (und von dessen Bewohnern) annimmt.«708 In Metzlers Lexikon für Literatur- und Kulturtheorie wird die komparatistische Imagologie als »eine literaturwissenschaftliche Forschungsrichtung innerhalb der vergleichenden Literaturwissenschaft [bezeichnet], die nationenbezogene Fremd- und Selbstbilder innerhalb der Literatur selbst sowie in allen Bereichen der Literaturwissenschaft und -kritik zum Gegenstand hat.«709
In einem interdisziplinären Umfeld beschäftigt sich die Imagologie mithilfe anderer Forschungsbereiche wie der Soziologie, Literaturwissenschaft, Ethnologie, Geschichte, Politologie, Kulturwissenschaft, Ethnopsychologie, Ethnolinguistik, Ökonomie etc.710 zusammengefasst mit der »Genese, Entwicklung und Wirkung« nationenbezogener Fremd- und Selbstbilder.711
705 Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 195. 706 Ich verwende in der vorliegenden Arbeit die Begriffe Imagologie und image-Forschung gleichbedeutend. Eine bibliografische Datenbank zu Veröffentlichungen zum Thema Images ist über die Seite der Universität Amsterdam zugänglich (http://www.imagologica.eu/ bibliography). Zuletzt aufgerufen am 19. 04. 2015. 707 Grabovszki: Vergleichende Literaturwissenschaft für Einsteiger, S. 117. Hier sollte angemerkt werden, dass »der Begriff der Images oder Bilder […] im Vergleich zur historischen Stereotypenforschung einer Erweiterung des Objektbereichs in dem Sinne [dient], dass über imagotypische Aussagen im Rahmen eines sprachlichgedanklichen Diskurses hinaus originelle Einzel- oder Kollektivsichtweisen eines Landes Berücksichtigung finden.« Siehe Schwarze, Michael: Lemma »Imagologie, komparatistische«, in: Ansgar Nünning (Hg.). Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart 1998, S. 274. 708 Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 195. 709 Schwarze: Lemma »Imagologie, komparatistische«, S. 99–101. 710 Kuran-Burçog˘lu: Die Wandlungen des Türkenbildes in Europa, Einleitung, S. 12. 711 Schwarze: Lemma »Imagologie, komparatistische«, S. 274.
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4.2.2 Entwicklungsgeschichte Die komparatistische Imagologie als Teilgebiet der Komparatistik ist mit der Entstehung von Nationalstaaten eng verbunden. Erst durch das Bewusstsein über die Eigenart von Nationen kann ein Bild vom anderen Land entstehen. Obwohl der Gegenstand der Imagologie schon lange vorhanden ist, ist die Disziplin noch recht jung. Sie entstand erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als es um die materielle wie auch geistige Wiederherstellung Europas ging.712 Die Vorläufer der komparatistischen Imagologie bzw. komparatistischen Image-Forschung gehen zurück auf das ausgehende 19. Jahrhundert und erstrecken sich bis in die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Bis dahin konzentrierte sich diese Fachrichtung auf »völkerpsychologische« Fragen, gingen ihre Vertreter doch davon aus, anhand dieser als »nationaltypische« Literatur eingestuften Werke das Vorhandensein bestimmter »Nationalcharaktere« herausarbeiten zu können.713 Fischer beschreibt den Gegenstand der frühen komparatistischen Imagologie als »nationen- bzw. völkerbezogene Images, die sich erklären lassen als solche Aussagen, die auf Nationen, Völker und ihre kulturellen und geistigen Leistungen gemünzt sind und diese in ihrer Gesamtheit mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Aussagen typisieren wollen.«714
Bereits um die Jahrhundertwende hatten sich Vertreter des französischen Zweigs der Vergleichenden Literaturwissenschaft, der Littérature comparée, schon dafür ausgesprochen, die »wechselseitige Beurteilung der Nationen und Völker zur Hauptaufgabe der Komparatistik zu machen«.715 Fischer stellt fest, dass diese Vertreter spezifische »Nationalcharaktere« ablehnten und stattdessen versuch712 Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 204. 713 Schwarze: Lemma »Imagologie, komparatistische«, S. 275. 714 Fischer: Nationale Images als Gegenstand, S. 20. Kritik äußert Fischer an der Tatsache, dass die Frühgeschichte der komparatistischen Imagologie mithilfe der Bilder von anderen Ländern eine rein deskriptive Untersuchung nationenbezogener Fakten praktizierte, dass die Images kaum als Funktionen gesamtgesellschaftlicher historischer Verhältnisse gesehen und untersucht wurden und den nationenbezogenen Images repräsentative Aussagekraft zugewiesen wurde (S. 186f). Er kritisiert diese positivistische Herangehensweise als »völkerpsychologische Typisierung« und bezeichnet es als Manko der frühen Image-Forschung, dass »sie sich in der Regel nicht als eine Sondergattung zur weiteren Erhellung im Aufgabenbereich der internationalen Literatur- und Geistesbeziehungsforschung verstand, sondern stattdessen die Images aus ihren literarischen und inter-nationalen literatur- und geistesgeschichtlichen Kontexten herausschnitt und damit eine Materialsammlung zu Zwecken völkerpsychologischer Auswertung stellte« (S. 34). 715 Dyserinck, Hugo: Komparatistik. Eine Einführung, [= Aachener Beiträge zur Komparatistik; 1], Bonn 1991, S. 126. Die Littérature comparée strebte »eine Verbesserung nicht allein der Literatur- und Geistesbeziehungen zwischen den Nationen, sondern auch eine Förderung der friedlichen und kooperativen Koexistenz der Völker und Nationen Europas überhaupt« an. Siehe Fischer: Nationale Images als Gegenstand, S. 186.
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ten, anhand der Geschichte der Bilder vom anderen Land zu zeigen, dass diese einem historischen Wandel unterworfen seien.716 Eine Wende in der Entwicklungsgeschichte der Imagologie vollzog sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als sich die Komparatistik von der Wirkungsforschung distanzierte und an einer internationalen Rezeptionsforschung orientierte. Carré,717 Vertreter der französischen Littérature comparée, bemühte sich, auf die Problematik der Bilder vom anderen Land aufmerksam zu machen und »von der Einflußforschung weg zu einer Rezeptionsforschung im weitesten Sinne« zu gelangen.718 Carré war bestrebt, Rückschlüsse aus den Images über die Psychologie der dargestellten Nationen zu erlangen.719 Er sah in der Imagologie nicht nur die Möglichkeit, Texte besser verständlich zu machen, sondern auch die in Texten enthaltenen Fremdbilder, die durch Verzerrung entstanden waren, zu erkennen und wieder abzubauen.720 Schon 1951 hatten in Frankreich Carré und sein Schüler Guyard die Studien über »l’étranger tel qu’on le voit«721 in das Programm der Vergleichenden Literaturwissenschaften aufgenommen.722 Guyard sah es als Aufgabe dieser Fachrichtung »die verschiedenen Bilder einer einzelnen Nationalliteratur, so wie Angehörige anderer Nationalliteraturen sie sehen« zu untersuchen723 und bezeichnete die Imagologie als einen neuen Zweig 716 Fischer: Nationale Images als Gegenstand, S. 34f. 717 Carrés Rolle wird in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Konzeptionell als Beginn der komparatistischen Imagologie bezeichnet Corbineau-Hoffmann sein Buch Les écrivains français et le mirage allemand, das 1947 erschienen ist und »scheinbar eine weitere Studie zur Einflussforschung darstellte,« aber ihrer Ansicht nach darüber hinausging. (CorbineauHoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 204.) Dyserinck kritisiert hingegen, dass es sich bei diesem Buch nicht um ein typisches Beispiel der französischen image-Forschung handele, da es mit politischer Absicht über die deutsch-französischen Verhältnisse verfasst wurde. (Dyserinck: Komparatistik. Eine Einführung, S. 126f.) Beller betont ebenfalls, dass Carré in diesem Werk sein Vorhaben, alle möglichen Bilder von der jeweils anderen Nation zu untersuchen, nicht habe umsetzen können. (Beller: »Das Bild des Anderen«, S. 23.) Auch Fischer betont, dass Carré fälschlicherweise als der Begründer der Imagologie bezeichnet werde. (Fischer: Nationale Images als Gegenstand, S. 19.) Fest steht jedoch, dass Carré großen Einfluss auf die Entwicklung der komparatistischen Imagologie hatte. 718 Dyserinck: Komparatistik. Eine Einführung, S. 126. Laut Dyserinck führte die Untersuchung nach Einflüssen und Quellen unweigerlich dahin, dass »keine Einflussforschung ohne das damit verbundene Pendant der Rezeptionsforschung durchführbar war und jede Frage nach Wirkung und Erfolg von Literatur schließlich zur Frage nach der Verhaltensweise des potenziellen Rezipienten gegenüber dem ›Sender‹ führte«. Ebd. 719 Fischer: Nationale Images als Gegenstand, S. 34f. 720 Grabovszki: Vergleichende Literaturwissenschaft für Einsteiger, S. 126. 721 Guyard prägte den Ausdruck in seinem Werk La littérature comparée, Paris 1951. 722 Beller: »Das Bild des Anderen«, S. 23. Corbineau-Hoffmann führt an, dass durch Guyards Werk La littérature comparée »zum erstenmal die Imagologie integraler Bestandteil der Komparatistik« wurde. Siehe Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 204. Auch Boerner sieht es als Verdienst Guyards an, dass die Debatte »über das Bild vom anderen Land« angestoßen wurde. Siehe Boerner: »Das Bild vom anderen Land«, S. 313. 723 Boerner: »Das Bild vom anderen Land«, S. 313.
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in der Komparatistik. »Das Bild vom anderen Land und/oder dessen Bewohnern« sollte die »dringende Erneuerung der Vergleichenden Literaturwissenschaft« ansteuern, so formulierte es Carré im Vorwort des Buches seines Schülers.724 Aufgrund der mangelnden theoretischen Reflexion und der fehlenden Frage nach dem »Wie und Warum« fand die Integration imagologischer Studien in die Komparatistik dennoch erst Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts statt.725 Lediglich Dyserinck stellt in dieser Zeit in seinem oft genannten Artikel von 1966726 die Frage nach der Eigenständigkeit der Komparatistik727 und nennt drei Aspekte, die für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit den Bildern vom anderen Land sprechen: »1. ihr Vorhandensein in gewissen literarischen Werken; 2. die Rolle, die sie bei der Verbreitung von Übersetzungen oder auch Originalwerken außerhalb deren jeweiligen nationalliterarischen Entstehungsbereichs spielen; 3. ihre vorwiegend störende Anwesenheit in der Literaturwissenschaft und -kritik selbst.«728
Während der erstgenannte Punkt auf die Wirkung der Literatur als Imageträger durchaus auch im nichtliterarischen Bereich verweist, beziehen sich die beiden anderen Punkte auf »die literatursoziologische und ideologische Relevanz« der Bilder vom anderen Land in internationalen Kontexten.729 Dyserinck verwies auf die Bedeutung der Untersuchung nationaler Images und betonte, so fasst es Corbineau-Hoffmann zusammen, dass »in nicht wenigen literarischen Texten solche imagotypen Strukturen aufzufinden sind; auch sei die Verbreitung von Literatur außerhalb ihres Entstehungslandes von nationalen Vorstellungen und Vorurteilen geprägt; und nicht zuletzt gelte es auch zu un-
724 Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 204. Große Kritik erhielt die damalige französische Entwicklung allerdings von dem amerikanischen Komparatisten Wellek [Wellek, René: »The Concept of Comparative Literature«, in: Yearbook of Comparative and General Literature 2 (1953), S. 3f], der starke Bedenken hinsichtlich der Rolle der Komparatistik äußerte, die nämlich seiner Ansicht nach mit Guyards und Carrés Vorschlag zur neuen Forschungsrichtung zu einer Art Hilfswissenschaft degenerieren könne. Zudem gehörte die Erforschung nationaler Images seiner Meinung nach gar nicht in den Bereich der Literaturwissenschaft. Die Gefahr einer Spaltung des Faches in eine amerikanische und eine französische Richtung, die aus dieser Debatte hätte resultieren können, verwirklichte sich nicht. Das Problem blieb ungelöst. Während man auf der einen Seite auf die Erforschung der Bilder vom anderen Land verzichtete, trieb man auf der anderen Seite die Forschung weiter voran. Siehe Dyserinck, Hugo: »Zum Problem der ›images‹ und ›mirages‹ und ihrer Untersuchung im Rahmen der Vergleichenden Literaturwissenschaft«, in: arcadia 1 (1966), S. 108f. Siehe auch ders.: Komparatistik. Eine Einführung, S. 127. 725 Fischer: Nationale Images als Gegenstand, S. 25. 726 Dyserinck: »Zum Problem der ›images‹ und ›mirages‹«, S. 107–120. 727 Boerner: »Das Bild vom anderen Land«, S. 314. 728 Dyserinck: »Zum Problem der ›images‹ und ›mirages‹«, S. 119. 729 Fischer: Nationale Images als Gegenstand, S. 25.
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tersuchen, ob nicht die Literaturwissenschaft selbst zur Verbreitung nationaler imagines beitrage.«730
Dyserinck sieht es als Aufgabe der komparatistischen Imagologie, den ihr vorgehaltenen Vorwurf der Stoffgeschichte, das heißt eine reine Ansammlung von Materialen zu sein, zu entkräften. Zudem plädiert er dafür, die komparatistische Imagologie von einem »supranationalen Standpunkt« aus zu betreiben. Dafür müssten die Bilder »in ihrer multinationalen Funktion und ihrem spezifisch multinationalen Kontext gesehen werden.«731 Das bedeutet, dass die Bilder nicht nur in ihrem eigenen Kontext, sondern auch in dem der darstellenden Literatur und Kultur analysiert werden müssen. Während die frühe komparatistische Imagologie von der Existenz von Nationalcharakteren ausging, befasste sie sich in den 1980er Jahren mit der Funktionsweise von »Gedankensystemen und Strukturen.« Fischer spricht von einem Wandel in der Forschungsintention der komparatistischen Imagologie: Erstens ging es nicht mehr um die Beschäftigung mit »nationalen Entitäten«. Zweitens war auch das »Festhalten an der ›substantiellen Einheit einer Literatur‹ als Vergleichselement, das ein wirklich imagologisches Arbeiten verhinderte und stattdessen zu völkerpsychologischen Rückschlüssen verleitete, also mehr zu einer Genese weiterer nationenbezogener Images beitrug als zu ihrer Problematisierung bzw. Vermeidung«,
längst aufgehoben.732 Was bereits wiederholt beanstandet worden war, änderte sich schließlich mit dem cultural turn, den Fried in seinem 2011 erschienenen Beitrag als »vielleicht erfolgreichste Wende« in der Geschichte der Imagologie bezeichnet und der seiner Meinung nach als »›Perspektivenwechsel‹ angesehen werden« könne. Einerseits erkannte diese Wende die Hauptthesen der Interkulturalität als eine Methode an, die auch in der Imagologie anwendbar war. Andererseits bewahrte sie die literaturgeschichtlichen Fragestellungen unter der Prämisse bei, dass eine Wechselbeziehung zwischen Literatur und Kontext akzeptiert wurde. Der Wechsel von der Erforschung von Nationalcharakteren zu der Erforschung der komplexen Wechselbeziehung zwischen nationalen Auto- und Heteroimages, ihrer Genese, ihrem historischen Wandel und dessen Bedingungen markieren zugleich einen methodischen Umbruch vom Essentialismus zum Konstruktivismus: Nicht das bloße Sein nationaler Eigenheiten steht damit im Mittelpunkt des Interesses, sondern die
730 Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 206; Dyserinck: »Zum Problem der ›images‹ und ›mirages‹«, S. 107–120. 731 Dyserinck, Hugo: »Komparatistische Imagologie jenseits von ›Werkimmanenz‹ und ›Werktranszendenz‹«, in: Synthesis IX (1982), S. 33. 732 Fischer: Nationale Images als Gegenstand, S. 16ff.
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Prozesse der Wahrnehmung und Repräsentation, d. h. der Konstruktion nationaler Images vor dem Hintergrund vorhandener Voreinstellungen.733
Im Zentrum der Imagologie steht also das Image (Bild) [im Unterschied zum ›mirage‹ (Trugbild)],734 wobei es sich nicht wirklich um ein Bild, sondern eher um eine literarisch dargestellte Vorstellung von einem anderen Land, einer Kultur oder Gesellschaft handelt.735 Das grundlegende Merkmal eines Bildes vom anderen Land ist, daß es reflektiert, wie ein Volk oder wie repräsentative Teile dieses Volkes von andren Völkern, insbesondere deren prominenten Vertretern gesehen werden. Da sich dieses ›Sehen‹ notwendigerweise aus vielen Einzelbeobachtungen, Meinungen und subjektiven Bewertungen zusammensetzt, ist jedes Bild vom anderen Land letzten Endes ein verwickeltes Konglomerat […].736
Oder wie Corbineau-Hoffmann es nennt: »Bei imagotypen Aussagen kann es sich um nationale Klischees handeln oder um komplexe Gefüge von Fremdbildern.«737
4.2.3 Forschungsschwerpunkte und Aufgabenbereiche Ein Prinzip der Imagologie ist demnach die Untersuchung des Blickes von außen auf ein Land, eine Gruppe oder ein Kollektiv. Es handelt sich somit um den fremden Blick, den eigenen Blick des Beschreibenden.738 Die »Analyse des Phänomens grenzüberschreitender Fremderfahrung« ist somit Gegenstand der Imagologie. Inhaltlich befasst sie sich damit, »was im jeweils anderen Land als fremd erfahren, akzeptiert, abgelehnt oder auch nur einfach ›rezipiert‹ wird.«739 Eine weitere Aufgabe der Imagologie ist die Analyse von Stereotypen, die bei der Beschreibung fremder Länder und deren Bewohner in Erscheinung treten.740 733 Stockhorst, Stefanie: »Was leistet ein cultural turn in der komparatistischen Imagologie?«, in: arcadia 40 (2005) 1, S. 357. 734 In der Vergleichenden Literaturwissenschaft wird die bewusste oder unbewusste verzerrte Darstellung von Objekten, um diese jeweils in einem bestimmten Licht erscheinen zu lassen, mirages (Zerrbilder) genannt. Siehe Grabovszki: Vergleichende Literaturwissenschaft für Einsteiger, S. 120. 735 Fischer, Manfred: »Literarische Imagologie am Scheideweg. Die Erforschung des ›Bildes vom anderen Land‹ in der Literatur-Komparatistik«, in: Blaicher: Erstarrtes Denken, S. 57; Blioumi, Aglaia: »Imagologische Images und imagotype Systeme. Kritische Anmerkungen«, in: arcadia 37, 2002/1, S. 345. 736 Boerner: »Das Bild vom anderen Land«, S. 315. 737 Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 196. 738 Grabovszki: Vergleichende Literaturwissenschaft für Einsteiger, S. 117. 739 Dyserinck: »Komparatistische Imagologie jenseits von ›Werkimmanenz‹«, S. 31. 740 Grabovszki: Vergleichende Literaturwissenschaft für Einsteiger, S. 119.
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Wie bei Stereotypen unterscheidet man auch hier zwischen Selbst- und Fremdbild (Auto- und Heteroimage). Sie bezeichnen die Bilder des Eigenen in Abgrenzung zum Anderen und umgekehrt. Sie bedingen sich gegenseitig,741 da »Fremdheit nur auf der Basis des jeweils Eigenen erfassbar« ist.742 Die Bildung von Hetero- und Autoimages gehört zu dem Prozess, der es dem Verwender ermöglicht zwischen Eigengruppe und Fremdgruppe zu differenzieren.743 Laut Syndram kommt der Imagologie die Rolle zu, imagotype Bilder zu konstruieren, wobei die in der Literatur dargestellten Bilder weder direkte Widerspiegelungen landes- und kulturspezifischer Eigenarten noch bereits bestehende nationale Stereotype sind.744 Die Literatur habe, als Raum des Imaginären, selbst teil an der Bildung von nationalen Images, so Corbineau-Hoffmann. Ihre Funktion im jeweiligen Text gelte es zu eruieren. Nach dem gängigen Fiktionsverständnis, seien die literarischen Images weder wahr noch falsch. Die komparatistische Imagologie, literarisch verstanden, bewegt sich in einem Zwischenbereich, in dem die Unterschiede von realen und imaginierten Ländern, Völkern und Gegenden verschwimmen, so daß manche imagologisch entworfene, »fremde« Landschaft ihren Ort nicht in der konkreten Geographie, sondern in einem mentalen Bild hat, das der Leser entwirft.745
Die komparatistische Imagologie zielt demnach nicht darauf ab, »die ›Falschheit‹ oder ›Richtigkeit‹ eines Images zu eruieren, sondern das »Wie und Warum« seines Funktionierens im Rahmen literarischer und transliterarischer Kommunikationsprozesse und Bedingungen.«746 Corbineau-Hoffmann wirft schließlich die Frage auf, auf welche Weise Images im Text gebildet werden und welche Funktion sie dort erfüllen. Sie formuliert in Anlehnung an Pageaux’s Studie747 folgende Arbeitshypothese: »Jedes ›Bild‹ (›image‹) geht aus einer Bewußtwerdung hervor, die sich in einem Ich in Beziehung zum ›anderen‹, in einem ›Hier‹ in bezug zu einem ›Anderswo‹ vollzieht.« Weiterhin in Anlehnung an Pageaux geht Corbineau-Hoffmann auf die Beziehung zwischen dem jeweiligen Bild und der von ihm bezeichneten Realität ein und stellt fest, dass das Bild kein Abbild der tatsächlichen Gegebenheiten sei,
741 Fischer: Nationale Images als Gegenstand, S. 20. 742 Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 197. 743 Albrecht, Corinna und Alois Wierlacher: »Benötigt wird profundes Fremdheitswissen«, in: Wierlacher: Kulturthema Kommunikation, S. 296. 744 Syndram, Karl Ulrich: »The Aesthetics of Alterity. Literature and the Imagological Approach«, in: Yearbook of European Studies 4 (1991), S. 179. 745 Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 209. 746 Fischer: »Literarische Imagologie am Scheideweg«, S. 56. 747 Pageaux, Daniel-Henri: »De l’imagerie culturelle à l’imaginaire«, in: Brunel, Pierre und Yves Chevrel (Hg.): Précis de littérature comparée, Paris 1989, S. 133–161.
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sondern das einer Repräsentation durch das Medium der Sprache. Demnach ist das Bild linguistisch beschreibbar. »Wie das Sprachzeichen, ist auch die Sprache der Bilder Repräsentation insofern, als hier etwas für etwas anderes steht. […] Das Bild ist unmittelbare und zutreffende Darstellung einer Idee, einer Vorstellung oder eines Wertesystems, die allesamt ihrer imagologischen Repräsentation vorausgehen.«
Demnach sind Images hinsichtlich ihrer zugrundeliegenden Vorstellung richtig, während sie im Hinblick auf ihren Gegenstand gar nicht dem Kriterium wahr/ falsch unterliegen.748 Die Bilder können der Wahrheit entsprechen, müssen aber nicht,749 da sie auf Ansichten, Einschätzungen und Urteilen basieren und daher im Grunde »nur im Modus der Vorstellung existieren«750. Auch Gráfik betont, dass die in der Literatur dargestellten Bilder weder »Ausdruck der Eigenart eines Landes noch direkte Übernahme existierender Images oder Stereotypen« sind. Die in einem Text überlieferten Bilder sind an den jeweiligen Text gebunden und erfüllen somit eine bestimmte Funktion. Auch wenn die Bilder »kein unmittelbarer Ausdruck oder Widerspiegelung eines Nationalcharakters« sind, ist die Literatur an der Bildung von nationalen Images beteiligt. Ihre Funktion und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit sind Aufgabe der Interpretation.751 Da die Bilder demnach nicht ein Abbild der Realität formen, sondern diese nur repräsentieren und sprachlich darstellen, können sie in Bezug auf ihren Gegenstand nicht als richtig oder falsch beurteilt werden. Die Aussagen, die mithilfe der literarischen Bilder getroffen werden, liefern demnach keine Informationen über das Ausgesagte, da Bilder Konzepte abbilden und nicht Objekte.752 Für die Darstellung gilt daher kein Realitätsanspruch, auch wenn die Aussage von Images, sowohl innerhalb der Literatur als auch in ihrem Einwirken auf den außerliterarischen Bereich, konkret fassbar ist.753 Demnach erledigt sich die Frage nach der Richtigkeit imagotyper Bilder und diese können nach ihrer spezifisch literarischen und ästhetischen Funktion neu betrachtet werden. Die Chance und Aufgabe der Imagologie, so Corbineau-Hoffmann, sei es »die fruchtbare Verbindung von Literatur und deren sozialen Kontexten« herzustellen.754 748 Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 209f. 749 Syndram: »The Aesthetics of Alterity«, S. 177. 750 Stanzel, Franz K.: »Zur literarischen Imagologie«, in: ders.: Europäischer Völkerspiegel, S. 11f. 751 Gráfik, Róbert: Kulturelle Imagologie: hermeneutische und ästhetische Anmerkungen, http:// www.inst.at/trans/17Nr/3-10/3-10_gafrik17.htm [13. 05. 2014]. 752 Fischer: Nationale Images als Gegenstand, S. 28; Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 211. 753 Fischer: Nationale Images als Gegenstand, S. 28. 754 Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 211.
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Dass der Literatur eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von Bildern anderer Länder zukommt, ist unbestritten. In diesen Wirkungsbereich fallen ebenso Reiseberichte und persönliche Begegnungen. Fischer geht davon aus, dass »wegen ihrer großen Verbreitung und ständigen Wiederholung in Vergangenheit und Gegenwart die in der Literatur ver- und erarbeiteten nationalen Vorstellungsbilder den gegenseitigen Vorstellungen der Völker eine gewisse scheinbare Selbständigkeit, Konstanz und Universalität vermittelt haben, also Kennzeichen, die sogenannten Stereotypen eigen sind.«755
Fischer fordert, dass die Bilder vom anderen Land nicht ihrer selbst willen untersucht werden [sollten], sondern ihre Behandlung sollte einen Sinn gewinnen, der wesentliche Aufschlüsse hinsichtlich komplexerer Problembereiche verspricht. Letztlich […] sind die Gegenstände der komparatistischen Imagologie nicht die isolierten Elemente und Strukturen imagotypen Charakters, sondern diese als kontextual gebundene Aussagen.756
Daneben sieht er es als Aufgabe der komparatistischen Imagologie, die literarisch dargestellten Bilder anderer Länder auch in ihrer Wirkung und Funktion zu erklären. Er ruft dazu auf, nicht nur die Erscheinungsformen zu präsentieren, sondern »in einer Darstellung der historischen Zusammenhänge um die Entstehung und Wirkung der nationenbezogenen Vorstellungsbilder – und zwar all ihrer Abstufungen – ihre komplexe Genesis aufzudecken.«757 Neben der Erforschung von der Entstehung nationaler Bilder gilt demnach als weiterer wichtiger Aufgabenbereich die Untersuchung von der Wirkung der Bilder.758 Die vorliegende Analyse reiht sich in die gegenwärtige Forschung dahingehend ein, als dass die in dem London-Reisebericht transportierten Bilder der fremden und eigenen Kultur innerhalb ihres Kontextes untersucht werden. Des Weiteren geht es, wie in der Imagologie angestrebt, auch nicht um das Kriterium wahr/falsch, sondern um die stereotypen Vorstellungen, die der Autor innerhalb seines Berichts den Engländern und Osmanen zuschreibt und dem Leser übermittelt. Die Darstellung der zueinander im Kontrast stehenden zwei Kulturen gilt als Schwerpunkt der modernen Imagologie, bei der sowohl das Fremd- als auch das Selbstbild ermittelt werden soll.
755 756 757 758
Fischer: »Komparatistische Imagologie«, S. 36. Fischer: Nationale Images als Gegenstand, S. 23. Fischer: Nationale Images als Gegenstand, S. 24ff. Fischer: »Komparatistische Imagologie«, S. 33.
Der Vergleich als Grundlage der Analyse
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Der Vergleich als Grundlage der Analyse
In seinem Beitrag über die methodologischen Auseinandersetzungen zur Stellung des Vergleichs in der Komparatistik definiert Zelle es allgemein als »die Leistung des Vergleichs« sowohl die »Besonderheit bzw. Eigenart der jeweiligen Komparata, d. h. das, was sie trennt, als auch ihre Allgemeinheit, d. h. das, was sie verbindet« herauszuarbeiten.759 »Durch das Nebeneinanderstellen zweier Gegenstände oder Sachverhalte«, so heißt es per definitionem, würden deren Ähnlichkeiten und Unterschiede ermittelt. Der Begriff des Vergleichs (synonym verwendet mit dem Begriff Vergleichung) wird auf das lateinische Wort comparatio zurückgeführt, das namengebend für den Fachbereich ist.760 Der Vergleich selbst ist in der Komparatistik insofern umstritten, als dass »unklar ist, ob der Vergleich die oder eine Tätigkeit des Komparatisten ist.« Fest steht jedoch, dass er wesentlicher Bestandteil der Forschung in diesem Bereich ist und als Verfahren der literaturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung dient.761 Die komparatistische Imagologie als eine literaturwissenschaftliche Forschungsrichtung innerhalb der Vergleichenden Literaturwissenschaft trägt in ihrer Bezeichnung ebenfalls bereits diese Grundlage ihres Forschungsgegenstandes in sich.
4.3.1 Der Vergleich in der Reiseliteratur Auch in der Reiseliteratur ist der Vergleich eine gängige Stilfigur, bei der zwischen der eigenen und fremden Welt eine Verbindung geschaffen wird, um bisher Unbekanntes in den Sinnhorizont des Lesers zu integrieren.762 Der Reiseschreiber kann sich dabei des schlichten Vergleichs bedienen, um die Fülle an Informationen und Eindrücken zu bewältigen. »Der Vergleich, mit Hilfe dessen Menschen zu besserer Verständigung Fremdes und Vertrautes miteinander in Beziehung setzten«763, zeigt erstens, was eigentlich betrachtet und weitergegeben wird und zweitens, wie dies geschieht. »Die Verwertung von Vergleichen in 759 Zelle, Carsten: »Komparatistik und comparatio – der Vergleich in der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Skizze einer Bestandsaufnahme«, in: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (2004/2005), S. 29. 760 Zelle, Carsten: »Vergleich«, in: Zymner, Rüdiger und Achim Hölter (Hg.): Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis, Stuttgart / Weimar 2013, S. 129. 761 Zelle: »Vergleich«, S. 132. 762 Hupfeld, Tanja: Zur Wahrnehmung und Darstellung des Fremden in ausgewählten französischen Reiseberichten des 16. bis 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007, S. 178. 763 Esch, Arnold: »Anschauung und Begriff. Die Bewältigung fremder Wirklichkeit durch den Vergleich in Reiseberichten des späten Mittelalters«, in: Historische Zeitschrift 253 (1991), S. 283.
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Reiseberichten [ist] eine Versuchsanordnung, die zu erkennen gibt, worüber sich Menschen verständigen wollten, und worauf sie sich verständigen konnten.«764 Der erläuternde und veranschaulichende Vergleich ist daher ein »gängige[s] Mittel, um Unvertrautes und Fremdes durch den Rückgriff auf geteiltes Wissen kommunizierbar zu machen.«765 Der Betrachter setzt etwas mit Vertrautem gleich, um eine Entsprechung der fremden Wirklichkeit zu der eigenen zu finden.766 Durch Vergleiche mit Vertrautem wird dem Leser einer Reisebeschreibung die fremde Wirklichkeit näher gebracht. Um die fremde Kultur beschreiben zu können, wird dabei auf Merkmale der eigenen Kultur zurückgegriffen und diese werden mit ihr in Beziehung gesetzt. Das Beschriebene wird folglich in einen Zusammenhang mit dem Eigenen gesetzt und in die Kategorien der Herkunftskultur integriert.767 Konkret geäußerte Vergleiche mit der eigenen Kultur »legen die individuelle wie die kulturelle Prägung offen und geben damit die Relativität der Erkenntnis für den Rezipienten zu erkennen.«768 Generell kann den Reisenden zur Grundlage der Gegenüberstellung einfach alles dienen.769 Der Vergleich liefert laut Esch vor allem zwei Informationen: erstens nennt er das tertium comparationis, das heißt, den eigentlichen Bezugspunkt des Vergleichs, da die beiden Vergleichselemente nicht aufeinander, sondern auf einen dritten Aspekt bezogen werden. Dies kann explizit oder implizit geschehen, wie etwa bei der Größe als Vergleichsparameter zwischen zwei Städten oder dem bloßen Eindruck, bei dem erwähnt wird, dass etwas dieselbe Wirkung wie etwas anderes hat. Zweitens gibt der Vergleich darüber Auskunft, wie der Verfasser etwas aufgefasst und an den Leser weitergegeben hat. Dabei dient etwas Vertrautes aus der eigenen Wirklichkeit als Bezugspunkt. Dies gibt Aufschluss darüber, auf welchem gemeinsamen Verständnis sich der Autor mit seiner Leserschaft zu befinden glaubt. Die Vergleichsmaßstäbe sind daher auf den Adressaten ausgerichtet, für den der Bericht verfasst wird. Neben der Feststellung von Größen dient der Vergleich also dazu, Äquivalenzen zu finden. Dabei geht es um »sinngemäße Übertragungen, um Entsprechungen, in denen Analogien sozialer, politischer, urbanistischer, ästhetischer Natur sich auf höchst subjektive Weise verbinden und in ihrem Zusammenspiel auch das Atmosphärische kennzeichnen.«
Weil der Bericht an die subjektive Auffassung des Betrachters gebunden ist, wird er auf unterschiedliche Wirklichkeiten bezogen. Dies sagt mehr über die »Ur764 765 766 767 768 769
Esch: »Anschauung und Begriff«, S. 287. Fischer: Reiseziel England, S. 290. Esch: »Anschauung und Begriff«, S, 287. Hupfeld: Zur Wahrnehmung und Darstellung des Fremden, S. 104. Godel: »Das Fremde ist das Eigene ist das Fremde«, S. 120. Dumont: »Western exotism«, S. 135.
Der Vergleich als Grundlage der Analyse
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teilsweise einer Zeit« als über die »faktische Situation« des bereisten Landes aus.770 Im Unterschied zum schlichten Vergleich, der auf Entsprechungen und Äquivalenzen beruht, läuft der unterscheidende Vergleich nicht auf eine Gleichsetzung hinaus. Durch das Mittel des Kontrastes werden Merkmale der Fremdkultur denen der eigenen Kultur gegenübergestellt. Es geht um die Darlegung von Differenzen, um auf die Andersartigkeit der fremden bzw. eigenen Kultur hinzuweisen. Da der Vergleich nicht nur ein gängiges Stilmittel für Darstellungen innerhalb der Reiseliteratur, sondern auch ausschlaggebendes Kriterium der komparatistischen Imagologie ist, bietet es sich in diesem Fall an, ihn als Grundlage der Untersuchung zu nehmen.
4.3.2 Die drei Techniken des Vergleichs Innerhalb der Imagologie werden verschiedene Verfahren herangezogen, um zu einer Darstellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der beschreibenden und beschriebenen Kultur zu gelangen. Beller möchte in seinem Beitrag über Techniken des Vergleichs in der Imagologie nachvollziehen, »wie die Autoren zu ihren Vergleichen kommen und diese dann literarisch gestalten.«771 Dafür arbeitet er drei Techniken des Vergleichs heraus, die Autoren verwenden, um das Fremde auf inhaltlicher Ebene zu beschreiben. Eine der Vorgehensweisen ist die der Analogie. Bei dieser Art des Vergleichs kann es sich sowohl um die Gegenüberstellung zweier fremder Länder oder um die Gegenüberstellung eines fremden Landes mit dem Herkunftsland handeln. Der Schwerpunkt liegt auf der Beschreibung von Dingen im fremden Land, die denen im eigenen Land gleichen. Dabei gibt der Autor keine Wertung ab, sondern stellt ohne zu unterscheiden Details aus dem bereisten Land und über dessen Bewohner dar, die vergleichbaren Fakten aus seinem oder einem anderen Land entsprechen. Die positiven Eigenschaften eines Landes entsprechen somit denen eines anderen und mit den negativen Eigenschaften verhält es sich genauso.772 Als zweite Technik nennt Beller die antithetische Argumentation, bei der die Urteile über die fremde Nation zum Ausdruck kommen. Hierbei stehen zwei Länder im Gegensatz zueinander. Geprägt ist diese Technik durch Vorurteile, Stereotype, Topoi und Klischees.773 Beller nennt hier die von Koselleck einge770 Esch: »Anschauung und Begriff«, S. 287ff. 771 Beller, Manfred: »Die Technik des Vergleichs in der Imagologie«, in: Dukic´ (Hg.): Imagologie heute, S. 39. 772 Beller: »Die Technik des Vergleichs in der Imagologie«, S. 41. 773 Zur Unterscheidung schlägt Beller für den Bereich der Literaturwissenschaft vor, »den umfassenden Begriff ›Vorurteil‹ für moralische Urteile und kulturelle Einstellungen, den
220
Theoretische Grundlagen
führte Bezeichnung der »asymmetrischen Grundbegriffe«, die für »nur einseitig verwendbare, auf ungleiche Weise konträre Zuordnungen« bei Selbst- bzw. Fremdbezeichnungen steht und bei der »eine abschätzige Bedeutung in die Bezeichnung mit ein[fließt].«774 Koselleck erklärt dies damit, dass Selbstbestimmungen durch allgemeine Benennungen Gegenbegriffe auslösen. Bei den daraus entstehenden Wortpaaren handelt es sich um »binäre Begriffe mit universalem Anspruch«. Sie sind asymmetrisch, schließen eine wechselseitige Anerkennung aus und sind auf ungleiche Weise konträr. Als Beispiel von zwei sich in diesem Sinne einander gegenüberstehenden Aspekten könnten etwa Hellenen und Barbaren oder Christen und Heiden genannt werden.775 Bei der antithetischen Argumentation wird durch eine einseitige Sichtweise das Gegenüber meist mit negativen und abschätzigen Eigenschaften bewertet und die Darstellungen werden durch eine »einseitige Parteilichkeit« dominiert.776 Die dritte Technik bezeichnet Beller als reziproke Argumentation. Dabei geht es um »die Wechselwirkung und mögliche Bedeutungsumkehr der verwendeten Images.« Kritisiert ein Autor die schlechten Eigenschaften einer Nation, so verweist er indirekt darauf, dass es diese Makel in seiner eigenen Kultur nicht gibt. Genauso verhält es sich umgekehrt: wenn eine Nation für ihre positiven Eigenschaften gelobt wird, kann davon ausgegangen werden, dass der Autor dabei Kritik an seiner eigenen übt. Nach Beller ist es daher zu hinterfragen, ob Aussagen über andere Länder nicht implizit eine Selbstcharakteristik des Autors darstellen.777 Neben dem Inhalt spielt aber auch die sprachliche Verwirklichung der Images eine Rolle. Die ›images‹ bilden einen Ausschnitt oder kleinen Teil der wahrgenommenen Wirklichkeit ab. Indem der Teil, die jeweils für auffällig und spezifisch gehaltene Eigenschaft, zur generalisierenden Bezeichnung des Ganzen gemacht wird, erweist er sich als eine Abstraktion, ein Konstrukt und Produkt unserer Einbildungskraft. […] Nationale Charakteristiken, Topoi und Klischees sind sprachliche Formeln zur Kommunikation und Verständigung der Völker übereinander. In der Literatur bringen wir damit unsere Vorstellungen vom Anderen zum Ausdruck. Es sind Fiktionen, die wir in Wörter und Sätze fassen, um unser Gruppenverhalten zu artikulieren und miteinander darüber reden und schreiben zu können.778
774 775 776 777 778
Begriff ›Stereotyp‹ als feststehenden Ausdruck dieser kulturellen Attitüden, und den Begriff ›Klischee‹ für die sprachlichen Elemente von Redewendungen und stilbildenden Formeln zu gebrauchen.« Beller: »Fremdbilder, Selbstbilder«, S. 97. Koselleck, Reinhart »Zur historischen Semantik asymmetrischer Grundbegriffe«, in: Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 211. Koselleck: »Zur historischen Semantik asymmetrischer Grundbegriffe«, S. 212f. Beller: »Die Technik des Vergleichs in der Imagologie«, S. 42. Beller: »Die Technik des Vergleichs in der Imagologie«, S. 42f. Beller: »Das Bild des Anderen«, S. 46.
