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German Pages 600 [595] Year 2022
Joachim von Puttkamer
!Ich werde mich nie an die Gewalt gewöhnen" Polizeibrutalität und Gesellschaft in der Volksrepublik Polen
Hamburger Edition
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2022 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-480-0 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © 2022 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-367-4 Umschlaggestaltung: Lisa Neuhalfen, Berlin Umschlagabbildung: © Maciej Bieniasz, Aus dem Zyklus »März ’68« (ze zbiorów Muzeum Historii Polski, Warszawie / aus den Sammlungen des Museums der Geschichte Polens, Warschau)
Inhalt Einleitung
I
II
9
Polizeiliche Brutalität. Zugänge und Definitionen
12
Zum Forschungsstand
21
Die Quellen
25
Anstelle eines Glossars
29
Zur Anlage des Buches
30
Gewalt und Gesetzlichkeit in den frühen 1950er Jahren
35
»Der harte Kampf gegen den Bruch der sozialistischen Gesetzlichkeit hat das Bewusstsein vieler Beamter noch nicht erreicht«
35
Achtung, Hooligans!
49
»Ich heiße Józef Światło« – Das Eingeständnis von Folter
64
»Wann beginnt der Umbruch?« – Unruhe in der Miliz
81
Posen, 28. Juni 1956
91
»Er schlug mein Gesicht gegen die Wand« – Öffentliche Debatten vor dem Polnischen Oktober
100
Krisenhafte Konsolidierung 1956 – 1957
119
»Die Beleidigung der Uniform darf nicht geduldet werden« – Gomułkas Versprechen an die Miliz
119
»Anarchie auf dem Dorf« – Unruhen nach dem Oktober
132
Ein brodelnder Vulkan. Die Bürgermiliz begehrt auf
143
»Das ganze Grauen der Folterqualen« – Ansätze gesellschaftlicher Versöhnung
159
Eine Frage der Autorität. Schritte zu einer anderen Miliz
172
»Der Schwanengesang des Oktobers«
189
Lernprozesse I
195
III
Die kleine Stabilisierung der Bürgermiliz
201
»Ihr müsst uns nicht mögen, aber ihr müsst Vertrauen zu uns haben« – Milizianten in Literatur und Film
201
Straßenunruhen 1958 – 1966: Konstellationen der Gewalt
215
Stabilisierung im Alltag
236
»Vom Fortschritt zeugt nicht die Zahl der Leichen, sondern der Grad der Befreiung des Denkens« – Intellektueller Protest links und rechts
246
Lernprozesse II
269
IV Mutwillige Konfrontationen 1966 – 1970
273
»Der erste größere derartige Krawall« – Die Millenniumsfeiern 1966
273
»Welches Arschloch hat diesen Befehl gegeben?« – Der März 1968
280
»Ich habe schreckliche Szenen gesehen« –
V
Wahrnehmungen der Gewalt
291
»Sie haben nicht grundlos und auch nicht zu stark geprügelt« – Binnensichten der Miliz
304
»Ein Hexensabbat« – Neue Gegenöffentlichkeit
313
Der März 1968 – Ein Wendepunkt
319
»Solche Dinge vergisst man nicht« – Danzig, Dezember 1970
324
Entfremdung
349
»Ich verspürte ein bisschen Angst« – Gesellschaft, Opposition und Miliz in den frühen 1970er Jahren
349
»Es lohnt daran zu erinnern, bei den rigorosesten Aktionen die Mittel unmittelbaren Zwangs nicht zu missbrauchen« – Lehren für die Miliz, 1969 – 1976
370
»Das erste Totenglöckchen« – Radom, Ursus und das KOR
389
»Ich werde mich nie an die Gewalt gewöhnen« – KOR, ROPCiO und die Miliz 1977 – 1980
405
»Was wagst du Rotznase überhaupt aufzumucken?« – Das Jahr der Solidarność
443
VI Kriegsrecht und Zerfall
479
»Jene entartete Welt« – Polizeibrutalität in den 1980er Jahren
480
»Das Innenressort ist keine Enklave«
497
»Hilf der Miliz, verprügel dich selbst« – Strategien der Opposition
512
»Kazek – dem reicht’s« – Protest am Runden Tisch
531
»Solange Bürger für ihre politischen Überzeugungen geschlagen werden …« – Alte Praktiken und neue Demokratie
546
Epilog. Befunde und Perspektiven
555
Archive
565
Bibliografie
565
Zeitungen und Zeitschriften
565
Online-Ressourcen
566
Quellen
566
Filme
580
Literatur
580
Dank
599
Zum Autor
601
Einleitung Der Tote lag zwischen den Mülltonnen. Schon in der Nacht hatten Anwohner den leblosen Körper gesehen und nicht weiter beachtet. Am nächsten Morgen fanden Milizbeamte die Leiche: Michał Mirkowski, fünfundfünfzig Jahre alt, wohnhaft nur wenige Schritte entfernt im Warschauer Stadtteil Żoliborz-Bielany. Die gerichtsmedizinische Untersuchung stellte einen Schädelbasisbruch und nachfolgende Hirnblutungen als Todesursache fest, die auf zwei Schläge mit einem harten, möglicherweise langen und elastischen Gegenstand zurückgingen. Was die blauen Flecken an den Armen und auf dem Rücken, an den Beinen und am Gesäß betraf, nahm der Obduktionsbericht kein Blatt vor den Mund. Sie waren von einem Schlagstock verursacht, der zur polizeilichen Standardausrüstung gehörte. Hinzu kamen Verletzungen an den Unterarmen, die von Handschellen herrührten. Tatsächlich war Mirkowski am Vorabend vorübergehend festgenommen worden, Schwester und Schwager hatten wegen häuslicher Randale die Miliz gerufen. Ausweislich des Protokolls hatten die Beamten ihn in das Kommissariat verbracht, jedoch nach zwanzig Minuten wieder gehen lassen. Offen blieb, ob er die 600 Meter vom Kommissariat noch selbst hatte zurücklegen können. Vermeintliche Blutspuren im Dienstwagen der Bereitschaftspolizei führten nicht weiter. Die beiden diensthabenden Beamten bestritten, Mirkowski geschlagen zu haben. Vielmehr habe er später am Abend noch auf einer Bank gesessen und, so die beiden, nach Spiritus gestunken. Es gab keine Zeugen. Was in der Nacht zum 17. Mai 1988 tatsächlich geschehen war, lag also auf der Hand, war wie so oft aber kaum zu beweisen. Es sollte auch nie bewiesen werden.1 Stutzig wurden die Ermittler dennoch. Nur drei Tage zuvor hatte einer der beiden Beamten, der Oberfeldwebel Andrzej K., in seinen Diensträu1 AAIPN BU 00735 / 1604 Inspektorat Ochrony Funkcjonariuszy. Postępowania wyjasniające. III . Przegląd Akt dot. A. Krysińskiego, Meldunek Nr 1 / 6 / 88 z dnia 16. V I. 1988, k. 1 – 4. Ebd., Notatka służbowa 17. V. 1988, k. 12.
9
men einen anderen Mann schwer misshandelt, um eine Aussage zu mehreren Autoaufbrüchen zu erhalten. Die Verletzungen ähnelten auffällig denen, an denen Mirkowski gestorben war. Diesmal aber gab es mehrere Zeugen, und es gab eine Anzeige. Auch zwei frühere Fälle wurden jetzt wieder aufgegriffen. Anfang Juni wurde Andrzej K. vorläufig verhaftet, bald darauf degradiert und aus der Miliz entlassen. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage. Am 17. März 1989 wurde er in erster Instanz zu anderthalb Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Das Verfahren im Todesfall Michał Mirkowski wurde hingegen eingestellt, da die Täter angeblich nicht hatten festgestellt werden können. Der ermittelnde Beamte notierte: »So wurden der kpr. Kazimierz S. und der st. sierż. Andrzej K. von dem Verdacht gereinigt, die Verletzungen an dem Körper M. Mirkowskis verursacht zu haben, die den Tod des Genannten verursachten.«2 Im Polen der späten 1980er Jahre war ein solcher Ausgang keineswegs ungewöhnlich. Dennoch ist er in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens war das Innenministerium offenbar selbst daran interessiert, Gewaltexzesse der Milizbeamten zu unterbinden. Ihr vorrangiges Ziel bestand darin, die Disziplin innerhalb der Miliz zu sichern und auffällige Beamte zu entlassen. Zweitens waren betroffene Bürgerinnen und Bürger im Einzelfall offenbar durchaus imstande, sich auf dem Rechtsweg gegen gewalttätige Übergriffe der Behörden zu wehren. Auch konnte sich die Miliz nicht darauf verlassen, dass die Gerichtsmedizin bei der Untersuchung der Opfer Spuren polizeilicher Gewalt stillschweigend übergehen würde. Drittens schließlich spielte die Öffentlichkeit im vorliegenden Fall keine ersichtliche Rolle. Dem Życie Warszawy, der unter vermischten Mitteilungen jeden schweren Verkehrsunfall in der Hauptstadt meldete, war ein solcher Leichenfund keine Notiz wert, und ebenso wenig das spätere Gerichtsverfahren. Die ermittelnden Beamten sorgten sich nicht erkennbar darum, dass der Tod einfacher Bürger das Ansehen der Miliz beschädigen könnte. Die Bürgerrechtsgruppen wiederum, die einschlägige Rechtsbrüche von Miliz und Staatssicherheit dokumentierten, registrierten zwar durchaus auch scheinbar unpolitische Fälle. Doch da der Tote offenbar keine Kontakte zur Opposition unterhalten hatte, kam ihnen der Fall gar nicht erst zur Kenntnis. So wurde er auch von späteren Untersuchungskommissionen nach 1989 nicht erfasst.
2 AAIPN BU 00735 / 1604 Inspektorat Ochrony Funkcjonariuszy. Postępowania wyjasniające. III. Przegląd Akt dot. A. Krysińskiego, Meldunek Nr 1 / 6 / 88, Meldunek Nr 3 / 6 / 88, kwieceń 1989, k. 8 – 11, Zitat k. 10. Abkürzungen: kpr. für kapral / Korporal, st. sierż für starszy sierżant / Oberfeldwebel.
10
Michał Mirkowskis Tod war kein Einzelfall. Wie viele derartige Todesfälle es in der Volksrepublik Polen gab, hat niemand gezählt. Sicher ist nur: Es waren sehr viele. So wie wir bis heute nicht mit letzter Sicherheit wissen, wie viele Menschen an der Berliner Mauer und an der innerdeutschen Grenze ums Leben gekommen sind, so ist auch die Zahl derjenigen, die im Kontakt mit der polnischen Bürgermiliz (Milicja Obywatelska) zu Tode kamen, nur in Umrissen bekannt. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass bis heute die tatsächlichen und die vermeintlichen politischen Straftaten im Vordergrund öffentlichen Interesses stehen. Das Institut für das Nationale Gedächtnis (Instytut Pamięci Narodowej / IPN ) bearbeitete im Jahr 2007 beinahe 900 Fälle, die laut Gesetz vom 18. Dezember 1998 als »kommunistische Verbrechen« eingestuft wurden.3 Die weitaus meisten betreffen die Tätigkeit der Staatssicherheitsbehörden in der Frühphase der Volksrepublik sowie politisch motivierte Taten während des Kriegsrechts, also nach dem 13. Dezember 1981. Welche von Milizbeamten begangene Taten überhaupt unter den Buchstaben des Gesetzes fallen, ist angesichts der unscharfen internen Abgrenzung von Miliz und Staatssicherheit gar nicht so leicht zu beantworten. Verstreute interne Angaben des Innenministeriums lassen die Dimensionen erahnen. So starben allein im ersten Halbjahr 1957 elf Menschen infolge von Straftaten, die von Beamten der Bürgermiliz begangen worden waren.4 Einzelne, bisweilen nicht einmal namentlich genannte Todesopfer lassen vermuten, dass sich das Gesamtbild auch in den folgenden zwei Jahrzehnten nur unwesentlich veränderte. Das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników / KOR) erfasste von 1976 bis 1979 insgesamt fünfzehn Fälle.5 Auch diese erste halbwegs systematische Dokumentation ist unvollständig. Die meisten Fälle wurden für das letzte Jahrzehnt der Volksrepublik erfasst und dokumentiert. Darunter sind so prominente Fälle wie der Mord an dem Priester Jerzy Popiełuszko, bei dem bis heute nicht geklärt werden konnte, wie hoch im Ministerium die Verantwortung anzusiedeln ist, oder ganz unspektakuläre Fälle wie der des Lastwagenfahrers Stanisław Kot, den Milizbeamte im März 1982 volltrunken auf der Straße eingesammelt hatten und so heftig schlugen, dass er acht Tage später im Spital verstarb.6 Bereits
3 http://ipn.gov.pl/pl/dla-mediow/komunikaty/10226,Sledztwa-stanu-wojennego. html [3. 5. 2021]. 4 »Tolerancja – w imię czego?«, in: W służbie narodu 32(441), 11 – 20 XI 1957, S. 5 – 6. 5 »Dokumenty Bezprawia. Aneks III.1.a«, in: Cohn u. a. (Hg.), Raport madrycki, S. 79 – 122. 6 Archiwum Sejmu. Sejm PRL / R P – X Kadencja (1989 – 1991). Protokoły Komisji Sejmowych.
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zwischen 1989 und 1991 untersuchte eine parlamentarische Kommission unter Vorsitz Jan Rokitas 122 Todesfälle seit 1981, die im Zusammenhang mit der Miliz standen.7 Der eingangs erwähnte Tod von Michał Mirkowski ist nicht darunter. Es ist nicht der einzige Todesfall, der bislang unentdeckt blieb. Da kaum zu erwarten stand, dass die Täter in all diesen Fällen nach Jahren noch juristisch belangt werden könnten, verlegte sich die RokitaKommission früh darauf, auch jene Strukturen des Innenministeriums offenzulegen, welche für die hohe Zahl an Todesfällen verantwortlich waren, bis hin zur geheimnisumwitterten »Grupa D« im Einsatz gegen unliebsame Kirchenmänner.8 Von gezielten politischen Morden oder gar regelrechten Todesschwadronen, die eine sensationsheischende Geschichtsschreibung aus weit hergeholten Spekulationen insinuiert, kann allerdings nicht die Rede sein.9 Solche Andeutungen nähren jedoch das Unbehagen daran, dass viele der mutmaßlichen Täter von der Justiz nicht entsprechend hart genug abgeurteilt worden seien. Der Rechtsstaat selbst und seine Verfahren werden so zum Problem.10 Festzuhalten bleibt, dass allein in den letzten vierzehn Jahren der Volksrepublik alle ein bis zwei Monate irgendwo in Polen ein Mensch von Beamten der Miliz willkürlich zu Tode geprügelt wurde oder auf andere Weise in Polizeigewahrsam ums Leben kam. Bei den meisten bestand kein ersichtlicher Zusammenhang zu oppositioneller Aktivität. Diejenigen, die krankenhausreif geschlagen wurden und manchmal ihr Leben lang unter den Folgen litten, sind da noch gar nicht mitgezählt.
Polizeiliche Brutalität. Zugänge und Definitionen In diesem Buch geht es um die Formen, um die Wahrnehmung und um die Folgen polizeilicher Brutalität in der Volksrepublik Polen. Es geht also um ein Thema, das generell nicht eindeutig definiert ist. Zwang und Gewaltanwendung gehören zum Kernbereich polizeilichen Alltags und sind in der Regel durch Gesetze und Vorschriften einigermaßen klar umrissen. Poli-
7 8 9 10
Komisja Nadzwyczajna do zbadania działalności Ministerstwa Spraw Wewnętrznych. Nr. 1 – 8. 17. V III. 1989–9. X. 1990. TomI. Protokół 5 posiedzenia Komisji Nadzwyczajnej do Zbadania Działalności Ministerstwa Spraw Wewnętrznych. 13. marca 1990 r., S. 138 – 142 und S. 169 – 177; Raport Rokity, S. 149 und S. 154. Raport Rokity, S. 33. Ebd., S. 164 – 171. Pleskot, Miasto śmierci; ders.: Zabić, S. 257 – 403. Puttkamer, »Enttäuschte Erwartungen«, S. 173 – 194.
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zeibrutalität ist allerdings nicht einfach der regelwidrige Gebrauch von Gewalt. Soziologen und Soziologinnen unterscheiden diverse Formen, je nach Situation und nach Intention. Unnötige Gewaltanwendung kontrastiert mit Gewaltexzessen, absichtliche Brutalität mit schlichter Überforderung. Auch klaffen öffentliche Wahrnehmung, juristische Bewertung und Selbsteinschätzung der Beamten nicht selten weit auseinander.11 Der Hamburger Soziologe Rafael Behr argumentiert, dass sich Übergriffe grundsätzlich nicht klar von normenkonformem Verhalten im polizeilichen Alltag unterscheiden lassen. Denn polizeiliches Handeln werde in der beruflichen Ausbildung allenfalls abstrakt, konkret hingegen erst in alltäglichen Konfliktsituationen eingeübt. Was richtig oder falsch, gerade noch verhältnismäßig oder bereits übergriffig sei, ergebe sich aus erlernten Praktiken in einem Alltag, in dem jede Personenkontrolle und erst recht jede Festnahme unweigerlich von Herrschaftsgesten durchsetzt seien, zumal sich die aggressiven, kriegerischen Männlichkeitsvorstellungen vor allem jüngerer Straßenpolizisten zwar oft als regelwidrig, aber nicht weniger oft als ausgesprochen nützlich erwiesen. Aus solchen Handlungsmustern bilde sich jene Cop Culture, die Behr als das »›Konzentrat‹ des polizeilichen Alltagswissens« definiert und die sich von Polizeiwache zu Polizeiwache, von Hundertschaft zu Hundertschaft erheblich unterscheiden könne.12 Polizeiliche Übergriffe seien besser einzuordnen, »wenn man sie als überindividuelle, gleichwohl kleinräumige ›Fehlinterpretationen‹ polizeilicher Aufgabenstellung interpretiert«.13 Das Konzept der Cop Culture erklärt nicht so sehr, wie es in der jeweiligen Situation zu gewaltsamen Übergriffen kommt, als vielmehr, warum sich diese auch durch ausbuchstabierte Normen geregelten polizeilichen Handelns kaum vermeiden lassen. Behr bezieht seine Beobachtungen aus dem deutschen Polizeialltag der Jahrtausendwende. Ob polizeiliche Brutalität auch im sozialistischen Polen als Fehlinterpretation der jeweiligen Aufgaben gelten kann und nicht vielmehr politisch gewollt war, lässt sich nicht ohne Weiteres beantworten. Auch in der Diktatur gab es ein breites Spektrum an Situationen polizeilichen Handelns. Gewalt bei einer Ausweiskontrolle oder einer Festnahme war etwas anderes als Gewalt im Verhör, von brutalen Schlägen gegen Demonstrierende oder Streikende ganz zu schweigen. Entsprechende Si-
11 Terrill / Paoline, »Non-Lethal Force«. Zur Unterscheidung handlungs- und organisationstheoretischer Ansätze siehe Worden, »The Causes of Police Brutality«. 12 Behr, Polizeikultur, S. 39; grundlegend entwickelt in ders., Cop Culture; Derin / Singelnstein, Die Polizei, S. 124 – 142. Zur internationalen Diskussion siehe Reiner, The Politics of the Police, S. 116 – 138. 13 Behr, Polizeikultur, S. 12.
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gnale von oben waren nicht selten widersprüchlich. Deklarative Leitbilder und eingeübter Alltag polizeilichen Handelns klafften auch in der Diktatur auseinander. Polizeiliche Brutalität mag in kommunistischen Regimen systemimmanent gewesen sein. Doch die Grenzen dessen, was als akzeptiertes Maß polizeilicher Gewaltanwendung gelten konnte, waren auch im sozialistischen Polen keineswegs eindeutig festgelegt. Es spricht also einiges dafür, das Gewalthandeln der polnischen Bürgermiliz als spezifische Variante eines Grundproblems jeglicher Polizei in den Blick zu nehmen und den politischen Systemgegensatz nicht von vornherein als ausschlaggebend anzusehen. »Warum ist Polizeigewalt so selten?«14 Die Frage von Randall Collins mag überraschen. Ihr liegt die Beobachtung amerikanischer Soziologen zugrunde, dass auch Polizisten in der Regel versuchten, körperliche Gewalt zu vermeiden. Sie seien vielmehr vor allem darauf bedacht, ihre Autorität zu wahren, gerade gegenüber numerisch stärkeren Gruppen. Gewalttätig würden sie in der Regel nur gegenüber solchen Verdächtigen, die sich ihren Anweisungen widersetzten. Gewaltsame Eskalationen entstünden meist aus einem Wechselspiel zwischen Beamten und Verdächtigen. Nur eine kleine Minderheit von »Cowboy Cops« sei von sich aus gewalttätig. Sie suchten jedoch nicht die Gewalt, sondern Action und Selbstbestätigung im Meistern hochgefährlicher Situationen, die ihnen durch hohe Anerkennung der Kollegen dann auch zuteilwerde.15 Als häufigste Form polizeilicher Brutalität sieht Collins hingegen den plötzlichen Umschlag von Anspannung und Konfrontationsangst in eine überschießende, rasende Attacke, etwa bei Demonstrationen, Verfolgungsjagden oder wilden Schießereien, die sogenannte Vorwärtspanik.16 Zu ähnlichen Überlegungen kommt Susanne Krasmann, wo sie Gewaltdynamiken etwa bei Demonstrationen aus Ohnmachtsgefühlen und Frustrationen bei Polizisten herleitet, die über die jeweilige Gesamtsituation und die Ziele des Einsatzes nicht hinreichend informiert seien.17 Diese Überlegungen nähern sich den Ursachen von Polizeibrutalität aus einem anderen Blickwinkel als das Konzept der Cop Culture. Sie entspringen einem mikrosoziologischen Zugang, der Gewalthandlungen nicht als Folge soziostruktureller Bedingungen, von Persönlichkeitsmerkmalen,
14 Collins, Dynamik der Gewalt, S. 567. 15 Ebd., S. 567 – 576. Für die zugrunde liegende amerikanische Polizeisoziologie siehe Reiss, »Police Brutality?«; Friedrich, »Police Use of Force«; Alpert / Dunham, Understanding Police Use of Force; Klinger, Into the Kill Zone; Geller / Toch, Police Violence. 16 Collins, Dynamik der Gewalt, S. 130 – 201. 17 Krasmann, Kontingenz und Ordnungsmacht, S. 154 – 161.
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kulturellen oder gar anthropologischen Dispositionen, sondern als Ergebnis sozialer Interaktion und ihrer Dynamik in spezifischen Situationen begreift. Folglich könnten sie auch nur durch die präzise Analyse der jeweiligen Situation verständlich gemacht werden. Für die historische Wissenschaft ist dieser Zugang doppelt problematisch. Ist schon das Absehen von jeglichen Kontexten kaum befriedigend, so lässt sich auch die situative Gewaltdynamik fast nie konkret erfassen. Nur wenige Fotos oder gar Filmaufnahmen zeigen gewalttätige Polizisten so, dass sich Handlungsketten direkt ablesen ließen. Aus den Berichten von Beteiligten und Augenzeugen zu Straßenunruhen und aus den internen Auswertungen der polnischen Miliz lassen sich immerhin unterschiedliche Verläufe rekonstruieren, ebenso wie zugrunde liegende Einsatztaktiken. Manchmal entstand die Gewalt aus der situativen Eskalation, etwa bei Festnahmen. Manchmal prügelte die Miliz unvermittelt auf Demonstranten und Demonstrantinnen ein, wie im März 1968. In anderen Fällen reagierten Beamte auf die Gewalt, die von der Menge selbst ausging, etwa wenn Steine geworfen oder Gebäude belagert wurden. Die Grenzen zwischen feindseligen und gewalttätigen Demonstrierenden waren fließend. Ähnliches galt für das polizeiliche Vorgehen gegen betrunkene oder randalierende Einzelpersonen, auf offener Straße wie im Arrest. Viele dieser Verläufe lassen sich leidlich in das von Collins aufgefächerte Spektrum an Gewaltsituationen einordnen. Erklärt sind sie damit noch nicht.18 Michał Mirkowski starb an Verletzungen, die ihm in polizeilichem Gewahrsam zugefügt wurden, ohne dass wir die näheren Umstände kennen. Vielleicht fühlten sich die Beamten durch eine unbedachte Äußerung oder auch nur eine trotzige Haltung provoziert. Vielleicht ließen sie schlicht einen Wehrlosen ihre krude Macht spüren. Vielleicht waren Frustrationen oder Sadismus im Spiel. Was im konkreten Einzelfall dazu geführt haben mag, dass Beamte nach einer Festnahme gewalttätig wurden, lässt sich nur mutmaßen. In der Soziologie führen solche Beobachtungen zur Rolle der Organisation und ihrer jeweiligen Kultur, zu Fragen nach Verhaltensnormen, Selbstbild und Rollenverständnis von Polizisten, nach der Toleranz von Kollegen und Vorgesetzten gegenüber exzessiver Gewalt, nach Korpsgeist, Geheimhaltung und Straflosigkeit.19 Auch im sozialistischen Polen fielen manche Polizeiwachen und manche Einheiten durch ein hohes Maß an Brutalität besonders auf. Schon der bereits erwähnte Fall aus Żoliborz deutet ein wiederkehrendes Verhaltensmuster an. In den späten 1970er Jahren galt
18 Knöbl, »Collins im Kontext«. 19 Grundlegend hierzu Westley, Violence, hier v. a. S. 109 – 152.
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etwa die Wache im Lodzer Stadtteil Bałuty, auf dem Gebiet des ehemaligen Ghettos, als außergewöhnlicher Brennpunkt.20 Im Zentrum Warschaus geriet zur gleichen Zeit eine Wache in der südlichen Innenstadt in Verruf.21 Solche lokalen Häufungen polizeilicher Brutalität und hartnäckiger Straflosigkeit wurden alltagssprachlich benannt. Systematisch reflektiert wurden sie nicht. Einige Ursachen lagen auf der Hand. Wie jede Polizei und jedes Militär zog auch die polnische Bürgermiliz solche jungen Männer besonders an, die ohnehin zur Gewalt neigten. In den ersten Jahren der Volksrepublik, unmittelbar nach Krieg und Besatzung, war dieses Phänomen besonders ausgeprägt. Doch auch später, als Beamte sorgfältiger ausgewählt wurden, gelang es manch einem Bewerber, ein einschlägiges Vorstrafenregister etwa durch Protektion zu vertuschen.22 Dieser Faktor sollte jedoch nicht überbetont werden. Ein ehemaliger Beamter etwa stilisierte sich in seinen Erinnerungen als ebenso korrekt und ordnungsliebend im alltäglichen Dienst wie kampfeslustig und gewaltbereit, wenn es gegen den vermeintlichen Klassenfeind ging. Zur Miliz hatte er sich im Frühjahr 1982 gemeldet, weil seine Verlobte schwanger war und er nur hier auf eine Mietwohnung hoffen konnte. Schon bald traf er im Dienst in Warschau auf Kollegen, die während nächtlicher Streifengänge gelangweilt auf streunende Hunde und Katzen einschlugen und sie mit Tränengas quälten. »In der tiefen Stille der Nacht zeugten in ruhigen Stadtteilen von Zeit zu Zeit Gejaule und unerträgliches Miauen von der Gegenwart einer ZOMO -Patrouille.«23 Sadismus und Ordnungsliebe lagen mitunter nah beieinander. Mit der Gewaltbereitschaft korrespondierte die militärische Organisation. Bürgermiliz war die Polizei in der Volksrepublik nur dem Namen nach. Ihre Beamten trugen militärische Ränge und sollten sich als Soldaten verstehen. Als das Regime ab dem Dezember 1956 eine kasernierte Bereitschaftspolizei, die Motorisierten Abteilungen der Bürgermiliz (Zmotoryzowane Odwody Milicji Obywatelskiej / ZOMO), aufstellte, wurde die Militarisierung noch verstärkt. Seit 1973 konnten Freiwillige dort ihren Wehrdienst ableisten und sich auf eine Laufbahn in der regulären Miliz vorbereiten. In der ZOMO wurde Gewalt eingeübt. Gemeinsam praktizierte Gewalt stiftete Kameradschaft, und wie alle militärischen Zwangsorganisationen neigte
20 Komitet Samoobrony Społecznej »KOR«. Komunikat Nr 31 / 32, in: Jastrzębski (Hg.), Dokumenty, S. 408 – 431, hier S. 419; Romaszewscy. Autobiografia, S. 156. 21 Rakowski, Dzienniki polityzne 1976 – 1978, S. 279 (Eintrag vom 28. 12. 1977; aus Aufzeichnungen der Gerichtsreporterin Wanda Falkowska). 22 Juruś, Byłem w ZOMO, S. 67. 23 Ebd., S. 68.
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auch die ZOMO dazu, brutale Gewaltexzesse zu decken. Die ZOMO wurde zum »schlagenden Herz der Partei«, so ihr bitter sarkastischer Spitzname.24 Abgeschottet von der breiten Bevölkerung und auf militärischen Korpsgeist, Kameradschaft und Ehrenkodex getrimmt, bildete die ZOMO eine Subkultur der Brutalität aus, die viele ihrer Soldaten nahtlos in die anschließende Karriere als reguläre Milizianten weitertrugen. Ein Selbstbild, das auf die Kampfzeit der Anfangsjahre zurückging, verstärkte die Bereitschaft zur Gewalt. Aus ihrer Warte hatten Staatssicherheit und Bürgermiliz Seite an Seite mit der kommunistisch geführten Volksarmee und der befreundeten Sowjetmacht den Sozialismus erkämpft, und sie waren stolz darauf. Zwar hatte die Miliz gegenüber dem Korps für Innere Sicherheit (Korpus Bezpieczeństwa Wewnętrznego / K BW ) und dem sowjetischen NKWD eine nachgeordnete Rolle gespielt und war selbst wiederum leichtes Angriffsziel des antikommunistischen Untergrunds, doch das ließ sich leicht überdecken.25 Tausende hatten ihr Leben gelassen. Das Motiv des aufopferungsvollen Kampfes gegen feindliche und reaktionäre Elemente zog sich so über mehr als drei Jahrzehnte durch Ansprachen und Festreden, bis in die politische Schulung der Beamten hinein. Die Erinnerung an die heroischen Anfänge, als der Kampf gegen den Klassenfeind alle Kräfte forderte und alle Mittel rechtfertigte, blieb wach bis zum Schluss. Seit den frühen 1950er Jahren kam der Hooliganismus unangepasster Jugendlicher als neues Feindbild hinzu. Polen war nach dem Krieg eine junge, dynamische Industriegesellschaft. Millionen Menschen verließen das heimatliche Dorf und zogen in die Arbeiterviertel rasch wachsender Städte. Ihr Gewaltpotenzial war hoch. Ungebärdige junge Männer als Hooligans zu bezeichnen war ein Topos, den Polen wie andere Staaten des Ostblocks von der Sowjetunion übernahm. Das Phänomen war allerdings durchaus real. Für die Diskussion polizeilicher Brutalität spielt der Hooliganismus eine doppelte Rolle. Zum einen war die Gewaltbereitschaft von Hooligans und von Milizbeamten ähnlicher Natur, und die Grenze war nicht immer einfach zu ziehen. Das wurde in den 1950er Jahren auch ausdrücklich angesprochen. Zum anderen lenkt er den Blick auf die Kontrolle des öffentlichen Raumes als zentrales Feld polizeilichen Handelns, in alltäglichen Situationen ebenso wie bei Großeinsätzen. In der Literatur hat sich hierfür der Begriff des Policing durchgesetzt. Darunter lassen sich Sozialisation
24 Zblewski, Leksykon PRL -u, S. 191; zum Ursprung in der Wendung vom Schlagstock als »schlagendes Herz der Partei« siehe Głowiński, Marcowe gadanie, S. 122 – 123. 25 Majer, Milicja Obywatelska 1944 – 1957, S. 185 – 215.
