Homo patiens: Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit 9783412329976, 3412162027, 9783412162023


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Homo patiens: Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit
 9783412329976, 3412162027, 9783412162023

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Homo patiens

Michael Stolberg

Homo pattern Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit

§ 2003

Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2003 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Ursulaplatz 1, 50668 Köln Tel.: (0221) 91 39 00, Fax: (0221) 91 39 011 [email protected] Alle Rechte vorbehalten Umschlagabbildung: »L'envers d'une ripaille«, Farblithographie. Courtesy of the National Library of Medicine. Druck und Bindung: Druckerei Runge GmbH, Cloppenburg Gedruckt auf altersbeständigem Papier Printed in Germany ISBN 3-412-16202-7

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

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Methodische Vorüberlegungen Quellen und Vorgehen

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Teil 1: Kranksein im Alltag

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Die Sorge um sich Krankheit und Selbst Schmerzerfahrung Sinnsuche: Religion, Hexerei und Astrologie Sinnsuche: Krankheit, Lebensordnung und Biographie Die erzählerische Rekonstruktion der Lebensgeschichte Krankheitsängste Die »Krankenbettgesellschaft« Pflege Medizinische Versorgung Die Arzt-Patienten-Beziehung

33 36 42 49 59 66 69 75 77 83 91

Teil 2: Wahrnehmungen und Deutungen

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Medizinische Popularisierung Die kulturelle Überformung von Krankheit Vom Temperament zum Charakter Blutfülle (Plethora) Schlagfluß Flüsse, Gicht und Rheumatismus Gichter und Krämpfe Schärfen Haut und Hautausschläge Rotlauf Scharbock Die Therapie der Schärfen

108 113 116 121 125 129 137 139 144 150 151 155

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Inhaltsverzeichnis

Miasmen und Kontagien: Pest - Franzosenkrankheit englischer Schweiß Verdauungsschwäche, Winde und Verschleimung Verstopfungen und gestörte Ausscheidungen Stockungen und Ablagerungen Krebs Krankhafte Hitze »Vapores« und Dämpfe Fieber Schwindsucht und Zehrfieber Verausgabung und Entkräftung Wassersucht Samenhaushalt

158 167 172 182 183 189 192 194 199 202 205 207

Teil 3: Krankheitserfahrung und herrschender Diskurs

213

Der empfindsame Leib Eine neue Krankheit: die Vapeurs Historische Wurzeln: Vapores, Hypochondrie und Hysterie Der Aufstieg der Nerven Verkörperung Zivilisationskritik Die empfindsame Frau Der Kult der Empfindsamkeit Krankheit als Protest Ennui und Narzißmus

215 220 222 229 233 239 241 243 248 256

Masturbation und Krankheit Ein neuer Kreuzzug Resonanz Die soziale Konstruktion des Anti-Masturbations-Diskurses

261 262 270 277

Schluß: Ein neuer »bürgerlicher« Habitus

281

Ungedruckte Quellen Gedruckte Quellen Ausgewählte Forschungsliteratur Register

287 290 294 299

Danksagung Die Arbeit an der vorliegenden Studie hat mich und meine Familie in den vergangenen Jahren von München über Venedig nach Cambridge und wieder zurück nach München begleitet. In dieser Zeit habe ich von vielen Seiten Unterstützung und Anregung erfahren. Zu größtem Dank verpflichtet bin ich insbesondere der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die mir die langjährigen Forschungsarbeiten mit einem Heisenbergstipendium und anschließend ihm Rahmen des Münchener Sonderforschungsbereichs 573 überhaupt ermöglicht hat. Solche Freiräume für jahrelange, intensive Forschungsarbeiten sind heute selten geworden. Ganz besonders möchte ich mich auch bei Frau Brigitte Berger Μ. A. bedanken, die als wissenschaftliche Hilfskraft im SFB-Projekt „Die Pluralisierung des Leibes" Dutzende von deutschsprachigen Autobiographien des 16. und 17. Jahrhunderts systematisch auf krankheitsrelevante Passagen durchgesehen hat. Danken möchte ich darüber hinaus der Leitung und den Mitarbeitern der zahlreichen Archive und Bibliotheken, die ich benutzen konnte. Ohne ihre Unterstützung und ohne die umfangreichen Ablichtungen, die mir insbesondere die Handschriftenabteilungen in Berlin, Lausanne und Paris sowie das medizinhistorische Institut in Stuttgart zur Verfügung gestellt oder ermöglicht haben, wäre diese Untersuchung nicht möglich gewesen. Von 1996 bis 1998 haben mich Andrew Cunningham und seinen Kollegen an der damaligen Wellcome Unit for the History of Medicine in Cambridge als Gast aufgenommen. Ich und dieses Buch haben von dem anregenden intellektuellen Umfeld in Cambridge sehr profitiert. Danken möchte ich auch den vielen anderen Kolleginnen, die mir Gelegenheit gegeben haben, für Kritik und Anregungen im persönlichen Gespräch. Stellvertretend für viele andere seien hier insbesondere Martin Dinges, Lutz Sauerteig, Waltraud Pulz und Ulinka Rublack genannt. Widmen möchte ich dieses Buch meinen beiden Söhnen Lukas und Daniel.

Abkürzungen BIM Cgm FT HA Heurne HK Jurin MC SK Sloane TK Verdeil

Bibliotheque Interuniversitaire de Medecine, Paris Bayerische Staatsbibliothek, München, deutsche Handschriften Fonds Tissot (Bibliotheque Cantonale et Universitaire Lausanne-Dorigny, IS 3784) Hahnemann-Archiv des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart UB Leiden, Ms. Marchand 3, Briefe an Johannes und Otto Heurne Haller-Korrespondenz, Burgerbibliothek Bern Andrea A. Rusnock (Hg.), The correspondence of James Jurin (1684-1750). Amsterdam 1996 Friedrich Hoffmann, Medicina consultatoria. 12 Bde. Halle 1721-1739 Kantonsbibliothek St. Gallen, Ms. 94, Korrespondenz von Sebastian und Bartholomäus Schobinger Handschriftensammlung Hans Sloane, British Library, London Thurneisser-Korrespondenz (Staatsbibliothek Berlin, Ms. germ, fol.) Library of the Wellcome Institute for the History of Medicine, London, Western Manuscripts 6114

Zitierweise Bei Zitaten aus zeitgenössischen Quellen modernisiere ich, der besseren Lesbarkeit halber, Großschreibung und Zeichensetzung. Autorennamen bzw. Kurztitel in den Fußnoten verweisen auf das Auswahlverzeichnis der Quellen und der ausgewählten Forschungsliteratur am Ende des Buchs. Ubersetzungen sind, soweit nicht anders angegeben, von mir. Briefkonsultationen zitiere ich mit Fundort (ζ. B. TK 402b, 108r-v) und dem Namen des Verfassers („N. N." bei unbekannten Verfassern). Ist dieser nicht mit dem Patienten identisch, so wird dies stets ausdrücklich vermerkt.

EINLEITUNG Gegenstand dieses Buches ist die alltägliche, lebensweltliche Erfahrung und Deutung von Krankheit in der Frühen Neuzeit. Nicht die vielfältigen Erklärungsmodelle und Theorien der gelehrten Arzte also stehen hier zur Debatte, die großen wissenschaftlichen Kontroversen oder gar der Fortschritt hin zu den Erkenntnissen der modernen westlichen Medizin. Vielmehr geht es darum, wie medizinische Laien Krankheiten erlebten, wie sie körperliche Leiden und die Veränderungen, die diese begleiteten, wahrnahmen und deuteten, und wie sie mit ihnen umgingen. Es geht, mit anderen Worten, um eine Medizingeschichte aus der Sicht der Laien, der Kranken, der Patienten. 1 Der Versuch, Medizingeschichte als »Patientengeschichte« zu schreiben, ist ein vergleichsweise junges Unterfangen. 2 Die ältere Medizingeschichtsschreibung interessierte sich vor allem für die »großen Arzte« und deren Forschungen, Theorien und Entdeckungen. Die Kranken traten weitgehend bloß als gesichtslose Insassen medizinischer Einrichtungen oder als Zielgruppen seuchen- und gesundheitspolitischer Maßnahmen in Erscheinung. Einzige Ausnahme waren berühmte Kranke, Herrscher und Künstler vor allem. Erst seit Mitte der 1980er Jahre weitete sich unter dem Einfluß der neueren Sozial- und Alltagsgeschichte der Blick auf die Erfahrung von Krankheit und Heilkunde aus der Laienperspektive. Eine Reihe von Studien haben in der Zwischenzeit wertvolle neue Einsichten eröffnet. 3 Erste Forschungsüberblicke liegen vor. 4 Auch jüngere Studien zur Geschichte von Gesundheitsversorgung und Gesundheitspflege einzelner Orte oder Regio-

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2 3 4

Der Begriff »Patient« (oder auch »pacient«) war schon im 16. Jahrhundert recht gebräuchlich, aber stärker als heute mit der ursprünglichen lateinischen Bedeutung von »patiens« (= »leidend«) verbunden; der Titel dieses Buchs spielt auf beide Bedeutungen an. Vgl. den programmatischen Aufruf von R o y Porter, The patient's view. D o i n g medical history from below. In: Theory and society 14 (1985), 175-198. Herzlich/Pierret; Porter/Porter, Patient's progress; dies., In sickness; Duden; Jütte, Ärzte; Lachmund/Stollberg; Lumme. Katharina Ernst, Patientengeschichte. Die kulturhistorische Wende in der Medizinhistoriographie. In: Ralph Bröer (Hg.), Eine Wissenschaft emanzipiert sich. Die Medizinhistoriographie von der Aufklärung bis zur Postmoderne. Heidelberg 1999, 97-108; Eberhard Wolff, Perspektiven der Patientengeschichtsschreibung. In: Paul/Schlich, 311-330.

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Einleitung

nen stellen gezielt die Darstellung der Erfahrungen und Praktiken gewöhnlicher Laien neben die der berufsmäßigen Heilkundigen. 5 Dank dieser Arbeiten wissen wir heute viel genauer, wie Menschen früher mit Krankheiten umgingen, über die große Bedeutung der Selbstbehandlung etwa, über die Vielfalt der Heilangebote, über die Beziehung zwischen Patienten und Heilkundigen oder auch über ihr Bemühen, dem Krankheitsgeschehen einen transzendenten, religiösen Sinn zu verleihen. Das gilt auch und gerade für die Frühe Neuzeit. Die konkrete lebensweltliche Wahrnehmung und Erfahrung des kranken, leidenden Körpers aber und die Deutung und Bewertung verschiedener Symptome und Krankheitsformen durch die Betroffenen und ihre Angehörigen werden auch in neueren Arbeiten, meist nur kurz und pauschal - wenn überhaupt - zusammengefaßt, aus einzelnen anekdotischen Fallgeschichten verallgemeinert oder gar auf eine angebliche Vorherrschaft eines humoralpathologischen Gleichgewichtsmodells verkürzt. 6 Darüber wie zeitgenössische Laien die wichtigsten, häufigsten Krankheiten wie Fieber, Flüsse, Krebs, Schwindsucht oder Skorbut wahrnahmen und deuteten, erfahren wir nur wenig. Die Bilder und körperlichen Erlebnisqualitäten gar, die sich mit den herrschenden Krankheiten und den üblichen Krankheitsbegriffen verbanden, sind noch nahezu unerforscht. Wertvolle Anregungen finden sich in neueren literaturwissenschaftlichen Arbeiten, doch eröffnen ihre Analysen zwangsläufig nur Einblicke in künstlerisch aufgearbeitete Erfahrungen und Deutungen. 7 Unter den historischen Arbeiten im engeren Sinn ist dagegen nur eine wichtige und bekannte Ausnahme zu nennen. In ihrem Buch »Geschichte unter der Haut« entwirft Barbara Duden anhand der Fallgeschichten in den »Weiberkranckheiten« des Eisenacher Arztes Johann Storch für das frühe 18. Jahrhundert sprachmächtig das faszinierende Bild eines weiblichen Körpers, der von einem ständigen Strömen der Säfte im Körper und über die Körpergrenzen hinweg geprägt und stets durch Verstopfungen und Stockungen gefährdet war. Ihre Untersuchung hat zu Recht auch international große Beachtung gefunden. Allerdings behandelt Dudens Quelle ausschließlich frauenheilkundliche Fälle, so daß zahlreiche der im folgenden untersuchten Bilder und Deutungen von körperlichen Veränderungen und Krankheiten, die nicht in irgendeiner Weise die weiblichen Geschlechtsteile betrafen, unerwähnt bleiben. Zum anderen ist sehr fraglich, wie weit Duden über die Schilderungen des Arztes tatsächlich zur Körpererfahrung der betroffenen Frauen vordringen kann. Der Blick in ihre Quelle zeigt, daß in den seitenlangen Fallgeschichten die Frau-

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Stolberg, Heilkunde; Loetz; Kinzelbach; Brockliss/Jones. Lumme behauptet gar, Laien des 16. Jahrhunderts hätten ihre Krankheiten im wesentlichen auf krankhaft veränderten Schleim zurückgeführt. Paster; Schoenfeldt.

Einleitung

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en selbst in der Regel allenfalls mit einem einzelnen Satz oder Halbsatz zu Wort kommen; und selbst dann wissen wir nicht, wie getreu Storch ihre Worte wiedergab und ob er bevorzugt Äußerungen auswählte, die seine eigene Deutung stützten. 8 Indem es sich vor allem auf Selbstzeugnisse stützt, geht das vorliegende Buch einen anderen Weg. Es gliedert sich grob in drei große Abschnitte. Am Anfang steht ein Überblick über allgemeine Aspekte der Erfahrung und Deutung von Krankheit und Körper und über den alltäglichen praktischen Umgang mit ihnen. Ein thematischer Bogen spannt sich hier von der subjektiven Bewertung von Gesundheit, Krankheit und Schmerz und dem Bemühen um eine transzendente Sinngebung, über die Ängste, die sich mit bestimmten Krankheiten und mutmaßlich krankmachenden Einflüssen aus Umwelt und Lebensstil verbanden, bis hin zu Krankenpflege, medizinischer Versorgung und ArztPatienten-Beziehung. Der zweite Teil wendet sich dann konkreter den Wahrnehmungen und Deutungen einzelner Krankheiten und krankhafter Veränderungen zu. Ich werde die wichtigsten, unter den Laien vorherrschenden Erklärungselemente vorstellen, die in der Auseinandersetzung mit einzelnen Erkrankungen und Krankheitsformen jeweils zum Tragen kamen, die bevorzugten Behandlungsverfahren bestimmten und oft schon der körperlichen Wahrnehmung und sprachlichen Darstellung der Beschwerden ihren Stempel aufdrückten. Insbesondere die Lehre von den schädlichen Krankheitsstoffen wird hier ausführlich zur Sprache kommen, aber auch die Angst vor Verstopfungen und einer Störung der Säfteflüsse über die Körpergrenzen hinweg. Veranschaulicht wird ihre konkrete Anwendung und ihr Zusammenwirken am Beispiel einiger der häufigsten oder gefürchtetsten, damals mit eigenen Begriffen belegten Krankheiten wie Fieber, Krebs oder Schwindsucht. Im dritten und letzten Teil schließlich steht das komplexe Verhältnis von subjektiver Körper- und Krankheitserfahrung einerseits und dem »herrschenden« medizinischen Diskurs andererseits im Mittelpunkt, mitsamt den Wertungen und Interessen, die in diesem zum Ausdruck kamen. Dieses Verhältnis wird an zwei der wirkmächtigsten medizinischen Neuerungen des 18. Jahrhunderts nachgezeichnet. Das Beispiel der »Nervenleiden« als der großen »Modekrankheit« der französischen Aufklärung zeigt, wie rasch - und kreativ - sich medizinische Laien die neuen medizinischen Konzepte von »nervöser Sensibilität« und »Nervenleiden« aneigneten. Die Ärzte verknüpften das neue Modell mit der zeitgenössischen Zivilisationskritik und

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Dieser Verdacht liegt insofern nahe, als die Bilder und Vorstellungen von den Abläufen im weiblichen Körper, die Duden bei den Frauen ausmacht, verblüffend jenen entsprechen, die damals Arzte im Umkreis von Georg Ernst Stahl vertraten. Storch, das weiß auch Duden, war begeisterter Stahlianer.

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Methodische Vorüberlegungen

brachten es auch in der heftigen Debatte um die Natur und gesellschaftliche Stellung der Frau zur Geltung. Der Blick auf Rezeption und Adaptation des neuen Modells in der Bevölkerung aber verweist auch auf ganz andere Dimensionen - insbesondere auf die Rolle der Nervenleiden als ein Medium der Selbstinszenierung und als eine Form des somatischen Protests. Auch das zweite Beispiel, die große Kampagne gegen die gesundheitlichen Gefahren der sexuellen Selbstbefriedigung, die im ausgehenden 17. Jahrhundert ihren Anfang nahm, zeigt deutlich, daß herrschender Diskurs und lebensweltliche Körpererfahrung durchaus nicht notwendig ineinander fallen. Gerade im Falle der selbsterklärten Opfer ihres eigenen sündhaften Tuns, bietet diese Kampagne jedoch zugleich einen eindrucksvollen Beleg für Michel Foucaults These von der Kolonisierung des Individuums durch die Wahrheitsangebote des herrschenden Diskurses.