Ausgangslage
4.4
221
Stereotypenindikatoren
Die von Beller noch recht vage formulierte Definition wird durch die von Pümpel-Mader entwickelte Typologie von Mustern konkreter auf die sprachliche Ebene bezogen. In ihrer linguistischen Untersuchung zu Form und Funktion von Personenstereotypen hat sie zahlreiche sprachliche Muster stereotyper Ausdrucksformen herausgearbeitet. Diese sogenannten Stereotypenindikatoren dienen hier neben den genannten drei Techniken des Vergleichs als Mittel zur Analyse, um die von unserem Autor dargestellten Bilder der Engländer auf sprachlicher Ebene zu ermitteln. Relevant für die vorliegende Untersuchung ist dabei die Kategorie der Pronomina. Diese sind »in Bezug auf Stereotype vor allem unter dem Gesichtspunkt der Hervorbringung und Konsolidierung von sozialen Kategorien bedeutsam.«779 Unterschieden wird die Art der Einteilung je nachdem, an wen die Aussage gerichtet ist. Bei der »wir-Kategorisierung« dient das Pronomen dazu, auf die Gruppe, der der Aussagende angehört, und auf eine ihr übergeordnete Kategorie zu verweisen. Zu den dabei verwendeten Pronomina zählen ›wir‹ und ›uns‹. Die »Partner- bzw. Adressatenkategorisierung« bedient sich der Pronomina ›ihr‹ und ›sie‹ und verweist auf die Gruppe der Angesprochenen. Die »Fremdkategorisierung« bezieht sich auf Dritte oder Abwesende, über die gesprochen wird. Sie bedient sich des Demonstrativpronomens ›diese‹ oder des Personalpronomens ›sie‹. Die von Pümpel-Mader ausgearbeiteten Stereotypenindikatoren beziehen sich auf den deutschen Sprachgebrauch, wo viel mit bestimmten Artikeln gearbeitet wird. Das Osmanische kommt wie das Türkeitürkische ohne diese Artikel aus. Die Übertragbarkeit der für das Deutsche ausgelegten Indikatoren ist dennoch auf das Osmanisch-Türkische möglich, wie anhand der Analyse sichtbar wird, weil der Hinweis auf Stereotype durch andere Parameter wie zum Beispiel Demonstrativa stattfindet. Unter Zuhilfenahme der genannten Techniken und Indikatoren wird sowohl auf inhaltlicher als auch auf sprachlicher Ebene dem vom Autor im SL gelieferten Bild der Engländer und Englands, gleichzeitig aber auch der Osmanen nachgegangen.
4.5
Ausgangslage
Die Frage, in welchem Verhältnis das vom Reisenden vermittelte Bild fremder Länder zur Realität steht, wie sie Stanzel in seinem Essay aufwirft, steht hier nicht zur Debatte. Interessant ist jedoch der Hinweis, dass die Wahrnehmung durch 779 Pümpel-Mader: Personenstereotype, S. 94.
222
Theoretische Grundlagen
Vorwissen und einer damit einhergehenden Erwartungshaltung beeinträchtigt ist. Wenn unser Autor sich also im Vorhinein seiner Reise über die Sitten und Sehenswürdigkeiten der Briten informiert hat, ist bei ihm »der Mechanismus der selektiven Wahrnehmung in Gang gesetzt« worden.780 Einen Hinweis darauf finden wir im Text. »Wenn ich keinen Umgang mit einigen von den klugen Köpfen, die sich mit London auskannten, gehabt und Wissen über die Stadt erworben hätte, hätte ich …« [10] 781. Sein Wissen wird nicht nur von Kennern Londons herrühren, sondern auch der Tatsache geschuldet sein, dass die Zeitung, für die er schrieb und in der der SL abgedruckt wurde, generell aus dem Ausland und auch über die Geschehnisse in London im Vorfeld der Ausstellung berichtete. Man kann auch davon ausgehen, dass er Reiseliteratur studiert hatte, bevor er sich nach Großbritannien aufmachte. Des Weiteren gehörten europäische Reisende bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts zum Alltagsbild des Osmanischen Reiches.782 Zudem fand zu jener Zeit ein reger Austausch in verschiedenen Bereichen zwischen England und dem Osmanischen Reich statt, welcher das gegenseitige Bild stark mitprägte. Der Reisende ist demnach schon durch in seinem Land verbreitete Vorstellungen »belastet«, wenn er sich auf eine Reise begibt. »Wer ein anderes Land und seine Menschen beobachtet, beurteilt und beschreibt, der betrachtet sie nicht nur aus seiner persönlichen Perspektive, sondern er vergleicht die anderen auch mit dem Land seiner Herkunft und den Eigenschaften seiner eigenen Landsleute. Schon die Wahrnehmung und mehr noch die Beschreibung fremder Länder oder nationaler Kollektive ist durch angelerntes Wissen, vorherige Informationen und Ideen konditioniert.«783
Was Beller hier anspricht, ist die kulturelle Präfiguration,784 die jedem Reisenden anhaftet und die seine Wahrnehmung lenkt. Der Reisende tritt dem von ihm bereisten Land und dessen Bewohnern mit einer gewissen Erwartungshaltung gegenüber, die durch geläufige Merkmale bestimmt ist. Man kann daher davon ausgehen, dass sich der Verfasser des SL aufgrund seines eigenen kulturellen Erfahrungshintergrunds und seiner im Vorfeld erworbenen Kenntnisse bei der 780 Stanzel: Europäer, S. 93f. 781 Auch hier geben die Zahlen in eckigen Klammern die Seitenangaben des Originaltextes wieder. 782 Heppner: »Das ›westliche‹ Türkenbild«, S. 98. 783 Beller: »Die Technik des Vergleichs in der Imagologie«, S. 39. 784 Laut Nünning ist die Präfiguration des Reisens und der Reiseliteratur durch den eigenkulturellen Erfahrungshintergrund des Verfassers, aber auch durch die Gattungen und Medien des kulturellen Gedächtnisses vorgeprägt. Demnach spielen neben den eigenen Erlebnissen nicht nur persönliche, soziale, politische, kulturelle etc. Aspekte bei der Wahrnehmung des Fremden eine Rolle, sondern auch Kenntnisse und Vorstellungen, die der Reisende an das bereiste Land heranträgt. Siehe Nünning: »Zur Präfiguration / Prämediation«, 14f.
Ausgangslage
223
Beschreibung der Engländer aus einem Fundus an traditionellen Zuschreibungen, »einer ethnographisch-literarischen Requisitenkammer für Nationalcharaktere«785 bedient und »auf ein Set von Stereotypen«786 zurückgreift. Auf Grundlage dieses durch die eigene Kultur bestimmten Vorwissens und dieser »Vorbelastung« finden die Vergleiche zwischen dem Eigenen und dem Fremden statt. Reiseberichte über fremde Länder und Völker dienen daher laut Beller dazu, das Repertoire an Bildern und Klischees anzureichern. Die Urteile über und die Bilder vom Anderen gewinnen, ungeachtet ihres Wahrheitsgehaltes, ihre Aussagekraft durch Vergleiche.787
785 Stanzel: »Das Nationalitätenschema in der Literatur und seine Entstehung zu Beginn der Neuzeit«, S. 86. 786 Hilmes: »Türkeiberichte in den großen Reisesammlungen«, in: Schmidt-Haberkamp (Hg.): Europa und die Türkei, S. 291. 787 Beller: »Die Technik des Vergleichs in der Imagologie«, S. 39.
5.
Heteroimage und Autoimage
Das Analysekapitel besteht aus vier Unterkapiteln. Zuerst wird das Heteroimage Englands und der Engländer anhand der Techniken des Vergleichs herausgearbeitet. Analog dazu folgt das Autoimage der Osmanen. Im Anschluss daran werden die Formen der Darstellung erörtert, um dann abschließend eine vergleichende Untersuchung des Heteroimages in den beiden Englandreiseberichten vorzunehmen.
5.1
Heteroimage: Das Bild Englands und der Engländer im Seya¯hatna¯me-i Londra ˙
In Anlehnung an Bellers Ausarbeitung zu den Techniken des Vergleichs in der Imagologie gibt es demnach drei verschiedene Methoden zur Darstellung des Fremden in der Literatur: die Analogie, die antithetische Argumentation und die reziproke Argumentation. Mithilfe dieser drei Strategien wird das vom Autor in der vorliegenden Reisebeschreibung vermittelte Heteroimage der Engländer und Englands herausgearbeitet. Der hier verwendete Begriff bezieht sich auf das durch einen Autor gelieferte Bild einer anderen Nation. Dabei spielt die Einstellung des Autors eine wichtige Rolle, weshalb die Bilder von Autoren verschiedener Herkunft variieren.788 Grundsätzlich sind mit dem Bild des Anderen Darstellungen fremder Länder, Völker und Kulturen in der Literatur gemeint. Dazu zählen Sehenswürdigkeiten, Landschaften, Orte und Städte, aber auch historische Ereignisse etc. Vor allem aber werden »die Menschen mit ihren guten und schlechten Eigenschaften« beschrieben.789 Der Schwerpunkt der vorliegenden Reisebeschreibung liegt analog dazu neben der Darstellung Englands auf der 788 Leerssen, Joep: Images – Information – National identity and national stereotype. National identity and national stereotype, online abrufbar unter: http://www.imagologica.eu/leerssen (20. 05. 2015). 789 Beller: »Das Bild des Anderen«, S. 21.
226
Heteroimage und Autoimage
Beschreibung seiner Bewohner, für die der Autor des SL verschiedene Bezeichnungen mit derselben Bedeutung verwendet, nämlich ˙Ingilterelüler (wörtlich: aus England stammend), ˙Ingilizler bzw. ˙Ingilizlüler (beides Engländer) oder ˙Ingiltere a¯ha¯lisi (die Bevölkerung790 Englands) bzw., wenn er sich bei seinen Ausführungen auf die Londoner beschränkt, Londralular (Londoner), aber vermehrt eher Londra a¯ha¯lisi (Bewohner Londons). Für England selbst verwendet er ausschließlich die Bezeichnungen ˙Ingiltere bzw. ˙Ingiltere devleti (der Staat England).
5.1.1 Analogie Bei der ersten Technik, der Analogie, geht es um die wertungslose Gegenüberstellung des fremden bzw. besuchten Landes – in diesem Fall Großbritannien und dessen Bewohner – auf der einen Seite und des Herkunftslandes des Autors – dem Osmanischen Reich und seinen Landsleuten – auf der anderen. Als der Autor die Londoner Weltausstellung besucht, beschreibt er neben den Kutschen, deren englische Ausführungen eine Neuheit für ihn darstellen, die Umgebung um das Veranstaltungsgelände. In der knapp formulierten Bemerkung »die Gegend ähnelt den Kag˘ıthane-Wiesen« [15] wird eine Analogie zu einer konkreten Örtlichkeit in der Heimat geschaffen. Der Vergleich mit einem im Bewusstsein des osmanischen Lesers existierenden Ort verhilft diesem zu einer konkreteren Vorstellung dessen, was der Verfasser zu beschreiben versucht. Dabei bleibt dies auch nur eine vergleichende Annäherung an das, was tatsächlich zu beschreiben ist, aber nicht beschrieben werden kann. Fremde Elemente werden zu Bestandteilen der eigenen Kultur in Bezug gesetzt und es wird versucht, sie in für den Leser verständliche Kategorien zu übersetzen. »Diese vergleichende Annäherung des fremdkulturellen an den eigenkulturellen Erfahrungshorizont zwecks Inkorporation einer zunächst unbekannten«791 in eine vertraute Wirklichkeit ist ein gängiges Stilmittel der Reiseliteratur. Beim Rückbezug auf Vertrautes, Eigenes und die eigene Kultur setzt der Autor Vergleichsparameter ein, die dem Leser bekannt sind. Der Autor des SL arbeitet als Vergleichsparameter mit vertrauten Distanzen (»das so weit entfernt lag wie Istanbul von Edirne« [79]), zieht bekannte Bauwerke heran (»anderthalb Mal so groß wie der Feuerturm« bzw. »zweimal so groß wie der Feuerturm von Istanbul« [85]) und setzt seine Beschreibungen mit geographischen Größen in Relation 790 Laut Steuerwald kann der Begriff ahali sowohl »Be- bzw. Einwohner, Bevölkerung« als auch »Volk und Öffentlichkeit« heißen. Siehe Steuerwald: »ahali«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 17. Zenker übersetzt ihn mit »Bewohner« bzw. »Bürger«. Siehe Zenker, »ehl«, Türkisch-Arabisch-Persisches Handwörterbuch, S. 137f. 791 Hupfeld: Zur Wahrnehmung und Darstellung des Fremden, S. 104f.
Heteroimage: Das Bild Englands und der Engländer im Seya¯hatna¯me-i Londra ˙
227
(»[die Strömungen] gleichen dem Bosporus« [6] 792). Der Autor gebraucht diese Vergleichsstrategie, um Bezugspunkte für den Leser zu setzten, die ihm das Beschriebene näher bringen. Der als Größenangabe dienende Vergleich wird so »zu einem bewußten Akt der Veranschaulichung«.793 Die Erkenntnisse werden für den Leser relativiert.794 In der Analogie geht es eben um ähnliche Strukturen oder Sachverhalte, die nur durch eine annähernde Beschreibung, aber keine identische Gleichsetzung zum Ausdruck gebracht werden können. Die erste Technik des Vergleichs beruht daher auf der Feststellung von zwei Komparata, die sich in einem oder mehreren Merkmalen ähnlich sind, sich in anderen dafür aber wiederum unterscheiden.795 Der Verfasser, von dem wir ausgehen, dass er selbst aus Istanbul kommt, beschreibt desweiteren, wie er kurz nach seiner Ankunft in London von einem mitreisenden Franzosen, der sich in der Stadt auskennt, in einem Gasthaus untergebracht wird, dessen »Aufnahme und Bewirtung« dem Autor zusagt. Er setzt sogleich zu einem Vergleich mit seiner Heimat an: »Ich sah, dass dies ein feiner und hübscher Ort war, an dem alles wie bei uns in den Nächten zum Fastenmonat Ramadan mit Öllämpchen geschmückt und mit Petroleumlampen erleuchtet war.« [9] Bellers Definition der Analogie entsprechend wird bei der Gegenüberstellung ein Detail aus dem bereisten Land dargestellt, das eine Entsprechung im eigenen Land aufweist. Die Dekoration und nächtliche Beleuchtung im Gasthaus setzt der Autor mit jener gleich, die er aus dem Osmanischen Reich zu Zeiten des Fastenmonats kennt. Die Formulierung mit der Konjunktion »wie bei uns« verdeutlicht den Vergleich konkret in seiner sprachlichen Ausführung. Es wird ein direkter Bezug zu der Gruppe der intendierten Leserschaft gesetzt, zu der sich der Autor selber hinzuzählt. Dieselbe Phrase wird noch an einer weiteren Stelle im späteren Textverlauf verwendet. »Wie bei uns die Zigeunergruppen Affen und Bären zum Tanzen bringen, führen die Engländer (I˙ngilizler) wilde Tiere, kleinwüchsige Menschen und desweiteren sonderbare Gegenstände vor […]« [26]. In diesem Fall überliefert der Autor der Leserschaft ebenfalls eine Gegebenheit Englands und ein Pendant aus der Heimat und vermittelt somit die Gleichheit der Verhältnisse in England und dem Osmanischen Reich. Der Autor verwendet zwar das Wort »sonderbar« (ʿacı¯b), gebraucht dies aber nicht in einer wertenden Funktion, was durch den vorangehenden Halbsatz deutlich wird. Er spricht von gemeinsamen Gegebenheiten, die sich nur durch das Vorgeführte unterscheiden. An diesem Beispiel lässt sich demnach der As792 Dieser Textauszug bezieht sich nicht auf England, soll hier aber als Beispiel für das Verfahren genannt werden. 793 Esch: »Anschauung und Begriff«, S. 292. 794 Godel: »Das Fremde ist das Eigene ist das Fremde«, S. 123. 795 Hoenen, Maarten J.F.M.: »Analogie«, in: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 498–514.
228
Heteroimage und Autoimage
pekt der Wertfreiheit aufzeigen, den Beller der Analogie zuschreibt. Ohne zu bewerten stellt der Autor Details aus dem bereisten Land dar, wie es hier und im folgenden Beispiel der Fall ist. »Sie haben auch sehr große Pfeile und Bögen, so wie wir sie kennen« [83], schreibt er nämlich an einer Stelle, an der der Autor auf die verschiedenen Spiele, die zu den Freizeitbeschäftigungen der Engländer zählen, eingeht. Hier verwendet er nicht die Phrase »wie bei uns«, sondern »so wie wir sie kennen« (bizim bildig˘imiz). Das nächste Textbeispiel handelt von einer Beobachtung, die der Verfasser bei einem Besuch in der Einrichtung für Stumme gemacht hat. Er berichtet von den Kindern: »Während sie eine Art Fangspiel spielten, wie ich es von den Kindern Istanbuls kenne, besichtigte ich bis zum Unterrichtsbeginn ihre Schlafsäle, Unterrichtsräume und andere Zimmer« [75]. Hier haben wir es erneut mit einem direkten Vergleich zu tun. Einem Sachverhalt aus dem beschriebenen Land wird ein ähnlicher Sachverhalt aus dem Heimatland gegenübergestellt. Im Unterschied zu den beiden vorangegangenen Beispielen fehlt hier die Phrase »wie bei uns« (bizim/bizde … misillü) bzw. »so wie wir sie kennen« (bizim bildig˘imiz). Der Vergleich wird durch eine Partizipialkonstruktion eingeleitet, die einem Relativsatz im Deutschen entspricht (I˙stanbul çocuklarıñda gördig˘üm…) 796 und beruht auf einer persönlichen Beobach˙ tung des Berichtenden. Die in England gemachte Erfahrung und die osmanische Entsprechung haben somit dieselbe Grundlage. Sie entstammen der eigenen Wahrnehmung des Autors, wie im Grunde alle seine Beobachtungen, nur dass er es hier explizit zum Ausdruck bringt. Bei der Beschreibung der Jahrmärkte stellt der Autor fest, dass »auf einem weiten Gelände Stände (ça¯dırlar) in Gruppen aufgestellt [sind], zwischen denen Straßen und Wege verlaufen, wie bei unseren Schulfesten (?) und wie bei den Fischtagen zum Osterfest der Christen« [26]. Der Aufbau und die Anordnung der Stände macht der Autor durch einen analogen Vergleich seinem Leser in der Heimat zugänglich. Er nennt konkrete Beispiele, um die von ihm beobachtete Situation seinem Publikum bildlich zu verdeutlichen. Einen weiteren Vergleich zieht er zwischen dem Boxkampf in England und dem Ringen im Osmanischen Reich. »Wer bei diesen Schlägereien über das bessere Können verfügt und die schnellere Hand hat, erhält wie der nationale Meisterringer (millet bas¸ pehliva¯nı) 797 eine besondere Auszeichnung« [30], erklärt er dem Leser an gegebener Stelle. Bei der hier dargestellten ersten Technik des Vergleichs geht es um das verbindende Element der Komparata, welche Merkmale der Fremdkultur in Zusammenhang mit dem Vertrauten bringt. Beller verweist darauf, dass beim
796 Wörtlich übersetzt müsste der Beispielsatz wie folgt lauten: »Während sie eine Art Fangspiel spielten, das ich von den Kindern Istanbuls kenne, besichtigte ich…« [75]. 797 Siehe FN 527.
Heteroimage: Das Bild Englands und der Engländer im Seya¯hatna¯me-i Londra ˙
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Vergleich in der Reiseliteratur die Darstellung von Ähnlichkeiten vorkommt, es aber vielmehr um die Feststellung von Unterschieden und Gegensätzen geht.798
5.1.2 Antithetische Argumentation Bei der zweiten Technik des Vergleichs geht es um Länder, die eben in diesem Gegensatz zueinander stehen. Die antithetische Argumentation arbeitet mit Urteilen, die aus einseitiger Sicht vornehmlich negativ besetzte Stereotype, Topoi, Klischees aufzeigen, bei denen es sich laut Beller um »die in Wörter und Sätze gefaßten Manifestationen der Bilder in unseren Köpfen, der ›mental images‹« handelt. Durch ihre literarische Gestaltung erlangten sie eine sprachliche Form, die einfach zu verstehen sei.799 An dieser Stelle verweist Beller auf Bausinger, der die Entstehung von Stereotypen auf die »Überverallgemeinerung tatsächlicher Merkmale« zurückführt, ihnen eine komplexe Eindrücke reduzierende Funktion zuschreibt und auf ihre realitätsstiftende Wirkung hinweist.800 Es ist eine Eigenheit der Reiseliteratur, ihre Rezipienten »über eine spezifische Mentalität aufzuklären.«801 Stereotype dienen dabei zur Informationsvermittlung, wollen sie doch berichten, »wie die Leute so sind«. Der Rückgriff auf verallgemeinernde nationale Charakteristika ist dabei eine gängige Methode. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass eine Nation bezüglich ihrer unterschiedlichen Eigenschaften auch unterschiedliche Bewertungen erhält. »Urteilendes Unterscheiden beruht darauf, dass man bewusst einen Standpunkt einnimmt.«802 Aus dieser Position heraus beschreibt und bewertet der Autor seine Beobachtungen und Erfahrungen und teilt diese seiner Leserschaft mit. Der Verfasser des vorliegenden Reiseberichts beurteilt vor allem das Gemüt der Engländer. In seinen Augen sind sie trübsinnige Gestalten, die außerstande sind, Freude zu empfinden, und außer ihrer Arbeit nichts im Sinn haben. In seiner Beschreibung heißt es über die Engländer, dass sie »sich nicht vergnügen und Leute von trübsinniger Natur sind« [42]. »Es ist bekannt«, setzt er an anderer Stelle voraus, »dass die Engländer stets hinter ihrer Arbeit her sind, nicht zu lachen und sich nicht zu amüsieren wissen, betrübt und nachdenklich sind« [82]. 798 Beller: »Die Technik des Vergleichs in der Imagologie«, S. 41. 799 Beller: »Die Technik des Vergleichs in der Imagologie«, S. 48. 800 Bausinger, Hermann: »Name und Stereotyp«, in: Gerndt, Helge (Hg.): Stereotypvorstellungen im Alltagsleben: Beiträge zum Themenkreis Fremdbilder, Selbstbilder, Identität, München 1988, S. 13. 801 Eschenbach, Jutta: Ola Nordmann im deutschen Blätterwald. Sprachliche Konstituierung nationaler Stereotype und ihre Verwendung in der deutschen Presse – am Beispiel der Kategorie Norweger, [= Göteborger Germanistische Forschungen; 39], Göteborg 2000, S. 231. 802 Godel: »Das Fremde ist das Eigene ist das Fremde«, S. 133.
230
Heteroimage und Autoimage
Bei dem hier angeführten Beispiel haben wir es mit einer Allaussage zu tun, bei der durch Adjektive diese vermeintlichen Merkmale der Engländer bestimmt werden. Auf diese Weise wird das angebrachte Stereotyp »maximal explizit und daher offensichtlich«.803 Durch die Wendung »es ist bekannt« (maʿlu¯m olub) 804 gelingt es dem Autor, sich von dem Ausgesagten zu distanzieren, da es sich um einen »Allgemeingültigkeit versichernden Zusatz«805 handelt. Die Formulierung dient dazu, Wissen als gegeben vorauszusetzen und suggeriert dem Leser, dass er es mit einer allgemein vertretenen Ansicht zu tun hat. Die Bekanntheit des Stereotyps wird somit vorausgesetzt. Dem Leser wird das Gefühl vermittelt, allgemeingültige Aussagen zu erhalten, die nicht der persönlichen Auffassung des Autors zugeschrieben werden. Durch den eingeleiteten Folgesatz wird zudem der Wahrheitsgehalt nicht hinterfragt und der Inhalt als gängige Aussage aufgefasst. Der Autor schreibt die gelieferte Information einer anderen Instanz zu und befreit sich so von der »Verantwortlichkeit für die Gültigkeit des Stereotyps«.806 Pümpel-Mader präzisiert die Wendung »es ist bekannt« auf sprachlicher Ebene. Durch diesen Ausdruck wird der stereotype Inhalt offensichtlich, der durch den vom Subjekt genannten Träger (in diesem Fall die Engländer) und die durch die prädikative Ergänzung genannten Merkmale (u. a. Fokussierung auf die Arbeit) deutlich wird. Neben dieser Zuschreibung von Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen wird aber »zusätzlich die Geltung der Zuschreibung (die propositionale Einstellung) thematisiert bzw. explizit gemacht.« Der Sprecher entzieht sich der Verantwortung für die Zuschreibung der stereotypen Eigenschaft und für den Wahrheitsgehalt der Aussage.807 Gleichzeitig generiert er dadurch die Glaubwürdigkeit für weitere Inhalte. Neben dem Stereotyp der Schwermut ist ein immer wiederkehrendes Topos die Strebsamkeit und der Eifer, mit dem die Engländer an ihre Arbeit gehen. Unser Autor legt seine Beobachtungen mal über die Engländer im Allgemeinen, mal über die Londoner im Besonderen dar. Ein Punkt, den er dabei erörtert, ist die Einstellung der Großstadtbewohner gegenüber ihrer Arbeit. »Da sonntags keine Geschäfte gemacht werden,« heißt es an einer Stelle in der Reisebeschreibung, »sitzen sie rat- und tatlos da, mit tiefstem Bedauern darüber, dass sie an diesem Tag keinen Handel treiben können« [11]. An anderer Stelle bringt er dieses Verhalten mit Besuchern Londons in Verbindung und setzt damit einen indirekten Bezug zu seiner eigenen Person: »Dadurch, dass die Londoner (a¯ha¯li803 Pümpel-Mader: Personenstereotype, S. 255. 804 Für Abweichungen dieser Wendung siehe im Analysekapitel Darstellungsmodi unter 5.3.3 Glaubwürdigkeit des Autors / Beglaubigungsstrategien Punkt c) Schreibstil und Darstellungsweise. 805 Eschenbach: Ola Nordmann im deutschen Blätterwald, S. 195. 806 Eschenbach: Ola Nordmann im deutschen Blätterwald, S. 191ff. 807 Pümpel-Mader: Personenstereotype, S. 284f.
Heteroimage: Das Bild Englands und der Engländer im Seya¯hatna¯me-i Londra ˙
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ye merku¯me) in ihrem Geschäftsleben so ehrgeizig sind, gibt es niemanden, der ˙ zu einem nach London Gereisten kommt und ein paar Worte mit ihm wechselt« [12]. Zusammengefasst bemerkt der Autor über die Einstellung der Engländer gegenüber ihrer Arbeit: »Kurz gesagt, es gibt nichts, was die Engländer (I˙ngilizler) nicht täten, um Geld zu verdienen« [27]. Hier haben wir es mit einer weiteren Charakterbeschreibung zu tun, die der Autor mit einer Selbstverständlichkeit vorlegt, die typisch für Stereotype ist. Dabei beschreibt er neben den Eigenarten der Engländer auch ihre Emotionen. Deutlich kommt die einseitige Perspektive des Autors zum Ausdruck. Da die Zuweisungen pejorativ besetzt sind, handelt es sich um eine antithetische Argumentation. Generalisierung und Wertung sind dabei kennzeichnend für diese Art der negativ geäußerten Haltung gegenüber anderen, aber genauso das Festhalten an einzelnen Charakteristika. Dyserinck erläutert, dass es bezeichnend für die Bilder sei, sich bezüglich konkreter Details nicht einzuschränken. »Es ist einfach die übliche Verfahrensweise, sich bei der Verwendung eines ›mirage‹ in großzügiger Weise über die eigentliche Realität hinwegzusetzen.«808 Die Übertreibung, mit der unser Verfasser bei der Schilderung der Briten vorgeht, ist zudem eins seiner weiteren stilistischen Mittel. Sie sind Teil seiner ironischen Erzählweise, die dazu dient, den Rezipienten zu unterhalten.809 Für die Londoner verwendet der Autor in beiden hier genannten Beispielen die Bezeichnung a¯ha¯li-ye merku¯m(e) (die besagte/genannte Bevölkerung) und ˙ bezieht sich auf einen vorangegangenen, von ihm benutzten Ausdruck, nämlich Londra a¯ha¯lisi (Londoner bzw. Londoner Bevölkerung). Die Bezeichnung a¯ha¯liye merku¯m(e) bzw. nur a¯ha¯li allein findet sich sehr häufig im SL, verwendet ihn ˙ der Verfasser doch nicht nur für die Bewohner Londons, sondern ebenfalls für die ¯ ha¯lisi heißt es dann an gegebener Stelle, Bewohner Englands im Allgemeinen. A wobei das Possessivsuffix am Ende des Wortes den Bezug zum vorangegangenen England setzt.810 Während England an sich mit positiven Eigenschaften versehen wird, ja sogar nach Aussagen des Autors »an der Spitze der Zivilisation (kema¯l-ı medenı¯yet) steht« [18], gelingt es seiner Bevölkerung laut Verfasser des SL dennoch nicht, daran Wohlgefallen zu finden. Bei der Beschreibung vom Greenwich-Park, den er mit seinen Schatten spendenden Bäumen und Bächen als schönen Ort zur Verbringung der Freizeit vorstellt, »wo sich die Seele erholen kann«, kommt unser Autor über die Engländer dennoch zu folgender Ansicht: »Obwohl das so ist, 808 Dyserinck: »Zum Problem der ›images‹ und ›mirages‹«, S. 113. 809 Zum Einsatz von Übertreibungen und satirischen Erzählelementen zur Unterhaltung der Leserschaft im SL siehe Wagner: »Satirische Erzählelemente«. 810 In der Übersetzung wird daher zum Teil je nach Bezug die Bezeichnung »Londoner« bzw. »Engländer« bevorzugt, auch wenn der Autor im Original die Bezeichnung »die besagte/ genannte Bevölkerung« verwendet.
232
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laufen die Engländer wieder hoffnungslos mit langen Gesichtern und ohne zu plaudern und grübelnd umher, als seien sie vom Schicksal geschlagen und gingen spazieren, um ihren Kummer zu vertreiben« [27]. Der Autor des SL denkt über die Situation der Bewohner Englands nach und kommt zu dem Schluss, dass sie sich mit nichts auf der Welt zu amüsieren wissen. Die aus dieser Schwermut der Engländer resultierenden Folgen beschreibt er wie folgt: »Und weil diese Melancholie immer mehr zu einer Niedergeschlagenheit wird, hört man täglich über hundertmal, dass sich wieder Leute erhängt, ins Meer geworfen, sich erwürgt oder von einem hohen Gebäude gestürzt haben.« [18] Er selbst findet es bedauerlich, dass die Engländer so enden müssen, »wo sie doch Literaten sind.« Hier erfährt der Leser von zwei den Engländern zugeschriebenen Eigenschaften, nämlich dass sie einerseits aufgrund ihrer Melancholie zu Depression und Selbstmord neigen und andererseits, dass sie Literaten sind. Beide Charakteristika bringt der Autor wieder mit einer Selbstverständlichkeit vor, so, als müsse der Leser auch über dieses Wissen verfügen. Er setzt insbesondere als bekannt und gegeben voraus, dass es sich bei den Engländern um Literaten handele, und bringt sowohl seine Verwunderung als auch sein Bedauern darüber zum Ausdruck, dass sie aufgrund ihrer Depressionen ihrem Leben ein Ende setzen. Neben diesen wird im Laufe der Erzählung allerdings noch eine weitere Eigenschaft der Engländer thematisiert: ihre Leidenschaft für bestimmte Themengebiete. So sind einige »der Musik, andere den Maschinen und Techniken der Produktion und wieder andere der Luftfahrt leidenschaftlich verfallen und sie phantasieren tagein tagaus davon.« [70] Ganz deutlich treten hier die »nationalen Denkschablonen«811 hervor, gelten die hier genannten drei Wesensarten der Engländer (Gelehrtheit, Schwermut, Hang zum Suizid) doch als bekannte Stereotype. In seiner Einleitung schreibt Gelfert, dass die Engländer einerseits »als sprichwörtliche Verkörperung des gesunden Menschenverstands [erschienen], andererseits galten sie als vom Spleen geplagte Exzentriker, die sich aus nichtigem Anlaß das Leben nahmen.«812 Der Autor des SL stellt fest, dass es »zu der Art der Menschen hier [gehört], dazu geneigt und gewillt zu sein, stets jeder Sache auf den Grund zu gehen« [36]. Bei allem, was sie tun, legen die Engländer einen übertriebenen Eifer an den Tag. Selbst beim Angeln fällt dem Autor des SL auf: »Und wenn es auch in Istanbul wahrlich ein Interesse am Angeln gibt, so ist dies [hier] im wahrsten Sinne ebenfalls zu einer Wissenschaft (fenn) geworden, zu der es die notwendigen Geräte und die [theoretischen] Grundlagen (usu¯l) gibt« [51]. ˙
811 Schwarz: »Die sechste Schwierigkeit beim Schreiben der Wahrheit«, S. 25. 812 Gelfert, Hans-Dieter: Typisch englisch. Wie die Briten wurden, was sie sind, München 1996, S. 7.
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An mehreren Textstellen weist unser Autor darauf hin, dass die Engländer depressiv und pessimistisch seien und an nichts Freude empfänden. Für die psychische Verfassung der Engländer macht er, genau wie es damals gemeinhin als Ursache galt,813 neben dem erhöhten Verzehr an Fleisch, das wechselhafte Wetter auf den Britischen Inseln verantwortlich. So schreibt er: »Da in England der Himmel stets bedeckt ist und man kein Sonnenlicht zu sehen bekommt, befällt Schwermut die Menschen und schließlich werden sie melancholisch« [18]. Selbst er werde jeden Tag von dieser Schwermut ergriffen, fährt er fort. An einer weiteren Textstelle heißt es im selben Stil: »Genauso wie Londons Wind und Wetter nichts Erfreuliches an sich haben, ist das Antlitz der Sonne, die die Erde mit Wärme und Licht versorgt, mit Staub bedeckt. Aus diesem Grund ist auch das Gemüt und Naturell der Bewohner verstimmt« [29]. Die pejorativ gezeigte Eigenart der Engländer führt unser Autor, wie aus den genannten Textstellen ersichtlich, demnach auf das dortige Klima zurück. Diese Schlussfolgerung von den Wetterbedingungen des Landes auf das Temperament seiner Bewohner entspricht der traditionellen Klimatheorie. Gemäß dieser Theorie wird das Wetter verantwortlich für manche Charaktereigenschaften der Bevölkerung gemacht, wobei den Bewohnern nördlichen Ländern der Topos anhaftet, eher zum Nachdenken zu neigen.814 Auch die Erklärung der Arbeitslust der Engländer konnte in diesem Sinne »in den allen Nordländern zugeschriebenen handwerklichen und mechanischen Fertigkeiten« gesehen werden.815 Unser Autor beschreibt und kritisiert an anderer Stelle das Überlegenheitsgefühl der Briten, da sie nichts achteten »außer ihren Staat und ihr Volk (devlet ve millet) und zwar so, als ob Menschen, die keine Engländer sind, keine von Allah gewollten Geschöpfe seien« [37]. Er moniert, dass er während seines Aufenthalts aus dem Mund der Engländer kein einziges Mal Lob für eine andere Kultur oder Region gehört habe. Auch dies passt in das gängige Engländer-Bild, denn »wie in keinem anderen Land Europas«, schreibt Gelfert, »hat der Besucher das Gefühl, daß Engländer sich gegenüber dem Rest der Welt als eine überlegene Kategorie von Menschen empfinden.«816 Der Engländer vermittelt »ausländischen Besuchern das Gefühl einer natürlichen Überlegenheit.«817 Unser Autor gliedert sich damit ein in die Reihe der Fremden, von denen die Überheblichkeit der Engländer getadelt wird. Er urteilt in verallgemeinernder Weise noch weiter über das Verhalten der Bewohner Englands. Für ihn zählt es zu einer Charakterschwäche, dass sie nicht in der Lage sind, sich bei bestimmten Dingen zurückzuhalten. Dazu zählt er auch ihr Essverhalten. »Da diese Engländer (bu ˙Ingilizlüler) in nichts 813 814 815 816 817
Gelfert: Typisch englisch, S. 73. Zur Klimatheorie siehe FN 226. Stanzel: Europäer. Ein imagologischer Essay, S. 64. Gelfert: Typisch englisch, S. 7. Gelfert: Typisch englisch, S. 70.
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Charakterstärke zeigen«, so berichtet er, »überschreiten sie auch was Essen und Trinken anbelangt das vernünftige Maß« [10]. Eine Seite weiter wiederholt er dieses Stereotyp und führt dazu weiter aus. »Wie Europa-Reisende wohl wissen, sind die Engländer (I˙ngilizler) für ihr vieles Essen und Trinken bekannt«, leitet er den Abschnitt ein und fährt fort, dass die Engländer an nichts anderes dächten als an Essen, das aus Kartoffeln und nicht durchgebratenem Fleisch bestünde, zu dem sie Bier oder Wein tränken. Aufgrund der ungesunden Ernährung seien die Engländer im Vergleich zu anderen Europäern dermaßen fettleibig, »dass der dicke Gemischtwarenhändler gegenüber dem Brunnen von Karaköy im Stadtteil Galata neben diesen geradezu lächerlich« [11] wirke. Aufgrund ihrer Leibesfülle kämen sie beim Essen an nichts heran, weshalb sie eine Mulde in den Tisch sägen müssten, damit ihre Bäuche hineinpassten. Andere wiederum, so behauptet unser Autor, seien dermaßen fettleibig, dass sie nicht in der Lage seien, zu laufen und gegen Geld dem Volk vorgeführt würden. Er verurteilt ihr maßloses Essen und Trinken und die daraus resultierende Fettleibigkeit. Aber auch diese Völlerei zählte zu den Untugenden der Engländer, die ihnen im 19. Jahrhundert vorgeworfen wurden. Gelfert vermutet dahinter einen gewissen Neid, galten die Engländer doch über Jahrhunderte aufgrund ihrer geringen Bevölkerungsdichte und ausgedehnter Viehzucht als »das bestgenährte Volk Europas«.818 Das zweite hier zum Essverhalten der Engländer genannte Beispiel leitet der Verfasser des SL mit der Formulierung »wie Europa-Reisende wohl wissen« ein. Damit suggeriert er dem Leser, dass eine feststehende Tatsache als Information folgt, deren Wissen aber einer bestimmten Personengruppe vorenthalten ist. Diese einleitende Phrase als auch die Verwendung des Verbs »bekannt sein für« ermöglichen es dem Autor, sich der »Verantwortung für die Zuschreibung der stereotypen Eigenschaft« und für den Wahrheitsgehalt des Ausgesagten819 zu entziehen. Zudem haben wir es hier ebenfalls mit einem eingeschobenen Vergleich zu tun. Der Autor beschreibt einen vermeintlich bekannten Gemischtwarenhändler mit konkreten Einzelheiten und steigert so die Anschaulichkeit für die Leserschaft. Seine detailgenauen Schilderungen können als stilistisches Mittel gesehen werden, die den Realitätseffekt verstärken. Unwichtige, realistische Detailinformationen wecken bei dem Leser das Gefühl, direkt im Geschehen zu sein.820 An dieser Stelle bietet es sich an, noch einmal genauer auf die sprachliche Ebene des Textes einzugehen. Das Osmanische verfügt wie das Türkeitürkische über drei Demonstrativpronomen: bu, ¸su, o (bzw. die klassische Form ol) 821. Bu 818 Gelfert: Typisch englisch, S. 69. 819 Pümpel-Mader: Personenstereotype, S. 285 820 Finnern, Sönke: Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28, [= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament; 285], Tübingen 2010, S. 197f. 821 Die klassische Form des Personalpronomens für die 3. Person Singular im Osmanischen
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verweist auf etwas, das sich in der Nähe befindet, während ¸su auf einen Bezugsgegenstand hindeutet, der etwas weiter weg ist, und o sich auf etwas in der Ferne Gelegenes bezieht.822 Der auffälligste Stereotypenindikator im SL ist der des Personalpronomens in der dritten Person Plural (onlar bzw. in der klassischen Form anlar) und des Demonstrativpronomens bu im Plural, d. h. bunlar. Es kommt vermehrt vor, dass der Autor vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen plötzlich von »ihnen« spricht oder Sätze formuliert, die mit »Sie« beginnen, und sich dabei auf die Engländer bezieht. Daneben verwendet er noch weitere Pronomen wie »manche« bzw. »einige« (baʿz˙¯ılar bzw. kimi). Im folgenden Beispiel tauchen gleich mehrere dieser Pronomen auf. »Manche (baʿz˙¯ılar) finden auch Gefallen daran, mit Tieren herumzuspielen. Einige von ihnen (bunlarıñ kimisi) malen verschiedene Zeichnungen auf die Mäuler und Rücken von Pferden, stutzen ihre Schweife und Ohren und hängen Glöckchen an ihre Nasen« [35].
Unser Autor greift in seiner Reisebeschreibung vermehrt auf diese Pronomen zurück, wenn er über die Engländer berichtet. Wie im letzten Beispiel zu sehen, verwendet er dabei die Pronomen nicht in adjektivischer Form vor einem Substantiv stehend, sondern als substantivische Pronomen selbst. Das Demonstrativpronomen »diese« (bu) im ersten zu dem Thema Essverhalten genannten Beispiel, das mit den Worten »da diese Engländer (bu ˙Ingilizlüler) in nichts Charakterstärke zeigen« beginnt, wird adjektivisch eingesetzt, da ihm das Substantiv »Engländer« folgt. In diesem Fall ist das Pronomen ein Stereotypenindikator, der dazu dient, soziale Kategorien einzuführen. Diese werden als bekannt und gegeben vorausgesetzt und sind »schema-beziehbare Indikatoren, die Verstehen postulieren und auf gemeinsames, evidentes Vorwissen verweisen, das als stereotypes Wissen gedeutet werden kann.«823 In Kombination mit einer Personengruppenbezeichnung ist das Demonstrativum »diese« »neben dem Verweis auf Bekanntheit oft für eine Pejorisierung verantwortlich«.824 Unser Autor legt in diesem Beispiel eine abwertende Haltung gegenüber den Engländern dar, was durch den Ausdruck »diese Engländer« noch verstärkt wird. Er schließt vom Allgemeinen, der fehlenden Charakterstärke, auf eine einzelne kennzeichnende Schwäche, die Völlerei. Die Personenindikatoren dienen dem-
lautet ol und die entsprechende Pluralform anlar. Erst in ganz späten osmanischen Texten finden sich die auch heute im Türkeitürkischen gebräuchliche Formen o und onlar. Siehe Bug˘day: Osmanisch, S. 28. Der Verfasser des SL verwendet in seinem Bericht beide Varianten. 822 Siehe Moser-Weithmann, Brigitte: Türkische Grammatik, Hamburg 2001, S. 49 und Bug˘day: Osmanisch, S. 27. 823 Pümpel-Mader: Personenstereotype, S. 93. 824 Pümpel-Mader: Personenstereotype, S. 100.