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und Selbstbilder, Einsatztaktiken und Performanz der Beamten ebenso fassen wie Interaktionen zwischen Polizei und Bevölkerung. Mehr als um Aufgaben und Organisationsstrukturen geht es um Fähigkeiten und Praktiken, mehr um das Aufrechterhalten gesellschaftlicher Ordnung als um die Verfolgung konkreter Straftaten und deren Prävention, um Legitimität und Akzeptanz.26 Mit dem Begriff des Policing lässt sich der Wandel polizeilicher Aufgaben und polizeilichen Handelns und somit der Wandel von Staatlichkeit seit dem 18. Jahrhundert historisch erfassen. Er öffnet den Blick auch auf veränderte Wahrnehmungen polizeilicher Brutalität, sofern nicht radikal postuliert wird, rechtmäßige und exzessive Polizeigewalt seien grundsätzlich ununterscheidbar.27 Entgegen dem weit verbreiteten Eindruck blieben gewaltsame Übergriffe der polnischen Miliz keineswegs durchweg straflos. Nur führte die strikte Geheimhaltung in einer militarisierten Organisation dazu, dass Rechtsverstöße zunächst intern geahndet wurden, auf disziplinarischem Weg. Öffentlich kommuniziert wurden sie nicht. Disziplinarstrafen suggerierten Härte. Eben diese Härte im Einzelfall verstellte der politischen Führung den Blick dafür, dass die regelmäßigen Fälle maßloser Gewalt ein grundsätzliches Problem darstellten. Solange polizeiliche Brutalität auf allen Ebenen, vom Minister über die zentralen und regionalen Kommandanten bis zu den örtlichen Vorgesetzten, als Folge unzureichender Disziplin begriffen wurden, blieb es dabei, an das richtige sozialistische Bewusstsein und an intensivere propagandistische Schulungsarbeit zu appellieren. Ohnehin deckte und rechtfertigte das Regime nachträglich Gewaltexzesse, von denen es selbst überrascht war und vor denen die Beamten regelmäßig gewarnt wurden. Auf die veränderten Ursachen überschießender Gewalt formulierte das Regime immer dieselbe Antwort. Daher rührt auch der bis heute nachwirkende Eindruck, es habe sich um ein vergleichsweise statisches Problem gehandelt. Bleibt die Abgrenzung zur Folter. Es entsprach dem tief verinnerlichten Selbstbild der Miliz, dass mit der Abkehr vom Stalinismus Mitte der 1950er Jahre zumindest gezielte, systematische Folter ein Ende gefunden habe. Sie gilt als schärfste Form polizeilicher Brutalität: kalkuliertes, bewusstes Quälen als Herrschaftstechnik.28 Gängige Definitionen lassen unterschiedliche Lesarten zu. Im engeren Sinne zielt Folter darauf, durch 26 Reiner, Politics of the Police, S. 3 – 36. Siehe auch Manning, Police Work; della Porta / Reiter (Hg.), Policing Protest. 27 Neocleous, The Fabrication, S. 29 – 30. 28 Reemtsma, »›Wir sind alles für Dich!‹«. Siehe auch Kenney, Dance in Chains, S. 51 – 60; Collins, Dynamik der Gewalt, S. 229.
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Androhen oder Zufügen extremen physischen oder psychischen Leids eine Aussage zu erzwingen. Die weiter gefasste Definition der Antifolterkonvention der Vereinten Nationen von 1984 umfasst darüber hinaus auch solche Schmerzen oder Leiden, die von Amtspersonen infolge einer wie auch immer gearteten Diskriminierung zugefügt werden.29 In dieser weiteren Definition ließe sich nahezu jede Form polizeilicher Brutalität als Folter bezeichnen. Insofern spricht manches dafür, der engeren Definition zu folgen. Das soll nicht heißen, dass in polnischen Gefängnissen und auf polnischen Milizkommandanturen nicht auch nach 1956 Geständnisse, Aussagen oder Unterschriften durch Folter erpresst wurden. Es wäre allerdings wenig gewonnen, die Gewaltexzesse etwa vom März 1968, die Spaliere vom Juni 1976, den hemmungslosen Einsatz von Schlagstock und Tränengas bei Straßenschlachten oder die bösartige Alltagsbrutalität einzelner Beamter als Folter zu bezeichnen und sie durchgängig in eine Kontinuität zu stalinistischen Gewaltpraktiken zu stellen. Das ginge auch am zeitgenössischen Sprachgebrauch vorbei. Ein anderer, körpergeschichtlicher Zugang lenkt den Blick auf die Geschundenen. Elaine Scarry zufolge zielt das absichtliche Zufügen extremen Schmerzes darauf, die Vorstellungswelt des Gefolterten zu zerstören und so dem Glauben des Folterers (und damit des Regimes, dem er dient) Wirklichkeit zu verschaffen.30 Folter in diesem Sinne gibt einer politischen Idee schmerzhafte, körperliche Präsenz. Dazu gehört, dass sie die Sprache des Gefolterten auflöst. Der Schmerz bleibt entweder ohne Ausdruck, oder er bringt »in dem Augenblick, da er erstmals artikuliert wird, alles Übrige zum Verstummen«.31 In der Folter wird der Schmerz zu einem Emblem der Macht umgewandelt. Scarrys Lesart der Folter verweist auf die auffällig dürren, stereotypen sprachlichen Formen, in denen in Polen von polizeilicher Brutalität die Rede war. Menschen wurden »geschlagen« (pobity), »getreten« (kopnięty) oder »bestialisch geschlagen« (bestialsko pobity), oft wurden einfach nur Schlagstöcke »in Bewegung gesetzt« (pałki poszły w ruch). Was aber in Worten nicht ausgedrückt werden kann, lässt sich nur unzureichend beschreiben. Wer Gewalt nicht am eigenen Leib erlebt hat, kann nur versuchen, sich die ganze Bandbreite an Schmerzen und körperlichen Reaktio-
29 Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment. Adopted and opened for signature, ratification and accession by General Assembly resolution 39 / 46 of 10 December 1984, http://www.ohchr.org/EN/ ProfessionalInterest/Pages/CAT.aspx [25. 3. 2021]. 30 Scarry, Der Körper im Schmerz, S. 11 – 90 und S. 217 – 227. 31 Ebd., S. 91.
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nen vorzustellen, beim ersten und jeden weiteren Hieb oder Tritt bis hin zur Ohnmacht, und ihre bleibenden Folgen: stechende, zuckende, rasende, pochende, bohrende, brennende, mahlende, dumpfe Schmerzen. Schreie, Verkrampfung, Stöhnen, Angst, Wut, Hilflosigkeit, Demütigung, Scham. Wer sie nicht am eigenen Leib erlebt hat, dem bleiben solche Erfahrungen zum Glück verschlossen. Sich gerade deshalb mit individuellen Berichten von Gefolterten und Misshandelten auseinanderzusetzen ist, mit Jan Philipp Reemtsma gesprochen, eine Geste der Menschlichkeit gegenüber den Opfern, dass ihr Leiden ernst genommen wird.32 So verweist die stereotype Sprache, in der polizeiliche Brutalität kommuniziert wurde, bereits darauf, dass nicht Empathie mit den Betroffenen, sondern Empörung über die Täter im Vordergrund stand. Anschauliche Berichte liegen nahezu ausschließlich für die späten 1940er und frühen 1950er Jahre vor, formuliert zunächst als Anklage gegen die unmenschlichen Herrschaftspraktiken des Systems und als bittere Grundlage für Rehabilitationsanträge, später als klärende Aufarbeitung und mahnende Erinnerung an eine weitgehend überwundene Epoche.33 Die Möglichkeit, über Folter als Spezifikum stalinistischer Herrschaft zu sprechen, wurde zur treibenden Kraft ihres Zerfalls. Für alle anderen, späteren Formen polizeilicher Brutalität in Polen gibt es bis heute kaum eine Sprache jenseits des eben skizzierten Rahmens. Wer sich an die Gewalterfahrungen der Studentenbewegung vom März 1968 oder an die Arbeiterunruhen vom Dezember 1970 und vom Juni 1976 erinnerte, dem genügten meist vorgefertigte sprachliche Schablonen, um Dramatik und Empörung zum Ausdruck zu bringen. Mancher berichtete davon, wie er Menschen habe stöhnen hören, kaum jemand berichtete von selbst erlittenen Schmerzen. Diese blieben unfassbar und unentrinnbar. Eine Ahnung vermittelte Stanisław Barańczak in einem Gedicht aus dem Jahr 1972: »[…] Denn nur diese Welt des Schmerzes, nur dieser Körper im Schraubstock von Erde und Luft, von Kugeln umpeitscht, halb zerbrochen vom Faustschlag, unter dem Schlagstock knackt es in den knöchernen Nähten des Schädels, nur die dünne Schale blutig zerrissener menschlicher Haut […], denn nur diese Welt des Schmerzes, denn nur diese Welt ist der Schmerz, denn die Welt ist nur dieser Schmerz.«34
32 Reemtsma, »›Wir sind alles für Dich!‹«, S. 17. Zur Kulturgeschichte des Schmerzes siehe Boddice, Pain; Sontag, Regarding the Pain of Others. 33 Siehe etwa Suchorowska, Wielka edukacja; Fijałkowska, Borejsza; Müller, If the Walls Could Speak. 34 Barańczak, »Bo tylko ten świat bólu«, in: ders., Wiersze zebrane, S. 75 (zuerst in: ders., Dziennik poranny, S. 36 – 37).
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Zum Forschungsstand Ausdruck der Sprachlosigkeit gegenüber polizeilicher Brutalität ist eine Studie aus dem Jahr 1999, deren Autoren akribisch alle politisch motivierten Straßenschlachten in der Volksrepublik Polen seit 1956 abhandeln, eine nach der anderen, einförmig und mit immer denselben Worten.35 Sie ist überwiegend aus der zeitgenössischen Presse sowie vereinzelten Augenzeugenberichten erarbeitet. Wer den konkreten Verlauf einzelner Unruhen und Milizeinsätze nachzeichnen möchte, dem bietet dieses Buch eine Fundgrube. Im dokumentarischen Zugang reproduziert sie die Wahrnehmungen der Zeitgenossen. Der Umstand, dass es im gewaltsamen Polizeieinsatz regelmäßig auch zu exzessiver Gewalt kam, wird nicht weiter thematisiert. Es wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Die umfangreiche Literatur zur Geschichte der staatssozialistischen Diktatur in Polen beruht weitgehend auf dieser Prämisse. Sie erzählt die Geschichte eines Scheiterns. Regime und Gesellschaft standen einander fremd gegenüber. Darüber konnten auch kurze Phasen des Ausgleichs nicht hinwegtäuschen.36 Gewalt war nur der sichtbarste Ausdruck dieser Fremdheit, denn das kommunistische Regime war auf Gewalt und Gewaltandrohung gegründet. Jegliche Krise führte über kurz oder lang zu Repression, und jedes Mal vertiefte der Einsatz von Militär und Miliz die Krise. Paweł Machcewicz etwa hat schon vor Längerem dargelegt, dass es im Nachgang zum Posener Arbeiteraufstand vom Juni 1956 noch monatelang im ganzen Land zu Unruhen kam, die von der Miliz nur mit Mühe unterdrückt werden konnten.37 Jerzy Eislers Gesamtdarstellungen der Unruhen vom März 1968 und vom Dezember 1970, Paweł Sasankas Monografie zu den Streiks im Juni 1976 und die von Antoni Dudek herausgegebenen Beiträge zum 1981 verhängten Kriegsrecht dokumentieren den jeweiligen Einsatz der Sicherheitskräfte bis ins Detail und aus unterschiedlicher Perspektive.38 An dem schon vor zwanzig Jahren formulierten Befund, dass die Staats- und Parteiführung nach 1956 nur noch punktuell zu offener Repression griff und der Sicherheitsapparat ab den 1970er Jahren immer weniger in der Lage war, das Regime zu stabilisieren, hat sich dabei wenig geändert. Erst aus die-
35 Dudek / Marszałkowski, Walki uliczne. Eine frühere und kürzere Ausgabe erschien unter demselben Titel bereits 1992. 36 Paczkowski, The Spring will be Ours; Friszke, Polen, S. 159 – 490; Borodziej, Geschichte Polens, S. 253 – 382; Krzoska, Ein Land unterwegs. 37 Machcewicz, Rebellious Satellite; ders., Polski rok 1956. 38 Eisler, Polski rok 1968; ders., Grudzień 1970; Sasanka, Czerwiec 1976; Dudek (Hg.), Stan wojenny w Polsce.
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ser Warte lässt sich der bemerkenswert friedliche Umbruch des Jahres 1989 auch als Konsequenz aus dem schrittweisen Verfall eines Gewaltpotenzials erzählen, das sich politisch längst als perspektivlos erwiesen hatte.39 Mit dem Scheitern des Regimes korrespondiert die Erfolgsgeschichte der Opposition. Andrzej Friszkes und Jan Skórzyńskis mehrbändige Geschichten der Opposition von den aufmüpfigen Warschauer Studenten bis zur Solidarność zeigen, wie moralische Empörung in politisches Handeln mündete und die scheinbar übermächtige Diktatur zu Fall brachte. Diese Arbeiten vermitteln die Selbstvergewisserung der Sieger von 1989.40 Sie blieb nicht unwidersprochen. So lässt sich die Geschichte der Opposition auch als allenfalls kurzzeitig unterbrochene intellektuelle Hegemonie über die breite Masse der Arbeiterschaft, wenn nicht gar als Verrat an deren Idealen erzählen.41 Andere Studien setzen den primär ideengeschichtlichen Arbeiten die vielen Heldinnen und Helden des Alltags entgegen, die tagtäglich Kopf und Kragen riskierten, um die Untergrundpresse am Laufen zu halten und ihre freiheitlichen Ideale mit Leben zu füllen.42 Lebensgeschichtliche Interviews zeigen das Aufbegehren als Generationserfahrung, die schon vor dem Ende der Diktatur zu verblassen begann.43 Das Bild von Dissidenz und Opposition ist vielschichtiger, aber auch nüchterner geworden. In diesem Tenor zeichnen auch westeuropäische Arbeiten eine Geschichte unterschiedlicher Milieus, ihrer Aktivitäten, Strukturen und Ideen, mit deutlicherem Akzent allerdings auf transnationalen Verflechtungen und politischen Sprechweisen.44 Manche Erfolgsgeschichten sind mit dem Streit darüber, ob ausgerechnet die Sieger der Geschichte sich auf ein ungebührliches Bündnis mit den alten Eliten eingelassen und den Abbau des Sicherheitsapparats verschleppt hätten, und erst recht mit den Angriffen auf Rechtsstaat und Gewaltenteilung als Grundpfeiler liberaler Demokratie in Polen seit 2015 unter Druck geraten.45 Wenn Kacper Szulecki zuletzt den
39 Borodziej, »Gewalt in Volkspolen«; ders., »Vom Warschauer Aufstand zum Runden Tisch«. 40 Friszke, Anatomia buntu; ders., Czas KOR-u; ders., Rewolucja Solidarności; grundgelegt in ders., Opozycja polityczna; Skórzyński, Siła bezsilnych. Siehe auch Gawin, Wielki zwrot. 41 Ost, The Defeat of Solidarity; Siermiński, Dekada przełomu. 42 Olaszek, Rewolucja powielaczy; Fałkowski, Biznes patriotyczny; Sowiński, Zakazana książka; Doucette, Books Are Weapons; Wciślik, Dissident Legacies. 43 Grupińska / Wawrzyniak, Buntownicy. 44 Arndt, Rote Bürger; Brier (Hg.), Entangled Protest; ders., Poland’s Solidarity Movement; Kind-Kovács, Written Here, Published There; Zagańczyk-Neufeld, Die geglückte Revolution; Feindt, Auf der Suche; Trutkowski, Die ausgehandelten Revolutionen. 45 Dudek, Reglamentowana Rewolucja; Mohr, »Umstrittene Gründungsmythen«.
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Typus des Dissidenten und Nina Witoszek eine »Revolution der Würde« herausgearbeitet haben, dann scheint es, als wollten sie angesichts einer bedrückenden Gegenwart eine schon wieder versunkene Vergangenheit noch einmal heraufbeschwören.46 Polizeiliche Brutalität und gewaltsame Repression bilden in diesen Studien allenfalls ein beständiges Hintergrundrauschen, sofern es überhaupt eine Rolle spielt. An den Sicherheitskräften, deren Innenleben oder gar ihrer Eigendynamik haben sie wenig Interesse. Diese auszuleuchten ist die Domäne des Instituts für Nationales Gedächtnis. Es hat in den vergangenen gut zwanzig Jahren umfassende Quelleneditionen vorgelegt und grundlegende Einsichten in Aufbau, Strukturen, Ressourcen und Tätigkeitsfelder des Staatssicherheitsapparates erarbeitet.47 Die Bürgermiliz gerät dabei allenfalls für die frühen Jahre der Volksrepublik in den Blick, in denen sie als Hilfsorgan des übermächtigen Staatssicherheitsdienstes galt. Ansonsten kommt die Geschichte der Polizei in Polen bislang kaum über einen lehrbuchartigen Abriss hinaus.48 Tiefere Einsichten in interne Abläufe und Probleme bieten allenfalls die institutionengeschichtlichen Studien von Piotr Majer zum ersten Jahrzehnt der Bürgermiliz, eine Lokalstudie zu Stolp (Słupsk) sowie ein lokalgeschichtlicher Aufsatz, welcher die fast sprichwörtliche Korruption einzelner Dienststellen im Danzig der 1980er Jahre betrachtet.49 Die Geschichte der ZOMO, der im Gefolge des Posener Arbeiteraufstands gebildeten Bereitschaftspolizei und ihrer Vorbildfunktion für den gesamten Ostblock, kennen wir nur in Umrissen.50 Auch die Anläufe der Jahre 1981 und 1989, eine Milizgewerkschaft zu bilden, sind nur wenigen Spezialisten bekannt.51 Der wichtigste Vorkämpfer dieser Bewegung gilt bis heute als Außenseiter und hat seine Erinnerungen bezeichnenderweise im Selbstverlag publiziert.52 Von Thomas Lindenbergers Sozial- und Alltagsgeschichte volkspolizeilichen Handelns in der DDR, nach wie vor der gültige Maßstab einer Polizeigeschichte im Sozialismus, oder der jüngeren Studie von Ciprian Cirniala zu den Facetten interner und externer Repräsentationen der rumänischen Miliţia als Schlüssel zu Legi-
46 Szulecki, Dissidents; Witoszek, The Origins. 47 Dudek / Paczkowski, »Polen«; Jusupović / Leśkiewicz (Hg.), Historyczno-prawna analiza; Musiał, »Stan badań«, hier v. a. S. 111 – 114. 48 Misiuk, Historia policji w Polsce. 49 Majer, Milicja Obywatelska 1944 – 1957; Pączek, Milicja Obywatelska; Nawrocki, »Milicjanci i złodzieje«. 50 Dudek, »Bijące serce partii«. 51 Szumski, Rozliczenia, S. 264 – 280; Kozłowski, Koniec imperium MSW, S. 134 – 150. 52 Mikusiński, Ruch związkowy.
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timation und Akzeptanz des Regimes unter Ceauşescu sind diese Arbeiten weit entfernt.53 Polizeiliche Brutalität wird allerdings auch in diesen beiden Studien nur am Rande erwähnt. Für die Bundesrepublik der 1960er Jahre hat Klaus Weinhauer am Beispiel Hamburgs und Nordrhein-Westfalens wegweisende Einsichten in Sozialisation, Männlichkeitsideale und Gewaltbereitschaft der Polizisten erarbeitet, die sich mit der aufkommenden Studentenbewegung konfrontiert sahen.54 Eine akteurs- und handlungszentrierte historische Forschung zu diesem Thema ist allerdings auch in Deutschland über vielversprechende Anfänge kaum hinausgekommen.55 Es gibt somit nur wenige Ansatzpunkte, anhand derer sich die Befunde zu Polen vergleichend einordnen ließen. Eine Ausnahme in der Forschung zur Geschichte der Volksrepublik bildet die Studie von Piotr Osęka zur Generationserfahrung des März 1968.56 Sie beruht durchgängig auf lebensgeschichtlichen Interviews. Der Schock darüber, mit welcher Brutalität die Miliz gegen die Warschauer Studentinnen und Studenten vorging, spielt darin eine vielfach artikulierte, zentrale Rolle. Die Interviews liefern reichhaltiges Material dafür, wie polizeiliche Brutalität in dieser spezifischen Situation erlebt und verarbeitet wurde. Das neuere Interesse an subjektiven Gewalterfahrungen ist auch sonst an der Zeitgeschichte Polens nicht spurlos vorübergegangen. Es speist etwa die Studien von Molly Pucci zu den improvisierten Anfängen der Staatssicherheit in Polen, der Tschechoslowakei und der entstehenden DDR oder von Anna Müller zu Alltag und Körperlichkeit in polnischen Frauengefängnissen der frühen 1950er Jahre.57 Wo von Angst und Hass, Wut und Empörung die Rede ist, nimmt die vorliegende Studie darüber hinaus Anleihen bei der Emotionsgeschichte.58 Unstrittig ist bei alledem, dass die Brutalität der Sicherheitskräfte in den Krisen vom März 1968, vom Dezember 1970 und vom Juni 1976 eine zentrale Rolle spielte, als habe das Regime jeweils plötzlich und unvermittelt sein wahres Gesicht gezeigt. Wie weit die Eskalation der Gewalt in der Krise in Alltag und Ausbildung der Miliz angelegt war, wie politische Ziele und situative Eigendynamik zusammenspielten, liegt weitgehend im Dunkeln. Hier setzt die vorliegende Arbeit an. 53 54 55 56 57 58
Lindenberger, Volkspolizei; Cirniala, Ceauşescus Polizei. Weinhauer, Schutzpolizei. Lüdtke / Reinke / Sturm (Hg.), Polizei, Gewalt und Staat. Osęka, My, ludzie z Marca. Pucci, Security Empire; Müller, If the Walls Could Speak. Frevert, Vergängliche Gefühle; dies., Mächtige Gefühle; Plamper, Geschichte und Gefühl; Rosenwein / Cristiani, What is the History of Emotions?; Bourke, Fear; Zaremba, Die große Angst.
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Die Quellen Das Hauptarchiv der polnischen Polizei (Archiwum Główne Policji) befindet sich in deren Hauptkommandantur in Warschau. Die dort gelagerten Akten, etwa Personalakten, sind nur schwer zugänglich. Eine Anfrage des Autors wurde im Februar 2019 mit dem Hinweis beschieden, es liege kein Material zu Straftaten vor, die von Beamten der Bürgermiliz begangen worden wären. Glaubhaft ist das nicht. Denn diejenigen Akten, die im Institut für das Nationale Gedächtnis problemlos recherchiert und eingesehen werden können, zeichnen ein anderes Bild, wenn auch nicht aus der Binnensicht der engeren Polizeiführung, sondern aus der übergeordneten Perspektive des Innenministeriums. Der interne Schriftverkehr des Ressorts zu den jeweils einschlägigen Vorschriften, Schulungsmaterialien der ZOMO, taktische Handbücher und die Auswertung größerer Einsätze verraten viel über den Alltag in der Miliz. Hinzu kommen Diplom- und Doktorarbeiten, die Offiziersanwärter der Miliz seit den 1970er Jahren an der neu eingerichteten Akademie des Innenministeriums verfassten. Besonders anschauliche Fallbeispiele lassen sich aus den Akten der Rechtsabteilung gewinnen, wenn Bürger ihre Miliz unerschrocken auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld verklagten und die Verfahren in zweiter oder dritter Instanz vor dem Obersten Gericht verhandelt wurden. Nicht minder eindrücklich sind jene Rechtsverstöße, die eine eigens gebildete »Verwaltung zum Schutz der Beamten« (Zarząd Ochrony Funkcjonariuszy) ab 1984 hinter verschlossenen Türen ermittelte. Interne Akten des Ministeriums etwa zum März 1968 und zu den Unruhen vom Dezember 1970 sind ebenso ediert wie die operativen Akten der Staatssicherheit gegen die wichtigsten Oppositionsgruppen.59 Eine höchst ergiebige Quelle ist die Zeitschrift W służbie narodu (Im Dienste der Nation), das Journal der Miliz. Seit 1955 diente sie, wie ihre Vorgängerin, der Hauptkommandantur als Propagandablatt gegenüber den eigenen Beamten. Als solches unterlag sie schwerlich der Zensur. Ihre Auflage war nur für den Dienstgebrauch gedacht und geriet nur selten in den freien Verkauf, sei es als Jubiläumsausgaben, sei es versehentlich.60 Bei einer Auflage von mehreren Zehntausend Exemplaren konnte von Geheimhaltung ohnehin kaum die Rede sein. Mal unbeschwert, mal nachdenklich zeigten 59 Dąbrowski / Gontarczyk / Tomasik (Hg.), Marzec 1968 w dokumentach MSW; Eisler (Hg.), Grudzień 1970 w dokumentach; Friszke (Hg.), Rozmowy na Zawracie; Byszewski (Hg.), Działania Służby Bezpieczeństwa; Kamiński / Waligóra (Hg.), Kryptonim »Wasale«; dies. (Hg.), Kryptonim »Pegaz«; dies. (Hg.), Kryptonim »Gracze«. 60 »Kartki z notesu«, in: W służbie narodu 2(411), 10 I 1957, S. 2.
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ihre Reportagen, Kolumnen und Leserbriefe, welchen Reim sich ein guter sozialistischer Milizionär auf seinen Dienstalltag und auf die Weltläufte machen sollte. Gelegentlich druckte die Zeitschrift Interviews mit dem Minister oder dem Hauptkommandanten. Sie sollte Professionalität vermitteln und Gemeinschaft stiften. Wo der Feind stand, war klar. Konflikte kamen meist nur in geglätteter Form zur Sprache. Es ist eine schlichte Lektüre. In Krisenzeiten aber drehte sich der Wind. Im Herbst 1956, im Frühjahr und Sommer 1981 und erneut im Sommer und Herbst 1989 wurde die Zeitschrift kurzfristig zum Sprachrohr der Unzufriedenen. So gibt sie im Rückblick vielleicht kein verlässliches Stimmungsbild unter den Beamten in Stadt und Land, vermittelt aber doch eine Ahnung davon, welche Fragen ihnen besonders unter den Nägeln brannten. Gewalt in den eigenen Reihen gehörte manchmal durchaus dazu. Schwieriger lässt sich rekonstruieren, wie Gewalterfahrungen und polizeiliche Brutalität in der Bevölkerung wahrgenommen wurden. Die offiziellen Massenmedien, allen voran die großen Zeitungen wie das Parteiorgan Trybuna Ludu, die Jugendverbandszeitschrift Sztandar Młodych, der hauptstädtische Życie Warszawy und andere regionale Presseorgane oder auch Zeitschriften und Journale wie Świat erschließen zunächst die parteioffizielle Propaganda, geben bisweilen aber auch aufschlussreiche Hinweise etwa in Gerichtsreportagen oder literarischen Feuilletons. Eine Ausnahme bildete die Zeitschrift Po prostu, deren sozialkritische Reportagen die Dynamik des »Polnischen Oktober« trugen, bis sie 1957 eingestellt wurde.61 Aus der Auswahl digitalisierter Ausgaben der polnischen Wochenschau, der Polska Kronika Filmowa lässt sich die Bilderwelt der Volksrepublik zumindest in Umrissen erschließen, vor allem in Krisenzeiten.62 Einen selektiven Ausschnitt öffentlicher Wahrnehmungen bilden zudem die einschlägigen Debatten im polnischen Parlament, im Sejm, in den Schlüsselwochen der Jahre 1956, 1968 und 1989. Die Interpellation der katholischen Abgeordnetengruppe Znak vom April 1968, die das brutale Vorgehen der Miliz gegen die Studenten direkt thematisierte, blieb allerdings ein Einzelfall. Tagebücher und Erinnerungen bieten farbige Eindrücke vom Alltag in der Volksrepublik Polen. Dort findet sich, mehr oder weniger verstreut, eine Fülle an Bemerkungen und Reflexionen zum Handeln der Sicherheitskräfte, insbesondere in Krisenzeiten. Auf diesem Weg lässt sich leidlich rekonstruieren, wie sich etwa die Nachrichten vom Arbeiteraufstand 61 Rafalska, Między marzeniami a rzeczywistością. 62 Cieśliński, Piękniej niż w życiu; ders., Polska Kronika Filmowa. Zu den digitalisierten Ausgaben der Polska Kronika Filmowa siehe http://repozytorium.fn.org.pl [13. 4. 2021].
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in Posen im Juni 1956, von den Unruhen an der Ostseeküste im Dezember 1970, von den Streiks im Juni 1976 oder vom Kriegsrecht verbreiteten und innerhalb kurzer Zeit veränderten. Allerdings geben auch diese vermeintlich unmittelbaren Texte keineswegs ein unverfälschtes Bild. Die Verfasser und Verfasserinnen von Tagebüchern waren nahezu durchweg gebildete Stadtmenschen, noch dazu stilistisch ambitioniert, und fast alle lebten und schrieben in Warschau. Zudem neigten viele dazu, ihre Einträge nachträglich zu redigieren. Besonders deutlich wird dies an Leopold Tyrmands Tagebüchern aus dem Frühjahr 1954. Die Originalversion lässt erkennen, dass Tyrmand seine von Anfang an für die Publikation gedachten, aber erst zweieinhalb Jahrzehnte später im amerikanischen Exil veröffentlichten kleinen Essays zwischenzeitlich erheblich redigiert und zugespitzt hatte.63 Gleiches gilt für Mieczysław Rakowski, der seine umfangreichen Aufzeichnungen für die Publikation entgegen den eigenen Ansprüchen verschiedentlich so weit umarbeitete, dass sein Biograf sie eher als Memoiren denn als Tagebücher betrachtet sehen will.64 Auch von der Schriftstellerin Maria Dąbrowska ist bekannt, dass sie einzelne Einträge nachträglich überarbeitete.65 Antoni Słonimski warnte ausdrücklich vor Dąbrowskas Aufzeichnungen, denn sie verfehlten die Atmosphäre.66 Mag sein, dass er einzelne Situationen anders erlebt hatte. Aber in der Subjektivität liegt ja gerade der Wert von Tagebüchern und Erinnerungen.67 Behutsam kontextualisiert und auf mögliche Hintergedanken hin abgeklopft geben sie Hinweise auf das Spektrum an Wahrnehmungen polizeilicher Gewalt und darauf, wie dieses sich über die Jahrzehnte veränderte. Die Grenzen zwischen nachträglich redigierten Tagebüchern, stimmig erzählten Erinnerungen und mehr oder weniger plausibler Erfindung sind allerdings fließend. Die Berichte zweier ehemaliger ZOMO -Soldaten über ihre Dienstzeit in den 1980er Jahren sind zumindest in einem Fall derart darauf getrimmt, entlang gängiger Klischees spannende und bisweilen sensationsheischende Geschichten von einzelnen Einsätzen zu erzählen, dass sie kaum als historische Quelle genutzt werden können.68 Gleiches gilt für die Routinen und die Abgründe des Milizalltags in den Erinnerungen eines ehemaligen Breslauer Milizoffiziers.69
63 64 65 66 67 68 69
Tyrmand, Dziennik 1954; ders., Dziennik 1954. Wersja oryginalna. Przeperski, Mieczysław F. Rakowski, S. 381. Dąbrowska, Dzienniki 1914 – 1965. Bd. X: 1956 – 1957, S. 142 (Eintrag vom 11. 12. 1956). Słonimski, Alfabet wspomnień, S. 52 – 54. Rodak, »Poland’s Autobiographical Twentieth Century«. Juruś, Byłem w ZOMO; Gizak, By(i)łem w ZOMO. Ćwiek / Bigaj, Bezpański.