Methodische Vorüberlegungen Lange Zeit hat die Geschichtsschreibung dem Körper kaum Beachtung geschenkt. Wenn er überhaupt zur Sprache kam, dann meist nur als konstantes, unveränderliches, biologisches Substrat, dem eine Welt des geschichtlichen Wandels gegenüberstand. Das hat sich in jüngerer Zeit gründlich geändert. Die Geschichtsschreibung hat den »Körper« entdeckt.9 Kaum dreißig Jahre nach Jacques Revels und Jean-Pierre Peters programmatischem Plädoyer für eine Historisierung des Körpers 10 könnte man, analog zum »linguistic turn« geradezu von einem »somatic turn« in weiten Teilen der Geschichtswissenschaften sprechen - und nicht nur hier: auch andere Geistes· und Gesellschaftswissenschaften befassen sich zunehmend mit dem Körper." Der Körper, das scheinbar naturgegebene, unveränderliche Andere, wurde selbst zum Gegenstand historischer und kulturwissenschaftlicher Analyse. Hinter der zusammenfassenden Rede von der »Körpergeschichte« verbergen sich freilich teilweise sehr unterschiedliche, ja widersprüchliche Per9

Überblicke bei Feher; Hillman/Mazzio; Michael Stolberg, Körpergeschichte und Medizingeschichte. In: Bröer (wie A n m . 4), 85-95; H e i k o Stoff, Diskurse und Erfahrungen. Ein Rückblick auf die Körpergeschichte der neunziger Jahre. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 14 (1999), 142-160; bibliographische Übersichten bei Barbara Duden, A repertory of body history. In: Feher, Bd. 3, 471-578, sowie in Lorenz, 174-238. 10 Jacques Revel/Jean-Pierre Peter, Le corps. L ' h o m m e malade et son histoire. In: Jacques L e G o f f / P i e r r e N o r a , Faire de l'histoire. Nouveaux objets. Paris 1974, 169-91. 11 Turner; Elisabeth List/Erwin Fiala (Hg.), Leib Maschine Bild. Körperdiskurse der Moderne und Postmoderne. Wien 1997.

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Methodische Vorüberlegungen

brachten es auch in der heftigen Debatte um die Natur und gesellschaftliche Stellung der Frau zur Geltung. Der Blick auf Rezeption und Adaptation des neuen Modells in der Bevölkerung aber verweist auch auf ganz andere Dimensionen - insbesondere auf die Rolle der Nervenleiden als ein Medium der Selbstinszenierung und als eine Form des somatischen Protests. Auch das zweite Beispiel, die große Kampagne gegen die gesundheitlichen Gefahren der sexuellen Selbstbefriedigung, die im ausgehenden 17. Jahrhundert ihren Anfang nahm, zeigt deutlich, daß herrschender Diskurs und lebensweltliche Körpererfahrung durchaus nicht notwendig ineinander fallen. Gerade im Falle der selbsterklärten Opfer ihres eigenen sündhaften Tuns, bietet diese Kampagne jedoch zugleich einen eindrucksvollen Beleg für Michel Foucaults These von der Kolonisierung des Individuums durch die Wahrheitsangebote des herrschenden Diskurses.

Methodische Vorüberlegungen Lange Zeit hat die Geschichtsschreibung dem Körper kaum Beachtung geschenkt. Wenn er überhaupt zur Sprache kam, dann meist nur als konstantes, unveränderliches, biologisches Substrat, dem eine Welt des geschichtlichen Wandels gegenüberstand. Das hat sich in jüngerer Zeit gründlich geändert. Die Geschichtsschreibung hat den »Körper« entdeckt.9 Kaum dreißig Jahre nach Jacques Revels und Jean-Pierre Peters programmatischem Plädoyer für eine Historisierung des Körpers 10 könnte man, analog zum »linguistic turn« geradezu von einem »somatic turn« in weiten Teilen der Geschichtswissenschaften sprechen - und nicht nur hier: auch andere Geistes· und Gesellschaftswissenschaften befassen sich zunehmend mit dem Körper." Der Körper, das scheinbar naturgegebene, unveränderliche Andere, wurde selbst zum Gegenstand historischer und kulturwissenschaftlicher Analyse. Hinter der zusammenfassenden Rede von der »Körpergeschichte« verbergen sich freilich teilweise sehr unterschiedliche, ja widersprüchliche Per9

Überblicke bei Feher; Hillman/Mazzio; Michael Stolberg, Körpergeschichte und Medizingeschichte. In: Bröer (wie A n m . 4), 85-95; H e i k o Stoff, Diskurse und Erfahrungen. Ein Rückblick auf die Körpergeschichte der neunziger Jahre. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 14 (1999), 142-160; bibliographische Übersichten bei Barbara Duden, A repertory of body history. In: Feher, Bd. 3, 471-578, sowie in Lorenz, 174-238. 10 Jacques Revel/Jean-Pierre Peter, Le corps. L ' h o m m e malade et son histoire. In: Jacques L e G o f f / P i e r r e N o r a , Faire de l'histoire. Nouveaux objets. Paris 1974, 169-91. 11 Turner; Elisabeth List/Erwin Fiala (Hg.), Leib Maschine Bild. Körperdiskurse der Moderne und Postmoderne. Wien 1997.

Methodische Vorüberlegungen

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spektiven und methodische Ansätze. Drei Ebenen lassen sich grob unterscheiden.12 Vorwiegend aus dem Umfeld der historischen Anthropologie" und verwandter Ansätze wie der Alltags-, Mentalitäten- und Mikrogeschichte stammen Untersuchungen, die in erster Linie auf eine beschreibende Rekonstruktion oder historische Ethnographie vergangener Körpererfahrungen und körperbezogener Praktiken im alltäglichen Erleben, Denken und Handeln von Zeitgenossen zielen. Hier wäre also beispielsweise zu fragen, welche Vorstellungen gebildete Pariserinnen des 18. Jahrhunderts von der Bedeutung der Verdauung oder des Herzens hatten, oder was es für eine Bauersfrau oder Magd im Saargebiet des 16. Jahrhunderts hieß, schwanger zu sein, oder wie es sich für einen städtischen Kaufmann oder Handwerker im Berlin des 19. Jahrhunderts »anfühlte«, von einer Haut umhüllt zu sein, die nach außen wie nach innen höchst durchlässig schien. Es geht also erst einmal darum, ein Repertorium vorherrschender körperrelevanter Vorstellungen und Praktiken zu erarbeiten und sie heutigen Lesern vor dem Hintergrund ihres jeweiligen kulturellen Umfelds und ihrer wahrnehmungsprägenden Menschen- und Weltbilder verständlich zu machen. Wird diese vorwiegend deskriptive, inventarisierende Ebene verlassen und werden die Körperkonzepte und -praktiken in ursächliche Beziehung gesetzt zu den jeweiligen wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Verhältnissen, aus denen sie hervorgehen, dann geht die beschreibende Rekonstruktion über in eine zweite Ebene, die sich grob als sozial- und kulturkonstruktivistische Analyse bezeichnen läßt. Nicht der subjektiv erfahrene und gelebte Leib steht hier im Mittelpunkt. Es geht vielmehr um die Frage nach dem Einfluß von symbolischen Systemen, Machtverhältnissen, gesellschaftlichen Strukturen und politischen Institutionen auf die Produktion und Veränderung herrschender Körperbilder und -praktiken. Forschungspraktisch und in der Auswahl geeigneter Quellen richtet sich das Augenmerk der Forschung hier bisher vor allem auf die hegemonialen »Repräsentationen« des Körpers, auf seine sprachlichen (und zuweilen auch bildlichen oder rituellen) Darstellungen. »Soziale« und »kulturelle« Konstruktion lassen sich 12

Meine Einteilung zielt primär auf unterschiedliche Analyseebenen; vgl. dagegen die primär auf die jeweiligen philosophischen Prämissen zielende Einteilung in essentialistische und nicht-essentialistische Positionen bei Lorenz, Körpergeschichte.

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Gemeint ist hier die im weiteren Sinne kulturgeschichtlich ausgerichete historische Anthropologie wie sie in Deutschland etwa durch die Zeitschrift »Historische Anthropologie« vertreten wird, nicht die stärker an einem essentialistischen, transhistorischen Körperverständnis ausgerichtete philosophische Anthropologie wie sie sich insbesondere im Umkreis des Berliner »Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie« etabliert hat; vgl. Christoph Wulf (Hg.), V o m Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/ Basel 1997); s. a. Gert Dressel, Historische Anthropologie. Eine Einführung. Wien 1996; Richard von Dülmen, Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben. Köln 2000.

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Methodische Vorüberlegungen

dabei nicht eindeutig trennen.14 Die beiden Begriffe verweisen aber doch auf unterschiedliche Analyseebenen, und es erscheint heuristisch sinnvoll, sie auseinander zu halten. Das vorwiegend in der Ethnologie verbreitete Konzept der »kulturellen« Konstruktion zielt in erster Linie auf die Frage, wie die herrschenden Körperbilder und Körperpraktiken in einer gegebenen Gesellschaft zentrale kollektive Werte oder Ängste der jeweiligen Kultur zum Ausdruck bringen oder symbolisieren. Damit steht primär die Suche nach inhaltlichen oder bildlichen Entsprechungen und Analogien im Mittelpunkt. Wichtige Impulse verdanken solche Ansätze den einflußreichen Analysen der englischen Kulturanthropologin Mary Douglas.15 Douglas hat eingehend das Wechselverhältnis zwischen Körperbildern und Gesellschaftsstruktur verfolgt, wie es in verschiedenen Kulturen beispielsweise in massiven Ängsten vor einer körperlichen Verunreinigung einerseits und der Angst vor Fremden und Eindringlingen andererseits greifbar wird. Aus unserer eigenen Geschichte kennen wir die vielfältigen Entsprechungen zwischen westlichen Staatstheorien und der Deutung des Körpers als hierarchisch strukturiertes Gebilde, in dem den einzelnen Organen jeweils spezifische Aufgaben im Dienste des Ganzen zugeschrieben werden. Im engeren medizinischen Bereich bieten vor allem die sogenannten »Culture-bound syndromes« oder »kulturgebundenen Syndrome« herausragende Beispiele für die kulturelle Konstruktion von Krankheit. Der Begriff bezeichnet Krankheitsbilder, die sich durch eine typische Verbindung von Beschwerden und/oder Verbaltensauffälligkeiten auszeichnen, die in dieser spezifischen Form mehr oder weniger nur in einer bestimmten Kultur beobachtet werden.16 Bekannte Beispiele sind »Koro«, »Latah«, »El calor«, »Susto« oder »Nervios«, und man hat auch in den westlichen Gesellschaften versucht, beispielsweise die »Anorexia nervosa« oder das »prämenstruelle Syndrom« als ein »Culture-bound syndrome« zu deuten. Wir werden darauf zurückkommen. 17 14 Manche Autoren halten deshalb die Beifügung »sozial« oder »kulturell« für gänzlich verzichtbar. 15 Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt 1981; dies., Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu. Berlin 1985. 16 Überblick und Kritik bei Simons/Hughes. 17 R a y m o n d Prince, The concept of culture-bound syndromes. Anorexia nervosa and brainfag. In: Social science and medicine 21 (1985), 197-203; Caroline Giles Banks, »Culture« in culture-bound syndromes. The case of anorexia nervosa. In: Social science and medicine 34 (1992), 867-884; Mari Rodin, The social construction of premenstrual syndrome. In: Social science and medicine 35 (1992), 49-56; Michael G . Kenny, Latah: the symbolism of a putative mental disorder. In: Culture, medicine and psychiatry 2 (1978), 209-231; Thomas Μ Johnson, Premenstrual syndrome as a Western culture-specific disorder. In: Culture, medicine and psychiatry 11 (1987), 337-356.

Methodische Vorüberlegungen

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Der Begriff der »sozialen« Konstruktion verweist dagegen eher auf die Genese von Bedeutungen, Diskursen und Praktiken unter dem Einfluß spezifischer Machtstrukturen, Ideologien und Partikularinteressen, wie sie sich vorwiegend in komplexeren Gesellschaften nachweisen lassen.18 Insofern die herrschenden Körperbilder einer Kultur stets auch hegemoniale Interessen der jeweiligen Eliten zum Ausdruck bringen, finden sich Ubergänge zur »kulturellen« Konstruktion. Das Augenmerk gilt hier jedoch weit stärker den schriftlichen Produkten der Elitekultur und der Suche nach kausalen Verbindungen zwischen bestimmten Körperbildern und den Interessen und Weltbildern derer, die sie vertreten beziehungsweise der Gesamtheit der Machtstrukturen, innerhalb derer sie Geltung entfalten. Wichtigstes Instrument der sozialkonstruktivistischen Forschung ist die Diskursanalyse im Sinne einer systematischen und womöglich sogar seriellen Untersuchung von Texten und Textbeständen als Repräsentanten des »herrschenden« Diskurses. Einer der einflußreichsten Autoren in der Entwicklung sozialkonstruktivistischer und diskursanalytischer Ansätze im Bereich der Körpergeschichte - und nicht nur dort - war Michel Foucault. In seinen früheren Arbeiten hat er am Beispiel von Krankenhaus, Gefängnis und Irrenhaus die zentrale und in den modernen Staaten überragende Bedeutung des Körpers als Knotenund Zielpunkt gesellschaftlicher und politischer Interessen und als Ansatzund Wirkort von Machtbeziehungen herausgestellt." Führende Vertreter der jüngeren »Körpergeschichte« haben sich auf diese Analysen gestützt.20 Es ist jedoch eine merkwürdig körperlose, ja leibverachtende »Körpergeschichte«, die hier formuliert wird. Die Materialität des Körpers selbst als erfahrener und gelebter Leib gerät fast völlig aus dem Blick. Der Körper erscheint letztlich nur als unveränderlicher, anonymer, meist sogar nur im

18 Entscheidende Anstöße bei Peter L. Berger/Thoraas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt 1977; für die Medizin vgl. P. Wright/A. Treacher (Hg.), The problem of medical knowledge. Examining the social construction of medicine. Edinburgh 1982; M. R. Bury, Social constructionism and the development of medical sociology. In: Sociology of health & illness 8 (1986), 137— 169. 19 Vgl. Michel Foucault, La politique de la sante au XVIIIe siecle. In: ders. u. a., Les machines ä guerir (aux origines de l'höpital moderne. Brüssel/Liege 1979; ders., Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blickes. Frankfurt 1993; ders., Uberwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt 1976; ders., Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. 3. Aufl. Frankfurt 1978. 20 Aus der Fülle einschlägiger Literatur seien hier nur genannt Alphonso Lingis, Foreign bodies. New York/London 1994; David Armstrong, Political anatomy of the body. Medical knowledge in Britain in the twentieth century. Cambridge 1983; s.a. Turner.

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Kollektiv greifbarer, passiv-erleidender Zielpunkt von Herrschaftspraktiken.21 Fruchtbarer für eine Körpergeschichte, die auch den gelebten und lebensweltlich wahrgenommenen und handelnden Körper thematisiert, sind Foucaults spätere Arbeiten zur Geschichte der Sexualität. Hier insistierte er primär auf den vielfach noch wirkmächtigeren Formen einer nicht unmittelbar repressiven Machtausübung durch Sinnangebote, durch Diskurse. Entgegen einem verbreiteten Vorurteil, so seine vielzitierte These, läßt sich insbesondere das Sexuelle in der Geschichte des Abendlandes keineswegs als das ewig Verschwiegene und Verdrängte begreifen. Kennzeichnend sei im Gegenteil das unablässige Gerede, der Diskurs über den Sex. Gerade durch dieses unablässige Gerede würden selbst die privatesten und intimsten Regungen und Gedanken dem Zugriff der »Macht« zugänglich gemacht. In der vordergründigen Attitüde des Enthüllens werde er unentwegt zum Gegenstand eines ausufernden, Wahrheitsproduzierenden Diskurses, der auch vor den unbefangenen sexuellen Regungen des Kindes nicht Halt mache.22 Besondere Verbreitung haben sozialkonstruktivistische Ansätze im allgemeinen - darunter Varianten der Diskurs- und Machtanalyse ä la Foucault - in der Wissens- und Wissenschaftssoziologie gefunden. Von dort aus machen sie ihren Einfluß auch zunehmend in jüngeren Forschungen zur Wissenschafts- und Medizingeschichte geltend.23 Wissenschaftliche Forschung wird hier nicht mehr als privilegierte Form der Suche nach einer »objektiven« Wahrheit begriffen. Sie wird vielmehr in gleicher Weise wie andere Arten der Weltdeutung und Sinngebung als ein gesellschaftliches Unterfangen untersucht, in dem jeweils spezifische Vorannahmen, Werte und Interessen zur Geltung kommen. Die Geschichte von Medizin und Wissenschaft er-

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D e n Vorwurf der »Leibverachtung« hat bekanntlich Nietzsche gegen die idealistische Philosophie seiner Zeit gerichtet; vgl. K o g a k u Arifuku, Der Leib als große Vernunft bei Nietzsche und das Problem des Leibes in der Zen-Theorie Dogens. In: Geschichte und Gegenwart 17 (1998), 156-179. 22 Foucault, Sexualität und Wahrheit. 23 Vgl. Steven Shapin/Simon Schaffer, Leviathan and the air-pump. Hobbes, Boyle, and the experimental life. Princeton 1985; Steven Shapin, A social history of truth. Civility and science in seventeenth-century England. C h i c a g o / L o n d o n 1995;Bruno Latour, Science in action. H o w to follow scientists and engineers through society. Cambridge, Mass. 1987; D a vid J. Hess, Science studies. A n advanced introduction. N e w Y o r k / L o n d o n 1997; Mario Biagioli (Hg.), The science studies reader. N e w Y o r k / L o n d o n 1999. Z u m engeren Bereich der Medizingeschichte s. Jordanova; Jens Lachmund/Gunnar Stollberg, (Hg.), The social construction of illness. Illness and medical knowledge in past and present. Stuttgart 1992; T h o m a s Schlich, Wissenschaft: Die Herstellung wissenschaftlicher Fakten als Thema der Geschichtsforschung. In: Paul/Schlich, 107-129; Philipp Sarasin/Jakob Tanner (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt 1998.