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nach einer Kategorisierung und Bewertung der beschriebenen Leute, die den Leser in seiner Annahme lenken. Unser Autor befasst sich als weiteres Thema eingehend mit der Wettleidenschaft der Engländer. »Zu ihren Interessen, die keine Grenzen kennen, gehört ihr Gefallen an Wetten«, schreibt er und zählt anschließend auf, auf was die Engländer alles wetten. Dabei beschreibt er eine von ihm persönlich beobachtete Situation, die demonstrieren soll, dass die Engländer tatsächlich jede Gelegenheit nutzen, um eine Wette einzugehen. Als Beispiel nennt er zwei Metzgergesellen, die beim Anblick von zwei sich raufenden Ochsen darum wetten, welches Tier denn wohl dominieren werde. Mit den Worten »nirgends [sonst] sieht man solch einen Gefallen an Wetten« [34] fasst er ihre Leidenschaft zusammen, die Gelfert als vergleichsweise harmlose Untugend der Engländer bezeichnet. Durch die Formulierung »nirgends [sonst]« (hı¯c bir yerde) schließt er aus, dass es etwas Vergleichbares noch an einem anderen Ort geben könnte. Diese Eigenschaft ist allein auf die Engländer beschränkt und bringt ihre besondere Einstellung zum Ausdruck. Es handelt sich erneut um eine Verallgemeinerung, um ein Stereotyp, auf das der Verfasser des SL zu sprechen kommt. Stanzel zufolge haben Völkerbeschreibungen einen »Hang zur Verallgemeinerung und Stereotypisierung.«825 Auch sonst hält er sich in keiner Weise mit verallgemeinernden Formulierungen über die Engländer zurück. Der antithetischen Argumentation entsprechend fällt der Autor Urteile über die Bewohner des von ihm bereisten Landes und bringt seine Kritik zum Ausdruck. So widmet er sich der Freundschaft als ein weiteres Thema und sagt Sätze wie: »Engländer sind untereinander keine [guten] Freunde (I˙ngilizler biri birine ya¯r olmayub)« [19] und sie sind auch nicht in der Lage »Konversation und Freundschaften zu führen (muhabbet ve ülfet e˙demez˙ ler)« [82]. Mit dieser Ansicht reiht er einen weiteren Stereotyp in die Reihe der gängigen Stereotype ein, galten die Engländer doch als distanziert.826 »Die besagte Bevölkerung (a¯ha¯li-ye merku¯me) hat eben nicht das Bedürfnis, wie andere ˙ Stadtbewohner in Kaffeehäuser zu gehen und nach treuen Freunden (ahba¯b-ı sada¯kat˙ ˙ ˙ ¸siʿa¯r) oder Gleichgesinnten (ahilla¯-yı hem-efka¯r) zu suchen« [28], ˘
heißt es an anderer Stelle. Ganz deutlich kommt hier ein Aspekt zur Sprache, der die Engländern von den übrigen Bevölkerungsgruppen unterscheidet: der Wert der Freundschaft. Man kann davon ausgehen, dass sich der Autor hier bei dem Ausdruck »andere Stadtbewohner« wohl auf die Istanbuler bezieht. Er verwendet im Laufe seiner Reisebeschreibung verschiedene (synonyme) Bezeichnungen für »Freunde« und »Freundschaft«. Für Freunde findet sich der türkische Begriff 825 Stanzel: »Das Nationalitätenschema in der Literatur«, S. 86. 826 Kuneralp: »Les Ottomans à la découverte de l’Europe«, S. 57.
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arkadas¸ und der im vorliegenden Reisebericht ausschließlich in seiner Plural˙ form verwendete arabische Ausdruck ahba¯b bzw. ehibba¯. Zudem greift der Autor ˙ ˙ auf die beiden aus dem Persischen stammenden Begriffe ya¯r und du¯st und analog dazu für Freundschaft du¯stluk zurück. Daneben verwendet er häufig den Aus˙ druck ülfet für Freundschaft. Neben verallgemeinernden Aussagen wie in diesen Beispielen, die von einer Beobachtung aus einer gewissen Distanz zeugen, nennt er Situationen, in die er selbst verwickelt ist. Er verweist darauf, dass eine Mittlerperson zwei Leute untereinander vorstellen muss, da sonst keine Bekanntschaft zustande kommen kann. Wenn dies nicht geschieht, ist eine Begrüßung oder gar ein Treffen unmöglich, selbst wenn man sich schon seit Jahren vom Sehen kennt. Er berichtet dem Leser von einem Vorfall, bei dem er in Begleitung eine ihm bekannte Person auf der Straße sieht, Anstalten macht, diese zu grüßen und sich nach deren Wohlbefinden zu erkunden. Sofort wird dies von seinem Begleiter unterbunden, der ihn mit den Worten »Bist du denn verrückt? Engländer sind nicht wie andere. Stell bloß nicht solche Fragen!« [18] rügt. Der Autor ergänzt sein negatives Bild vom Charakter der Engländer um einen weiteren, übergreifenden Punkt. In seiner generalisierenden Aussage formuliert er ähnlich wie beim vorangegangenen Beispiel ganz konkret, dass die Engländer nicht wie andere seien. Allerdings bezieht sich hier das Anderssein nicht auf einen einzelnen Aspekt, sondern auf die Engländer im Allgemeinen. Durch diese Aussage wird dem Leser suggeriert, dass die Engländer die Abweichung der Norm darstellen, indem sie sich anders als erwartet verhalten. Im Vergleich »mit anderen sozialen Gruppen«, hält Pümpel-Mader dieses Phänomen fest, »wird der stereotypisierten Gruppe ein Wert zuerkannt, der gemessen an einer im Common Sense begründeten stabilen sozialen Norm (Soll-Normwert) als abweichender Istwert gesehen wird.« Daraus kann eine positive oder negative Einschätzung erfolgen.827 Die Andersartigkeit bzw. Eigentümlichkeit der Engländer im Beispiel ist eine negativ eingeschätzte Eigenschaft. In einer anderen Passage stellt der Autor ebenfalls fest, dass es in England anders ist als sonst überall. Als er das Thema Jagd erörtert, kommt er zu folgender Erkenntnis: »hier ist es nicht wie in anderen Ländern« [79]. Auch hier stellt er wieder die Abweichung der Norm dar. England sondert sich von den übrigen Ländern ab. Diesmal findet jedoch keine Wertung statt. Der Autor verpackt die Aussage im ersten genannten Beispiel auf geschickte Weise, indem er sie einer dritten Person in den Mund legt und sie zusätzlich auch noch in angeführte direkte Rede fasst. Durch die Redeform der zitierten Figurenrede wird in Erzähltexten der Wahrheitsgehalt der Erzählung aufgewertet. Sie bezweckt zudem die Vorstellung einer realen Gesprächssituation, da direkte Rede 827 Pümpel-Mader: Personenstereotype, S. 372.
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suggeriert, dass Äußerungen eins zu eins wiedergegeben werden. Dies vermittelt dem Leser das Gefühl, die Situation mitzuerleben.828 Die hier beispielhaft untersuchten Textstellen zum Gemüt, dem Überlegenheitsgefühl, der Wettleidenschaft, Esskultur, Arbeitseinstellung und Freundschaft der Engländer stehen stellvertretend für zahlreiche weitere Themenbereiche, mit denen sich unser Verfasser in seinem Reisebericht auseinandersetzt. Neben der Kritik an den Engländern, deren – der antithetischen Argumentation entsprechend – hauptsächlich negative Charakterzüge dargestellt werden, finden sich auch Beschreibungen über London. Über die Stadt selbst sagt der Verfasser des SL, dass der Smog ein großes Problem darstelle. Die Engländer benutzten Steinkohle, »deren Rauch immense Spuren hinterlässt, die Luft verschlechtert und die Umgebung verschmutzt.« Davon abgesehen seien auch die Bäume davon betroffen, weshalb das Obst rar und ungesund sei [69]. Die vielen Menschenmengen machen eine Beschreibung der Stadt nicht möglich [14], schreibt er an einer Stelle, zudem ließen sie die Preise steigen, so dass das ohnehin teure London noch teurer würde [10]. Außerdem nehme der Verkehr auf den Straßen ein solches Ausmaß an, dass manche nur mithilfe der Polizei wieder nach Hause fänden, »weil sich ihnen vom vielen Verkehr der Kopf dreht« [23]. Im Unterschied zur ersten Technik des Vergleichs wird bei der zweiten Verfahrensweise die fremde Kultur in meist negativer Art dargestellt. Im Text lassen sich allerdings auch viele positive Merkmale Londons finden. Auch wenn ihm nach eigener Aussage »alles in London gut gefallen hat«, habe er keine schöneren Gebäude als die der Kneipen gesehen [9], schreibt der Autor über die Stadt. Positive Anerkennung erhalten auch das kulturelle Angebot [19], die zahlreichen Parkanlagen und Gärten, »die Londoner Basare und Märkte wegen ihrer großen Eleganz und die Läden und Geschäfte in Anbetracht ihrer Stabilität und Ordnung« [24]. Zudem zeigt er sich beeindruckt von den Wasserstraßen, den Häfen [85f], der Polizei und der Feuerwehr und vielem mehr.
5.1.3 Reziproke Argumentation Eine sowohl positive wie auch negative Darstellung der fremden als auch der eigenen Kultur ermöglicht die dritte und letzte Technik des Vergleichs, nämlich die reziproke Argumentation. Für Beller handelt es sich bei dieser Technik um eine Form der Darstellung von Eigenschaften der beobachteten Kultur, die erfolgt, um auf die gegenteiligen Charakteristika in der eigenen Kultur zu verweisen. Werden also negative Dinge geschildert, so gilt der Verweis auf die po828 Lahn, Silke und Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart 2008, S. 120.
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sitiven Eigenschaften aus dem Herkunftsland. Werden positive Merkmale dargestellt, gilt es, auf die negativen Dinge im eigenen Land zu verweisen.829 Der Verfasser des SL bemerkt selbst, dass es sowohl positive wie auch negative Eigenschaften bei den Engländern gibt: »Die Gebräuche und Sitten Englands sind von hässlicher und schöner Art« [42] und »wie bisher beschrieben, zählen die Gewohnheiten der Engländer (I˙ngilizler) zu den Merkwürdigkeiten (ʿaca¯yı¯ba¯t) und können von hässlicher als auch schöner Art sein« [80]. Zur besseren Übersicht wird die Analyse der reziproken Argumentation in ihre positiven und negativen Beispiele unterteilt. 5.1.3.1 Die positive Darstellung der Engländer und Englands Unter den zahlreichen Themen, die der Autor des SL in seiner Reisebeschreibung anspricht, ist auch die Wasserversorgung in der Großstadt ein Aspekt: »In London selbst gibt es keine Brunnen, aber in jedem Haus fließt Süßwasser durch Wasserrohre« [31], heißt es an einer Stelle im Text. Bei diesem Beispiel scheint es um die Feststellung von Unterschieden zu gehen, ohne diese direkt zu bewerten. Indem er sagt, was es in London nicht gibt oder wie etwas nicht ist, verweist er indirekt auf dessen Vorhandensein oder dessen Beschaffenheit im Heimatland. Man kann davon ausgehen, dass er sich hier auf Istanbul bezieht. Neben dem indirekten Hinweis darauf, was es in seinem eigenen Land nicht vorhanden ist, verweist er in diesem Beispiel gleichzeitig auch auf eine positive Eigenschaft Londons, nämlich das Vorhandensein von Wasserrohren in den Häusern. Bei der Beschreibung der englischen Presse stellt der Autor des SL fest, dass tatsächlich sämtliche Nachrichten in den Zeitungen nachzulesen sind. Dies verhelfe den Leuten dazu, sich über aktuelle Gegebenheiten aus eigener Kraft informieren zu können. Aufgrund dieser Zeitungen sei »die hiesige Bevölkerung nicht darauf angewiesen, von jemand anderem Nachrichten über Ereignisse zu erhalten, sondern kann sie durch das Zeitungslesen [selbst] in Erfahrung bringen«, heißt es daher in diesem Zusammenhang. Weiter folgert er daraus, dass die Engländer daher so schweigsam seien, »weil sie alles aus den Zeitungen erfahren können und nicht ihre Freunde im Gespräch danach fragen müssen« [53]. Aus diesem Beispiel lassen sich zwei Sachverhalte schlussfolgern: Erstens haben die Engländer nach Ansicht des Autors keinen Bedarf, sich bei anderen Personen über Neuigkeiten zu informieren, da sie alles aus ihren Zeitungen erfahren können. Zweitens führt er den zurückhaltenden Gesprächsbedarf der Engländer ebenfalls darauf zurück, dass sie alle für sich wichtigen Informationen aus der Zeitung erfahren und sich daher nicht mit ihren Freunden unterhalten müssen. Wenn der Autor in diesem Beispiel auch nur versucht, eine Erklärung für die 829 Beller: »Die Technik des Vergleichs in der Imagologie«, S. 42.
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verhaltene Lust der Engländer an Unterhaltungen zu finden und diese ohne Wertung darstellt, so bewertet er an anderer Stelle, den Verzicht auf belangloses Gerede als durchaus positiv.830 Die Bemerkung, die Engländer wechselten »keine überflüssigen und unnützen Wörter« [25], verdeutlicht noch einmal die positive Hervorhebung dieser Eigenschaft und beinhaltet dabei erneut indirekt Kritik an den eigenen Landsleuten. Die Zurückhaltung der Engländer, was ihr Gesprächsbedarf anbelangt, tritt hier positiv zum Vorschein, während allerdings an anderer Stelle in umgekehrter Weise ihre Wortkargheit bemängelt wird.831 »Wie reizbar und hitzköpfig die Engländer (I˙ngilizler) auch sind, sie sind nicht sehr nachtragend« [31], stellt der Autor des SL an anderer Stelle fest. Wenn ein Streit entsteht, können die beteiligten Seiten im Anschluss dennoch gemeinsam in eine Bar einkehren, die Gläser erheben und sich unterhalten, »da danach keine Feindschaft zwischen ihnen herrscht.« Bei einem Streit oder einer Auseinandersetzung benutzen die Engländer »keine verletzenden Gegenstände. Da sie ohnehin nicht bösartig oder streitlustig sind, kämpfen sie bei dem sich zutragenden Streit, der durchaus menschlich ist, wie bereits oben ausführlich beschrieben nur mit den Fäusten« [46],
heißt es an anderer Stelle. Der Autor stellt die Engländer einmal als »reizbar und hitzköpfig« dar, schwächt diese negative Eigenart aber innerhalb des Satzes direkt ab und charakterisiert sie dafür ein anderes Mal wiederum als »nicht bösartig oder streitlustig«. Der Autor beschreibt auch einzelne Gruppen der englischen Gesellschaft im Vergleich zu denen des Osmanischen Reiches. Als er beispielsweise auf das Thema Betteln zu sprechen kommt, beschreibt er eine Auffälligkeit, die er beobachtet hat. Er stellt fest, dass die Bettler Englands nicht so penetrant wie diejenigen in seinem Heimatland seien. »Auch wenn sie die Leute belästigen, sind sie nicht wie unsere Bettler, die, nachdem sie tausend Male fortgejagt worden sind, noch immer nicht gehen« [84]. Durch die Verwendung des Possessivpronomens »unsere« stellt er klar, dass er sich zu der Gruppe zugehörig fühlt, zu der auch seine Leserschaft gehört. In diesem Beispiel werden – wie auch an zahlreichen anderen Textstellen – die Differenzen zwischen England und dem Osmanischen Reich hervorgehoben und gleichzeitig bewertet.
830 Zu diesem Beispiel siehe Kap. 5.2.2 Punkt b) Die negative Darstellung der Osmanen. 831 Siehe hierzu Kap. 5.2.2 Punkt a) Die positive Darstellung der Osmanen.
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5.1.3.2 Die negative Darstellung der Engländer und Englands Im letzten Beispiel beschreibt der Autor des SL die Bettler in ihrer Art nicht so aufdringlich wie die im Osmanischen Reich. Dafür fällt ihm eine andere Gruppe besonders negativ auf, nämlich die der Diebe. Außerhalb des Ausstellungsgebäudes, so schreibt er, böten sich den Dieben zahlreiche Gelegenheiten. Sie hätten ihre List dermaßen ausgearbeitet, dass sie den Diebstahl »förmlich zu ihrem Gewerbe gemacht« hätten und ihre Tricks seien unbeschreiblich [16], staunt er. Kämen diese Diebe nach Istanbul, gäbe »es keine Rettung vor ihren Raubzügen« erklärt er seinem Leser, »da diese Diebe nicht von derart sind, die wir kennen« [17]. Hier erläutert der Autor anhand des unterschiedlichen Vorgehens von Dieben, dass man sich in London vor Dieben in Acht nehmen müsse. Dazu verweist er darauf, dass sie sich von denen im Osmanischen Reich unterscheiden, indem er dies konkret ausformuliert. Wenn der Autor des SL auf die fehlenden ihm bekannten Merkmale einer Freundschaft oder aber die nicht vorhandene freudige Atmosphäre beim gemeinsamen Essen zu sprechen kommt, so kann der Leser daraus schließen, dass sich die genannten Situationen im Herkunftsland des Autors anders ereignen. So stellt er folgendes für die Engländer fest: »Während des Essens wollen sie nicht angesehen werden und schauen auch selber niemanden an, lachen und plaudern nicht« [11]. Dass die Engländer sehr zurückhaltend sind, was Unterhaltungen mit anderen Leuten angeht, seien es nun Fremde oder Freunde, wird an mehreren Stellen in der Reisebeschreibung erwähnt. Der Autor versucht dafür auch Begründungen zu liefern, wie zum Beispiel das Fehlen von Cafés, in denen man zusammenkommen kann, oder das hohe Arbeitspensum der Engländer, das ihnen keine Zeit lässt, sich mit Freunden und Bekannten zu treffen. Auch das Vorhandensein der Presse sieht er – wie oben angeführt – als Grund für die Schweigsamkeit der Engländer, da sie alle wichtigen Nachrichten aus der Zeitung erfahren können und daher niemand anderen danach fragen müssen. Durch die Ausformulierung dessen, was die Engländer nicht tun, verweist er indirekt darauf, was ihm von seinen eigenen Landsleuten bekannt ist. Offensichtlich haben die Engländer seiner Ansicht nach ein anderes Verständnis von Werten wie Beisammensein und Unterhaltung. Für diese Feststellungen nutzt der Autor Verallgemeinerungen und schließt kategorisch aus, dass unter den Engländer auch Abweichungen im Verhalten möglich seien. Bei der Gegenüberstellung der eigenen und fremden Kultur ist dies allerdings ein gängiges Mittel, denn »was das Fremde vom Vertrauten unterscheidet, wird über Gebühr herausgestellt.«832 Am Ende seiner Reisebeschreibung formuliert er im Sinne der reziproken Argumentation noch einmal ganz konkret, dass und inwiefern sich die Osmanen 832 Stüben: »Deutsche Polen-Bilder«, S. 56.
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seiner Ansicht nach von den Engländern unterscheiden. Die dargestellten Differenzen zwischen diesen beiden Kulturen sollen den Personen als Information dienen, die sich für eine Reise nach London entscheiden. Denen gibt er nämlich den allgemeinen Hinweis, »dass die Bevölkerung des Osmanischen Reiches und die Londoner sehr stark in ihren Sitten und ihrem Benehmen voneinander abweichen.« Während seine eigenen Landsleute viel Wert auf das menschliche Miteinander legten, wie beispielsweise gemeinsame Unternehmungen und ein gutes Auskommen untereinander, seien die Engländer »ganz im Gegenteil« derart, dass sie niemanden grüßten und sich mit keinem unterhielten, den sie nicht kennen [90]. Die rhetorische Figur des Vergleichs dient bei der reziproken Argumentation zur kontrastiven Gegenüberstellung, bei der auf einen Gegensatz zwischen den Kulturen hingewiesen wird. Durch die Formulierung »ganz im Gegenteil« wird dies noch einmal explizit betont. In diesem Beispiel stellt der Autor ganz deutlich den Unterschied zwischen den beiden verglichenen Kulturen dar. Die Osmanen werden mit positiven Eigenschaften versehen, während die Engländer negativ dargestellt werden. Aber nicht nur der Gesprächsbedarf unterscheidet die Engländer nach Ansicht des Verfassers des SL von anderen Gesellschaften. Unter den Beispielen der zweiten Technik wurde bereits aufgezeigt, dass der Autor der Ansicht ist, dass sich die Engländer generell von allen anderen Kulturen unterscheiden. Dies hat er seinem Leser einmal durch die Wiedergabe der Aussage eines anderen Sprechers mitgeteilt und ein anderes Mal als eigene Feststellung überliefert. Hier geht es um den Umgang der Leute untereinander, auf den der Verfasser des SL an mehreren Stellen im Text zu sprechen kommt. Eine konkrete Gegenüberstellung wie in diesem Beispiel findet sich in der Erzählung allerdings weniger als die einseitige Darstellung. Es gilt bei dieser Technik also zu differenzieren zwischen der Implikation und der konkreten Ausformulierung. Bei der Implikation wird die Eigenschaft des Fremden genannt, ohne auf die eigene Kultur einzugehen. Die gegenteilige Charakteristik wird dadurch nur indirekt angedeutet. Bei der konkreten Ausformulierung werden die unterschiedlichen Merkmale der beiden gegenübergestellten Kulturen und Länder jedoch explizit zur Sprache gebracht. Am Ende sei noch eine weitere Formulierung erwähnt, die da lautet: »angesteckt durch die englische Art« (I˙ngiliz ʿa¯detı¯ sira¯yatıyle) [42]. Während diese Phrase, wie sie hier steht, noch keine wertende Bedeutung hat, indiziert sie einen Stereotyp und beinhaltet eine »Vergleichsfunktion«833. Der Stereotyp wird durch das vorher Beschriebene deutlich. So erfährt der Leser, dass sich die meisten Leute in London beim Besuch einer Bibliothek nicht dem Lesen selbst widmen, sondern sich damit beschäftigen, »die Ornamente an den Türen und Wänden 833 Pümpel-Mader: Personenstereotype, S. 198.
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und die Verzierungen und Einbände der Bücher zu betrachten« [41]. Der Autor tut es den Engländern gleich und betrachtet »angesteckt durch ihre Art« die dortigen türkischen, arabischen und persischen Bücher, äußert seinen Gefallen an ihnen und verschwindet wieder. Hier haben wir es mit einem Stereotypenindikator zu tun, der die Prägnanz eines Wesenszugs der Engländer auf den Punkt bringt. Inhaltlich muss er durch den Kontext präzisiert werden, weil sich erst dann eine konkrete Charaktereigenschaft herausfiltern lässt. In diesem Fall geht es um das Desinteresse der Engländer am Inhalt der Bücher, was der Autor auf seine für ihn typische ironische Art darstellt. Der hier dargestellte Stereotyp fungiert ebenfalls als Vergleich, indem er indirekt herausstellt, inwiefern sich die Engländer von anderen Kulturen unterscheiden. Die vorwiegend negative Darstellung der Engländer versucht unser Autor am Ende seines Berichts noch abzuschwächen, indem er darauf hinweist, dass seine Aufzeichnungen lediglich dazu dienen sollen, die gemachten Beobachtungen ausführlich zu berichten. Er rechtfertigt sein Bild der Engländer, indem er sagt: Die von uns beschriebenen Gegebenheiten sollen nicht als eine Förderung der üblen Nachrede gegenüber den Engländern verstanden werden, sondern unsere Absicht besteht lediglich darin, die von uns beobachteten Ereignisse ausführlich zu berichten. Wer auch immer jedoch nach England reist und sich aufmacht, solch ein Buch zu verfassen, wird es nicht anders machen können. Falls er sich für die Unwahrheit entscheidet, geht es mich nichts an [91].
Er betont, wahrheitsgetreu seine reinen Beobachtungen niedergeschrieben zu haben und verweist darauf, dass die Richtigkeit der Erzählungen von jemandem, der es anders als er handhaben würde, wohl hinterfragbar sei.
5.1.4 Zwischenfazit Heteroimage Der beständige Vergleich der geschilderten Verhältnisse mit der heimischen Kultur ist ein auffälliges Merkmal des vorliegenden Reiseberichts. Um seine Landsleute mit den von ihm beschriebenen Gegebenheiten in England vertraut zu machen, bedient sich der Autor des SL dieser rhetorischen Figur. Die beschriebenen und zum Vergleich herangezogenen Komponenten werden zueinander in Bezug gesetzt und dienen so der Veranschaulichung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Die Analyse der Vergleiche zeigt, welches Bild der Autor auf welche Weise von den Engländern und England in seiner Reisebeschreibung überliefert. Wie jede nationale Gemeinschaft verfügen auch die Osmanen über stereotype Vorstellungen anderer Nationen, die im SL ganz deutlich zum Vorschein kommen. Dabei dient die eigene Kultur als Vergleichsparameter. Der Umgang mit dem Fremden findet auf der Basis des Eigenen statt und der
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Vergleich bietet dem Autor als Zugangsmöglichkeit zur beschriebenen Kultur ein Mittel, seiner Leserschaft das Fremde näherzubringen. Durch die drei Techniken des Vergleichs ist es möglich, das vom Verfasser des London-Reiseberichts gelieferte Bild der Engländer und Englands herauszuarbeiten. Durch die Gegenüberstellung von Sachverhalten und Gegebenheiten gelangt der Autor zu Parallelen, aber auch Unterschieden bezüglich der Kultur, Gesellschaft und Mentalität. Durch die Technik der Analogie werden keine auffälligen Unterschiede, sondern Ähnlichkeiten zwischen England und dem Osmanischen Reich herausgestellt. Dies suggeriert Nähe und vermittelt dem Leser das Gefühl, sich mit etwas Bekanntem auseinanderzusetzen. Beispielsweise sieht der Autor Gemeinsamkeiten in den Vorführungen der Zigeuner und Akrobaten, er sieht eine verbindende Komponente bei der Illumination der Nächte, findet Ähnlichkeiten bei den Spielen der Kinder und dem Aufbau und der Anordnung der Stände der Jahrmärkte. Während die Suche nach Ähnlichem dem Leser den Zugang zum Fremden und Unvertrauten erleichtert, wird Distanz erst durch das Aufzeigen von Unterschieden geschaffen. Durch die Technik der antithetischen Argumentation wird ein grundsätzlich negatives Bild der Engländer und Englands herausgestellt. Die Engländer werden generell als arbeitswütig, zur Depression neigend und daher selbstmordgefährdet dargestellt. Trotz vieler Freizeitmöglichkeiten sind sie nicht in der Lage, diese gebührend zu nutzen. Sie beweisen laut Autor in nichts Charakterstärke, weshalb sie im Übermaß arbeiten, essen und trinken. Zudem sind sie ihren Leidenschaften wie dem Wetten verfallen. Das größte Übel für den Verfasser des SL ist aber, dass sie nichts von Freundschaft verstehen. Die Stadt London selbst ist überfüllt von Menschen, überteuert und von Smog und Dunst bedeckt. Generell schlägt das Klima Englands aufs Gemüt. Neben dieser negativen Darstellung nennt der Autor aber auch Aspekte von Land und Leuten, für die er Anerkennung und Zustimmung empfindet. Dafür verwendet er die Technik der reziproken Argumentation. Bei dieser Technik werden, während auf die Unterschiede zwischen seiner eigenen und der bereisten Kultur hingewiesen werden soll, sowohl positive als auch negative Kennzeichen beider Seiten dargestellt, da es um die Repräsentation der gegenteiligen Eigenschaften der beiden Länder geht. Während er die Engländer als wortkarg und die Osmanen als gesprächig und gesellig darstellt, verweist er dennoch anerkennend darauf, dass die Engländer zurückhaltender sind, was das Gerede über Ereignisse angeht und dass sie grundsätzlich nicht über das Nötige hinaus reden. Ihren Umgang mit Freunden sieht er als Defizit, dafür sind sie aber was Organisation und strukturiertes Vorgehen angeht den Osmanen überlegen. Zudem sind sie in vielen Wissenschaften bewandert und verfügen über zahlreiche Freizeitangebote. Anerkennung erfährt auch die Presse, die ihre Landsleute über alle Gegebenheiten informiert. Der Autor übt sowohl Kritik als auch Lob an den Bewohnern Englands als auch an seinen eigenen Landsleuten. Dies kann offen oder an-
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deutungsweise geschehen. Aus einem positiven England-Urteil des Autors ist die indirekte Bemängelung seines osmanischen Publikums zu erkennen. In umgekehrter Weise handelt es sich um die Anerkennung der osmanischen Eigenschaften. Da es sich nicht um eine rein negative oder rein positive Darstellung des jeweils einen Landes handelt, haben wir es mit einem geteilten Bild zu tun, das sowohl den Respekt als auch die Ablehnung deutlich macht. Dualität bestimmt den Blick auf London und die Engländer. Die beiden Gesellschaften stehen im Kontrast zueinander. Dabei stellt unser Autor nicht nur die Eigentümlichkeiten der Engländer auf inhaltliche Weise dar, sondern nutzt auch auf sprachlicher Ebene Indikatoren, um auf Stereotype hinzuweisen. Der Gebrauch von bestimmten Artikeln im Deutschen, der als eine Grundlage der Stereotypenindikatoren gilt, ist im Osmanischen aufgrund des Fehlens dieser grammatischen Einheit nicht möglich. Im Osmanischen werden vermehrt Pronomen eingesetzt, die denselben Effekt erzielen. Durch den Gebrauch von Indikatoren für Personenstereotype wird die Einteilung in nationale Kategorien bestärkt und die Lesererwartung hinsichtlich des Bildes des Anderen gelenkt. Auch wenn es sich bei den hier untersuchten Darstellungen Englands und seiner Bewohner um Werturteile und Generalisierungen des Autors handelt, die mit jeweils positiven oder negativen Eigenschaften versehen sind, und nicht um die Überlieferung reiner Fakten, gilt festzuhalten, dass das vom Autor des London-Reiseberichts transportierte Bild der Engländer und Englands gängige und verbreitete Stereotype umfasst. Dass unser Autor diese aufgreift, impliziert eine eingehende Auseinandersetzung im Vorfeld seiner Reise und seiner Aufzeichnungen. Man muss davon ausgehen, dass mehr oder weniger dieselben Topoi in Europa und dem Osmanischen Reich vorherrschend waren. Dies ist neben den diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen auch auf den engen kulturellen Kontakt zwischen den Europäern und den Osmanen zu jener Zeit zurückzuführen.
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Autoimage: Das Bild der Osmanen
Esch betont, dass die subjektive Färbung von Vergleichen in einer Reisebeschreibung mehr über den Beobachter als über das Beobachtete aussage.834 Anhand dieser Illustrationen kann demnach neben den gelieferten Informationen zum dargestellten Fremden auch dem Selbstbild des Autors und damit seiner Kultur nachgegangen werden. Das sogenannte Autoimage steht im Kontrast zum Heteroimage, da es sich auf die vom Autor übermittelte Selbstdarstellung bezieht. Es bringt die Einstellung des Autors gegenüber seiner eigenen Kultur zum 834 Esch: »Anschauung und Begriff«, S. 287.
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Heteroimage und Autoimage
Ausdruck.835 Die Erforschung der Selbstbilder bzw. Autoimages gilt als ein weiterer Aufgabenbereich der image-Forschung, wie die Imagologie auch genannt wird. Wo es im weitesten Sinne scheinbar um die Darstellung und Untersuchung der Heteroimages geht, entstehen auch Bilder des Eigenen in Abgrenzung zum Anderen. Diese Bilder bedingen sich gegenseitig, weshalb Autoimage und Heteroimage in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen.836 Über die Bedeutung dieser Autoimages sagt Dyserinck, dass sie eine ebenso große Tragweite wie die Bilder anderer Länder besäßen und genau wie diese über den außerliterarischen Bereich hinaus wirkten.837 Genau wie bei den Bildern vom Anderen bilden bei der Produktion von Selbstbildern Stereotype eine wichtige Grundlage. Sie können je nach Situation und Intention positiv oder negativ behaftet sein und implizit oder explizit geäußert werden.838 Pümpel-Mader formuliert für den Aspekt der Stereotype, dass diese »mehr über jene aussagen, die sie gebrauchen, als über jene, auf die sie zutreffen sollen.«839 Auch Beller ist der Ansicht, dass Heterostereotype mehr über den urteilenden Sprecher selbst aussagen als dessen eigene Autostereotype.840 Für die daraus resultierende wechselseitige Bedingtheit von Auto- und Heterostereotypen stellt Hahn folgende Regel auf: Fast jedes Mal, wenn ein negativ besetzter Heterostereotyp zur Sprache gebracht wird, wird das positive Autostereotyp mitgedacht. Durch das negative Heterostereotyp wird ein Autostereotyp mit positiver Wertigkeit evoziert, das als affirmative Aussage verstanden werden kann. Haben wir es allerdings mit einem positiven Heterostereotyp zu tun, hat das Autostereotyp die Funktion einer Warnung bzw. Aufforderung.841 Die von Hahn hier formulierte Definition entspricht abgesehen von ihrem Wirkungsbereich inhaltlich der von Beller vorgelegten dritten Technik des Vergleichs, der reziproken Argumentation. Durch die Darstellung eines negativen Sachverhalts aus der fremden Kultur wird auf dessen Gegenbild in der Heimatkultur verwiesen. Bei einer positiven Darstellung gilt es, auf die negative Entsprechung im eigenen Land zu verweisen. Fest steht, dass das Eigene und das Fremde »ihre Position ausschließlich in ihrer gegenseitigen Wechselwirkung definieren« können.842 Selbstbilder bestehen »aus den Eigenschaften, die die Autoren in Literatur, Geschichtsschreibung, politischer Essayistik und in den Medien den Angehörigen ihres eigenen Volkes, ihrer eigenen 835 836 837 838 839 840
Leerssen: Images – Information – National identity and national stereotype. Hahn und Hahn: »Nationale Stereotypen«, S. 31ff. Dyserinck: Komparatistik. Eine Einführung, S. 133. Hahn und Hahn: »Nationale Stereotypen«, S. 31ff. Pümpel-Mader: Personenstereotype, S. 376. Beller, Manfred: »Vorurteils- und Stereotypenforschung: Interferenzen zwischen Literaturwissenschaft und Sozialpsychologie«, in: ders.: Eingebildete Nationalcharaktere, S. 57. 841 Hahn und Hahn: »Nationale Stereotypen«, S. 31f. 842 Fried: »Imagologie als Teildisziplin der Vergleichenden Literaturwissenschaft«, S. 69.
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Kultur und/oder ihrem eigenen Land zuschreiben.«843 Dies geschieht, indem Vorstellungen von anderen Ländern, Völkern, Gesellschaften und Kulturen (bewusst oder unbewusst) auch Auffassungen vom eigenen Land vermitteln.844 Reiseberichte bieten sich dabei als »Selbstdarstellungen der Verfasser und ihrer zeitgenössischen Leserschaft an.«845 Hier geht es nun um die Frage nach dem vom Autor in seinem Reisebericht geschaffenen Selbstbild der Osmanen in Abgrenzung zu den Engländern. Es geht nicht um das Selbstbild des Autors, weshalb das Werk nicht als Egodokument gelesen werden soll, was aber sicherlich einen weiteren interessanten Untersuchungsaspekt darstellt. Um der Frage nach den Autoimages in der vorliegenden Reisebeschreibung nachzugehen, kann sich ebenfalls Bellers Techniken des Vergleichs bedient werden. Durch die anhand der Analyse gewonnenen Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die der Autor der britischen und seiner eigenen Kultur durch Beschreibungen zuweist, kann das vom Autor konstruierte Bild der Osmanen herausgefiltert werden. Hier sei noch einmal daran erinnert, dass es bei der Analogie um die Ähnlichkeiten bzw. Gleichheiten der beiden einander gegenübergestellten Kulturen geht, während die reziproke Argumentation deren Unterschiede zum Gegenstand hat. Die antithetische Argumentation scheidet für die Untersuchung der Selbstbilder aus, da sie das hauptsächlich negativ belastete Bild des bereisten Landes und dessen Bewohner darstellt. Zurückgegriffen wird hier allerdings auch auf Stereotype über die Osmanen, die sich entweder durch direkte oder indirekte Hinweise aus dem Text erkennen lassen. In Anlehnung an die Untersuchung der Heteroimages geht es um folgende Fragen: Was verraten die in dem Reisebericht überlieferten Bilder Englands und dessen Bewohner über die Herkunftskultur und -gesellschaft des Produzenten? Welches Selbstbild der osmanischen Bevölkerung präsentiert der Autor in seiner Reisebeschreibung? Die Ermittlung des Autoimages beruht demnach auf der Analyse von indirekten wie auch direkten Darstellungen der Osmanen. Bei der Untersuchung der Heteroimages wurden bereits Hinweise zur Darstellung der Osmanen angesprochen. Dabei geht es um die Gemeinsamkeiten, die durch Analogien aufgezeigt werden, und Unterschiede, auf die durch die reziproke Argumentation hingewiesen wird. Was im Analyseteil zum Fremdbild ansatzweise herausgearbeitet wurde, wird hier bei der Analyse des Autoimages explizit dargestellt. Während durch die Negation von Eigenschaften bei den Engländern indirekt auf deren Vorhandensein bei den Osmanen hingewiesen 843 Beller: »Fremdbilder, Selbstbilder«, S. 94. 844 Dyserinck, Hugo: »Komparatistik als Europaforschung«, in: Dyserinck, Hugo und Karl Ulrich Syndram (Hg.): Komparatistik und Europaforschung. Perspektiven vergleichender Literatur- und Kulturwissenschaft, [= Aachener Beiträge zur Komparatistik; 9], Bonn / Berlin 1992, S. 36. 845 Harbsmeier: Wilde Völkerkunde, S. 29.
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wird, spricht der Autor des SL bei der Produktion eines Bildes der Osmanen als direktes Bezugsobjekt entweder von der Bevölkerung des Osmanischen Reiches (mema¯lik-i ʿOsma¯nı¯ye a¯ha¯lisi) oder den Untertanen des Osmanischen Reiches (tebaʿaʾ-i devlet-i ʿalı¯ye), aber hauptsächlich verwendet er das Personalpronomen »wir« oder »uns«, da er sich mit in die Gruppe der Leserschaft und damit seiner Landsleute einbezieht. Generell gilt, dass sich ein Sprecher durch die Verwendung des »wir« zu einer größeren Gruppe zuordnet, was explizit durch die Verwendung des Personalpronomens ausgedrückt wird. Dabei kann sich das »wir« auf unterschiedliche Gruppen beziehen, so zum Beispiel auf anwesende, aber auch nicht anwesende Personen.846 In der Reisebeschreibung finden wir Sätze wie a) »mit nur vierzehn Reisenden stachen wir in See« [4], b) »wir gingen bewundernd durch die Stadt« [9] oder c) »es sind aber nicht solche Kaufleute und Arbeiter wie wir sie aus Istanbul kennen« [36]. Das Pronomen »wir« (ebenso »uns«) dient als Kategorisierungselement, das sich auf die Personengruppe bezieht, zu der die sprechende Person gehört. In den hier genannten Beispielen handelt es sich um den Autor, der da berichtet, und eine Gruppe, zu der er zugehörig ist. Die Gruppe ist jedoch jedes Mal eine andere. Bei a) handelt es sich wie aus dem Satz ersichtlich um die Gruppe der Reisenden. In Satz b) sind der Autor und ein Franzose gemeint, den er bei seiner Reise nach London kennenlernte, und bei c) bezieht sich das »wir« auf die Istanbuler bzw. im weiteren Sinne auf die osmanische Bevölkerung. Eine weitere Verwendung des Personalpronomens in der dritten Person Plural ist in folgendem Beispiel zu sehen: »Man konnte sehen, dass es von einem Wald aus dicken und großen Bäumen, die in Reihen angelegt sind, und von einem wunderschönen Weg wie der, den wir oben beschrieben haben, umgeben ist« [63]. Hier benutzt der Autor das Personalpronomen der ersten Person allerdings im Plural statt im Singular und meint dabei nur sich selbst. Genauso verhält es sich mit den anderen Fällen desselben Personalpronomens: »Die von uns beschriebenen Gegebenheiten sollen nicht als eine Förderung der üblen Nachrede gegenüber den Engländern verstanden werden, sondern unsere Absicht besteht lediglich darin, die von uns beobachteten Ereignisse ausführlich zu berichten« [91], heißt es am Ende der Reisebeschreibung. Auch in diesem Textauszug spricht der Autor von sich selbst, obwohl er das Pronomen im Plural verwendet. Im vorliegenden Fall müssen demnach drei Formen unterschieden werden, da der Autor mit dem Pronomen »wir« bzw. »uns« unterschiedliche Personengruppen bzw. Personen bezeichnet. Wir haben es mit folgenden Verwendungen zu tun: 846 Czyz˙ewski, Marek et al.: »Selbst- und Fremdbilder im Gespräch. Theoretische und methodologische Aspekte«, in: ders. et al. (Hg.): Nationale Selbst- und Fremdbilder im Gespräch. Kommunikative Prozesse nach der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Systemwandel in Ostmitteleuropa, Opladen 1955, S. 42.