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Aber selbst literarische Fiktionen sind für die vorliegende Studie keineswegs unbrauchbar. Auch sie modellieren gesellschaftliche Wahrnehmungen, sofern sie Anspruch darauf erheben, glaubhaft oder wahrhaftig zu sein.70 Das allerdings ließ sich bezweifeln. »Wir wissen nicht, wo wir sind«, beklagten Adam Zagajewski und Julian Kornhauser Anfang der 1970er Jahre rebellisch einen Mangel an wahrhaftiger Literatur, welche die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit in den Blick nähme, einer Literatur gesellschaftlicher Selbsterkenntnis.71 Doch auch die Fehlstellen sind aufschlussreich. Romane, auch Kriminalromane, Erzählungen und Gedichte, Filme und Krimiserien deuteten in einer reglementierten Öffentlichkeit an, wie die Miliz wahrgenommen werden sollte, wie weit die Brutalität der Beamten thematisiert werden durfte und was sonst noch an kritischen Punkten ansprechbar war. Zahlreiche Witze ergänzen dieses Bild. Unzensierte politische Informationen boten für lange Zeit nur westliches Radio, allen voran Radio Free Europe, sowie Exilpublikationen aus Paris und London. Die Staatspartei fürchtete beides, konnte das Land aber nie vollständig abschotten.72 Was polnische Emigranten, Geflüchtete oder Überläufer in den Jahren des Stalinismus über die Bürgermiliz zu berichten hatten, lässt sich den »Information Items« von Radio Free Europe entnehmen. Vereinzelte Hinweise finden sich auch in den Hintergrundberichten, welche die Redaktion über die gesamte Existenz des Ostblocks hinweg erstellten. Sie sind über die Open Society Archives größtenteils online verfügbar. Die Sendungen selbst sind nur teilweise zugänglich.73 An der antikommunistischen Mission des Senders gab es keine Zweifel. Das galt, wenngleich auf weniger engstirnige Weise, auch für die Pariser Kultura. Die literarisch-politische Monatsschrift verstand sich als intellektuelles Zentrum des freien Polens. Zusammen mit den weiteren Publikationen des Instytut Literacki (Literarisches Institut) ist sie eine zentrale Quelle für die frühe intellektuelle Opposition auch im Lande selbst.74 Mit der Gründung des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter änderte sich die Lage grundlegend. Dessen Informationsbulletin (Biuletyn Informa-
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Koschorke, Wahrheit und Erfindung; Gabriel, Fiktion. Kornhauser / Zagajewski, Świat nie przedstawiony, Zitat S. 8. Machcewicz, Poland’s War; Kind-Kovács / Labov (Hg.), Samizdat, Tamizdat, and beyond. Für die online zugänglichen Archivbestände www.osaarchivum.org. Für ausgewählte Radiosendungen siehe www.polskieradio.pl. Recherchen in den Hoover Archives in Stanford waren pandemiebedingt nicht möglich. 74 Hofman (Hg.), Kultura paryska. Sämtliche Hefte der Kultura und weiteren Publikationen des Instytut Literacki sind online verfügbar unter www.kulturaparyska.com [18. 4. 2021].
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cyjny) und bald auch die Mitteilungen (Komunikat) berichteten ausführlich von jeglicher Art polizeilicher Repressionen. Die Mitteilungen liegen in einer gut erschlossenen Edition vor.75 Das breit gefächerte Spektrum an Zeitschriften des »Zweiten Umlaufs« ist an verschiedenen Orten gesammelt worden, außerhalb Polens allen voran an der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen, dem Herder-Institut in Marburg sowie den Open Society Archives in Budapest. Der Umstand, dass die wichtigsten Zeitungen und Zeitschriften dort auch digital zugänglich sind, erwies sich in Zeiten der Pandemie als hoch willkommen. Das reichhaltige Material, das eine zusehends plurale, wenngleich immer noch inoffizielle Öffentlichkeit über die 1980er Jahre hinweg lieferte, wird für den Umbruch des Jahres 1989 um die stenografischen Materialien des »Runden Tisches« ergänzt. Die Rohfassung der Wortprotokolle ist online zugänglich, ein großer Teil wurde sorgfältig ediert.76 In dem Maße, in dem der Sejm nach den Wahlen vom Juni 1989 zum Forum demokratischer Politik wurde, bieten auch seine Protokolle Einblick in zentrale politische Debatten.77 Mit der Gazeta Wyborcza trat eine politische Tageszeitung auf den Plan, die sich dem Anspruch verschrieben hatte, über einen freiheitlichen Journalismus pluraler demokratischer Willensbildung eine neue Grundlage zu geben.78 Auf dieser Grundlage lässt sich polizeiliche Brutalität aus der Binnensicht des Apparats und seiner Beamten wie aus der Außenperspektive einer zusehends politisch artikulierten Öffentlichkeit untersuchen.
Anstelle eines Glossars Aufmerksamen Leserinnen und Lesern wird nicht entgangen sein, dass von Polizisten hier auch als Milizbeamten oder Milizianten die Rede ist. Beide Begriffe sind austauschbar und lehnen sich an den polnischen Sprachgebrauch an. Die im Herbst 1944 gegründete Bürgermiliz setzte sich nach sowjetischem Vorbild schon im Namen bewusst von der Polizei der Zwischenkriegszeit und der Besatzungsjahre ab. Wenn in den Jahren der Volksrepublik explizit von Policja, also Polizei, die Rede war, waren ent-
75 Jastrzębski (Hg.), Dokumenty. 76 https://www.sejm.gov.pl/sejm7.nsf/stenOkrStol.xsp [20. 4. 2021]; Borodziej / Garlicki (Hg.), Okrągły Stół. 77 https://bs.sejm.gov.pl/F?func=file&file_name=find-nowe&local_base=ars01 [20. 4. 2021]. 78 »Drodzy Czytelnicy«, in: Gazeta Wyborcza, 8. 5. 1989, S. 1.
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weder die Polizeien westlicher Länder oder Polizei im allgemeineren Sinne gemeint. Angehörige der Miliz wurden im Polnischen alltagssprachlich als milicjant oder als funkcjonariusz bezeichnet. Ersteres lässt sich direkt ins Deutsche übertragen, um die Konnotation eines Volksheeres oder einer Freiwilligenmiliz zu vermeiden, die mit dem Begriff des Milizionärs einhergeht. Milizangehörige waren auch keine Beamten im dienstrechtlichen Sinne, wie er in Deutschland üblich ist. Der Begriff des funkcjonariusz bezeichnet im Polnischen vielmehr sämtliche behördlichen Amtsträger, einschließlich der Angehörigen auch des Staatssicherheitsdienstes. Dieser wiederum hieß in Polen erst ab 1956 tatsächlich so (Służba Bezpieczeństwa). Seine geheimpolizeilichen Aufgaben hatte er von den früheren Behörden für öffentliche Sicherheit (Urząd Bezpieczeństwa Publicznego) bzw. dem kurzzeitigen Komitee für Fragen der öffentlichen Sicherheit (Komitet do spraw Bezpieczeństwa Publicznego) übernommen. Auf diesen Unterschied kommt es für den Großteil dieser Studie allerdings nicht an. Auch die Rede vom Regime ist bewusst gewählt. Staat und Partei gingen ineinander über. Hier präzise zu unterscheiden, ist gerade dann kaum sinnvoll, wenn es um Verantwortlichkeiten ging. Das Innenministerium wurde, wenn überhaupt, vom zuständigen Sekretär im Zentralkomitee politisch kontrolliert. In letzter Instanz lag die Entscheidungsmacht beim Politbüro. Der Umstand, dass der Begriff des Regimes im Deutschen durchaus pejorativ gemeint sein kann, mag bei dem hier behandelten Thema verzeihlich sein. Schließlich sei noch der Gebrauch deutscher und polnischer Ortsnamen erläutert. Größere Städte bis hinunter zu den Wojewodschaftshauptstädten der späten 1970er und 1980er Jahre werden in der noch heute geläufigen deutschen Form genannt, kleinere Städte und Gemeinden hingegen in der polnischen. Dieses Kriterium mag etwas beliebig erscheinen, trägt jedoch dem Umstand Rechnung, dass manche deutschen Namen, so etabliert sie einst auch gewesen sein mögen, aus dem aktiven Sprachgebrauch weitgehend verschwunden sind. Für Gnesen (Gniezno), Polens altehrwürdige erst Hauptstadt, sei eine Ausnahme gemacht.
Zur Anlage des Buches Während dieses Buch entstand, ist polizeiliche Brutalität in verschiedenen Ländern der Welt zum Thema geworden, zuletzt in den USA , in Belarus und in Russland. Die Ursachen sind vielfältig. Auch in Deutschland gibt es keinen Grund, sich zurückzulehnen. Jahr für Jahr wird hierzulande
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gegen etwa 40 Polizisten wegen gewalttätiger Übergriffe Anklage erhoben.79 Das Dunkelfeld ist enorm. Zudem werden in Deutschland jährlich etwa zehn Personen von Polizisten erschossen, zuletzt wieder mit steigender Tendenz.80 Auch wenn der jeweilige Kontext unterschiedlicher kaum sein könnte: Die Relevanz des Themas liegt auf der Hand. Dennoch ist dies ein Buch über die Volksrepublik Polen, über Dynamiken und Konjunkturen, über Wahrnehmungen und Folgen polizeilicher Repression in der staatssozialistischen Diktatur. Der erste Teil blickt auf die frühen 1950er Jahre. Er zeigt, wie zunächst die Miliz selbst im Namen sozialistischer Gesetzlichkeit ihre Beamten an die Kandare nahm und wie die offene Kritik an Folter und Gewalt das Bemühen unterliefen, der eben erst errichteten Diktatur einen Anschein von Stabilität zu verleihen. Der zweite Teil schildert das Jahr 1956 / 57, das gemeinhin als gesellschaftliche und kulturelle Öffnung des »Polnischen Oktobers« wahrgenommen wird, aus der Perspektive innerer Konsolidierung des Polizeiapparats. Der dritte Teil geht auf die »kleine Stabilisierung« unter Gomułka ein, wo polizeiliches Auftreten professioneller wurde, die Milizführung gen Westen zu schauen begann und in der Übergriffe justitiabel wurden. Dies wurde von kritisch gesinnten Warschauer Intellektuellen, der Keimzelle der später so machtvollen Opposition, durchaus honoriert. Sie interessierte sich kaum für die Bürgermiliz. Deren Brutalität blieb ein blinder Fleck, im Schatten erst der Empörung gegen die Foltermethoden der Staatssicherheit und dann der Erleichterung darüber, dass diese ein Ende gefunden hatten. Die Aussicht auf gesellschaftliche Befriedung schien in diesen Jahren real. Doch das Regime suchte den gewaltsamen Konflikt, erst mit der katholischen Kirche, dann mit den Studierenden, und riskierte im Dezember 1970 sogar den offenen Konflikt mit der Arbeiterschaft, seiner vermeintlich ureigenen Basis. Das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte war größtenteils gewollt, doch die Folgen waren verheerend. Dies ist Gegenstand des vierten Teils. Der fünfte Teil zeigt, dass eine Rückkehr zu früheren Verhältnissen kaum noch möglich war. Das Auftreten der Miliz mobilisierte die polnische Gesellschaft. Diese lernte sich gegen die eigene Polizei zu wehren. Ab 1976 artikulierte das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter KOR offenen Protest bis in die große Krise des Jahres 1980 / 81 hinein. Das Zitat im Titel
79 Abdul-Rahman / Espín Grau / Singelnstein, Polizeiliche Gewaltanwendungen. (Online zugänglich unter https://kviapol.rub.de/images/pdf/KviAPol_Zwischenbericht.pdf [02. 05. 2021]). Siehe jetzt auch Derin / Singelnstein, Die Polizei, S. 161 – 165 und S. 227 – 236. 80 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/706648/umfrage/durch-polizistengetoetete-menschen-in-deutschland/ [24. 4. 2021].
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des Buches stammt aus jener Zeit. Es paraphrasiert eine Bemerkung aus den Erinnerungen von Jacek Kuroń, der sich wie kaum ein anderer gegen die Gewalttätigkeit des Regimes, nicht nur seiner Polizei, empörte und sein politisches Denken und Handeln daraus herleitete.81 Die Solidarność wies zwar den Weg friedlichen Kompromisses, zeigte aber auch enorme Spannungen auf. Unbedachte Einsätze der Miliz brachten das Experiment der sich selbst beschränkenden Revolution beinahe zum Kippen, während die Idee einer unabhängigen Gewerkschaft zeitweilig auch in der Miliz auf fruchtbaren Boden fiel. Das Innenministerium reagierte mit harter Hand und bereitete so den Boden für das am 13. Dezember 1981 verhängte Kriegsrecht. Vordergründig schien die Existenzkrise überwunden. Der Preis aber war hoch. Dies ist Gegenstand des sechsten und abschließenden Teils. Hemmungslose Gewalt wurde zum Signum des Regimes. Von den Versuchen, sie einzuhegen, war wenig geblieben. Aufsehenerregende Todesfälle, gar offener Mord, mobilisierten weiterhin offene Empörung. An den gesellschaftlichen Rändern jedoch wurde die Brutalität der Miliz zur Routine, und ebenso der Protest. Darin steckte auch eine Chance. Denn in dem Maße, in dem die Miliz aus dem Fokus gegenöffentlicher Aufmerksamkeit herausrückte, öffnete sich das Feld für grundlegende politische Kompromisse. Der Runde Tisch von 1989 und der Durchbruch erst zu politischem Pluralismus und schließlich zur parlamentarischen Demokratie wurde von wiederholten schweren Straßenunruhen zwar gestört, aber nicht substanziell beeinträchtigt. Der Versuch, mit der Polizeibrutalität der untergegangenen Diktatur abzurechnen, stieß allerdings bald an seine Grenzen. Teile der siegreichen Opposition entfremdeten sich vom hart errungenen Rechtsstaat und später auch von der parlamentarischen Demokratie. Polizeiliche Repression in der Diktatur lässt sich also nicht einfach als Abfolge von Gewaltmaßnahmen abtun, die nicht weiter erklärt werden müssten. Sie erklärt sich nicht von selbst. Denn sie resultierte nur zum Teil aus dem politischen Willen der jeweiligen politischen Führung, zum Teil aber auch aus grundsätzlichen Problemen, denen sich jegliche Polizei im 20. Jahrhundert gegenübersah. Die Brutalität seiner Polizisten bekam das Regime nicht in den Griff. In entscheidenden Momenten wurde sie mehrfach zum Auslöser schwer kontrollierbarer Eskalation und kontingenter Prozesse. Das Regime nahm die langfristigen Folgen in Kauf und untergrub damit seine ohnehin brüchige Akzeptanz. Denn Polizeibrutalität war mehr
81 Kuroń, Autobiografia, S. 475 (Nachdruck von ders., Gwiezdny czas. »Wiary i winy« dalszy ciąg. London 1991).
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als nur diffuses Nebengeräusch der Diktatur. In Polen war sie auch ein wichtiger Taktgeber der Opposition. Die polnische Gesellschaft rekonstituierte sich in der Reaktion auf alltägliche und die außeralltägliche Polizeibrutalität. Dieses Buch erzählt davon, wie polizeiliche Brutalität aufhörte, selbstverständlich zu sein, und moralisch verwerflich wurde. Es erzählt von der schleichenden Selbstzerstörung der kommunistischen Diktatur. Es ist dies keineswegs eine ausschließlich männliche Geschichte, auch wenn es in vielerlei Hinsicht so scheinen mag. So war in Polen schon 1925 eine weibliche Polizei (Policja kobieca) gegründet worden, um Prostitution und Menschenhandel einzudämmen, doch blieb nach 1944 auch die Bürgermiliz eine Männerwelt. Miliziantinnen dienten größtenteils in der Verwaltung oder der Verkehrspolizei.82 Es gibt keine Hinweise darauf, dass sie an brutalen Übergriffen beteiligt gewesen wären. Auch in der Staatssicherheit wurden Frauen selten gewalttätig. Marta Słupek, in den späten 1970er Jahren Leutnant der Staatssicherheit in Krakau, mochte Untersuchungshäftlinge erpressen, doch an Julia Brystiger, für ihren Sadismus berühmte Abteilungsleiterin im Staatssicherheitsapparat bis 1956, reichte sie nicht heran.83 Aufseiten der Opfer sieht es anders aus. Auf Milizwachen und bei Straßendemonstrationen wurden Männer wie Frauen bedroht, verprügelt, getreten und geschlagen. Bei der berühmten Demonstration vom 8. März 1968 in der Warschauer Universität waren Studentinnen bevorzugte Angriffsziele. Immer wieder finden sich Hinweise auf sexualisierte Gewalt, bis hin zu Vergewaltigungen durch Milizbeamte. Fünf der Todesopfer, deren Fälle die Rokita-Kommission untersuchte, waren Frauen.84 Körperliche Gewalt war männlich konnotiert, und wo sie sich gegen Frauen richtete, galt sie als besonders empörend. Dagegen aufzubegehren war keineswegs eine Männerdomäne. Die Geschichte gesellschaftlicher Entrüstung gegen polizeiliche Brutalität kennt viele Frauen: neben Schriftstellerinnen vor allem Aktivistinnen des KOR, der Solidarność und ihrer Nachfolgeorganisationen, und dies keineswegs nur in zweiter Reihe.85 Zehn Jahre nach dem Ende der kommunistischen Diktatur entzündete sich an diesem Punkt eine kurze, grundsätzliche Debatte. Erst spät habe sie verstanden, dass gewaltsame Konflikte mit der Miliz ein männliches Identitätsritual gewesen seien, spitzte die Publizistin Agnieszka Graff im Juni 1999 ihre Kritik am tradi-
82 Hryszkiewicz / Kubiak, Kobiety w policji, S. 24 – 25. 83 »Przesłuchiwania w Krakowie. Naruszanie praworządności«, in: Opinia 1 – 4 (1977), S. 118; »Główny kierunek uderzenia«, in: ebd., 5 – 9 (1977), S. 169. 84 Raport Rokity, S. 24 – 25. 85 Witoszek, The Origins, S. 158 – 171. Siehe auch Penn, Solidarity’s Secret; Dzido, Kobiety; zu weiblichen Gewalterfahrungen: ebd., S. 96 – 117.
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tionellen Rollenverständnis weiblicher Oppositioneller zu.86 Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. »Damals hielt ich Feminismus für einen überflüssigen Luxus und bin lieber gegen polizeiliche Gewaltanwendung eingetreten als dafür, dass die Schläge gleich verteilt wurden«, entgegnete eine ehemalige Aktivistin.87 An der bislang selbstverständlich männlichen Codierung polizeilicher Brutalität kristallisierte sich der Konflikt zwischen antikommunistischer Opposition und feministischer Emanzipation heraus. In diesem Buch geht es also nicht nur um polizeiliche Brutalität. Es handelt von Menschen: von Generälen und Sergeanten, Priestern und Bischöfen, von Poeten und Rockmusikern, Literatinnen und Literaten, Soziologinnen und Soziologen, Professoren, Studentinnen und Studenten, von einem Physiker und seiner Frau, von Richtern und Anwälten, Parteisekretären und Steinewerfern, von Arbeitern, Bauern und von einem Serienmörder. Es handelt von ihren ganz unterschiedlichen Vorstellungen und Erwartungen an ihre Polizei, und von ihrem Protest. Es fragt nach den Möglichkeiten und Grenzen des Rechts, auch in der Diktatur. Kurzum: Es erzählt eine vertraute Geschichte aus einem veränderten Blickwinkel.
86 Graff, Agnieszka, »Patriarchat po seksmisji«, in: Gazeta Wyborcza, 16. 9. 1999, S. 20 – 23. Online zugänglich unter https://classic.wyborcza.pl/archiwumGW/819393/Patriar chat-po-seksmisji [19. 7. 2022]. 87 Szczęsna, Joanna, »Damy, rycerze i strażak«, in: Gazeta Wyborcza, 27. 06. 1999, S. 22 – 23. Online zugänglich unter https://classic.wyborcza.pl/archiwumGW/824953/ Damy-rycerze-i-strazak [19. 7. 2022]; Penn, Solidarity’s Secret, S. 328 – 333.
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I
Gewalt und Gesetzlichkeit in den frühen 1950er Jahren
»Der harte Kampf gegen den Bruch der sozialistischen Gesetzlichkeit hat das Bewusstsein vieler Beamter noch nicht erreicht« Gryfice, das frühere Greifenberg, ist eine Kleinstadt im Westen Pommerns, etwa 90 Kilometer nordöstlich von Stettin (Szczecin) gelegen. Hier, in der ländlichen Provinz, setzte die kommunistische Staatsmacht mitten in der Kollektivierung ein unerwartetes Zeichen. Im März 1951 erreichten Beschwerden aus dem Kreis Gryfice das Zentralkomitee der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza / P ZPR). Mehrere Bauern entrüsteten sich darüber, wie rabiat örtliche Jugendbrigaden beim Requirieren von Getreide vorgingen, Wohnungen, Scheunen und Geräte verwüsteten, Fußböden aufrissen, Öfen zertrümmerten und handgreiflich wurden. »Sie haben das ganze Haus demoliert«, klagte eine Bäuerin aus Przybiernów (Pribbernow).1 In Darzewo (Darsow) wollte ein Bauer die Miliz holen. »Du Hurensohn, du gehst nirgendwohin, sonst erschieße ich dich wie einen Hund«, habe ihn der Anführer angebrüllt und ihn dann angegriffen. Auf der Polizeiwache im nahe gelegenen Brojce wurde der arme Mann später nur ausgelacht.2 Offenbar war den Beamten befohlen worden, keine Beschwerden entgegenzunehmen und dafür zu sorgen, dass Spuren rasch
1 Pismo Ireny Maciusowicz z Przybiernowa do powiatowej rady narodowej w Gryficach, 24. 2. 1951 (Dok. 10), in: Kozłowski (Hg.), Materiały archiwalne, S. 65 – 66, Zitat S. 65. Hier zu und zu den Ereignissen insgesamt siehe auch Benken, Wypadki gryfickie. 2 Skarga Franciszka Krysteckiego zamieszkałego we wsi Darzewo, gmina Brojce, złożona przed pełnomocnikiem PWRN w Szczecinie, 5. 3. 1951 (Dok. 13), in: Kozłowski (Hg.), Materiały archiwalne, S. 70 – 72, Zitat S. 71.
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beseitigt würden.3 Ein örtlicher Milizbeamter jedoch, dessen Bruder direkt betroffen war, schickte Fotos der verwüsteten Wohnstube direkt an das Zentralkomitee.4 Dieses entsandte umgehend eine Kommission. Mehrere örtliche Parteifunktionäre sowie einige Mitglieder des kommunistischen Jugendverbandes wurden festgenommen. Auch der Leiter der örtlichen Staatssicherheit sah sich plötzlich in Haft. Der Fall schlug landesweit Wellen, als das Politbüro den Stettiner Genossen in einer Resolution vorwarf, von der Parteilinie abgewichen zu sein.5 Das Stettiner Wojewodschaftsgericht reiste eigens nach Gryfice und verurteilte die Verantwortlichen nach kurzem Prozess Ende Mai zu mehreren Jahren Gefängnis. Die Presse berichtete ausführlich.6 Gryfice war kein Einzelfall. Wenige Wochen später lag dem Politbüro ein ähnlicher Fall vor, diesmal aus Drawsko Pomorskie (Dramburg).7 Im Kreis Ostrołęka sah sich die Partei damit konfrontiert, dass ein Milizbeamter im Zuge der Getreidekampagne einen Bauern einfach erschossen hatte.8 Berichte über gewaltsame Übergriffe gab es jedoch nicht nur im Zusammenhang mit der Kollektivierung. Am selben Tag, als das Oberste Gericht in Gryfice sein Urteil sprach, verurteilte das Warschauer Militärgericht im masowischen Przasnysz vier Beamte der örtlichen Staatssicherheitsbehörde zu mehrjähriger Haft, weil sie in betrunkenem Zustand mehrere Bürger der Kleinstadt angegriffen hatten. Auf Beschluss des Politbüros reagierte das Ministerium für Öffentliche Sicherheit mit einer Verordnung über »strafbare Ausschreitungen« und »Machtmissbrauch«.9
3 Notatka służbowa inspektora wydziału organizacyjnego KC PZPR i przedstawiciela Generalnej Prokuratury w sprawie wypaczeń w akcji skupu zboża na terenie powiatu Gryfice woj. Szczecińskiego, April 1951 (Dok. 17), in: Kozłowski (Hg.), Materiały archiwalne, S. 87 – 101, hier S. 95 – 96. 4 Kozłowski (Hg.), Materiały archiwalne, S. 18; Benken, Wypadki gryfickie, S. 144. 5 Protokół Nr 55 posiedzenia Biura Politycznego w dniu 16 maja 1951 r., in: Dudek / Kochański / Persak (Hg.), Centrum władzy, S. 90 – 91. 6 Kozłowski (Hg.), Materiały archiwalne, S. 200 – 224 (Dok. 29 und Dok. 30); »Samowola i łamanie prawa jest i będzie tępione z całą surowością«, in: Trybuna Ludu, 28. 5. 1951, S. 1. Siehe auch Jarosz, Polityka władz, S. 179 – 180. 7 Protokół Nr 117 posiedzenia Sekretariatu [Biura Politycznego] w dniu 31 sierpnia 1951 r., in: Dudek / Kochański / Persak (Hg.), Centrum władzy, S. 100 – 101 (Dok. 30). 8 Jarosz, Polityka władz, S. 180. 9 Protokół Nr 93 posiedzenia Sekretariatu Biura Organizacyjnego w dniu 18 maja 1951 r., in: Dudek / Kochański / Persak (Hg.), Centrum władzy, S. 92 – 95, hier S. 92 – 93 (Dok. 27); Kochański, Polska 1944 – 1991. Informator historyczny, Bd. I, S. 393: Zarządzenie Ministra Bezpieczeństwa Publicznego z 12 VII 1951 w sprawie »karygodnych wyczynów, które stale towarzyszą nadużyciu władzy« przez funkcjonariuszy bezpieczeństwa publicznego.
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Die Polizeikräfte der neuen Volksrepublik hatten ein ernsthaftes Problem. Schon die Staatspolizei der Zwischenkriegszeit war bei Straßenunruhen wie etwa im November 1923 in Krakau bisweilen brutal vorgegangen. Immer wieder hatte es Tote gegeben.10 Doch die Bürgermiliz hatte mit ihrer Vorgängerin entschieden gebrochen. Etwa tausend ehemalige Polizisten, die hier eine neue Zukunft suchten und dringend notwendige fachliche Qualifikation mitbrachten, wurden ab 1946 systematisch aus den neuen Sicherheitskräften herausgedrängt.11 Wenn intern auf frühere Praktiken verwiesen wurde, dann als Vorwurf, nicht als Ausweis von Professionalität.12 Die Annahme, eine von Kommunisten geführte Bürgermiliz aus dem Volk sei per se diszipliniert, verlässlich und von hohem Dienstethos geprägt, sollte sich nicht erfüllen. Im Gegenteil. Die jungen Männer, die der rasch aus dem Boden gestampfte Sicherheitsapparat zu Tausenden rekrutierte, waren zu großen Teilen im Widerstand sozialisiert, hatten Krieg und Gewalt durchlebt und durchlitten und sahen sich nun als die neuen Herren im Lande. Was sie in Schule und Beruf erlernt hatten, war halb vergessen. Für den Bürgerkrieg gegen vermeintlich reaktionäre Banden stellte das Regime ihnen faktisch einen Freibrief aus. So entstand in Staatssicherheit und Miliz eine Kultur von Korruption, Plünderei und willkürlicher Gewalt, im Dienst und außer Dienst, gegen Beteiligte und Unbeteiligte.13 Auch gedungene Mörder fanden sich in ihren Reihen.14 Die Verhaltensmuster, die sich hier einspielten, wurden durch den erklärten Bruch mit der Staatspolizei der Zwischenkriegszeit nur noch verstärkt. Sie würden bis zum Ende des kommunistischen Regimes erkennbar bleiben. In den frühen 1950er Jahren erkannte die Polizeiführung den niedrigen Bildungsstand ihrer Ordnungshüter als Problem. Bislang hatten einfache Milizianten bestenfalls einen zweimonatigen Schnellkurs durchlaufen, der
10 Ławnik, Represje policyjne, S. 365 – 371 und S. 453. Allgemein zur Staatspolizei der Zwischenkriegszeit siehe Misiuk, Policja Państwowa; Mączyński, Policja Państwowa; Tyszkiewicz (Hg.), Policja Państwowa. 11 Rozkaz Nr 182 Komendanta Głównego Milicji Obywatelskiej z dnia 1 sierpnia 1946 r., in: Majer, Milicja Obywatelska w systemie organów władzy PRL , S. 228 – 230; ders., Milicja Obywatelska 1944 – 1957, S. 53 – 54 und S. 169 – 172. 12 Frister, R. / Ostaszewska, J., »Tam podeptano praworządność«, in: W służbie narodu 2(376), 10 I 1956, S. 6; Śniadowski, Wł[adysław], »Areszty, przepisy i ludzie«, in: W służbie narodu 12(386), 20 IV 1956, S. 6. 13 Pucci, Security Empire, S. 49 – 65. 14 Siehe etwa den Mord an Henryk Flame, einem Offizier der strikt antikommunistischen Untergrundbewegung der Narodowe Siły Zbrojne (NSZ ) im Dezember 1947 im oberschlesischen Zabrzeg: Greniuch, Pod komendą »Bartka«, S. 316 – 328.
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kaum den Umgang mit Schusswaffen oder elementare Disziplinarvorschriften vermittelte und noch dazu stark auf politische Indoktrination setzte.15 Beunruhigt stellte die Hauptkommandantur der Miliz (Komenda Główna Milicji Obywatelskiej) im Frühjahr 1954 fest, dass mehr als die Hälfte aller Beamten, bei den Mannschaften sogar zwei Drittel, nicht einmal die siebenjährige Grundschule vollständig absolviert hatte. Dies sei umgehend nachzuholen, verfügte die Hauptkommandantur.16 An Professionalität war unter solchen Verhältnissen kaum zu denken. Das Spektrum unkultivierten Fehlverhaltens, so der Milizkommandant von Kattowitz (Katowice), damals noch Stalinogród, reichte von alltäglicher Grobheit bis zu schweren Gewalttaten.17 Immerhin wurden nun die Weichen für eine systematische fachliche Ausbildung gestellt. Ihre Mannschaften schulte die Miliz ab 1954 zentral in Stolp (Słupsk), die Unteroffiziere in Schneidemühl (Piła), wo sie den modernistischen Amtssitz des ehemaligen Regierungsbezirks bezog. Angehende Verkehrspolizisten lernten ihr Handwerk in Piaseczno, südlich von Warschau. Milizoffiziere wurden ab 1954 an der Offiziersschule (ab 1972 Höhere Offiziersschule) der Miliz in Szczytno (Ortelsburg) in Masuren ausgebildet.18 An der Höheren Offiziersschule in Legionowo bei Warschau schließlich wurden vor allem Offiziere der Staatssicherheit geschult. Hierhin lud das Ministerium auch zu seinen regelmäßigen Führungstagungen. Den Gewalttaten ihrer Sicherheitskräfte hatten die Behörden anfangs wenig entgegengesetzt. In den ersten Jahren der Volksrepublik waren Diebstähle, Erpressung und Plünderei durch Beamte endemisch, selbst bei Mordfällen wurde nur halbherzig ermittelt.19 Seit 1948 wurden wenigstens einige Vorfälle ernsthaft geahndet. In Kattowitz etwa verurteilte das Militärtribunal in diesem Jahr 14 Milizbeamte wegen Körperverletzung.20 Sogar in der Militäraufklärung (Główny Zarząd Informacji), die skrupellos folterte, waren seit 1945 vereinzelt Anordnungen und Befehle ergangen, die Schläge im Verhör als schädlich bezeichneten. Ein Oberstleutnant dieser Behörde war versetzt worden, als unter seiner Zuständigkeit ein inhaftierter Offi15 Pączek, »Szkolenie zawodowe«. 16 Ministerstwo Bezpieczeństwa Publicznego. Komenda Główna M.O. Zarządzenie Nr 56 / 54 vom 23. X. 1954, in: Majer, Milicja Obywatelska w systemie organów władzy PRL , S. 305 – 306. 17 Żmudziński, St., »O masowe dokształcenie ogólne funkcjonariuszy MO «, in: W służbie narodu 17(340), 1 V 1955, S. 7 und S. 9, Zitat S. 7. 18 Majer / Siemak (Hg.), Policyjne szkolnictwo oficerskie w latach 1919 – 2000. Zarys problematyki. Szczytno 2000; Majer, Milicja Obywatelska w systemie organów władzy PRL , S. 72. 19 Romanek, »Przestępczość«, S. 126 – 127. 20 Pucci, Security Empire, S. 63 – 64 und S. 157 – 158; Paszek,Wojskowy Sąd Rejonowy, S. 240.