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scheint nicht mehr als ein unaufhaltsamer Prozeß zunehmender Naturerkenntnis und Naturbeherrschung. Statt dessen fragt man nach dem jeweiligen historischen Kontext, der manchen Ansätzen, Theorien oder Techniken zur Durchsetzung verhalf, während andere - darunter manchmal solche, die später als richtig anerkannt wurden - zunächst bedeutungs- und wirkungslos blieben. Von Fall zu Fall ist hier die inhaltliche oder metaphorische Ubereinstimmung einer wissenschaftlichen Neuerung mit herrschenden Interessen und Ideologien als wichtiger Faktor bei ihrer Durchsetzung ebenso in Rechnung zu stellen wie die Strategien der Selbstdarstellung, der Ergebnispräsentation, des »networking«, die solchen Neuerungen zunächst im engeren Raum des Wissenschaftsbetriebs Resonanz verschafften. Sozialkonstruktivistische Untersuchungen haben die herkömmliche medizin- und wissenschaftsgeschichtliche Forschung somit radikal in Frage gestellt und verändert. Gegen den teleologischen Fortschrittspositivismus der älteren Geschichtsschreibung haben sie historisierende, kontextualisierende Positionen gesetzt. Gegenüber einer oft geradezu naiven Glorifizierung der »großen Arzte« und berühmten Wissenschaftler haben sie auf die zentrale Bedeutung von Machtverhältnissen und professionellen Interessen für die wissenschaftliche Entwicklung aufmerksam gemacht. Wenn sie sich - wie meist der Fall - auf die Analyse von sprachlichen Produkten des »herrschenden« Diskurses beschränken, so bleibt ihr Wert für die Untersuchung historischer Körperbilder und Körperpraktiken dennoch beschränkt. Der Blick auf den Diskurs der herrschenden Schichten und ihrer »organischen Intellektuellen« 24 gibt noch keine Aufschlüsse über die Wirkmacht dieses Diskurses in der breiteren Öffentlichkeit, in unterschiedlichen Teilen der Bevölkerung. Solche Wirkmacht wird regelmäßig nur unterstellt, aber nicht durch die Untersuchung von Vermittlungs- und Rezeptionsprozessen belegt.25 Dabei kann der »herrschende« Diskurs durchaus auch zurückgewiesen, ignoriert oder produktiv umgedeutet werden. Wie sich der herrschende Diskurs gar, soweit er überhaupt rezipiert wurde, in die leibliche Wahrnehmung und Erfahrung »einschrieb«, wie er sie prägte und umformte, bleibt hier völlig der spekulierenden Einbildungskraft des Historikers überlassen. Die unzureichende Berücksichtigung des gelebten und erlebten Körpers im Gegensatz zu seiner bloßen sprachlichen »Repräsentation« ist zugleich das zentrale Problem der dritten Spielart von Körpergeschichte, die ich hier, in Ermangelung eines genaueren Begriffes und angesichts ihrer Heterogenität sehr verkürzend, als postmoderne Körpergeschichte bezeichnen möchte. Ihre Vertreter finden sich vor allem in den Literaturwissenschaften und in

24 Vgl. Antonio Gramsci, Quaderni del carcere. Hg. v. V. Gerratana. 4 Bde. Turin 1975. 25 Das gilt beispielsweise auch für Philipp Sarasins ansonsten sehr anregende Analyse des H y gienediskurses im 19. Jahrhundert (Sarasin, Reizbare Maschinen).

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der Philosophie und, das überschneidet sich mit den eben genannten, in Teilen der »cultural« und »gender« studies. Ihre Grundlage sind in erster Linie die Einsichten des »linguistic turn« in ihrer Weiterentwicklung durch die poststrukturalistische Philosophie und Literaturwissenschaft. Der Körper in seiner Materialität gerät hier fast völlig aus dem Blickfeld. Für eine vorgängige biologische Verfaßtheit ist kein Platz mehr. Alles erscheint letztlich als Produkt sprachlicher Darstellungen, und nur was sprachlichen Ausdruck finden kann, so die implizite Grundannahme, ist »wirklich« - was übrigens vielleicht nicht ganz zufällig jene Analysen sprachlicher Artefakte zum Königsweg macht, für die die jeweiligen Mutterdisziplinen, allen voran die Literaturwissenschaft, besondere Kompetenz beanspruchen können. Bekanntestes Beispiel für diesen Typ von Ansatz ist in der jüngeren Körperdiskussion Judith Butler mit ihrer viel diskutierten These, nicht nur »gender« als die gesellschaftlich zugeschriebene Geschlechtsrolle, sondern auch die binäre Auffassung eines männlichen und eines weiblichen »sex« im Sinne eines biologisch vorgegebenen Geschlechts seien bloße Konstruktionen. 26 Gegen solche Tendenzen zu einer Verabsolutierung des Sprachlichen, wie sie auch viele diskursanalytische Untersuchungen kennzeichnet, hat sich in jüngerer Zeit freilich in ganz unterschiedlichen Disziplinen und Forschungszusammenhängen wachsender Widerstand formiert. Der gelebte und erlebte Leib, so die gemeinsame These, ist stets auch, aber nie ausschließlich, kulturelles Produkt.27 Gewiß wird heute kaum noch jemand ernsthaft bestreiten wollen, daß die natürliche, biologische Verfaßtheit des Menschen sich immer nur in vorgegebenen kulturellen und linguistischen Kategorien beschreiben läßt und daß selbst elementare, scheinbar naturgegebene Körperphänomene wie der Schmerz oder die Affekte in hohem Maße kulturell überformt sind. Der Blick zurück, ebenso wie der Vergleich zwischen verschiedenen Kulturen heute, verweist aber zugleich auf grundlegende Gemeinsamkeiten, und die leiblich erfahrene und gelebte Subjektivität geht im Sprachlich-Diskursiven nicht auf.28 Besonders Vertreterinnen der femini26 Vgl. Joan Wallach Scott, Gender and the politics of history. Überarb. Aufl. New York 1999; Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt 1991. 27 Vgl. William M. Reddy, Against constructionism. The historical ethnography of emotions. In: Current anthropology 38 (Juni 1997), 326-351. 28 Auf die Aporien des radikalen Relativismus mancher poststrukturalistischer Ansätze in der Geschichtsschreibung überhaupt ist immer wieder zu Recht hingewiesen worden. Solche Ansätze haben nicht nur weitreichende ethische und politische Implikationen, denn es gibt kein Kriterium mehr, nach dem manche Geschichten plausibler wären als andere. Geschichten, die den Holocaust leugnen ließen sich mit dem gleichen Wahrheitsanspruch erzählen, wie solche, die ihn beschreiben und untersuchen. Gerade in der Auseinandersetzung mit anderen Positionen begeben sich derlei radikale Relativisten auch selbst, im Habermasschen Sinne, in einen performativen Widerspruch: sie wollen ihre Leser oder Zuhörer von der Überlegenheit der eigenen Position überzeugen, deren Legitimität sich doch nach ihren ei-

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stischen Philosophie plädieren in jüngerer Zeit ausdrücklich für eine »Renaturalisierung« des Körpers. 29 Auch von anderer Seite regt sich zunehmende Kritik. Als »bizarr« hat der bekannte »Körp°rsoziologe« Bryan S. Turner die Behauptung bezeichnet, menschliches Tun habe keine organische Basis. Er hat es der Wissenschaft statt dessen zur Aufgabe gemacht, eben jene Verbindung zwischen biologischer Verfaßtheit und sozialer Konstruktion des Körpers zu untersuchen. 30 Für eine angemessene Berücksichtigung der biologischen Aspekte menschlicher Leiblichkeit plädieren auch führende Vertreter der jüngeren Kulturanthropologie. Margaret Lock etwa hat in diesem Zusammenhang den Begriff der »local biologies« geprägt, um das Augenmerk auch auf Faktoren wie Klima oder Ernährung zu lenken, die die lebensweltliche Erfahrung des Körpers und die Konstruktion von Körperidealen nachhaltig beeinflussen können." Im engeren Bereich der Geschichtsschreibung finden sich ähnliche Anzeichen einer wachsenden Skepsis gegen eine einseitige Privilegierung des Sprachlich-Diskursiven und die ausschließliche Konzentration auf das konstruktive Moment in der Erfahrung und Deutung des Körpers. Gegen eine »Flucht vor dem Körper und einen Rückzug in die rationalen Gefilde des Diskurses«, gegen eine Geschlechtergeschichte, die nur von Sprache handelt und »die Körper beiseite läßt«, hat Lyndal Roper schon vor einem Jahrzehnt angeschrieben. 32 Maria Osietzki hat auf die klaren Grenzen hingewiesen, die sprachzentrierte Ansätze dort finden, »wo sich Natürliches und Technisches in einer diskursiv nicht hintergehbaren Wirksamkeit zur Geltung bringen und diskursive Reaktionen veranlassen.« 33 Die vorliegende Untersuchung frühneuzeitlicher Krankheits- und Körpererfahrungen reiht sich in ihren erkenntnistheoretischen Voraussetzungen und in ihrer Methode in solche vermittelnde Tendenzen ein. Sie zielt auf ein Körperverständnis jenseits der Dichotomie eines neoidealistischen, auf Sprachliches fixierten postmodernen Kulturrelativismus auf der einen Seite genen Maßstäben beispielsweise von jener der von ihnen bekämpften biologistischen Ideologien eines radikalen Rassismus oder Misogynismus nicht unterscheidet. 29 Carol Bigwood, Renaturalizing the body (with a little help from Merleau-Ponty). In: Hypatia 6 (1991), H e f t 3, 54-73; Laure Lee D o w n s , If »woman« is just an empty category, then why am I afraid to walk alone at night? Identity politics meets the postmodern subject. In: Comparative studies in society and history 35 (1993), 414—437. 30 Bryan S. Turner, Regulating bodies. Essays in medical sociology. L o n d o n / N e w York 1992, 16f. 31 Margaret Lock, Cultivating the body. Anthropology and epistemologies of bodily practice and knowledge. In: Annual review of anthropology 22 (1993), 133-155. 32 Lyndal Roper, Oedipus and the devil. Witchcraft, sexuality and religion in early modern Europe. L o n d o n / N e w Y o r k 1994,17. 33 Maria Osietzki, Technik und Körper. Kritische Überlegungen zum »linguistic turn« in der Geschichtswissenschaft. In: Blätter für Technikgeschichte 57/58 (1995/96), 99-110.

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und statischer biologischer Kategorien auf der anderen. Sie macht die grundlegende kulturelle und historische Kontextgebundenheit von Leiblichkeit und Körpererfahrung zum Ausgangspunkt und erkennt doch zugleich die leibliche Verfaßtheit des Menschen als gegeben an, nicht zuletzt unter dem Eindruck vielfältiger kulturübergreifender Gemeinsamkeiten. Sie will den Körper als eigen- und widerständiges Agens ernst nehmen und mit ihm die natürliche und künstliche Umwelt, die ihn beeinflußt, auf die er reagiert und die er (mit-)gestaltet, auch wenn wir den Körper und seine Beziehung zur Umwelt nur in unseren jeweiligen historisch-kulturell geformten Kategorien beschreiben können. Diskursanalytische und dekonstruktivistische Ansätze, das sei ausdrücklich hervorgehoben, sind damit keineswegs obsolet. In unserem Zusammenhang verdient vor allem der Diskurs der akademischen Ärzte über den Körper und seine Krankheiten große Aufmerksamkeit. Wir müssen jedoch immer prüfen, ob dieser Diskurs überhaupt in der Bevölkerung wirksam wurde, ob er aufgenommen und nicht einfach ignoriert oder zurückgewiesen wurde und inwieweit die ärztlichen Vorstellungen im Prozeß ihrer Aneignung und praktischen Umsetzung verändert oder umgedeutet wurden. Wir werden sehen, daß die Antwort von Fall zu Fall unterschiedlich ausfallen kann. Die Wahrnehmung und Erfahrung des Körpers und seiner Krankheiten wurden vom zeitgenössischen (und zuweilen auch vom früher herrschenden) ärztlichen Diskurs vielfach geprägt oder entscheidend beeinflußt, aber sie gingen nicht darin auf. Eine zweite methodische Prämisse dieser Arbeit wurde schon angedeutet: die Wahrnehmung und Erfahrung des Körpers in Gesundheit und Krankheit ist nicht identisch mit ihrem sprachlichen Ausdruck. Sie wird auch keineswegs erst durch diesen hervorgebracht oder wirksam. Vielmehr gilt es gerade die problematische Beziehung von Erfahrung und Diskurs selbst zum Gegenstand der historischen Analyse zu machen. Phänomenologische Analysen in unserer eigenen Kultur ebenso wie ethnologische Studien verweisen auf die zentrale Bedeutung vorsprachlicher Elemente und suchen sie in Begriffen wie »Leiblichkeit« oder »embodiment« genauer zu fassen.34 Die Erfahrung der Körpers, so die zentrale Schlußfolgerung, geht ihrer Objektivierung im sprachlichen Ausdruck voraus. Körpererfahrung und Körperwissen, und damit auch der Einfluß von Kultur und Gesellschaft auf diese, werden nicht nur sprachlich-diskursiv vermittelt. Neben der ausdrücklichen sprachlichen Weitergabe von Körper- und Krankheitswissen spielen die scheinbar natürlichen, selbstverständlichen, und doch kulturell erlernten Körperpraktiken oft noch eine viel wichtigere Rolle, die »Techniken des Körpers«, wie Marcel Mauss es in einem berühmten Aufsatz formuliert hat. Schon das kleine Kind lernt durch schlichte Nachahmung, wie man 34

Csordas.

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in seiner jeweiligen Kultur »richtig« geht, läuft, schwimmt, wie man die Finger, die Hand bewegt, in welchen Situationen man den Kopf senkt, wann Tränen kommen dürfen und dergleichen mehr." Soweit herrschendes Körperwissen stets zugleich auch Träger weiterreichender gesellschaftlicher und politischer Werte, N o r m e n oder Interessen ist, können derlei Körperpraktiken diese noch wirksamer transportieren als das gesprochene oder geschriebene Wort des »herrschenden Diskurses«. Der Körper selbst scheint hier zu sprechen. 36

Quellen und Vorgehen Als wichtigste Quellengrundlage dieses Buchs dienen »Patientenbriefe«, eine Quellengattung, auf deren hohen Wert für eine Kulturgeschichte oder historische Anthropologie der Körper- und Krankheitserfahrung ich schon vor etlichen Jahren hingewiesen habe. 37 Sie verdanken ihre Entstehung insbesondere der damals recht verbreiteten Praxis einer brieflichen Ratsuche bei bekannten Koryphäen. 38 Anlaß der Konsultation war meist eine längere Leidensgeschichte und die Unzufriedenheit der Kranken mit dem Erfolg bisheriger Behandlungsversuche. D a der ferne Arzt in der Regel ohne persönlichen Augenschein, allein anhand der brieflichen Schilderung das Wesen der Krankheit erkennen und geeignete Maßnahmen empfehlen sollte, sind die Briefe oft besonders ausführlich und detailliert. Sie machen dem heutigen Leser damit die Krankheitserfahrungen und Krankheitsdeutungen frühneuzeitlicher Laien in einer Dichte und Differenziertheit zugänglich, wie sie andere Quellengattungen nicht annähernd bieten können. Im 18. Jahrhundert mit seiner blühenden Briefkultur konnten derartige Briefe im Einzelfall 30 Seiten und mehr umfassen, und viele Patienten beschrieben nicht nur den gegenwärtigen Zustand. Sie zeichneten auch mehr oder weniger eingehend den gesamten Krankheitsverlauf, ja die Lebensgeschichte nach, mit allen Umständen und Begebenheiten, die auf die Entstehung des gegenwärtigen Leidens eingewirkt haben mochten. In manchen Fällen dokumentieren längere Briefreihen sogar eine jahrelange therapeutische Fernbehandlung und erlauben es, ein Stück weit die Arzt-Patienten-Beziehung unter diesen be35 Marcel Mauss, Body techniques. In: ders., Sociology and psychology. Essays. London 1979, 95-123. 36 Vgl. Bourdieu. 37 Stolberg, Orakel. 38 Guenter B. Risse, Doctor William Cullen, physician, Edinburgh. A consultation practice in the eighteenth century. In: Bulletin of the history of medicine 48 (1974), 338-351. Zahlreiche Konsultationen wurden auf Wunsch der Patienten auch von den behandelnden Ärzten oder Chirurgen vor Ort verfaßt; auf sie werde ich jedoch nur ausnahmsweise zurückgreifen.