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a) Inklusives Wir (der Leser wird in die Gruppe mit eingeschlossen, zum Beispiel die Osmanen im Unterschied zu den Engländern) 847 b) Exklusives Wir (der Leser wird aus der Gruppe ausgeschlossen, aber Dritte werden mit eingeschlossen, beispielsweise Reisende im Unterschied zu den Daheimgebliebenen) 848 c) Pluralis Modestiae bzw. Pluralis Auctoris (der Autor verwendet den Bescheidenheitsplural bzw. Autorenplural, obwohl er eigentlich nur von sich selber spricht) 849 Es gibt noch eine weitere Form des »wir«, bei dem selbst der Autor nicht mit inbegriffen ist. Diese trifft dann zu, wenn der Autor Aussagen einer weiteren Person bzw. Personengruppe, zu der er selbst aber nicht gehört, in wörtlicher Rede wiedergibt. Diese Form ist für die hier im Zentrum stehende Fragestellung nicht von Interesse, da sie nicht dazu geeignet ist, das Bild der Osmanen zu analysieren. Zur Herausarbeitung der Selbstbilder reicht es uns, den ersten der genannten Fälle heranzuziehen, den des inklusiven »wir«, da bei den anderen Punkten die osmanische Bevölkerung, um die es ja hier geht, ausgeschlossen wird. Der Autor setzt also das inklusive »wir« dann ein, wenn er auf die Osmanen im Allgemeinen verweisen möchte. Wenn über den Sprechenden hinaus auf weitere Personen verwiesen wird, spricht Pümpel-Mader vom »wir« als Stereotypenindikator, der zur Kategorisierung dient. Denn neben Artikeln sind Pronomina im Singular und Plural »in Bezug auf Stereotype vor allem unter dem Gesichtspunkt der Hervorbringung und Konsolidierung von sozialen Kategorien bedeutsam.«850 Die hier relevanten Kategorien sind die Osmanen und die Nicht-Osmanen, also die Engländer, die vom Autor als Folie zur Darstellung der eigenen Kultur genutzt werden. Der Reisebericht hat also eine Doppelfunktion inne, unterscheidet er einerseits zwischen dem Reisenden und seinem Leser, führt sie aber ande-
847 Zur grammatischen Unterteilung der ersten Person Plural in Turksprachen siehe: Nevskaya, Irina: »Inclusive and exclusive in Turkic languages«, in: Filimonova, Elena (Hg.): Clusivity. Typology and case studies of the inclusive-exclusive distinction, [= Typological Studies in Language; 63], Amsterdam / Philadelphia 2005, S. 341–358. 848 Siehe Filimonova, Elena: »Introduction«, in: dies. (Hg.): Clusivity. 849 Bei diesem Plural der Bescheidenheit bzw. Höflichkeit handelt es sich um eine ursprünglich »rhetorisch-stilistisch bedingte Selbstbezeichnung des Autors mit der 1. Person Plural statt Singular.« Dies diente ursprünglich dazu, seine eigene Person zurücktreten zu lassen und den Leser mit einzubeziehen. Mittlerweile ist die Verwendung dieses Plurals jedoch an bestimmte Textsorten gebunden. Siehe Schweers, Anja: »Pluralis auctoris«, in: Glück, Helmut (Hg.): Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart / Weimar 2005, S. 498. 850 Pümpel-Mader: Personenstereotype, S. 94.
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rerseits wieder zusammen, indem er zwischen der beschriebenen und der Heimatkultur differenziert.851
5.2.1 Analogie Die Beispiele zur ersten Technik des Vergleichs, der Analogie, sind schnell abgehandelt. Es sind dieselben, die bei der Analyse des Heterobildes angeführt wurden. Sie können hier noch einmal kurz zusammengefasst werden. Durch den Verweis auf Ähnlichkeiten erfährt man vom Verfasser des SL, dass im Osmanischen Reich u. a. während des Fastenmonats die Nächte schön beleuchtet sind [9], bei den Jahrmärkten die Stände ordentlich und in Reihen aufgestellt sind [26], Zigeunergruppen Affen und Bären vortanzen lassen [26], der Sieger in der Nationalsportart Ringen eine Auszeichnung erhält [30] und dass sich sowohl Kinder als auch Erwachsene in England und im Osmanischen Reich mit ähnlichen Spielen bzw. Beschäftigungen ihre Zeit vertreiben [75 und 84]. Diese Informationen erhält der Leser dadurch, dass der Autor bei der Beschreibung seiner Beobachtungen und Erfahrungen in Analogie zu den Merkmalen Englands auch solche für das Osmanische Reich nennt.
5.2.2 Reziproke Argumentation Bei der reziproken Argumentation wird hingegen auf gegenteilige Eigenschaften von Land und Leuten der bereisten und eigenen Kultur verwiesen. Es reicht dabei, eine Seite herauszustellen, da dadurch indirekt ein Verweis auf die andere Seite geleistet wird. Wenn der Verfasser des SL also mit Anerkennung von den Eigenschaften der Engländer spricht, übt er damit indirekt Kritik an seinen eigenen Landsleuten. Kritisiert er hingegen die Engländer, bringt er damit Anerkennung für die Osmanen zum Ausdruck. Zur besseren Übersicht wird wie in der Analyse des Heteroimages auch dieser Teil in eine positive und negative Darstellung der Osmanen unterteilt. Wir beginnen mit den Beispielen, in denen der Autor für seine Landsleute Lob und Anerkennung, sei es nun direkt oder indirekt, äußert.
851 Harbsmeier: Wilde Völkerkunde, S. 24.
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5.2.2.1 Die positive Darstellung der Osmanen An mehreren Stellen im Text betont der Autor das Verhältnis der Engländer zu ihrer Arbeit. Wie im Heteroimage bereits herausgearbeitet, sind die Engländer nach Ansicht des Autors besessen von ihrer beruflichen Beschäftigung. Er bringt einen Vergleich an, in dem er sagt, »dass sie zu ihrer Arbeit hasteten, als eilten sie zu Bett« [11]. Neben einer unterschwelligen Kritik an der Einstellung der Engländer veranschaulicht diese Gegenüberstellung ebenfalls die unterschiedliche Gewichtung, die die Engländer und Osmanen bezüglich ihrer Arbeit und dem Zubettgehen vornehmen. Durch die Anführung dieses Vergleichs, der genauso wie für den Autor auch für seine Leserschaft nichts Auffälliges an sich haben dürfte, erhält der Leser den Eindruck, dass der Autor und seine Landsleute ihrer Arbeit nicht so eine große Bedeutung beimessen, wie es die Engländer tun. Auch an anderen Stellen gibt der Autor bekannt, dass die Engländer äußerst strebsam ihre Arbeit verfolgten [82] und sonntags betrübt seien, da sie nicht ihrer Arbeit nachgehen könnten [11]. Da der Autor es für nötig hält, seiner Leserschaft diese Eigenarten der Engländer mitzuteilen, kann man davon ausgehen, dass es sich um Gegebenheiten handelt, die sich bei den Osmanen anders verhalten. Da die Engländer derart mit ihrer Arbeit zu tun haben, werden dadurch auch andere Dinge vernachlässigt. »Obwohl die Engländer (I˙ngiltere a¯ha¯lisi) sehr ehrenwerte Männer (mükerrem adamlar) sind«, stellt der Verfasser des SL fest, »ist es bei ihnen nicht Brauch, einander, wann immer sie Lust haben, zu besuchen und in Freundschaft und Geselligkeit zusammenzukommen. Selbst auf den Straßen sind alle mit ihrer Arbeit beschäftigt« [67]. Aus dieser Passage lässt sich analog zu der reziproken Argumentation herauslesen, dass die Osmanen darauf Wert legen, einander zu besuchen, wann immer es ihnen danach ist. Freundschaft und Geselligkeit haben bei ihnen Priorität. Auch im folgenden Beispiel verweist der Autor auf das fehlende Verlangen der Engländer nach diesen beiden Werten, indem er erläutert, dass sie sich nicht in Cafés aufhalten und die Gesellschaft anderer Leute nicht missen. »Die besagte Bevölkerung (a¯ha¯li-ye merku¯me) hat eben nicht das Bedürfnis wie andere ˙ Stadtbewohner in Kaffeehäuser (kahve ha¯nelerde) zu gehen und nach treuen Freunden ˙ ˘ (ahba¯b-ı sada¯kat-s¸iʿa¯r) oder Gleichgesinnten (ahilla¯-yı hem-efka¯r) zu suchen.« [28] ˙ ˙ ˙ ˘
In diesem Beispiel stellt der Autor den Unterschied zwischen den Engländern und anderen Bevölkerungsgruppen dar, ohne eine Bewertung abzugeben. Nur im Zusammenhang mit den anderen von ihm gefällten Urteilen dasselbe Thema betreffend lässt sich erkennen, dass er hier Kritik an den Engländern äußert. Einen wichtigen Aspekt spielen für ihn dabei Cafés als Orte, an denen man zusammenkommt, die für ihn für Geselligkeit und Freundschaft stehen. An einer anderen Stelle heißt es: »Da bei allen tiefer Missmut herrscht und es keine Kaf-
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feehäuser zum Unterhalten und Reden gibt, können sich Gruppen von Fremden, die keine Freunde und Bekannte haben, auf keinerlei Weise amüsieren« [29]. Das Beispiel wird eingeleitet mit der Schilderung der trübsinnigen Natur der Engländer, denen es an Lebensfreude fehlt. Der Autor möchte hier aber mehr als auf die Charakteristika der Engländer auf das Fehlen von Entsprechungen hinweisen, die er aus seiner Heimat kennt. »Die vergleichende Beziehung zwischen Fremdbild und Selbstbild« greift demnach »auf gegensätzliche Eigenschaftspaare« zurück.852 Mithilfe des Indefinitpronomen »kein/e«, das im Osmanischen durch das verneinte Verbalnomen ausgedrückt werden kann (kahve dükka¯nları bulun˙ madıg˙ından), können Dinge aufgezeigt werden, die es im beschriebenen Land nicht gibt. Dabei wird indirekt auf deren Vorhandensein im Heimatland des Beschreibenden hingedeutet. Die Bemerkung, dass die Polizisten keine Waffen tragen [91], kann hier als Beispiel für viele weitere Verweise dieser Art genannt werden. Ebenso verhält es sich mit dem Zahlwort »keinerlei«. In dem obengenannten Beispiel können sich, der Ansicht des Autors nach, Fremde ihre Zeit nicht auf angenehme Weise vertreiben, da keine Kaffeehäuser vorhanden sind. Durch die Verwendung des Indefinitpronomens »kein/e« und des Zahlworts »keinerlei« schließt der Autor das Vorhandensein einer Sache vollständig aus. Diese Bemerkung lässt darauf schließen, dass dies in der gewohnten Umgebung des Autors der umgekehrte Fall ist. Dem Leser wird durch die Darstellung dieses negativen Sachverhalts das entsprechende positive Gegenbild im Heimatland vor Augen geführt und der Unterschied zum bereisten Land verdeutlicht. In den vorangegangenen Beispielen und an mehreren weiteren Textstellen betont der Verfasser des SL die Bedeutung vom Umgang mit Menschen, der Pflege der Freundschaft und Geselligkeit. Zudem fällt auf, dass der Autor, während er vorgibt, Aussagen über die Briten zu machen, im Grunde Informationen über die Osmanen liefert. »Die Stereotypen, auch Heterostereotypen, dienen in Wirklichkeit als Wegweiser hin zum Selbstbild und zu Befindlichkeit der Stereotypenbenutzer.«853 Denn durch das ständige Rekurrieren auf die eigene Kultur legt der Autor seine individuelle und soziale Prägung offen.854 Damit ist das Selbstbild oft schon im Fremdbild enthalten. Es muss dafür nicht (kann aber) explizit zum Ausdruck gebracht werden.855 Der Autor greift bei der Beschreibung 852 Beller: »Fremdbilder, Selbstbilder«, S. 94. 853 Hahn, Hans Henning: »12 Thesen zur Stereotypenforschung«, in: ders. und Elena Mannová (Hg.): Nationale Wahrnehmung und ihre Stereotypisierung. Beiträge zur Historischen Stereotypenforschung, [= Mitteleuropa – Osteuropa. Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas; 9], Frankfurt am Main 2007, S. 23. 854 Godel: »Das Fremde ist das Eigene ist das Fremde«, S. 123. 855 Hahn: »12 Thesen zur Stereotypenforschung«, S. 22f.
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der Engländer auf gängige Stereotype zurück, die einen bestimmten Nutzen für den Autor und seine Leser aufweisen. »Die stereotype Einschätzung fremder Völker […] ermöglicht es dem Individuum, durch Abgrenzung die eigene Identität aufrechtzuerhalten.«856 Es geht demnach darum, seine eigene Identität zu betonen, indem Unterschiede zu den Engländern dargestellt werden. Durch das Aufzeigen von Differenzen zwischen der eigenen und der fremden Kultur wird die eigene Identität definierbar. Bei dem vorangegangenen Beispiel erläutert der Autor, was bei den Engländern fehlt oder was er an ihrem Verhalten störend findet und verweist dadurch indirekt auf die positiven Eigenschaften seiner eigenen Leute. Er nennt aber zuweilen auch konkrete Punkte, die er den Osmanen direkt zuschreibt. Als er auf das im Heteroimage bereits behandelte Thema Diebe zu sprechen kommt, hält er folgendes fest: »Wir halten uns in Cafés, in der Moschee oder an Orten wie diesen auf, ohne Acht zu geben, gerade so, als befänden wir uns zu Hause« [17]. Die Osmanen machen sich demnach keine Gedanken, bestohlen oder ausgeraubt zu werden. Sie sind vollkommen arglos und unbedarft, was ihr Verhalten angeht, denn allenfalls stehlen die osmanischen Diebe laut Verfasser des SL Pantoffeln, Schuhe oder einen Fes. Die Diebe Englands hingegen stellt er als weitaus gefährlicher dar. Hier betont er erstens die gesellige Art seiner Landsleute, die an verschiedenen Örtlichkeiten (darunter erneut das Kaffeehaus) zusammenkommen und sich dabei offensichtlich so wohl fühlen, als seien sie zu Hause. Des Weiteren erscheint in dieser Darstellung Istanbul was Diebstahl anbelangt weniger gefährlich als London. Wir bekommen hier allerdings nicht nur Charaktereigenschaften der Osmanen geliefert, sondern ein äußeres Erscheinungsmerkmal gleich mit dazu: den Fes857, der als das Erkennungszeichen der männlichen osmanischen Bevölkerung gilt. In der vorliegenden Reisebeschreibung bringt der Autor kein anderes Kleidungsstück so konkret zur Sprache wie seine Kopfbedeckung; diese dafür an mehreren Stellen. Während die Leute in Portugal beispielsweise noch über die Kleidung des Verfassers des SL in Staunen geraten und sich fragen, »was denn dieses rote Ding wohl sei« [8], wird er in England anhand dieses Erkennungs856 Glaubitz, Gerald: »Stereotypenproblematik und Reisedidaktik: Methodische Überlegungen und historische Beispiele«, in: Hahn (Hg.): Historische Stereotypenforschung, S. 87. 857 Der Fes wurde 1826 als Kleidungsstück für die Armee eingeführt, deren Bildung bis hin zur Ausrüstung westlichen Standards angepasst werden sollte. 1829 schrieb ein Erlass das Tragen des Fes endgültig vor. Er löste den Turban ab, der nur noch von geistlichen Würdenträgern getragen wurde. Nach den Staatsangestellten übernahm auch die zivile Bevölkerung die neue Kopfbedeckung. Der Fes, dessen Form und Größe sich im Laufe der Zeit veränderte, war ein wichtiger Bestandteil der osmanischen Kultur. Es wird behauptet, dass es sich nicht gehörte, sich ohne einen Fes auf dem Kopf ablichten zu lassen. 1925 wurde das Tragen des Fes durch das Hutgesetz verboten. Siehe Tezcan, Hülya: »Fes«, in: TDVI˙A 12 (1995), S. 415–416.
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zeichens als Ausländer (ecnebı¯) identifiziert und erfährt dort daraufhin eine besondere Behandlung [25 und 78]. Er verbindet seinen Fes mit positiven Attributen und teilt dies seinem Leser mit. Militärische Niederlagen im 18. Jahrhundert führten zur Nachahmung westlicher Konventionen, zu denen auch Uniformen nach europäischer Art gehörten. Dieser Aspekt der »Verwestlichung« brachte neben dem Tragen von Hosen den Fes mit sich. »Hut zu tragen« war hingegen bis zum 19. Jahrhundert unter den Osmanen eine Bezeichnung für Europäer.858 Der Austausch des Turbans durch den Fes galt daher als Zeichen für die Europäisierung und Stärkung der Zivilisation.859 Zudem wurde die nationale Zugehörigkeit durch Tragen des Fes betont, da es ein Symbol einer eigenen Identität darstellte und ein Gefühl von Sicherheit vermittelte.860 Auch in Europa galt der Fes als Indiz für den Osmanen, weshalb er unter anderem auch in Karikaturen als Person mit roter Kopfbedeckung dargestellt wurde, um auf Anhieb als Bürger des Osmanischen Reiches identifiziert werden zu können. Die mehrmalige Betonung des Fes als Erkennungszeichen scheint vom Autor beabsichtigt zu sein, um sich selbst und somit die Osmanen von den anderen Nationen abzugrenzen. Neben der Darstellung von Charaktereigenschaften schafft die Nennung von äußeren Erkennungsmerkmalen ein Eigenbild der Osmanen, welches identitätsstiftend ist. Eigenbilder, so Dyserinck, vermitteln der jeweiligen Gruppe oder Gemeinschaft ein Identitätsgefühl.861 Im folgenden Beispiel geht der Autor auf die Emotionalität der Osmanen ein, indem er über die Melancholie und Depressionen der Engländer berichtet. Diese enden teilweise im Selbstmord, worüber der Autor sich wie folgt äußert: »Da wir in der Mehrheit im Osmanischen Reich (mema¯lik-i ʿOsma¯nı¯ye) es nicht gewohnt sind, solche unschönen Nachrichten zu vernehmen, sind wir davon äußerst ergriffen (insa¯nıñ sevda¯sına tokınıyor) 862 [18].« Seinen persönlichen emotionalen ˙ ˙ Zustand überträgt der Autor hier auf die Allgemeinheit. Er verweist auf das sensible Gemüt der Osmanen, die durch solche traurigen Nachrichten erschüttert werden. Neben der Gefühlslage verweist dieses Beispiel auch darauf, dass es den Osmanen besser zu gehen scheint als den Engländern. Die Schwermut, die im Suizid enden kann, führt der Autor auf das Wetter zurück. Dadurch, dass kein Sonnenlicht zu sehen sei, werde auch er von Tag zu Tag von dieser Schwermut befallen, schreibt er. Nicht nur das Wetter, auch das Klima ist Gegenstand der 858 Aksan, Virginia: »Who was an Ottoman? Reflections on ›Wearing Hats‹ and ›Turning Turk‹«, in: Schmidt-Haberkamp (Hg.): Europa und die Türkei, S. 313f. 859 Konuk: »›Meine Herren, das nennt man einen Hut…‹«, S. 81. 860 Kuneralp: »Les Ottomans à la découverte de l’Europe«, S. 57. 861 Dyserinck: »Komparatistik als Europaforschung«, S. 36. 862 Wörtlich: »ist man/der Mensch davon äußerst ergriffen«. Der Autor bezieht sich hier aber auf die Gruppe der Osmanen, wie aus dem Kontext ersichtlich wird, daher mit »wir« übersetzt.
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Reisebeschreibung. An einer Stelle berichtet er, dass das Wasser so kalt sei, dass das Baden an den Stränden an der Küste Englands problematisch sei. »Da auch das Wasser sehr kalt ist, ist das Thema Baden für uns sehr schwierig [66].« Auf wen sich das Personalpronomen »uns« nun genau bezieht, auf ihn selbst oder auf ihn und seine Leserschaft, ist hier nicht auszumachen. Fest steht jedoch, dass er den folgenden Satz hinsichtlich der moralischen Anforderungen seiner Heimat formuliert. »Auch wenn es sehr unterhaltsam ist, gibt es in gewisser Weise Dinge zu sehen, die gegen die guten Sitten verstoßen [66]«, heißt es da. Das osmanische Volk unterscheidet sich demnach was Anstand und Moral angeht von den Engländern, die recht freizügig zu sein scheinen. Wenn auch nur angedeutet und nicht explizit erläutert, so kann dennoch erahnt werden, worauf der Autor hinaus möchte. Eine explizite Ausformulierung konkreter Charaktereigenschaften, die der Verfasser des SL seinen eigenen Landsleuten zuschreibt, ist im nächsten Beispiel zu sehen. Darin geht es um die Unterschiede zwischen Engländern und Osmanen hinsichtlich Freundschaft und Bekanntschaften. »Sie zeichnen sich gegenüber ihren Freunden und Bekannten jedoch nicht wie wir mit Aufrichtigkeit, Freundschaft und Brüderlichkeit aus [91]«, schreibt der Autor. Bei diesem Beispiel bedarf es keiner Erläuterung, da der Autor konkret die positiven Eigenschaften seiner Landsleute aufzählt. Dass das Thema Freundschaft für ihn von Bedeutung ist, zeigt sich dadurch, dass er es in seiner Reisebeschreibung immer wieder aufgreift. Hier wurden bereits Beispiele für die Punkte Freundschaft und Geselligkeit erörtert. Der Autor betont, dass Engländer keine engen Freundschaften pflegen und sich außer einem Gruß nicht auf Konversationen einlassen. Neben dem Aspekt der Freundschaft werden hier noch zwei weitere Tugenden genannt: Aufrichtigkeit und Brüderlichkeit. Es kommt sehr selten vor, dass im SL einzelne Eigenschaften so explizit genannt werden. Vermehrt finden Umschreibungen und Hinweise statt, die auf bestimmte Werte hindeuten. Im vorliegenden Reisebericht werden die Osmanen weitestgehend mit positiven Eigenschaften versehen. Kritik wird nur indirekt geäußert, indem positive Charakteristika der Engländer durch den Autor hervorgehoben werden. Diese positiven Charakteristika überwiegen gegenüber den negativen. Aber nicht nur das Verhalten der Osmanen, sondern auch ihre Gewohnheiten stehen im Kontrast zu denen der Engländer und werden positiv bewertet. Über den Kaffegenuss der Engländer berichtet der Verfasser des SL zum Beispiel: »Sie bereiten ihren Kaffee derart zu, dass aus einer Tasse Kaffee, den wir trinken [würden], zwanzig oder dreißig Tassen gezuckerter Kaffee herauskommen, so dass sogar das Ornament am Tassenboden zu erkennen ist« [67f]. Hier beanstandet der Autor, dass die Engländer ihren Kaffee im Vergleich zu den Osmanen sehr dünn trinken würden, so dass man bis auf den Tassenboden hindurch sehen könne. Indem er sich dergestalt äußert, verweist er auf die Qualität des türkischen Kaffees, der im
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Osmanischen Reich zu einem der geläufigsten Konsumgüter der damaligen Zeit gehörte.863 Im selben Atemzug nennt er den in England konsumierten Tabak und beschreibt ihn zusammenfassend wie folgt: »Ihr Tabak ist viel zu stark, schmeckt abscheulich und ist nicht zu genießen [67].« Der Istanbuler Tabak, den der Autor bei sich hatte und den er an ein paar Leute verteilte, sei gern genommen worden, schreibt er. Auch hier lobt er die Qualität des aus dem Osmanischen Reich kommenden Produkts und wundert sich darüber, dass in England keine Nachfrage bestünde, obwohl dies doch einen guten Handelsfaktor ergebe, wo doch in seiner Heimat reichlich von dem äußerst beliebten Tabak vorhanden sei. Neben Tabak und Kaffee kritisiert der Autor das Essen der Engländer, das sehr einseitig sei. Sie ernähren sich von Kartoffeln und rohem Fleisch, trinken dazu Bier und Wein [11], heißt es an einer Stelle. Schafsfleisch sei nicht gerne gesehen [77], schreibt der Verfasser des SL, und die Engländer liebten Rindfleisch [76]. Die Engländer seien sowieso auf Rinder angewiesen, da ihre Schafe mager seien. Die wohlgenährten Karaman-Schafe mit ihren Fettschwänzen seien den Engländern überhaupt erst gar nicht bekannt [77], merkt er dabei an. Der Verweis darauf, dass sich die Engländer wie in anderen Bereichen auch beim Essen und Trinken nicht zurückhalten könnten, deutet darauf hin, dass die Osmanen nach Ansicht des Autors im Gegenteil dazu sehr maßvoll sind. Hier haben wir es mit einer Reihe positiver Merkmale auf Seiten der Osmanen zu tun. Dieses Bild seiner eigenen Landsleute schafft der Autor anhand der Darstellung von Unterschieden zwischen den Engländern und Osmanen, wobei diese generalisiert und überspitzt werden, was in der Literatur durchaus vorkommt. Die Unterschiede zwischen den Eigenschaften der Völker werden in der literarischen Darstellung durchgehend dramatisiert, d. h. die vermeintlichen oder tatsächlichen Unterschiede oder Gegensätze werden verstärkt oder in sensationellen Kontrasten verzerrt. Dabei tritt eine ethnozentrische Tendenz zutage: Die vertraute Welt des Eigenen wird als Norm, das Fremdartige des anderen Volkes als komische oder verächtliche Deviation von dieser Norm verstanden. Mit einer solchen ethnozentrischen Sicht verbinden sich sodann häufig Vorstellungen von der Sonderstellung oder Auserwähltheit des eigenen und der Verworfenheit des fremden Volkes.864
Die Darstellung der eigenen Kultur und Landsleute ist für den Schreiber eine Möglichkeit, in Abgrenzung zu einer anderen Nation seine eigene Identität und auch die seiner Leserschaft zu betonen. Die Nation ist für den Menschen »in der neueren Geschichte zu einem der mächtigsten Identifizierungskomplexe geworden«, beschreibt Schwarz dieses Phänomen.865 Es ist also nicht verwunderlich, dass der Autor des SL in der Zeit der Nationalbildungsprozesse derart auf die 863 Bostan, I˙dris: »Kahve«, in: TDVI˙A 24 (2001), S. 205. 864 Stanzel: »Das Nationalitätenschema in der Literatur«, S. 85. 865 Schwarz: »Die sechste Schwierigkeit beim Schreiben der Wahrheit«, S. 12.
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Gemeinsamkeiten und Unterschiede seiner eigenen Landsleute und der zur Abgrenzung dienenden Engländer eingeht. Bei diesen Gegenüberstellungen kommt eher selten der folgende Fall vor, dass nämlich beide Seiten explizit mit ihren einander gegensätzlichen Merkmalen genannt werden. Das Beispiel wurde ebenfalls bereits unter der dritten Technik des Vergleichs bei der Herausarbeitung des Heteroimages erwähnt und verweist auf die Unterschiede zwischen den Engländern und Osmanen. Laut Autor unterscheiden sich diese beiden Bevölkerungsgruppen darin, »dass, wenn wir an einem Ort zusammenkommen, wir uns begrüßen, gemeinsam eintreten und uns mit jedem im guten Einvernehmen befassen. Sie hingegen grüßen niemandem und unterhalten sich mit keinem, den sie nicht kennen« [90]. Daraus lässt sich schließen, dass die Osmanen ein geselliges Volk sind, die ein anderes Verständnis von Freundschaft und Unterhaltung als die Engländer haben. Der Leser gewinnt den Eindruck, dass die Osmanen ihre Freundschaften pflegen, gerne gemeinsam Zeit verbringen und sich vor allem auch austauschen. Dadurch, dass die Osmanen nach Ansicht des Autors auf das menschliche Miteinander, gemeinsame Unternehmungen und ein gutes Auskommen untereinander großen Wert legen, stehen sie in einem klaren Gegensatz zu den Engländern. Was die sprachliche Ebene anbelangt, so ist das im Beispiel aufgeführte »wir« die Osmanen, zu denen sich der Autor zählt, und »sie« sind die Engländer. Die verwendeten Pronomen stehen demnach für nationale Kategorien. An dieser Stelle produziert der Verfasser des SL ein eindeutiges Bild der Osmanen im Unterschied zu den Engländern. Beide Seiten werden explizit zur Sprache gebracht. Im Falle der reziproken Argumentation reicht es im Grunde, eine Seite mit Anerkennung und Lob zu beschreiben bzw. kritisch darzustellen, um auf die gegenteiligen Eigenschaften bei der anderen Kultur zu verweisen. Hier jedoch werden die konträren Besonderheiten ausformuliert. Durch das hier verwendete inklusive »wir« wird der Leser, in diesem Fall der osmanische Leser, mit in die Gruppe einbezogen. Der Autor stellt den Osmanen als freundlich, offen und gesprächsfreudig dar. Er steht in deutlichem Kontrast zu dem als wortkarg und in sich gekehrt dargestellten Engländer. Der Autor vermittelt ein stereotypes Bild seiner eigenen Landsleute, wobei durch die Pronomen »wir« und »uns« auf eine Referenzgröße verwiesen wird, »die den schemagebundenen Bezug von Standardwerten ermöglicht.«866 Das »wir« gehört zudem zu den sprachlichen Realisierungsformen, die dazu eingesetzt werden, »Gleichheit zu implizieren«867 und Identität zu schaffen. Wenn der Autor sich mit den Lesern zu einer Gruppe, nämlich der der Osmanen, zusammenschließen möchte, verwendet er Formu866 Pümpel-Mader: Personenstereotype, S. 94. 867 Wodak, Ruth et al.: Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, Frankfurt am Main 1998, S. 99.
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lierungen mit Personalpronomen. Neben dem »wir« verwendet der Autor ebenfalls das Pronomen »unser/e«. Er spricht von »unseren Marionetten« und »unseren Figuren«, als er auf die Puppenspiele in England eingeht [84] und verweist dabei auf die Unterschiede zu den osmanischen Schattenspielen, deren Figuren »als überaus originell (tuhaf) und kunstvoll (musannaʿ) gesehen wer˙ ˙ den«. Es sind auch »unsere Verrückten«, über die die Leute der anderen Länder nichts wissen [70] und »unsere Bettler«, die lästiger sind, als die Bettler Englands [84]. Ebenso spricht er auch von »unsere[n] muslimischen Ringer[n]«, die geschickter als die englischen Ringkämpfer sind [89]. Auch die Formulierung »wie wir es kennen« stellt neben der Abgrenzung zu anderen Gruppen ein verbindendes Element zwischen Autor und Leser dar. So funktioniert die auf der Londoner Weltausstellung ausgestellte Druckmaschine nicht so »wie wir es kennen (bildig˘imizce)«, da das Papier anders eingelegt wird [16], und auch der Cricketball ist »nicht so wie wir ihn kennen (bizim bildig˘imiz gibi olmayub).« Da er fester ist, fliegt er auch weiter, stellt der Autor fest [82]. Das Schlachten von Rindern und Schafen stellt sich auch als anders dar, da es nicht möglich ist, die Tiere »an den Beinen zusammenzubinden und zu schlachten, so wie wir es aus Istanbul kennen (bizim ˙Istanbulʿda gördimiz gibi) [24].« Und auch die Handwerker und Arbeiter in England scheinen sich von denen in der Heimat zu unterscheiden, da es nicht solche sind, »wie wir sie aus Istanbul kennen (bizim Der-saʿa¯detʿde gördimiz gibi).« Die osmanischen Arbeiter machen sich freitags und an freien Tagen nämlich fein, um wie jeder andere ihre Freizeit zu verbringen [36]. Und auch das bereits erwähnte Puppenspiel (ku¯kla oyunı) ist in London ˙ ˙ »nicht so wie wir es kennen und erleben (bizim bildig˘imiz ve gördimiz gibi)« [84]. Die von den Engländern für das Pfeilschießen verwendeten Pfeile und Bögen, sind allerdings »so wie wir sie kennen« [83], merkt der Verfasser des SL an. Um sich selbst der Gruppe der Leserschaft zuzuordnen setzt er verschiedene sprachliche Strategien ein. Er verwendet einzelne Pronomina, die ihn als zur Gruppe der Leserschaft und der osmanischen Gesellschaft zugehörig auszeichnen, aber auch bestimmte Satzkonstruktionen führen zu demselben Ergebnis. Pümpel-Mader verweist darauf, dass sich das »uns« bzw. das »wir« auf die Personengruppe bezieht, zu der die sprechende Person gehört, aber gleichzeitig auch auf die Bevölkerung des Landes, um das es geht und das kurz vorher genannt wurde, in unserem Fall also das Osmanische Reich. Die Bevölkerung des Osmanischen Reiches ist demnach eine nationale Kategorie, die als »metonymischer Ankerausdruck« vor dem Pronomen im Text genannt wird. Das Pronomen nimmt dann Bezug darauf, ist selbst »keine stereotype Ausdrucksform, aber ein Ausdruck, der auf eine Referenzgröße verweist, die den schemagebundenen Bezug von Standardwerten ermöglicht.« Weiter erklärt Pümpel-Mader, dass für die Tatsache, dass ein Pronomen dazu ausreicht, auf eine soziale Kategorie zu verweisen, um die Standardwerte des Schemas aufzurufen, eine schemabezogene
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Konstituierung von Wissen verantwortlich ist. Das bedeutet, dass für jede Kategorie ein bestimmtes »Inventar« vorhanden ist, das nicht nur die sozialen Kategorien, sondern auch die an sie gebundenen Aktivitäten umfasst. Daher genügt es, auf eine zu verweisen, um die Standardwerte des Schemas aufzurufen.868 Der Autor des vorliegenden Reiseberichts arbeitet mit nationalen Kategorien und Schemata. 5.2.2.2 Die negative Darstellung der Osmanen Im folgenden Beispiel beschreibt der Autor das Verhalten der Engländer im Falle eines Feuers und verweist dabei auf deren unterschiedliches Benehmen im Vergleich zu seinen eigenen Landsleuten. Während in den vorangegangenen Beispielen die Osmanen mit positiven Attributen versehen worden sind, werden in diesem Textbeispiel die Engländer für ihr Verhalten und ihre Vorgehensweise gelobt. Der Autor äußert, wenn auch nur indirekt, Kritik an seinen eigenen Landsleuten, indem er sagt, was in England nicht vorkommt und hebt dabei das Verhalten der Engländer positiv hervor. Bei Brandfällen kommt es »hier nicht vor, dass sich alle versammeln, um die Wasserpumpe drängen und Wasserträger Wasser herbeibringen, so wie wir es kennen« [49]. Falls sich doch jemand einmischen sollte, berichtet der Autor weiter, werde dieser mit Schlägen vertrieben. Zudem werde ohne viel Aufsehens und Gerede das Feuer gelöscht. Angetan von dem Umgang mit und Verhalten bei Bränden, berichtet der Verfasser des London-Reiseberichts, was im Falle eines Feuers eben nicht auftritt. Der Verfasser übt in diesem Fall Kritik an der Verhaltensweise seiner eigenen Leute. Dabei erfahren die Engländer eine tendenzielle Aufwertung, bei der sie als Vorbilder stilisiert werden.869 Die Formulierung unterscheidet klar zwischen den Osmanen und den Engländern. Gleichzeitig wird die eigene Kultur in Frage gestellt. Dies ist typisch für die dritte Technik des Vergleichs, bei der sich zwei Kulturen durch reziprok zueinander stehende Eigenschaften auszeichnen. Durch die positive Darstellung der fremden Kultur wird auf gegenteilige Charakteristika in der eigenen Kultur verwiesen. Anhand der gegensätzlichen Eigenschaftspaare, mit denen sich der Autor hier befasst, lassen sich folgende asymmetrische Grundbegriffe ausmachen: organisiertes Handeln und strukturiertes Vorgehen auf Seiten der Engländer vs. Chaos und Sensationslust bei den Osmanen. Es geht also um Unterschiede zwischen der beschreibenden und der beschriebenen Kultur. Im Unterschied zur ersten Technik müssen hier nicht die beiden einander gegenübergestellten Seiten explizit genannt werden. Es reicht aus, durch die negative 868 Pümpel-Mader: Personenstereotype, S. 94f. 869 Hupfeld: Zur Wahrnehmung und Darstellung des Fremden, S. 288f.
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oder positive Darstellung der einen Kultur auf die gegenteilige Eigenschaft der anderen hinzudeuten. Durch das hier angesprochene Verfahren, verweist der Autor darauf, dass die Engländer nicht viele Worte verlieren, sondern handeln. Zudem verwendet er die Formulierung »so wie wir es kennen« (öyle bildig˘imiz gibi) (an anderen Stellen im Text auch als bildig˘imizce bzw. bizim bildig˘imiz ve gördimiz gibi870 und in einem Satz sogar als bizim ˙Istanbulda gördimiz gibi – so wie wir es aus Istanbul kennen). Das Beschriebene ist nicht derart, wie der Autor und der Leser es aus der Heimat kennt. Die genannte(n) Formulierung(en) steht/ en also im Kontrast zum Adverb »hier«, das auf den Ort hindeutet, an dem sich der Sprecher befindet, womit er unmittelbar auf das Prinzip der Gegenseitigkeit hinweist. Bei dem »wir« handelt es sich um ein inklusives »wir«, das den Autor und den Leser mit einschließt. Die Kritik am Gerede der Osmanen geschieht indirekt, da er formuliert was in England nicht passiert. Die an anderer Stelle als positiv dargestellte Gesprächsfreude der Osmanen wird in diesem Beispiel durch die Hervorhebung der vom Autor anerkennend wahrgenommenen Zurückhaltung der Engländer als negativ präsentiert. Der Autor bringt hier zwar den Satz »wie wir es kennen« an, nennt aber keine direkte Eigenschaft der Osmanen, sondern wieder eine abwesende Eigenart der Engländer. Im Umkehrschluss vermittelt der Autor also den Eindruck, dass sich seine Landsleute im Falle eines Feuers in Gruppen ansammeln, um die Wasserpumpen drängen und das Wasser von Wasserträgern herbeigebracht wird. Er erläutert im Anschluss noch weiter, wie die englische Feuerwehr arbeitet und bei Bränden vorgeht. Das Aufzeigen von nicht vorhandenen Eigenarten der Engländer oder Gegebenheiten in England ist die indirekte Art, die Merkmale der Bewohner des Osmanischen Reiches hervorzuheben oder zu hinterfragen. Möchte er dies auf direkte Weise tun, ordnet er den Osmanen selbst bestimmte Eigenschaften zu, die er unmittelbar zu Sprache bringt. In den bisherigen Beispielen wurde nur indirekt auf das Vorhandensein von Eigenschaften bei den Osmanen verwiesen, indem der Autor zur Sprache gebracht hat, was bei den Engländern fehlt oder was sie besser können. Das nächste Beispiel fällt einerseits in denselben Bereich, andererseits birgt es wieder einen verdeckten Vorwurf in sich. Der Autor äußert Kritik an einzelnen Gruppen im Osmanischen Reich, wie in diesem Fall den Schneidern, indem er wieder darauf hinweist, was den Engländern nicht passiert. So spricht er von den Blinden in England, die des Nähens mächtig sind und »sich bei den Kleidern nicht [vernähen], so wie wir es von manchen Schneidern kennen« [73]. Er gliedert sich wieder in die Gruppe der Leserschaft ein und übt aus dieser Position 870 Originaltext S. 16 u. S. 84.
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heraus Kritik an den osmanischen Schneidern, von denen sich manche zu vernähen scheinen. Die Art der Formulierung suggeriert, dass dies ein bekanntes Phänomen ist, und dass der Leser ebenfalls darüber Bescheid weiß. Die Blinden erfahren ein Lob, während die Schneider kritisiert werden. Beide Seiten werden explizit mit ihrer jeweiligen positiven und negativen Eigenschaft genannt. Durch die Zuordnung zu einer größeren Gruppe vermittelt der Autor das Gefühl, dass die von ihm gemachten Aussagen nicht seiner Meinung entspringen, sondern von der übergeordneten Gruppe stammen und er diese lediglich wiedergibt. Zudem weckt diese Methode den Eindruck, eine allgemeingültige Information überliefert zu bekommen und schafft Kategorisierungen, die eine individuelle Zuordnung zu einer Gruppe möglich machen.