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zier zu Tode gekommen war.21 Derart diffuse Signale waren jedoch wenig wirksam. Anfang der 1950er Jahre änderte sich der Ton. Am 23. April 1951 warnte der Minister für Öffentliche Sicherheit in einem internen Befehl nachdrücklich, dass diejenigen, die gegenüber Inhaftierten »unzulässige Methoden physischer Gewalt« anwandten, strengstens bestraft würden.22 Laut internen Aussagen zeigte die landesweite Aktion gegen Schläge im Ermittlungsverfahren durchaus »gewisse Erfolge«.23 Den seit nunmehr drei Jahren andauernden »höllischen Ermittlungen«, mit denen die für die laufenden Schauprozesse unerlässlichen Geständnisse aus den Angeklagten und Zeugen herausgeprügelt wurden, wurde tatsächlich ein Ende gesetzt. Von diesem Befehl weiterhin ausgenommen war das bald darauf eingerichtete Departament X, das gegen hohe Parteifunktionäre und ihr persönliches Umfeld ermittelte, in einem rechtsfreien Raum operierte und für seine Foltermethoden berüchtigt war.24 Jenseits dieses Kernbereichs stalinistischer Gewalt war die Regierung nun jedoch erkennbar darum bemüht, dass ihre Beamten sich halbwegs an die Regeln hielten. Denn anders als hinter den Mauern der Untersuchungshaft ging es in Przasnysz wie schon in Gryfice um Übergriffe in aller Öffentlichkeit, welche das Ansehen der jungen Volksmacht zu untergraben drohten. Nicht nur die Staatssicherheit wurde ermahnt. Auch die Polizeiführung war sensibilisiert. In einem geheimen Befehl vom Juni 1951 zählte die Hauptkommandantur der Miliz eine Liste eklatanter Verstöße der vergangenen Monate auf. In Wejherowo hatten zwei Beamte einen Festgenommenen während des Verhörs geschlagen und mit Stiefeln getreten. In Krakau hatten vier Beamte eine Frau festgenommen und vergewaltigt. Auch bei einer lokalen Feier im niederschlesischen Strumienna hatte ein Beamter ein achtzehnjähriges Mädchen vergewaltigt. Im nahe bei Warschau gelegenen Podkowa Leśna hatten zwei Beamte dies auf der Wache zumindest versucht und den Ehemann verprügelt. Nicht weit vom kleinpolnischen Miechów hatte ein Beamter während eines Dorffestes versehentlich einen Mann erschossen und einen weiteren schwer verletzt. Alle genannten Beamten
21 Tkaczew, Organa informacji, S. 316 – 325. 22 AIPN BU 1122 / 31 Rozkaz Ministra Bezpieczeństwa Publicznego 014 / 51 z dnia 23 kwietnia 1951 dotyczący zwolnienia aparatu agenturalnego od prowadzenia śledztw; Marat / Snopkiewicz, Ludzie bezpieki, S. 49; Müller, If the Walls Could Speak, S. 71. 23 Marat / Snopkiewicz, Ludzie bezpieki, S. 41 (aus der schriftlichen Erklärung von Jacek Różański nach seiner Verhaftung am 23. April 1956). 24 Fijałkowska, Borejsza, S. 203. Zum Begriff der »höllischen Ermittlungen« siehe Steinsbergowa, Widziane z ławy obrończej, S. 119.
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seien gerichtlich verurteilt worden. »Der harte Kampf gegen den Bruch der sozialistischen Gesetzlichkeit, der Kampf um hohe Disziplin und Moral in den Reihen der Bürgermiliz hat das Bewusstsein vieler Beamter noch nicht erreicht«, resümierte die Hauptkommandantur und verfügte, landesweit alle Beamten darüber zu belehren, dass unzulässige Verhörmethoden und unbegründete Festnahmen streng geahndet würden.25 Diese Mahnung zog sich fortan als wiederkehrender Grundton durch die Akten.26 Parteichef und Staatspräsident Bolesław Bierut höchstselbst hatte bereits im Mai in einer Rede vor Milizbeamten neben den Vorfällen in Gryfice auch einen Fall aus Nieszawa (Nessau) aufgegriffen, wo Beamte über mehrere Stunden hinweg eine wehrlose Frau gequält hätten. Bierut verwies auf Kritik und Selbstkritik als erprobte Methoden, um die Disziplin der Beamten zu verbessern. In jeder Dienststelle musste die Rede nun verlesen und diskutiert werden.27 Aus gegebenem Anlass ordnete die Polizeiführung zudem im August 1951 an, dass Militärstaatsanwaltschaft und Angehörige unverzüglich zu informieren seien, wenn Festgenommene während des Arrests zu Tode kamen. Etwas kryptisch war von mehreren Vorfällen die Rede.28 Schließlich vermerkte die Hauptkommandantur im Juni 1951, dass die aufgeführten Verstöße durchweg in trunkenem Zustand begangen worden seien. Folgerichtig sagte sie eine Woche später dem Alkoholmissbrauch unter Beamten den Kampf an und drohte »notorischen Trinkern« mit sofortiger Entlassung.29 Aus dem Bericht eines Emigranten, der im ersten Halbjahr 1952 im kleinpolnisch-oberschlesischen Będzin erfolglos die Schulung zum Miliz-
25 Komenda Główna Milicji Obywatelskiej. Rozkaz specialny nr 23 / 51 z 12 czerwca 1951 roku, in: Majer, Milicja Obywatelska w systemie organów władzy PRL , S. 266 – 268. Siehe auch Majer, Milicja Obywatelska 1944 – 1957, S. 334 – 338. 26 Siehe etwa Komenda Główna Milicji Obywatelskiej. Rozkaz specialny nr 6 / 53, 23 lipca 1953, in: Majer, Milicja Obywatelska w systemie organów władzy PRL , S. 275 – 278. 27 Przemówienie prezydenta Boleslawa Bieruta, wygloszone na oprawie funkcjonariuszy MO w dniu 10 maja 1951 r., in: Dudek / Paczkowski, Aparat bezpieczeństwa, S. 101 – 109 (Dok. 7). AIPN Ld 00186 / 13 Komenda Miejska Milicji Obywatelskiej w Łodzi. Protokoły odpraw służbowych w KMMO w Łodzi i podległych jednostkach terenowych na temat łamania prawa przez funkcjonariuszy MO z 1951 r., S. 19 – 74. 28 Komenda Główna Milicji Obywatelskiej. Zarządzenie nr 61 / 51, 6 sierpnia 1951 r., in: Majer, Milicja Obywatelska w systemie organów władzy PRL , S. 272 – 273. 29 Komenda Główna Milicji Obywatelskiej. Zarządzenie nr 49 / 51, 19 czerwca 1951 r., in: Majer, Milicja Obywatelska w systemie organów władzy PRL , S. 270 – 271; Kochański, Polska 1944 – 1991. Informator historyczny, Bd. I, S. 433: Rozkaz nr 08 / 52 wiceministra bezpieczeństwa publicznego z dnia 31-03-1952 r. w sprawie zwalczania przejawów pijaństwa i chuligaństwa wśród funkcjonariuszy organów bezpieczeństwa.
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beamten durchlaufen hatte, geht hervor, dass diese Befehle zumindest in der polizeilichen Ausbildung durchaus ernst genommen wurden. Demzufolge wurde angehenden Milizianten der Besuch von Milchbars empfohlen, und sie wurden bei Androhung harter Strafen dazu aufgefordert, trinkende Kameraden zu denunzieren.30 Laut dem ehemaligen Polizeischüler wurde ihnen zudem eingeschärft, dass es verboten und zudem völlig unnötig sei, Festgenommene zu schlagen oder zu misshandeln. Denn es gebe wirksamere, psychologische Mittel, ihre Moral zu brechen und sie »weichzukochen«.31 Nach diesem Erfahrungsbericht wurde das Alkoholverbot allerdings sehr viel nachdrücklicher vertreten als das Verbot physischer Gewalt. Dem Flüchtling dürfte wohl bewusst gewesen sein, welches Bild der Miliz seine Gesprächspartner bei Radio Free Europe erwarteten. Ambivalent waren auch die Befunde einer Ermittlung der Generalstaatsanwaltschaft vom Sommer 1953. Der Anlass war ein handschriftlicher Brief, den vier Mütter aus Posen im Juli an Parteichef Bierut geschickt hatten, der zu dieser Zeit auch Ministerpräsident war. Ihre Söhne seien von der Miliz auf unmenschliche Weise geschlagen und misshandelt worden, schlimmer als während der deutschen Besatzung. Die anschließende Untersuchung ergab, dass die Vorwürfe nicht nur zutrafen, sondern dass die Vorgesetzten bis hinauf zum Polizeikommandanten der Wojewodschaft und zum stellvertretenden Staatsanwalt die Misshandlungen gedeckt hatten. Weitere Untersuchungen brachten zutage, dass Festgenommene selbst in der Hauptkommandantur in Warschau noch bis vor Kurzem brutal misshandelt worden waren.32 Auch mehrtägige Dauerverhöre waren offenbar normal. »Ich hielt das für eine legale Methode«, bekannte einer der betreffenden Warschauer Beamten. »Vielleicht hatte ich irgendwelche Einwände, aber die Führung ordnete diese Methode an oder duldete sie. Also hielt auch ich diese Methode für angezeigt.« Erst eine interne Besprechung vom Juli 1953 habe ihn eines Besseren belehrt.33 30 »School for Members of Militia in Bedzin«, 8 October 1952. HU OSA 300-1-2-26212; Records of Radio Free Europe / Radio Liberty Research Institute: General Records: Information Items; Open Society Archives at Central European University, Budapest, Bl. 12 – 13. 31 »Professional Education at the Militia School of Bedzin, Malachowskiego 33, 18th Course«, 9 October 1952. HU OSA 300-1-2-26314; Records of Radio Free Europe / Radio Liberty Research Institute: General Records: Information Items; Open Society Archives at Central European University, Budapest, Bl. 5. 32 Archiwum Akt Nowych [AAN ] 2 / 842 / 13 / 4 Akta śledcze przeciwko pracownikom Oddziału KG MO o niedozwolone metody w śledztwie (1952 – 1953), kk. 11-6, 20-21, 121 und 124. 33 AAN 2 / 842 / 13 / 4 Akta śledcze przeciwko pracownikom Oddziału KG MO o niedozwolone metody w śledztwie (1952 – 1953), kk. 74 – 75, Zitat k. 75.
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Die halbherzigen Versuche der polizeilichen Führung, ihre Beamten an Recht und Gesetz zu binden, zeugten davon, dass exzessive Brutalität ebenso wie Alkoholmissbrauch bereits in den frühen 1950er Jahren als Probleme erkannt wurden, die über den jeweiligen Einzelfall hinausreichten. Zugleich übersetzten sie das viel beschworene Prinzip sozialistischer Gesetzlichkeit in konkrete Einzelmaßnahmen. Mit dem Ende der unmittelbaren Kampfzeit war es an der Zeit, eine formale Rechtsbindung zu erreichen, die nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch alle staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen formal auf Einhaltung der Gesetze verpflichtete. Seit Juli 1950 wachte die neu eingerichtete Staatsanwaltschaft (Prokuratura) darüber, dass Behörden, Ämter und Einrichtungen in Wojewodschaften, Kreisen und Gemeinden im Einklang mit gültigen Rechtsvorschriften handelten.34 In allgemeiner Form erhielt der Grundsatz sozialistischer Gesetzlichkeit bald auch Verfassungsrang. »Die genaue Befolgung der Gesetze der Volksrepublik Polen ist die grundlegende Pflicht eines jeden Staatsorgans und eines jeden Bürgers. Alle Organe der Staatsgewalt und der staatlichen Verwaltung handeln aufgrund gesetzlicher Vorschriften«, hieß es in Artikel 4 der Verfassung von 1952. Laut Art. 74 garantierte die Volksrepublik Polen ihren Bürgern die Unverletzlichkeit der Person. Es folgte der Satz, dass niemand ohne Haftbefehl länger als 48 Stunden festgehalten werden dürfe.35 Der Grundsatz sozialistischer Gesetzlichkeit versprach eine rationale Administration des öffentlichen Lebens. Er setzte Verlässlichkeit gegen Willkür. Damit verbunden war eine Vision. Sozialistische Gesetzlichkeit sollte das Prinzip einer im Innern siegreich befriedeten Gesellschaft sein. Mit dem in der Präambel beschworenen Kampf gegen Besatzung und Fremdherrschaft als heroisches Erbe einer abgeschlossenen Epoche blieb die Verpflichtung jedes einzelnen Bürgers zur »Wachsamkeit gegenüber den Feinden des Volkes«, und mit ihr jene militante Sprache, die für den Stalinismus typisch war.36 Wachsamkeit gegenüber Volksfeinden war die vornehmste Aufgabe von Miliz und Staatssicherheit. Aber auch sie blieben vom Grundsatz der
34 Ustawa z dnia 20 lipca 1950 r. o Prokuraturze Rzeczypospolitej Polskiej (Dz. U. 1950 nr 38, poz. 346), Art. 3, 2. Rzepliński, »The Public Prosecutor’s Supervision«, S. 286 – 289. 35 Konstytucja Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej uchwalona przez Sejm Ustawodawczy w dniu 22 lipca 1952 r. Dz. U. 1952 nr 33, poz. 232, Art. 4 und Art. 71; Rzepliński, »Principles and Practices«. 36 Konstytucja 22 lipca 1952 r. Präambel, Art. 3 und Art. 79; Walczymy o praworządność ludową, in: Na straży demokracji. Pismo milicjantów Nr 28(208), 20 – 30 listopada 1951 r., S. 3.
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Rechtsbindung entgegen gängiger Auffassung keineswegs unberührt.37 In der Disziplinarordnung für die Miliz vom April 1955 standen beide Grundsätze unmittelbar nebeneinander.38 Die Miliz unterlag der Aufsicht durch die Staatsanwaltschaft, selbst wenn eine solche Kontrolle, wie ein internes Lehrbuch des Ministeriums aus den 1970er Jahren bemerkte, »ziemlich selten« erfolgte.39 Immerhin machten die aufgeführten Befehle und die Untersuchung der Generalstaatsanwaltschaft deutlich, dass Milizbeamte keinen Freibrief besaßen. Sie mussten damit rechnen, dass Verstöße disziplinarisch geahndet würden, und erst recht würden ihre Vorgesetzten sie bei schweren Verbrechen nicht vor Strafverfolgung in Schutz nehmen. Eine dienstliche Instruktion aus dem Jahr 1956 bekräftigte geradezu emphatisch, die Miliz sei der Gesetzlichkeit schon deshalb in besonderer Weise verpflichtet, weil ihr ja die Aufgabe obliege, diesen Verfassungsgrundsatz im Alltag zu festigen und zu stärken.40 Solche Formeln sagen mehr über Wunschbilder an der Ressortspitze als über die konkrete Rechtslage. 1959 wurden die Beamten schließlich auch per Gesetz ausdrücklich darauf verpflichtet, sich in ihrem Dienst von den Prinzipien sozialistischer Gesetzlichkeit, Redlichkeit und Gerechtigkeit leiten zu lassen. Das las sich wie eine Liste ebenso edler wie kaum justitiabler Tugenden. In einer Liste von Pflichten, die mit dem Schutz der volksdemokratischen Ordnung begann und mit der Pflicht zur allgemeinen, fachlichen und politischen Weiterbildung endete, war dies die vorletzte.41 Der Grundsatz sozialistischer Gesetzlichkeit war eine Selbstverpflichtung des Staates, ein Versprechen, bei dem es offenkundig im Belieben der Behörden selbst stand, ob und wie sie es einlösen würden.
37 Rzepliński, »The Public Prosecutor’s Supervision«, S. 295 [ohne weitere Quellenangabe]. 38 Gd 0046 / 231 t. 1. Rozkazy, instrukcje, zarządzenia z lat 1949 – 1970. Rozkaz MSW Nr 070 / 55 z dnia 26 kwietnia 1955 r. Regulamin dyscyplinarny Milicji Obywatelskiej, § 3. AIPN k. 283 – 321, hier k. 287. 39 Bolesta, Pozycja Prawna MO, S. 212; Starczewski / Świątkiewicz, Prokuratorska kontrola, S. 88 – 124. 40 AIPN BU 1186 / 64 Zarządzenia, instrukcje, rozkazy Ministra Spraw Wewnętrznych. Rozkaz Nr 16 / 56. Instrukcja o pracy agenturalnej w Milicji Obywatelskiej, kk. 180 – 203, hier k. 182. 41 Ustawa z dnia 31 stycznia 1959 r. o stosunku służbowym funkcjonariuszów Milicji Obywatelskiej, Art. 15, Abs. 7 (Dz. U. 1959, nr 12, poz. 69). Mit leichten Revisionen ab 1973: Ustawa z dnia 31 stycznia 1959 r. o służbie funkcjonariuszy Milicji Obywatelskiej, Art. 21. Obwieszczenie Ministra Spraw Wewnętrznych z dnia 29 maja 1973 r. w sprawie ogłoszenia jednolitego tekstu ustawy z dnia 31 stycznia 1959 r. o służbie funkcjonariuszy Milicji Obywatelskiej (Dz. U. 1973, nr 23, poz. 136).
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Von öffentlichem Protest gegen polizeiliche Übergriffe konnte in den frühen 1950er Jahren keine Rede sein. In privaten Gesprächen waren sie hingegen durchaus ein Thema. Bezugspunkt solcher Gespräche waren zunächst weniger die Erfahrungen der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Die neue Volksmacht musste sich vielmehr am autoritären Regime der Zwischenkriegszeit messen lassen. »Bei uns brach man Kommilitonen die Knochen und schlug ihnen mit Eisenstangen ins Gesicht«, schrieb Kazimierz Brandys 1957 in seinen literarischen Briefen an Frau Z. über sein Jurastudium in Warschau der 1930er Jahre. »Ich höre die Schritte der Verfolgten und höre die Hilferufe, die unter Schlägen ersticken.«42 Für einen leidlich linientreuen Kommunisten seiner Generation war Polizeibrutalität eine lebendige, bisweilen dramatisch zugespitzte, böse Erinnerung. Der Unterschied zwischen dem alten und neuen Polen ließ sich kaum einfacher fassen: Damals hatten Kommunisten die Gewalt eines repressiven Regimes am eigenen Leib erfahren, jetzt hielten sie selbst die Macht in Händen. Verhaltener äußerte sich die Schriftstellerin Maria Dąbrowska, die in den 1930er Jahren mit ihren sozialkritischen Romanen berühmt geworden war. Im Schriftstellerverband genoss sie hohes Ansehen, war bis in die Parteispitze hinein wohlgelitten und haderte doch zutiefst mit dem politischen System. Dass Kazimierz Brandys sie als moralische Autorität bezeichnete, war ihr zuwider.43 Ihr Tagebuch ist eine ergiebige Quelle für den Warschauer Alltag jener Jahre, mit feinem Gespür für die Atmosphäre polizeilicher Repression. Bereits im April 1950 notierte sie, die Verfolgung von Kommunisten in den 1930er Jahren sei »Milch und Honig im Vergleich mit dem heutigen Umgang mit dem Gegner«.44 Wie recht sie hatte, erfuhr sie vier Jahre später, als der Vater einer Bekannten, ein ehemaliger Soldat der Heimatarmee, aus der Haft entlassen wurde und berichtete, wie schwer er über viele Monate misshandelt worden war.45 Auch bedrückte sie die Atmosphäre von Misstrauen und Repression, die von den Behörden ausging. In Polen würden die Menschen wie Verbrecher behandelt, schrieb sie im Frühjahr 1953, als ihr das polizeiliche Meldeamt Fingerabdrücke abverlangte.46 Zuvor hatte der Hausmeister ihr angedeutet, dass sich Beamte der Staatssicherheit nach ihr erkundigt hätten. »Es ist kein
42 Brandys, Briefe an Frau Z., S. 122 und S. 134. Die deutsche Fassung wurde leicht verändert, sie gibt »… bito żelazem w twarz« wieder als »… schlug ihnen mit Gummiknüppeln ins Gesicht«. Siehe Brandys, Listy do pani Z., S. 122. 43 Dąbrowska, Dzienniki 1914 – 1965. Bd. XII: 1960 – 1961, S. 88 (Eintrag vom 22. 5. 1960). 44 Dąbrowska, Tagebücher, S. 236 (Eintrag vom 19. April 1950). 45 Dies., Dzienniki 1914 – 1965. Bd. IX : 1953 – 1955, S. 109 (Eintrag vom 2. August 1954). 46 Ebd., S. 39 (Eintrag vom 9. April 1953) und S. 62 (5. Juli 1953).
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angenehmes Leben zu wissen, dass jeder zu jeder Zeit von der Polizei verfolgt und ausgefragt werden kann«, vermerkte sie resigniert.47 Die Furcht, welche das politische System verbreite, benannte sie in einem depressiven Moment als eine ihrer seelischen Bedrohungen.48 Später, im Spätsommer 1954, ließ sie ihrer Verzweiflung freien Lauf, dass die Chance auf ein demokratisches, modernes, sozialistisches Polen vertan worden sei.49 Wie ein menschlicheres Polen aussehen könnte, skizzierte sie in einer Erzählung aus demselben Jahr, Der dritte Herbst. Sie handelt von einem schrulligen, zurückgezogenen Tüftler, der zwei Weltkriege mehr schlecht als recht überstanden hatte und keine ordentlichen Papiere vorweisen konnte, nun aber mit einer neugezüchteten Melonensorte auf sich aufmerksam machte. Als die Miliz anrückt, befürchten die Nachbarn bereits das Schlimmste. Tatsächlich bittet der Beamte jedoch höflich um einen kleinen Vortrag über den Gartenbau und zieht mit einigen Samen für sich und seine Kameraden davon.50 Die furchteinflößende Miliz schrumpfte zu einem Kleingärtnerverein. Marek Nowakowski, der spätere Schriftsteller, wurde Anfang der 1950er Jahre am Warschauer Stadtrand Zeuge, wie die Miliz einen flüchtigen Einbrecher anschoss. »Er stürzte, das Blut spritzte aus seinem durchschossenen Schenkel. Sie liefen herbei und er schrie: ›Ihr roten Syphilitiker!‹ Damals fühlte ich zum ersten Mal die Macht des Wortes.«51 Nowakowski war bestürzt, leitete er doch selbst in dieser Zeit eine Zelle des sozialistischen Jugendverbandes am Warschauer Flughafen. Die Flüche des Schwerverletzten schilderte er rückblickend als Schlüsselereignis. Bislang sei er selbst ein roter Fanatiker gewesen, wenn auch mit wachsenden Zweifeln, die auch die politische Arbeit nicht hatte ausbügeln können. Die Kollegen mit Kontakt zur Staatssicherheit erschienen ihm als charakterlose Feiglinge, vor denen sich die anderen und auch er selbst einfach nur fürchteten. Dabei hatte nicht viel gefehlt und er wäre selbst ein Spitzel geworden. Die Erinnerung ekelte ihn. »So hatte ich mir das schöne Fieber des Dienstes für die große Sache nicht vorgestellt.«52 Bald darauf wurde er, der sich zusehends in der Halbwelt herumtrieb, wegen Diebstahls verhaftet. In den plastischen Er-
47 Ebd., S. 28 (13. Februar 1953). 48 Ebd., S. 23 (Eintrag vom 8. Februar 1953). 49 Dąbrowska, Tagebücher, S. 259 (Eintrag vom 8. September 1954) [Dzienniki, Bd. IX, S. 116]. 50 Dies., Der Dritte Herbst, S. 306 – 363, hier S. 347 – 353 (zuerst in Dies.: Najdalsza droga, S. 46 – 130. 51 Nowakowski, Dziennik podróży, S. 29. 52 Ebd., S. 30.
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innerungen an sein Verhör ist von physischer Gewalt nicht die Rede, wohl aber im Bericht über die mehrmonatige Gefängnishaft.53 Die Miliz war in diesen Jahren Teil eines ruppigen, von Gewalt durchzogenen Nachkriegsalltags. Nicht selten diente sie als langer Arm der Staatssicherheit. Diese verbreitete lähmende Angst. »Das Bewusstsein des Terrors war überall«, erinnerte sich die Kulturwissenschaftlerin Małgorzata Szpakowska an ihre Kindheit. »Wenn ihr fragt, was ein Kind vom Terror weiß, dann weiß es aus persönlichen Erfahrungen ungefähr so viel. Es weiß, obwohl das nie offen gesagt wird, dass man das, was zuhause gesagt wird, absolut nie nach draußen tragen darf und dass, wenn es zufällig irgendetwas wiederholt, das schreckliche Folgen haben kann – man wird weggesperrt, deportiert, erschossen, und was noch alles … […] Das musste mir niemand sagen. Mir war die Unsicherheit irgendwie bewusst, und dass sich immer ein Denunziant finden kann.«54 Szpakowskas Vater, ein prominenter nationaldemokratischer Aktivist, war im Frühjahr 1940 in der Sowjetunion erschossen worden. Auch Zofia Romaszewska erinnerte sich an eine unausgesprochene Angst ihrer Eltern. Diese hatten im Warschauer Aufstand gekämpft und vermieden es, mit der Tochter über Politik zu sprechen.55 Der Warschauer Soziologe Czesław Czapów war im September 1953 als führender Kopf katholischer Diskussionszirkel festgenommen worden. Unter Zwang fand er sich dazu bereit, mit der Staatssicherheit zusammenzuarbeiten. Nach eigenen Angaben war er in der Haft korrekt behandelt worden.56 Dennoch reihte er bereits in seinem ersten Bericht vom Dezember 1953 die »brutalen Methoden der Geheimpolizei« in einem Bericht an die Staatssicherheit pauschal neben Zensur, weltanschaulichem Druck, einer an den Interessen der Menschen vorbeigehenden Wirtschaftspolitik und einer für Polen schädlichen Abhängigkeit von der Sowjetunion unter die Gründe, weshalb sich intellektuelle Kreise in Warschau feindlich zum Regime verhielten.57 Das sollte plausibel klingen, ohne irgendjemanden in seinem Umfeld konkret zu belasten. Sein Bericht zeugt von dem psychischen Druck, der von der Staatssicherheit ausging. Die Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit lastete so schwer auf seinem Gewissen, dass er im Sommer 1954 einen Suizid vortäuschte, um sich diesem Druck zu entziehen.
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Ebd., S. 36 – 59, hier S. 56. Szpakowska, Outsiderka, S. 110. Romaszewscy. Autobiografia, S. 88 – 89. Friszke, Między wojną a więzieniem, S. 312 – 379, hier S. 374. Ebd., S. 372.
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Andere Häftlinge berichteten präziser, was ihnen hinter Gefängnismauern angetan worden war. In Bromberg (Bydgoszcz) wurde ein Mann auf eine Denunziation hin mehrfach von der Staatssicherheit verhaftet und brutal misshandelt. »Man gab ihm im Polizeigefängnis Spritzen, brach ihm die Finger und schlug ihn so, dass die Haut sich ablöste«, berichtete ein Informant im August 1951 an Radio Free Europe, und wusste sogar den Namen des Peinigers zu nennen. Sein Opfer war inzwischen an den Folgen wiederholter Folter gestorben.58 Andere Informanten berichteten nicht weniger detailliert etwa aus Wieluń oder Tschenstochau (Częstochowa).59 Ein polnischer Flüchtling schilderte im Mai 1952, wie ihm und anderen jungen Mitarbeitern der Staatssicherheit nach dem Krieg in Krakau das Foltern im Verhör beigebracht worden sei.60 Solche Aussagen stammten größtenteils aus dem Umfeld des antikommunistischen Widerstands. Sie mochten nicht immer so zuverlässig sein, wie sie von Radio Free Europe eingestuft wurden. Wichtig war, dass sie im Land zirkulierten, dass sie glaubhaft erschienen und auch tatsächlich geglaubt wurden. Andere verdrängten den Gedanken an Repression und Gewalt. Der arbeitslose Journalist und spätere Romancier Leopold Tyrmand notierte an einem Wintertag im Januar 1954 erkennbar aufgewühlt ein Gespräch mit Kazimierz Koźniewski, den er aus gemeinsamen Tagen beim Journal Przekrój kannte. Koźniewski und seine Familie bestritten rundheraus, dass es in Polen politische Verfolgung gebe. Bester Beweis dafür sei Tyrmand selbst, sitze er doch nicht im Gefängnis, habe genug zu essen und saubere Kleidung. Offenbar, so Tyrmand, sei es für Menschen wie die Koźniewskis geradezu essenziell, am konkreten Beispiel argumentieren zu können, dass im Grunde auch unter dem neuen Regime alles in Ordnung sei.61 Mit einem
58 »Brutal Interrogations of Polish Secret Police Claim Victims«, 13. August 1951. Open Society Archives, RFE Information Items (HU OSA 300-1-2-4286). Online zugänglich unter https://catalog.osaarchivum.org/catalog/osa:2544f6fb-612a-4aed-a7b5-1cb441 bd1a81 [9. 4. 2022]. 59 »Misshandlung bei der UB «, 21 May 1951. Open Society Archives, RFE Information Items (HU OSA 300-1-2-930). Online zugänglich unter https://catalog.osaarchivum. org/catalog/osa:18656bf1-09ff-41c3-a420-3a610c98598f [9. 4. 2022]; »Polish Escapee Recounts his Treatment at the Security Police (UB)«, 4 September 1951. Open Society Archives, RFE Information Items (HU OSA 300-1-2-5956). Online zugänglich unter https://catalog.osaarchivum.org/catalog/osa:f4a5ee45-a659-4c31-9972-6c51fc6c21e8 [9. 4. 2022]. 60 »Special UB School in Cracow«, 21 May 1952. Open Society Archives. RFE Information Items (HU OSA 300-1-2-20004). Online zugänglich unter https://catalog.osa archivum.org/catalog/osa:9271931a-e48a-4b6e-bf30-f275f800b97e [9. 4. 2022]. 61 Tyrmand, Dziennik 1954. Wersja oryginalna, S. 124 (Eintrag vom 22. Januar 1954).
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anderen loyalen Parteigenossen hatte Tyrmand einige Tage zuvor darüber gestritten, was zweieinhalb Jahre zuvor in Gryfice geschehen war. Tyrmand sah im harten Durchgreifen der Parteispitze einen »mustergültigen Pogrom« gegen örtliche Bonzen aus Partei und Staatssicherheit mit grotesken Zügen. Seinem Gesprächspartner war der Vorfall ein erlösendes Beispiel dafür, dass das Regime gesund und fähig zur Selbstkorrektur sei.62 Bald darauf wurde Tyrmand auf die Hauptstädtische Wache im Mostowski-Palast einbestellt. Schon die Vorladung machte ihm Angst, gemischt mit dumpfer Entschlossenheit. Das Gebäude, noch heute Sitz des Warschauer Polizeipräsidiums, war ihm Sinnbild menschlichen Unglücks, von Unrecht und Gewalt. Wer hier eintrat, fühlte sich wehrlos. Hinter dem Milizoffizier erkannte er unschwer den Beamten der Staatssicherheit, und die »vulgäre Macht der Maschinerie«. Diese »stumpfen, gemeinen, brutalen Ochsen« mochten gerissen sein und waren doch Dummköpfe. »In den Blicken, die sie mir zuwarfen, lagen Argwohn und Verachtung – an diesem Ort und unter diesen Bedingungen hatte ich nicht das Recht, ihnen ebensolche Blicke zuzuwerfen.«63 Die Beamten berauschten sich an der Verletzlichkeit der Menschen in ihrer Macht, und an ihrer eigenen polizeilichen Unantastbarkeit, schrieb Tyrmand in der späteren, stilisierten Fassung.64 Tyrmand brachte auf den Punkt, wie viele Menschen in Polen die Miliz erlebten. Die Interviews, die Radio Free Europe mit Geflüchteten führte, offenbarten ein Klima von Angst und Misstrauen, das zwischen Staatssicherheit und Miliz kaum unterschied.65 Aber nur selten wurde solche Kritik an der Miliz offen geäußert, und auch das nur verhalten. »Warum wird der Lebensstil der Bikinisten verunglimpft und bekämpft? Theoretisch sieht das nach Unrecht aus«, durfte eine Leserbriefschreiberin im Sztandar Młodych, der Zeitschrift des sozialistischen Jugendverbands, im März 1952 zum Auftakt einer Diskussion über den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Person fragen.66 Konkreter wurde der Staatsratsvorsitzende Aleksander Zawadzki auf dem II. Parteitag der PZPR im März 1954, als er auf das Prinzip der Gesetzlichkeit zu sprechen kam. Zwischen den stalinistischen Phrasen von revolutionärer Wachsamkeit und dem Kampf gegen äußere und innere Feinde
62 Tyrmand, Dziennik 1954. Wersja oryginalna, S. 43 – 44 (Eintrag vom 3. Januar 1954). 63 Tyrmand, Dziennik 1954. Wersja oryginalna, S. 199 – 201, Zitat S. 201 (Eintrag vom 17. Februar 1954). 64 Tyrmand, Dziennik 1954, S. 212. 65 Feinberg, Curtain of Lies, S. 88 – 116. 66 »Jest o czym podyskutować, koleżanki i koledzy. Co to jest wolność osobista?«, in: Sztandar Młodych, 1. 3. 1952, S. 3; Chłopek, Bikiniarze, S. 135 – 136.