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in seiner jeweiligen Kultur »richtig« geht, läuft, schwimmt, wie man die Finger, die Hand bewegt, in welchen Situationen man den Kopf senkt, wann Tränen kommen dürfen und dergleichen mehr." Soweit herrschendes Körperwissen stets zugleich auch Träger weiterreichender gesellschaftlicher und politischer Werte, N o r m e n oder Interessen ist, können derlei Körperpraktiken diese noch wirksamer transportieren als das gesprochene oder geschriebene Wort des »herrschenden Diskurses«. Der Körper selbst scheint hier zu sprechen. 36

Quellen und Vorgehen Als wichtigste Quellengrundlage dieses Buchs dienen »Patientenbriefe«, eine Quellengattung, auf deren hohen Wert für eine Kulturgeschichte oder historische Anthropologie der Körper- und Krankheitserfahrung ich schon vor etlichen Jahren hingewiesen habe. 37 Sie verdanken ihre Entstehung insbesondere der damals recht verbreiteten Praxis einer brieflichen Ratsuche bei bekannten Koryphäen. 38 Anlaß der Konsultation war meist eine längere Leidensgeschichte und die Unzufriedenheit der Kranken mit dem Erfolg bisheriger Behandlungsversuche. D a der ferne Arzt in der Regel ohne persönlichen Augenschein, allein anhand der brieflichen Schilderung das Wesen der Krankheit erkennen und geeignete Maßnahmen empfehlen sollte, sind die Briefe oft besonders ausführlich und detailliert. Sie machen dem heutigen Leser damit die Krankheitserfahrungen und Krankheitsdeutungen frühneuzeitlicher Laien in einer Dichte und Differenziertheit zugänglich, wie sie andere Quellengattungen nicht annähernd bieten können. Im 18. Jahrhundert mit seiner blühenden Briefkultur konnten derartige Briefe im Einzelfall 30 Seiten und mehr umfassen, und viele Patienten beschrieben nicht nur den gegenwärtigen Zustand. Sie zeichneten auch mehr oder weniger eingehend den gesamten Krankheitsverlauf, ja die Lebensgeschichte nach, mit allen Umständen und Begebenheiten, die auf die Entstehung des gegenwärtigen Leidens eingewirkt haben mochten. In manchen Fällen dokumentieren längere Briefreihen sogar eine jahrelange therapeutische Fernbehandlung und erlauben es, ein Stück weit die Arzt-Patienten-Beziehung unter diesen be35 Marcel Mauss, Body techniques. In: ders., Sociology and psychology. Essays. London 1979, 95-123. 36 Vgl. Bourdieu. 37 Stolberg, Orakel. 38 Guenter B. Risse, Doctor William Cullen, physician, Edinburgh. A consultation practice in the eighteenth century. In: Bulletin of the history of medicine 48 (1974), 338-351. Zahlreiche Konsultationen wurden auf Wunsch der Patienten auch von den behandelnden Ärzten oder Chirurgen vor Ort verfaßt; auf sie werde ich jedoch nur ausnahmsweise zurückgreifen.

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sonderen Verhältnissen und aus der Patientenperspektive nachzuzeichnen." Oft aber bricht der (überlieferte) Briefverkehr schon nach wenigen Briefen ab, ja, schon nach der ersten Antwort des Arztes. Für die Analyse der Krankheits- und Körpererfahrung sind freilich gerade die Erstbriefe ohnehin meist die aufschlußreichsten, denn hier pflegte man am ehesten in aller Ausführlichkeit die Krankengeschichte und die gegenwärtigen Beschwerden zu schildern, um ein möglichst umfassendes Bild des Krankheitsgeschehens zu vermitteln. Vielfach schrieben die Kranken persönlich oder bedienten sich allenfalls eines Schreibers. Nur manchmal schalteten sie auch Mittelsleute ein, die mit dem Arzt vertrauter waren und ihn vielleicht eher zu einem Urteil oder womöglich auch zu einem persönlichen Besuch bewegen konnten.40 Daneben schrieben zuweilen auch Angehörige, Freunde, Ortspfarrer oder Vorgesetzte derlei Briefe, sei es auf Bitten und womöglich nach dem Diktat der Patienten, sei es heimlich, hinter deren Rücken. Für unsere Fragestellung sind solche Briefe kaum minder wertvoll. Abgesehen davon, daß sie ohnehin oft sehr detailliert berichten, was die Patienten an subjektiven Empfindungen mitteilten, geben auch sie unmittelbaren Aufschluß über die Auffassungen, die medizinische Laien damals vom Körper und seinen Krankheiten hatten und über die Art und Weise, wie sie mit Krankheit umgingen. Auch im Umgang mit ihrem gewohnten Arzt sahen sich die Kranken gelegentlich veranlaßt, diesen im Krankheitsfall brieflich zu sich zu rufen oder zwischen persönlichen Visiten schriftlich mit ihm in Verbindung zu treten, zumal dann, wenn er nicht am gleichen Ort lebte. Manche Kranke brachten auch Memoranden, Krankenberichte oder gar tagebuchähnliche Aufzeichnungen ihrer Beschwerden zur persönlichen Visite mit, die dem Arzt womöglich ein klareres und umfassenderes Bild vermitteln konnten als ein mündlicher Bericht. Um eine stetige umständliche Aufzählung all dieser Textsorten zu vermeiden, werde ich sie im folgenden in ihrer Gesamtheit verkürzend als »Patientenbriefe« bezeichnen. Drei ungewöhnlich große Sammlungen mit insgesamt rund 2.000 Patientenbriefen stehen im Mittelpunkt meiner Analyse. Die älteste entstammt der umfangreichen Korrespondenz des Paracelsisten und Brandenburgischen Hof- und Leibarztes Leonhard Thurneisser in Berlin.41 Unter den zeitgenös-

39 40

Vgl. Stolberg, Krankheitserfahrung. So etwa SK, Äbtissin Margaretha, Maggenau, 16.8.1616, mit der Bitte an Schobinger um einen persönlichen Besuch bei einer weitere 7 oder 8 Stunden entfernt wohnenden Kranken; vgl. am Beispiel von Tissots Briefpraxis, Micheline Louis-Courvoisier/Severine Pilloud, L e malade et son entourage au X V I I I e siecle. Les mediations dans les consultations epistolaires adressees au D r Tissot. In: Revue medicale de la Suisse romande 120 (2000), 9 3 9 - 9 4 4 .

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T K 99, 420a, 420b, 421a, 421b, 422a, 422b, 423a, 423b, 424, 425, 426.

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sischen Ärzten hatte er einen zwielichtigen Ruf, aber unter Laien erwarb er sich im ausgehenden 16. Jahrhundert mit seinen Geheimmitteln und seinem neuen Verfahren der Harndestillation großes Ansehen, bis in die höchsten höfischen Kreise. 42 Bei der zweiten Sammlung handelt es sich um Patientenbriefe an die Professoren der medizinischen Fakultät in Paris, vor allem an fitienne-Frangois Geoffroy, aus der Zeit etwa zwischen 1715 und 1735. Die dritte ist unter den Papieren des Schweizer Arztes Samuel Auguste Tissot (1728-1797) in Lausanne überliefert und stammt im wesentlichen aus der Zeit zwischen 1765 und 1795." Tissot war einer der bekanntesten Arzte seiner Zeit und einer der meistgelesenen Verfasser von medizinischen Aufklärungsschriften. Sein »Avis au peuple« war ein europäischer Bestseller und auch seine Schriften über die Krankheiten der feinen Leute, über die Gelehrtenkrankheiten und über die Gefahren der Masturbation erschienen in zahlreichen Auflagen. 44 Er war insofern ein besonders naheliegender Adressat. Alle drei Briefsammlungen sind in der medizinhistorischen Forschung seit Jahrzehnten bekannt. 45 Ihr Wert für eine Medizingeschichte aus der Patien-

42 Vgl. Moehsen. 43 In den letzten Jahren haben Medizinhistorikerinnen in Genf und Lausanne, begonnen, die Briefe an Tissot genauer zu erschließen. Dabei wurden die Briefe mit neuen Einzelsignaturen versehen. Da diese Arbeiten erst begannen, als meine Quellenanalyse abgeschlossen, erste Teilergebnisse bereits veröffentlicht (Stolberg, Orakel) und auch Teile dieses Buchs bereits verfaßt waren, habe ich darauf verzichtet, diese Signaturen nachträglich aufzunehmen. Die neuen Signaturen erlauben nun eine völlig eindeutige Zuordnung, auch bei anonymen Briefen. Die meisten Briefe lassen sich in dem Bestand aber auch mit Hilfe einer chronologisch geordneten alten Findliste mit den dortigen Angaben zum Datum und zu Name, Alter und Geschlecht des Kranken, des Verfassers oder des Übermittlers („intermediaire«) leicht identifizieren. 44 Tissot, Anleitung; ders., De la sante des gens de lettres. 3. Aufl. Lausanne 1775; ders., L'onanisme; ders., Essai sur les maladies des gens du monde. 3. Aufl. Paris 1771; vgl. Charles Eynard, Essai sur la vie de Tissot. Lausanne 1839; Antoinette Emch-Deriaz, Tissot: physician of the Enlightenment. New York u.a. 1992; zum Kontext: Vincent Barras/Micheline Courvoisier (Hg.), La medecine des lumieres: tout autour de Tissot. Chene-Bourg 2001. 45 Moehsen, 15; Ulinka Rublack hat kürzlich auf einzelne Thurneisser-Briefe zurückgegriffen und zu Recht die körpergeschichtliche Relevanz dieser Quelle hervorgehoben (U. Rublack, Körper, Geschlecht und Gefühl in der Frühen Neuzeit. In: Münch, »Erfahrung«, 99-105); Delaunay, 35; Laurence W. B. Brockliss, Consultation by letter in early eighteenth-century Paris. The medical practice of fitienne-Fran^ois Geoffroy. In: Ann F. LaBerge (Hg.), French medical culture in the nineteenth century. Amsterdam 1994, 79-117; Emch-Deriaz (wie Anm. 44), 48; ein Patientenbrief von Napoleon Bonaparte von 1787 hat schon die Aufmerksamkeit von Charles Eynard geweckt (Eynard, wie Anm. 44, 238-241); Daniel Teysseire hat ein besonders ausführliches Dossier aus dem Tissotschen Quellenbestand herausgegeben und kommentiert, in dem allerdings vor allem Ärzte zu Wort kommen (Daniel Teysseire, Obese et impuissant. Le dossier medical d'Elie-de-Beaumont 1765-1776. Grenoble 1995).

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tenperspektive und für die Rekonstruktion der Körper- und Krankheitserfahrung medizinischer Laien wurde jedoch verkannt.46 Eine weitere, besonders umfangreiche Sammlung habe ich nur zum Teil benutzt, nämlich die Briefe an Samuel Hahnemann, den Begründer der Homöopathie, und seine Frau Melanie aus den 1830er Jahren.47 Im Gegensatz zu dem vollständig gesichteten, aber deutlich kleineren Bestand an französischen Briefen,48 habe ich die tausendenden deutschsprachigen Briefen nur sondierend untersucht, Erstbriefe hauptsächlich und vor allem im Hinblick auf mögliche langfristige Veränderungen bis ins 19. Jahrhundert. Ergänzend habe ich eine ganze Reihe weiterer, kleinerer Briefsammlungen herangezogen. Erwähnt seien insbesondere die Briefe an Daniel Horst in Frankfurt und Sebastian Schobinger in St. Gallen aus dem 17. Jahrhundert und aus dem 18. Jahrhundert die Patientenbriefe, die Friedrich Hoffmann in seiner zwölfbändigen »Medicina consultatoria« veröffentlicht hat,49 sowie die Patientenbriefe an Albrecht von Haller in Bern.50 Damit ist zugleich der geographische und zeitliche Rahmen dieser Untersuchung abgesteckt. Sie behandelt im wesentlichen den Zeitraum von der Mitte des 16. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert, und sie konzentriert sich primär auf den 46 Die Antworten des konsultierten Arztes sind nur im Falle Geoffroys und Hoffmanns nahezu vollständig überliefert. Für Tissot können wir nur ausnahmsweise auf den vollständigen Antwortbrief zurückgreifen, aber in vielen Fällen sind immerhin kurze handschriftliche Notizen Tissots zu Diagnose und Therapie auf dem Patientenbrief überliefert. Sie dienten möglicherweise Tissots Sekretär als Grundlage, um den ausführlichen Antwortbrief abzufassen (Emch-Deriaz (wie Anm. 44), 48), vielleicht waren sie auch nur eine Gedächtnisstütze, so wie die Praxisjournale, die manche Ärzte führten. Auch die Antworten Thurneissers und Hahnemanns sind nur vereinzelt zugänglich, als Briefkonzepte oder, wenn der Patient sie aufbewahrte, in anderen Quellenbeständen. 47 НА В und C; vgl. Jörg Meyer, »... als wollte mein alter Zufall mich jetzt wieder unter kriegen.« Die Patientenbriefe an Samuel Hahnemann im Homöopathie-Archiv des Instituts für Geschichte der Medizin in Stuttgart. In: Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung 3 (1984), 63-79; Walter Nachtmann, Les malades face ä Hahnemann (d'apres leur correspondance juin-octobre 1832). In: Olivier Faure (Hg.), Praticiens, patients et militants de Phomeopathie aux XIXe et XXe siecles (1800-1940). Lyon 1992, 139-153. 48 Н А С . 49 An der Echtheit der Briefe besteht wenig Zweifel. Da Hoffmann aber vermutlich nur einen kleinen Teil der an ihn gerichteten Brief im Original veröffentlichte, ist eine gezielte Auswahl zu vermuten. Ebenfalls auf die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts konzentrieren sich die an Lorenz Heister und andere Ärzte gerichteten Patientenbriefe aus dem Trew-Nachlaß in Erlangen. Sie habe ich nur punktuell herangezogen, denn Marion M. Reusinger, Erlangen, bearbeitet diese Briefe derzeit im Rahmen eines Habilitationsprojekts (vgl. dies., Auf Messers schneide: Patientenperspektiven aus der chirurgischen Praxis Lorenz Heisters (16831758). In: Medizinhistorisches Journal 36 (2001), 309-333). 50 Vgl. Hildegard Tanner, Medizinische Konsultationsschreiben aus Albrecht von Hallers Briefsammlung 1750-1775. Inventar und Analyse. Diss. med. Bern 1994.

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deutsch- und französischsprachigen Raum; Quellen aus England, Italien und den Niederlanden habe ich nur punktuell und ohne Anspruch auf Vollständigkeit herangezogen.51 Eine wertvolle Ergänzung zu den Patientenbriefen bieten andere Selbstzeugnisse, Autobiographien vor allem und vereinzelt auch Tagebücher und edierte private Briefwechsel. Uber hundert solcher Publikationen wurden auf einschlägige Äußerungen hin durchgesehen.52 Die Nachteile dieser Art von Quelle sind offensichtlich. Krankheiten kommen hier in der Regel viel seltener und knapper zur Sprache als in den Patientenbriefen; Frauen kommen nur ausnahmsweise zu Wort. Autobiographien wurden zudem oft aus großer zeitlicher Distanz verfaßt und waren in der Regel für die Lektüre durch andere bestimmt. Elemente der Selbstdarstellung und retrospektiven Neugestaltung der eigenen Lebensgeschichte sind hier stets besonders stark zu gewärtigen. Dafür erfahren wir allerdings mehr über die persönliche Lebensgeschichte und die Lebensverhältnisse der Verfasser.53 Die außergewöhnlich breite Quellengrundlage erlaubte es, auch gezielt nach nationalen Unterschieden und nach Veränderungen im Zeitverlauf zu suchen. Im Laufe der Untersuchung zeigte sich allerdings, daß geographische Unterschiede eine erstaunlich geringe Rolle spielten. Die medikale Kultur der gebildeteren Schichten im deutsch- und französischsprachigen Raum erwies sich über weite Strecken als grenzübergreifend. Ausnahmen - wie die Bewertung des Scharbocks und die unterschiedliche Rezeption des neuen Modells der Nervenkrankheiten - werde ich ausdrücklich hervorheben.54 Auch langfristige Veränderungen in der lebensweltlichen Wahrnehmung und Deutung von Krankheiten sind im Untersuchungszeitraum nur bedingt zu erkennen - in deutlichem Gegensatz zu den Erklärungsmodellen und Theorien der Arzte. Vielfach werde ich deshalb Patientenäußerungen des 16. oder 17. Jahrhunderts neben solche aus dem 18. oder gar frühen 19. Jahrhundert stellen. Nur an einzelnen Punkten finden sich markante Veränderungen in der zeitgenössischen Krankheitswahrnehmung und -deutung, ja in den unmittelbaren körperlichen Empfindungen der Kranken. Zwei von

51 Sloane; Jurin; Heurne; AS Bologna, Studio. 52 Für die deutschsprachigen Texte des 16. und 17. Jahrhunderts hat diese Durchsicht großteils Frau Brigitte Berger unternommen. 53 Vgl. die Studie von Gabriele Jancke, Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts. Köln im deutschsprachigen Raum. Köln 2002. 54 Die frühneuzeitliche Medikalkultur in England weist dagegen mancherlei Besonderheiten auf, von der andersartigen Struktur des Gesundheitsmarkts bis zur Intensität puritanischer Seelenschau; vgl. die ausführliche Darstellung in Porter/Porter, Patient's progress; dies., In sickness; Wear, Puritan perceptions; Beier McCray.