5.2.3 Zwischenfazit Autoimage Im Unterschied zu seinen Landsleuten, die in die entgegengesetzte Richtung, nämlich ins »muslimische Outback« gereist sind, erlebt unser Autor kein Überlegenheitsgefühl gegenüber dem von ihm bereisten Land und der Kultur. Osmanische Reisende nach Indien oder in den Sudan, um nur zwei Beispiele zu nennen, fühlten sich aufgrund ihres Herkunftslandes, das als das mächtigste und fortschrittlichste muslimische Land galt, den bereisten muslimischen Kulturen zumeist überlegen.871 Der Verfasser des SL, der ins Mutterland der Industrialisierung reist, hat das Bedürfnis darzulegen, dass sein eigenes Land und seine eigenen Landsleute Großbritannien und seinen Errungenschaften in keiner Weise nachstehen. Bei seiner Darstellung erfahren die Osmanen zwar auch Kritik, aber diese ist meist nur indirekt geäußert und auch nicht massiv. Mehr als das werden allerdings die positiven Eigenschaften der Osmanen in den Vordergrund gestellt. Sie erhalten beispielsweise Lob und Anerkennung für ihren Umgang mit Freunden, ihre gesellige Art, ihre Brüderlichkeit, ihr maßvolles Verhalten in verschiedenen Angelegenheiten, ihre frohe Natur, ihr ausgeglichenes Verhältnis zur Arbeit etc. In einem positiven Licht werden auch Waren des Osmanischen Reiches wie Tabak und Kaffee präsentiert. Bei der Analyse des Autoimages stellt sich heraus, dass London bzw. England und seine Bevölkerung als Kulisse für die Selbstdarstellung des Autors als Vertreter der osmanischen Gesellschaft dienen. Der »Andere«, in diesem Fall der Brite, hat daher – was das vom Autor geschaffene Autoimage der Osmanen angeht – eine rein symbolische Funktion inne. Er dient zur Vergegenwärtigung der eigenen Identität. In allen genannten Beispielen wird durch die Darstellung des Fremdbilds ein Selbstbild geschaffen. Das Fremdbild ist somit der Spiegel des eigenen Bildes. Durch die Gegenüber871 Herzog und Motika: »Orientalism Alla Turca«, S. 179.
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stellung der beiden Kulturen gelingt es dem Autor, sich selbst und seine Leserschaft einer größeren Gruppe, nämlich der der Osmanen, zuzuordnen und so in Abgrenzung zu den Engländern ein Identitätsgefühl zu schaffen. Durch die klare Einteilung in eigen und fremd findet eine Kategorisierung statt, die Denkschemata mit sich bringt, die für die Zuordnung von nationalen Eigenheiten notwendig sind. Die vom Autor angebrachten Charakteristika dienen daher dazu, ein Gefühl der Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit der Osmanen in Abgrenzung zu den Engländern zu schaffen, denen sie in keinster Weise unterlegen sind, sondern durchaus auf gleicher Augenhöhe begegnen können.
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Darstellungsmodi
Auf die Problematik zwischen der erlebten Wirklichkeit und deren sprachlichen Repräsentation in Reiseberichten wird in der Literatur stets verwiesen. Nünning bezeichnet es als kennzeichnendes Merkmal, dass Reiseberichte so täten, als sei die sprachliche Darstellung der während einer Reise gewonnenen Erfahrungen und Eindrücken geradezu unproblematisch.872 Reisende stehen aber nun einmal grundsätzlich vor der Schwierigkeit »das Fremderlebnis adäquat vermitteln zu können.«873 Jedoch verfügt jeder Verfasser eines Reiseberichts über eine Auswahl an Strategien zur Bewältigung dieser Diskrepanz, die »zwischen der gedanklichen Erfassung und dem realisierten Text« entsteht und welche Kleinschmidt generell als »eine Konstante der Reiseliteratur« bezeichnet.874 In der vorliegenden England-Beschreibung lassen sich insbesondere drei Strategien feststellen, die im Laufe der Erzählung immer wiederkehren. Konkret handelt es sich dabei um das Motiv des Staunens, den Topos der Unbeschreibbarkeit und die Bemühungen um Glaubwürdigkeit des Autors. Im Zusammenhang mit dem im vorliegenden Reisebericht übermittelten und vom Autor produzierten Bild der Engländer, Englands und gleichzeitig der Osmanen wird hier der Frage nachgegangen, inwiefern diese Strategien die überlieferte Darstellung unterstützen.
872 Nünning: »Zur Präfiguration / Prämediation«, S. 13f. 873 Kuczynski: »Verunsicherung und Selbstbehauptung«, S. 64. 874 Kleinschmidt, Erich: »Die Ordnung des Begreifens. Zur Bewußtseinsgeschichte urbaner Erfahrung im 18. Jahrhundert«, in: Wiedemann (Hg.): Rom – Paris – London, S. 48.
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5.3.1 Motiv des Staunens Bei der Darstellung von Bildern vom Anderen urteilen die Autoren auf direktem oder indirektem Wege über alles, was ihnen bei der Beschreibung der beobachteten Länder, Völker und Kulturen »fremd, vom Eigenen verschieden und bemerkenswert vorkommt«.875 Ausschlaggebend dafür ist der Umgang mit dem Fremden, das Neugier, Verblüffung und Faszination hervorruft und so ziemlich alles betreffen kann. Dumont stellt diesbezüglich folgendes für osmanische Reiseberichte über Europa fest: »Indeed, when one reads the Ottman travel accounts one soon realizes that for their authors everything is different in Europe, everything is foreign and exotic.«876 In seinem Beitrag zum Sprachgebrauch im SL macht Turan bereits darauf aufmerksam, dass sein Verfasser häufig Ausdrücke des Erstaunens und der Verblüffung verwendet und zwar immer dann, wenn er sich mit Neuheiten konfrontiert sieht.877 Der Aspekt des Neugier, der »als Modus sowohl der Wahrnehmung wie der Repräsentation«878 erscheinen kann, ist dabei keine Besonderheit des vorliegenden Reiseberichts, sondern nimmt als »das rekurrente Motiv« bei den Londonreisenden des 19. Jahrhunderts – und sicherlich auch bei anderen Großstadtreisenden – eine zentrale Rolle ein.879 »Das Staunen über Londons Ausdehnung etwa, seinen Reichtum und das Gewühl auf den Straßen« findet sich so auch in deutschen Reiseberichten zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder.880 Dieser Zustand des Staunens kann durch die Konfrontation mit Wunderbarem oder Verwunderlichem ausgelöst und durch positive Bewunderung oder ablehnende Verwunderung zum Ausdruck gebracht werden.881 Konuk fasst diese Haltung Reisender unter dem Terminus »Aspekt der Neugier« zusammen882 und setzt es mit dem Begriffspaar ʿaca¯ʾib ve g˙arı¯b883 gleich, eine Bezeichnung, die laut Herzog und Motika Wissbegierde und das 875 876 877 878 879 880 881 882 883
Beller: »Das Bild des Anderen«, S. 21. Dumont: »Western exotism«, S. 135. Turan: »Forming the modern lexicon«, S. 160. Burghartz: »Aneignungen des Fremden«, S. 113. Wülfing: »Medien der Moderne«, S. 475. Fischer: Reiseziel England, S. 603. Burghartz: »Aneignungen des Fremden«, S. 114. Konuk: »›Meine Herren, das nennt man einen Hut…‹«, S. 82. Eigentlich: ʿaca¯ʾib ve g˙ara¯ʾib. ʿAca¯ʾib bzw. ʿacı¯ba¯t als Pluralformen zu ʿacı¯b haben die Bedeutung: »erstaunliche Sache, Merkwürdigkeit, Wunder, Bewunderung.« Siehe Zenker: »ʿacı¯b«, Türkisch-Arabisch-Persisches Handwörterbuch, S. 623; g˙ara¯ʾib bzw. g˙arı¯ba¯t als Pluralformen zu g˙arı¯b haben die Bedeutung: »seltsame oder wunderbare Sache oder Begebenheit, Wunder, Merkwürdigkeit.« Siehe Zenker: »g˙arı¯b«, Türkisch-Arabisch-Persisches Handwörterbuch, S. 647. Herzog und Motika übersetzen das Begriffspaar mit »wonders and curiosities«. Siehe Herzog und Motika: »Orientalism Alla Turca«, S. 148. Turan verwendet die Begriffe »strange and amazing« für ʿacı¯b und g˙arı¯b. Siehe Turan: »Forming the modern lexicon«, S. 160.
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Bedürfnis nach Abwechslung884 bzw. laut Yazar ein Gefühl des Erstaunens oder der Befremdung gegenüber einer Person, einer Sache, einer Einstellung oder einem Ereignis885 ausdrückt und in der traditionellen rihla-Literatur886 verankert ˙ ist.887 Obwohl diese beiden Begriffe in ihrer Konnotation leicht voneinander abweichen, werden sie dennoch in dieser Kombination in der gesamten muslimischen Welt als gleichbedeutend verwendet.888 Dass das Genre der Reiseliteratur zu den Gattungen gehört, in denen der Begriff der Verwunderung vermehrt Verwendung findet, stellt auch Yazar in seinem Artikel heraus. Seine Untersuchung zu dem Begriff des ʿaca¯ʾib in osmanischen Reiseberichten des 16. Jahrhunderts ergibt, dass dieser Aspekt der Neugier einerseits seinen Ursprung in arabischen Werken, darunter auch Reiseberichten, hat und durch Übersetzungen ins Osmanische in die osmanische Reiseliteratur eingegangen ist. Andererseits beruht er auf eigenen Beobachtungen und Erhebungen osmanischer Reisender und Geografen.889 Von Hees verweist darauf, dass arabische Reisende und Geografen sich inhaltlich mit konkreten Dingen wie Gebäuden und Plätzen etc. befassten, die bei ihnen beim Betrachten Staunen hervorriefen, die sie wiederum als interessant und der Leserschaft als mitteilenswert erachteten. Die Leserschaft sei es auch, bei der dieselbe Faszination wie beim Reisenden, der alles selbst erleben kann, ausgelöst wird.890 Der Topos der Verblüffung und des Erstaunens, den auch andere Autoren wiederholt zur Sprache bringen, gehört laut Dumont zur Eigenart des Genres Reisebericht. Aufgrund des damaligen regen Kontakts zwischen dem Osmanischen Reich und den Ländern Europas sind diese Verwunderungsbekundungen seiner Ansicht nach jedoch selbst recht erstaunlich, da Europa im Grunde keine Neuheit für die Reisenden darstellte. Er versucht dies damit zu erklären, dass es 884 Herzog und Motika: »Orientalism Alla Turca«, S. 150. 885 Yazar, Sadık: »XVI. Yüzyıl Türkçe Seyahatnamelerinde Aca¯ib« [Aca¯ib in türkischen Reiseberichten des XVI. Jahrhunderts], in: Millı¯ Folklor (2014), Yıl 26, Sayı 103, S. 99. Auch Zenker verweist unter dem Eintrag ʿacı¯b (Singularform zu ʿaca¯ʾib bzw. ʿacı¯ba¯t) darauf, dass dieser Begriff gleichbedeutend ist mit g˙arı¯b. Siehe Zenker: »ʿacı¯b«, Türkisch-Arabisch-Persisches Handwörterbuch, S. 623. 886 Rihla bedeutet im Arabischen »Reise«, analog ist dazu ist mit rihla-Literatur die Reiselite˙ gemeint. Siehe Netton, I.R.: »Rihla«, in: Encyclopaedia of ˙ Islam, Second Edition. ratur ˙ Bosworth, E. van Donzel, W.P. Heinrichs. Brill Edited by: P. Bearman, Th. Bianquis, C.E. Online, http://referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaedia-of-islam-2/rihlaSIM_6298 (01. 05. 2015). 887 Herzog und Motika: »Orientalism Alla Turca«, S. 150. 888 Für das Osmanisch-Türkische ist die Verwendung zweier redundanter Begriffe wie hier typisch. Ihre Bedeutung wird durch die doppelte Verwendung verstärkt. 889 Yazar: »XVI. Yüzyıl Türkçe Seyahatnamelerinde Aca¯ib«, S. 99ff. 890 Von Hees, Syrinx: »The Astonishing: a critique and re-reading of ʿAgˇa¯ʾib literature«, in: Middle Eastern Literatures, Vol. 8, No. 2 (July 2005), S. 104.
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einen guten Reisebericht ausmachte, Vorstellungskraft und Entfremdung zu vermitteln. Die osmanische Reiseliteratur lege zudem eine solche Gewichtung auf die Merkwürdigkeiten Europas, »because, we are entitled to think, the Ottoman elite was engaged in the process of contructing and structuring a new Nation, capable to compete with the modern Nations of the West.« Aus diesem Grund musste die Einzigartigkeit des Osmanischen Reiches und die Fremdartigkeit der europäischen Kultur betont werden.891 Was ist es nun konkret, was den Autor des vorliegenden Reiseberichts in Staunen versetzt und wie bringt er seine Haltung sprachlich zum Ausdruck? Das Phänomen des staunenden Sehens und das Bedürfnis, scheinbar Sonderbares zur Sprache zu bringen, ziehen sich durch die gesamte Reisebeschreibung. Gleich zu Beginn wird bei unserem Autor in England durch Kennzeichnendes für Fortschritt und Technologie wie Eisenbahn und Telegrafenkabel, aber auch durch die Exponate der Ausstellung eine gewisse Faszination ausgelöst. Dumont verweist in seinem Beitrag auch insbesondere auf den Verfasser des SL, der bei der anschließenden Schilderung der Ausstellung »a boundless admiration for the technological marvels which were exhibited« zum Ausdruck bringt. Die dem Westen zugeschriebene technologische Überlegenheit bezeichnet Dumont als eine der Hauptkomponenten des »European dream«, der dem osmanischen Leser vermittelt wurde.892 Diese technologischen »Wunder« sind lediglich ein Teil der Dinge, die die Bewunderung und Verwunderung des Verfassers des SL hervorrufen. Dieser spricht an zahlreichen Stellen im Text von Merkwürdigkeiten, Wunderlichkeiten und Kuriositäten. Was ihn in Staunen versetzt, sind Sachverhalte, Gegebenheiten oder Gegenstände, die auf Vergleichen mit vorhandenen oder fehlenden Entsprechungen in seinem Herkunftsland beruhen. Mitunter gehören dazu das Angeln (»Ich habe aus nächster Nähe gesehen, dass zu Londons Merkwürdigkeiten (ʿaca¯yı¯b) 893 eine Art des Fischens gehört« [50]), das Baden am Strand (»Die Sache mit den Badestätten am Meer ist eine der Merkwürdigkeiten (umu¯r-i g˙arı¯be) Englands [66]), die Blinden (»Eine weitere Sache, die mich in London in Staunen (istig˙ra¯b) versetzt hat, ist die Situation der Blinden« [72]), die Zugtiere (»Abgesehen davon gehören auch die Zugtiere zu den Kuriositäten (ʿaca¯yı¯ba¯t) [66])« und vieles mehr. Auch wenn der Autor generell feststellt, dass schon seit jeher »das seltsame Tun und Gehabe (ahva¯l-ı ʿacı¯be ve etva¯r-ı g˙arı¯be) ˙ ˙ der Engländer den Menschen in Erstaunen [versetzen] (muhayyir-i ʿuku¯l olub)«, ˙ ˙ [34] begründet er die Auswahl seiner Beschreibungen damit, nur die »äußerst staunenswerten Angelegenheiten beschrieben« [90] zu haben.
891 Dumont: »Western exotism«, S. 133f. 892 Dumont: »Western exotism«, S. 135. 893 Zur Schreibweise des Begriffs siehe FN 641.
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Wann immer sich der Autor mit Merkwürdigkeiten, Kuriositäten und Neuheiten konfrontiert sieht, bedient er sich vieler Begriffe, die Erstaunen, Verwunderung und Überraschung ausdrücken. Er setzt zwar nicht das oben erwähnte Wortpaar ʿaca¯ʾib ve g˙arı¯b bzw. aca¯ʾib ve g˙ara¯ʾib ein, verwendet die darin vorkommenden Begriffe aber einzeln, zum Teil in Wortformen, die aus dem Wortstamm hergeleitet werden, oder in Komposita aus diesen wie zum Beispiel bei ahva¯l-ı ʿacı¯be ve etva¯r-ı g˙arı¯be (»das seltsame Tun und Gehabe«), ahva¯l-ı ˙ ˙ ˙ g˙arı¯be (»seltsame Gegebenheiten«) oder keyfı¯ya¯t-ı ʿacı¯be (»kuriose Angelegenheiten«), aber auch umu¯r-i g˙arı¯be (»Merkwürdigkeiten bzw. merkwürdige Angelegenheiten«) oder ha¯la¯t-ı g˙arı¯beler (»sonderbare Situation«) und vuku¯ʿa¯t-ı ˙ ˙ g˙arı¯be (»sonderbare Ereignisse«). Daneben verwendet der Autor auch weitere Wortformen dieser Begriffe wie istig˙ra¯b (»Staunen«) oder taʿaccüb (»überrascht«), aber auch taʿaccüb ve tahayyür (»Erstaunen und Verwunderung«). Das ˙ letzte Beispiel verweist neben ʿaca¯ʾib und g˙arı¯b auf einen weiteren Ausdruck des Erstaunens, nämlich tahayyür bzw. hayret (»Staunen, Verwunderung«). Im Text ˙ ˙ findet man ihn auch in der Konstellation muhayyir-i ʿuku¯l »(den Verstand in ˙ ˙ Erstaunen versetzten«) und in der Doppelung hayra¯n hayra¯n (»voller Bewun˙ ˙ derung« bzw. »vollkommen erstaunt«). Im Unterschied zu ʿacı¯b und g˙arı¯b (und deren weiteren Wortformen) kann der dritte hier genannte Begriff neben Überraschung, Erstaunen und Verwunderung auch eine gewisse Verwirrtheit oder aber Bewunderung mittransportieren. Kurz nach seiner Ankunft in London etwa geht der Verfasser des SL »voller Bewunderung (hayra¯n hayra¯n) durch die ˙ ˙ Stadt« [9] und als er für einen Eintausch eines Wertscheins in die Bank geht, ist er über die unkomplizierte Abwicklung der Angelegenheit dermaßen perplex, dass er »darüber verwundert war und ihn [den Bankangestellten] erstaunt (hayra¯n ˙ hayra¯n) anblickte« [71]. Als er über die Kunstfertigkeit der Gaukler auf den ˙ Jahrmärkten in Greenwich berichtet, kommt er sogar zu dem Schluss, dass das, was die Gaukler vollbringen, »den Menschen an den Rand des Fassbaren (du¯ça¯r-ı vartaʾ-ı tahayyür) [bringt]« [26]. ˙ ˙ Mehr als diese drei findet sich jedoch das Wort tuhaf (»sonderbar, eigenartig, ˙ merkwürdig, komisch etc.«894) im SL. An einer Stelle steht es sogar in der Bedeutung »originell« und zwar dort, wo der Autor auf Marionetten zu sprechen kommt und bemerkt, dass »unsere Figuren als überaus originell (tuhaf) und ˙ kunstvoll (musannaʿ) gesehen werden« [84]. Zumeist einzeln gebraucht, taucht ˙ es in der Form tuhaf bir ¸sey bzw. (bir) tuhaf ¸sey (»eine seltsame Sache«), tuhaf bir ˙ ˙ ˙ keyfı¯yet (»eine komische Begebenheit«) oder aber in der Doppelungen tuhaf ˙ tuhaf (»äußerst seltsam«) auf. Auch folgende Formulierung lässt sich im Text ˙ finden: tuhaflıkları da ʿacı¯b olub (»auch ihre Marotten sind sonderbar«) und ˙ stellt die Steigerung des Absonderlichen dar. Während die bisher genannten 894 Steuerwald: »tuhaf«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 952.
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Begriffe auf einen arabischen Ursprung zurückgehen, verwendet der Autor auch das türkische Verb ¸sas¸ırmak (u. a. »vollkommen verblüfft sein«895) wie unter ˙ anderem in dem Beispiel adam bütün bütün ¸sas¸ırub (»man gerät vollkommen ins Staunen«). Auch wenn hier ein Hauch von Lächerlichkeit, Spaß, Kuriosität oder Interesse mitschwingen kann, verweist Steuerwald trotz der unterschiedlichen Konnotationen auf die Begriffe tuhaf, acayip und garip (hier in der modernen türkischen Schreibweise) als Synonyme896. Man kann davon ausgehen, dass der Autor des SL die Begriffe ebenfalls in einer grundsätzlich synonymen Bedeutung einsetzt und sie gegebenenfalls nur leicht abweichende Konnotationen aufweisen. Es lässt sich feststellen, dass lediglich bei dem Wort hayra¯n (und seinen ˙ weiteren Wortformen) eine gewisse Faszination mitschwingt. Die von ihm beschriebenen Gegebenheiten, scheinen zum Teil dermaßen staunenswert zu sein, dass sie außer der emotionalen Reaktion des Verfassers noch weitere Auswirkung auf ihn haben. So gerät er vor lauter Bewunderung und Verwunderung in Ausnahmesituationen, als sich ihm beispielsweise beim ersten Besuch der Londoner Ausstellung sein Kopf dreht und er dermaßen verblüfft ist (bas¸ım dönmek ve mütehayyır kalmag˙la), dass er vor lauter Verwirrtheit (s¸as¸˙ ˙ kınlıg˙ımdan) sogar seinen Reisebegleiter verliert [15]. Das Staunen über die ˙ Einzigartigkeit, Außergewöhnlichkeit oder aber schlicht die Neuheiten die Engländer und England betreffend bringt der Autor mit dem Aspekt der Neugier zum Ausdruck. Dadurch untermauert er das von ihm gelieferte Bild seines bereisten Landes als auch seiner Bewohner. Da die Beschreibungsgegenstände teilweise vorher noch nie gesehen worden sind (mislı¯ görülmamıs¸dır [63]) oder so einzigartig sind (hı¯c mislı¯ yapılmamıs¸dır [16]), sieht er sich manchmal außerstande, seine Beobachtungen in Worte zu fassen. Diese Unfähigkeit der sprachlichen Äußerung soll hier im folgenden Unterkapitel unter dem Terminus Topos der Unbeschreibbarkeit genauer erörtert werden.
5.3.2 Topos der Unbeschreibbarkeit Der Begriff Topos der Unbeschreibbarkeit bezeichnet Strategien zur Beschreibung des Unbeschreibbaren, die genau dann zum Einsatz kommen, wenn der Autor mit etwas konfrontiert ist, zu dessen sprachlichen Schilderung er sich außerstande sieht. Dafür kann es verschiedene Gründe wie Überwältigung, Unfassbarkeit, Faszination etc. geben.897 Durch »die Kapitulation der Sinne und 895 Steuerwald: »s¸as¸ırmak«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 866. 896 Steuerwald: »acayip«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 3. 897 Schikorsky stellt fest, dass der Topos des Unbeschreibbaren (synonym verwendet zu Topos
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des eigenen Fassungsvermögens«898 setzt die sprachliche Vermittelbarkeit bestimmter Erlebnisse und Eindrücke aus. Dort, wo Worte zur Beschreibung von Beobachtungen fehlen oder Bewunderung Ausdruck verliehen werden soll, kommt dieses Verfahren zur Anwendung. Dabei gerät der Beschreibungsgegenstand jenseits des Darstellbaren und wird als unbeschreibbar etikettiert. »Der Menschenverstand ist nicht in der Lage, sie [die Zimmer und Möbel von Schloss Windsor] gebührend zu beschreiben (havsalaʾ-i bes¸er la¯yıkıyla tavs¯ıfe muktedir ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ olmaz)« [64], heißt es daher an einer Stelle des vorliegenden Reiseberichts und bringt das Phänomen auf den Punkt. Der Verfasser des SL spricht immer dann von der Unbeschreibbarkeit seiner Eindrücke, wenn ihm eine Schilderung seiner Beobachtungen nicht möglich scheint. Als er über London berichtet, stellt er folgendes fest: »Wegen der vielen Menschenmengen entzieht sich die Stadt jeder Beschreibung (bir vasfa makru¯n göremeyerek)« [14]. An einer anderen Stelle, an ˙ ˙ der er die verschiedenen Schichten der Londoner Gesellschaft schildert und auf die der Adligen eingeht, schreibt er, dass ihre Vornehmheit und Höflichkeit, aber auch ihre uneingeschränkten Ausgaben und hohen Kosten nicht zu beschreiben (da¯ʾire-i taʿrı¯fden bı¯ru¯n) seien [36]. Genauso wie das Schloss Windsor, dass der Autor als »unmöglich zu beschreiben« (taʿrı¯f ü tavs¯ıfı¯ dereceʾ-i imka¯ndan bı¯ru¯n) ˙ ansieht, sind die Gärten um dieses Anwesen ebenfalls nicht zu schildern (taʿrı¯fı¯ dereceʾ-i tasvı¯rden bı¯ru¯n) [64]. Außerdem stellt er fest, dass die Kunstfertigkeit ˙ der Blinden unbeschreiblich sei (ka¯bil-i tavs¯ıf ü takrı¯r deg˘ildir) [74], und als er ˙ ˙ ˙ auf die Gräber angesehener Persönlichkeiten Londons eingeht, sagt er bezüglich der Gräber, dass ihre Verzierungen nicht zu beschreiben seien (zı¯netlerı¯ ha¯riç-i ˘ da¯ʾireʾ-i taʿrı¯f) [85]. In seiner Zusammenfassung am Ende seiner Schilderungen bemerkt er ebenfalls: »Alle ungewöhnlichen Dinge Londons zu beschreiben liegt außerhalb des Darstellbaren (ha¯ric-i havsalaʾ-i kalem)« [90]. Wie anhand der ˙ ˙ ˙ ˘ genannten Beispiele zu erkennen ist, verwendet der Autor bei der Feststellung der Unbeschreibbarkeit am häufigsten Ausdrücke mit den Synonymen taʿrı¯f oder tavs¯ıf (beides mit der Grundbedeutung »Beschreibung«899). Letzterer ent˙ stammt derselben Wortwurzel wie vasf.900 Ein weiterer hier synonym verwendeter ˙ der Unbeschreibbarkeit) im 19. Jahrhundert genutzt wurde, um »extrem gefühlsassoziierende Situationen« auszudrücken. Dies konnte dazu dienen, emotionale Betroffenheit zu verbergen oder abzuschwächen, aber auch überwältigenden positiven Gefühlsäußerungen Ausdruck zu verleihen. Siehe Schikorsky, Isa: Private Schriftlichkeit im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur Geschichte des alltäglichen Sprachverhaltens »kleiner Leute«, Tübingen 1990, S. 156f. 898 Fischer: Reiseziel England, S. 287. 899 Steuerwald: »tarif«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 898, in der ersten Bedeutung: Erklärung, Beschreibung und ders. »tavsif«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 906, in der ersten Bedeutung: Beschreibung, Be-, Kennzeichnung, Qualifizierung, Charakterisierung. 900 In der Grundbedeutung: Eigenschaft, Qualität, aber in der Form »vasıfa gelmez« als un-
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Begriff ist takrı¯r, der u. a. die Bedeutungen »Erklärung, Bericht, Erzählung bzw. ˙ Darlegung« mit sich trägt.901 Die Begriffe bringen auf den Punkt, was der Autor ausdrücken möchte bzw. eben nicht ausdrücken kann: Seine Eindrücke und Erlebnisse. Beim Topos der Unbeschreibbarkeit wird – wie an diesen Beispielen deutlich – »etwas aufgrund seiner Großartigkeit und Einzigartigkeit schlicht für unbeschreibbar« erklärt.902 Dabei wird den Dingen »eine Bedeutung verliehen, deren Legitimation in den vergangenen Emotionen und Sinneseindrücken des Ich-Erzählers liegt und für die die herkömmliche Beschreibungssprache nicht ausreicht.«903 Der Reisebericht erfordert neben der Überlieferung und Einbettung der Eindrücke aus dem bereisten Land in die eigene Kultur, gleichzeitig auch das Gegenteil: »das Festhalten an der Andersartigkeit, Fremdheit, Unübersetzbarkeit der beschriebenen anderen Welt.«904 Wo sonst Fremdes und Unvertrautes durch Rückbezug auf Bekanntes zugänglich gemacht wird, entscheidet sich der Autor bei diesem Verfahren bewusst gegen einen veranschaulichenden Vergleich. Durch diese Technik umgeht der Verfasser eine konkrete Ausformulierung der von ihm beobachteten Gegebenheiten und löst dabei bei seiner Leserschaft das Gefühl aus, mit etwas ganz Besonderem konfrontiert zu sein. Diese kann sich dadurch natürlich keine konkrete Vorstellung von dem jeweiligen Beschriebenen machen, muss aber davon ausgehen, dass es sich eben um etwas Überwältigendes handelt, für dessen Beschreibung es keine Worte gibt. »Unbeschreibbar werden die Dinge, weil sie Unbeschreibbares beim wahrnehmenden Subjekt auslösen – sehr zum Nachteil des Lesers, der so nur immer wieder erneut erfährt, wie wichtig und überwältigend sie sind.«905 Das Gegenstandsthema wird sozusagen der Vorstellungswelt des Publikums entrückt und der Eindruck, dass es sich tatsächlich um etwas Außerordentliches handeln muss, bleibt bestehen. Eine Steigerung des Unbeschreibbaren ist dadurch möglich, dass die Beschreibung von Sachverhalten laut Verfasser weder mündlich noch schriftlich möglich ist (lisa¯n ve tahrı¯r ile taʿrı¯fı¯ muha¯l olub) [86], wie es der Fall bei der ˙ ˙ Schilderung der Theatervorstellungen und Einlagen der Akrobaten ist, über die man laut Verfasser des SL nicht nur nicht schreiben, sondern auch noch nicht einmal sprechen kann. Im Gegensatz zu den Gegebenheiten, die der Autor
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beschreiblich zu übersetzen. Siehe Steuerwald: »vasıf«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 984. Siehe Steuerwald: »takrir«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 891 und Zenker, »ﺗﻘﺮﻳﺮ/tak˙ rı¯r«, Türkisch-Arabisch-Persisches Handwörterbuch, S. 301. Fischer: Reiseziel England, S. 295. Fischer: Reiseziel England, S. 288. Harbsmeier: Wilde Völkerkunde, S. 22. Fischer: Reiseziel England, S. 288ff.
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generell als nicht beschreibbar erklärt, gibt er stellenweise sein eigenes Unvermögen zu, zu einer sprachlichen Darstellung fähig zu sein. Der Topos der Unbeschreibbarkeit markiert in diesem Fall das »Eingeständnis der Schreibenden, für bestimmte Erlebnisse zu einer adäquaten Beschreibung nicht in der Lage zu sein.« Dies darf jedoch nicht als eine Unfähigkeit des Berichtenden gesehen werden, denn mehr als das gilt der Topos als rhetorisches Mittel. So stellt auch Fischer fest, dass der Unbeschreibbarkeitstopos »eine der facettenreichsten Argumentationsweisen im Arsenal der Darstellungsmittel und Gattungskonventionen dar[stellt]« und »stets eher als Zugewinn von authentischer Erfahrung beim Autor, denn als eingestandenes Versagen [erscheint].«906 Der Satz: »Und wahrhaftig, ich kann die Anmut und die Dimension der Gebäude nicht beschreiben (taʿrı¯f edemem)« [85] klingt geradezu wie ein Eingeständnis. Auch die Formulierung zu den Dioramen, deren Betrachtung dem Autor zuteilwurde, er aber außerstande ist zu beschreiben (vasfında pek ʿa¯ciz ü ka¯sırım) [88], fällt in ˙ ˙ ˙ diese Kategorie. Allerdings bringt Fischer die Bereitschaft des Verfassers zu einer solchen Abwertung seiner eigenen schriftstellerischen Leistung nur mit dem Prestigegewinn in Zusammenhang, der ihm als tatsächlich Gereistem gegenüber dem Leser zukommt.907 Zudem weist Fischer darauf hin, dass »sich der Unbeschreibbarkeitstopos auch als bequemes Instrument begreifen [lässt], sich von lästigen Darstellungsaufgaben zu entledigen.« Des Weiteren kann diese Art der Formulierung auch als Teil einer Bescheidenheitsrhetorik in Betracht gezogen werden. Der Unbeschreibbarkeitstopos lässt sich nicht nur an einzelnen Aussagen, sondern an mehrstufigen Prozessen veranschaulichen. Fischer hat dafür ein fünfschrittiges Argumentationsmuster entworfen, dessen erster Schritt dazu dient, die einmalige Besonderheit eines bestimmten Sachverhalts festzustellen. Im Folgenden wird darauf verwiesen, dass es nichts Vergleichbares in der Kultur des Lesers gibt. Anschließend kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass der Sachverhalt nicht zu beschreiben und viertens infolgedessen über die bloße Lektüre nicht begreifbar ist und daher fünftens vom Leser selbst gesehen oder erlebt werden muss. Bei der Verwendung dieser Argumentationsmuster, so stellt Fischer fest, müssen nicht alle Schritte vom Schreibenden aufgerufen werden.908 Für den vorliegenden Reisebericht ist kein Beispiel zu nennen, in dem alle fünf Schritte in Folge nachzuweisen sind, aber die einzelnen Punkte – auch in Kombination miteinander – sind vorhanden. Bei der Beschreibung des Feuerturms [85] beispielsweise betont der Autor die Einzigartigkeit des Gebäudes, indem er darauf hinweist, dass es kein höheres Gebäude gibt und man vom Turm aus ganz 906 Fischer: Reiseziel England, S. 288. 907 Fischer: Reiseziel England, S. 294. 908 Fischer: Reiseziel England, S. 289.
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London sehen könne, was Schritt eins von Fischers Modell entspricht. Die Feststellung der Unbeschreibbarkeit, also Schritt drei, erfolgt ein paar Sätze später, als der Autor feststellt, dass er nicht im Stande ist, »die Anmut und die Dimension der Gebäude« zu beschreiben. Eine Abwandlung erfahren die Schritte vier und fünf, in denen der Autor darauf hinweist, dass der Leser, der nicht selber an den Ort der Beschreibung reisen kann, mithilfe der Schilderung des Reisenden eine Idee von dem Beschriebenen bekommt. »Kurz, es gibt unzählige solcher [Bauten], aber wer sie nicht selber sieht, kann nur durch unsere Beschreibungen eine Vorstellung davon bekommen und sich daran erfreuen.« [85] Auch hier wird der Vorsprung des Autors gegenüber der Leserschaft deutlich. Was im Einzelnen für jenseits des Darstellbaren gehalten wird, entscheidet jeder Autor selbst, doch verzichtet kaum ein England-Reisender des 19. Jahrhunderts auf diesen Topos. Fischer vermutet, dass sich eine Reise erst lohnt, wenn man Sachverhalte oder Gegenstände aufgrund ihrer Einzigartigkeit und ihres Herausragens nicht beschreiben kann. Er stellt zudem fest, dass das Phänomen der Unbeschreibbarkeit in den England-Reiseberichten des 19. Jahrhunderts allgegenwärtig zu sein scheint und es eine große Spannbreite an Themen gibt, die darin mit diesem Topos versehen werden können.909 Während die Unmittelbarkeit des Erlebten und Beobachteten und die Grenzen der eigenen Darstellungsfähigkeit daher mit diesem Topos zum Ausdruck gebracht werden, lassen sich im SL für den Umgang mit der Schwierigkeit, das Fremde darzustellen, noch weitere Strategien finden. Der Autor setzt die folgenden Verfahren als Begründung zur Auslassung von Informationen – sei es nun bewusst oder unbewusst – in seiner Erzählung ein: a) Kapazität nicht vorhanden Die wichtigste unter diesen Strategien ist, auf die fehlende Kapazität für eine detaillierte Beschreibung zu verweisen. Dass eine Reisebeschreibung nicht ausreichen kann, um bei der Niederschrift alle Erlebnisse und Beobachtungen in vollem Maße zu berücksichtigen, erklärt der Autor an mehreren Stellen im Text. »Wenn sich jemand aufmachen würde, alle Gegebenheiten niederzuschreiben, wäre er damit beschäftigt, sehr viele Bücher zu verfassen. Und selbst dann wäre es nicht möglich, zu einem Ende zu kommen« [80], heißt es an einer Stelle. Der Autor stellt dabei zuweilen fest, dass er nur einen Ausschnitt seiner Beobachtungen in seinem Bericht darstellen kann und betont dabei stets, dass eine detaillierte Schilderung ein Werk in größerem Umfang benötigte. So erläutert er beispielsweise im weiteren Verlauf seiner Beschreibungen das Verhalten der Engländer und deren Einstellung gegenüber anderen Nationen. Aufgrund der Vielzahl der Erläuterungen, die seiner Ansicht nach dazu zu machen wären, wäre 909 Fischer: Reiseziel England, S. 288ff.
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eine kurze Schilderung nicht ausreichend. Dazu sagt er: »Wenn es also von Nöten wäre, das seltsame Verhalten zu beschreiben, dann würden Schriftsteller Ewigkeiten und ihr ganzes Leben damit verbringen, sehr dicke Bücher zu verfassen und nicht solche fünf oder zehn kurze Berichte« [37]. Im selben Sinn an anderer Stelle, an der der Autor das Innere des Palastes beschreibt und auf die einzelnen Möbelstücke eingeht, sagt er: »Und wenn man sie alle einzeln beschreiben wollte, würde ein weiteres Buch wie meine Reisebeschreibung nicht ausreichen« [64]. Am Ende seiner Schilderungen über London betont er noch einmal ausdrücklich: »Man braucht nicht zu erwähnen, dass, wenn man das alles gebührend beschreiben würde, es ein Band so breit wie ein großes Wörterbuch gäbe« [90]. b) Bekanntheit wird vorausgesetzt Eine weitere Strategie ist die der Präsupposition, bei der der Autor die Bekanntheit der zu beschreibenden Gegebenheit bei der Leserschaft voraussetzt und daher von einer (detaillierten) Wiedergabe absieht. »Hier wird auf eine erneute Beschreibung verzichtet«, heißt es daher an einer Stelle, »da es sowohl denen bekannt ist, die die Hochwertigkeit und Eleganz dieser Waggons [selbst] gesehen haben, als auch jenen, die in Istanbul ihre Bilder betrachtet haben« [62]. Der Autor nennt explizit, dass er die Beschreibung auslässt und gibt dafür eine Begründung ab, nämlich das vorausgesetzte Vorhandensein von Wissen bei der Leserschaft. Diese Strategie bedingt demnach ein gemeinsames Hintergrundwissen bei Verfasser und Publikum. c) Beschreibung wird als unwichtig erachtet Wenn die Beschreibung als Belanglosigkeit abgetan wird, sieht der Autor ebenfalls von einer ausführlichen Schilderung ab. »Auch wenn ich noch weitere seltsame Spiele gesehen habe, wäre ihre ausführliche Beschreibung jedoch geradezu wie die Schilderung von Kinkerlitzchen (çocuklarıñ ceviz ve kaydırak ˙ ˙ ˙ oyunlarını taʿrı¯f gibi). Daher wurde davon abgesehen« [83/84]. Wenn das zu Schildernde nach Ansicht des Verfassers als zu banal erscheint, verzichtet er darauf. Daraus lässt sich folgern, dass es ihm nicht um die Darstellung gängiger, dem Leser bekannter Gegebenheiten geht, sondern er über Auffälligkeiten berichten möchte. Dies verweist auf die Bedeutung des Aspekts des Staunens und des Einzigartigkeitsprädikats in solchen Erzählungen. d) Vermeidung von Langweile durch Detailgenauigkeit Ebenfalls möchte der Autor auch vermeiden, dass bei seiner Leserschaft Langweile durch Detailgenauigkeit aufkommt. »Da eine eingehende Erzählung zu ausführlich und dadurch langweilig werden würde, verzichte ich auf die Erläuterung einzelner Gegebenheiten und berichte nur über manche von mir gemachten Erkundungen« [26/27], erklärt er an gegebener Stelle. Er geht davon
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aus, dass eingehende und detaillierte Schilderungen den Leser nicht nur langweilen, sondern ihm auch missfallen könnten und bringt das wie folgt zur Sprache: »In Anbetracht der Tatsache, dass eine ausführliche Beschreibung all dessen, was ich gesehen habe, zu weitschweifig und störend wäre (mu¯cib-i itna¯b ü tasdı¯ʿ oldıg˙ına ˙ ˙ mebnı¯), beginne ich hier mit der Beschreibung von ein paar Dingen, die ich nächtens gesehen habe« [28].
Auch dies stimmt mit der Anforderung an seinen Bericht nach Unterhaltung seiner Leserschaft überein. e) Unangemessenheit der Beschreibung Ein weiterer Verzicht auf eine eingehende Schilderung kommt dann zum Vorschein, wenn es sich um die Darstellungen von Unangemessenem handelt. Dies kann aufgrund inhaltlicher, moralischer oder anderweitiger Ursachen sein. An einer Textstelle weist der Verfasser des SL lediglich daraufhin, dass bestimmte Gegebenheiten gegen die moralische Vorstellung seiner Heimatkultur verstoßen. »Auch wenn es sehr unterhaltsam ist, gibt es in gewisser Weise Dinge zu sehen, die gegen die guten Sitten verstoßen (muha¯lif-i edeb)« [66]. Hier nennt er zwar nicht ˘ explizit, dass er auf eine genauere Beschreibung aufgrund ihrer Unangemessenheit verzichtet, deutet dem Leser aber an, dass etwas aufgrund von Sittenverstoß ausgelassen wurde. Auch dies zählt zu seinen Erzählstrategien, da er auf diese Andeutung hätte ganz verzichten können. f) Fehlen von Vergleichbarem Während der Vergleich als Stilmittel einsetzbar ist, um etwas Unbeschreibbares überhaupt erst zugänglich zu machen,910 kann die Feststellung, dass es nichts Vergleichbares gibt, erneut auf die Einzigartigkeit einer Sache hindeuten. »Wenn wir aber auf die Vaterlandsliebe (hubb-i vatan) [zu sprechen] kommen, ist die ˙ ˙ Gleichgesinnung und Einigkeit dieser benannten Klassen mit keinem anderen Ort zu vergleichen (mak¯ıs olmayub)« [37], heißt es an einer Stelle im Text. ˙ Ebenfalls die Möbel im Schloss Windsor, dessen Zimmer sich in ihrer Schönheit übertreffen, entbehren jeglicher Vorstellung, da sie »nicht zu vergleichen [sind] mit den Dingen, die wir kennen (bizim gördig˘imiz ¸seylere g˙ayr-ı mak¯ıs)« [64]. Ein ˙ Regiment berittener Soldaten (bir a¯la¯y süva¯rı¯ ʿaskerı¯) aus dem persönlichen Gefolge ihrer Majestät der Königin ist auch »nicht mit anderen Regimentern zu vergleichen (mak¯ıs olmayub)« [65]. Mit einem solchen fehlenden Vergleich, kann ˙ der Leser keinen konkreten Eindruck von dem gewinnen, was der Autor dort beschreibt. Er erfährt lediglich, dass es sich um etwas Einzigartiges handeln muss. 910 Der Vergleich als Stilmittel im SL wird ausführlich in Kap. 5.1 und 5.2 besprochen.