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nannte Zawadzki konkrete Fälle von Bauern, die von dörflichen Milizkommandanten in die Kollektivierung gedrängt worden seien, nicht nur in Gryfice. Unter den millionenfachen Briefen von Bürgern an das Zentralkomitee fänden sich zudem viele, die auf Bürokratismus, Trunkenheit, Bonzentum (dygnitarstwo), offene Rechtsbrüche und Machtmissbrauch hinwiesen. Das Handeln von Staatssicherheit und Miliz wirke sich negativ auf die alltägliche Arbeit der Partei aus, wenn es nachlässig, ungerecht oder »schlechthin brutal« sei.67 Das Protokoll vermerkte stürmischen Applaus. Mit dieser Rede wurden Gewalttätigkeit und Machtmissbrauch der Sicherheitsorgane zum Politikum. Das Argument war bereits vertraut und wich nicht sonderlich davon ab, was schon zuvor in internen Befehlen und Politbürobeschlüssen zu lesen gewesen war. Konkrete Einzelfälle wurden als Missstand angeführt und mündeten in den Appell, dass Derartiges zukünftig nicht mehr vorkommen dürfe. Von einer ernsthaften Diagnose waren solche Mahnungen weit entfernt. Immerhin aber zeigte die Rede Zawadzkis, dass auch in höchsten Parteikreisen ein Bewusstsein dafür entstand, wie sehr die Akzeptanz von Partei und Regime durch die genannten Vorfälle untergraben wurde. Literatinnen und Literaten wie Brandys, Dąbrowska, Czapów oder Tyrmand zogen Vergleiche, deuteten Kontinuitäten an und zeigten, wie sehr das Auftreten von Miliz und Staatssicherheit den Anspruch des Regimes unterlief, revolutionär neu und anders zu sein. Zwar war nicht absehbar, welche Dimensionen die Debatte binnen weniger Monate annehmen würde, aber der Grundton war für lange Zeit vorgegeben. Die mit konkreten Beispielen untersetzte Mahnung, die sozialistische Gesetzlichkeit zu wahren, begleitete die Volksrepublik bis an ihr Ende.
Achtung, Hooligans! Mitten in Warschau, nur wenige Hundert Meter südlich des Kulturpalastes, befindet sich das Wohnviertel an der Marszałkowska. Unter dem Kürzel MDM (Marszałkowska Dzielnica Mieszkaniowa) war es das städtebauliche Vorzeigeprojekt des stalinistischen Polens in seiner wiedererstehenden Hauptstadt. Seit dem August 1950 wuchsen hier innerhalb weniger Jahre mehrstöckige Wohnblocks empor, Musterbauten des Sozialistischen Realismus in neoklassizistischem Selbstbewusstsein. Sie kündeten vom Neubeginn
67 »II Zjazd Polskiej Zjednoczonej Partii Robotniczej«, in: Nowe Drogi 8(1954), Nr 3(57), S. 212 – 220, Zitat S. 219. »To co niepokoi«, in: W służbie narodu 19(393), 1 VII 1956, S. 8; Kozłowski, Namiestnik Stalina, S. 143.
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der zerstörten Stadt, von lichten und sauberen innerstädtischen Wohnungen, vom Einzug der Arbeiter in das einstige Zentrum des Kapitalismus.68 Hier hatte das Regime im Juli 1952 pompös den Anbruch eines neuen Zeitalters gefeiert. Eben hier beobachtete Leopold Tyrmand anderthalb Jahre später, wie sich eine Handvoll Milizbeamter mit einer Horde Halbwüchsiger eine regelrechte Schlacht lieferten. Den Sieg hätten wohl die Hooligans davongetragen, notierte der arbeitslose Journalist Ende Januar 1954 in sein literarisches Tagebuch. Überrascht war er nicht, aber doch beeindruckt davon, mit welcher Gleichgültigkeit, ja offener Antipathie andere Passanten der Miliz begegneten. Zwischen den Warschauern und ihrer Miliz sah er eine tiefe Kluft. »Wer in der Miliz dient, kommt überwiegend vom Dorf und zeichnet sich durch besonderen Stumpfsinn, Rüpelhaftigkeit, Neigung zum Suff und eine schlampige Erscheinung aus, die keinerlei Vertrauen erweckt.«69 Es war ein erbärmliches Bild, das Tyrmand entwarf, und es kam noch schlimmer. Denn die Schwäche der Miliz und ihr geringes gesellschaftliches Ansehen waren aus seiner Sicht die wesentlichen Ursachen dafür, dass der Hooliganismus zu einer gesellschaftlichen Plage geworden sei. Die Menschen applaudierten der Niederlage der Staatsmacht, sosehr sie sonst unter den Hooligans litten. Nicht einmal Schlagstöcke trügen die Beamten, aus ideologischen Gründen, denn sie sollten sich ja von der »bürgerlichen« Polizei der Vorkriegsjahre (und erst recht der »blauen« Polizei des Generalgouvernements) unterscheiden. Vor allem des Nachts glänze die Miliz durch ostentative Abwesenheit. Auch zu den Hooligans fand Tyrmand deutliche Worte. Gläubige Marxisten und mit ihnen die Staatsmacht machten sich etwas vor, wenn sie die halbstarken Rowdys als gesellschaftliches Phänomen interpretierten und irgendwie mit ihrer unantastbaren weltanschaulichen Theorie in Einklang zu bringen versuchten. Der Hooliganismus sei eine »Schule des Verbrechens«, Hooligans gebe es auch im Westen, und Tyrmand zweifelte daran, dass die Herrschenden in Polen überhaupt effektiv dagegen vorgehen wollten. Vielmehr werde das Phänomen des Hooliganismus in politischer Absicht heruntergespielt.70 Denn sorgfältig dosiert, ergänzte er später, seien Anarchie und Unrecht notwendige Elemente totalitärer Macht.71 Tyrmand war in der Hauptstadt bekannt wie ein bunter Hund, seit er im Mai 1947 den Jazz mit einem legendären Konzert im Warschauer YMCA salonfähig gemacht hatte. Einer ganzen Jugendszene, den sogenannten 68 69 70 71
Obarska, MDM, S. 47 – 65; Sigalin, Warszawa 1944 – 1980, Bd. 2, S. 233 – 288. Tyrmand, Dziennik 1954. Wersja oryginalna, S. 134 (Eintrag vom 24. Januar 1954). Ebd., S. 134 (Eintrag vom 24. Januar 1954). Tyrmand, Dziennik 1954, S. 126.
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Bikinisten (Bikiniarze), galt er als stilbildend. Er kannte das Vorkriegs-Paris, hatte in Wilna für den kommunistischen wie für den nationalpolnischen Widerstand gearbeitet, war 1941 beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion aus einem Lager des NKVD geflohen, hatte sich im nationalsozialistischen Deutschland als Gelegenheitsarbeiter durchgeschlagen und das Kriegsende im Konzentrationslager Grini bei Oslo erlebt, nachdem er mit dem Versuch gescheitert war, über Norwegen und Schweden nochmals nach Paris zu gelangen. Wieder in Polen verdiente er seinen Lebensunterhalt mit Beiträgen für den Express Wieczorny, für das Magazin Przekrój und für den Tygodnik Powszechny, bis dieser nach Stalins Tod sein Erscheinen zeitweilig einstellen musste.72 »Ich glaubte an den Reichtum des Möglichen und daran, dass sich immer unvorhergesehene Formen ergeben könnten, mit den Marxisten zusammenzuleben«, rechtfertigte Tyrmand, warum er 1946 überhaupt nach Polen zurückgekehrt war.73 Für den Kommunismus war er längst verloren. Den Staatssicherheitsdienst hielt er für eine Schande der Menschheit, wie jede politische Polizei.74 Tagebuch führte Tyrmand allerdings nur in den ersten drei Monaten des Jahres 1954, als literarische Zeitdiagnose, die mit einem Verlagsvertrag für einen Roman abrupt endete. Als er diese Aufzeichnungen 1980 veröffentlichte, war er längst im Exil. Sie bieten ein eindrückliches Bild des Warschauer Alltags in den Jahren des Stalinismus. An der sorgfältigen Rekonstruktion des Originals lässt sich ablesen, wo Tyrmand seine Worte nachträglich geschärft und seine Beobachtungen zugespitzt hatte. Tyrmands Streitgespräch mit einem mustergültigen Marxisten über Hooliganismus und Miliz könnte im Januar 1954 tatsächlich so stattgefunden haben. Er schilderte eine Vielzahl kontroverser Diskussionen über aktuelle politische und gesellschaftliche Fragen. So fanden denn auch die vielen Zeitungsberichte dieser Monate über den Kampf gegen den Hooliganismus und seine Ursachen Eingang in sein Tagebuch und später auch in Zły (Der Böse), seinen berühmtesten Roman.75 Tyrmand behielt recht damit, dass die öffentliche Empörung über die Hooligans der Staatsmacht in die Hände spielte, wenn auch auf andere Weise, als er es vermutet hatte. »In der letzten Zeit […] bemerken wir verstärkten Druck des Feindes auf die Jugend, der sich in Demoralisierung und Hooliganismus äußert.
72 Zur Biografie Tyrmands siehe Tyrmand, Diary 1954, S. xi-xviii; Brodowski, »Jazz in Polen«; Urbanek, Zły Tyrmand; Schmidt-Rost, Jazz, S. 61 und S. 67 – 68. 73 Tyrmand, Dziennik 1954. Wersja oryginalna, S. 151 (Eintrag vom 28. Januar 1954). 74 Ebd., S. 44 (Eintrag vom 3. Januar 1954). 75 Ebd., S. 133; ders., Diary 1954, S. 127 (Eintrag vom 24. Januar 1954). Siehe auch Dąbrowska, Dzienniki 1914 – 1965. Bd. IX : 1953 – 1955, S. 80.
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Vor allem die Schuljugend unterliegt diesem Einfluss«, hatte der kommunistische Jugendverband ZMP (Związek Młodzieży Polskiej) im Dezember 1951 besorgt vermeldet.76 Hintergrund solcher Meldungen war der Strafprozess gegen die »Hooligans aus Falenica«, der in diesem Monat vor dem Bezirksmilitärgericht in Warschau geführt wurde. Den angeklagten Jugendlichen warf der Staatsanwalt mehrere bewaffnete Raubüberfälle in dem Villenvorort südlich von Warschau vor. Angeblich hatten sie für die Reste der Heimatarmee im Untergrund Geld erpresst. In einer landesweit orchestrierten Kampagne distanzierte sich Polens Jugend von schädlichen amerikanischen Einflüssen, »der vergifteten Propaganda des amerikanischen Imperialismus«.77 Der Hooliganismus, der nach dem Krieg in der Sowjetunion neue Dimensionen erreicht hatte, beunruhigte nun auch in Polen Partei, Staat und Öffentlichkeit.78 Mit Sorge registrierten die Verantwortlichen, wie die massive Zuwanderung vor allem junger Männer in die Städte und Industriezentren eine neue, ungebärdige Unterschicht hervorbrachte, die sich der propagierten moralischen Vervollkommnung entzog und das Hochglanzbild sozialistischen Aufbaus und urbaner Modernität empfindlich störte. Aggressive Jugendliche, junge Männer zumeist, belästigten friedliebende Bürger in einem Ausmaß, das nicht mehr erträglich schien und doch schwer auf einen Nenner zu bringen war. Das gesamte Spektrum von rüpelhaftem Benehmen über politischen Protest bis hin zu schweren Gewalttaten, wurde nun, angelehnt an die sowjetische Debatte, als »chuligaństwo« oder, in zeitgenössischem Deutsch, als »Rowdytum« oder »Halbstarkenunwesen« etikettiert. Indem er unangepasstes Verhalten und kriminelle Straftaten zusammenfasste, diffamierte der Begriff das eine und verharmloste das andere. Die staatliche Propaganda traf einen Nerv. Die Einwohner von Saska Kępa und Mokotów trauten sich abends nicht mehr aus dem Haus, notierte Tyrmand, selbst Raubüberfälle würden in der Presse kleingeredet.79 Für Maria Dąbrowska war der »außergewöhnliche Anstieg von Hooliganismus und Banditismus« bereits im November 1951 ein Hinweis auf den wirt-
76 Chłopek, Bikiniarze, S. 126. 77 Ebd., S. 125 – 127; Bikiniarze – bandyci przed sądem, in: Sztandar Młodych, 11. 11. 1951, S. 1. 78 Zur Sowjetunion siehe Fürst, Stalin’s Last Generation, S. 181 – 199; LaPierre, Hooligans. Zur Tschechoslowakei und zur DDR siehe Kotalík, Rowdytum; Lindenberger, Volkspolizei, S. 367 – 443. 79 Tyrmand, Dziennik 1954. Wersja oryginalna, S. 133; ders., Diary 1954, S. 126 (Eintrag vom 24. Januar 1954).
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schaftlichen und moralischen Verfall und einen Rückfall in Verhaltensmuster unter deutscher Besatzung.80 Dieses Motiv zog sich fortan durch ihr Tagebuch. »Wir werden – in ganz wörtlichem Sinne – von Tag zu Tag mehr eine Nation von Rowdys, Abartigen, Banditen, von Dieben öffentlichen und privaten Eigentums, von Schwindlern und Betrügern«, vermerkte sie Ende November 1954.81 Besorgniserregende Meldungen kamen Ende 1954 auch aus anderen Landesteilen. Im südostpolnischen Wrzawy, klagte das Słowo Ludu aus Kielce, halte eine Gruppe von Hooligans das ganze Dorf in Angst und Schrecken.82 Ein Emigrant berichtete gegenüber Radio Free Europe, dass die Miliz in Stettin vor der grassierenden Gewalt auf den Straßen kapituliert habe. Seine Gesprächspartner hielten die Aussage schon deshalb für glaubhaft, weil auch Radio Warschau regelmäßig in diesem Tenor berichte.83 In Nowa Huta, berüchtigt als Hochburg des Hooliganismus, gehörten Schlägereien und Messerstechereien zum abendlichen Alltag. Selbst Aktivisten des kommunistischen Jugendverbandes, die sich für unangreifbar hielten, beteiligten sich daran. Bisweilen griffen abenteuerlustige Hitzköpfe die örtliche Milizwache an.84 Manche Vorfälle nahmen ein tödliches Ende. In Nowa Huta erschoss ein Beamter im September 1951 einen Jugendlichen, als eine aufgebrachte Menge den Sitz der örtlichen Staatssicherheit belagert und einen Gefangenen zu befreien versucht hatte.85 In Warschau wurde im Dezember 1954 der Fall eines zwanzigjährigen Arbeiters verhandelt, der in einem Vorort auf dem Bahnsteig volltrunken einen Passagier erschlagen hatte. Im selben Monat starb bei Warschau ein Eisenbahnschaffner, den Hooligans aus dem fahrenden Zug geworfen hatten.86 Im öffentlichen Bewusstsein hinterließ eben diese Tat tiefe Spuren. Die Dokumentarfilmer Jerzy Hoffman und Edward Skórzewski stellten
80 Dąbrowska, Dzienniki 1914 – 1965. Bd. VIII: 1951 – 1952, S. 115 (Eintrag vom 21. November 1951). 81 Dąbrowska, Tagebücher, S. 269 (Eintrag vom 28. November 1954) [Dzienniki, Bd. IX, S. 13]. 82 »Więcej energii w walce przeciwko chuligaństwu i awanturnictwu«, in: Słowo Ludu, 11 – 12. 12. 1954. Siehe auch Jasienica, Paweł, »Sprawa jest polityczna«, in: ders., Ślady potyczek, S. 166 – 172, hier S. 167. 83 »Hooliganism« – Or Banditry? (05. 04. 1955). Open Society Archives, RFE Information Items. Item 2666 / 55. Online zugänglich unter http://catalog.osaarchivum.org/ catalog/osa:b2c70b93-668f-4143-a035-df53cec221cb [22. 5. 2021]. 84 Leder, Polen im Wachtraum, S. 205. Siehe auch Chmieliński, »Tu chciałem żyć i pracować«, S. 479. 85 Lebow, Unfinished Utopia, S. 124 – 127. 86 Cyprian, Chuligaństwo wśród młodzieży, S. 6 – 9 und S. 39 – 46.
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sie in Uwaga chuligani! (Vorsicht, Rabauken!) nach, mit dem sie 1955 die »Schwarze Serie« des polnischen Dokumentarfilms eröffneten.87 Auch in Tyrmands Roman Zły (Der Böse) vom Dezember 1955 spielte sie eine Rolle.88 Die Abkehr von den Vorgaben des sozialistischen Realismus lag bei diesem Thema geradezu in der Luft. Uwaga chuligani! formulierte die Klage über die dargestellten Gewalttaten als Frage an die gesamte Gesellschaft. Weitere Filme der »Schwarzen Serie« leuchteten das soziale Umfeld aus und zeigten trostlose Bilder von Verwahrlosung, Alkoholismus, Prostitution und Kriminalität. Hinter der trügerischen Fassade gesitteter Urbanität führte die Kamera in eine haltlose Schattenwelt. Die Miliz spielte in diesen Filmen eine vergleichsweise geringe Rolle. Nur in Paragraf Zero, gefilmt in einer Warschauer Milizwache, bieten die Beamtinnen der Sittenpolizei den Frauen vom Straßenstrich mit fürsorglicher, elterlicher Strenge Nacht für Nacht einen Halt. Für Soziologen lagen die Ursachen des Hooliganismus klar auf der Hand. Sie gingen zum kleineren Teil bis in die Besatzungszeit zurück, auf die alltägliche Erfahrung strafloser Gewalt und die Doppelmoral des Schwarzmarkts. Doch auch die ersten Jahre im Aufbau der neuen Ordnung, des verschärften Klassenkampfes und der Liquidierung reaktionärer Banden in den Wäldern seien nicht dazu angetan gewesen, unter den Heranwachsenden ein Empfinden für die sozialistische Gesetzlichkeit zu entwickeln, so der Lubliner Juraprofessor und ehemalige Staatsanwalt Tadeusz Cyprian.89 Die angeführten Gründe waren weitgehend dieselben, aus denen sich auch die Schwäche und die Brutalität der Miliz erklären lassen. Sie lagen, so Cyprian, vor allem darin, dass junge Männer mit bäuerlichem oder kleinbürgerlichem Hintergrund in großer Zahl in die Städte zogen, und im massiven Genuss von Alkohol.90 Andere Analysen setzten andere Akzente, formulierten im Kern aber ähnliche Befunde.91 Der junge Leszek Kołakowski sah eine systembedingte Unterforderung der Jugend, insbesondere der Arbeiterjugend bäuerlicher Herkunft. Diese könnten die große Freiheit eines Sozialismus nicht nutzen, den sie nicht erkämpft hätten, der sie aber von der existenziellen Angst vor dem Verlust ihrer Arbeit befreit und damit den Ansporn beseitigt habe, sich
87 Hoffman / Skórzewski, Uwaga chuligani! 09:45 – 10:45. Zur »Schwarzen Serie« siehe Hülbusch, Die »Schwarze Serie«; Leder, »Bilderwelten«. 88 Tyrmand, Der Böse, S. 306 und S. 308. 89 Cyprian, Chuligaństwo wśród młodzieży, S. 12 – 13. 90 Ebd., S. 6 – 9 und S. 13 – 18. Zusammenfassend siehe Maroszek, »Trudności«, S. 351 – 356. 91 Pawełczyńska, »O niektórych przyczynach chuligaństwa«.
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um eine berufliche Ausbildung zu bemühen. Nachlässigkeit, sittlicher Zerfall und Alkoholismus seien die offensichtlichen Folgen.92 Jan Klewin, ein der führenden Architekten Warschaus, sah die Jugend hingegen keineswegs unterfordert. Er verstand den Hooliganismus ganz im Gegenteil als Symptom alltäglicher Überforderung in der Schule, am Arbeitsplatz und bei der Wohnungssuche, und als Folge allgemeinen Werteverfalls.93 Maria Dąbrowska wiederum sah im Hooliganismus schlicht »das typische Nebenprodukt eines Systems, das auf Lüge und Hass gegründet ist«.94 Stanisław Manturzewski sah genauer hin. In einer vielbeachteten Reportage für die Jugendzeitschrift Po prostu beschrieb er den Hooliganismus mit soziologischem Blick als Verhaltenskodex, mit eigenen Normen, eigenen Liedern, gegründet auf die Maxime »Lass dich nicht unterkriegen« und auf zynische Abgeklärtheit gegenüber der öden Sprache des Sozialismus und ihren patriotischen Formeln sowie auf demonstrative, durchaus auch brutale Härte.95 Dies war nur der Auftakt zu einer wegweisenden soziologischen Studie über jugendliche Devianz.96 Jacek Kuroń, in den stalinistischen Jahren als engagierter Funktionär des Polnischen Jugendverbandes direkt mit der aufkommenden Jugendbewegung konfrontiert, ging im Rückblick noch einen Schritt weiter. Die Jungs hätten sich in der kulturellen Wüste aus schierer Selbsterhaltung im Hass gegen die Welt verbündet, in einer »Bewegung der sozialen Selbstverteidigung gegen die Zerschlagung der Bindungen«.97 So ähnlich sah es auch ein Leserbrief an Po prostu, erklärtermaßen verfasst von einem »ehemaligen Hooligan«. Er brachte Selbstbild und Lebensgefühl seines Milieus auf den Punkt. Eine magische Kraft ziehe die jungen Leute an, die sich bewusst aus dem öden und grauen Alltag gesetzestreuer Bürger lösten. »Meine Kumpels wollen Emotionen, und die gibt es weder in der Schule noch im Polnischen Jugendverband.«98 Noch zugespitzter formulierte Sławomir Mrożek in seiner Satire Der Elefant, an deren Ende die absurde Illusion des exotischen Dickhäuters davonschwebt und zerplatzt: »Die Schüler, die sich damals im Zoo befunden
92 Kołakowski, »Marxismus« S. 166 – 167. 93 Sigalin, Warszawa 1944 – 1980, Bd. 2, S. 486 – 487, Zitat S. 486. 94 Dąbrowska, Dzienniki 1914 – 1965, Bd. IX : 1953 – 1955, S. 84 (Eintrag vom 28. Dezember 1953). 95 Manturzewski, »W zaklętym kręgu drętwej mowy«, in: Po prostu, 30. 10. 1955, S. 4 – 5 und 13. 9. 1955, S. 3; hier zitiert nach Urban (Hg.), Po prostu 1955 – 1956, S. 11 – 30, hier S. 16. 96 Czapów / Manturzewski, Niebezpieczne ulice. 97 Kuroń, Glaube und Schuld, S. 77 – 78. 98 Leszczyński, Sprawy do załatwienia, S. 129.
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hatten, gaben das Lernen auf und wurden Rowdys [chuliganami]. Vermutlich trinken sie jetzt Wodka und werfen Fensterscheiben ein. An die Existenz des Elefanten jedenfalls glauben sie überhaupt nicht mehr.«99 Lustvoll spießte Mrożek andernorts den Versuch auf, Hooligans mit erzieherischen Appellen auf den Pfad sozialistischer Tugend zurückzuführen.100 Was gesellschaftlich sensible Beobachter zunächst nur für sich notiert hatten, wurde im Laufe des Jahres 1955 öffentlich ansprechbar. »Einen solchen Artikel hätte man noch vor einem Jahr nicht publizieren können«, bemerkte der Musikkritiker Zygmunt Mycielski Anfang November 1955, nachdem er Manturzewskis Beitrag in Po prostu gelesen hatte, und prophezeite eine große, streitbare, grundsätzliche Diskussion.101 In der Tat erreichte die Debatte binnen einiger Monate selbst die Provinz.102 Der Einsicht, dass der Hooliganismus gesellschaftliche Wurzeln habe, hatte sich auch Leopold Tyrmand nicht verschlossen. Die Landflucht zerstöre familiäre Werte und entlasse fünfzehnjährige Jugendliche in eine Selbstständigkeit jenseits traditioneller Bindungen und hinreichender Selbstkontrolle. Was in der seichten Literatur als gesellschaftlicher Fortschritt gepriesen werde, führe vielmehr auf die schiefe Bahn. Nur waren solche Einsichten aus Tyrmands Sicht wertlos, wenn keine entschiedenen Maßnahmen ergriffen würden. Der Warschauer Polizeikommandant klage völlig zu Recht darüber, dass er nicht genügend Leute habe. Sein Vorbild war Schweden. Seit die Polizei dort massiv Präsenz zeige, könne man dort seinen Kopf getrost des Nachts in aller Öffentlichkeit auf einen Sack voll Geld betten.103 Dem Ruf nach polizeilicher Härte konnte wiederum auch Tadeusz Cyprian zustimmen. Der Appell, die Miliz möge entschieden durchgreifen, war in der Mitte der 1950er Jahre immer wieder zu hören, in der hauptstädtischen Presse ebenso wie in der Provinz. Sie reagiere nur schleppend, und wenn sie am Ort des Geschehens eintreffe, seien die Täter längst über alle Berge.104 »Im Fall der Hooligans müssen wir dieselben Methoden anwenden wie bei der Bekämpfung aller anderen Straftaten und asozialen Exzesse«, forderte der Journalist Zbigniew Mitzner im Dezember 1954. Wo Frauen und Kinder brutalen Übergriffen ausgesetzt seien, stehe das Ansehen der
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Mrożek, Der Elefant, S. 128 [zuerst veröffentlicht 1957]. Mrożek, Postępowiec, S. 14. Mycielski, Ein Aristokrat, S. 58 – 59, Zitat S. 58. »Kluby młodej inteligencji«, in: Nowe Drogi 10(1956), 6, S. 108 – 110, hier S. 109. Tyrmand, Dziennik 1954. Wersja oryginalna, S. 134 – 135 (Eintrag vom 24. Januar 1954). Cyprian, Chuligaństwo wśród młodzieży, S. 39 – 41; Wołowski, Jacek, »O pewnym odcinku pracy milicji«, in: Życie Warszawy, 12. 12. 1954, S. 3.
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Miliz auf dem Spiel.105 In dasselbe Horn stieß der Schriftsteller Paweł Jasienica, ein keineswegs regimetreuer politischer Katholik. Unverständliche und höchst schädliche Toleranz oder Trägheit der Behörden untergrüben die öffentliche Moral und führten zu einer Vertrauenskrise gegenüber der Staatsmacht. Hooligans seien kriminelle Banditen und müssten als solche bekämpft werden. Aber selbst das sei unzureichend, so Jasienica, handele es sich im Grunde doch um »politische Sabotage«.106 Wo andere die Miliz wieder mit dem Gummiknüppel ausrüsten wollten, forderte er den Einsatz der Staatssicherheit. Auch Po prostu schloss sich solchen Forderungen an. Noch Ende Juni 1955 berichtete die Zeitschrift auf der Titelseite von einer Schlägerei bei einem Studentenwohnheim im Warschauer Stadtteil Praga, bei der Hooligans mehrere Studenten mit Steinen beworfen und mit Eisenstangen teils schwer verletzt hätten, ohne dass die örtliche Miliz eingeschritten wäre. Im Gegenteil, angeblich hatten zwei betrunkene Milizionäre die Hooligans noch ermuntert. Die Passivität der Miliz werde in Praga bereits in einer Vielzahl an Witzen aufgespießt, bemerkte der Autor. Die Patrouille, die dem Krawall schließlich ein Ende machte, sei von den Studenten allgemein mit dem Ruf »Hurra, nüchterne Miliz!« begrüßt worden.107 Einige Monate später porträtierte Po prostu einige Jugendliche, die wegen des Raubmords an einem alten Mann vor Gericht standen, und entsetzte sich darüber, wie junge Menschen aus leidlich stabilen Verhältnissen zu einer solch kaltblütigen Tat fähig seien.108 Ob sich der Jugendgewalt besser mit Sportstätten und Kinos oder mit polizeilichen Maßnahmen und Schlagstöcken beikommen lasse, wurde im Polen um die Mitte der 1950er Jahre also nicht wesentlich anders als sonst in Europa oder den USA debattiert. Zwar reizte die Frage zu ideologischen Abgrenzungen, war in der Sache jedoch nicht wirklich kontrovers. Ganz gleich wo die Ursachen des Hooliganismus gesehen wurden, herrschte doch ein breiter Konsens darüber, dass es ein ernstes soziales Problem gab, das mit diesem Begriff angemessen beschrieben war. Vor diesem Hinter-
105 Cyprian, Chuligaństwo wśród młodzieży, S. 42. Im selben Tenor auch Szeląg, Jan [Zbigniew Mitzner], »Jak zostałem chuliganem«, in: ders., Tak i nie, S. 156 – 157 [zuerst 1956]. 106 Jasienica, Paweł, »Sprawa jest polityczna«, in: Świat, 6. 2. 1955. 107 Berkowicz, Andrzej, »Jak długo jeszcze?!!«, in: Po prostu, 26. 6. 1955, S. 1; Rafalska, Między marzeniami a rzeczywistością, S. 115 – 116. Siehe auch Leszczyński, Sprawy do załatwienia, S. 126. 108 Chudziński, J[anusz], »Skończmy z łagodnością«, in: Po prostu, 26. 2. 1956, S. 3 und S. 7; Rafalska, Między marzeniami a rzeczywistością, S. 103.
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grund mochten sich selbst angesehene Warschauer Literaten dem Ruf nach polizeilicher Härte nicht verschließen. In diesem Punkt waren sich zumindest die Bürger und Bürgerinnen der Hauptstadt offenbar weitgehend einig. Die Miliz hatte unbotmäßige Jugendliche längst als Feindbild markiert. »Minderjährige aktive Hooligans ausfindig zu machen und festzunehmen«, nannte eine Anweisung der Hauptkommandantur vom 21. Februar 1953 als eine der Aufgaben örtlicher Beamter. Sie sollten das Verhalten von Jugendlichen in Kinos und im Theater, in öffentlichen Parks und auf der Straße überwachen und dafür sorgen, dass ihnen kein Alkohol verkauft werde.109 Was einen Hooligan ausmachte, musste den Beamten so wenig erklärt werden wie der Kampf gegen Prostitution, Kleinkriminelle und Spekulanten, die meist in einer Reihe genannt wurden. Bisweilen war polizeiliche Härte schlicht Ausdruck von Überforderung, wenn sich Beamte gegen ganze Gruppen solcher junacy (Raufbolde) zur Wehr setzten. Doch seit dem Prozess gegen die »Hooligans aus Falenica« attackierte die Miliz ihrerseits auch solche Gruppen von Jugendlichen, die sie aufgrund ihres Verhaltens und ihres Habitus als potenzielle Ruhestörer ausgemacht hatte. Lokale Parteisekretäre riefen dazu auf, Bikinisten und Halbstarken »eine Abreibung zu verpassen«.110 Tatsächlich ging die Miliz im Verein mit Rollkommandos des kommunistischen Jugendverbandes gegen Hooligans und gegen die eher dandyhaften Bikinisten vor und versuchte, sie mit brutaler Gewalt aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Solche Aktionen waren im Grunde nichts anderes als eben die »HooliganExzesse« (wybryki chuligańskie), mit welchen die Miliz ihr Vorgehen rechtfertigte.111 Noch im Frühjahr 1955 lobte Innenminister Władysław Wicha die »gewissen Erfolge« stärkerer Polizeipräsenz auf der Straße, doch müsse die Öffentlichkeit die Miliz bei ihren Einsätzen noch aktiver unterstützen. Ihm schwebte »eine breite gesellschaftliche Erziehungsaktion« vor, bei der Vorarbeiter, Gewerkschafter und kommunistischer Jugendverband die Jugendlichen derjenigen Disziplin unterwarfen, die ihnen fern vom Dorf und ihrer Familie mutmaßlich fehlte.112 Die ganze Ambivalenz des Hooliganismus entfaltete schließlich Leopold Tyrmand in seinem aufsehenerregenden Kriminalroman Zły (Der Böse).
109 Instrukcja 1 / 53 o zakresie pracy dzielnicowych w komisariatach MO, in: Majer, Milicja Obywatelska w systemie organów władzy PRL , S. 392 – 401, hier S. 395. 110 Kuroń, Glaube und Schuld, S. 80. 111 Chłopek, Bikiniarze, S. 131; Wierzbicki, Związek Młodzieży Polskiej, S. 372 – 381. 112 Rawicz, Jerzy, »Co robimy, by zwalczyć chuligaństwo. Rozmowa z Ministrem Spraw Wewnętrznych tow. Władysław Wicha«, in: Trybuna Ludu, 8. April 1955, S. 3.