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ihnen stehen im Mittelpunkt des dritten Hauptteils, nämlich der Aufstieg der Nervenleiden und die wachsende Sorge vor Samenverlusten. Die größte Schwierigkeit für den Versuch, frühneuzeitliche Krankheitsund Körpererfahrungen anhand von Patientenbriefen und anderen schriftlichen Selbstzeugnissen zu rekonstruieren, ist zweifellos deren Selektivität. Solche Quellen bilden im wesentlichen nur die Auffassungen und Erfahrungen jener gebildeteren Mittel- und Oberschichten ab, die lesen und schreiben konnten. Zwar finden sich vor allem im 18. Jahrhundert in den Patientenbriefen auch viele Vertreter einfacher bürgerlicher Berufe, und orthographische Besonderheiten verweisen zuweilen auf eine sehr beschränkte formale Bildung.55 Aber Studenten, Landgeistliche, Soldaten, Händler und besser gestellte Handwerker bilden im wesentlichen die soziale Untergrenze. Uber die Wahrnehmungen und Erfahrungen der großen Masse insbesondere der ländlichen Bevölkerung können nur andere Quellen Aufschluß geben, und das oft nur mittelbar, mit den Augen von gebildeten Zeitgenossen. Nützliche Hinweise bieten im Frankreich des frühen 18. Jahrhunderts Verhörprotokolle zur Bestätigung oder Uberprüfung angeblicher Wunderheilungen.56 Die Genesenen selbst, ihre Bekannten und Verwandten und die zunächst behandelnden Chirurgen oder Ärzte berichteten hier eingehend über den Beginn der Krankheit, ihren langen und meist sehr schweren Verlauf und die vielfältigen, letztlich vergeblichen Heilungsversuche, bis beispielsweise das Gebet am Grab des Monsieur de Paris endlich die ersehnte Heilung brachte, wie auch die befragten Chirurgen oder Ärzte wiederholt bestätigten. Bei solcher Gelegenheit kamen auch Dienstmägde, Krankenwärterinnen und andere Mitglieder der Unterschichten und vor allem Handwerker und deren Frauen zu Wort. Selbstverständlich hat diese Quellengattung ihre eigenen Probleme. Neben der Verhörsituation und der Verschriftlichung der Aussage durch dritte ist dies vor allem der Wunsch, die Mitwelt von der Echtheit des Heilungsgeschehens zu überzeugen, denn derlei Wunder waren

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Die Rechtschreibung war damals noch nicht so vereinheitlicht wie heute. Französische Schreibweisen wie »frecheur« (statt »fraicheur«), »oguementer« (statt »augmenter«) oder gar »aiguesaquetement« (statt »exactement«) lassen aber ein Schreiben nach dem Gehör vermuten und waren auch damals schon höchst ungewöhnlich.

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L e miracle opere dans la nouvelle Hemorrhoi'sse par Jesus-Christ present dans la Sainte Eucharistie ä Paris le 31. M a y 1725. Ohne O r t 1726; Anne L e Franc, Relation de la maladie que j'ai eüe pendant pres de 28 ans, et dont j'ai ete guerie par l'intercession du Bienheureux Francois de Paris Diacre. In: Dissertation sur les miracles. [Paris] 1731, 33-39; Recueil des miracles; Second recueil; Recueil des pieces; Pieces justificatives du miracle arrive a Moisy en la personne de Louise Tremasse veuve Mercier. In: Reflexions importantes sur le miracle arrive au mois d'octobre dernier au Bourg de Moisy en Beauce, Diocese de Blis, en la personne de Louise Tremasse Veuve Mercier. O h n e O r t 1738 (eigene Seitenzählung).

Quellen und Vorgehen

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damals Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen.57 Da jedoch in aller Regel nicht die Diagnose oder das krankhafte körperliche Geschehen als solches zur Debatte standen, sondern das angebliche Heilungsgeschehen, können die Verhöre durchaus wertvolle Aufschlüsse geben über die impliziten Annahmen und Bilder vom Körper und seinen Krankheiten. Einzelne Aspekte der Körper- und Krankheitserfahrung breiterer, weniger gebildeter Bevölkerungskreise werden auch in den Protokollen von Strafverfahren und Gerichtsprozessen greifbar. Uber weibliche Körpererfahrungen etwa geben Prozesse wegen des Verdachts auf Abtreibung oder Kindsmord vielfältige Aufschlüsse, wenn auch oft unsicher bleibt, inwieweit die betroffenen, meist ledigen Frauen für die breite Bevölkerung repräsentativ waren.58 Besonders wertvoll sind auch die Dokumente und Verhörprotokolle aus Verfahren gegen angebliche Kurpfuscher, die freilich nur vereinzelt überliefert sind.5' Ansonsten sind wir im Hinblick auf die breite, vorwiegend ländliche Bevölkerung vor allem auf die Schilderungen gebildeterer Zeitgenossen angewiesen, allen voran der Arzte. Arztliche Fallgeschichten und Konsilien sind hier insbesondere zu nennen, ein Genre, auf das Barbara Duden ihre erwähnte Studie über das Körper- und Krankheitserleben der Patientinnen des Eisenacher Arztes Johann Storch gegründet hat.60 Für die Zeit ab 1800 werde ich zudem auf Hunderte von überwiegend handschriftlichen medizinischen Volksbeschreibungen oder Ethnographien zurückgreifen, in denen zeitgenössische Ärzte aus einer oft jähre- und jahrzehntelangen Ortskenntnis heraus detaillierte Einblicke in die medizinischen Auffassungen, Praktiken und Vorlieben der breiten Bevölkerung gaben.61 Angesichts des vergleichsweise langsamen Wandels der ländlichen Medikalkultur, den diese

57

Zu den Hintergründen vgl. Jean-Claude Pie, Anne Charlier, un miracle eucharistique dans le faubourg Saint-Antoine. In: Jacques Gelis/Odile Redon (Hg.), Les miracles miroirs des corps. Saint Denis 1983, 1 6 1 - 1 9 0 ; Eliane Gabert-Boche, Les miracules du cimetiere SaintMedard ä Paris ( 1 7 2 7 - 1 7 3 5 ) . Ebd., 1 2 7 - 1 5 7 ; Ulrike Krampl, »Par ordre des convulsions«. Überlegungen zu Jansenismus, Schriftlichkeit und Geschlecht im Paris des 18. Jahrhunderts. In: Historische Anthropologie 6 (1998), 3 3 - 6 2 ; Daniel Vidal, Miracles et convulsions jansenistes au X V I I I e siecle. L a maladie et sa connaissance. Paris 1987.

58

Ulinka Rublack, Pregnancy, childbirth and the female body in early modern Germany. In: Past & present 150 (1996), 84—110; Eva Labouvie, Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt. Köln 1998.

59

H S t A Stuttgart A 213; AS Bologna, Studio 3 3 9 - 3 5 1 enthält etliche Fälle von Auseinandersetzungen um medizinische Honorare, teilweise mit kurzen Stellungnamen oder Verhörsprotokollen der Beteiligten; vgl. Pomata.

60

Storch; s. a. Eberhard Gockel, Consilia medicinales: decades sex. Augsburg 1683; Clacius; Johann A . Fischer, Consilia medica. Frankfurt 1705.

61

C g m 6874; StA München, Hist. Verein, Ms. 401; StA Bamberg K 3 F I I I 1481.

28

Quellen und Vorgehen

Volksbeschreibungen ziemlich einhellig belegen, läßt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit unterstellen, daß die dort geschilderten Vorstellungen und Praktiken im wesentlichen auch im 18. Jahrhundert, wenn nicht noch früher, die Erfahrung von Krankheit und Körper bestimmten. All dies kann und soll nicht verdecken, daß Kranke aus Bürgertum und Adel in der vorliegenden Untersuchung deutlich besser vertreten sind, aber ärztliche Fallgeschichten, Krankenhausjournale und dergleichen, die von Kranken aus den unteren Schichten handeln, diese aber kaum oder gar nicht zu Wort kommen lassen, bieten keinen angemessenen Ersatz für Selbstzeugnisse. Im übrigen besteht in der jüngeren historischen Forschung weitgehende Übereinstimmung, daß die Grenzen zwischen »Elitekultur« und »Volkskultur« - soweit wir über diese Aufschluß erlangen können - in der Frühen Neuzeit ohnehin weitaus fließender und durchlässiger waren, als lange Zeit vermutet. Die Versuch, eine eigenständige »Volkskultur« abzugrenzen, mag zuweilen für analytische Zwecke sinnvoll sein, aber der Alltag war von vielfältigen Prozessen der Assimilation und Transformation von Wissensbeständen und Praktiken geprägt, von Wechselbeziehungen und Austauschprozessen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. 62 Das gilt auch und gerade für den Bereich der Heilkunde." Es gibt bisher keine schlüssigen Hinweise, daß sich die medikale Kultur der Unterschichten in der Frühen Neuzeit von jener der höheren Schichten grundsätzlich unterschieden hätte.64 Mit einer wichtigen Ausnahme: sympathetische, magische und volksfromme Konzepte und Behandlungsverfahren verloren unter den Gebildeteren im 18. Jahrhundert stark an Bedeutung und kommen in den damaligen Selbstzeugnissen nur ganz vereinzelt zur Sprache. In der ländlichen Bevölkerung aber durchdrangen sie dagegen noch im 19. Jahrhundert das medizinische Weltbild und prägten vielfach die medizinische Alltagspraxis. Ein Wort noch zum Umgang mit den Quellen. Die Arbeit mit Briefen und ähnlichen privaten Selbstzeugnissen ist für den Historiker faszinierend.

62

Roger Chartier, Volkskultur und Gelehrtenkultur. Überprüfung einer Zweiteilung und einer Periodisierung. In: Epochenschwelle und Epochenstrukturen im Diskurs der Literaturund Sprachhistorie. H g . v. Hans U . Gumbrecht/Ursula Link-Heer. Frankfurt 1985, 3 7 6 390. 63 Vgl. Michael Stolberg, Probleme und Perspektiven einer Geschichte der Volksmedizin. In: Thomas Schnalke/Claudia Wiesemann (Hg.), D i e Grenzen des Anderen. Medizingeschichte aus postmoderner Perspektive. Wien 1998, 49-73; Eberhard Wolff, »Volksmedizin« als historisches Konstrukt. Laienvorstellungen über die Ursachen der Pockenkrankheit im frühen 19. Jahrhundert und deren Verhältnis zu Erklärungsweisen in der akademischen Medizin. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7 (1996), 405-430. 64 Für das frühneuzeitliche Frankreich kommen Brockliss/Jones denn auch zu dem Schluß, man könne »a basically unitary medical universe« unterstellen (S. 283).

Quellen und Vorgehen

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Hier, so scheint es, sprechen die Menschen früherer Epochen uns fast unmittelbar an. Sie eröffnen uns tiefe Einblicke in ihre persönlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen, in ihre Beziehungen, in ihre alltägliche Lebenswelt. Diese Faszination ist willkommener Antrieb zu einer langjährigen historischen Beschäftigung insbesondere mit archivalisch überlieferten Quellen, deren Lektüre angesichts der ständig wechselnden und teilweise nachlässigen Handschrift viel Zeit und Mühe erfordert. Die vermeintliche Klarheit und Nachvollziehbarkeit persönlicher Schilderungen aus früheren Epochen erweist sich aber immer wieder auch als trügerisch. Ganz besonders in der Analyse vergangener Krankheits- und Körpererfahrungen kann vor den Gefahren einer unreflektierten, anachronistischen Lesart kaum nachdrücklich genug gewarnt werden. Die Wahrnehmung von Krankheit und Körper ist stets zutiefst gesellschaftlich, kulturell geprägt. Selbst scheinbar elementare körperliche Phänomene wie Schmerz, Lust oder das Bewußtsein der eigenen körperlichen Grenzen sind, das zeigen soziologische und kulturanthropologische Untersuchungen, hochgradig kulturell überformt - ganz zu schweigen von den jeweiligen Körpermodellen und der Deutung komplexerer Krankheitserscheinungen. Weil aber die zeitgenössischen Schilderungen körperlicher Phänomene beim heutigen Leser fast zwangsläufig erst durch den weitgehend unbewußten Vergleich mit den eigenen körperlichen Sensationen begreiflich werden, ist die Gefahr von Mißverständnissen groß. Wenn Kranke damals über Durchfall, Schmerzen oder Jucken klagten, so scheinen ihre Beschwerden heutigen Leserinnen ohne weiteres nachvollziehbar. Sie »wissen« in aller Regel aus eigener körperlicher Erfahrung, wie es sich anfühlt, wenn der Bauch sich schmerzhaft verkrampft, der Schädel pocht oder ein Mückenstich unwiderstehlich zum Kratzen verführt. Es ist aber durchaus möglich, ja sogar recht wahrscheinlich, daß sich der Durchfall, die Schmerzen, das Jucken der Zeitgenossen, jenseits aller individuellen Unterschiede, auf einer ganz elementaren, körperlichen Ebene anders »anfühlten«, daß sie also nicht nur anders gedeutet, sondern bereits anders wahrgenommen wurden. Leider stößt unsere Sprache immer wieder auf schier unüberwindliche Grenzen, wenn es darum geht, derartige Unterschiede zu bezeichnen. Am ehesten noch wird diese historische Kontingenz scheinbar universaler Körperempfindungen dort greifbar, wo die Kranken körperliche Empfindungen beschreiben, die wir so heute in unserer westlichen Kultur nicht mehr kennen: etwa das Aufsteigen einer kugelförmigen Masse aus dem Bauchraum bei der »Hysterie«, das merkliche Einströmen von Dämpfen oder »Vapores« ins Gehirn oder das »Rieseln« grober Verunreinigungen in den Blutgefäßen. Letztlich bleibt nur das Bemühen, uns dieser unhintergehbaren kulturellen und biographischen Geprägtheit der eigenen Körpererfahrung wenigstens so weit wie möglich bewußt zu sein, die wir zwangsläufig einsetzen, um den Schilderungen leiblicher Befindlichkeit

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Quellen und Vorgehen

aus anderen Kulturen Sinn zu verleihen, sie zu »verstehen«, als Verfasser historischer oder ethnologischer Werke ebenso wie als deren Leser.65 Ein verwandtes methodisches Problem hat spezieller mit der Arbeit an Patientenbriefen zu tun. Auch innerhalb ein und derselben Kultur bieten selbst die scheinbar spontansten privaten Äußerungen keinen unmittelbaren, unverfälschten Zugang zum Erleben und zur Erfahrung anderer Menschen. Die Begrenztheit des sprachlichen Ausdrucksvermögens reduziert das sprachlich Mitteilbare zuweilen in fast unerträglicher Weise. Zudem wählen wir stets bewußt oder unbewußt aus, was wir anderen mitteilen. Dies gilt auch, ja ganz besonders für die Mitteilung körperlicher und seelischer Befindlichkeit. Im Rahmen meiner Fragestellung machen sich solche Auswahlprozesse nicht nur nachteilig bemerkbar. Was die Kranken für mitteilenswert halten und was nicht, eröffnet entscheidende Aufschlüsse über ihre jeweiligen Vorstellungen vom Körper und seinen Krankheiten. Auch geben unverkennbare Tendenzen zur Selbststilisierung etwa in der Beschreibung ihres wirklich einzigartigen, auf eine ganz ungewöhnliche, hochkomplexe körperliche und geistige Konstitution verweisenden Krankheitsbilds zuweilen wichtige Hinweise darauf, daß vermutlich auch die Krankheit selbst zugleich als Signal und Appell zu verstehen war. Andererseits orientieren sich Briefe unvermeidlich auch am Adressaten. Die Verfasser von Patientenbriefen wußten, daß sie sich an einen akademisch gebildeten Arzt wandten, womöglich gar an einen hochberühmten. Sie hatten eine gewisse Vorstellung von dem, was dieser von ihnen erwartete. Und sie hatten gute Gründe, diesen Erwartungen zunächst einmal nach Möglichkeit zu entsprechen. Sie traten ja gewissermaßen als Bittsteller auf, wissend, daß der Arzt eine Antwort oder gar den gewünschten Besuch

65

Bei mir persönlich hat sicherlich meine ursprüngliche medizinische Ausbildung und Tätigkeit Spuren hinterlassen. Die teilweise längst schon wieder vergessenen diagnostischen und therapeutischen Fertigkeiten spielen dabei nur eine nebensächliche Rolle; sie erleichtern allenfalls Mutmaßungen, wie heutige Arzte vergleichbare Krankheitserscheinungen wohl benennen würden. D o c h schärft die berufsmäßige Begegnung mit Schwerkranken und Sterbenden gegenüber sprach- und diskurszentrierten Ansätzen sicherlich den Blick für die vorsprachlichen, präobjektiven Aspekte leiblicher Erfahrung und läßt die Rede v o m » K ö r per als Text« von vornherein zur bloßen Metapher werden. Zudem verdanke ich mehrmonatigen Aufenthalten in indischen und südafrikanischen Krankenhäusern intensive Begegnungen mit Kranken aus anderen Kulturkreisen, die mich eindrucksvoll lehrten, wie grundlegend sich Kulturen in der Wahrnehmung und Deutung von Krankheit und Körper unterscheiden und welche Synkretismen, aber auch Konflikte aus ihrer Begegnung entstehen können. Ich denke etwa an jenen indischen Tuberkulosekranken, der mir stolz seine Röntgenaufnahme zeigte, in der Gewißheit, man habe seine Krankheit auf diese gebannt, oder auch an den entsetzten Blick von Zulu-Müttern, deren krankem Kind die Krankenschwester ein schützendes Amulett als »störend" vom Hals schnitt, und es so, in den Augen der Mutter, schutzlos den bösen Mächten überließ.