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Im vorliegenden Reisebericht dienen diese Verfahren als rhetorische Mittel, die häufig Verwendung finden. Ursache und Absicht für diese Art der Auslassung einer Erzählung oder Information können wie dargestellt unterschiedlich sein.911 Als einen wichtigen Grund bezeichnet Fischer die Tatsache, dass sich die Autoren bemühen, ihren »Status als wahrhafte Zeugen gegenüber dem Lesepublikum« zu wahren. »Als unbeschreibbar gilt nämlich auch das, was als unglaublich gilt.«912 Um seine eigenen Glaubwürdigkeit aufrecht zu halten und nicht als Lügner darzustehen, bedient sich unser Autor dieses Topos. Beim Leser soll der Eindruck geweckt werden, dass etwas unglaublich erscheint, aber tatsächlich wahr ist.Auf den Autor kommt damit eine weitere Aufgabe zu, nämlich die von ihm getroffen Aussagen als glaubwürdig darzustellen. Die Frage nach dem Vorgehen des Autors, um seine Leserschaft vom Wahrheitsgehalt seiner Behauptungen zu überzeugen, gehört laut Leerssen zu den Fragen, denen zur Herausarbeitung von Selbst- und Fremdbildern nachgegangen werden sollte.913 Die Beglaubigungsstrategien, denen sich der Autor des SL bedient, werden im folgenden Unterkapitel dargestellt.
5.3.3 Glaubwürdigkeit des Autors / Beglaubigungsstrategien Der Vorwurf der »Lügenhaftigkeit« begleitet seit jeher das Genre Reisebeschreibungen und »offenbart zugleich eine implizite Anforderung an die Reiseliteratur, die für gattungskonstitutiv gehalten wurde: die Wahrhaftigkeit des Berichteten.«914 Was die Glaubwürdigkeit des Erzählers generell angeht, so kann diese »entweder durch sein ›falsches‹ Wiedergeben von Ereignissen bzw. durch Widersprüche in seinen eigenen Schilderungen oder durch seine devianten moralischen Maßstäbe im Vergleich mit einem gesellschaftlich akzeptierten Werte- und Normensystem in Zweifel gezogen werden.«915 Die Glaubwürdigkeit
911 Neben der Unbeschreibbarkeit sollte noch auf ein weiteres ähnliches stilistisches Mittel verwiesen werden, dass in Zusammenhang damit steht und in dem Reisebericht vorkommt, nämlich das der Unzählbarkeit. So ist die Zahl der Zuschauer im Her Majesty’s Theater unüberschaubar (hadd ü hesa¯bı olmayub) [19], genau wie die Zahl der bedürftigen Ob˙ ˙ ist (hadd ü hesa¯bı yu¯kdir) [51]. Die Gründe dafür sind dieselben dachlosen unüberschaubar ˙ ˙ ˙ wie für den Topos der Unbeschreibbarkeit. 912 Fischer: Reiseziel England, S. 294. 913 Leerssen: Images – Information – National identity and national stereotype. 914 Neuber, Wolfgang: »Die frühen deutschen Reiseberichte aus der Neuen Welt. Fiktionalitätsverdacht und Beglaubigungsstrategien«, in: König, Hans-Joachim, Wolfgang Reinhard und Reinhard Wendt (Hg.): Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung, [= Zeitschrift für Historische Forschung; 7], Berlin 1989, S. 43. 915 Basseler, Michael und Dorothee Birke: »Mimesis des Erinnerns«, in: Erll, Astrid und Ansgar
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des Reiseberichterstatters kann aber nicht nur durch beabsichtigte Überlieferung falscher Gegebenheiten in Frage gestellt werden, sondern auch daher resultieren, dass der Autor selbst falsche Informationen erhalten hat oder es aufgrund fehlender sprachlicher Kompetenz zu Missverständnissen kommt916. Der Eindruck der Zuverlässigkeit des Erzählers hängt von verschiedenen Faktoren ab, die durch bestimmte Schreibstrategien gelenkt werden können. Die Behauptung, die Wahrheit geschrieben zu haben, reicht zur Überzeugung der Leserschaft nicht aus. So steht die für Reiseberichte typische autobiographische Erzählweise in engem Zusammenhang mit dem Authentizitätsanspruch dieser Gattung.917 Mit dem unter dem Begriff »Pakt der Wahrhaftigkeit«918 implizierten Realitätsanspruch suggeriert der Ich-Erzähler dem Leser, dass die Reise tatsächlich stattgefunden, der Verfasser selbst diese unternommen hat und die von ihm in der Beschreibung berichteten Gegebenheiten der Wahrheit entsprechen. Neben dem bereits erläuterten Topos der Unbeschreibbarkeit, der bemüht wird, um beim Leser den Eindruck zu wecken, dass etwas unglaublich erscheint, aber tatsächlich wahr ist,919 dienen noch weitere Methoden zur Aufrechterhaltung der eigenen Glaubwürdigkeit. Neuber spricht von einer Argumentationstheorie des Reiseberichts, die durch »argumentative Beglaubigung des Berichteten im jeweiligen geschichtlichen Kontext« bestimmt ist. Zur Gattungspoetik des Reiseberichts zählt für ihn daher neben der Auswahl von Gegenständen und der Rechtfertigung dieser Auswahl, die »argumentierende Glaubhaftmachung der Gegenstände, Beobachtungen und Erfahrungen sowie der stilistischen Mittel, die zu dieser Glaubhaftmachung beansprucht werden.«920 Folgende Strategien können im SL zur Bekräftigung, die Wahrheit geschrieben zu haben, ausgemacht werden: a) Begründungsmodus Der »Begründungsmodus« ist eine der Vorgehensweisen, um dem Wahrheitsanspruch der Darstellung gerecht zu werden.921 Dabei werden nach Erklärungen für die Ursache und das Zustandekommen von Geschehnissen, Verhaltensweisen und der Beschaffenheit von Dingen gesucht. Der Autor versucht, nicht nur seine
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Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin / New York 2005, S. 140. Osterhammel: »Distanzerfahrung«, S. 18. Korte: Der englische Reisebericht, S. 17. Agai: »Die Grenze: Einblick in die Konstruktion des Anderen«, S. 36. Fischer: Reiseziel England, S. 294. Neuber: »Zur Gattungspoetik des Reiseberichts«, S. 52. Neuber verweist dort zudem darauf, dass es dabei nicht um die Übereinstimmung des Textes mit der Wirklichkeit geht, sondern um das Finden und Auswählen des Materials und seiner anschließenden argumentativen und stilistischen Verarbeitung. Fischer: Reiseziel England, S. 204.
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Beobachtungen niederzuschreiben, sondern auch nach Erläuterungen von Gegebenheiten zu forschen und dem Lesepublikum eine Begründung mitzuliefern. Beispielsweise sind die Engländer durch ihr – seines Erachtens – ungesundes Essverhalten so übergewichtig und aufgrund ihres Arbeitsehrgeizes offenbaren sie ein seltsames Verhalten gegenüber Mitmenschen (beide Beispiele auf [11]). Durch die Darlegung der Ursache versucht der Verfasser den Wahrheitsanspruch seiner Darstellung zu gewährleisten. In diesen Bereich fällt auch, Gegebenheiten genau zu untersuchen und ihnen auf den Grund zu gehen.922 So erklärt unser Autor, dass er nur über manche von ihm gemachten Erkundungen (tahk¯ıka¯t) ˙˙ ˙ [26] berichte. Neben seinem Anspruch, den Dingen auf den Grund zu gehen (tahk¯ık bzw. tahk¯ıka¯t in der Bedeutung »Nachforschung, Untersuchung, Er˙˙ ˙ ˙˙ ˙ mittlung, Verifikation« bzw. »Konstatierung der Wahrheit, Bewahrheitung Bestätigung, Versicherung, wahre Aussage, wahre Bedeutung, Ergründung des wahren Wesens einer Sache, tiefes und gründliches Eingehen«923), betont er an mehreren Textstellen, dass er die Dinge genau bzw. einzeln angeschaut (güzelce müs¸a¯hede bzw. bas¸ka bas¸ka seyr ü tema¯¸sa¯) oder sie eingehend betrachtet habe ˙ ˙ (la¯yıkıyla seyre˙tdim) (z. B. das Ausstellungsgebäude [10], die Darbietungen der ˙ Akrobaten [86] oder eine Metzgerei [25]), um anschließend dem Leser darüber zu berichten. b) Autopsieprinzip Mithilfe des Autopsieprinzips, welches ein wesentliches Element der Gattung Reisebericht ist,924 versucht der Autor ebenfalls die Wahrhaftigkeit seiner Erzählungen aufrecht zu halten. Formulierungen wie »ich habe mit eigenen Augen gesehen« (al-ʿayn-i menzu¯rum) oder einfach nur »ich habe (selbst) gesehen« ˙ (gördüm, müs¸a¯hede eyledim und gözümle görmüs¸ümdir) oder »aus nächster Nähe gesehen« (karı¯n-i rütbeʾ-i ¸suhu¯d) bzw. aus der Nähe miterlebt (karı¯n-i ˙ ˙ ¸suhu¯dum olmus¸dır bzw. karı¯n-i ittila¯ʿ olmus¸dır) sind Authentizitätsbezeug˙ ˙˙ ungen, mit denen er die Echtheit seiner Schilderungen zu bekunden sucht. Durch die eigene Inaugenscheinnahme und deren folgenden Ausformulierung wird die Glaubhaftmachung seiner Beschreibung gegenüber der Leserschaft beabsichtigt. Da umgekehrt dasselbe gilt, weist unser Autor darauf hin, wenn er Informationen in seinem Bericht wiedergibt, die er nicht aus seinen eigenen Beobachtungen gewonnen hat. Bei der Beschreibung Lissabons [7] schildert er die Villen, die außerhalb der Stadt liegen, und merkt dabei an, dass er diese nicht selbst gesehen habe. Eine Unterscheidung zwischen der Wiedergabe eigener 922 Fischer: Reiseziel England, S. 204. 923 Steuerwald: »tahkik«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 885 und Zenker: »ﺗﺤﻘﻴﻖ/tahk¯ık«, ˙˙ ˙ Türkisch-Arabisch-Persisches Handwörterbuch, S. 265. 924 Harbsmeier: Wilde Völkerkunde, S. 36. Auch Fischer bezeichnet den Augenbeweis als zentral für die Gattung der Reiseliteratur. Siehe Fischer: Reiseziel England, S. 616.
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Beobachtungen und Informationen aus dritter Hand weckt bei dem Leser den Eindruck, es mit einem aufrichtigen Erzähler zu tun zu haben. c) Schreibstil und Darstellungsweise Neben argumentativen Strategien, die zur »Glaubhaftmachung des Materials«925 eingesetzt werden, ist die stilistische Gestaltung ebenfalls für die Authentizität eines Textes verantwortlich. Durch anspruchsvolle Formulierungen geht die Kraft der Glaubwürdigkeit verloren. Ein niedriges Stilideal galt nicht nur in der deutschen Reiseliteratur »als ausschlaggebend für den Wahrhaftigkeitseindruck beim Leser«926. Sich eines anspruchslosen, einfachen und schmucklosen Stils zu bedienen, um beim Publikum den »Eindruck der Wahrhaftigkeit« zu hinterlassen,927 gilt als weitere Strategie zur Darstellung von Gegebenheiten. Auf den einfachen Schreibstil, in dem das SL geschrieben ist, wurde bereits hingewiesen. Turan stellt ebenfalls fest, dass der Autor einen klaren Satzbau und ein alltägliches Vokabular verwendet und den hohen Schreibstil der damaligen Intellektuellen meidet.928 Auch einzelne Formulierungen sollen auf den Wahrheitsgehalt hinweisen. So zum Beispiel die zur Einleitung von vermeintlichen Tatsachen gebrauchte Wendung »es ist ( jedem/allgemein) bekannt« (maʿlu¯mdir bzw. maʿlu¯m olub / derka¯r / cümleye maʿlu¯mdır / mevadd-i maʿlu¯me olub929) bzw. »bekannt sein für« (mes¸hu¯r olub) oder aber »wie bekannt« (maʿlu¯m oldıg˙ı üzere) bzw. »wie uns bekannt ist« (maʿlu¯mumuzdır). Ebenso der Hinweis darauf, dass bestimmte Gruppen über ein Wissen verfügen (»Wie Europa-Reisende wohl wissen« – seyyah¯ın-i Avrupanıñ ˙ maʿlu¯mları oldıg˙ı üzere), das anschließend mit dem Leser geteilt wird.930 Neben dem Schreibstil gilt ebenfalls die Darstellungsweise als Authentizitätsstrategie, die auf Wahrheit und Unmittelbarkeit verweisen soll. Dazu zählen vor allem die Brief- und Tagebuchform, aber sicherlich auch die Veröffentlichung in einer Zeitung als öffentliches Medium wie im vorliegenden Fall. d) Direkte Rede und überlieferte Erzählung Der Wahrheitsgehalt kann durch das Unterhaltungsbedürfnis verformt werden,931 weshalb die von dem Autor kundgegebene Überschwänglichkeit, Ironie und Übertreibung das Gegenteil der hier genannten Verfahren bewirken kann. Um dem Wahrheitsanspruch dennoch gerecht zu werden, verwendet er weitere Realitätseffekte wie direkte Rede und überlieferte Erzählungen. Als eine 925 926 927 928 929 930 931
Neuber: »Die frühen deutschen Reiseberichte«, S. 64. Fischer: Reiseziel England, S. 204f. Fischer: Reiseziel England, S. 226. Turan: »Forming the modern lexicon«, S. 161. Wörtlich: »gehört zu den bekannten Themen«. Zum letzten Punkt siehe auch Kap. 5.3.2 Punkt c) Bekanntheit wird vorausgesetzt. Fischer: Reiseziel England, S. 258.
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der eminentesten Effekte zur Realitätsbezeugung gilt in der Erzähltextanalyse die Wiedergabe der zitierten Figurenrede, bei der in der 1. Person Präsens scheinbar unmittelbar und ungefiltert gedachte oder gesprochene Worte einer Figur im Rahmen der Erzählung wiedergegeben werden932. Der Autor des SL zitiert Äußerungen dritter Personen, selbst wenn er diese nicht in Anführungszeichen setzt, die in der Schrift dazu dienen, die Aussage einer dritten Person auf direktem Wege widerzuspiegeln.933 Er bildet an mehreren Textstellen einzelne Sätze, aber auch kurze Dialoge in direkter Rede ab. An einer Stelle gibt er das kurze Gespräch zwischen Männern wieder, die bereits Wetten bezüglich ihrer Schiffe abschließen, während diese noch nicht fertiggestellt sind. »Mein Schiff ist schneller als deins!« »Nein, meins ist schneller als deins!« »Was gibst du mir, wenn meins deins überholt?« [35]. Genau wie die überlieferte Erzählung weckt diese Art der Erzähltechnik beim Leser den Eindruck, das Geschehen direkt miterleben zu können. Der Autor des SL überbringt seinem Publikum Berichte, die er von anderen mitbekommen hat, wie beispielsweise die Geschichte des Hacı Baba [81]. Ob er selber darüber informiert war, dass es sich bei dieser Erzählung um eine Erfindung handelt, lässt sich nicht nachvollziehen. Dem Leser suggeriert er zumindest, dass sie wahr und durch Überlieferung (eingeleitet durch den Satz: »Eine weitere seltsame Begebenheit, die man so hört, ist die folgende.«) bekannt ist. Daneben gibt es weitere überlieferte Erzählungen im Text, die denselben Effekt wie die wörtliche Rede anstreben. Der Autor setzt noch andere Strategien ein, vor allem die detaillierte Schilderung und die Veranschaulichung seiner Darstellungen durch Beispiele und Vergleiche aus der Heimat. e) Detailgenauigkeit, Beispiele und Vergleiche Durch Detailgenauigkeit, wie es zum Beispiel bei dem Thema Versicherungen und Brände der Fall ist [47ff], versucht der Autor Authentizität zu erreichen. Durch präzise Erläuterungen und Detailinformationen wird dem Leser vermittelt, dass es sich um konkrete Darstellungen handelt. Er nennt unter anderem Namen von Personen und Orten, Preise und andere präzise Informationen. An anderer Stelle wiederum verzichtet er auf eine genaue Schilderung der Geschehnisse, um seine Leserschaft nicht zu langweilen, und zwar genau da, wo er davon ausgeht, dass über genügend Wissen bezüglich des Darstellungsobjektes verfügt wird [siehe Kap. 5.3.2 Punkt c) Bekanntheit wird vorausgesetzt]. Ein weiterer Punkt, ist die Veranschaulichung durch Beispiele. Unser Autor untermauert seine Erzählung durch zahlreiche Beispiele, welche die Beschreibung für 932 Martines, Matias und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltextanalyse, München 2008, S. 51. 933 Auf das Fehlen von Satzzeichen im SL wurde bereits hingewiesen.
Darstellungsmodi
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den Leser zugänglicher machen und ebenfalls auf den Wahrheitsgehalt verweisen sollen. Er nennt bei der Beschreibung der Werbemittel exemplarisch, was auf den Plakaten steht und welche Produkte angepriesen werden. Der Wortlaut ist wie folgt: »Um neue Produkte anzukündigen und Kunden zum Kauf anzuregen, werden viele verschiedene Ankündigungen (iʿla¯na¯t) gemacht. Zum Beispiel: ›bei Herrn Soundso gibt es‹ oder ›im Laden von Soundso werden sehr guter und günstiger Schnupftabak, Tabak und dergleichen Waren verkauft‹« [32].
Er nennt also konkrete Beispiele, um dem Leser zu demonstrieren, wovon er spricht. In den meisten Fällen verwendet der Autor den Begriff »mesela¯«, um ein Beispiel anzuführen, das seine Erzählung untermauern soll. Eine weitere Strategie sind die zahlreichen von ihm eingesetzten Vergleiche, die Gegenstand des Kapitels 5.1 und 5.2 sind. f) Autoritätenverweis Als eine weitere Beglaubigungsstrategie gilt der Verweis auf eine Instanz außerhalb des inneren Rahmens der Erzählung. Zur Vermittlung des äußeren Wirklichkeitsgehalts des Berichts934 wird die Nennung einer Autorität genutzt. Der vorliegende Reisebericht beginnt mit einem persischen Zweizeiler, in dem der Allmächtige als Schöpfer des Lebens und der Sprache gepriesen wird. Die darauffolgende Einleitung enthält erneut eine Lobpreisung Allahs, zudem seines Propheten und des Sultans. Die Erwähnung einer Autorität wie in diesem Fall das Nennen des Herrschers ist ein Topos, der als »ein argumentativer Gesichtspunkt der Beglaubigung«935 gilt. Es kann aber auch auf andere Personen(-gruppen) verwiesen werden, wie beispielsweise auf Reisende oder aber andere Augenzeugen. Es finden sich Formulierungen wie: »Jeder, der es gesehen hat, weiß…« (görenleriñ maʿlu¯mu oldıg˙ı üzere) [20] und »…wissen diejenigen, die es gesehen haben« (asha¯b-ı ¸suhu¯duñ maʿlu¯mlarıdır) [69]. Dies hat denselben Effekt, näm˙˙ lich die Berufung auf eine andere Instanz, die über das Beschrieben dadurch wacht, dass sie dasselbe Wissen teilt bzw. durch ihre Autorität einen solch hohen Status einnimmt, dass es sich bei dem Geschilderten nur um die Wahrheit handeln kann. Einen indirekten Hinweis darauf, dass er die Wahrheit berichtet, verpackt der Verfasser neben diesen von ihm genutzten Strategien in der Mitteilung an seine Leserschaft, indem er sich darüber entrüstet, wenn sich die Engländer seinen Erzählungen gegenüber überrascht zeigen und einige ihm sogar keinen Glauben 934 Neuber: »Die frühen deutschen Reiseberichte«, S. 58. 935 Neuber: »Die frühen deutschen Reiseberichte«, S. 56.
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schenken. Konkrete Verweise dahin gehend, dass etwas zu den »wahren Begebenheiten« gehört [83] oder »Tatsachen übereinstimmend überliefert« [83] werden, machen den Realitätsanspruch des SL deutlich. Der Autor verweist auf eine höhere Instanz, die den Wahrheitsgehalt seiner Erzählung rechtfertigen soll und dem Leser suggeriert, Fakten vorgelegt zu bekommen.
5.3.4 Zwischenfazit Darstellungsmodi Die drei hier untersuchten Strategien (mit ihren jeweiligen Unterkategorien) stehen in einem engen Zusammenhang miteinander. Was den Autor zu seinen Schilderungen antreibt, ist seine Neugier und sein Interesse. Er sieht sich mit Neuheiten und Ungewöhnlichkeiten konfrontiert, die er mit Worten der Bewunderung und des Staunens zum Ausdruck bringt und für deren Beschreibung er auf den Aspekt der Neugier zurückgreift. Dabei stellt er sowohl positive als auch negative Seiten des bereisten Landes und seiner Landsleute dar. Das Motiv des Staunens ist ein wichtiges Erzählmittel, das im gesamten Reisebericht immer wieder eingesetzt wird, um die Außergewöhnlichkeit und Andersartigkeit der Engländer und Englands im Vergleich zum Osmanischen Reich und den Osmanen herauszustellen. Aufgrund der Einzigartigkeit ist er zum Teil nicht in der Lage, das Gesehene und Erlebte zu beschreiben, was den Topos der Unbeschreibbarkeit in Erscheinung treten lässt. Seine Eindrücke und Erlebnisse lösen bei ihm Überwältigung, Unfassbarkeit oder Faszination aus, die ihn an einer sprachlichen Vermittlung hindern. Der Leser erhält den Eindruck, es tatsächlich mit etwas sehr Außergewöhnlichem zu tun zu haben, wodurch das vom Autor gelieferte Bild untermauert wird. Schließlich muss er seine Beobachtungen und Erkenntnisse, zu denen Merkwürdigkeiten und Kuriositäten, aber auch erstaunliche und wunderliche Dinge zählen, dem Leser zugänglich machen. Da er diese jedoch teilweise nicht zu beschreiben fähig ist oder das Erzählte für den Leser abwegig erscheinen mag, muss er seine Erzählung durch bestimmte Strategien glaubhaft machen. Diese hier untersuchten drei strategischen Hauptmerkmale, tragen zu dem überlieferten Bild insofern bei, dass die Darstellung der Engländer zweigeteilt ist. Der Autor bekundet einerseits Bewunderung und andererseits Ablehnung gegenüber Verhalten und Einstellung der Engländer genauso wie gegenüber der Stadt London. Die unter dem Aspekt der Neugier aufgezeigten Begriffe beinhalten genau diese Gegensätzlichkeit. Beschreibungen, die Langeweile, Missfallen etc. hervorrufen können, spart er aus. Dies stimmt insofern mit dem von ihm gelieferten Bild von England und den Engländern überein, als dass der Autor bei diesen Verfahren von Sonderlichkeiten spricht und das Land und seine Bewohner im positiven und negativen Sinne darstellt. Für die Beschreibung seiner Beob-
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achtungen keine Worte zu finden oder diese mit unterschiedlichen Begründungen auszulassen, verstärkt den Eindruck beim Leser, dass es sich wahrlich um etwas ganz Besonderes oder Absonderliches handeln muss. Das überlieferte Bild wird bekräftigt. Dass er um die Glaubhaftigkeit seiner Worte bemüht ist, hängt einerseits vom Topos des Unbeschreibbaren ab, der nach einer Rechtfertigung gegenüber der Leserschaft verlangt. Andererseits bedürfen aber auch seine Erzählungen bezüglich der Andersartigkeit der Engländer einer Beglaubigung. Die hier dargestellten Beglaubigungsstrategien sind nicht nur in dem vorliegenden Reisebericht vorzufinden. Es handelt sich sozusagen um einen Werkzeugkasten der Wahrheitsbekundungen im Genre Reisebericht. Durch den Einsatz dieser verschiedenen Beglaubigungsstrategien appelliert der Autor an die Leserschaft, das Berichtete als real anzunehmen. Es sind somit narrative Strategien zur Leserpersuation.
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Neben dem SL gibt es noch eine weitere Reisebeschreibung, die über London zur Zeit der ersten internationalen Weltausstellung berichtet, nämlich den von Mehmed Rauf verfassten Bericht mit dem Titel Seya¯hatna¯me-i Avrupa (Europa˙ Reisebericht). Die beiden Texte sind die einzigen osmanischen Englandberichte aus dieser Zeit. Die Schilderung der Weltausstellung als Kernthema bzw. Ausgangspunkt der Reise bildet eine Gemeinsamkeit beider Beschreibungen. Ihre Verfasser reisen im selben Jahr an denselben Ort und berichten anschließend über ihre Beobachtungen und Erfahrungen. Sie behandeln dabei teilweise exakt dieselben Themen. Beide Berichte stellen insofern eine Neuerung dar, als sie der belesenen osmanischen Öffentlichkeit Beschreibungen aus dem Alltagsleben einer europäischen Nation liefern, indem sie verschiedene Themen wie Transportmittel, Bibliotheken, das britische politische System oder die Essgewohnheiten der Engländer angehen.936 Zudem schreiben beide Autoren für die Zeitung Cerı¯de-i Hava¯dis, in der der SL erschienen ist. Diese Gemeinsamkeiten verlangen geradezu nach einer gegenüberstellenden Analyse der beiden Berichte im Rahmen dieser Arbeit. Beide Texte werden nach formalen, inhaltlichen und sprachlichen Gemeinsamkeiten untersucht, um auf Übereinstimmungen hinsichtlich des überlieferten Bildes der Engländer und Englands einzugehen.
936 Kuneralp: »Les Ottomans à la découverte de l’Europe«, S. 54.
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5.4.1 Zu Mehmed Rauf, Verfasser des Seya¯hatna¯me-i Avrupa ˙ Mehmed Rauf, der Autor des Seya¯hatna¯me-i Avrupa, reiste ebenso wie der ˙ Verfasser des SL im Jahr 1851 nach London und besuchte die dortige Weltausstellung. Was die Recherche zu seiner Person betrifft, wird diese durch die Tatsache erschwert, dass es noch drei weitere Autoren aus dem späten Osmanischen Reich gibt, die denselben Namen tragen. Einer war ein sehr bekannter Autor und Journalist, der zahlreiche Romane (sein bekanntester Roman heißt Eylül [September]) und Theaterstücke geschrieben und von 1875–1931 gelebt hat. Ein weiterer Namensvetter war ein 1882 geborener Dichter, der sich mit der italienischen Literaturgeschichte befasste. Um sich vom vorigen Autor zu unterscheiden, kürzte er seinen Namen stets mit M. Rauf ab.937 Der Dritte im Bunde trug den Namenszusatz Leskovikli (aus Leskovik). Auch wenn von manchen behauptet wird, dass es sich bei diesem letzten Vertreter um den Verfasser des Europa-Reiseberichts handelt, so ist dies nicht der Fall. Leskovikli Mehmed Rauf ˙ muss nämlich in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts geboren sein.938 Demnach haben alle Namensvetter in der Zeit nach dem Verfasser des SA gelebt. Auch über ihn gibt es nur recht spärliche Informationen. So ist bekannt, dass er Sekretär im Ministerrat war und seine Reise im Auftrag des Sultans angetreten hat.939 Im Bericht selbst erwähnt er zu Beginn seiner Schilderung, im Dienste der Reichskanzlei zu stehen.940 Desweiteren ist darin zu lesen, dass er bei zwei Treffen mit der Königin Englands in London zugegen war, woraus sich schließen lässt, dass er einer offiziellen Gesandtschaft des Osmanischen Reiches angehörte. Die Er937 Karakartal, Og˘uz: »Türkiye’deki I˙lk I˙talyan Edebiyatı Tarihi: Mehmet Rauf ve I˙talyan Tarih-i Edebiyatı (1913) Üzerine« [Die erste italienische Literaturgeschichte in der Türkei: Über Mehmet Rauf und die italienische Literaturgeschichte (1913)], Mediterráneo / Mediterraneo, Nr. 4 (2009), S. 74. 938 Leskovikli Mehmed Rauf war während der Gründungszeit (Ende des 19. Jahrhunderts) des Komitees für Einheit und Fortschritt (I˙ttiha¯d ve Terakk¯ı Cemʿiyeti) Schüler an der Hoch˙ ¯ye). Das˙ ˙bedeutet, dass er wesentlich jünger schule für Verwaltungsbeamte (mekteb-i mülkı als der Autor des SA gewesen sein muss. Siehe Demirbas¸, Bülent: »Vorwort«, in: Leskovikli Mehmed Rauf: Ittihat ve Terakki Cemiyeti Muhteremesine ˙Ittihat ve Terakki ne idi? Neuauflage Istanbul 1991, herausgegeben von Bülent Demirbas¸. 939 Serçe: Bir Osmanlı Aydının Londra Seyahatnamesi, S. 8 und S¸irin: Images of Europe in the Late Ottoman Empire, FN 9. ¯ medı¯ 940 Rauf schreibt einer der Schreiber des Staatssekretärs (a¯medı¯ hulefa¯sından) zu sein. A ˘ im Osmanischen Reich, der bzw. a¯metci wiederum war die Bezeichnung für einen Beamten dem Reʾı¯s ül-Kütta¯b (osmanischer Außenminister) unterstellt war und für die Leitung der Abteilung für Auswärtige Angelegenheiten und den Angelegenheiten zwischen den verschiedenen Regierungsabteilungen und dem Sultan verantwortlich war. Lewis, Bernard: »Dı¯wa¯n-i Huma¯yu¯n,« in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Edited by: P. Bearman, Th. Bianquis, C.E. Bosworth, E. van Donzel, W.P. Heinrichs. Brill Online, http://referenceworks. brillonline.com/entries/encyclopaedia-of-islam-2/diwan-i-humayun-COM_0171 (21. 05. 2015).
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wähnung, in London, wo er sich übrigens nach eigenen Angaben zwanzig Tage aufgehalten hat, in der osmanischen Botschaft gewohnt zu haben, weist ebenfalls daraufhin. Zudem erfährt der Leser noch, dass er, bevor er seine Europa-Reise antrat, bereits bei einer früheren Reise Wien besichtigt hat.941 Den einzigen weiteren Hinweis über seine Person liefert S¸irin, der darüber berichtet, dass Mehmed Rauf auch bei der Pariser Ausstellung von 1867 zugegen war.942 ˙ 5.4.2 Zum Werk Seya¯hatna¯me-i Avrupa Das Seya¯hatna¯me-i Avrupa (hiernach SA) erschien 1851, also noch im selben Jahr, in dem die Reise stattgefunden hat (und ein Jahr vor der Veröffentlichung des Seya¯hatna¯me-i Londra). Bisher konnte nur eine – leider unvollständige – Fassung der Reisebeschreibung ausgemacht werden. Es fehlen zehn des insgesamt 50 Seiten umfassenden Berichts, in denen es hauptsächlich um die Rückreise nach Istanbul geht. Außer der Erwähnung in ein paar Überblicksarbeiten über osmanische Reiseberichte im Allgemeinen,943 blieb das Werk bisher in der Forschung weitestgehend unberücksichtigt. Asiltürk stellt bei seiner Darstellung Europas aus Sicht osmanischer Reisender, für die er verschiedene osmanische Reiseberichte unter anderem bezüglich ihrer Aussagen über England und seiner Hauptstadt gegenüberstellt, einzelne Passagen aus dem SA dar.944 Abgesehen davon gibt es allerdings keine veröffentlichte Transliteration oder Übersetzung. Die Schilderungen tragen nicht umsonst den Titel Europa-Reisebericht, denn sie beschränken sich nicht nur auf London oder England – wie es weitestgehend beim SL der Fall ist, – sondern sie umfassen die gesamte Europareise Mehmed ˙ Raufs. Diese beginnt genau wie unsere andere Beschreibung mit einer Schifffahrt von Istanbul nach Malta. Nach einem elftägigen Aufenthalt auf der Insel geht die Fahrt mit dem Schiff weiter nach Napoli. Ein Zwischenstopp von zwei Stunden in der Hafenstadt Messina ermöglicht dem Autor auch diese Stadt ein wenig zu erkunden. In Napoli verbleibt er vier Tage, um dann über Land nach Rom weiterzureisen. Nach sieben Tagen geht es weiter zur an der Küste gelegenen Stadt Civitavecchia, um dort ein französisches Handelsschiff nach Livorno zu besteigen. Weitere Stationen auf der Reise sind Pisa, Florenz und Bologna. Anschließend geht es über Ferrara und Padova nach Venedig. Nach vier Tagen verläuft die Route weiter über Land durch mehrere Städte und am Gardasee vorbei nach Mailand. Der dortige Aufenthalt dauert drei Tage. Anschließend geht 941 SA, S. 3. 942 S¸irin: Images of Europe in the Late Ottoman Empire, FN 9. 943 S¸irin: Osmanlı ˙Imgeleminde Avrupa, u. a. S. 247f und Asiltürk: Osmanlı Seyyahlarının Gözüyle Avrupa, u. a. S. 91 und S. 505. 944 Asiltürk, Osmanlı Seyyahlarının Gözüyle Avrupa, beispielsweise S. 91 und S. 207.
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es zum Comer See, auf dem Rauf eine Bootstour unternimmt. Von Como, seiner letzten Station in Italien, führt die Route ins schweizerische Chiasso, um anschließend nach Lugano weiterzureisen. Von dort geht es über die Alpen nach Luzern. Es folgt ein Tag Aufenthalt in Basel und die anschließende Weiterreise über die Grenze nach Straßburg. Nach einer Übernachtung in Mainz ist die nächste Station Köln, von wo es weiter durch Belgien wieder nach Frankreich geht, um dann von der Küstenstadt Calais mit dem Schiff nach England überzusetzen. Das letzte Stück nach London wird erneut mit dem Zug zurückgelegt. Die Hinreise entspricht also ungefähr einer Route, die Dumont als üblich für eine Europarundreise Ende des Jahrhunderts ansieht. Der Prototyp sieht eine Schifffahrt von Istanbul nach Marseille vor, von wo aus die Option besteht, mit dem Zug weiter nach Paris oder in den Norden Italiens und in die Schweiz zu reisen. Anschließend besichtigte man entweder London oder Deutschland, mit ein paar Tagen Aufenthalt in Berlin. Zu einem üblichen Reiseverlauf gehörte auch meist eine Schifffahrt auf der Donau, die Besichtigung der Städte Wien und Budapest und eine Rückreise nach Istanbul mit dem 1883 in Betrieb genommenen Orient-Express.945 Über Raufs Rückreise wissen wir aus den wenigen Seiten, die erhalten sind, dass er nach dem Besuch in England durch Frankreich reiste. Nach einer Lücke von zehn Seiten erfahren wir, dass er über die Donau durch Ungarn und Bulgarien nach Istanbul zurückkehrte. Der Darstellung Londons widmet Mehmed Rauf zehn Seiten, die für den ˙ anstehenden Vergleich mit dem SL von Relevanz sind. Neben diesem Abschnitt wird auch die Einleitung des Berichts berücksichtigt, weil der Autor dort Angaben zu seiner eigenen Person und zum Anlass seiner Reise macht und auf die Londoner Ausstellung eingeht.946 Inhaltlich geht es um die Beschreibung Londons, die dortigen Sehenswürdigkeiten und besonderen Gegebenheiten. Er kommt u. a. auf Häuser, Straßen, Parkanlagen, Veranstaltungen, Panoramen, Museen und vor allem die Weltausstellung zu sprechen. Da es sich um einen offiziellen Bericht handelt, ist er in einem nüchternen Stil verfasst, der sich allerdings ebenfalls gut lesen lässt, auch wenn er nicht ganz so locker und amüsant wie der SL geschrieben ist.
945 Dumont: »Western exotism«, S. 132. 946 Die Übersetzung der besagten zehn Seiten über London und der Einleitung der Reisebeschreibung sind der vorliegenden Arbeit angehängt.