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Dieser erschien im Dezember 1955, unzensiert.113 Ein derart ungeschminktes Bild der Warschauer Unterwelt schien bis dahin unmöglich. Die Schlangen für das Buch waren angeblich länger als für Schinken und Apfelsinen. Es sei melodramatischer Schund, urteilte Maria Dąbrowska, und eben deshalb sei es ein wichtiges Buch. Denn jede Wirklichkeit verlange ihr Äquivalent in der Literatur.114 Ein düsterer Bandenchef des Romans wurde geradezu sprichwörtlich.115 Premierminister Cyrankiewicz soll Tyrmand begeistert den Bezugsschein für ein Auto zugesandt haben. Die Hauptkommandantur der Miliz lud ihn zu einer Vortragsreihe zum Hooliganismus ein.116 Die Schauplätze der Handlung sind noch heute Legende. Anhand eines geheimnisvollen Phantoms, das auf eigene Faust den Kampf gegen die alltägliche Straßengewalt aufnimmt, verhandelte der Roman zunächst noch einmal den Konflikt über Ursachen und Wesen des Hooliganismus. »Ich weiß: die Halbstarken. Die Eiterbeule am Körper der Gesellschaft. Die schwer zu lösende soziale Frage unserer Tage. Die noch kein Kapitalverbrechen, aber schon ein Vergehen ist«, lässt Tyrmand den Chefredakteur des Express Wieczorny gleich in einem der ersten Kapitel ausrufen.117 Soziale Frage oder Kapitalverbrechen – ausbuchstabiert wird dieser Konflikt im Dialog zwischen der Strafrichterin Zofia Chwała und dem Journalisten Edwin Kolanko. »Ich glaube, alles geschieht nur deshalb, weil sich die Jungen langweilen«, argumentiert die Richterin. Man müsse die Jugendlichen verstehen, sich in ihre Lage einfühlen. Ihnen würden nach getaner Arbeit keine Vergnügungen, kein Karussell, kein Kino angeboten, sondern im Kultursaal »Fleiß und Begeisterung für eine Unmenge schöner Ideen« gefordert. »Nein, Herr Redakteur, das ist keine soziale Krankheit, das ist keine verseuchte Zivilisation.« Man dürfe nicht vergessen, »dass diese Menschen erst ins Leben treten«. Es handele sich kaum um verirrte Schäfchen, entgegnet der Journalist, sondern um eine moralische Vergiftung der menschlichen Natur. Es müsse »ein für alle Mal eine Demarkationslinie zwischen sozialem und asozialem Verhalten« gezogen und das asoziale Verhalten »wie eine Eiterbeule mit glühendem Eisen« ausgebrannt
113 Urbanek, Zły Tyrmand, S. 199. 114 Dąbrowska, Dzienniki 1914 – 1965. Bd. X: 1956 – 1957, S. 14 (Eintrag vom 3. Februar 1956). Siehe auch Jarosińska, Zły. Instrukcja obsługi, S. 14 – 16. 115 »Characters from Tyrmand Novel Become Public Figures« (06. 10. 1956). Open Society Archives. RFE Information Items, item 9448 / 56. Online zugänglich unter https:// catalog.osaarchivum.org/catalog/osa:670637f8-d175-405b-96f2-3400e4f1bbd6 [9. 4. 2022]. 116 Urbanek, Zły Tyrmand, S. 6, S. 86 und S. 175. 117 Tyrmand, Der Böse, S. 44.
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werden. »Auf diese Weise zerstören wir vielleicht ein paar hundert oder ein paar tausend menschliche Existenzen, aber wir retten die Jugend und mithin eine ganze Generation.«118 Die schöne Richterin und der Journalist, Tyrmands Alter Ego im Roman, finden nicht zueinander. Daran kann die Kompromissformel eines der Protagonisten, die Halbstarken seien allenfalls das Rekrutenreservoir des Mafiabosses, »gute Ackererde für seinen Verbrechensgarten«, ebenso wenig ändern wie das Bekenntnis des geläuterten Journalisten, nun als Schöffe der starken Hand des Staates Geltung verschaffen zu wollen.119 Am Schluss des Romans entlässt eine müde Schnellrichterin einen der Kriminellen mit einer langen Rede mahnender, menschlicher Worte. Dieser lacht sich anschließend ins Fäustchen.120 Der Roman verhandelte zugleich den Konflikt über die Rolle des Staates und seiner Organe als einzig legitimer, ordnungsstiftender Kraft in der Gesellschaft. »Oft ist es schwer, uns, das heißt Staat und Justiz, richtig zu verstehen«, deklamiert ebenfalls gegen Ende des Romans der Milizoffizier, Oberleutnant Dziarski. »Es ist leicht, uns zu kritisieren oder uns etwas anzuhängen. Aber wir haben Prinzipien, unsere Prinzipien. Es sind die fundamentalen Prinzipien, auf denen sich die festen Mauern eines organischen Lebens in der menschlichen Gemeinschaft aufbauen.«121 Sein Titel eines Bevollmächtigten für den Kampf gegen das Halbstarkenunwesen verweist bereits auf bürokratische Schwerfälligkeit und Kompetenzgerangel innerhalb der Miliz, die sich durch die Handlung hindurchziehen. Dziarski sei ein »seelenloser Formalist«, ein »Milizautomat«, schimpft hilflos einer der Helden.122 Nur eingangs scheint kurz die Möglichkeit auf, dass die Miliz auch anders könne. Ein Wachtmeister zischt einen der Hooligans an: »Ich wollte dich schädigen, Bursche, wenn ich bloß nicht meine Uniform anhätte! So darf ich das ja leider nicht.«123 Dabei zeigt der Roman erhebliches Verständnis für die Absicht des Phantoms, die Erfahrung blitzartig strafender, körperlicher Gewalt als erzieherisches Moment zu nutzen und junge Rowdys auf den Pfad der Tugend zurückzuführen, bevor sie dem Verbrechen anheimfielen. Nur Selbstjustiz durfte es eben nicht sein. Hooliganismus, Kriminalität und Gewalt ließen sich nicht bekämpfen, so das Argument, indem man selbst
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Ebd., S. 327 – 328. Ebd., S. 609. Ebd., S. 617 – 618. Ebd., S. 613. Ebd., S. 456. Siehe auch S. 576 – 577 und S. 601 sowie Jarosińska, Zły. Instrukcja obsługi, S. 153 – 155. 123 Tyrmand, Der Böse, S. 21.
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zur Gewalt griff. Mancher mochte im Phantom einen sozialen Funktionär des Guten erkennen, in der breiten Bevölkerung wurde er dennoch als »der Böse« und seinerseits als Verkörperung einer Atmosphäre des Faustrechts und der Warschauer Halbwelt erkannt.124 So schlicht die handelnden Figuren auch gezeichnet sein mochten, ist der Roman in seiner Auseinandersetzung mit den stalinistischen Verhältnissen also durchaus ambivalent und komplex. Die mafiöse Genossenschaft, in der alle Fäden des Verbrechens zusammenliefen, trug Züge der Partei und ihres Zentralkomitees. Ihr machthungriger Präsident hatte sich, gestützt auf den Mythos eines von ihm selbstgeschaffenen, blutrünstigen Monstrums, vom zwielichtigen Gauner zum eleganten und allgewaltigen Herrscher der Warschauer Unterwelt aufgeschwungen, bis zu dem Punkt, wo er zwischen seinen verschiedenen Rollen selbst nicht mehr unterscheiden konnte. Auf die Staatssicherheit spielte aber auch die skurrile Figur eines Amateurdetektivs an, der mit Melone und Theaterpistole in einem putzigen Vehikel aus den Anfängen des Automobils stets verlässlich zur Stelle ist, um akribisch sein Notizbuch zu füllen und schließlich mit überragender Kombination das Rätsel zu lösen. Dies gelingt ihm nicht zuletzt, weil er erklärtermaßen auf den »Reichtum der Lebensäußerungen« und die daraus entspringende »Allmacht des Zufalls« vertraut.125 Damit ist abschließend das Grundmotiv des Romans angedeutet. Denn das Phantom verkörpert eben jene »geballte Lebenskraft«, die sich der ordnenden Kraft des Verstandes und der Gesetze widersetzt, weshalb ihr der Milizoffizier Dziarski zutiefst misstraut und in der er »eine unaufhörliche Gefahr für jene Werte [witterte], die ihm die liebsten waren«.126 Vordergründig setzen sich im Roman die Kräfte der Ordnung durch. Das engagierte Plädoyer, das Recht müsse für alle verbindlich sein, und zwar ausnahmslos, nimmt sich aus dem Mund des Milizoffiziers als indirekte Mahnung an die Staatsorgane selbst aus.127 Zugleich bleibt der Eindruck unbändiger Lebendigkeit der Warschauer Bevölkerung, von unbeherrschtem Krawall, Ungeduld und Schimpftiraden, aus denen tagsüber das öffentliche Leben in unvermeidlichen Warteschlangen, in überfüllten Bussen und Trambahnen bestand und die sich nachts in blutigen Schlägereien in Kneipen und dunklen Gassen fortsetzten. Der aggressiven Stimmung, mit der die Bevölkerung Warschaus zehn Jahre nach Kriegsende ihren Alltag 124 Ebd., S. 297 und S. 398 – 399. 125 Ebd., S. 603 – 613, Zitat S. 612. Ich danke Christopher Caes für den Hinweis auf diese Parallelen. 126 Tyrmand, Der Böse, S. 578. 127 Ebd., S. 580 und S. 613.
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durchzustehen versuchte, wurde auch die Staatsmacht nicht Herr. Tyrmands Roman wurde als Vorbote eines kulturellen Tauwetters gelesen, in dem zentrale gesellschaftliche Fragen mittels belletristischer Literatur verhandelt werden konnten. Aber die Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung, so der Schlussakkord des Romans, ließ sich nicht ohne Weiteres erfüllen. Seine Sympathien für eine autoritäre Haltung sind unverkennbar. Der entschiedene Kampf »gegen jegliche Erscheinungen von Hooliganismus« rangierte in einem ministeriellen Tagesbefehl zum zwölften Jahrestag der Miliz am 7. Oktober 1956 neben dem Schutz des Volkseigentums und der Bürger bereits unter ihren zentralen Aufgaben.128 Das sollte sich bis zum Ende der Volksrepublik nicht mehr ändern. Nach längeren Diskussionen fand der Begriff des Hooliganismus im Mai 1958 schließlich Eingang in das polnische Strafrecht. Ein eigener Straftatbestand nach sowjetischem Vorbild wurde zwar nicht eingeführt, doch für Taten »mit Hooligan-Charakter« wurde das Strafmaß deutlich verschärft. Auch konnten solche Strafen fortan nur noch ausnahmsweise zur Bewährung ausgesetzt werden.129 Faktisch besaß die Miliz nun einen Freibrief. Nicht die Taten von Hooligans wurden bekämpft, sondern mutwillige Sittenlosigkeit. Damit veränderte sich auch das Selbstbild der Miliz. Welche politische Logik dahinterstand, formulierte der Hauptkommandant der Miliz, General Dobieszak, im Juni 1960: »Die Miliz darf nichts unterlassen, was ihr das Wohlwollen der Gesellschaft einbringen kann. Indem wir scharf gegen Randalierer und Hooligans vorgehen, gewinnen wir die friedlichen und anständigen Bürger für uns.«130 Gläubige Kirchgängerinnen, abfällig dewotki (Betschwestern) genannt, waren für gestandene Milizianten kaum würdige Gegner, und für ideologische Abweichler und Aktivisten der Opposition waren die Kollegen von der Staatssicherheit zuständig. Die verlässliche Polemik gegen den Hooliganismus bestätigte die Beamten in ihrer obrigkeitlichen Machtfülle und stärkte ihr Selbstbild als professionelle Beschützer einer grundsätzlich bedrohten gesellschaftlichen Ordnung, wie es jeder Polizei innewohnt und wie es in den staatssozialistischen Diktaturen besonders gepflegt wurde.131
128 »Rozkaz Ministra Spraw Wewnętrznych Nr 2 / 56 vom 7. Oktober 1956«, in: W służbie narodu 28(402), 1 X 1956, S. 2. 129 Ustawa z dnia 22 maja 1958 r. o zaostrzeniu odpowiedzialności karnej za chuligaństwo (Dz. U. 1958, nr 34, poz. 152); »Härtere Strafen für ›Hooligans‹«, in: Hinter dem Eisernen Vorhang 4(1958), 6, S. 37. 130 Protokół nr 15 / 60 o posiedzenia Kolegium Ministerstwa Spraw Wewnętrznych odbytego w dniu 6 czerwca 1960 r. AIPN BU 1585 / 20 Kolegium Ministerstwa Spraw Wewnętrznych – posiedzenia 1960 r. Protokoły nr 012 – 015, S. 124 – 145, hier S. 138. 131 Behr, Polizeikultur, S. 40.
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Hooliganismus, wie er seit den frühen 1950er Jahren diskutiert wurde, war also ein vielschichtiges Phänomen. Gänzlich neu war er auch in Polen nicht. Neu aber war die Nachdrücklichkeit, mit der unterschiedliche Formen nonkonformen Verhaltens mit diesem Begriff belegt wurden, von bloßen Rüpeleien über gewalttätige Provokationen bis hin zu schwerer Kriminalität.132 Aus propagandistischer Sicht eignete er sich, um die unerwarteten Pathologien einer Gesellschaft zu beschreiben, die sich nach dem siegreichen Kampf um die sozialistische Ordnung auf innere Harmonie einzurichten begann und deren Probleme sich nicht mehr glaubhaft auf den Klassenfeind oder auf vom Ausland gesteuerte Agenten, Diversanten und Saboteure zurückführen ließen. Nicht mehr bewaffnete Banden, also die versprengten Reste der Heimatarmee, bedrohten den weiteren Aufbau des Sozialismus, sondern unbotmäßige Jugendliche. Der Kampf wurde nicht länger tief in den Wäldern, sondern auf Straßen und in Industrievierteln geführt, mit dem Gummiknüppel statt mit Gewehr und Maschinenpistole. Hooligans waren alle diejenigen, die sich der autoritären Erwartung an das disziplinierte, kultivierte Verhalten klassenbewusster Proletarier widersetzten. Gemeint waren ausschließlich Männer, vor allem jüngere Männer, auch wenn dies meist unausgesprochen blieb. Der Erfolg des Begriffs lässt erkennen, wie weit zumindest die städtische Gesellschaft dieses Selbstbild harmonischer Ausgeglichenheit zu verinnerlichen begann. Er transportierte somit zunächst auch keine Kritik an den politischen Verhältnissen, im Gegenteil. Auf den Ruf nach polizeilicher Härte gegen den Hooliganismus konnten sich Leopold Tyrmand, Maria Dąbrowska und Paweł Jasienica gleichermaßen verständigen, ganz unabhängig davon, wie sie sonst zum sozialistischen Regime standen. Die Rede vom Hooliganismus offenbarte somit jenseits des propagandistischen Nutzens auch das Selbstbild einer Gesellschaft, die sich als proletarisch verstand und das Gespür für die Lebenswelt ihrer proletarischen Basis einzubüßen begann. Hooliganismus war aber auch das Einfallstor, durch das gewalttätige Übergriffe seitens einzelner Milizbeamter thematisiert werden konnten, zunächst noch intern, später bisweilen auch öffentlich. Auch im sozialistischen Polen waren am Rande der Gesellschaft die sozialen Grenzen zwischen denjenigen, welche die staatliche Ordnung durchsetzten, und denjenigen, die sie herausforderten, durchlässig. Durch den Begriff des Hooliganismus erhielt Polizeibrutalität ein Gesicht – allerdings nicht als strukturelles Problem eines repressiven Systems, sondern zunächst als
132 Kochanowski, Rewolucja międzypaździernikowa, S. 33; Lebow, Unfinished Utopia, S. 124 – 151.
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mehr oder weniger vereinzelte Fehlentwicklung innerhalb einer ansonsten gut funktionierenden Ordnungsmacht. Als systemisch wurde, jenseits einer diffusen Bedrohlichkeit des Polizeiapparats, ab 1954 nur die Gewalttätigkeit der Staatssicherheitsbehörde diskutiert.
»Ich heiße Józef Światło« – Das Eingeständnis von Folter »Ich heiße Józef Światło, bis vor Kurzem war ich Oberstleutnant der Staatssicherheit und Vizedirektor der X. Abteilung des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit in Warschau.«133 So stellte sich Światło Ende September 1954 über Radio Free Europe seinen Hörern vor. Diese Worte lösten ein politisches Erdbeben aus. Światło hatte sich im Dezember 1953 über Berlin in den Westen abgesetzt. Öffentlich wurde die Flucht zehn Monate später, mit einer internationalen Pressekonferenz in Washington. In weit über hundert Radiosendungen legte Światło in den folgenden Monaten Tag für Tag unbequeme Interna aus dem innersten Zirkel der Macht in Polen offen: die Abhängigkeit von Moskau, Zuständigkeiten im Ministerium für Öffentliche Sicherheit, entlarvende Charakterstudien zu Mitgliedern des Politbüros, Details aus ihrem Privatleben und aus ihrem Verhalten während des Krieges. Er sprach über die Unterdrückung der Heimatarmee, der Kirche, über die Verhaftung Kardinal Wyszyńskis und schließlich über die Vorbereitung von Schauprozessen. Wie gewalttätig die Staatsmacht vorging, war nicht das zentrale Thema der Enthüllungen, doch immer wieder kam auch dies zur Sprache. Dem ehemaligen Leiter der Ermittlungsabteilung im Ministerium, Oberst Józef (Jacek) Różański, attestierte Światło besondere Brutalität: »Zum Beispiel hat er in dieser Zeit eine gewisse Halina Siedlik verhaftet, eine Arbeiterin aus Lodz (Łódź). Er hat sie persönlich verhört und sie zu Geständnissen gezwungen, indem er sie ins Gesicht geschlagen hat, er hat sie getreten, ihr die Vorderzähne ausgeschlagen und Haarbüschel vom Kopf gerissen.«134 Auch nannte er konkrete Fälle, in denen Inhaftierte im Zuge des Verhörs ermordet worden waren.135 Inzwischen werde physische Gewalt zwar, anders als in den ersten Jahren nach 1945, nur noch ergänzend angewandt, jedoch
133 Błażyński, Mówi Józef Światło, S. 3 [zuerst London 1986]; Paczkowski, Trzy twarze Józefa Światły. 134 Za kulisami bezpieki i partii – cz.054 (Sendung vom 30. Dezember 1954), https:// www.polskieradio.pl/13/3707/Audio/290144,Za-kulisami-bezpieki-i-partii-cz054 [16. 11. 2018]; hier zitiert nach Błażyński, Mówi Józef Światło, S. 86 – 87. 135 Błażyński, Mówi Józef Światło, S. 88 – 89.
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in derart vielfältigen Formen, dass sie unmöglich aufgezählt werden könnten. Etwa zwei Fünftel der Gefolterten immerhin widerstünden und ließen sich kein Geständnis abpressen.136 Światło musste es wissen. Diese Radioberichte offenbarten die Folterpraktiken der polnischen Staatssicherheit in ihrer menschenverachtenden Grausamkeit. Plötzlich war es möglich, darüber zu sprechen. Gehört wurde Radio Free Europe überall im Land, von Amts wegen auch in den Büros der Staatssicherheitsbehörde selbst.137 Es half wenig, die Übertragungen zu stören. Denn bereits im Dezember gestand die Parteizeitschrift Nowe Drogi ein, dass die Vorwürfe zutrafen.138 Die Enthüllungen seien ein schwerer Schlag für das Regime, bekannte ein ungenannter Literat, der sich im Februar 1955 auf Besuch in Paris befand.139 »Das ganze Land hat ihm zugehört«, erinnerte sich die Anwältin Aniela Steinsbergowa.140 »Swiatlo’s broadcasts […] unlocked the door of the closet that revealed so many skeletons«, vermerkte die amerikanische Journalistin Flora Lewis, die 1956 als Korrespondentin der Washington Post nach Warschau gekommen war.141 Światłos Radioberichte bestätigten, was sensible Beobachter seit Längerem als Wesenskern stalinistischer Gewalt ausgemacht hatten. Brutale körperliche und seelische Gewalt dienten dazu, die Gefangenen zu brechen und ihre Individualität zu zerstören. Ihr Ort war das geheimdienstliche Untersuchungsgefängnis. Die Milizkommandantur war allenfalls die Vorhölle. Aleksander Wat schrieb im Rückblick auf seine Untersuchungshaft im sowjetisch besetzten Lemberg und in Moskau, dass es gar nicht der tatsächlichen Begegnung mit dem Vernehmungsoffizier bedurfte, um das Bewusstsein umzustrukturieren. Es genügte seine potenzielle Anwesenheit, seine Allgegenwart. »Es reicht aus, in ständiger Erwartung des Knüppels zu leben und, was noch wichtiger ist, sich an diese Erwartung zu gewöhnen.«142 Das Gefängnis unterwarf den Häftling dem willkürlichen Rhythmus von Langeweile und Schlaflosigkeit, in ständiger Aussicht auf neue Misshandlungen, Folter, Hinrichtung. Einsamkeit schürte Selbstzweifel, der Kontakt zu Mithäftlingen die Furcht vor Spitzeln und Provokateuren.
136 Ebd., S. 229. 137 Machcewicz, Poland’s War, S. 62; Feinberg, Curtain of Lies, S. 95 – 96. 138 »Umacniajmy ludową praworządność«, in: Nowe Drogi 8(1954), Nr. 12(66), S. 3 – 18; Steinsbergowa, Widziane z ławy obrończej, S. 141 – 142. 139 »Swiatlo’s revelations hit communists hard. Visitor reports« (17. 02. 1955). Open Society Archives. RFE Information items, item 1154 / 55, Bl. 1. 140 Steinsbergowa, Widziane z ławy obrończej, S. 141. 141 Lewis, A Case History of Hope, S. 34. 142 Wat, »Die Semantik«, S. 277.
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Fluchtpunkt des Verhörs war das Geständnis, die erzwungene Selbstunterwerfung unter die Wahrheit der Partei.143 Im Verhör wurden Grundbegriffe von Wirklichkeit, Rationalität, Unschuld und Moral pervertiert, bei Aleksander Wat nicht anders als in den literarischen Erinnerungen von Alexander Weissberg-Cybulski und Gustaw Herling-Grudziński an Gefängnis und Lagerhaft in der Sowjetunion der späten 1930er Jahre.144 War der innere Widerstand einmal gebrochen, das Individuum gleichsam entkernt, ging es nur noch darum, Verwandte und Freunde möglichst nicht zu belasten und nach dem schlussendlichen Urteil in der Gewaltgemeinschaft der Mithäftlinge und Wärter zu überleben. Im Verhör war die Gewalt ebenso Mittel zum Zweck wie sinnlose, sadistische Brutalität. Auch Arthur Koestlers Sonnenfinsternis und George Orwells 1984 hatten den Dialog zwischen Vernehmungsoffizier und Häftling als Wesenskern des Stalinismus entfaltet. Beide Bücher waren in Paris bald ins Polnische übersetzt worden.145 Obwohl in Polen nicht ohne Weiteres zugänglich, bezogen sich viele polnische Literaten darauf. Für Leopold Tyrmand lag ihre Stärke in ihrem visionären, synthetischen, spekulativen Charakter. Zeitlebens gehörten sie für ihn zu dem Wichtigsten und Schmerzlichsten, was über den Kommunismus geschrieben worden sei.146 In den folgenden Jahren wurden beide Romane zu zentralen Bezugspunkten polnischer Intellektueller, um das aktuelle Geschehen zu deuten. Zygmunt Mycielski notierte im Mai 1956, sie würden nur von Chruščevs Geheimrede übertroffen.147 Stefan Kisielewski sah in der Sonnenfinsternis einen Beleg dafür, dass man sich dem Wahnsinn des reinen Rationalismus nur durch ein spiritualistisches, irrationales Gegengift widersetzen könne, und übernahm zentrale Motive des Buches in einen im Exil erschienenen Schlüsselroman aus dem innersten Zirkel der Macht.148 Leszek Kołakowski lobte die Sonnenfinsternis im September 1957 als Roman, »der zweifellos in die Geschichte der modernen
143 Applebaum, Der Eiserne Vorhang, S.337 – 340; Feinberg, Curtain of Lies, S. 21 – 23; siehe auch Müller, If the Walls Could Speak, S. 62 – 100. 144 Weissberg, The Accused; Herling-Grudziński, A World Apart, S. 65 – 69. 145 Koestler, »Ciemność w południ«; Orwell, 1984, Paris 1953. 146 Tyrmand, Dziennik 1954. Wersja oryginalna, S. 307; ders., Diary 1954, S. 353 (Eintrag jeweils vom 31. 3. 1954). 147 Mycielski, Ein Aristokrat, S. 82 (Eintrag vom 22. Mai 1956). Siehe auch Kijowski, Dziennik, Bd. 1, S. 92 (Eintrag vom 14. 3. 1956). 148 Kisielewski, Stefan, »Das Land des großen Abenteuers«, in: ders., An dieser Stelle Europas, S. 279 – 283, hier S. 281 (zuerst in Tygodnik Powszechny 1957); Stalinski, Am Abgrund, S. 303 – 304 und S. 307. Im Original erschienen unter dem Titel Widziane z góry, Paris 1967, hier S. 260 – 263.
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Kultur eingegangen ist«.149 Jerzy Putrament wiederum, parteiloyal bis in die Fingerspitzen, ätzte noch im Dezember 1958 über polnische Schreiberlinge, die mit ebenso gnadenlosen wie moralisch zweifelhaften Enthüllungen über den Stalinismus reichlich spät kämen, denn Koestler sei ihnen um zwei Jahrzehnte zuvorgekommen.150 Koestler und Orwell waren komplementär zu Czesław Miłoszs Verführtem Denken, das die intellektuellen und psychologischen Mechanismen ambivalenter Selbsthingabe an den neuen Glauben skizzierte und in Polen ebenfalls nur unter der Hand zugänglich war.151 Die einschlägigen Bücher von Alexander Weissberg-Cybulski und Gustaw Herling-Grudziński waren in Polen zwar weniger weit verbreitet, aber dennoch präsent.152 Für polnische Intellektuelle waren die literarischen Darstellungen Mitte der 1950er Jahre wichtige Bezugspunkte ihrer Einsichten in den sowjetischen Stalinismus vor allem der späten 1930er Jahre. Es lag nahe, sie mittelbar auch auf die Verhältnisse in Polen zu beziehen. Im eigenen Land hatten sie zunächst den Krieg gegen die Heimatarmee und den antikommunistischen Widerstand erlebt. Wie in der Sowjetunion, so hatte das Regime auch in Polen, nachdem alle erklärten politischen Gegner ausgeschaltet worden waren, seine Repressionen keineswegs gemildert. Die anlaufende Kollektivierung und der unerklärte Krieg gegen die katholische Kirche hatten immer mehr Menschen in die Gefängnisse gebracht. Von 1948 bis 1954 wurden nach eigenen Schätzungen des Sicherheitsapparates mehr als 108 000 Menschen aus politischen Gründen verhaftet.153 Tatsächlich dürfte die Zahl um ein Vielfaches höher gelegen haben, befanden sich doch allein im Jahr 1952, auf dem Höhepunkt der Verhaftungen, 117 340 Menschen in Gefängnissen und Lagern.154 Seit 1947 hatte das Regime eine Reihe von Schauprozessen geführt, zunächst vor allem gegen politische Gegner, im Laufe des Jahres 1953 dann auch gegen prominente katholische Geistliche, gegen Priester der Krakauer Diözesankurie und gegen den Bischof von Kielce, Czesław Kaczmarek. Der öffentliche Druck war hoch. Der Schriftstellerverband distanzierte sich
149 Kołakowski, Leszek, »Verantwortung und Geschichte«, in: ders., Der Mensch ohne Alternative, S. 63 – 147, hier S. 85. 150 Rakowski, Dzienniki polityczne 1958 – 1962, S. 73 (Eintrag vom 28. Dezember 1958). 151 Miłosz, Zniewolony umysł. Zur propagandistischen Polemik in Polen siehe Pawelec, »›Zniewolony umysł‹ Miłosza«. 152 Siehe etwa Kowalska, Dzienniki, S. 247 (Eintrag vom 24. Oktober 1955); Siwek, Uniwersytet Warszawski, S. 12. 153 Dudek / Paczkowski, »Polen«, S. 325. 154 Müller, If the Walls Could Speak, S. 9.
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in stalinistischer Diktion von den verurteilten Krakauer Priestern. Auch Sławomir Mrożek und Wisława Szymborska unterzeichneten.155 »Ich habe es kaum ausgehalten. Bis heute habe ich die Radiosendung vom Prozess im Ohr«, notierte der katholische Schriftsteller und Politiker Jerzy Zawieyski noch zwei Jahre später.156 Der rücksichtslose Kampf gegen gesellschaftliche Gruppen, die sich dem Zugriff des Regimes widersetzten, war jedoch weit weniger verstörend als das Enttarnen vermeintlicher Feinde in den eigenen Reihen. Ein großer Schauprozess nach sowjetischem, ungarischem oder tschechoslowakischem Vorbild war zwar ausgeblieben, allerdings waren der ehemalige Parteichef Władysław Gomułka und sein Vertrauter, General Marian Spychalski, bereits für die Rolle der Angeklagten in einem solchen Monsterprozess ausersehen worden. Vorab waren vier Generäle und weitere hohe Offiziere im August 1951 öffentlich vor Gericht gestellt und abgeurteilt worden, wegen vorgeblicher Veruntreuung, der Bildung einer konterrevolutionären Organisation, Diversion und Spionage.157 Eine fünfminütige Sequenz der Polska Kronika Filmowa hatte den größeren der beiden Prozesse in eindringliche Bilder gefasst. Zunächst hatte sie jeden der Angeklagten und ihre Untaten eingehend vorgestellt. Unheilvoll dräuende Musik kam von der Tonspur. Zwei Zeugen berichteten anschließend von Treffen in Botschaften imperialistischer Mächte. Der ebenfalls als Zeuge auftretende Spychalski legte eine belastende Spur zu Gomułka. Vor ernstem Publikum forderte der Staatsanwalt lebenslängliche Haft für die Angeklagten, so lauteten schließlich auch die meisten Urteile. Schon damals war an der Filmsequenz unschwer zu erkennen, dass alle Beteiligten Darsteller einer viel größer angelegten Inszenierung waren. Aber die Angeklagten hatten sich schuldig bekannt.158 In ähnlichem Stil hatte die Kronika Filmowa einige Monate später von einem Prozess gegen Politiker aus der zweiten Reihe und von deren Geständnis berichtet, mit den nationalsozialistischen Besatzern zusammengearbeitet und den kommunistischen Untergrund verraten zu haben. Der Hauptangeklagte hatte erkennbare Mühe, den auswendig ge-
155 Rezolucja Związku Literatów Polskich w Krakowie w sprawie procesu krakowskiego, https://pl.wikisource.org/wiki/Rezolucja_Związku_Literatów_Polskich_w_Krakowie_ w_sprawie_procesu_krakowskiego [20. 5. 2021]. 156 Zawieyski, Dzienniki, Bd. 1, S. 176 (Eintrag vom 24. Dezember 1955). 157 Poksiński, Stalinowskie represje; Spałek, Komuniści, S. 489 – 494; Caumanns, »Verschwörungsdenken«. 158 Zdrajcy ojczyzny przed sądem. Proces ośrodka dywersyjnego. Polska Kronika Filmowa 34 / 51 vom 8. August 1951. Online zugänglich unter http://www.repozytorium.fn.org. pl/?q=pl/node/6783 [14. 10. 2018].