Q u e l l e n und Vorgehen

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durchaus verweigern konnte. U n d sie wollten, daß er ihre Darstellung auch wirklich genau las, eingehende Überlegungen anstellte und ihnen trotz seiner mutmaßlichen Arbeitsüberlastung möglichst bald half - eine Bitte, die ihre Briefe immer wieder abschließt. Das Bemühen, den mutmaßlichen Wünschen und Erwartungen des konsultierten Arztes nach Möglichkeit entgegenzukommen, wird vielfach bereits formal erkennbar. Schon in der Thurneisser-Korrespondenz, und weit mehr noch in den durchschnittlich längeren Briefen des ausgehenden 18. Jahrhunderts ergingen sich die Briefschreiber häufig in weitschweifigen Bekundungen der Wertschätzung. Tissot insbesondere wurde immer wieder als europäische Berühmtheit gepriesen, zu Recht bekannt für seine überragenden Kenntnisse wie für seine Humanität - die, so liest man zuweilen nicht nur zwischen den Zeilen, zweifellos auch dem persönlichen Anliegen der Betreffenden seine Aufmerksamkeit sichern werde. Darüber hinaus bemühten sich viele Briefschreiber auch ganz offensichtlich um eine gewisse logische Anordnung ihrer Darstellung, auch wenn ihnen diese oft nicht so recht gelingen wollte, so daß sich manche letztlich doch veranlaßt sahen, für ihre wirre Darstellungsweise um Entschuldigung zu bitten. Tatsächlich erreichten nur wenige die geschulte Systematik und Kürze einer ärztlichen Konsultation. So manchem Brief folgte vielmehr noch ein Postscriptum, mit dem vergessenen, aber doch für unverzichtbar gehaltenen Hinweis etwa auf einen vermehrten Durchfall nach Einnahme der Arznei oder auf eine schlechte Verträglichkeit von Ziegenmilch. Das Bemühen um eine geordnete, schlüssige Darstellung bleibt dennoch unverkennbar. Vereinzelt strukturierten Tissots Patienten ihre Darstellung sogar nach einem Fragenkatalog, den Tissot seiner berühmten (und vor allem von den gebildeten Schichten rezipierten) »Anleitung für das Landvolk« beigefügt hatte, damit die Kranken dem Arzt die Urteilsfindung erleichtern konnten. 66 Vor allem aber diente das Genre der ärztlichen Konsultation als Modell und Vorbild, wie man sie aus Büchern oder aus eigener Erfahrung im Familien- und Freundeskreis kannte. In manchen Fällen ging dies soweit, daß die Kranken ihren eigenen Fall als »Memorandum« und ohne Namensnennung in der dritten Person schilderten. Im 18. Jahrhundert

66 Tissot, Anleitung, 678-682; ich habe große Zweifel an dem Versuch von Frederic Sardet, aus der Tatsache, daß die allermeisten Patienten sich nicht an Tissots Fragenkatalog hielten, gleich auf deren Widerstand gegen eine tendenziell »von der monadologischen Vorstellung geprägten Philosophie des Subjekts« zu schließen, wie sie Tissots Katalog angeblich repräsentierte; viele Kranke hatten Tissots Anleitung vermutlich gar nicht gelesen, schon gar nicht in der entsprechend erweiterten Auflage; und selbst wenn sie den Katalog kannten, dürften sie ihn vielfach schlichtweg als zu einengend erlebt haben, denn sie waren es gewohnt, dem Arzt ihre Geschichten nach eigenem Gutdünken zu erzählen (vgl. F. Sardet, Briefe in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient im 18. Jahrhundert. Annäherung an das Subjekt. In: Greyerz u. a., 231-258).

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Quellen und Vorgehen

setzten manche an die Stelle von Formulierungen wie »der Kranke« oder »die Patientin« sogar anonymisierende Namenskürzel wie »Madame X X X « oder Pseudonyme wie »Titius«, wie sie in ärztlichen Schreiben oft verwendet wurden. Den Historiker stellt dies zuweilen vor erhebliche Probleme. Den Namen der Betreffenden kann er in der Regel einem handschriftlichen Vermerk des betreffenden Arztes oder seines Sekretärs entnehmen. Sein starker Verdacht aber, es handle sich auch hier eigentlich um ein Selbstzeugnis, bleibt in vielen Fällen unbeweisbar. Mancherlei Hinweise, wie die lockerere Strukturierung, gegebenenfalls auch eine starke affektive Tönung der Darstellung, die höchst unkonventionelle Schreibweise von Fachbegriffen, und die fehlende - bei ärztlichen Konsultationen aber übliche - Unterschrift lassen zwar oft kaum Zweifel, aber nur manchmal waren die Kranken der Anstrengung einer solchen Distanzierung von der eigenen leiblichen Erfahrung letztlich doch nicht gewachsen. Sie gingen im Laufe ihres Briefs, ja im Einzelfall schon im ersten Satz, unvermittelt von der dritten zur ersten Person über und schrieben auf einmal doch ausdrücklich von sich selbst, ihrem eigenen Bauch, ihren eigenen Schmerzen, so wie die weit überwiegende Mehrzahl der Kranken dies von vornherein tat. Das Ausmaß, in dem die Anpassung an die mutmaßlichen Erwartungen des Arztes die Schilderungen der Kranken bestimmte und, im Vergleich zu ihrer persönlichen, subjektiven Wahrnehmung, ein Stück weit »verfälschten«, läßt sich vor diesem Hintergrund im Einzelfall nur vermuten. Als Quelle für die Verbreitung magischer und volksfrommer Verfahren oder den Gebrauch von Geheimmitteln in den höheren Ständen im 18. Jahrhundert sind die Briefe beispielsweise schwerlich geeignet. Wenn solche nur gelegentlich erwähnt werden, könnte das prinzipiell einfach daran liegen, daß die Kranken wußten, daß aufgeklärte Arzte in der Regel sehr wenig von solchen Verfahren und Mitteln hielten. Nur der ergänzende Blick auf andere Selbstzeugnisse kann dann belegen, daß solche Praktiken in diesen Schichten offenbar tatsächlich nicht mehr sehr verbreitet waren. Bei Männern - und dies ist einer der auffälligsten Unterschiede im Vergleich zu den Frauen - fällt zudem eine im Durchschnitt weit stärkere Zurückhaltung in der affektiven, gefühlsbetonten Gestaltung ihrer Darstellung auf. Während manche Frauen in den schillerndsten Farben ihre grausamen Schmerzen, das unerträgliche Ziehen im Bauch und dergleichen schilderten, pflegten die meisten Männer - es gab bemerkenswerte Ausnahmen - einen wesentlich nüchterneren Ton. Rückblikkend läßt sich schwer entscheiden, ob solche affektive Zurückhaltung, an deren Stelle zuweilen eine detaillierte, ja pedantische Aufzählung von Symptomen tritt, einem grundlegend anderen Körper- und Krankheitserleben der Männer entsprach, oder ob Männer vielleicht nur Scheu hatten, im brieflichen Verkehr mit einer berühmten Koryphäe gegen anerkannte Normen männlicher Gelassenheit und Tapferkeit zu verstoßen.

TEIL 1 K R A N K S E I N IM A L L T A G Die Sorge um sich In früheren Zeiten, so kann man immer wieder lesen, hätten sich die Menschen weitaus weniger Gedanken um ihre Gesundheit gemacht als heute. Gottvertrauen oder Fatalismus hätten ihre Haltung bestimmt. Erst die Aufklärung, die Moderne habe »Gesundheit« zum höchsten Wert erhoben. Hinter solchen Thesen steht die richtige Einsicht, daß »Gesundheit« eine historisch gewachsene und veränderliche Kategorie ist. Die Rede vom herrschenden Fatalismus früherer Generationen in Gesundheitsdingen aber ist eine Mär, entstanden und genährt nicht zuletzt aus einer anachronistischen Bewertung der gesellschaftlichen und alltagspraktischen Funktionen vormoderner Heilkunde. Zweifellos war der zeitliche Horizont der meisten Menschen im frühneuzeitlichen Europa ein anderer als heute. Das Vertrauen auf ein Leben nach dem Tode war stärker als in den heutigen westlichen Gesellschaften. Dieses Vertrauen mochte helfen, der eigenen Hinfälligkeit und Sterblichkeit und jener der Angehörigen und Freunde ein wenig gelassener zu begegnen. Immerhin erwartete diese hoffentlich ein besseres Leben im Jenseits. Viel alltäglicher als heute war freilich auch die schmerzliche Erfahrung der Ohnmacht aller medizinischer Bemühungen. Das galt selbst bei Krankheiten im besten Erwachsenenalter, ganz zu schweigen von der hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit, die vielerorts bei 20 bis 25 % lag, mit Spitzen über 50 % . Für das Vertrauen, daß Krankheit beherrschbar war, daß Gesundheit machbar war, waren das keine guten Voraussetzungen. Dennoch ist die Überzeugung, daß »vns auff dieser Welt nichts liebers ist, als gesunder Leib«' keine Erfindung der Moderne. Wenn »Gesundheit« als Gegenstand politischen Handelns und als Wirtschaftsfaktor in den modernen Industrie-

1

Martin Pansa, Köstlicher vnd heilsamer Extract der gantzen Artzneykunst. Leipzig 1618, 2.

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Teil 1: Kranksein im Alltag

Staaten sehr an Bedeutung gewonnen hat,2 dann hat das viel mit der Entwicklung des modernen Staatswesens zu tun, aber nur wenig mit einer veränderten privaten und kollektiven Wertschätzung von »Gesundheit«. Selbst mittelalterliche Mönche, puritanische Geistliche oder deutsche Pietisten verbanden eine tief empfundene Frömmigkeit mit intensiven weltlichen Bemühungen, sich gegen Krankheiten und ihre Folgen zu schützen. 3 Gesundheitsratgeber gehörten seit dem Beginn des Buchdrucks zu den erfolgreichsten literarischen Genres überhaupt. Werke wie Luigi Cornaros »Discorsi della la vita sobria« oder Leonardus Lessius »Kunst lang zu leben« waren Bestseller und machten ihre Verfasser in ganz Europa bekannt. 4 Zahlreiche medizinische Aufklärungsschriften und Pestpamphlete verbreiteten die Grundregeln der überkommenen Diätetik, mit der Mäßigung als medizinischer Kardinaltugend, ganz zu schweigen von den diversen Spezialdiätetiken beispielsweise für Gelehrte, Hofleute oder Schwangere. 5

2

Alfons Labisch, Homo hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit. Frankfurt/ New York 1992.

3

Melitta Weiss Adamson, Medieval dietetics. Food and drink in regimen sanitatis literature from 800 to 1400. Frankfurt 1995; Beier McCray; Wear, Puritan perceptions. Luigi Cornaro, Discorsi della vita sobria. Mailand 1627; Leonardus Lessius, Kunst lang zu leben. Augsburg 1697; vgl. Klaus Bergdolt, Leib und Seele. Eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens. München 1999; Böning; Karel Danek, Uebersicht der Geschichte der Gesundheitserziehung und der Gesundheitsführung. Vortrag an der medizinischen Fakultät in Rostock am 28. September 1965 (masch.schr.); Weiss Adamson (wie Anm. 3). P. Sarasins These, der von ihm untersuchte moderne Hygienediskurs sei eine Erfindung der Aufklärung und eng mit damaligen Prozessen der Individualisierung verbunden, läßt die Fülle einschlägiger Äußerungen und Schriften in den vorgegangenen Jahrhunderten fast völlig außer Acht. Der Glaube, »dass es der oder die Einzelne weitgehend selbst in der Hand habe, über Gesundheit, Krankheit oder gar den Zeitpunkt des Todes zu bestimmen« (Sarasin, 19) war 1765 alles andere als neu. Wie wir sehen werden, war die auch von Sarasin erwähnte antike Lehre von den sechs »res non-naturales« schon während der vorangehenden Jahrhunderte nicht nur ein Grundpfeiler der ärztlichen Medizin, sondern auch in der medikalen Laienkultur der höheren Schichten weit verbreitet und begründete den Glauben an weitreichende Möglichkeiten einer Kontrolle und Beherrschung gesundheitlicher Gefährdungen. Seine Feststellung, daß diese Lehre vor der Aufklärung eine ganz andere Qualität hatte, weil sie von »religiösen und astronomischen Diskursregeln überformt wurde« (ebd., 36), wird weder der damals weitgehend als unproblematisch erlebten parallelen Geltungskraft unterschiedlicher (insbesondere religiöser und innerweltlicher) Kausalitätsebenen gerecht, noch trägt sie dem massiven Bedeutungsverlust astrologischer Auffassungen seit dem 16. Jahrhundert Rechnung. Zu Recht hat vielmehr Christian Kiening schon für das 16. Jahrhundert auf eine »für die frühneuzeitlichen Körperdiskurse wichtige Subjektivierung und Individualisierung« hingewiesen (Chr. Kiening, Der Körper des Humanisten. In: Zeitschr. für Germanistik, N. F. 2 (1998), 301-316). Richtig ist Sarasins Hinweis, daß die vormoderne Diätetik fast ausschließlich ein Phänomen der höheren Schichten war, aber das gilt auch für die Diätetik der Aufklärung und allem Anschein nach auch für den Hygienediskurs des 19. Jahrhunderts. Dieser zielte zwar insbesondere in Zeiten der Cholera auch auf die Unterschichten. Seine tatsächliche Wirkkraft aber bleibt hier mehr als fraglich.

4

5

Die Sorge um sich

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Erst recht wäre es falsch, das verbreitete Vertrauen etwa in Aderlaß, Amulette oder Heilsegen als Ausdruck von »Fatalismus« zu deuten. Die Meinung, daß man deren Wirkungslosigkeit, ja Schädlichkeit, gewiß habe erkennen müssen, 6 ist schlichtweg falsch und anachronistisch. Wie wir im folgenden immer wieder sehen werden, waren die Menschen damals vielmehr davon überzeugt, daß solche Mittel und Verfahren Krankheiten wirksam verhüten oder beseitigen konnten, auch wenn sie womöglich von Fall zu Fall ganz unterschiedlichen Heilern und Heilverfahren den Vorzug gaben. U n d diese Uberzeugung wurde in der alltäglichen Erfahrung immer wieder erneut bestätigt. Zahlreiche Patienten berichteten in diesem Sinne, wie es ihnen deutlich besser ging nach einer Behandlung, der wir heute nur schwerlich eine günstige Wirkung zuschreiben würden. Quälende Schmerzen verschwanden schon nach wenigen Bädern nahezu vollständig. Einem einzigen Aderlaß folgte die lange erhoffte, seit Monaten »unterdrückte« Monatsblutung. Wir mögen die Besserung rückblickend auf eine bloße »Placebo«-Wirkung oder auf den natürlichen Verlauf zurückführen - der ist bekanntlich bei vielen Krankheiten letztlich günstig, mit oder ohne medizinische Hilfe. Für die Betroffenen und ihre Umgebung aber waren solche günstigen Verläufe ein Beweis, daß die Medizin gewirkt hatte, und sie zeigten zugleich, daß der Mensch das Krankheitsgeschehen beeinflussen und beherrschen konnte. Selbstverständlich erlebte man nicht selten auch, daß alle therapeutischen Bemühungen scheiterten. Aber die zeitgenössische medizinische Praxis war noch nicht im gleichen Maße vereinheitlicht wie heute. Therapeutisches Scheitern ließ sich stets auch durch die Wahl des falschen Heilers oder der falschen Behandlung erklären. Die grundsätzliche Wirksamkeit der verfügbaren Behandlungsverfahren stand damit noch lange nicht in Frage. 7

6 7

So beispielsweise Edward Shorter, The history of the doctor-patient relationship. In: Bynum/Porter, 783-800, hier S. 787. Ausführlicher hierzu Michael Stolberg, Die wundersame Heilkraft von Abführmitteln. Erfolg und Scheitern vormoderner Krankheitsbehandlung aus der Patientensicht. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 22 (2003) [im Druck]; »The system must, that is, have worked«, konstatiert im gleichen Sinne Charles Ε. Rosenberg (Ch. Ε. Rosenberg, The therapeutic revolution. Medicine, meaning, and social change in nineteenth-century America. In: ders./Morris J. Vogel (Hg.), The therapeutic revolution. Essays in the social history of American medicine. Pittsburgh 1979, 3-25, hier S. 5); zum wachsenden Interesse der neueren Kulturanthropologie an den Gründen für die Wirksamkeit der Behandlungsverfahren anderer Kulturen, die den Krankheitsverlauf nach den Maßstäben der modernen westlichen Medizin nicht kausal beeinflussen können, vgl. Thomas J. Csordas/Arthur Kleinman, The therapeutic process. In: Carolyn F. Sargent/Thomas M. Johnson (Hg.), H a n d b o o k of medical anthropology. Contemporary theory and method. 2. Aufl. Westport, Conn./London 1996, 3-20.