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5.4.3 Vergleichende Analyse Die Vergleichende Analyse der beiden Reisebeschreibungen findet auf drei Ebenen statt: der formalen, der inhaltlichen und der sprachlichen bzw. strategischen. Dabei werden die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede bei der Darstellung der Engländer und Englands durch die beiden Autoren dargestellt. 5.4.3.1 Formale Gegenüberstellung Wie bereits erläutert, reisten beide Autoren zur selben Zeit, nämlich im Frühjahr 1851, von Istanbul mit dem Schiff ab. Sie bestiegen unterschiedliche Schiffe, deren Namen sie beide in ihren Berichten wiedergeben. Mehmed Rauf reiste mit ˙ einer offiziellen Delegation auf der Feyz˙-i ba¯rı¯, die auch die Ausstellungsstücke des Osmanischen Reiches nach England brachte, während der Verfasser des SL nach eigenen Angaben als einziger Osmane Passagier des englischen Schiffs Tagus war. Das Ziel beider Autoren war London, wobei sich ihre Reiserouten voneinander unterschieden. Rauf startete Anfang April seine Europareise mit verschiedenen Stationen, deren Höhepunkt London mit der dortigen Weltausstellung darstellte. Der Verfasser des SL beginnt seine Reise einen Monat später, Anfang Mai, und verpasst dadurch ebenfalls wie Rauf, dessen Schiff mit Verspätung eintrifft, die Eröffnung der Weltausstellung am 1. Mai 1851. Beide Autoren schildern neben ihrer Hinreise und den Exponaten der Ausstellung die Stadt London und ihre Umgebung samt Sehenswürdigkeiten und die Eigenarten der Engländer. Neben der Hinreise und dem Aufenthalt in England bzw. den anderen Ländern Europas berichtet Rauf ebenfalls von seiner Rückreise, die allerdings aufgrund der fehlenden Seiten nicht vollständig rekonstruiert werden kann. Sie muss aber genau wie die Anreise mehrere Seiten in Anspruch genommen haben und damit einen nicht geringen Teil der Reisebeschreibung ausmachen. Der Verfasser des SL thematisiert hingegen in seinem Bericht seine Rückreise überhaupt nicht. Seine Beschreibung endet nach einer Reihe von Anekdoten bezüglich der Engländer und Englands mit ein paar Sätzen zur Fertigstellung seines Textes. Diesen bezeichnet er genau wie Mehmed Rauf als ˙ seya¯hatna¯me, wobei es sich bei Raufs Beschreibung um einen offiziellen Bericht ˙ handelt, den er womöglich im Auftrag der Hohen Pforte verfasst hat. Gleich zu Beginn seines Reiseberichts gibt Mehmed Rauf seine Identität bekannt und ˙ nennt seinen Namen und seine Position. Als Sekretär des Ministerrats oblag ihm die Aufgabe, über die Beziehungen zum Ausland zu berichten. Sein Schreibstil ist formeller als der im SL. Sein Bericht ist allgemeiner und kürzer gefasst, beinhaltet keine Emotionen oder Werturteile. Die eigene Person des Autors tritt in den Hintergrund. Er verwendet kaum die erste Person Plural, sondern spricht von sich grundsätzlich als »unwürdiger Diener« (ʿabd-ı ʿa¯ciz bzw. ʿabd-ı ahad oder ˙
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bendega¯n), der dem Sultan unterstellt ist. Vom Sultan selbst spricht er nur voller Ehrerbietung und erwähnt ihn und seine ruhmreiche Herrschaft, wann immer sich eine Gelegenheit bietet. Das SL wurde hingegen anonym verfasst, so dass der Leser nicht weiß, um wen es sich bei dem Schreiber handelt. Dieser spricht von sich selber meist in der ersten Person Singular oder aber Plural. Nur vereinzelt verwendet er die von Rauf vermehrt eingesetzten Formen der Bescheidenheit. Auf Seite drei zu Beginn seiner Schilderung, kurz nach der Lobpreisung auf Allah, seinen Propheten und den Sultan, setzt er im SL die Eigenbezeichnung abd-ı ʿa¯ciz ein: »Auch meine Wenigkeit befand sich durch die dank des Sultans durchgeführte Reise dort [in London]« [3]. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, rückt der Verfasser des SL seine eigene Person gerne in den Vordergrund. Dabei nimmt er verschiedene Rollen ein, wie die des Helden, Schurken oder Gentleman, die ihn unter anderem auch in manch prekärer Situation darstellen. Der unterschiedliche Stil ist zudem auf die Publikationsformen zurückzuführen. Während Raufs Bericht als offizielles Schreiben zusammenhängend veröffentlicht wurde, wurde das SL in Fortsetzung in der Zeitung veröffentlicht und diente daher neben der Berichterstattung auch der Unterhaltung. 5.4.3.2 Inhaltliche Gegenüberstellung Was die Themen anbelangt, die der Verfasser des SL und Mehmed Rauf an˙ sprechen, so sind sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede festzustellen. Dabei beschreiben sie sowohl positive wie auch negative Auffälligkeiten. Kurz nach ihrer Ankunft zeigen sich gleich beide Autoren von der Größe Londons beeindruckt. »Sie ist eine sehr große und imposante Stadt«, schreibt Rauf und beschreibt auch die Straßen als »geradlinig«, »breit und lang« [27]. Wie bei jeder Stadt, die er schildert, geht er zuerst auf die Straßen und Gebäude ein. Auch London betreffend verweist er auf das einheitliche Aussehen der Häuser, die von außen wie einzelne, immense Gebäude aussehen. »[Erst] wenn man aufmerksam hinschaut, versteht man anhand der Vielzahl an Türen, dass es nicht eins, sondern verschiedene Häuser sind.« Auch der Verfasser des SL zeigt sich beeindruckt von dem Ausmaß der Stadt und ihren großen Gebäuden, »die es wert sind, eine Reise dorthin zu unternehmen und sie zu besichtigen« [12]. Nicht nur die Dimension, auch die Ordnung und Sauberkeit Londons verwundern beide Autoren. »Trotz dieser Größe ist die genannte Stadt wie in Form gegossen überraschend übersichtlich und alle Orte und Plätze sind in Anbetracht ihrer Anordnung, Sauberkeit und Größe überragend« [27], schreibt Mehmed Rauf. ˙ Den Verfasser des SL beeindruckt die »Stabilität und Ordnung« der Läden und Geschäfte [24]. »Als ich eines Tages in einen Barbierladen ging, um mich rasieren zu lassen,« informiert er seinen Leser, »war ich aufgrund seiner Ausstattung und
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Sauberkeit voller Bewunderung (hayret)« [32]. Auch die Anordnung der Parks ˙ innerhalb und außerhalb der Stadt scheint beeindruckend. Die Gärten und Wälder um das Schloss Windsor zum Beispiel erscheinen dem Verfasser des SL als »ordentlich und schön angelegt« [64]. Weitere Themen, auf die beide zu sprechen kommen sind Feiern, Festlichkeiten und Freizeitangebote. Die Bälle und Soirées finden in den »Nachtgärten« statt, »in denen jede Nacht dreißig- bis vierzigtausend Lampen und Lichter angezündet werden«, und dauern bis zum nächsten Tag [SA 28]. Der Verfasser des SL präzisiert seine Angaben, indem er berichtet, dass in »einem Park mit dem Namen Vauxhall, in dem es Theater und Varietés gibt, Feuerwerke und Musikveranstaltungen arrangiert« werden [89]. Auch den »Vergnügungspark Surrey« beschreibt er »dank der dort abends aufgeführten akrobatischen Darbietungen und Theatervorführungen« als einen sehr unterhaltsamen Ort [30]. Tagsüber laden die »›Park‹ genannte[n] große[n] Flächen, die mit Blumen, schönen Bäumen und Grünflächen angelegt worden sind und die für ihre recht saubere Luft bekannt sind« [SA 28], die Londoner zu Spaziergängen und zum Erholen ein, stellen beide Autoren fest. Neben den Parkanlagen zählt das erwähnte Schloss Windsor zu den Sehenswürdigkeiten Londons und seiner Umgebung, auf die beide Schreiber zu sprechen kommen. Während der Verfasser des SL den Ort selber besichtigt, berichtet Rauf nur vom Hörensagen von dem »prunkvollen Gebäude«, dessen umliegendes Gelände »ein schöner, äußerst angenehmer Ort« sei [31]. Eine weitere Besonderheit Londons, auf die beide Autoren eingehen, sind die unter der Bezeichnung Panorama und Diorama bekannten perspektivischen Darstellungen von Ereignissen oder Landschaften. Beide Autoren beschreiben unterschiedliche von ihnen besichtigte Darstellungen dieser Art. Mehmed Rauf ˙ befasst sich eingehend mit der Beschreibung von »Mr. Wyld’s Model of the Earth«, unter anderem auch »Wyld’s Great Globe« genannt. Dieses Diorama der Erdoberfläche in Form einer Hohlkugel wurde als Touristenattraktion anlässlich der Weltausstellung in London errichtet.947 Noch eine Sache, die es in London zu besichtigen gilt, ist ein Platz mit einer Art Panorama, auf dem sich eine kleine runde Kuppel befindet. Wenn man das Gebäude mit dem kleinen Garten darum durch seine Tür betritt und ein wenig läuft, kommt man in einen runden Saal unterhalb der Kuppel. Innen ist er mit Leuchtern und einigen Statuen ausgestattet. In der Mitte gibt es eine Treppe in Form einer Minarett-Treppe und wenn man vierzig bis fünfzig Stufen hochsteigt, betritt man einen Platz, der dem Umgang an einem Minarett gleicht. Obwohl es umliegend keinerlei Fenster oder dergleichen gibt, kann man ein Bild von Paris bei Nacht sehen. Die Treppe, die man besteigt, ist nicht sehr hoch, aber dennoch hat man das Gefühl, man sei sehr weit hinauf geklettert. Ganz Paris 947 Haltern: Die Londoner Weltausstellung, S. 173.
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mit Umgebung liegt unten und ziemlich weit weg, ist aber dennoch auf diese Weise in voller Größe zu sehen. Am Himmel sind Mond und Sterne angebracht und man kann den Mond, der sich quasi überhaupt nicht vom eigentlichen Mondschein unterscheiden lässt, die Sterne und das Licht der Straßenlaternen von Paris beobachten. Kurz gesagt, es ist eine meisterhafte Sache. [SA 30]
Rauf scheint sehr beeindruckt, da seine Beschreibung bezüglich des Panoramas hier noch nicht endet, sondern von ihm weiter ausgeführt wird. Der Verfasser des SL kommt ebenfalls auf diese eindrucksvolle Art der landschaftlichen Darstellung zu sprechen. Insbesondere geht er dabei auf das Colosseum genannte Gebäude ein [88], in dem zwei der Londoner Panoramen jener Zeit, nämlich eines von London am Tag und eines von Paris bei Nacht, gezeigt wurden. Die Fabriken in und um London imponieren auch beiden Autoren. Rauf berichtet von der Größe dieser Anlagen und beschreibt eingehend eine in der Stadt gelegene Brauerei: »Die Bierfabrik in der Stadt ist etwas Wunderbares. Ihr Umfang hat fast die Größe eines Dorfes. Um die Gerste zu kochen gibt es Kupferkessel so groß wie Becken und viele kleine und große Fässer« [29]. Für den Verfasser des SL sind die Fabriken die Orte, »in denen die Kuriositäten der Industrie (sana¯yiʿ-i g˙arı¯be) produziert werden« [12]. Allerdings schildert er im ˙ Unterschied zu Rauf auch, wie Fabrikinhaber Kinder für die dortige Arbeit einsetzen und wie gefährlich, ja lebensbedrohlich, das für sie ist. Eine weitere Gemeinsamkeit in beiden Reiseberichten sind neben der Beschreibung der Vorbereitungen zur Ausstellung, das Ausstellungsgebäude selbst und die darin präsentierten Exponate. Beide Autoren besuchen die Weltausstellung und berichten ihren Lesern von dem im Hydepark ausschließlich aus Eisen und Glas errichteten Gebäude [SA 33, SL 14]. Zudem beschreiben sie dieselben Ausstellungsstücke, vor allem einen Springbrunnen aus Metall und den als »Ku¯h-e Nu¯r« (Berg des Lichts) bezeichneten Diamanten aus Indien, der der englischen König als Geschenk überreicht wurde. Während Rauf weiter ausführlich auf die verschiedenen Schmuckstücke, Vasen und dergleichen eingeht, beschreibt der Verfasser des SL vermehrt Möbelstücke und Maschinen. Beide Autoren nennen ebenfalls die Ticketpreise, Kosten für den Bau und Gewinn der Einnahmen [SA 36, SL 14f]. Den Hafen als Umschlagplatz von Waren beschreiben wiederum beide Autoren als sehr beeindruckend. Unzählige Schiffe aus dem Ausland erreichen London. Um ihre Waren ab- und aufladen zu können und den Zoll nicht zu umgehen, wurden bestimmte Maßnahmen ergriffen, die beide Autoren schildern [SA 28, SL 19]. Was den Schiffs- und Bootsverkehr anbelangt, so nimmt auch die Beschreibung der Themse als Verkehrsstraße in beiden Reisebeschreibungen ihren Platz ein [SA 28, SL 85f.]. Rauf fasst zusammen, dass »unzählige kleine Boote permanent die Bevölkerung für wenig Geld an die gewünschten Plätze« befördern [28]. Er macht noch weitere detaillierte Angaben:
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Der Großteil des Londoner Handels und die Anzahl der auf diesem Wege eingesetzten Schiffe sind unfassbar und die tagsüber eingesetzten Schiffe sind nicht zu zählen. Abgesehen von diesen gibt es noch Schiffe, die nur Kohle transportieren und deren Anzahl sich auf viertausend beläuft. Die Handelsschiffe belaufen sich auf achthundert. Die staatliche Seemacht hat mit den Dampfschiffen mehr als siebenhundert Schiffe. [SA 32]
Der Verfasser des SL geht ebenfalls ausführlich auf die »Kanal genannten Durchfahrtsstraßen« ein [85]. Die Schifffahrt ist wichtig für den Handel, auf dessen besondere Stellung in England beide Autoren verweisen. »Wie allen bekannt ist, sind die Engländer im Handel allen Völkern überlegen« [28], schreibt Rauf. Der Verfasser des SL merkt dazu an: »Es ist bekannt (maʿlu¯m olub), dass die Engländer (I˙ngilizler) stets nach ihrer Arbeit streben« [82] und ihren Handelsgeschäften sehr viel Bedeutung beimessen [11]. Rauf betont, dass »unter den Völkern der Welt die Engländer auch bei der Arbeit Geschicklichkeit und Eifer an den Tag legen« [32] und begründet die Idee der Ausstellung damit, dass die europäischen Völker »an Geschicklichkeit, Fähigkeit und Kunstfertigkeit (hüner ve maʿarifet ve sanʿatca) in höchstem Grade fortgeschritten« und ihre »Werke der ˙ kulturellen Entwicklung an einem Ort gesammelt worden« sind [2]. Was die Haltung der Engländer gegenüber der Polizei angeht, so sind sich auch wieder beide Autoren einig. »Während die Bevölkerung Londons auf 2.360.000 angestiegen ist, die Engländer aber mit Gelassenheit ausgezeichnet und ein sehr wohlerzogenes Volk sind, sind nur zehn bis zwölftausend Polizisten genannte Gendarmen mit der Sicherheit und Ordnung so vieler Bewohner beauftragt« [32],
schreibt Rauf. Da die Bevölkerung »vollkommenen Gehorsam leistet« (kema¯liyle ita¯ʿat e˙tdiklerinden), begründet er weiter, sei eine Menschenmenge von dieser ˙ Größe und Vielzahl dennoch leicht unter Kontrolle zu halten. Der Verfasser des SL fasst die Einstellung der Engländer gegenüber der Polizei mit nahezu denselben Worten zusammen: »Die Bevölkerung leistet vollkommenen Gehorsam (kema¯l-ı inkiya¯d ve muta¯ʿat kılınmakda) [20]«. Zudem sagt er, »die englische ˙ ˙ ˙ ˙ Bevölkerung erweist der Polizei gegenüber großen Respekt, so dass die Polizisten keine Waffen tragen.« Ein aus der Ferne hochgehaltener Stock, an dessen Spitze der Name der Königin eingraviert sei, reiche aus, um jeden zum Stehen zu bringen [91], heißt es weiter im SL. Analog zu Raufs Feststellung, die Engländer seien »ein sehr wohlerzogenes Volk«, merkt der Verfasser des SL an anderer Stelle an, dass »die Engländer sehr ehrenwerte Männer (mükerrem adamlar)« seien [67]. Als weniger positiv betrachten beide Autoren das Klima und die Luftverschmutzung. »Die Größe und Herrlichkeit« Londons auch von höher gelegenen Stellen in ihrer Vollständigkeit zu sehen, ist jedoch »durch die mit Rauch belegte Luft nicht möglich« [31], moniert Rauf. Der Verfasser des SL steigt auf
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das höchste Gebäude Londons, um ebenfalls festzustellen, dass zur Mittagszeit »vor lauter Dunst nichts zu sehen« ist [85]. Die Luftverschmutzung in der Stadt fällt beiden Autoren negativ auf. Neben dem feuchtkalten Klima, das die Autoren als unangenehmen empfinden, »verschlechterte sich die Luft gänzlich dadurch, dass neben den zahlreichen Fabriken auch die Zimmer in allen Häusern mit Kohleöfen geheizt werden« [27], so Rauf. Auch die Häuser seien aufgrund dieser Luftverschmutzung stets schwarz gefärbt, heißt es weiter im SA. Der Verfasser des SL stellt gleichfalls fest, dass Ruß von Steinkohle »immense Spuren hinterlässt, die Luft verschlechtert und die Umgebung verschmutzt« [69]. Rauf merkt dazu noch an, dass die Situation im Winter noch viel schlimmer sei, da die Stadt »im Rauch erstickt und sich die Leute auf der Straße fast nicht sehen könnten, obwohl tagsüber die Laternen angezündet werden« [28]. Der Leser erfährt zudem, dass die vornehmen Leute deswegen im Winter auf die Dörfer ziehen und erst im Sommer wieder in die Stadt zurückkehren. Dies sei auch der Grund dafür, warum »im Unterschied zu den anderen europäischen Ländern festliche Veranstaltungen wie Bälle und Soirées hier im Sommer stattfinden« [28], erklärt Rauf. Übereinstimmend berichten beide Autoren vom Trinkverhalten der Engländer. Rauf geht sogar soweit, bei der Beschreibung der Lagerräume am Hafenbecken zu behaupten, dass »die Engländer noch nicht einmal Wasser trinken, ohne Wein hinzuzufügen,« weshalb so viel Wein nach England geliefert würde, »dass die Fässer nicht in diese in solch hoher Anzahl angelegten großen Lagerräume passen, sondern Unmengen von ihnen am Hafenrand gelagert werden« müssten [29]. Dass die Engländer nicht in Maßen, sondern übermäßig viel trinken, stellt auch der Autor des SL fest [11]. Neben diesen zahlreichen Gemeinsamkeiten sind aber auch Unterschiede beim Vergleich beider Reisebeschreibungen auszumachen. Auch wenn beide Autoren über die Ausstellung berichten, so fällt beispielsweise die Schilderung beim Verfasser des SL insgesamt kürzer aus. Er begründet dies damit, dass die Zeitung Cerı¯de-i Hava¯dis bereits ausführlich über die Ausstellung berichtet habe und er daher auf eine Wiederholung verzichte [91f]. Die Beschreibungen der Ausstellung bei Rauf gehen hingegen über vier der zehn Seiten zu London, während im SL die Schilderungen nur etwa fünf Prozent des gesamten Berichts ausmachen. Rauf hält sich nach eigenen Angaben zwanzig Tage in London auf und verbringt vermutlich mehrere Tage auf der Ausstellung, die Anlass seiner Reise war. Der Verfasser des SL bleibt – so sind die Schätzungen – fast ein halbes Jahr in London und nennt die Ausstellung, die er laut Angaben in seinem Bericht mehrmals besichtigt hat [16], nicht explizit als Grund seines Englandbesuches. Der Schwerpunkt beim SL liegt auf der Darstellung der vom Autor beobachteten Gegebenheiten und seiner gemachten Erfahrungen das Alltagsleben der Engländer und die Besonderheiten Londons betreffend.
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Eindeutig bringt Rauf außerdem die Überlegenheit Europas gegenüber anderen Ländern zur Sprache, die er auf die »vollkommene Zivilisation« und der daraus »zustande gekommenen Werke der kulturellen Entwicklung« zurückführt [2]. Der Verfasser des SL zeigt sich auch beeindruckt von einzelnen Errungenschaften der englischen Bevölkerung, spricht aber an keiner Stelle von deren tatsächlichen Überlegenheit gegenüber anderen Ländern oder Völkern, sondern nur von ihrer eigenen Auffassung, anderen überlegen zu sein [37]. 5.4.3.3 Sprachliche bzw. strategische Gegenüberstellung Nicht nur inhaltlich, sondern auch auf sprachlicher Ebene sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Reisebeschreibungen festzustellen. Rauf verwendet wie der Verfasser des SL ebenfalls den Vergleich als rhetorisches Mittel, um seiner Leserschaft Fremdes in vertrauten Kategorien näher zu bringen. Auch hier lassen sich die drei von Beller herausgearbeiteten Techniken des Vergleichs feststellen. »Die Stadt [27] London ist zweimal so groß wie die drei Vororte Istanbuls«, berichtet Rauf, was Bellers Analogie entspricht. Auch bei der oben zitierten Beschreibung des Gebäudes, das eines der Panoramen beherbergte, sind Bezugspunkte mit der eigenen Kultur zu sehen. Die Treppe wird mit der Treppe eines Minaretts gleichgesetzt und der dortige Platz wird ebenfalls mit dem Umgang eines Minaretts verglichen (»In der Mitte gibt es eine Treppe in Form einer Minarett-Treppe und wenn man vierzig bis fünfzig Stufen hochsteigt, betritt man einen Platz, der dem Umgang an einem Minarett gleicht« [30]). Entsprechungen aus der eigenen Kultur dienen dem Autor als Vergleichsparameter zur Veranschaulichung des Beschriebenen für seinen Leser. Rauf bedient sich ebenfalls einer weiteren Technik des Vergleichs, die auch im SL vorkommt. »Wie es auch an anderen Orten Europas gängig ist, leben hier manche Familien nicht [gemeinsam] in einem Haus, sondern jede wohnt in ihrem eigenen« [27], stellt Rauf an anderer Stelle fest und verweist somit auf eine Gegebenheit in England, wie sie auch in anderen Ländern Europas gebräuchlich ist, aber wohl nicht im Osmanischen Reich. Durch die Negation der Tatsache, dass manche Familien nicht gemeinsam in einem Haus wohnen, deutet darauf hin, dass dies in der Heimat des Autors der umgekehrte Fall ist. Dieses Beispiel gehört in die Kategorie der reziproken Argumentation, da der Autor etwas beschreibt, das im bereisten Land vorkommt, so dass der Leser davon ausgehen kann, dass es im Land des Autors fehlt. Und umgekehrt verweist der Autor auf eine fehlende Sache und deutet somit auf dessen Vorhandensein in seiner eigenen Kultur hin.
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Neben dieser Vergleichsstrategie leiten beide Autoren mit Formulierungen wie »es ist bekannt«948 bzw. »wie allen bekannt ist« Informationen ein, deren Bekanntheit sie beim Leser voraussetzen oder zumindest als vorausgesetzt angeben. Die Aussage, die auf diese einleitenden Satzteile folgt, bezieht sich immer auf eine Allgemeininformation die Engländer bzw. England betreffend. »Es ist bekannt, dass Southampton, wo zahlreiche Schiffe mit verschiedenen Waren aus Indien und anderen Gegenden ankommen, ein wichtiger Handelsort ist« [8], lautet beispielsweise eine dieser Feststellungen im SL. Rauf ist der Ansicht, dass allen bekannt sein müsste, dass »die Engländer im Handel allen Völkern überlegen« sind [28]. Durch sprachliche Formulierungen, wie die hier genannte, wird dem Leser suggeriert, es mit einer Allaussage zu tun zu haben. Zu den weiteren Gemeinsamkeiten gehört, dass beide Autoren bei ihren Beschreibungen englische Originalausdrücke verwenden. Die zahlreichen Ausstellungsbesucher, die extra aus dem Ausland nach London angereist waren, »füllten die ›Omnibus‹ genannten Sammeltaxen und fuhren durch die Straßen« [36], erklärt Rauf seinem Leser und der Verfasser des SL berichtet, »mit den ›Omnibus‹ genannten Wagen Englands ist es ein Leichtes, hin und her zu fahren« [12]. Letzterer veranschaulicht das Vehikel seinem Publikum noch dazu durch eine anschließende detaillierte Beschreibung. Auch die Bezeichnungen einzelner Orte werden auf diese Art wiedergegeben. Rauf erläutert den Ort der Ausstellung als »einen inmitten der Stadt gelegenen und Hydepark genannten weitläufigen mit Bäumen bestellten Platz« [33]. Das Motiv des Staunens, das genau dann eintritt, wenn der Autor Verwunderung oder Staunen zum Ausdruck bringt, taucht ebenfalls in beiden Texten auf. Für eine Stadt in dieser Größe, schreibt Rauf über London, sei diese »überraschend übersichtlich« (s¸as¸ılacak derecede muntazam) und ihre Ordnung »ver˙ ˙ setzt den Menschen erheblich in Staunen« (baya¯g˙ı insa¯na hayret verir) [27]. Dass ˙ sich der Verfasser des SL dieser Erzählstrategie bedient wurde bereits ausführlich dargestellt.949 Auch der nächste aus dem SL bekannte Topos findet sich bei Mehmed Raufs ˙ Reiseschilderung: die Unbeschreibbarkeit. Die »Leichtigkeit und gute Art« mit der die Polizei die Vielzahl an Leuten in der Stadt kontrolliert, kann laut Rauf »nicht beschrieben werden« (taʿrı¯f olunamaz) [32]. Es fehlen ihm die Worte zur Schilderung seiner Beobachtungen genau wie für die Weltausstellung, über die er sagt: »Kurz gesagt war diese Ausstellung der Industrie und Waren aller Welt [36] ein nicht zu beschreibender Ort ohnegleichen« (taʿrı¯f ve tavs¯ıfi na¯ka¯bı¯l). Über die ˙ ˙ Exponate schreibt er, »dass es einer Person nicht möglich ist (havsala-ı be˙ ˙ 948 Für Abwandlungen diese sprachliche Einheit betreffend siehe Kap. 5.3.3 Punkt c) Schreibstil und Darstellungsweise. 949 Siehe Kap. 5.3.1.
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¸seriyeniñ ha¯ricinde), alle diese einzeln zu protokollieren und zu beschreiben« ˘ [34], weshalb er nur die wirklich seltenen Dinge aufzählen werde. Dieselbe Rechtfertigung findet sich im SL, dessen Verfasser aufgrund der zu weit reichenden Ausführlichkeit nur über manche von ihm gemachten Erkundungen berichtet [26]. Außerhalb des Vorstellbaren ist für Mehmed Rauf zudem die ˙ Anzahl der für den Handel eingesetzten Schiffe, die er als »unfassbar« (ʿakıldan ˙ ha¯ric bir ma¯dde) bezeichnet, und »die tagsüber eingesetzten Schiffe sind ˘ [ebenfalls] nicht zu zählen« (hadd ü hesa¯bı gelmez) [32], schreibt er in dem ˙ ˙ bereits weiter oben erwähnten Zitat. Neben dem Topos der Unbeschreibbarkeit erscheint ebenfalls der der Unzählbarkeit und zwar in beiden Texten. Im SL ist zum Beispiel die Zahl der Zuschauer im Her Majesty’s Theater unüberschaubar (hadd ü hesa¯bı olmayub) [19], genau wie die Zahl der bedürftigen Obdachlosen ˙ ˙ unüberschaubar ist (hadd ü hesa¯bı yokdır) [51] und es »unzählige« (hadd ü ˙ ˙ ˙ ˙ hesa¯bı yokdır) Bauten, wie der des Feuerturms gibt [85]. Das Beschriebene ˙ ˙ übersteigt das Fassungsvermögen des Autors, weshalb er sich zu keiner sprachlichen Darstellung imstande sieht und dem Leser nur mitteilt, dass sich etwas außerhalb des Fassbaren befindet. Im Unterschied zum SL fehlen jedoch Strategien der Beglaubigung, die den Wahrheitsgehalt des Erzählten bestätigen sollen, im SA gänzlich. Das kann damit begründet werden, dass der Bericht in einem nüchterneren Stil geschrieben ist, weniger Übertreibungen vorkommen, die eventuell die beschriebene Kultur ins Lächerliche ziehen könnten oder den Autor als fragwürdig präsentieren. Zudem berichtet Rauf nicht von unglaublichen Gegebenheiten, die dem Leser das Gefühl geben könnten, es gegebenenfalls mit der Unwahrheit zu tun zu haben. Mehmed ˙ Rauf hält seine eigene Person ebenfalls im Hintergrund, anstatt in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Seinen Emotionen und persönlichen Gedanken zur Bewertung seiner Erlebnisse und Beobachtungen räumt er keinen Platz in seinem Bericht ein. Stilistisch und inhaltlich bedarf demnach Raufs Reisebeschreibung keiner Glaubhaftmachung. Auffällig im SA ist, dass neben den Gegenüberstellungen mit der eigenen Kultur auch viel mit anderen Ländern und Kulturen, die der Autor bereist und besichtigt hat, verglichen wird. »Diese beiden Paläste sind im Vergleich zu denen in Italien, insbesondere den Palästen in Neapel, keine Objekte, die einen in Staunen versetzen« [32], stellt Rauf fest, als er von den beiden Residenzen der Königlichen Familie in London berichtet. Als er das Londoner Museum beschreibt, das er als »sehr groß und unübertrefflich« ansieht, bemerkt er allerdings, dass die Statuen »wie gewöhnliche Dinge im Vergleich zu denen in Rom aus[sehen]« [30].
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5.4.3.4 Zwischenfazit vergleichende Analyse Bei der inhaltlichen Gegenüberstellung der beiden Reiseberichte, lässt sich feststellen, dass es thematische Überschneidungen gibt. Zu ihren gemeinsamen Themen zählen unter anderem die Größe der Stadt London und ihre Sauberkeit und Ordnung. Beide Autoren gehen zudem auf die Fabriken, Gebäude, Museen, Tierparke, Anlagen, Veranstaltungen und mehr oder minder ausführlich auf die Ausstellung mit ihren Exponaten ein. Sie thematisieren die Einstellung der Engländer gegenüber ihrer Arbeit, ihre Haltung gegenüber der Polizei, die von Gehorsam und Respekt zeugt. Der Handel stellt einen wichtigen Aspekt dar, genauso wie der Schiffsverkehr, der dafür eingesetzt wird, aber auch die Boote auf der Themse werden beschrieben. Das sind alles Aspekte, die bei beiden Autoren Eindruck hinterlassen haben. Mit weniger positiven Attributen versehen sie die dortige Luftverschmutzung durch Rauch und Ruß, genauso wie das Trinkverhalten der Engländer. Während Rauf von der hohen Kunstfertigkeit und vollkommenen Zivilisation Europas spricht und daraus eine Überlegenheit gegenüber anderen Kulturen und Völkern ableitet, thematisiert der Verfasser des SL im Gegensatz dazu lediglich das Gefühl der Engländer, anderen Völkern überlegen zu sein, widerspricht dem jedoch. Er vermittelt in seiner Reisebeschreibung eher den Eindruck, dass er von einer Gleichwertigkeit der englischen und osmanischen Kultur überzeugt ist. Im Vergleich zum Verfasser des SL gibt Mehmed Rauf keine negativen ˙ Werturteile über die Engländer ab. Die einzige Feststellung, die als antithetische Argumentation gedeutet werden könnte, ist seine Bemerkung über den Weinkonsum der Engländer, wobei er diesen nicht weiter hinterfragt oder kritisiert. Der Verfasser des SL hingegen be- und verurteilt das Verhalten der Engländer, wobei er auch Lob und Anerkennung für sie übrig hat. Er berichtet von seinen persönlichen Erlebnissen und Erkenntnissen. Da ihm wesentlich mehr Zeit durch seinen deutlich längeren Aufenthalt zur Verfügung stand, ist sein Bericht auch dementsprechend ausgiebiger und vielseitiger. Den Hauptteil seiner Schilderungen nehmen ohnehin Land und Leute ein. Er beschreibt ihre Sitten und Gebräuche und ihr für ihn wunderliches Verhalten. Rauf stand für seinen Besuch weniger Zeit zur Verfügung. Zudem ist er in offizieller Gefolgschaft gereist, konnte sich wahrscheinlich nicht frei bewegen und umherreisen, weshalb er nicht so viele Orte besichtigen konnte. Bei seinen Schilderungen bewegt er sich mehr auf der Objektebene, indem er Beobachtungsgegenstände schildert, wie zum Beispiel die detaillierte Darstellung der Exponate. Für den Verfasser des SL scheint die An- und Abreise an sich nicht von Bedeutung gewesen zu sein, weshalb die Schilderung der Anreise im Verhältnis zur Gesamtlänge seiner Beschreibung auch nur recht knapp ausfällt und die Rückreise überhaupt erst gar
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nicht Gegenstand des Reiseberichts wird. Rauf widmet hingegen mehrere Seiten seiner eigentlichen Reise. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Raufs Bericht objektiver und kürzer gefasst ist. Es lassen sich jedoch dieselben erzählstrategischen Mittel und dieselben Ausdrücke in beiden Berichten finden. Der unterschiedliche Schreibstil könnte darauf zurückgeführt werden, dass die beiden Beschreibungen zu unterschiedlichen Zwecken verfasst worden sind, den Erwartungen eines unterschiedlichen Leserpublikums gerecht werden mussten und auf unterschiedliche Erscheinungsformen blicken. Während Raufs Beschreibung vermutlich als offizieller Bericht im Auftrag und in Anbindung an sein Amt geschrieben und anschließend einem offiziellen Publikum vorgelegt wurde, verfasste der Autor des SL seine Beschreibung in Fortsetzung für die Zeitung. Sein Publikum erwartete von ihm Informationen als auch Unterhaltung.
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Fazit
Bei Reisen geht es immer um Differenzerfahrungen, bei denen die eigene kulturelle Präsupposition unvermeidbar ist. Der Umgang mit dem Fremden findet daher immer auf der Grundlage des Eigenen statt. Dabei wird die Bevölkerung des bereisten Landes als ein Volk bzw. eine Nation betrachtet und die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften werden zu generalisierenden und allgemeingültigen Merkmalen erhoben. Dem Leser wird durch eine klare charakterliche Zuschreibung zuweilen durchaus vor Augen geführt, wodurch sich die beschriebene Gesellschaft von der eigenen unterscheidet. Da es sich hierbei jedoch generell um Verallgemeinerungen handelt, ist das dargestellte Bild oft stark vereinfacht oder sogar verzerrt. Im Rahmen von Selbst- und Fremdwahrnehmung werden nationale Charakteristika hochstilisiert und erlangen dadurch eine Überprägung. Durch generalisierende Aussagen wird die Komplexität des Dargestellten reduziert, was wiederum die Orientierung für den Leser vereinfacht. In dem hier behandelten London-Bericht legt der Autor Zeugnis davon ab, was er auf seiner Reise gesehen und erlebt hat. Seinem Leser, der noch nie in England gewesen sein mag, vermittelt er ein ganz bestimmtes Bild des bereisten Landes und seiner Leute, das durchaus prägend sein kann. Insbesondere durch die Publikation der Reisebeschreibung in einer Zeitung und einer anschließenden Veröffentlichung als Monographie findet das vom Autor konstruierte gruppenspezifische Kollektivurteil über die Engländer noch weiter Verbreitung. Bei der Beschreibung seiner Eindrücke und Beobachtungen stellt er sowohl die positiven Seiten Englands und der Engländer, die bei ihm Bewunderung und Faszination auslösen und die er für nachahmenswert erachtet, als auch die negativen Seiten, die ihn eine ablehnende Haltung einnehmen lassen, dar. Dies tut er, indem er unter Zuhilfenahme von Stereotypen auf der Grundlage des Vergleichs mit den Osmanen Gemeinsamkeiten und Abweichungen zwischen den beiden einander gegenübergestellten Bevölkerungsgruppen aufzeigt. Als fremd empfundene Verhaltensweisen fallen dem Beobachter dabei mehr auf als vertraute Handlungen und Einstellungen. Daher nehmen auch die Schilderungen über die Andersartigkeit der Engländer mehr Raum ein als die Gemeinsamkeiten bzw.
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Fazit
Ähnlichkeiten mit der eigenen Kultur. Die Engländer charakterisiert der Verfasser des SL vor allem hinsichtlich ihrer Arbeit als strebsam und beflissen, und als kundig in den verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen. Andererseits kritisiert er sie für ihr maßloses Verhalten, was Essen, Trinken und Wetten anbelangt, verweist öfter auf ihre depressive Stimmung und ihre Unfähigkeit, Freundschaften zu schließen und zu pflegen. Was ihm an England und insbesondere an London auffällt, sind die vielen Grünanlagen und Freizeitmöglichkeiten. Andererseits wiederum machen ihm das geschäftige Treiben und die Menschenmassen auf den Straßen sowie der Smog in der Stadt schwer zu schaffen. Es zeigt sich, dass der Autor kein homogenes, sondern vielmehr ein ambivalentes Englandbild hat, was allerdings für Reisebeschreibungen der damaligen Zeit nicht außergewöhnlich ist. Wie jede nationale Gemeinschaft verfügen die Osmanen über stereotype Vorstellungen anderer Länder. Der Autor bringt diese im SL ganz deutlich zum Ausdruck. Die Darstellung der Engländer und England findet dabei fast ausschließlich im Bezug zur eigenen Kultur statt, wodurch der Autor gleichzeitig ein Bild der Osmanen mitliefert. Die eigene Kultur fungiert somit als Vergleichsparameter, mit dessen Hilfe Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der eigenen und beschriebenen Bevölkerung transportiert werden können. Aufgrund des reziproken Verhältnisses zwischen Fremd- und Selbstbild wird bei der expliziten Beschreibung der bereisten Kultur implizit auch immer ein Selbstbild der Gruppe, der der Autor angehört, mit behandelt. Vor der Kulisse Englands liefert uns der Autor somit eine Selbstdarstellung der Osmanen. Durch Abgrenzung, aber auch durch das Aufführen von Gemeinsamkeiten mit den Engländern entwirft der Autor dieses Bild. Dafür setzt er direkte oder indirekte Zuweisungen ein, jenachdem ob den Osmanen eine Eigenart direkt zugewiesen wird oder sie lediglich indirekt durch eine Beschreibung der Engländer kritisiert oder hervorgehoben werden. Dabei lässt sich allerdings festellen, dass die Darstellungen der Engländer mehr eine kontrastive als eine auf übereinstimmenden Merkmalen beruhende Funktion innehaben. Sie nehmen teilweise die Rolle des positiven, teilweise aber auch die des negativen Vorbilds ein. Grundsätzlich gilt aber, dass sie den Osmanen als Möglichkeit zu einer Selbstdefinition und -identifikation dienen. Hierbei fällt auf, dass der Autor kein einheitlich negatives oder positives Bild weder der einen noch der anderen Bevölkerung übermittelt. Während er die Osmanen nur geringfügig kritisiert und ansonsten recht positiv darstellt, werden die Engländer zwar für ihren technologischen Fortschritt gelobt, aber dafür wird die Mehrzahl ihrer Charaktereigenschaften in Frage gestellt. Der Autor verwendet abschätzige Verallgemeinerungen, die teilweise sogar ins Lächerliche gezogen werden. Was ihre soziale Kompetenz anbelangt so ist bei den vom Autor beschriebenen Osmanen eine gewisse Gelassenheit, wenn nicht sogar Überlegenheit gegenüber den Engländern auszumachen. Dabei liefert er keine systematische, umfassende
Fazit
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Beschreibung, sondern eine Schilderung seiner Reiseeindrücke, die seine subjektiven Interessensschwerpunkte und Erfahrungen widerspiegeln. Im Vergleich mit einem zweiten Reisebericht, der unter anderem ebenfalls über England und die Londoner Ausstellung berichtet, konnte festgestellt werden, dass die beiden Berichte sich zwar in ihrem Schreibstil unterscheiden – was u. a. an einer unterschiedlichen Leserschaft liegen mag, – aber im Wesentlichen dieselben Themen mit ähnlichen erzählstrategischen Mitteln behandeln. Somit kann man davon ausgehen, dass es neben formalen auch gewisse inhaltliche Erwartungen an einen Reisebericht gab, die erfüllt werden mussten, um der Leserschaft gerecht werden zu können. Ein Vergleich nach inhaltlichen Aspekten mit weiteren Europa-Reiseberichten könnte von Interesse sein. Ansätze der Imagologie, insbesondere die von Beller ausgearbeiteten Techniken des Vergleichs, als Grundlage der Analyse zu nehmen, hat sich als sinnvoll für die Ausarbeitung des Hetero- und Autoimage in der vorliegenden Reisebeschreibung erwiesen. Durch den Vergleich gelingt dem Autor eine Verbindung zwischen der eigenen und der beschriebenen Kultur zu schaffen und seiner Leserschaft den Zugang zum beschriebenen Objekt zu ermöglichen. Durch die Analogie werden Ähnlichkeiten und Parallelen der eigenen und bereisten Kultur herausgestellt. Die antithetische Argumentation dient dazu, die negativen Seiten der beschriebenen Bevölkerung und des bereisten Landes darzustellen, während bei der reziproken Argumentation auf die Unterschiede zwischen den gegenübergestellten Kulturen hingewiesen wird und somit negative als auch positive Aspekte beleuchtet werden. Neben den Techniken des Vergleichs sind die von Pümpel-Mader erarbeiteten Stereotypenindikatoren ergänzend einsetzbar und – wie sich gezeigt hat – auf das Osmanische übertragbar, auch wenn sie geringe sprachgebundene Abweichungen aufzeigen. Die Untersuchung auf Basis des Vergleichs ergibt ein dichotomes Bild sowohl der Engländer als auch der Osmanen. Neben der Übermittlung von Stereotypen untermauern die vom Verfasser des SL eingesetzten Strategien zur Präsentation seiner Eindrücke und Erlebnisse das von ihm gelieferte Bild Englands und der Engländer bzw. der Osmanen. Er nutzt die verschiedenen Darstellungsmodi, um seine Ansichten und Aussagen zu bekräftigen. Kuriosa gibt er in vertrauten Kategorien wieder, um sie seiner Leserschaft zugängliche zu machen. Er setzt zahlreiche Strategien ein, um die Wahrhaftigkeit seiner Erzählung gegenüber dem Leser glaubhaft zu machen. Schließlich geht es bei der Konstruktion vom Bild des anderen Landes im Grunde stets um den Aspekt der Einzigartigkeit, sowohl auf Seiten der beschriebenen als auch der beschreibenden Kultur, und um die Hervorhebung der eigenen Identität in Abgrenzung zum Anderen. Die vom Autor gewählten Erzählstrategien untermauern seine Darstellungen insofern, dass er ein zweigeteiltes Bild der Engländer vorlegt, das einerseits durch Bewunderung und andererseits durch Ablehnung gekennzeichnet ist. Diese Gegensätzlichkeit wird
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durch den Aspekt der Neugier bzw. dem Motiv des Staunens, der sowohl besondere als auch absonderliche Eigenarten der Engländer umfasst, zum Ausdruck gebracht. Bei der Beschreibung von etwas besonders Außergewöhnlichem sieht sich der Leser mit dem Topos der Unbeschreibbarkeit konfrontiert, der den Autor aus verschiedenen Gründen wie Faszination, Überwältigung oder Unfassbarkeit daran hindert, etwas sprachlich zu vermitteln. Um diese sprachliche Barriere wieder zu kompensieren, bedient sich der Verfasser bestimmter Beglaubigungsstrategien, um seine eigene Glaubwürdigkeit aufrecht zu halten und dem Leser von der Echtheit seiner Erzählung zu überzeugen. Auffällig ist, das sei hier abschließend noch erwähnt, dass der Verfasser des SL gängige Merkmale und Stereotype über das bereiste Land und seine Einwohner abhandelt. Die stereotypen Aussageformen beschränken sich im SL aber nicht nur auf die Engländer und Osmanen, der Autor übermittelt zudem Stereotype anderer Kulturen wie zum Beispiel die der Franzosen und zwar aus Sicht der Engländer. Dies lässt erstens darauf schließen, dass es sehr wohl ein einheitliches und verbreitetes Bild der verschiedenen Nationen auch im Osmanischen Reich gegeben hat, und zweitens, dass der Autor Zugang zu Literatur hatte, in der Stereotype anderer Länder vermittelt wurden. Aufgrund der Tatsache, dass zahlreiche mit anderen Darstellungen übereinstimmende Stereotype im hier behandelten Text aufgearbeitet wurden, wäre es durchaus interessant, den Reisebericht hinsichtlich seines kompilatorischen Stellenwertes zu untersuchen. Hat der Autor andere, insbesondere französische Reisebeschreibungen oder -führer über das damalige London und England als Vorlagen benutzt und wenn ja, wie hat er diese in seine eigene Beschreibung eingearbeitet? Um diese Frage beantworten zu können, müsste die von Europäern verfasste Reiseliteratur als Quellenkorpus untersucht und mit dem SL verglichen werden. In diesem Zusammenhang wäre es auch interessant zu schauen, worüber die anderen Auslandsberichte in der Zeitung, in der der hier untersuchte Reisebericht erschienen ist, informierten. Was berichten sie über London, England und über Europa im Allgemeinen? In welchen Abschnitten und in welchem konkreten Umfeld wurde der London-Reisebericht abgedruckt? Welche weiteren Reiseberichte wurden in welcher Form publiziert?