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lernten Text wiederzugeben, und geriet mehrfach ins Stocken.159 Aber solcher Indizien bedurfte es gar nicht. »Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Geständnisse mit satanischen sowjetischen Methoden erzwungen worden sind«, hatte Maria Dąbrowska seinerzeit in ihr Tagebuch geschrieben. Sie kannte nur die umfangreichen Presseberichte, und sie wusste, wie Anna Kowalskas Schwager 1945 gefoltert worden war. Die gemeinsamen Geständnisse fand sie zynisch. »Kein Angeklagter, egal ob er politisch oder kriminell ist, gesteht so, wie wir das in den Zeitungen lesen.«160 Mit Józef Światło hatte nun erstmals ein hoher Beamter der Staatssicherheit in dürren Worten bestätigte, dass auch in Polen Aussagen fabriziert und unter Folter erpresst worden waren. Er offenbarte, was ohnehin zu vermuten stand, nämlich dass der Kampf gegen die Kirche und insbesondere der Prozess gegen Bischof Kaczmarek von Moskau aus gesteuert und komplett fingiert worden war und dass auch hier Oberst Różański eine Schlüsselrolle gespielt hatte.161 In seinem Bekenntnis zu nackter Brutalität war von den philosophischen Implikationen, die den Reiz von Koestlers und Orwells Werken ausmachten, nichts mehr zu spüren. Dafür nannte Światło konkrete Namen, von Tätern wie von Opfern. Die Gewalt selbst wurde zum Skandal. Światło entlarvte die vielbeschworene Gesetzlichkeit als hohle Phrase. Entscheidend aber war, dass einige der Inhaftierten und Angeklagten zum engeren, einige gar zum engsten Kreis der neuen, kommunistischen Eliten gehört hatten. Den Marschall Michał Rola-Żymierski, der seine Laufbahn einst in Piłsudskis Legionen begonnen hatte, im Zweiten Weltkrieg an der Seite der Roten Armee kämpfte und nach dem Krieg zum Verteidigungsminister aufgestiegen war, hatte Światło im Frühling höchstselbst verhaftet. »Ein solches Schicksal erwartet jeden, der seine Arbeit getan hat – er wird überflüssig und unbequem. Es genügt nur eine kurze Anweisung aus Moskau.«162 In vielen der Häftlinge, von denen Światło berichtete, konnten sich die polnischen Eliten wiedererkennen.
159 Zdrajcy przed sądem. Polska Kronika Filmowa 2 / 52 vom 2. Januar 1952. Online zugänglich unter http://www.repozytorium.fn.org.pl/?q=pl/node/6730 [21. 10. 2018]; Spałek, Komuniści, S. 152 – 170. 160 Dąbrowska, Dzienniki 1914 – 1965. Bd. VIII 1951 – 1952, S. 85 (Eintrag vom 7. August 1951); Kowalska, Dzienniki, S. 41. 161 Uwagi Józefa Światły (Sendung vom 23. November 1954), https://www.polskieradio. pl/68/2461/Audio/290042 [24. 11. 2019]; Za kulisami bezpieki i partii – cz.056 (Sendung vom 21. Januar 1955), https://www.polskieradio.pl/68/2461/Audio/290148,Zakulisami-bezpieki-i-partii-cz056 [23. 11. 2019]; Błażyński, Mówi Józef Światło, S. 190 – 191. 162 Błażyński, Mówi Józef Światło, S. 51 – 58, Zitat S. 58.
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Die polnischen Behörden reagierten auf Światłos Übertritt in den Westen und auf seine Radioberichte zunächst mit organisatorischen Umstellungen. Oberst Różański war bereits am 5. März 1954, lange vor den ersten Enthüllungen und auf den Tag genau ein Jahr nach Stalins Tod, aus dem Ministerium für Staatssicherheit entlassen worden, nachdem sich die Arbeiterin Halina Siedlik schriftlich über die Misshandlungen beschwert und eine hochrangige Abteilungsleiterin im Ministerium, die nicht minder berüchtigte Julia Brystiger, die Vorwürfe bestätigt hatte.163 Auf seinem neuen Posten als Direktor des staatlichen Verlagshauses hatte Różański zunächst wenig zu befürchten. Erst unter dem Eindruck von Światłos Radiosendungen ließ ihn die Staatsanwaltschaft Anfang November 1954 verhaften. Es folgte eine umfassende Neuordnung des Polizeiapparats. Das allmächtige Ministerium für Öffentliche Sicherheit wurde aufgelöst. Staatssicherheit und Bürgermiliz wurden formal getrennt und Letztere dem wiedererrichteten Innenministerium sowie der gesellschaftlichen Aufsicht durch die örtlichen Nationalräte unterstellt.164 Światłos unmittelbare Vorgesetzte wurden stillschweigend von ihren Posten entfernt, Minister Radkiewicz wurde als neuer Minister für staatliche Landwirtschaftsbetriebe politisch kaltgestellt. Das Komitee für Öffentliche Sicherheit, wie die Staatssicherheit nun hieß, stellte die Ermittlungsverfahren auf neue Grundlagen und bekräftigte nochmals, dass Aussagen nicht erpresst werden dürften.165 Einige Mitarbeiter hätten sich über die Partei gestellt und verschiedene Tatsachen vor ihren Vorgesetzten und der Parteiführung verheimlicht, hatte das Politbüro im Oktober 1954 konstatiert und damit die Richtung vorgegeben: die Verfehlungen und Ermittlungsmethoden, die der Provokateur Światło enthüllt habe, seien von seinen Vorgesetzten auf unverantwortliche Weise übersehen worden. Die Partei habe damit nichts zu tun.166
163 Fijałkowska, Borejsza, S. 202 – 225. 164 Dekret z dnia 7 grudnia 1954 r. o naczelnych organach administracji państwowej w zakresie spraw wewnętrznych i bezpieczeństwa publicznego. Dz. U. 1954 nr 54 poz. 269; auch in Jusupović / Leśkiewicz (Hg.), Historyczno-prawna analiza, S. 185 – 188 (Dok. 3); Majer, Milicja Obywatelska w systemie organów władzy PRL , S. 63 – 67; Dudek / Paczkowski, »Polen«, S. 271. 165 AIPN Gd 0046 / 231 t. 1. Rozkazy, instrukcje, zarządzenia z lat 1949 – 1970. Rozkaz nr 026 / 55 przewodniczącego Komitetu ds. Bezpieczeństwa Publicznego z dnia 10-05-1955 r. w sprawie uporządkowania pracy śledczej w aparacie bezpieczeństwa i zwalczania przejawów łamania praworządności w czasie prowadzenia śledztwa. k. 256 – 282, hier k. 260. 166 Protokół Nr 14 posiedzenia Biura Politycznego w dniu 19 października 1954 r., in: Dudek / Kochański / Persak (Hg.), Centrum władzy, S. 131 – 132 (Dok. 43). Siehe auch Proto-
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Mit dieser Strategie ging die Parteispitze an die Öffentlichkeit. Auf dem III. ZK-Plenum der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei im Januar 1955 gestand sie öffentlich ein, Organe der Sicherheitskräfte hätten brutal gegen die revolutionäre Gesetzlichkeit verstoßen, Unschuldige seien verhaftet und unzulässige Ermittlungsmethoden angewandt worden.167 Neben dem bereits inhaftierten Różański nannte die Trybuna Ludu nun auch zwei weitere Namen: Anatol Fejgin, Leiter des berüchtigten Departaments X, und Vizeminister Roman Romkowski. Beide wurden aus der Partei ausgeschlossen.168 Diese Maßnahmen waren aus der Not geboren. Sie erzeugten in der Parteispitze eine Spannung, die sich gut ein Jahr später in einem offenen Machtkampf entlud.169 »Es wäre schön, wenn dieser frische Luftzug unser ganzes gesellschaftliches Leben von oben nach unten durchweht«, notierte Paweł Jasienica im Januar 1955.170 Tatsächlich brach sich nun an den Rändern der Partei und darüber hinaus die Empörung gegen jenes Unrecht Bahn, das den Vorstellungen vom Sozialismus oder schlicht menschlichem Gerechtigkeitsempfinden widersprach und das später als stalinistische Verzerrung bezeichnet werden sollte. Der Luftzug, den sich Jasienica erhoffte, wehte nicht nur von oben nach unten. Denn was die Partei in ihren verlautbarten Beschlüssen vom Januar 1955 nebulös als Entstellungen und als brutale Verstöße gegen die revolutionäre Gesetzlichkeit bezeichnete, war schon seit Langem Gegenstand von Vermutungen und Gerüchten, die Światłos Radioreportagen nun bis ins Detail bestätigten. In Warschauer Aufzeichnungen und Erinnerungen steht vor allem und immer wieder der Name des Oberst Józef Różański im Mittelpunkt. Światło hatte ihn unter den Folterern besonders hervorgehoben. Aber Maria Dąbrowska hatte Różański schon im August 1954 in ihrem Tagebuch angewidert als Henker und Verfolger der Polen bezeichnet, der dafür bekannt
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kół Nr 16 posiedzenia Biura Politycznego w dniach 24 – 25 listopada 1954 r., in: ebd., S. 133 – 136 (Dok. 44.). »Zadania partii w walce o umacnianie codziennej więzi z masami pracującymi. Referat towarzysza Bolesława Bieruta na III Plenum KC PZPR«, in: Trybuna Ludu, 26. 1. 1955, S. 3 – 6; »III plenarne posiedzenie KC 21 – 24. I. 1955 r. Uchwała w sprawie pracy organów bezpieczeństwa publicznego oraz wzmocnienia kontroli partii nad działalnością tych organów«, in: Polska Zjednoczona Partia Robotnicza. Komitet Centralny (Hg.), Uchwały Komitetu Centralnego, S. 45 – 49; Morawski, Jerzy, »III Plenum KC PZPR«, in: Nowe Drogi 9(1955), 2(68), S. 3 – 19, hier S. 10 – 13. »III Plenum KC PZPR«, in: Trybuna Ludu, 27. 1. 1955, S. 1. Lewis, A Case History of Hope, S. 101 – 107; Paczkowski, The Spring will be Ours, S. 268. Jasienica, Paweł, »Klimat zaufania«, in: Życie Warszawy, 19. 1. 1955, S. 4; Jasienica, Ślady potyczek, S. 160 – 165, Zitat S. 165.
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sei, Häftlinge zu quälen.171 Seine Verhaftung drei Monate später verband sie mit zaghaften Hoffnungen.172 Der Dichter Mieczysław Jastrun nahm Różański und seine Verbrechen Ende September 1955 auf einer Versammlung in Warschau zum Ausgangspunkt einer bitteren Reflexion über die Verantwortung von Politik und Literatur für den moralischen Zustand des Landes. »Die Hölle ist hier«, sagte Jastrun in Gegenwart des Politbüromitglieds Jakub Berman, der ehemals grauen Eminenz des Sicherheitsapparats.173 Die Nachricht, dass Różański im Dezember 1955 wegen »grausamer und unangebrachter Untersuchungsmethoden« nur zu fünf Jahren Haft verurteilt worden war, quittierten Jastrun und Mycielski mit Empörung.174 »Wir alle haben uns geschämt, als wir [diese] Meldung gelesen haben«, bekannte Mieczysław Moczar im Juli 1956 vor dem Plenum des Zentralkomitees und deutete an, dass Różański wohl noch immer mächtige Protektion genieße.175 Ein Gedichtband, den Jastrun kurz zuvor veröffentlicht hatte und der auch Erfahrungen von Haft, Folter und Willkür in erschütternde Worte fasste, enthielt ein kaum verschlüsseltes Gedicht über den Folterer, der sich nun selbst in der Zelle mit seinen Untaten konfrontiert sah.176 Dem Literaturkritiker Lech Budrecki schwebte ein ganzer Roman vor, dessen Hauptfigur an Różański angelehnt sein sollte.177 »Es waren nicht alle solche Różańskis«, schrieben schließlich verunsicherte Staatssicherheitsbeamte Ende November 1956 an Parteichef Gomułka, nachdem der Głos Szczeciński kurz zuvor eine ausführliche Reportage über die einschlägigen Foltermethoden veröffentlicht hatte.178 Ein Spottvers, der bereits 1947 im Gefängnis des Innenministeriums im Warschauer Stadtteil Mokotów zirkulierte, endete mit der Fantasie, wie der verhasste Różański an seiner eigenen Lederpeitsche aufgeknüpft würde.179 Noch Mitte der 1960er Jahre ließ Janusz 171 Dąbrowska, Dzienniki 1914 – 1965, Bd. IX : 1953 – 1955, S. 111 (Eintrag vom 7. August 1954). 172 Dies., Tagebücher, S. 268 (Eintrag vom 22. November 1954 [Dzienniki, Bd. IX, S. 131]. 173 Jastrun, Dziennik, S. 33 – 34 (Eintrag vom 22. September 1955). Kijowski, Dziennik, Bd. 1, S. 86 – 87 (Eintrag vom 21. September 1955). 174 Jastrun, Dziennik, S. 40 (Eintrag vom 26. Dezember 1955); Mycielski, Ein Aristokrat, S. 73 (Eintrag vom 9. Januar 1956). 175 Stenogram VII Plenarnego Posiedzenia Komitetu Centralnego Polskiej Zjednoczonej Partii Robotniczej w dniach 18, 19, 20, 23, 24, 25, 26, 27 i 28 lipca 1956 r., in: Władyka / Janowski (Hg.), Protokoły z VI i VII Plenum, S. 45 – 838, hier S. 415. 176 *** (ze badanego w sledztwie kopał …), in: Jastrun, Gorący Popiół, S. 35; Jastrun, Dziennik, S. 66 (Eintrag vom 20. Juni 1956). 177 Kijowski, Dziennik, Bd. 1, S. 78 (Eintrag vom 11. Oktober 1955). 178 Hermański / Jusupović / Wróblewski, »Percepcja ›Bezpieki‹«, S. 43. 179 Dunin, Helena / Kwietkówna, Joanna / Czaplińska, Ruta, »Mokotowskie śledzie«, in: Otwinowska / Drzal, Przeciwko złu, S. 418; hier nach Müller, If the Walls Could Speak, S. 208 – 209.
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Szpotański einen weinerlichen Chor inhaftierter Staatssicherheitsbeamter ein Hohelied auf Różański und Fejgin singen.180 Wie kaum ein anderer zog Różański Empörung und Abscheu über die Methoden des Stalinismus auf sich. Er verkörperte jene Facette des Regimes, die als polnische Version des sowjetischen Furors der 1930er Jahre bezeichnet wurde und für die niemand im Lande selbst Verantwortung zu tragen schien. Selbst Fejgin sah in ihm einen Psychopathen.181 Maria Dąbrowskas Tagebucheintrag vom August 1954 belegt, dass Różański nicht erst mit Światłos Enthüllungen zum Inbegriff unmenschlicher Folter wurde. »Die ganze Stadt wusste, dass Menschen ermordet werden; die ganze Stadt wusste, dass es Gefängnisse gibt, in denen Menschen bis zu drei Wochen lang bis zu den Knöcheln in Exkrementen stehen; die ganze Stadt wusste, dass Różański persönlich den Menschen die Fingernägel ausreißt; die ganze Stadt wusste, dass er sie mit kaltem Wasser begießt und in den Frost schickt«, spitzte Leon Wudzki auf dem VIII. ZK-Plenum im Oktober 1956 von der Rednertribüne aus seinen bitteren Angriff auf Jakub Berman zu, der von all dem ausweislich einer schriftlichen Selbstkritik nichts gewusst haben wollte.182 Zehn Jahre später kam der Schriftsteller Marek Hłasko im Exil auf diese Details zurück, als er in seinen Erinnerungen ein wohl fiktives Gespräch mit Różański schilderte: »Henkersknechte haben mich immer interessiert; ich war gespannt, wie ein Mensch aussieht, der anderen Menschen Fingernägel und Haare ausreißt und die Rippen bricht.«183 Noch in den Interviews, die Teresa Torańska zu Beginn der 1980er Jahre unter anderem mit Jakub Berman führte, waren herausgerissene Fingernägel ein Inbegriff menschenverachtender Folter, und auch der Anarchist und Begründer der »Orangenen Alternative«, Waldemar Fydrych, schrieb diesen Topos fort.184 Politisch wurde die Nachricht davon, was hinter Gefängnismauern geschah, wo es einzelnen prominenten Häftlingen gelang, sie bis in den engeren Zirkel der Macht zu tragen. Stanisława (Barbara) Sowińska, loyale kommunistische Schriftstellerin mit engen Verbindungen in die Parteispitze, hatte nach eigenen Angaben schon Ende 1949 bei Fejgin nachgefragt, ob es wahr sei, dass Häftlinge geschlagen würden. Die etwas kryptische Antwort
180 Szpotański, »Cisi i Gęgacze«, S. 36 [zuerst in Kultura 3 / 245(1968), S. 75 – 102]. 181 Piecuch, Spotkania z Fejginem, S. 119. 182 Nowe Drogi 10(1956), Nr. 10(88), S. 61. Zur Selbstkritik Bermans vom 30. September 1956 siehe ebd., S. 91 – 95. Siehe auch Kolář, Der Poststalinismus, S. 125; Sobór-Świderska, Jakub Berman, S. 441 – 470. 183 Hłasko, Die schönen Zwanzigjährigen, S. 35. 184 Torańska, Die da oben, S. 350; Fydrych, Lives of the Orange Men, S. 261.
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ließ keinen Zweifel aufkommen. Kurz darauf war sie im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen Spychalski selbst verhaftet worden.185 Kazimierz Moczarski, von dem noch ausführlicher die Rede sein wird, hatte im April 1953 in einem Schreiben an das Oberste Gericht ausgeführt, wie er und weitere Angeklagte misshandelt, gequält und gefoltert worden waren, um falsche Aussagen zu erzwingen.186 In einer seiner Radiosendungen erwähnte Światło, wie dieses erste Memorandum Parteichef Bierut in Unruhe versetzt hatte.187 Darüber hinaus zog dieses Schreiben zunächst kaum Kreise. Halina Siedlik, von der belastende Aussagen für einen geplanten Schauprozess erpresst werden sollten, hatte bereits im September 1953 an die Zentrale Kontrollkommission der Partei geschrieben.188 Emilia Jaroszewicz schilderte 1954 vor Gericht, mit welchen Misshandlungen sie zu einem Geständnis und zu Aussagen gegen ihren Ehemann gezwungen worden war.189 Nach Światłos Enthüllungen schrieben auch andere Häftlinge an höchste Gremien von Staat und Partei und schilderten, wie sie geknebelt, blutig geschlagen, getreten, an den Haaren gerissen oder ihnen die Finger gequetscht worden waren. Im Februar 1955 richtete Moczarski ein zweites Schreiben nun auch an den Generalstaatsanwalt.190 Seine Anwältin Aniela Steinsbergowa hatte 1954 noch von einem anderen Mandanten, Jerzy Czekanowski, davon erfahren, wie auch er im Verhör gefoltert worden war. Details machten im April 1956 in Warschau die Runde, nachdem dieser sich in einem Brief direkt an das Zentralkomitee gewandt hatte.191 Im selben Monat übergab der ehemalige Minister für Verpflegung, Włodzimierz Lechowicz, dessen Festnahme im Herbst 1948 den ersten Stein in dem großen Mosaik von Verhaftungen geliefert hatte, seinem Anwalt ein umfassendes Protokoll der Misshandlungen, die ihn seinerzeit beinahe in den Suizid getrieben hatten.192 Ebenfalls
185 Kijowski, Dziennik, Bd. 1, S. 99 (Eintrag vom 21. März 1957). 186 Friszke, Andrzej »Wstęp«, in: Steinsbergowa, Widziane z ławy obrończej, S. 5 – 93, hier S. 30 – 31; Kunert, Oskarżony Kazimierz Moczarski, S. 152 – 157; Machcewicz, Kazimierz Moczarski, S. 181 – 182. 187 Błażyński, Mówi Józef Światło, S. 117 und S. 230 – 231; Machcewicz, Kazimierz Moczarski, S. 186. 188 Müller, If the Walls Could Speak, S. 71. 189 Ebd., S. 72 – 73. 190 Steinsbergowa, Widziane z ławy obrończej, S. 36 – 37. 191 Ebd., S. 35; Kowalska, Dzienniki, S. 263 (Eintrag vom 24. April 1956). Siehe auch AIPN BU 660 / 151 Urząd Rady Ministrów. Akta w sprawie przyznania zasiłku, renty inwalidzkiej, przyznania dwu izb mieszkalnych, leczenia specjalistycznego i sanatoryjnego wraz z żoną i córką dot. Jerzy Czekanowski. 192 Lechowicz, »Sprawozdanie«, S. 108 – 112. Siehe auch ders., Będziesz przeklinał ten dzień …; Spałek, Komuniści, S. 53 – 113.
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im April schilderte Maria Mazurkiewicz in einem Schreiben an den Generalstaatsanwalt ausführlich, wie sie nach ihrer Verhaftung im Januar 1949 über mehrere Wochen hinweg von Mitarbeitern Różańskis blutig geschlagen und getreten worden war.193 Zuvor hatte bereits ihr Ehemann, ein ehemals prominenter Kommandeur der Heimatarmee, gegenüber dem Staatsanwalt schriftlich ausgesagt, wie ihm im Verhör mehrere Zähne ausgeschlagen worden waren und wie seine Gesundheit in der Haft ruiniert worden war.194 Andere Häftlinge berichteten Ähnliches. Es schien, als sei ein Damm gebrochen. Vor dem Hintergrund dieser Berichte waren selbst die schlimmsten Gerüchte glaubhaft. Marek Hłasko etwa erfuhr über Dritte, wie sein Freund, der Breslauer Schriftsteller Stefan Łoś, noch kurz vor seinem Tod im Gefängnis gefoltert worden sei und, schwer lungenkrank, bis zur Hüfte in Eiswasser habe stehen müssen.195 Auch dieses Bild hatte sich tief eingeprägt. Eindrücklich erzählte Geschichten unmenschlicher Misshandlung prägten und verdichteten die Wahrnehmung stalinistischer Gewalt in Polen, sie überformten und verstärkten das vorgelagerte Wissen von den Moskauer Prozessen der späten 1930er Jahre und vom Gulag, und auch sie waren auf das Engste mit der Geheimpolizei verbunden. Je konkreter die Kenntnis davon wurde, wie hinter Gefängnismauern gefoltert wurde, desto drängender wurden Fragen an die Möglichkeiten eigenen Handelns. »Was für eine bestialische Rechtlosigkeit!«, empörte sich Maria Dąbrowska im Herbst 1955 darüber, dass der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister Marian Spychalski seit inzwischen sechs Jahren ohne Gerichtsverfahren im Gefängnis saß und seine Angehörigen drangsaliert wurden. Schaudernd blickte sie auf die latente Gewalttätigkeit der polnischen Gesellschaft und auf staatliches Unrecht. »Aber bei wem intervenieren, etwa bei den Urhebern dieses Verbrechens, denen man nicht mal die Hand reichen möchte?«196 Persönliche und später auch öffentliche Interventionen wurden zum Ausgangspunkt intellektueller Opposition. Diesmal war Maria Dąbrowska ratlos, doch allein der Gedanke spricht Bände.
193 Sawicki, Bitwa o prawdę, Warszawa 2005, S. 83 (dort zitiert nach Mazurkiewicz, Jan Mazurkiewicz, S. 378 – 379). 194 Mazurkiewicz, Jan Mazurkiewicz, S. 382 – 384. 195 Hłasko, Die schönen Zwanzigjährigen, S. 34 – 35. Hłaskos anschließender Bericht über ein Gespräch mit dem für Folter maßgeblich verantwortlichen Oberst Jacek (Józef) Różański dürfte hingegen frei erfunden sein, da Różański zu der genannten Zeit bereits inhaftiert war. 196 Dąbrowska, Tagebücher, S. 286 (Eintrag vom 20. September 1955) [Dzienniki, Bd. IX, S. 194].
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Die Möglichkeit, an höchster Stelle vorstellig zu werden und dem Unrecht zumindest im Einzelfall ein Ende zu bereiten, vermisste auch Leon Wudzki, immerhin stellvertretendes Mitglied des Zentralkomitees und Präsidiumsmitglied der Zentralen Kontrollkommission. Mancher prominente Kommunist und auch mancher Anwesende sei in den 1930er Jahren durch persönliche Fürsprache aus dem Gefängnis freigekommen, führte er dem versammelten Zentralkomitee im Oktober 1956 vor Augen. In den frühen 1950er Jahren hingegen habe er selbst solchen Genossen nicht helfen können, von deren Unschuld er felsenfest überzeugt war. Staatsratsmitglied Zambrowski habe ihm ausrichten lassen, dass er keine Zeit habe. Parteichef Bierut habe ihn monatelang ergebnislos hingehalten, und bei Berman habe ihn die Sekretärin angesehen, »als hätte ich eine Fahrkarte zum Mond verlangt«.197 Innerhalb der Parteispitze, so viel war klar, war seit Langem sehr wohl bekannt, was in den Gefängnissen der Staatssicherheit, und nicht nur dort, vor sich ging. Es dürfte kein Zufall sein, dass just zwei Tage vor Różańskis Entlassung aus dem Ministerium ein Befehl erging, der nochmals die Anwendung von Gewalt im Ermittlungsverfahren strikt verbot.198 Bald darauf erinnerte auch die Hauptkommandantur in neuen Richtlinien für den Dienst in der Miliz ausdrücklich daran, dass die nahezu allgegenwärtige Misshandlung von Verdächtigen, dass Schläge, das Wegsperren in ungeeignete Zellen »und andere Formen unmenschlicher Behandlung von Festgenommenen« ebenso wenig zulässig seien wie Einschüchterungen, brutale Drohungen und vulgäre Behandlungen während des Verhörs, wie sie etwa von der Posener Miliz praktiziert worden waren.199 Nach Światłos Enthüllungen hatte das Regime fürchterliche Verhältnisse in den Sicherheitsorganen eingestanden. Die Geschundenen waren ehemalige Minister und Generäle, Männer wie Frauen, Offiziere der Heimatarmee oder, wie die Fabrikarbeiterin Halina Siedlik, ergebene Kommunistinnen. Mit ihnen konnten sich Warschauer Intellektuelle leicht identifizieren. Manche kannten sie persönlich. »Der unglückliche, alte Czekan, 87 ist er, und es ist sein einziger Sohn«, schrieb Anna Kowalska, als sie davon hörte, wie der Sohn eines Bekannten gelitten hatte.200 So gesehen lagen Welten zwischen der Folter im geheimdienstlichen Verhör und der Härte,
197 Nowe Drogi 10(1956), Nr. 10(88), S. 60 – 61. 198 Kochański, Polska 1944 – 1956. Informator historyczny, Bd. I, S. 522: Rozkaz nr 05 / 54 Ministerstwa Bezpieczeństwa Publicznego w sprawie stosowania bezprawnych metod w śledztwie; hier nach Müller, If the Walls Could Speak, S. 71. 199 Majer, Komendanci główni, S. 117. 200 Kowalska, Dzienniki, S. 263 – 264 (Eintrag vom 24. April 1956).
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mit der Milizbeamte in Stadt und Land zur selben Zeit gegen vermeintliche Hooligans durchgriff, so eng sie auch miteinander verwandt waren. Das Zentralkomitee hatte auf seinem III. Plenum bewusst nicht zwischen Staatssicherheit und Bürgermiliz unterschieden und ausdrücklich eine verstärkte Aufsicht der Prokuratur auch über die Miliz gefordert. Nach dieser Ermahnung schien es zunächst, als ob die Miliz von der öffentlichen Kritik ausgespart bleiben könnte. Dazu trug nicht zuletzt der weitgehend ungestörte Verlauf des Weltjugendfestivals im August 1955 bei. In diesen Wochen, als Zehntausende Teilnehmer aus aller Welt die Hauptstadt besuchten, zeigte sich die Bürgermiliz von ihrer besten Seite. Veranstaltungsort und Unterkünfte wurden von einem eigens eingerichteten Ordnungsdienst gesichert. Die Miliz griff auch dann nicht ein, als etwa am zweiten Abend feiernde polnische Jugendliche und angetrunkene junge Soldaten die Anweisungen der Ordner schlicht ignorierten.201 Auch der Polnische Jugendverband zeigte Präsenz. »Überall stand ein Kampftrupp bereit, aber während des Treffens wurde nicht geschlagen«, erinnerte sich Jacek Kuroń. Er selbst ließ sich allerdings am Rande des Festivals geradezu lustvoll in eine der üblichen Prügeleien mit nonkonformen Jugendlichen verwickeln. »Leute liefen zusammen, schrien, wir seien Schläger«, notierte er aus dem Abstand von mehr als drei Jahrzehnten.202 Ganz ließen sich gewaltsame Auseinandersetzungen also nicht vermeiden. Den Gesamteindruck trübten sie aber nicht. Es wurde im Verlauf dieser zwei Wochen kein einziger Festivalteilnehmer verhaftet.203 Das Weltjugendfestival machte vielmehr deutlich, dass die Miliz bei derartigen Großereignissen sehr wohl in der Lage war, das Gewaltpotenzial ihrer Beamten im Zaum zu halten und zu verhindern, dass der Eindruck eines harmonischen, gut organisierten Ablaufs von unangenehmen Übergriffen gestört wurde, noch dazu unter den Augen der Weltöffentlichkeit. Maria Dąbrowska sah sich verzaubert.204 Der friedliche, fröhliche Verlauf des Weltjugendfestivals hatte jedoch keineswegs den Effekt, den sich die Parteiführung erhofft haben mochte. Im Gegenteil: Nachdem die Staatsmacht ihren eigenen Gewalttaten ins Auge geblickt hatte, ließ sich nun darüber sprechen, dass auch sonst vieles im Argen lag. »Flieht in die Finsternis, ihr Dissonanzen!«, beschwor Adam Ważyk in seinem Poemat dla dorosłych (Ein Gedicht für Erwachsene) im Au-
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Krzywicki, Poststalinowski karnawał radości, S.200. Kuroń, Glaube und Schuld, S. 82 – 85, Zitat S. 83. Krzywicki, Poststalinowski karnawał radości, S. 302. Dąbrowska, Dzienniki 1914 – 1965, Bd. IX : 1953 – 1955, S. 183 – 186 (Einträge vom 31. Juli bis 11. August 1955).
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gust 1955 noch einmal die Hoffnung des stalinistischen Aufbauprojektes.205 Doch die freudvolle neue Zeit trog. Vordergründig handelte das Gedicht von Nowa Huta, der sozialistischen Musterstadt. Vor allem aber handelte es von Wahrheit, Freiheit, Vernunft und davon, dass in dem neuen Polen, welches die arbeitenden Menschen errichteten, sich die vertraute Welt nicht in Stumpfsinn, in Trostlosigkeit und in hohlen Phrasen auflösen dürfe.206 Diese grundsätzliche Kritik von einem der bisher loyalsten Adepten des stalinistischen Regimes empörte die Parteiführung und verunsicherte die Intellektuellen. Ważyk habe »auf gewissermaßen herauskotzende Weise« aufgezeigt, »wohin das Volk durch die Fehler der Propaganda oder der Politik gebracht worden ist«, erklärte Maria Dąbrowska in einer Versammlung des Schriftstellerverbandes.207 Zygmunt Mycielski sah das Gedicht als Ausfluss eines »haltlosen Liberalismus unter der Diktatur der Partei«, die mit einer »Flut abgenutzter Worte« zu folgenloser Kritik aufrief. Dies schien ihm »noch schlimmer […] als der offene Terror des Staatssicherheitsamtes«.208 Die Kritik blieb nicht folgenlos, schon gar nicht dort, wo sie die engen Grenzen der Partei überschritt. Diskussionsklubs wie der Zielony Zemafor (Grüne Ampel) in Posen und der Czerwony Pomidor (Rote Tomate) in Krakau und bald auch der Klub Krzywego Koła, der berühmte Warschauer »Klub des Krummen Kreises«, bildeten den intellektuellen Nährboden für die gesellschaftliche Lösung aus dem Stalinismus.209 Innerhalb eines Jahres hatten sich mehr als vierzig solcher Klubs gebildet, in kleineren und größeren Städten, in Fabriken und sogar im Kulturministerium. Im Juni 1956 würdigte ein knapper Bericht in der Parteizeitschrift Nowe Drogi ihr Interesse an gesellschaftlichen Fragen, zitierte zustimmend das Selbstverständnis des Klubs in Szczytno als »Schlachtfeld gegen amtliches und nichtamtliches Unvermögen« und erteilte ihnen von höchster Stelle den Segen.210 Treibende Kraft und wichtigste Stimme der Klubs war die Studentenzeitschrift Po prostu. Sie erschien bereits seit 1947 in Warschau und hatte sich zunächst kaum von der eintönigen Presselandschaft der stalinisti205 Hier nach Ważyk, Ein Gedicht für Erwachsene, S. 21. Zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift Nowa Kultura vom 21. August 1955. Siehe auch die Übersetzung von Bertolt Brecht in ders., Gedichte 5, S. 302 – 311, hier S. 307. 206 Bikont / Szczęsna, Lawina i kamienie, S. 248 – 267. 207 Dąbrowska, Tagebücher, S. 288 (Eintrag vom 28. Oktober 1955) (Dzienniki, Bd. IX, S. 196). 208 Mycielski, Ein Aristokrat, S. 52 (Eintrag vom 3. Oktober 1955). 209 Jedlicki, Klub Krzywego Koła, S. 61 – 85; »U nas, tak daleko, w Brzozowie«, in: Bratkowski (Hg.), Październik 1956, S. 63 – 67; Bratkowski, »Pod znakiem Pomidora«, in: ebd., S. 68 – 83. 210 »Kluby młodej inteligencji«, in: Nowe Drogi 10(1956), 6, S. 108 – 110, Zitat S. 109.