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Teil 1: Kranksein im Alltag

Dieses Vertrauen erstreckte sich nicht minder auf die vielfältigen Formen heilkundlichen Handelns, die üblicherweise mit Begriffen wie »Magie« oder »Sympathieheilung« umschrieben werden. Die Zuflucht zu Amuletten, Gichtzetteln und Fraisenketten, zu Segenssprüchen und sympathetischen Ritualen, zu Wallfahrten und Gelübden war in der ländlichen Bevölkerungsmehrheit Frankreichs wie Deutschlands noch im 19. Jahrhundert recht verbreitet.8 Solche Praktiken lassen sich nicht sinnvoll als Ausdruck von Fatalismus und Resignation deuten, wie das die zeitgenössischen Arzte meist getan haben, und mit ihnen Generationen von Medizinhistorikern. Diese Praktiken hatten sich nach allgemeiner Uberzeugung vielfach als wirksam bewährt. Sie dienten dem gleichen Ziel wie andere heilkundliche Bemühungen, nämlich Krankheit zu verhindern oder zu heilen. Und sie waren wie diese in vielen Fällen von einer deutlichen Besserung oder vollständigen Genesung gefolgt. Die Gesundheit, so läßt sich zusammenfassend feststellen, war auch im 16. Jahrhundert schon einer der höchsten Werte, und die Sorge um die Gesundheit begründete zahlreiche Formen heilkundlichen Handelns. Allenfalls mag der relative Stellenwert von »Gesundheit« unter den Gebildeten des 17. und 18. Jahrhunderts in dem Maße weiter gewachsen sein, in dem religiöse Begründungen an Bedeutung verloren. Wenn im 18. Jahrhundert die »heraufziehende Krise der Metaphysik«, wie Rudolf Behrens und Roland Galle formuliert haben, »in der Suprematie des Körpers ihr deutlichstes - und gegenstrebiges Pendant« fand,9 dann stärkte das zwangsläufig auch die Bedeutung des gesunden Körpers als Fundament der Selbst- und Seinsgewißheit.

Krankheit und Selbst Krankheit, zumal chronische oder lebensbedrohliche Krankheit, ist eine Herausforderung. Das gilt damals wie heute und über alle nationalen und kulturellen Grenzen hinweg. Krankheit, das haben Vertreter der phänomenologischen Philosophie ebenso wie heutige Medizinsoziologen zu Recht hervorgehoben, stellt Selbstverständliches in Frage. Das leibliche Selbst, das im gewöhnlichen, unreflektierten Alltagsvollzug als ungeteilt und ganzheitlich erlebt wird, droht zu zerbrechen, zu zerfallen in jenen Körper (oder je8

9

Judith Devlin, The superstitious mind. French peasants and the supernatural in the nineteenth century. New Haven/London 1987, 43-71; Michael Stolberg, »Volksfromme« Heilpraktiken und medikale Alltagskultur im Bayern des 19. Jahrhunderts. In: Michael Simon (unter Mitarbeit von Monika Kania-Schütz) (Hg.), Auf der Suche nach Heil und Heilung. Religiöse Aspekte der medikalen Alltagskultur. Dresden 2001, 155-173. Rudolf Behrens/Roland Galle (Hg.), Leib-Zeichen. Körperbilder, Rhetorik und Anthropologie im 18. Jahrhundert. Würzburg 1998, Vorwort der Hg., 7.

Krankheit und Selbst

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nen schmerzenden, leidenden Körperteil), den ich habe, und das erlebende Ich, dem dieser Körper oder ein Teil von ihm als fremder, ja feindlicher Gegenspieler entgegentritt. 10 Ungewohnte oder gar quälende körperliche Empfindungen stellen sich ein, vertraute Verrichtungen nehmen nicht mehr ihren gewohnten Lauf, scheinbar selbstverständliche Fähigkeiten gehen verloren, und selbst das eigene Denken scheint in manchen Fällen fremdbestimmt, beherrscht von Stimmungen und Gegenständen, die sich wie von außen eingeflößt in den Gedanken festsetzen und sich nicht wegdrängen lassen wollen. Schwere Krankheit läßt zugleich auch den tiefverwurzelten Glauben an die eigene Unverletzlichkeit zerbrechen, der es den meisten Menschen ermöglicht zu leben, ohne unablässig von Ängsten erfüllt zu sein ob der vielfältigen Gefahren, die unserem Leben von einem Augenblick auf den anderen ein Ende bereiten könnten. U n d indem sie mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert, verschiebt schwere Krankheit auch den subjektiven Zeithorizont. Der drohende Tod, nicht die Verwirklichung privater oder beruflicher Wünsche und Ambitionen wird zum zentralen Fluchtpunkt. Damit führt schwere Krankheit zugleich ein trennendes Moment in das Verhältnis zu den Mitmenschen ein. HIV-Infizierte und AIDS-Kranke wissen schmerzlich davon zu berichten. Die Mitmenschen scheinen in einer anderen, einer heileren Welt zu leben. Die Kranken aber sind von ihnen wie durch eine unsichtbare Wand getrennt. Vor allem wenn sie starke Schmerzen leiden, machen Kranke gar die Erfahrung, daß sie ihre Empfindungen nur unzureichend in Worte fassen und anderen vermitteln können, weil sich niemand vorstellen kann, wie chronischer Schmerz die ganze Person, die ganze Existenz zu durchdringen vermag, wenn er oder sie ihn nicht selbst erlebt." Solche Erfahrungen des Zerbrechens einer bisher scheinbar selbstverständlichen, vorsprachlichen leiblichen Einheit scheinen auch in den Selbstzeugnissen von Kranken aus der Frühen Neuzeit immer wieder auf. Viele Kranke beschrieben sich als buchstäblich nicht mehr sie selbst. Wie zerschlagen fühlten sie sich, matt, lustlos, müde, »krank wie ein Hund« 1 2 oder »baufellig«, wie man im 16. und 17. Jahrhundert sagte.' 3 Der Appetit

10 Vgl. Michael Bury, Chronic illness as biographical disruption. In: Sociology of health and illness 4 (1982), 167-182; Kathy Charmaz, Loss of self: a fundamental form of suffering in the chronically ill. In: Ebd. 5 (1983), 168-195; Good, 124-128; in Gesellschaften, die Krankheiten primär als ein kollektives, die ganze Gemeinschaft bedrohendes Geschehen begreifen, verortet sich der Bruch allerdings unter Umständen primär im sozialen Zusammenleben. 11 Vgl. Elaine Scarry, The body in pain. The making and unmaking of the world. New York/ Oxford 1985. 12 FT, Mme de Nomis, Turin 16.4.1785. 13 So Khevenhüller, 302; Staiger, 271.

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Teil 1: Kranksein im Alltag

schwand, man mußte sich ins Bett legen, der Schlaf verschaffte keine Erholung mehr. »Ich wußte nicht mehr, ob ich einen Körper hatte«, schrieb die von Fieber und Krämpfen geschwächte Mme de Guyon. 14 Bei jahrelangen, chronischen Leiden, wie wir sie in den Patientenbriefen besonders häufig finden, überschattete die Krankheit immer wieder die gesamte Existenz. Sie wurde zur »Qual«, zum »Unglück« ihres Lebens.15 Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung machten sich da breit. Er liebe das Leben, bekannte der hessische Oberst von Jungken, doch lieber wolle er einen raschen Tod, als »mich Tag für Tag derart langsam und elendig dahinsterben zu sehen.«16 Alles würde er geben, erklärte ein magenkranker und kinderloser Straßburger Rittmeister, um von seinem Leiden befreit zu werden, denn »es vergiftet meine Existenz«.17 Von Weinkrämpfen geschüttelt wurde eine 36jährige Patientin Tissots mit einem verhärteten Tumor der Gebärmutter.18 »Ich war die ganze Zeit wie ein Mensch, der am Ertrinken ist und der keinen Strohhalm sieht, den er für stark genug hält um sich daran festzuhalten«, beschrieb eine andere Patientin rückblickend ihre Hoffnungslosigkeit. Sich selbst »zur Last« sei sie geworden.19 »Ich kann nicht mehr leben,« meinte der hypochondrische Sig. Piazza gar in lakonischer Kürze.20 In der Krankheit wurde freilich nicht nur der eigene Körper ein Stück weit als Gegenüber erfahren. Auch die Krankheit selbst wurde von vielen Kranken als etwas Eigenständiges, Fremdes, vom leiblichen Selbst Getrenntes beschrieben. Medizintheoretisch spricht man in diesem Zusammenhang von einer »ontologischen« Krankheitsauffassung, im Gegensatz zu einer »physiologischen« Auffassung von Krankheit als gradueller Abweichung von einem gesunden Idealzustand, beispielsweise einem Gleichgewicht von heiß und kalt.21 Bezeichnend sind schon die Begriffe, derer sich die Kranken und ihre Angehörigen vielfach bedienten; teilweise sind sie heute noch gebräuchlich. In der Sprache der Patientenbriefe war Krankheit etwas, mit dem man »beladen« oder »beschwert« wurde, das einen »hatte«, »packte«, »ergriff«, »überkam«, »zwickte« oder »affizierte«. Ja, die Krankheit oder 14 Guyon, 350. 15 FT, Hartmann, 22.5.1792; FT, Leutnant Roussany, 10.6.1774. 16 FT, von Jungken, 24.1.1772; fast vier Jahre später war er immer noch in Tissots Behandlung (FT, ders., 18.11.1775). 17 FT, Chev. de Peyrelongue, Straßburg 7.9.1785. 18 FT, Mme Herrmann, eine Dame aus Vienne betr., 21.5.1790. 19 FT, Mme A. C. de Konauw, 26.1.1773; fast die gleichen Worte gebrauchte die melancholische Julie de l'Espinasse (HK, De l'Espinasse, 4.10.1762): »je suis souvent ä charge a moi т ё т е et а mon domestique.« 20 FT, Sig. Piazza, 18.9.1781 (ital.). 21 Vgl. Oswei Temkin, The scientific approach to disease: specific entity and individual sickness. In: ders., The double face of Janus and other essays in the history of medicine. Baltimore/London 1977, 441^155.

Krankheit und Selbst

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der Krankheitsstoff war ein »Feind«, der »zuschlug«, »heimsuchte«, »angriff« oder »attackierte«, wie es unzählige Male hieß. Sie »fiel ein«, »schlich sich ein«, »erklärte sich«, einem Geheimagenten gleich, nachdem sie schon im Körper Fuß gefaßt hatte, oder erwies sich als »rebellisch«. Solch kriegerischer, kämpferischer Begrifflichkeit entsprechend, erbaten die Kranken ihrerseits vom Arzt geeignete Waffen, um die Krankheit »siegreich anzugreifen«, sie zu »bekriegen«, zu »vernichten«. Weitaus seltener wurde die Krankheit dagegen mit Hilfe des Verbs »sein« als ein Zustand beschrieben. »Ich war krank«, »ich bin fiebrig« oder »ich bin wassersüchtig« hieß es da. Daneben standen vergleichbare Formulierungen, die Krankheit als einen »Fall« oder »Sturz« beschrieben, etwa die Klage, daß man »in Kranckeit gefallen« sei.22 Die gelungene Behandlung mußte den derart »Gefallenen« folgerichtig wieder »herausziehen«. Ähnlicher Ausdruck eines solchen Verständnisses von Krankheit als abgrenzbarer, dem Körper fremder Wesenheit ist auch das ausgeprägte Bedürfnis nach einer Zuordnung der Beschwerden zu einem bestimmten Krankheitsbegriff. Das Krankheitsvokabular zeitgenössischer medizinischer Laien war recht breit und differenziert. Schon eine Liste der gebräuchlichsten Begriffe umfaßt eine ganze Reihe von Krankheiten wie Apoplex, Nervenleiden, Epilepsie, Manie, Hysterie, Hypochondrie, Pocken, Keuchhusten, Masern, Krätze, Tertiana, Gelbsucht, Gallenfieber, Nervenfieber, Quartana, Asthma, Scharbock, Aphthen, Chlorosis, Schwindsucht, Katarrh, Gonorrhoe, Ausfluß, Syphilis, Pleuresie, Rotlauf, Panaritium, Scirrhus, Krebs, Rheumatismus, Gicht, Ischias und grauer Star. Hinzu kamen zahlreiche weitere Begriffe, die nur hie und da einmal verwendet wurden, darunter auch lateinisch-griechische wie »arthritis vaga«, die man vermutlich aus ärztlichem Mund kannte. Manche Krankheitsbegriffe verwiesen nach heutigem Verständnis nicht auf eine »Krankheit«, sondern eher auf ein bestimmtes, herausragendes »Symptom«, das aus moderner medizinischer Sicht bei ganz verschiedenen Krankheiten auftreten kann. Im zeitgenössischen Verständnis aber waren Leiden wie »Wassersucht« oder »Schwindsucht« ebenso wie »Krebs« oder »Tertiana« abgrenzbare Krankheiten mit einem charakteristischen Beschwerdebild und einem mehr oder weniger regelhaften natürlichen Verlauf. Manche Patienten verwiesen denn auch umgekehrt ausdrücklich auf das Fehlen eines bestimmten Symptoms, »wie es Kranke dieser Art gewöhnlich haben,«23 um eine bestimmte Diagnose auszuschließen. Man hat die Rolle einer solchen »ontologischen« Krankheitsauffassung in der vormodernen Medizin immer wieder bestritten und statt dessen ein individualisierendes, gleichsam physiologisches Krankheitsmodell behaup22 23

TK 421b, 205r, »Ursula«, ca. 1577. FT, Μ Gochuat, Bischoffsheim 1.11.1785.

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Teil 1: Kranksein im Alltag

tet, demzufolge Krankheit nur eine graduelle, mehr oder weniger starke Abweichung von einem gesunden Idealzustand war. Für orthodoxe galenische Ärzte des 16. und frühen 17. Jahrhunderts trifft das auch ein Stück weit zu. Ihre Krankheitsbehandlung zielte manchmal noch primär darauf, einen Überschuß an Schleim oder Galle zu beseitigen. Schon die mittelalterlichen Lehrbücher zur medizinischen Praxis waren aber vielfach nach einzelnen, abgegrenzten Krankheiten geordnet, und auch zahlreiche Arzneibücher empfahlen einzelne Mittel jeweils gegen bestimmte Krankheiten. Was die Patientenperspektive angeht, so wird jedenfalls schon in Patientenbriefen und Selbstzeugnissen des 16. Jahrhunderts die überragende Bedeutung einer ontologischen Krankheitsauffassung für das Krankheitserleben der Laien allenthalben greifbar. Man litt an Krebs, an Gonorrhoe, am Scharbock, am Faulfieber, oder zumindest ging die Krankheit auf einen spezifischen Krankheitsstoff zurück. Man konnte folgerichtig auch die »gleiche Krankheit« haben wie andere Kranke aus dem Bekannten- oder Verwandtenkreis. Die Tendenz zu einer Objektivierung und Entpersönlichung von Krankheit, wie sie heute vielfach als ein zentrales Defizit der modernen Medizin beklagt wird, hat somit womöglich viel ältere Wurzeln. Sie spiegelt vielleicht sogar ein sehr tief verankertes Bedürfnis nach der Abspaltung von Krankheit und Selbst, die die Integrität des Selbst unangetastet läßt und die Krankheit zum eigenständigen und damit auch gezielt zu bekämpfenden oder auszutreibenden Gegenüber macht.24 Ahnlich wie heute noch in zahlreichen nicht-westlichen Kulturen, wurde Krankheit oft sogar ganz konkret mit spezifischen, identifizierbaren Krankheitsstoffen oder Krankheitswesen assoziiert, die im Körperinneren ihr Unwesen trieben. Teilweise traten sie auch sichtbar zu Tage, beim verbreiteten Wurmbefall etwa oder, spektakulären Berichten zufolge, in Form von Fröschen, Kröten, Schlangen und dergleichen.25 Alte Rezeptbücher gaben entsprechende Ratschläge, »vor den Hertzwurm« etwa, oder »Wan einem Menschen ein Wurm in dem Ohr ist«, oder »So einem ein Schlangh ins Leib gekrochenn.«26 Wir werden auf diese Vorstellungen von eigenständigen Krankheitswesen weiter unten im Detail eingehen. Soviel sei aber schon an dieser Stelle vorweggenommen: zahlreiche Kranke schilderten damals in diesem Sinne »Säfte«, »Flüsse«, »Schärfen«, »Krankheitsstoffe«, aber auch »Schmerzen«, »Gichter« oder »Rheumatismen« so, als hätten diese ein aus24

25 26

S. a. Dietlinde Goltz, Krankheit und Sprache. In: Sudhoffs Archiv 53 (1969), 225-269, hier S. 233-238; E. J. Cassell, Disease as an »it«: Concepts of disease revealed by patients' presentation of symptoms. In: Social science and medicine 10 (1976), 143-146. Gillian Bennett, B o s o m serpents and alimentary amphibians. A language for sickness. In: Illness and healing alternatives in Western Europe. L o n d o n 1997, 224-242. Rijksarchief Utrecht, Ms. 2200, medizin. Rezeptbuch, 1604, 50r-v; ebd., Ms. 2201, 24r und 51v.