7.
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8.
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Teilübersetzung von Mehmed Raufs Seya¯hatna¯me-i Avrupa ˙ [2] 950 Dank der Kenntnisse und des Wissensstandes, den die verschiedenen europäischen (efrençı¯ye) Völker auf dem europäischen Kontinent (Avrupa kıtʿası) ˙ seit geraumer Zeit durch zahlreiche Bestrebungen und verschiedene Regelungen erreicht haben, haben ihre Länder und Staaten (mülk ü devletleri) eine außerordentliche Position und Macht (meʿmu¯riyyet ü kuvvet) erlangt, derer nichts ˙ Vergleichbares in der Vergangenheit gesehen wurde. Da sie an Geschicklichkeit, Fähigkeit und Kunstfertigkeit (hüner ve maʿarifet ve sanʿatca) in höchstem ˙ Grade fortgeschritten sind, wurden zahlreiche Werke der kulturellen Entwicklung, die aus der besagten vollkommenen Zivilisation hervorgegangen sind, an einem Ort gesammelt. Dadurch sollte ersichtlich werden, welches der Völker (milel ü akva¯m) der Welt hinsichtlich Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit den ˙ anderen überlegen ist. Außerdem sollten durch diesen wohlfälligen Anlass auch die anderen Nationen ihre eigene Bevölkerung über seltene Kunstfertigkeiten unterrichten, für den Fall, dass es welche gab, die sie nicht kennen. Dabei sollten zudem aufgrund des Hin-und-her-Reisens ins eigene Land die fremden Völker zu noch mehr Handel angetrieben werden. Aufgrund zahlreicher solcher nutzbringender Überlegungen gab England (I˙ngiltere devleti) kund, dass es eine Exposition (ekspozisyon), das heißt eine allgemeine Ausstellung, in seiner ˙ Hauptstadt London eröffnen werde, auf der jeweils ein Exemplar von hergestellten Waren als auch Naturprodukten aus jedem Land und jedem Staat (her mülk ü devlet) ausgestellt werden sollte. Genauso wie sie auch die meisten anderen Staaten zur Einsendung der verschiedenen Waren aufforderte, bat die Majestät Englands, Königin Viktoria, Seine erlauchte Hoheit den Sultan darum, von Seiten der osmanischen Regierung (saltanat-ı senı¯ye) die Verschickung der ˙ aus dem erhabenen Osmanischen Reich (mema¯lik-i mahru¯se-i ¸sa¯ha¯ne) kom˙ menden Waren und Produkte zu beauftragen. Damit erhielten vom ruhmreichen 950 Die Zahlen in eckigen Klammern geben auch hier die Seiten des Originaltextes wieder.
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erhabenen Reich (celı¯l-ül-mena¯kıb devlet-i ʿalı¯ye) sämtliche Statthalter (vüla¯t) ˙ und Staatsbeauftragte (ma¯ʿmu¯rı¯n) die besonderen Anweisungen, von fast überall Waren im tica¯retha¯ne951 zusammenzutragen. Unsere Majestät der Sultan erwies ˘ seine Ehre und kam mit den in der Gefolgschaft seiner ruhmreichen Herrschaft stehenden Statthaltern und Staatsbeauftragten und befahl, die besagten Stücke zu prüfen. Für den Transport der Waren nach London wurde eines der Fregattenschiffe, [mit dem Namen] Feyz˙-i ba¯rı¯, das vor einem Jahr für die kaiserliche Flotte gebaut wurde, beauftragt. Als ich, dieser unwürdige Diener (ʿabd-ı ʿa¯ciz) im Dienste der Schreibkanzlei (a¯medı¯ hulefa¯sından), Mehmed Rauf, [3] früher [einmal] nach Wien gereist war, ˙ ˘ konnte ich die Ordnung und Zivilisation der Europäer bezüglich hilfreicher neuer Wege erfahren, die beispielhaft für manch wohltuende Werke sind. Deswegen war es mein Wunsch, in einer der bekannten Städte Europas, sich die Zeit mit dem Erlernen einer Sprache zu vertreiben oder zumindest auf diese Weise manch seltene Orte zu besichtigen. Es wurde berichtet, dass anlässlich der Ausstellung (ekspozisyon) aus vielen ˙ Orten, vielleicht sogar aus Indochina, zahlreiche Menschen mit verschiedenen Ansichten und Einstellungen nach London kommen würden. Insofern konnte dieser unwürdige Diener (ʿabd-ı ahad) seinem Wunsch bei dieser Gelegenheit ˙ nachgehen, indem er mit dem kaiserlichen Schiff fuhr, das mit den aufgeladenen Waren der osmanischen Regierung (saltanat-ı senı¯ye) mit der Entsendung be˙ auftragt wurde. Mittels der ehrenwerten großherrlichen Erlaubnis reiste ich mit dem kaiserlichen Schiff als Tourist nach Europa und besichtigte in dieser bedeutungsvollen Zeit nach Malta und Italien die Städte Paris und London. Um eine bescheidene Erinnerung zu hinterlassen, habe ich es gewagt, nur ein paar der während der Reise dieses bescheidenen Dieners (ʿabida¯n) beobachteten Dinge zu berichten. Dadurch sollen diejenigen, die nach mir die Gelegenheit bekommen, die von mir bereisten Orte zu besuchen und die dortigen Merkwürdigkeiten (a¯sa¯r-ı g˙arı¯be) zu besichtigen, im Vorhinein erfahren, wie unterschiedlich die Ordnung und Schönheit der Orte und Länder auf der Route dieses bescheidenen Dieners (bendega¯n) sind. So bestiegen wir am Vierten des Monats Cuma¯da¯ l-a¯hira des Jahres 1267952 das ˘ besagte kaiserliche Schiff und verließen Istanbul (Der-saʿa¯det). Wir passierten die Dardanellen und die griechischen Inseln und erreichten am vierten Tag nach unserer Abreise aus Istanbul die unter der Verwaltung der englischen Krone stehende Insel Malta. 951 Vermutlich ist ein bestimmtes Lagerhaus für Handelswaren (tica¯retha¯ne), eventuell das im ˘ gelegene gemeint, da Stadtteil Eminönü auf der europäischen Seite Istanbuls am Bosporus von dort aus die Waren leicht mit dem Schiff verschickt werden konnten. 952 6. April 1851.
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[Auf den folgenden Seiten berichtet der Autor über den Aufenthalt in Malta, seiner Weiterreise durch Italien, der Schweiz, Frankreich und Deutschland. Nach einem Aufenthalt in Köln geht die Reise wie folgt weiter:] [26] Nach einer Rast von weiteren fünf bis sechs Stunden in der [bereits] erwähnten Stadt Köln (Kolonya) stiegen wir erneut in den Zug (vapur ʿarabası) und fuhren durch die Länder Belgien und Frankreich, vorbei an manch großen Städten und etlichen stattlichen Festungen. Nach zehn Stunden erreichten wir die an der Meeresküste gelegene französische Stadt Calais (Kale). Wir stiegen auf eines der englischen Schiffe und gelangten innerhalb von zweieinviertel Stunden in die Stadt Englands, die der vorgenannten Stadt gegenüber liegt. Um uns auszuruhen, blieben wir jene Nacht dort. Am Morgen stiegen wir in den Zug, fuhren schnell, und erreichten nach zweieinhalb Stunden die Stadt London. Dank der Hilfsbereitschaft der osmanischen Regierung (saltanat-ı senı¯ye) wohnten wir ˙ in der osmanischen Botschaft (sefa¯retha¯ne-i ʿalı¯ye). Die Stadt [27] London ist ˘ 953 zweimal so groß wie die drei Vororte Istanbuls . Sie ist eine sehr bedeutende und imposante Stadt und all ihre Straßen sind außerordentlich breit und lang. Um von einem Ende mancher Straßen an das andere zu gelangen, braucht man zwei bis drei Stunden. Alle sind äußerst geradlinig und es scheint, als gäbe es offenbar in der Stadt und außerhalb in den Dörfern und Kleinstädten keine krummen Straßen. Alle Häuser grenzen aneinander an und die Mauern auf der Straßenseite sind eins. Nur innen sind die Häuser durch Wände getrennt. Nicht nur von außen sind alle gleich hoch, sondern sogar Fenster, Balkone und Türen sind in gleicher Art und Weise angefertigt. Betrachtet man beispielsweise eine Straße, sehen im ersten Moment beide Seiten nur wie zwei immense Gebäude aus. [Erst] wenn man aufmerksam hinschaut, versteht man anhand der Vielzahl an Türen, dass es nicht eins, sondern verschiedene Häuser sind. So sind auch alle Einkaufs- und Stadtviertel äußerst gefällig angelegt. Wie es auch an anderen Orten Europas üblich ist, leben hier manche Familien nicht [gemeinsam] in einem Haus, sondern jede wohnt in ihrem eigenen. Daher sind ihre Häuser nicht so hoch und groß, sondern dreistöckig und recht klein mit ebenfalls winzigen Gärten davor. Selbst zwischen den Straßen, die wie öffentliche Plätze außerordentlich breit sind, gibt es von Eisengittern umgebene, prachtvoll und ordentlich angelegte Rasen[flächen] und Bäume. Auf die vollkommene Sauberkeit aller Häuser und Straßen wird von außen und innen über alle Maßen geachtet. Wie bis dahin beschrieben, sind die meisten Straßen so angelegt, dass sie sich nicht voneinander unterscheiden. Trotz dieser Größe ist die genannte Stadt wie in Form gegossen überraschend übersichtlich (s¸as¸ılacak derecede muntazam) und alle ˙ ˙ 953 Gemeint sind die drei Vororte Beyog˘lu-Galata, Eyüp und Üsküdar, die unter dem Ausdruck »bila¯de-ı selasa« (die drei Städte) zusammengefasst werden.
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Orte und Plätze sind in Anbetracht ihrer Anordnung, Sauberkeit und Größe überragend. Da man eigentlich erst wirklich verstehen kann, wie hoch die angeborene Kraft und natürliche Leistung der Menschheit ist, wenn man diese Stadt gesehen hat, versetzt diese Ordnung den Menschen erheblich in Staunen (baya¯g˙ı insa¯na hayret verir). ˙ Abgesehen davon, dass das Wetter ohnehin feucht und kalt ist, verschlechtert sich die Luft dadurch gänzlich, dass daneben auch noch [überall], von den zahlreichen Fabriken (fabrikalar) bis hin zu den Öfen in den Zimmern jedes ˙ Hauses, mit Kohle (vapur kömürü) geheizt wird. Obgleich im Sommer nicht ganz so schlimm, [28] wird berichtet, dass die Stadt in der Winterzeit im Rauch erstickt und sich die Leute auf der Straße fast nicht sehen könnten, obwohl tagsüber die Laternen angezündet werden. Da die von der Luft ausgehende schlimme Verschmutzung stets den Putz der Häuser schwärzt, gibt es manche, die immer wieder die Farben ihrer Häuser auffrischen. Den meisten reicht jedoch die Geduld nicht und sie streichen die Außenwände [gar] nicht mehr an, so dass die Bausteine zu sehen sind. Nach sehr kurzer Zeit nehmen auch die Steine ein schwarzes Äußeres an. Weil sich die Luft im Winter gänzlich verschlechtert, ziehen die vornehmen Leute zur Winterzeit auf die Dörfer und kommen im Sommer hierher, so dass im Unterschied zu den anderen europäischen Ländern festliche Veranstaltungen wie Bälle und Soirées hier im Sommer stattfinden. Gleichwohl gibt es in der Stadt vier sehr weitläufige »Park« genannte große Anlagen, die mit Blumen, schönen Bäumen und Grünflächen extra angelegt und für ihre recht saubere Luft bekannt sind. Jede von ihnen verfügt über eine Fläche, für deren Begehung man ein bis zwei Stunden Zeit braucht. Jeden Tag gelangt die Bevölkerung ganz leicht dorthin und geht spazieren. In einem weiteren ordentlich angelegten Garten wurden für den Großteil der Tiere, die es auf der Welt gibt, eigens Plätze eingerichtet und [die Tiere darin] untergebracht. Es gibt noch zwei weitere Nachtgärten, in denen jede Nacht dreißig- bis vierzigtausend Lampen und Lichter angezündet werden und Bälle und festliche Veranstaltungen stattfinden, die bis zum nächsten Tag dauern. Durch die Stadtmitte fließt die Themse und einmal am Tag treten Ebbe und Flut ein. Auf dem Fluss befördern unzählige kleine Boote unaufhaltsam die Bevölkerung und bringen sie für wenig Geld an die gewünschten Plätze. Wie allen bekannt ist (cümleniñ maʿlu¯mu oldıg˙ı üzere),954 sind die Engländer ˙ (Ingilizlüler) im Handel allen Völkern (milel) überlegen. Am Flussufer gibt es zehn bis zwölf sehr große Becken, die dafür da sind, dass die in die Stadt kommenden unzähligen Schiffe beim Handelsverkehr während Ebbe und Flut nicht behindert werden, die ankommenden Waren unbeschwert ausgeladen werden können und dass eine Umgehung des Zolls ausgeschlossen wird. Einige der 954 Druckfehler im Original: ﺍﻮﺰ ﻩ.
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vorhandenen Schiffe liegen dort vor Anker. In den Fluss passen zwei- bis dreihundert Schiffe. Für ein unbeschwertes Löschen und Lagern der ankommenden Waren gibt es um jedes Becken [29] acht oder zehn recht große fünf bis sechs Etagen hohe Lagerhäuser und Gebäude in Form von Kasernen. Um den aus dem Ausland kommenden Wein zu deponieren, gibt es zudem am Rande von jedem dieser Becken, das heißt unterhalb von ihnen, acht oder neun Lagerräume, von denen die meisten zwanzig oder dreißig dönüm955 groß sind und in denen an die dreißig- bis sechzigtausend Fässer lagern. Da die Engländer (I˙ngilizler) noch nicht einmal Wasser trinken, ohne Wein hinzuzugeben, wird so viel Wein nach London geliefert, dass die Fässer nicht in diese in solch hoher Anzahl angelegten großen Lagerräume passen, sondern Unmengen von ihnen am Hafenrand gelagert werden. Über dem Fluss gibt es hervorragende große und starke Brücken aus Stein und Eisen. Unter all diesen kann man bei der Tunnel956 genannten Unterführung (nehriñ altında tunnel957 dedikleri köpri), deren beiden Enden wie große Tore sind (büyük bu¯sta¯n kapusı gibi), über eine hundertstufige Treppe von der Höhe ˙ der Wasseroberfläche in die Tiefe steigen. Von einem Ende zum anderen umfasst der Tunnel fünfhundert ars¸un958. Es ist ein großer Brückenbogen in Form eines Rohrs. Dieser Bogen (kemer) ist in der Mitte mit Pfeilern unterteilt. Auf einer Seite stehen aneinandergereiht Geschäfte und die andere Seite bildet eine Straße, die ständig mit Laternen beleuchtet ist. Um London herum gibt es außerordentlich große Fabriken. Die Bierfabrik (bira fabrikası) in der Stadt ist etwas Wunderbares. Ihr Umfang hat fast die Größe ˙ eines Dorfes. Um die Gerste zu kochen gibt es Kupferkessel so groß wie [Wasser-] becken und viele kleine und große Fässer. Ihre Höhe beträgt zwanzig bis dreißig und ihre Länge dreißig bis vierzig ars¸un. Drinnen befinden sich etwa fünfzehn Bierschenken. In jede kommen dreihundertfünfzehntausend kıyye959 Bier und Tag für Tag werden über tausend Säcke Gerste verbraucht.
955 Türkisches Flächenmaß, das etwa 920 qm entspricht. Siehe: Steuerwald: »dönüm«, TürkischDeutsches Wörterbuch, S. 242. 956 Der Autor spricht hier vom Thames Tunnel. Der Tunnel unterquert die Themse und verbindet die Stadtteile Rotherhithe und Wapping miteinander. Er ist etwa 10 Meter breit und 366 Meter lang. Er konnte nach mehreren Anläufen 1843 fertiggestellt werden und war der weltweit erste Tunnel unter einem Fluss. Eine Seite war für Fußgänger vorgesehen, die über eine Wendeltreppen Zugang zum Tunnel hatten, der nie für Fahrzeugverkehr genutzt wurde. Nach dem Verkauf an eine Eisenbahngesellschaft 1865 wurden Schienen gelegt und vier Jahre später begann der Zugverkehr. Heute ist der Tunnel Teil des Untergrundbahnnetzes Londons. Siehe: Smith, Denis: London and the Thames Valley, London 2001, S. 19. 957 Fälschlicherweise wie folgt geschrieben: ﺘﻮﺘﻝ. 958 Bzw. ars¸ın ist eine frühere Bezeichnung für das Längenmaß von einer Elle. Siehe Steuerwald: »ars¸ın«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 57. 959 Siehe FN 509.
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Es wird berichtet, dass sogar, als vor sieben Jahren, also im Jahre 62,960 Nikolaus I., Kaiser von Russland, gekommen war, dort einmal ein Fass hergerichtet (?) und ihm zu Ehren ein Festbankett mit Essen für über zweihundert Personen veranstaltet wurde. Das Londoner Museum ist sehr groß und unübertrefflich. Und zwar so, dass die Skelette aller Tiere auf der Welt, [30] von der schwachen Ameise bis zum Elefanten, Gesteins- und Metallproben von Land und Meer, Statuen, die zu Zeiten der ägyptischen Kopten (Kıbt¯ıler) 961 angefertigt worden sind, und eine ˙ Reihe von diversen Altertümlichkeiten in verschiedenen Räumlichkeiten ausgestellt sind. Mit der Anschaffung weiterer ähnlicher Dinge aus manch anderen Orten werden auf der einen Seite Zimmer zum Ausstellen hinzugefügt. Die Anzahl der unterschiedlichen Tierskelette ist höher als in jedem Staat, aber die Statuen sehen wie Banalitäten im Vergleich zu denen in Rom aus. Es gibt noch mehr Dinge [zu sehen], wie [etwa] zu Stein gewordene Bäume und Tiere. In fast zwanzig Sälen gibt es unzählige, seltene, alte und neue Bücher und einige Schriften von berühmten Personen. Noch eine Sache, die sich in London zu besichtigen lohnt, ist ein Platz mit einer Art Panorama (panorama) 962. Wenn man das Gebäude, auf dem sich eine kleine runde Kuppel befindet und das von einem kleinen Garten umgeben ist, durch seine Tür betritt und ein wenig läuft, kommt man in einen runden Saal unterhalb der Kuppel. Innen ist er mit Leuchtern und einigen Statuen ausgestattet. In der Mitte gibt es eine Treppe in Form einer Minarett-Treppe und wenn man vierzig bis fünfzig Stufen hochsteigt, betritt man einen Platz, der der Galerie eines Minaretts gleicht. Obwohl es umliegend keinerlei Fenster oder dergleichen gibt, kann man ein Bild von Paris bei Nacht sehen. Die Treppe, die man besteigt, ist nicht sehr hoch, aber dennoch hat man das Gefühl, als wäre man sehr weit hinauf geklettert.963 Es geht ziemlich tief runter, aber ganz Paris mit Umgebung ist auf diese Weise in voller Größe zu sehen. Am Himmel sind Mond und Sterne angebracht und man kann den Mond, der sich quasi überhaupt nicht vom ei960 Das Jahr 62 (1262) entspricht dem Jahr 1845/1846, was fünf bzw. sechs und nicht wie vom Autor angegeben sieben Jahre zuvor war. Der Zar Nikolaus I. reiste bereits im Juni 1844 nach London, was auch den sieben Jahren entsprechen würde. Mehmed Rauf muss sich bei der ˙ Angabe des Datums also vertan haben. 961 Kıbt¯ıler (Kopten) als Bezeichnung für die frühen Einwohner Ägyptens. 962 Eine˙ Art Rundumgemälde, das im 19. Jahrhundert zu den populären Unterhaltungen zählte. In einer speziell dafür errichteten Rotunde wurde ein Gemälde aufgetragen, welches die Zuschauer von der Mitte aus betrachten konnten. Der Autor spricht hier vermutlich von »Mr. Wyld’s Model of the Earth«, unter anderem auch »Wyld’s Great Globe« genannt. Dieses Diorama der Erdoberfläche in Form einer Hohlkugel wurde als Touristenattraktion anlässlich der Weltausstellung in London errichtet. Siehe Haltern, Die Londoner Weltausstellung von 1851, S. 173. 963 Wörtlich: »als wäre man auf eine/n sehr hohe/n [?] gestiegen«, aber Wort ist nicht auffindbar ()ﻗﺴﻠﻪ. Eventuell kıs¸la (= Kaserne).
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gentlichen Mondschein unterscheiden lässt, die Sterne und das Licht der Straßenlaternen von Paris beobachten. Kurz gesagt, es ist eine meisterhafte Sache! Es heißt jedoch, dass die Grundlagen und Kenntnis darüber, wie in so einem recht kleinen Raum Apparate ohne jegliche Hilfe Bilder auf diese Art wiedergeben können, nicht ersichtlich sind, und dass sie außer den Besitzern dieses Panoramas niemand zu erklären weiß. Auf einer Seite der erwähnten Treppe [31] gibt es ein kleines Zimmer, in dem sich die Leute versammeln, die nicht die Treppe hinaufsteigen wollen. Obwohl man in dem Zimmer sitzt, gelangt man innerhalb einer Minute mit einer von außen angebrachten Maschine hoch zum Bild. Tagsüber wird das Bild der Stadt London gezeigt. Da es durch die mit Rauch belegte Luft nicht möglich ist die Stadt auch von höher gelegenen Orten in ihrer Vollständigkeit zu sehen, kann man ihre Größe und Herrlichkeit im Grunde [nur] hier sehen. Diese besagten Bilder sind so groß, dass jedes einzelne in einem Zeitraum von sechzehn Jahren gezeichnet wurde. Auf der anderen Seite des Zimmers werden die Schweiz nachahmend mehrere Berge dargestellt, über die Wasser fließt, was sehr schön ist. Neben einem kleinen, hübschen und glasüberdachten Garten, der mit Spiegeln und Lampen geschmückt ist, gibt es etwas Kurioses in Form einer Höhle, das in die Länge und Tiefe geht und einer bekannten und eigenartigen Höhle aus Triest964 gleicht. Auf einer anderen Seite gibt es einen Platz, der aussieht wie ein Theater, und in dem wie in einem Theaterstück Portugals Hauptstadt Lissabon mit Umgebung dargestellt wird. Dann gibt es noch einen seltsamen Ort, an dem das Bild vom Ozean aufgestellt ist und leicht ein eiskalter Wind weht. Dort ereignen sich Dinge, wie als würde es regnen und Blitze einschlagen. Die auf dem Meer dargestellten Schiffe, werden so bewegt, als gingen sie geradewegs unter. Es wurde berichtet, dass das von der Königin außerhalb der Stadt gelegene Schloss Windsor prunkvoller und älter sei als alle anderen Gebäude. Wenn man sich mit dem Zug nähere, [könne man sehen, dass] die Burg auf seltsame Weise Stück für Stück gebaut worden sei. Auch wenn es eine Menge Räume gebe, sei nur einer davon geschmückt. In den Räumen seien [aber] die Portraits früherer Könige und einiger Befehlshaber und Generäle aufgehängt, die sich im Krieg gegen Napoleon befunden haben, den er im Nachhinein verloren hatte.965 Das um das Schloss gelegene Gelände umfasst eine Fußläufigkeit von einigen Stunden. Dort gibt es einen schönen Wald, Wiesen, einen großen See und einen hübschen Weg, der eine Entfernung von einer halben Stunde umfasst und auf beiden Seiten von recht großen Bäumen in zwei Reihen gesäumt ist. Dies ist ein äußerst angenehmer und reizender Ort. Alle Dörfer Englands (I˙ngiltere) sind 964 Vermutlich ist die Grotta Gigante aus der Nähe von Triest gemeint, die auch als die Riesengrotte von Triest bekannt ist und als eine der größten Schauhöhlen der Welt gilt. 965 Die Rede ist hier von der Schlacht bei Waterloo.
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sehr gepflegt und schön. Insbesondere [32] in der Umgebung Londons besitzen manche vornehme Leute sehr elegante Landhäuser. Anlässlich unserer zweimaligen Treffen mit der Königin wurden die Paläste innerhalb der Stadt besichtigt. Diese beiden Paläste sind im Vergleich zu denen in Italien, insbesondere den Palästen in Neapel, keine Objekte, die einen in Staunen (hayret-bah¸s) versetzen. ˙ ˘ Während die Bevölkerung Londons auf 2.360.000 angestiegen ist, die Engländer (I˙ngilizler) aber mit Gelassenheit ausgezeichnet und ein sehr wohlerzogenes Volk sind, sind nur zehn bis zwölftausend Polizisten (polis) genannte Gendarmeriesoldaten mit der Sicherheit und Ordnung so vieler Bewohner beauftragt. Obwohl es auf dem Land außer ihnen keine weiteren Soldaten gibt, die Bevölkerung aber diesen Polizeioffizieren vollkommenen Gehorsam leistet (kema¯liyle ita¯ʿat etdiklerinden), wird die Kontrolle der Menschen trotz ihrer Viel˙ zahl mit Leichtigkeit und auf angenehme Art ausgeübt, so dass es nicht zu beschreiben ist (taʿrı¯f olunamaz). Da unter den Völkern der Welt die Engländer (I˙ngilizler) auch bei der Arbeit Geschicklichkeit und Eifer an den Tag legen, gibt es sehr viele überaus reiche Leute unter ihnen. In der Nationalbank966 befindet sich sogar ein Kapital von neun Millionen kı¯se967 und an acht Werktischen werden ununterbrochen Banknoten gedruckt. Damit es während des Drucks dieser Scheine nicht zu Diebstahl kommt, muss sogar der höchste Angestellte der Bank, um zu erfahren, wie viele Noten gedruckt werden, vor seinem Büro ein seltsames Gerät betätigen, das mit Nummern versehen ist. Während die Scheine an den dampfgesteuerten Maschinen gedruckt werden, werden sie unten mit Nummern des erwähnten Gerätes versehen. Indem der Angestellte diese vergebenen Nummern kontrolliert, kann er erkennen, wie viele Noten gedruckt worden sind. Der Umfang des Londoner Handels und die Anzahl der dafür eingesetzten Schiffe sind unfassbar (ʿakıldan ha¯ric bir ma¯dde). Abgesehen von den tagsüber ˙ ˘ für den Handel eingesetzten unzähligen (hadd ü hesa¯bı gelmez) Schiffen, gibt es ˙ ˙ noch solche, die nur Kohle transportieren und deren Anzahl sich auf viertausend beläuft. Die Handelsschiffe sind achthundert [an der Zahl]. Die staatliche Seemacht hat mit den Dampfschiffen mehr als siebenhundert Schiffe. Da die eigentlich großen Werften nicht in der Nähe Londons sind, [33] und sich die Werft extra für Dampfschiffe in der Gegend Woolwich968 unfern der Stadt befindet, sind 966 Vermutlich spricht der Autor hier von der Bank of England, der heutigen Zentralbank des Vereinigten Königreichs. Siehe »Bank of England«, in: Encyclopaedia Britannica Online, http://www.britannica.com/EBchecked/topic/187805/Bank-of-England (09. 03. 2015). 967 Die ursprüngliche Form von kese, einem Beutel Gold (als Werteinheit von 500 g˙uru¯¸s). Steuerwald: »kese«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 518. 968 Woolwich war früher ein Vorort Londons, gehört heute aber zum Stadtteil Greenwich. Siehe »Woolwich« in: Encyclopædia Britannica Online, http://www.britannica.com/place/Wool wich (19.07.15).
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wir969 dorthin gegangen und haben einige Fabriken gesehen, die verschiedene Schiffsteile produzieren. Wo sonst gibt es auf ähnliche Weise drei oder vier große überdachte Schiffsbecken zu sehen, über die aus Zink Überdachungen gebaut wurden. Der englische Staat (I˙ngiltere devleti) hat in den Ländern Europas mehr als dreißigtausend Landsoldaten im Dienst und seine Einwohnerzahl ist ebenfalls auf dem europäischen Kontinent allein auf siebenundzwanzig Millionen angestiegen. Wenn man zu der möglichst genauen Beschreibung des Ortes kommt, an dem die Exposition (ekspozisyon) genannte allgemeine Ausstellung stattfindet, [so ˙ gibt es] einen inmitten der Stadt gelegenen und Hydepark genannten weitläufigen mit Bäumen bestellten Platz, auf dem sich ein Gebäude befindet, dessen Länge tausendachthundertundfünzig und Breite vierhundert kadem970 beträgt. ˙ Das Gebäude ist in Form von aneinandergereihten Bögen mit Eisenstäben und eisenumrandeten Fensterscheiben versehen. Das gesamte Gebäude ist auf diese Weise aus Eisen und Glas gebaut. In die Mitte führt ein Bogen, dessen Eisenteile mit weißer und blauer Farbe angemalt sind. Es ist eine neue Kreation eines großen Gebäudes, in das bis zu vierzigtausend Personen auf einmal passen. Um die vorhandenen Ausstellungsstücke vor dem Sonnenlicht zu schützen, wurden von innen ringsherum weiße Gardinen aufgehängt. Zwei große Bäume, die zufällig in der Mitte stehen, wurden nicht gefällt, sondern mit ins Innere eingegliedert. Ebenfalls in der Mitte war ein ziemlich großer, wundervoller Springbrunnen aus Kristall gebaut. An anderen Stellen waren extra Töpfe mit verschiedenen Bäumen und Blumen aufgestellt und außergewöhnliche Springbrunnen und kleine Wasserbassins errichtet, durch die manche Ecke in einen schönen Garten verwandelt wurde. Über dem Erdgeschoss gab es noch eine weitere Etage, die mit einer Balustrade aus Eisen umgeben und mit Holzwänden unterteilt war. Es gab acht oder neun Gänge die Längsseite entlang und der mit Bögen versehene Gang in der Mitte wurde breit gelassen. Auf diesem Gang in der Mitte waren sehr viele Statuen und übermäßig große Figuren aus Stein und Eisen aufgestellt, die aus aller Welt gekommen waren und einen beachtlichen Umfang hatten. Gleich wie viele hergestellte und natürliche Produkte es gab, ob groß oder klein, ob einfach oder ausgefallen, aus den Völkern und Staaten (milel ü düvvel) aller fünf Kontinente [34] waren von jedem einzelnen verschiedene und zahlreiche Ausführungen herbeigebracht und in den bereits erwähnten Gängen und den einzelnen Ständen auf der oberen Etage aufgeteilt. In großen Glasvitrinen waren die Waren jeder Regierung (hüku¯met) auf unterschiedliche Weise auf˙ 969 Im Originaltext sind dieser und folgender Satz im Passiv formuliert. 970 Osmanisches Längenmaß, das einem Fuß von etwa 34 cm entspricht. Siehe Steuerwald: »kadem«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 467.
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gestellt. Es handelte sich um zahlreiche Neuheiten, die nirgends auf der Welt zu sehen sind, und die man sich vielleicht noch nicht einmal vorstellen kann. Die hier aufgestellten Stücke alle einzeln zu protokollieren und zu beschreiben, liegt außerhalb des menschlichen Begriffsvermögens (havsala-ı bes¸eriyeniñ ha¯ri˙ ˙ ˘ cinde). Daher werde ich nun mit der Aufzählung und Beschreibung mancher seltenen Dinge beginnen, die mir von den Ausstellungstücken in Erinnerung geblieben sind.971 Unter den von Seiten der Inder zur Ausstellung geschickten Waren, waren auch ein »Ku¯h-i Nu¯r«972 genannter Diamant von etwas über hundertachtzig Karat, der der Königin [Victoria] als Geschenk überreicht wurde. Er und zwei weitere Diamanten mit einem Gewicht von fünfundvierzig Karat waren zusammen in einem vergoldeten Eisengittergestell auf dem Gang in der Mitte der Ausstellung aufgestellt. Auch die von der Königin Spaniens erst kürzlich hergestellten und extra angelieferten wundervollen Blumenjuwelen, Colliers und Armreifen waren an einer anderen Stelle in einem Gittergestell ausgestellt. Auf der zweiten Etage, am Stand, der den Engländern für einige Ausstellungsstücke zugeteilt wurde, gab es unter den Schmuckstücken sechs oder sieben große Blumenjuwelen, von denen jede einzelne einen Wert von tausend kı¯se hat, einen fast hundert Karat schweren Smaragd, ein Sonnenauge973 in derselben Größe, drei Diamanten von bis zu fünfunddreißig Karat in den Farben Dunkelblau, Rosa und Gelb, zwei oder drei Rubine aus fünfundzwanzig Karat und noch weitere kleine und große Steine und filigran verarbeitete zahlreiche Schmuckstücke in Blumenform. Neben diesen gab es in sehr großen Vitrinen aus Silber und Gold sehr hohe und prunkvolle, unzählige gemusterte Kerzenständer, zahlreiche Essservices, große Vasen aus Silber und aus Gold gefertigte neu entwickelte, unterschiedliche Uhren, Ketten, Nadeln und Schnupftabakdosen und noch weitere solch außergewöhnlicher (tuhaf) und seltener Dinge. Von den Eng˙ ländern waren ebenso einzigartige Kristall[arbeiten] wie große Kronleuchter, Kerzenständer und Essservices zu sehen. Allein die von England ausgestellten eintausendundzehn Fabrikmaschinen unterschieden sich alle durch Form und Gestalt [35] in ihren Apparaturen und Abläufen. Ich habe gesehen,974 dass alle [Maschinen] liefen und ununterbrochen irgendetwas produzierten. Neben jeder einzelnen stand eine Modellausfertigung, die ebenfalls in Bewegung war. Ich sah abgesehen von diesen Maschinen der Engländer und anderer Regierungen (hü˙ ku¯metler) noch viele weitere Geräte und Maschinen und große Modellan971 Im Originaltext auch hier wieder passivisch ausgedrückt. 972 Ku¯h-i Nu¯r, wörtlich: »Berg des Lichts« ist der Name eines großen Diamanten, über dessen Herkunft sich die Forscher nicht einig sind. Erwähnung findet er erstmals 1656. Siehe Steuerwald, »Kûhinur«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 561 und Arnold, T. W.: »Ku¯h-i Nu¯r«, in: The Encyclopaedia of Islam, S. 23. 973 ʿeyn al ¸sems = Sonnenauge oder Chrysoberill. 974 Im Originaltext auch hier wieder im Passiv ausgedrückt.
Teilübersetzung von Mehmed Raufs Seya¯hatna¯me-i Avrupa ˙
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fertigungen von der Schiffsflotte Englands und von zehn bis zwölf Zügen auf Schienen mit ihren Waggons dahinter. Unter den vielen, verschiedenen Waren, die die Franzosen (Fransalular) geschickt hatten, waren einmalig große Vasen aus Porzellan mit hervorragenden Mustern, sehr wertvolle große Wandteppiche aus Gobelin975 und Gegenstände wie Stühle, Sofas, Schränke und Tische, die mit Mustern aus verschiedenfarbigen Holzarten hergestellt waren. Es waren meisterhafte Produkte, die wahrlich die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Außerdem gab es einen sehr schönen und großen Krug aus Kristall zu sehen. Von den Österreichern gab es viele schöne Statuen zu sehen, die in Mailand gefertigt worden sind. Zwei von ihnen sahen sogar wie ein Mädchen aus, das sich das Gesicht mit einem Tuch bedeckt hatte. Dergleichen wurde ein übermäßig großes, äußerst kunstfertiges und elegantes Bettgestellt aus Nussbaumholz mit unterschiedlichsten Schnitzereien geschickt, das so schön war, das hinterher darüber gesagt wurde, einer der Lords hätte es für sechshundert kı¯se erworben. Unter den von Russland (Rusya devleti) geschickten Waren gab es einen großen Krug und zwei Spiegelrahmen, die aus einem wertvollen grünen Malachit genannten schönen und seltenen Stein gemacht waren, große Kaminsteine, große Tische und viele schöne Pelze. Die Engländer (I˙ngiltereliler) stellten mehr Waren als die anderen Staaten und Völker (devlet ü millet) aus. Anhand all dieser zusammengetragenen Ausstellungsstücke ist meiner bescheidenen und unwürdigen Ansicht nach die gegenseitige Überlegenheit hinsichtlich Handwerk, Kunstfertigkeit und Geschicklichkeit der Bevölkerungen Englands, Frankreichs, Österreichs, Belgiens, Preußens, Chinas, Amerikas, Russlands, Roms (?), Hollands, Spaniens und der Schweiz zu sehen. Kurz gesagt ist diese Ausstellung der Industrie und Waren aller Welt [36] ein nicht zu beschreibender Ort ohnegleichen (taʿrı¯f ve tavs¯ıfi na¯ka¯bı¯l). Es wurde ermittelt, dass anfänglich für den Bau [des ˙ ˙ Ausstellungsgebäudes] achtzigtausend Lira ausgegeben und zu Beginn von den Besuchern jeweils zwei Lira genommen wurde. Obwohl [der Eintritt] nach und nach auf einen Schilling im Wert von fünfeinhalb g˙uru¯¸s976 reduziert wurde,977 sind von den geleisteten Ausgaben am Ende [der Ausstellung] über sechzigtausend kı¯se übriggeblieben. Am Eröffnungstag kamen dreißigtausend und später dann täglich vierzig- bis sechzigtausend Besucher und es wurden am Tag fünf- bis 975 Gobelin ist der Name einer Pariser Tapisseri-Manufaktur. Siehe die offizielle Website unter: http://www.mobiliernational.culture.gouv.fr/fr/infos-pratiques/paris-gobelins (19.07.15). 976 Geldeinheit im Osmanischen Reich. Siehe Steuerwald: »kurus¸«, Türkisch-Deutsches Wörterbuch, S. 568. Ein g˙uru¯¸s entspricht 40 para und 120 akçe. Siehe Pamuk, S¸evket: A Monetary ˙ History of the Ottoman Empire, Cambridge 2000, S. 163. 977 Neben den teuren Saisontickets gab es eine Staffelung der Eintrittspreise in verschiedene Gruppen. Erst Ende Mai wurde der Besuch der Ausstellung für das allgemeine Publikum durch die Einführung von vier »Schilling-Tagen« erschwinglich. An diesen Tagen kostete der Eintritt einen Schilling, an anderen Tagen fünf. Siehe Haltern: Die Londoner Weltausstellung, S. 161.
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Anhang
sechshundert kı¯se eingenommen. Aus vielen Orten und vor allem aus Frankreich und Deutschland strömten mit extra organisierten Veranstaltungen ununterbrochen zahlreiche Menschen nach London, um [die Ausstellung] zu besuchen. Sie füllten die Omnibus genannten Sammeltaxis und fuhren durch die Straßen. Da alles teuer war, gestaltete sich ein langer Aufenthalt für Ausländer als schwierig. Während die Besucher daher nicht lange bleiben konnten und abreisten, kamen von anderswo schon wieder neue. Obgleich sie sich auf diese Weise abwechselten, befanden sich dennoch bis zu vierhundert- oder fünfhunderttausend Ausländer in London, die allein für die Ausstellung gekommen waren. Als auch noch zur Mitte des Sommers einige Menschen aus Amerika und anderen Orten kamen und gingen, und es dadurch erheblich voll wurde, erhoffte man sich, dass der Handel der Engländer noch einmal gesteigert werden würde. Meine Wenigkeit hat auf der Ausstellung einen Chinesen und ein paar Inder gesehen. Nachdem die zwanzig Tage meines Aufenthaltes zu Ende waren, fuhren wir978 mit dem Zug los und erreichten nach zwei Stunden und fünfzehn Minuten das am Meer gelegene Capel979. Sofort stiegen wir auf ein Schiff und erreichten nach zwei Stunden die französische Stadt Boulogne980. Wir blieben die Nacht dort und fuhren am nächsten Tag mit dem Zug weiter, vorbei an manchen an der Küste gelegenen Städten und Dörfern Frankreichs und der Amien genannten Stadt, in der Napoleon mit den Engländern einen Friedensvertrag981 geschlossen hatte. Wir erreichten nach sieben Stunden Paris.
978 979 980 981
Im Originaltext auch hier wieder im Passiv ausgedrückt. Capel-le-Ferne ist eine an der Ostküste Englands gelegene Stadt. Boulogne-sur-Mer ist eine an der Nordküste Frankreichs gelegene Stadt. Gemeint ist der Frieden von Amiens, der 1802 in der nordfranzösischen Stadt Amiens geschlossen wurde. Siehe »Amiens«, in: Encyclopædia Britannica Online. Encyclopædia Britannica Inc., 2015, http://www.britannica.com/place/Amiens (19.07.15).
9.
Online-Anhang
Einen Online-Zugang zum 92-seitigen Originaltext des Seya¯hatna¯me-i Londra ˙ aus der Zeit von 1852/1853 bietet die Digitale Bibliothek des Münchener Digitalisierungszentrums unter dem Punkt digitale Sammlungen. Dort finden sich zwei identische Ausgaben des osmanischen Manuskripts, die sich qualitativ kaum voneinander unterscheiden. Auf eine der beiden Ausgaben gelangt man durch folgenden Link: www.v-r.de/wagner_Imagologie.