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schen Jahre abgehoben.211 Ab 1954 aber begann eine neue, junge Redaktion, allesamt jünger als dreißig, drängende gesellschaftliche Themen aufzugreifen. Marek Hłasko veröffentlichte hier seine ersten, aufsehenerregenden Feuilletons. Von miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen in der Provinz war plötzlich die Rede, von Wirtschaftskriminalität und Korruption. Im März 1956 stießen Jerzy Ambroziewicz, Walery Namiotkowicz und Jan Olszewski auf ihren Seiten eine Diskussion über die Heimatarmee an, die das Regime seit Jahren aus dem öffentlichen Bewusstsein zu tilgen versucht hatte. Greife die Gleichgültigkeit gegenüber der »öden Sprache« patriotischer Werte nicht auch deshalb um sich, fragten die Autoren, weil das Vorbild des nationalen Kampfes gegen die Besatzer verspielt werde?212 Erst ein halbes Jahr zuvor hatte Stanisław Manturzewski die Absage an die »steife Sprache« (drętwa mowa) als hauptsächliches Kennzeichen des Hooliganismus bezeichnet.213 Unterschiedliche Debattenstränge begannen sich zu verknüpfen. Po prostu überführte die Regimepropaganda gegen den Hooliganismus in eine Debatte über dessen gesellschaftliche Ursachen. Mehr noch: Hier war es möglich, auch über gewalttätige Übergriffe der Miliz zu schreiben, und darüber, dass Hooliganismus und Polizeibrutalität nur zwei Seiten einer Medaille waren. Das Spektrum artikulierter Wahrnehmungen von Bürgermiliz und Polizeibrutalität in diesen Jahren lässt sich anhand der Leserbriefe ermessen, die zwischen 1955 und 1957 an Po prostu gerichtet wurden. Knapp ein Fünftel der mehr als 2500 registrierten Zuschriften sind erhalten geblieben.214 Wie zuvor schon einzelne Beiträge in Po prostu selbst zogen auch sie eine direkte Linie von Hooligans zu Beamten. Die Warschauer Miliz vertusche und stärke ein System des Verbrechens, bemerkte ein Leserbriefschreiber anlässlich des Berichts über den Angriff auf das Studentenwohnheim in Praga. Die Beamten seien selbst »gewöhnliche Hooligans, und umso schlimmer, als sie Uniform tragen«, klagte ein anderer, nachdem ein Journalist im Gerichtssaal von Milizionären angegriffen worden war. Eine Leserbriefschreiberin mutmaßte gar, dass hinter den Hooligans frühere Beamte der Staatssicherheit steckten, an welche die Miliz sich nicht herantraue.215 Andere Leserbriefe wiederum klagten offen über unmoti-
211 Rafalska, Między marzeniami a rzeczywistością; Turski, »Skoro nas nie sadzają«. 212 Ambroziewicz, Jerzy / Namiotkiewicz, Walery / Olszewski, Jan, »Na spotkanie ludziom z AK«, in: Po prostu, 11. 3. 1956. Abgedruckt auch in: Urban (Hg.), Po prostu 1955 – 1956, S. 115 – 125. 213 Manturzewski, »W zaklętym kręgu«. 214 Leszczyński, Sprawy do załatwienia. 215 Ebd., S. 133.
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vierte Angriffe der Miliz. So hätten mehrere Beamte in der Nähe von Allenstein (Olsztyn) grundlos ein Dorffest auseinandergetrieben und einige Teilnehmer vor aller Augen verprügelt. Es sei ein Fehler, dass die Volksmacht im elften Jahr ihres Bestehens der Miliz eben jene Schlagstöcke wieder in die Hand gegeben habe, für die der Polizei der 1930er Jahre so schwere Vorwürfe gemacht worden seien, und dies umso mehr, als die heutige Miliz »um ein Vielfaches dümmer und schlimmer« sei, hieß es in einer Zuschrift vom Juni 1956. Kaum sei diese Reform verkündet worden, habe ein »MilizHooligan« das Pech gehabt, von einem Journalisten der Trybuna Ludu beobachtet worden zu sein, und viele andere kämen ungeschoren davon, vermerkte der Verfasser, nicht ohne einen Seitenhieb auf »unsere gegenwärtigen Schläger (pałkarzy) in Generalsgalauniformen«.216 Nur vereinzelt wurden die Beamten selbst als Opfer von Hooligans gesehen.217 In der Masse der Zuschriften kam die Bürgermiliz insgesamt eher selten vor. Die Klage über gewalttätige Beamte mischte sich mit dem Unmut darüber, welche Privilegien die Miliz genoss, über ihre besonderen und üppiger ausgestatteten Läden, über die medizinische Versorgung in gesonderten Krankenhäusern oder den Vorzug bei der Wohnungszuteilung, oder auch nur darüber, dass sich der örtliche Kommandant der Miliz mit anderen Amtsträgern im Nebenraum eines Lokals hemmungslos betrank und danach von einem Dienstwagen nach Hause gefahren wurde. So im April 1956 angeblich geschehen im masurischen Städtchen Pisz (Johannisburg).218 Solche Klagen fügten sich nahtlos in den allgemeinen Unmut über Korruption in der Partei, Verwaltung und Betriebsleitungen, über Veruntreuung, Bereicherung und Diebstahl. Ungerechtigkeit und Ungesetzlichkeit fielen in eins. Hatte die Partei auf dem III. ZK-Plenum vom Januar 1955 noch allein die Foltermethoden der Staatssicherheit als brutale Verstöße gegen die revolutionäre Gesetzlichkeit bezeichnet, so belegten Leserbriefschreiber nun nahezu alles mit diesem Begriff, was ihnen rechtlich oder moralisch als ungerechtfertigt erschien. So schimpfte ein Leser aus Bromberg: »In welcher Welt lebt ihr! In beinahe jedem Betrieb geschehen ebensolche Schurkenstücke, schreien straflos die örtlichen Bonzen herum, blühen Korruption, Bruch der Gesetzlichkeit und Straflosigkeit derjenigen, die gesellschaftliche Millionen veruntreuen.«219 Dass der »Bruch der Gesetzlichkeit« straflos bleibe, führe zu »moralischem und psychischem Ban-
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Ebd., S. 204. Ebd., S. 131. Ebd., S. 30 – 35. Ebd., S. 43.
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ditentum«, schrieb ein anderer über die Leitung seiner Genossenschaft.220 Auch der Druck lokaler Parteifunktionäre auf die Justiz fiel unter diesen Begriff.221 Während die euphemistische Formel von »unerlaubten Ermittlungsmethoden« es ermöglichte, überhaupt öffentlich von Folter und Misshandlungen zu sprechen, verselbstständigte sich die Formel vom »Bruch der Gesetzlichkeit« (łamanie praworządności). Die Bevölkerung mochte die Sprache des Stalinismus und der Entstalinisierung verinnerlicht haben, sie ging damit jedoch auch kreativ und flexibel um.222 Das Bewusstsein für konkrete Missstände innerhalb der Miliz löste sich vorerst in solchen allgemeinen Formulierungen auf. Immerhin aber ließ es sich nun artikulieren. In den Zuschriften an Po prostu zeigte sich eine Sensibilität dafür, dass die Gewalttätigkeit des Regimes weit über die Folter in den Gefängnissen der Staatssicherheit hinausging. Światłos Radioberichte nahmen in Polen die Erschütterungen vorweg, die in den anderen Ländern des sowjetischen Machtbereichs gut ein Jahr später, im Frühjahr 1956, von Chruščevs Geheimrede auf dem XX . Parteitag der KPdSU ausgelöst wurden. Sie führten zu einer Debatte über die Gewalttätigkeit des Regimes, die bald über die Staatssicherheit hinauswies, und mündeten direkt in einer Krise des Regimes und seines Machtapparates. Zusammen mit der Debatte über die Hooligans begann daraus eine Krise der staatlichen Ordnung zu werden.
»Wann beginnt der Umbruch?« – Unruhe in der Miliz »Wann beginnt der Umbruch?« betitelte das Journal der Miliz Ende April 1956 seinen Bericht von einer Konferenz im masowischen Grójec. Nahezu alle Milizionäre aus den fünfzehn Dienststellen des Bezirks hatten sich versammelt, um von ihrem Kommandanten in Gegenwart von Vertretern der vorgesetzten Behörden und der Partei zu erfahren, wie unzureichend ihr Dienst im vergangenen Jahr gewesen sei. Es war eine Versammlung im Stile von Kritik und Selbstkritik, wie sie in diesen Monaten überall im Lande stattfanden, auch bei der Miliz. Man könne sich kaum vorstellen, dass sich in dem verschlafenen Städtchen der Hooliganismus ausbreite, schrieb der Redakteur. Und doch grassiere die Spekulation, kaum die Hälfte der Dieb220 Ebd., S. 100. 221 Ambroziewicz, Jerzy / Namiotkiewicz, Walery / Olszewski, Jan, »Na peryferiach praworzadnosci«, in: Po prostu, 5. 8. 1956, S. 3 und 12. 8. 1956, S. 3; Leszczyński, Sprawy do załatwienia, S. 108 – 109. 222 Leszczyński, Sprawy do załatwienia, S. 171 – 180.
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stähle und gerade ein Viertel der Brandstiftungen würden aufgeklärt und jeder zweite Mord in der Wojewodschaft entfalle auf den Bezirk Grójec. Für die Anwesenden lagen die Ursachen auf der Hand. Von Trunksucht unter den Beamten war die Rede und von Kungelei mit kriminellen Elementen. Wo sich der örtliche Milizionär von zwielichtigen Figuren in der Dorfkneipe auf einen Wodka einladen lasse, sei eine gute Aufklärungsquote nicht zu erwarten. Selbst der Stadtkommandant von Grójec sei ein Trinker, und ebenso seine Untergebenen. Bei der Disziplin der Beamten liege vieles im Argen, ebenso bei der Dienstaufsicht und, so der Tenor des Berichts, bei der völlig unzureichenden Parteiarbeit. In einigen Dörfern habe sich seit Jahren kein Parteiinstrukteur mehr blicken lassen. Insgesamt zeichnete die Reportage aus Grójec ein vernichtendes Bild. Auch wenn von Einzelfällen die Rede war und die betreffenden Beamten namentlich genannt wurden, blieb der Eindruck pauschaler Kritik, die nur dadurch gemildert wurde, dass der Redakteur abschließend die Partei in die Pflicht nahm und Hilfe für die Beamten anmahnte.223 Um das Vertrauen zwischen Partei und Miliz, so ließ sich zwischen den Zeilen lesen, war es nicht gut bestellt. Der Bericht aus Grójec zeigt, wie die Miliz in die Strategie von Kritik und Selbstkritik eingebunden wurde, welche die Partei mit dem III. ZKPlenum vom Januar 1955 eingeleitet hatte. Direkte Misshandlungen seien seltener geworden, bilanzierte Hauptkommandant Stanisław Wolański zu Jahresbeginn, aber der Kampf gegen Brutalität, Verwilderung, Korruption, Alkoholismus und moralische Zerrüttung sei noch nicht gewonnen. Übergriffe gegenüber der Bevölkerung waren weiterhin endemisch und hatten im Lauf des Jahres 1955 jedem vierten Beamten eine leichtere oder schwerere Strafe eingebracht.224 Das Verhältnis der Gesellschaft zur Miliz sah Wolański schwer belastet. Zwar wurde die Miliz weiterhin nicht direkt mit den Gewaltpraktiken der Staatssicherheit in Verbindung gebracht. Doch schon die ersten Reaktionen in der Parteispitze auf Chruščevs Geheimrede vor dem XX . Parteitag der KPdSU zeigten, dass die Debatte erst begonnen hatte.225 In deren Windschatten wurde unweigerlich auch die Brutalität der Miliz zum Thema.
223 Kaczorowski, R[yszard], »Kiedy nastąpi przełom?« in: W służbie narodu 12(386), 20 IV 1956, S. 4. 224 AIPN BU 1550 / 1629 Odprawy kierownictwa KGMO w 1956 r. O skuteczniejsze strzeżenie porządku publicznego, ochronie właśności społecznej oraz bezpieczeństwa i mienia obywateli, k. 75 – 102, hier k. 100 – 101. 225 1956, marzec 3 – 4. Warszawa. Stenogram narady centralnego aktywu partyjnego w sprawie omówienia przebiegu i uchwał XX Zjazdu KPZR, in: Jabłonowski u. a. (Hg.), Dokumenty centralnych władz, S. 11 – 152 (Dok. 1).
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Die Enthüllungen im Kreml über das Ausmaß von Stalins Verbrechen bis in die innersten Führungszirkel der Bolschewiki hinein verschärften die in Polen schwelende politische Krise, zum einen, weil die Kenntnis von der Geheimrede binnen weniger Wochen durchsickerte, zum anderen aber auch deshalb, weil Parteichef Bolesław Bierut nicht aus Moskau zurückkehrte. Er sei nach einer schweren Krankheit gestorben, hieß es diskret in der offiziellen Todesanzeige. Hinter vorgehaltener Hand wurde gemutmaßt, er sei ermordet worden. Andere munkelten, er habe nach der Lektüre von Chruščevs Geheimrede einen Herzinfarkt erlitten. So unplausibel solche Gerüchte auch waren, verwiesen sie doch auf die antisowjetischen Stimmungen im Land.226 Chruščev selbst reiste in der folgenden Woche nach Warschau, um an der Beerdigung teilzunehmen und um den polnischen Genossen seine Kritik an Stalins Personenkult zu erläutern. Vor dem Zentralkomitee sprach er von moralischer Wiedergutmachung gegenüber fälschlich inhaftierten Genossen, von Stalins Machtmissbrauch und seinem Verfolgungswahn und davon, dass die Resolution des XX . Parteitags die sowjetische Partei stärken und ihr die Sympathie der Arbeiter, Angestellten und Intellektuellen einbringen werde. Der kritischen Rückfrage eines Anwesenden wich Chruščev aus.227 In der Parteispitze verloren die Moskautreuen um Zenon Nowak zusehends an Boden. Den Zentristen Edward Ochab zum neuen Ersten Sekretär der Partei zu erheben, war ein Kompromiss. Anfang Mai zog sich auch Jakub Berman aus dem Politbüro zurück. Damit hatten im Frühsommer 1956 fast alle diejenigen an der Spitze von Staat und Partei, welche die selbstherrlichen Gewaltpraktiken der Staatssicherheit mitgetragen hatten, ihre Ämter verloren. Allein Hilary Minc saß noch im Politbüro, und auch er sollte diesen Posten bald räumen müssen. Mit diesem Rückzug der alten Garde waren die Machtverhältnisse jedoch keineswegs geklärt. Die Gruppe um Zenon Nowak und den Staatsratsvorsitzenden Aleksander Zawadzki, die sich auf den Rückhalt im Kreml verließ, eine antiintellektuelle Haltung pflegte und gezielt antisemitische Ressentiments bediente, traf sich regel226 Machcewicz, Rebellious Satellite, S. 48 – 58; Eisler, Siedmiu wspaniałych, S. 88 – 90; Zaremba, »Towarzysz świętej pamięci«. Zu den Gerüchten von einem politischen Mord siehe etwa Zawieyski, Dzienniki, Bd. 1, S. 209 (Eintrag vom 13. 3. 1956); zu den Gerüchten von einem Herzinfarkt siehe Kijowski, Dziennik, Bd. 1, S. 92 (Eintrag vom 20. 3. 1956). 227 AAN (Archiwum Akt Nowych) PZPR 2631 Materialy do stosunkow partyjnych polsko-radzieckich z lat 1956 – 1958, »Przemowienie tow. Chruszczowa na VI Plenum K.C.,« k. 14 – 87. Hier zitiert nach http://digitalarchive.wilsoncenter.org/document/111920 [11. 6. 2018]. Siehe auch 1956, marzec 20, Warszawa. Przemówienie I Sekretarza KC KPZR Nikity Chruszczowa na aktywie (w dniu otwarcia obrad VI Plenum KC PZPR), in: Jabłonowski u. a. (Hg.), Dokumenty centralnych władz, S. 157 – 219 (Dok. 4).
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mäßig in Bieruts Wochenendresidenz, dem klassizistischen Potocki-Palais im Stadtteil Natolin am südlichen Stadtrand Warschaus. Ihre Widersacher, nicht minder vom Stalinismus geprägt, aber offener für Stimmungen in der Gesellschaft und geschickter im Umgang mit der Öffentlichkeit, versammelten sich näher am Zentrum in einem schlichten modernistischen Wohnblock an der Puławska-Straße. In dem nun einsetzenden Machtkampf ging es weniger um politische Programmatik als um Stilfragen und Loyalitäten. Die beiden Gebäude hingegen symbolisierten einen Gegensatz zwischen staatstragendem Machtbewusstsein und inszenierter Erneuerung der Partei.228 Die Welt der Staatssicherheit, bisher stolzer Pfeiler des Systems, sei zerbröckelt, hat Paweł Machcewicz die Atmosphäre in den folgenden Wochen charakterisiert.229 Überall wurde offen über den XX . Parteitag gesprochen. Chruščev sei dort offenbar sehr scharf gegen Stalin und den Stalinismus aufgetreten, schrieb Jerzy Zawieyski Ende März in sein Tagebuch. »Angeblich hat er ihn einen Mörder, Satrapen, Dummkopf, Feigling genannt.«230 Auch wenn alles wahr sei, ergänzte er vier Tage später, könne die Partei die moralischen Verwüstungen nicht wiedergutmachen und kein Vertrauen aufbauen, denn durch Reden und Zeitungsartikel gerieten die Verbrechen nicht in Vergessenheit.231 Thema war der Parteitag auch unter der Belegschaft von Warschaus größter Autofabrik Żeran.232 Vielfach werde gefragt, wem man überhaupt noch glauben könne, berichtete der Parteichef der Wojewodschaft Białystok.233 Mancherorts wurde bereits gemutmaßt, Russland werde demnächst das Verbrechen von Katyń zugeben und sich dafür entschuldigen.234 Auf eigens einberaumten Parteiversammlungen kamen bald auch die Verhältnisse in Polen zur Sprache, die Kollektivierung, aber auch die Frage, weshalb Kardinal Wyszyński und Władysław Gomułka verhaftet worden seien und warum niemand die Verantwortung für Folter und für das Leiden der Inhaftierten übernehme. Einige Beamte von Miliz und Staatssicherheit würden unruhig, meldete der Parteisekre228 Jedlicki, »›Chamy i Żydy‹«; Eisler, Zarys, S. 60 – 64; Dudek, »Der politische Umbruch«, S. 31 – 32; Zaremba, Im nationalen Gewande, S. 238 – 240. 229 Machcewicz, Rebellious Satellite, S. 65. 230 Zawieyski, Dzienniki, Bd. 1, S. 211 (Eintrag vom 21. 3. 1956). 231 Ebd., S. 215 (Eintrag vom 25. März 1956). Siehe auch Szczepański, Dziennik, Bd. I, S. 606 (Eintrag vom 26. März 1956). 232 Goździk, Byliśmy u siebie w domu, S. 28. 233 Informacja Sekretarza KW PZPR w Białymstoku nadana do KC PZPR 31 marca 1956 r. o nastrojach społeczeństwa Białostocczyzny po opublikowaniu materiałów o kulcie Stalina, in: Kietliński / Pasko, Na fali października, S. 75 – 77 (Dok. 13), hier S. 76. 234 Dąbrowska, Dzienniki 1914 – 1965. Bd. X: 1956 – 1957, S. 31 (Eintrag vom 20. März 1956).
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tär der Wojewodschaft Białystok Ende April nach Warschau. »Sie sorgen sich – ob einige ihrer Maßnahmen aus der Vergangenheit jetzt als falsch oder gar feindlich behandelt werden könnten.«235 Solche Berichte aus der Provinz dürften durchaus typisch gewesen sein. Unter dem Eindruck einer veränderten Lage stellte die Staatsanwaltschaft nun den Antrag, das als zu milde empfundene Gerichtsurteil gegen Różański in einem außerordentlichen Revisionsverfahren zu prüfen. Auch Anatol Fejgin und der ehemalige Vizeminister Roman Romkowski wurden nun inhaftiert, und die Parteispitze trug Sorge dafür, dass dies auch in der Presse berichtet wurde.236 Stabilisierend wirkte dieser nächste Schritt in der Abrechnung mit den stalinistischen Verbrechen nicht. Im Politbüro erklärte die Natolin-Gruppe, allen voran Aleksander Zawadzki, die Vertrauenskrise des Regimes mit der jüdischen Herkunft Romkowskis, Fejgins, Różańskis und auch Światłos und Julia Brystigers.237 Zawadzki traf offenbar einen Nerv. Je offener die Presse nun über die Verfehlungen der Staatssicherheit berichtete, je mehr die Regierung versprach, diesen Einhalt zu gebieten und hohe Funktionäre daraus ein antisemitisches Argument machten, desto mehr schwand die Angst und mit ihr die Bereitschaft, den Sicherheitsbehörden zuzuarbeiten. Seit dem Mai 1956 liefen Meldungen aus unterschiedlichen Landesteilen ein, die von offener Verweigerung zeugten, verdächtige Flugblätter auszuhändigen oder Informationen zu teilen.238 Es war nur konsequent, dass nun auch die Opfer vorangegangener Willkür in den Blick gerieten. Am 12. April wandten sich zwanzig prominente Intellektuelle mit einer Petition an den Staatsrat und den Ministerpräsidenten und forderten, auch die Gerichtsurteile gegen politische Häftlinge zu überprüfen und zu Unrecht Verurteilte zu rehabilitieren. Der Anstoß kam von Aniela Steinsbergowa, die sich in dieser Sache zuerst an Maria Dąbrowska gewandt hatte. Es war die erste gemeinsame Petition dieser Art, und sie zeigte Wirkung.239 Der Staatsratsratsvorsitzende Zawadzki lud die Unterzeichner und Unterzeichnerinnen persönlich in sein
235 Informacja Sekretarza KW PZPR w Białymstoku nadana do KC PZPR 28 kwietnia 1956 r. o zebraniach partyjnych organizowanych w celu omówienia problemów związanych z XX Zjazdem KPZR, in: Kietliński / Pasko, Na fali października, S. 85 – 87 (Dok. 17), Zitat S. 87. 236 Machcewicz, Rebellious Satellite, S. 60. 237 Zaremba, Im nationalen Gewande, S. 244 – 247. 238 Machcewicz, Rebellious Satellite, S. 62 – 63. 239 Friszke, »Wstęp«, in: Steinsbergowa, Widziane z ławy obrończej, S. 37 – 38; Kunert, Oskarżony Kazimierz Moczarski, S. 109 – 110.
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Büro. Das Gespräch selbst war nicht sonderlich ergiebig.240 Aber binnen nur zweier Wochen verabschiedete der Sejm eine umfassende Amnestie. Mehr als dreißigtausend Häftlinge wurden entlassen, darunter viele mit einem politischen Urteil.241 Die Regierung versuchte nach Kräften den Eindruck zu vermitteln, dass die Amnestie allein auf Initiative der Partei zustande gekommen sei und dass es sich um einen Akt politischer Reife handele, den einstigen Gegnern der Volksmacht die Rückkehr in eine gefestigte sozialistische Gesellschaft zu ermöglichen.242 Die wiederkehrenden Formeln, dass die Bestrafung Różańskis und seinesgleichen und erst recht die lebhaften Diskussionen seit dem XX . Parteitag das Vertrauen in den Sozialismus stärkten, wirkten wie eine Beschwörung.243 Wie sehr sich die Staatsmacht unter Druck sah, zeigt die Regierungserklärung, die Ministerpräsident Cyrankiewicz zu Beginn der Debatte am 23. April vor dem Sejm abgegeben hatte. Er sprach von einer »gesunden Welle der Kritik«, welche das ganze Land erfasst und die Gesellschaft politisch aktiviert habe. Den Sozialismus wollte er dadurch gestärkt sehen. Denn die Partei habe die Verzerrungen im Sicherheitsapparat selbst benannt und entsprechend gehandelt. Er kündigte weitere Schritte an, um die Schuldigen für den Bruch der Gesetzlichkeit und für fingierte Prozesse zu ermitteln und zu bestrafen. Der Natolin-Gruppe hielt er entgegen, dass ihre Theorie vom verschärften Klassenkampf die eigentliche Ursache der Fehlentwicklungen gewesen sei.244 Mehrere Abgeordnete verwiesen in der folgenden Aussprache darauf, dass gesellschaftliches Vertrauen nur durch wahrhaftigere öffentliche Informationen und Transparenz zurückzugewinnen sei. Es widerspreche der sozialistischen Weltanschauung, den Menschen die Wahrheit nur in Tröpfchen zu verabreichen, erklärte Edmund Osmańczyk. Dominik Horodyński, parteiloser Katholik und ehemaliger Offizier der Heimatarmee, sprach von einer Atmosphäre des Misstrauens
240 Dąbrowska, Dzienniki 1914 – 1965. Bd. X: 1956 – 1957, S. 65 (Eintrag vom 16. Juni 1956). Maria Dąbrowska selbst war verhindert und wurde später von Zawadzki empfangen: ebd., S. 69 (Eintrag vom 18. Juni 1956). 241 Machcewicz, Rebellious Satellite, S. 60; Zwolski, »Amnestie«, S. 343 – 344. 242 Sejm Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej, Kadencja I – Sesja VIII. Sprawozdanie stenograficzne z VIII sesji Sejmu Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej w dniach od 23 do 28 kwietnia 1956 r. Stenogram 21 posiedzenia Sejmu Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej w dniu 26 kwietnia 1956 r., S. 414 – 424. 243 Siehe die Redebeiträge von Kazimierz Dubowski und Władysław Witold Spichalski, in: ebd., Stenogram 22 posiedzenia Sejmu Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej w dniu 23 kwietnia 1956 r., S. 430 und S. 442. 244 Ebd., Stenogram 18 posiedzenia Sejmu Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej w dniu 23 kwietnia 1956 r., S. 10 – 39, hier S. 12 – 22, Zitat S. 15.
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und der Denunziationen und forderte gar, der Sicherheitsapparat müsse das Vertrauen und die Unterstützung der öffentlichen Meinung zurückgewinnen und seine »volle moralische Autorität« wiederherstellen.245 Ob die Partei tatsächlich die Kontrolle über das Momentum solcher Kritik behalten konnte, wie Cyrankiewicz es behauptet hatte, war nach diesen Redebeiträgen durchaus fraglich. »Wie viele von den Jungen sind umgekommen! Wie viele Qualen! Notleidende, Irre, menschliche Wracks kommen [aus den Gefängnissen]. Was werden sie ihren Familien erzählen?«, fragte Anna Kowalska.246 »Meine Mutter […] spricht nie vom Gefängnis«, schrieb Nina Karsov in den späten 1960er Jahren.247 Sie ahnte nur, wie schwer die schweigsame Frau misshandelt worden war. Auch Ruta Czaplińska, die ab 1946 zehn Jahre lang im Gefängnis gesessen hatte, erinnerte sich später, dass die Haft ein Tabuthema gewesen sei und dass überhaupt nur im Kreis derjenigen, die Ähnliches durchgemacht hatten, daran gerührt werden konnte.248 Andere beließen es ihr Leben lang bei kryptischen Andeutungen.249 Aber nicht jeder empfand so. Kazimierz Brandys erinnerte sich noch nach Jahrzehnten an den Sommer 1956, als ihm zwei frisch aus der Haft Entlassene von ihren Erlebnissen berichteten.250 Der ehemalige Außenminister und AK-Kämpfer Henryk Jóżewski etwa erzählte im November 1956, nur wenige Tage nach seiner Entlassung, anschaulich von den Hierarchien hinter Gefängnismauern, wo sich unerschrockene »Großhooligans« (wielkie chuligany) gegenüber Mithäftlingen wie Wächtern rücksichtslos Geltung verschafften.251 Die Kenntnis von Folter und Gewalt zog über solche Erzählungen immer weitere Kreise. Maria Dąbrowska mochte nicht recht an eine neue Epoche der Wahrheit und Gerechtigkeit glauben. Das Gerücht, nun könnte selbst das »Verführte Denken« des verstoßenen Czesław Miłosz auch in Polen gedruckt werden, schien ihr völlig absurd.252 Aber auch Czesław Czapów berichtete just in diesen Wochen davon, wie intensiv dieses Buch unter Warschauer
245 Ebd., Stenogram 19 posiedzenia Sejmu Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej w dniu 24 kwietnia 1956 r., S. 148 (Osmańczyk) und S. 139 – 140 (Horodyński). Siehe auch die Debattenbeiträge der Abgeordneten Wende, Korotyński und Drobner. 246 Kowalska, Dzienniki, S. 264 (Eintrag vom 24. April 1956). 247 Karsov / Szechter, Nie kocha się pomników, S. 43 (engl. Übersetzung: dies., In the Name of Tomorrow). 248 Czaplińska, Z archiwum pamięci, S. 290. Siehe auch Müller, If the Walls Could Speak, S. 218 – 235. 249 Osęka, My, ludzie z Marca, S. 77. 250 Brandys, Miesiące 1978 – 1981, S. 314. Hier nach ders., Warschauer Tagebuch, S. 210. 251 Kowalska, Dzienniki, S. 285 (Eintrag vom 11. November 1956). 252 Dąbrowska, Dzienniki 1914 – 1965. Bd. X: 1956 – 1957, S. 33 (Eintrag vom 26. März 1956).
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Intellektuellen diskutiert werde.253 Zudem war mit Seweryn Bialer erneut ein hochrangiger Offizieller in den Westen geflüchtet. Auch er berichtete nun über Radio Free Europe aus dem Innersten der Macht.254 Bialer war innerhalb eines Jahrzehnts vom Schulungsoffizier der Miliz bis in die Propagandaabteilung des Zentralkomitees aufgestiegen und, so Maria Dąbrowska, ein völlig anderes Kaliber als der Geheimdienstmann Światło. Entsprechend theoriegesättigt waren seine Radiosendungen, in denen er von grundsätzlichen Fehlern des kommunistischen Systems sprach und gegen die wirtschaftliche Ausbeutung Polens durch die Sowjetunion polemisierte.255 Sie dürften ihren Teil zur wachsenden antisowjetischen Stimmung beigetragen haben. Auch die Welt der Miliz bekam Risse. Nachlesen lässt sich dies an den Ausgaben des Milizjournals. Unter die bisherigen Hochglanzberichte etwa zum industriellen Aufbau des Landes, zum erfolgreichen Kampf gegen den Hooliganismus am Warschauer Bahnhof oder zum leuchtenden Vorbild zweier unbestechlicher Beamter mischten sich seit Jahresbeginn 1956 auch solche Beiträge, die in stalinistischer Manier zu Kritik und Selbstkritik aufforderten. Hier wurde für die Beamten ausbuchstabiert, wie die vielbeschworene sozialistische Gesetzlichkeit ihren Dienst bestimmen sollte.256 Unter dem Titel »Dort wurde die Gesetzlichkeit mit Füßen getreten« berichtete das Journal im Januar 1956 aus einem niederschlesischen Dorf, in dem der Vorsitzende des örtlichen Nationalrats unter den Augen der Miliz einen zehnjährigen Buben misshandelte, den er beim Diebstahl eines Fahrraddynamos ertappt hatte.257 Weitere Hinweise auf gewalttätige Übergriffe wurden in verstreuten, allgemein gehaltenen Mahnungen versteckt, etwa zum grassierenden Alkoholismus. Im März 1956 folgte eine Reportage, die den (möglicherweise fiktiven) Fall eines stellvertretenden Milizkommandanten in der Wojewodschaft Białystok verhandelte. Durch »Sauftouren und Hooligan-Exzesse« habe er das Ansehen der Miliz geschmälert und ihre Moral untergraben. Auch im Dienst habe er getrunken, zum Schluss sei ihm nach eigenem Bekunden alles egal gewesen. Viel zu lange hätten ihn Vorgesetzte und Kameraden gedeckt, statt sein Fehlverhalten vor die Parteigremien zu bringen.258 Von der Parteiversammlung im masowischen
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Friszke, Między wojną a więzieniem, S. 376. Bialer, »Ich wählte die Wahrheit«. Dąbrowska, Dzienniki 1914 – 1965. Bd. X: 1956 – 1957, S. 69 (Eintrag vom 17. Juni 1956). Hierzu und im Folgenden siehe Puttkamer, »›Es ist Zeit, die Groteske zu beenden‹«. Frister, R. / Ostaszewska, J., »Tam podeptano praworządność