Krankheit und Selbst

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geprägtes Eigenleben, ja einen eigenen, feindseligen Willen.27 Das Gift möge »gans und gar dodet werdden«, wünschte sich einer von Thurneissers Patienten ob seiner »groth Beswer vnd Wedage [Wehtage]«. 28 Wenn man Krebsgeschwüre mit Menstrualblut benetze, so heißt es in einem Rezeptbuch von 1604, dann tue es einen halben Tag lang sehr weh, »ehe der Kriebs [sie] stirbt.« 29 Die große Beharrungskraft der »entleerenden« Behandlungsverfahren wie Aderlaß, Abführmittel und Brechmittel ist vermutlich auch im Licht einer solchen engen Assoziation von Krankheit und Krankheitswesen oder Krankheitsstoff zu sehen.30 Diese Verfahren galten nicht nur empirisch als vielfach bewährt. Sie entsprachen zugleich der verbreiteten Erfahrung von Krankheit als etwas Fremdem, wenn nicht gar »Angetanem«. So gesehen sind auch wiederum die Grenzen zwischen der purgierenden, reinigenden Wirkung von Abführmitteln und dem Exorzismus übelgesonnener Dämonen letztlich fließend. Auch für andere Behandlungsverfahren stellte sich die Erklärung der Beschwerden als Teil einer abgrenzbaren, benennbaren Krankheitseinheit vielfach als Voraussetzung dar. Den Schilderungen der Ärzte zufolge wollte die Landbevölkerung des frühen 19. Jahrhunderts oft sogar an erster Stelle den Namen ihrer Krankheit wissen, als verleihe allein die Benennung der Krankheit bereits eine geradezu magische Macht über diese. Die Rede von dem »Kraut«, das gegen eine bestimmte Krankheit gewachsen ist - oder auch nicht - , ist uns heute noch vertraut. Im Blick auf damals ist sie durchaus wörtlich zu verstehen. Es gab bestimmte, voneinander abgrenzbare Krankheiten und bestimmte Mittel, die Gott oder Natur zu ihrer Heilung bereitstellten. Manchmal gaben sich diese spezifischen Heilkräfte nach dem Prinzip der sogenannten »Signaturenlehre« schon im äußeren Erscheinungsbild zu erkennen: eine Blume, deren Blüte einer Leber ähnlich sah, ließ eine entsprechende Heilkraft bei Leberkrankheiten vermuten. In anderen Fällen galt die Heilkraft als empirisch, durch die Erfahrung bestätigt. Die bekanntesten Beispiele sind das Guajak-Holz, das im 16. Jahrhundert als spezifisches Heilmittel gegen die Syphilis Furore machte, und die Chinarinde als Mittel gegen das Fieber. Ahnlich beliebt waren die künstlich, im Labor hergestellte »Spezifika« gegen bestimmte Krankheiten, wie sie vor allem aus der alchemistischen und paracelsistischen Uberlieferung und aus lokalen

27 28 29 30

Ähnlich Jütte, Ärzte, 124f. TK 420b, 112r-113v, N. N. (unleserl. Name). Rijksarchief Utrecht Ms. 2200, 54r. Zur überragenden Bedeutung der Entleerung auch in anderen Kulturen vgl. J. B. Loudon, On body products. In: John Blacking (Hg.), The anthropology of the body. London 1977, 161-178.

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Traditionen der Destillierung von Schnaps aus Kräutern und anderen pflanzlichen Rohstoffen hervorgingen. 31 Ein wichtiger Unterschied zu den heute vorherrschenden Krankheitskonzepten ist allerdings die verbreitete Vorstellung, daß sich eine Krankheit in eine andere »verwandeln« konnte, eine Verwandlungsfähigkeit, wie sie damals auch vielen anderen Naturdingen nachgesagt wurde. Das hing wieder unmittelbar zusammen mit der zentralen Rolle, die widernatürlichen Säften oder Feuchtigkeiten bei der Entstehung von Krankheiten zugeschrieben wurde. Da diese Krankheitsstoffe an unterschiedlichen Orten des Körpers auch unterschiedliche Wirkungen entfalten konnten und zudem die innere Wärme oder auch die Natur oder die Medikamente des Arztes die spezifische Natur dieser Krankheitsmaterien verändern konnten, war auch ein Ubergang von einer Krankheit in eine andere leicht denkbar. Die Krankheit des Abts Erhardus beispielsweise begann 1574 mit blutigem Urin. Dieser habe sich in einen »Blutfluß aus der Nasen« »verwandelt«, »dadurch wier in hohe Schwacheit vnd Schwindel des Heuptes gefallen«. Als dieser zum Stillstand kam, habe sich seine »Schwachheit« wiederum in eine »harte Schwulst« »vorwandelt«, so daß ihm der Leib seit acht Wochen ganz geschwollen und aufgelaufen sei.32 Auch zahlreiche Patienten des 18. Jahrhunderts berichteten in diesem Sinne, wie bestimmte Beschwerden immer dann verschwanden, wenn andere Beschwerden an einem anderen Ort auftraten, oder wie sich Krankheiten von einem Körperteil auf einen anderen »warfen«.

Schmerzerfahrung Schmerzen oder »Wehtage« waren ein zentrales, prägendes Element frühneuzeitlicher Krankheitserfahrung. 33 Die Worte und Bilder, derer sich die Kranken bedienten, vermitteln einen Eindruck von der subjektiv empfundenen Unerträglichkeit, der Grausamkeit und Gewalttätigkeit ihrer Schmerzen. Manche begnügten sich damit, ihre Schmerzen als »schrecklich«, »grauenvoll«, »unerträglich« oder »unsäglich« zu beschreiben. Die meisten aber versuchten dem fernen Arzt genauere Aufschlüsse zu geben, ihm auch einen Eindruck von der spezifischen Qualität und Intensität ihrer Pein zu vermit31 Vgl. Probst. 32 TK 420b, Abt Erhardus 16.12.[1574], 33 Die Geschichte der subjektiven Schmerzfahrung ist noch weitgehend unerforscht; zu den ärztlichen Schmerztheorien vgl. Daniel de Moulin, A historical-phenomenological study of bodily pain in Western man. In: Bulletin of the history of medicine 48 (1974), 540-570; Ronald D. Mann (Hg.), The history of the management of pain. From early principles to present practice. Carnforth/Park Ridge, N. J. 1988.

Schmerzerfahrung

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teln. Er habe »solch gros Schneiden vnd Reyssen in meinem Leibe«, klagte beispielsweise Valten von Schaplo, »vnd tzeyget mir den Leib zusamen, das ich mich so nicht wol vff richten kann«. Seit Wochen müßten Frau und Gesinde zusehen, »wie ich mich quellen [quälen] mus«.34 Tag und Nacht habe sie geweint und geschrieen, berichtete die hüftleidende Maria Elisabeth Stampfer." Der Schmerz erscheint dabei vielfach als körperfremder Eindringling, ja wie ein eigenständiges willensbegabtes Krankheitswesen, das sich auf das ein oder andere Körperteil »warf« oder nach oben oder nach unten »herabstieg« oder im Rücken »lief«. Diese analoge Eigenbeweglichkeit von Krankheit und Schmerzen verweist teilweise auch auf eine ursächliche Beziehung: die wichtigste Ursache für (nicht-traumatische) Schmerzen waren nach Einschätzung von Ärzten und Laien gleichermaßen bewegliche Krankheitsstoffe, insbesondere die sogenannten »Flüsse«, auf die wir noch ausführlich zu sprechen kommen werden. Vereinzelt empfanden die Kranken ihre Schmerzen gar so, als tue ihnen ein tierähnliches Wesen in ihrem Inneren Gewalt an. Als wenn man ihm das Zwerchfell zerreiße, fühlten sich die Schmerzen eines Geistlichen in Geoffroys Behandlung an.36 Beim »Zahnwurm« als einer wichtigen Erklärung für Zahnschmerzen lag die tierische Genese ohnehin nahe, ähnlich auch bei der »Gebärmutterkolik«, die in der ländlichen medikalen Kultur noch bis ins 20. Jahrhundert hinein als ein »Bärmutterbeißen« galt. Bilder von einer weitgehend autonomen Gebärmutter verbanden sich hier mit denen eines gefräßigen (Raub-)Tiers im Bauch - so daß übrigens auch Buben und Männer an einem solchen »Bärmutterbeißen« leiden konnten.37 Als wenn ihr ein Lebewesen um ihre Brust und unter ihr herumlaufe, beschrieb die Frau eines irischen Geistlichen ihre Schmerzen. Ihre nachlassende Schmerzempfindung drückte sie umgekehrt mit Hilfe des Bildes einer Maus aus, die jetzt weniger herumlaufe. Gelegentliche Schmerzen in anderen Körperteilen verglich sie unter anderem mit den Bewegungen eines kleinen Lebewesens etwa von der Größe einer Fliege.38 Um die spezifische Qualität ihrer Schmerzen zu vermitteln, schufen einzelne Patienten fast ein eigenes Vokabular. »Wie Wolcken« zog »ein gewisser Schmerz« durch die Brust eines hypochondrieleidenden Grafen.39 Die Schmerzen eines Landpfarrers machten sich, nach dessen eigenen Worten, »am meisten mit einigem Wimmern, Bitzein oder Spannen auf der Haut« 34

T K 420a, 2 5 8 r - v , 3.5.1571.

35

Stampfer, 68.

36

B I M 5245, 158, N . N . , Geistlicher, o. D .

37

C g m 6 8 7 4 / 1 3 7 , Parsberg; ausführlich dazu Alexander Berg, Der Krankheitskomplex der Kolik- und Gebärmutterleiden in Volksmedizin und Medizingeschichte unter bes. Berücksichtigung der Volksmedizin in Ostpreussen. Berlin 1935.

38

Jurin, 3 9 6 - 4 0 5 , Briefe des irischen Bischofs Cary, 1733.

39

M C 1 1 , 1 2 9 f , Ergänzung zu einem Brief v o m 13.6. (ca. 1735).

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Teil 1: Kranksein im Alltag

bemerkbar, »wobey noch etwas Bremsendes auch etwas der Kälte Ähnliches ist, fast als wenn man mit Saltz gerieben würde.«40 Die meisten Patienten aber benutzten vertrautere Bilder und Vergleiche aus der Alltagswelt. Bei manchen standen Empfindungen von Hitze, von Brennen im Vordergrund. Die Harnröhre eines 78jährigen Mönches etwa schmerzte wie von einem glühenden Eisen.41 Der Kopf einer 34jährigen Nonne fühlte sich an, als wäre er voll glühender Kohlen.42 Der Knoten in der Brust der Gertraudt Hake brannte »gleich einem Feuer«.43 Als wären die Glieder mit Scheidewasser, mit Schwefelsäure gefüllt, beschrieb eine andere Patientin wiederum ihre Schmerzen.44 In anderen Fällen drückten die Schmerzbilder eher einen Spannungszustand aus. »Als wären Seile daran, die mich ziehen« schrieb eine gut 40jährige Patientin über ihre schmerzenden Schläfen.45 Anderen war es, als läge ihnen ein Riegel schmerzhaft über der Brust,46 als habe man eine Binde straff um ihren Schädel gebunden,47 oder als schnürten Seile ihren Kopf ein.48 Wieder andere verglichen ihre Schmerzen mit denen einer Verletzung durch Waffen oder Werkzeuge. Eine »grausame Pein im Creutz, und war mir nicht anders, also ob mir das Creutz zerschmettert, oder ein Pfahl dadurch geschlagen wäre« beschrieb ein steinleidender Prorektor. 49 Stiche durch die Brust beklagte Friedrike Lutze.50 Wie von einer Lanze durchbohrt, fühlte sich der gleichfalls von Brustschmerzen geplagte Μ Feger.51 Als »wann es mit lauter Messern darinnen schnitzte«, beschrieb ein älterer Patient Hoffmanns seine heftigen Schienbeinschmerzen.52 Sie habe »groß Reissen ihn dem Leibe, als wen sie mit Messern geschnitten vnd mit Pfriemen geritzet vnd gestochen würde«, berichtete Johannes Hancke über sein »schwaches Weib«. 53 Es »findet auch manchmahl einen solchen Schmertz und Ziehen in allen Gliedern und am gantzen Leibe, als wenn sie mit Stekken zerschmissen worden«, hieß es von einer anderen Patientin.54 Etliche Pa-

40 MC 10, 315-22, »Krankheitsstatus« des Landpfarrers J. D. F., o. D. 41 BIM 5245, 59r-v, Bericht, vermutlich des Abtes oder eines Mitbruders, o. D. 42 BIM 5241, 73r-75r, unsign. Brief, 29.6.1724, vermutlich von einer Insassin des gleichen Klosters verfaßt. 43 TK 420a, 183r, Brief des Ehemanns, Plauen 29.7.1571. 44 FT, Brief eine 55jg. Patientin betr., möglicherweise aus ärztl. Feder, o. D. 45 FT, Mme de Konauw, 26.1.1773. 46 FT, Prioratskurat Olivier, 2.3.1774. 47 FT, Mile Kirchberger, 31.5.1790. 48 FT, Brief des Ehemanns, Μ Faugeroux, 12.6.1787. 49 MC 5, 326-333, o. D. 50 НА В 321660, Krankentagebuch, Winter 1831/32. 51 FT, Μ Feger, 11.7.1772. 52 MC 1, 237-240 [um 1715]. 53 TK423bl33r-v,27.5.1581. 54 MC 1,254-257, Brief einen 46jg. Adligen betr. [um 1715].

Schmerzerfahrung

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tienten verglichen ihre Schmerzen mit Nadelstichen. 55 Wie von Rasiermessern zerschnitten fühlte sich gar der Magen einer anderen Patientin an - angesichts ihres gleichzeitigen blutigen Erbrechens ein besonders naheliegendes Bild. 56 Schmerzempfindungen an der Körperoberfläche wurden dagegen eher mit entsprechend oberflächlichen, auf die Haut beschränkten Einwirkungen verglichen, was die Q u a l nicht unbedingt minderte. So als peitsche man sie mit Brennesseln aus, fühlte sich eine ältere Kranke. 57 Mit Flohbissen verglichen andere ihre Schmerzen, 58 oder mit dem Gefühl, das ein trockener Schwamm hervorrufe, wenn man mit ihm über eine frische Wunde streiche.59 Sprachlos waren viele dieser Kranken also beileibe nicht im Angesicht ihrer Schmerzen. 60 Ein reichhaltiges Vokabular des Schmerzes offenbart sich hier vielmehr. Allerdings hatte damals der Schmerz auch einen vertrauteren Platz im Leben vieler Menschen als heute. Insbesondere chronisch Kranke mußten oft über längere Zeiträume weitaus schlimmere Schmerzen leiden als die meisten Patienten heute. Es fehlte an zuverlässigen medikamentösen oder chirurgischen Therapieverfahren, und es mangelte an starken und zugleich einigermaßen verträglichen Mitteln oder Verfahren, die den Schmerz stillen oder wenigstens lindern konnten. 61 Als eine Quelle besonders intensiver Schmerzen schilderten die Zeitgenossen neben der Podagra oder Gicht, auf die wir noch näher eingehen werden, vor allem Steinleiden. Steinleiden werden in zeitgenössischen Selbstzeugnissen sehr oft erwähnt, so oft, daß sich, ähnlich wie im Falle der Gicht, der Verdacht aufdrängt, sie könnten - möglicherweise ernährungsbedingt damals erheblich häufiger aufgetreten sein als heute. Immer wieder berichteten die Betroffenen von ihren oft jahrelangen Leiden. Die Schmerzen konnten schier unerträglich sein. Er habe erfahren müssen, »daß kein grössere Q u a l vnd Marter seye, als wann die Harngäng verstopfft seynd«, klagte Karl Utenhoven 1596. D a half auch kein Beten. Er habe »deß Herrn Hülff hierin-

55 56 57 58 59 60 61

FT, Brief einer Kranken, 16.6.1776; FT, Μ Bouju, 5.1.1774. FT, Mme Niels, 15.8.1773. FT, Brief eine 55jg. Patientin betr., möglicherweise aus ärztl. Feder, o. D. FT, Mme Marianne Doxat de Champvent, 5.5.1790. FT, Μ Feger, 11.7.1772. Auch Jütte, Arzte, 36-38 betont den Reichtum des frühneuzeitlichen Schmerzvokabulars. So klagte eine steinleidende amerikanische Patientin Hahnemanns, daß selbst hohe Dosen von Laudanum die Schmerzen kaum besserten (HA C2,ll). Bis ins ausgehende 19. Jahrhundert ruhte die Behandlung heftiger Schmerzen in erster Linie auf Opiaten; Übelkeit und Brechreiz sind häufige Nebenwirkungen (Mann, wie Anm. 33).

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nen offt angeschrien vnd gewünscht, aber vergebens.«62 Die letzten sieben Lebensjahre seines Vaters seien wegen eines großen Blasensteins »außerordentlich schmerzensreich« gewesen, berichtete Michel de Montaigne, bis er dann mit 74 unter »entsetzlichen Schmerzen« gestorben sei. Er nahm diejenigen in Schutz, die bei schweren Koliken gewöhnlich tobten und brüllten, auch wenn er selbst nur stöhne und jammere. 63 Von Glück konnte der sagen, der den Stein oder die Steine schließlich unter äußerst schmerzhaften Koliken ausschied. So erzählte Hans Khevenhüller wie er »am Stain und Gries und Retention des Harmbs hart gefallen« und fünf Tage mit »vil schweren Zuestenden« daran litt, bis er »ain großen Stain wekgeworfen«. Darauf habe sein Leiden »Gott lob cessiert«. Am nächsten Tag konnte er schon das Bett verlassen.64 Graf von Zimmern wußte gar von dem Jungen eines Torhüters zu berichten, der so viele Steine ausschied, daß seine Mitwelt meinte, das könne nicht mit rechten Dingen zugehen. Er konnte nicht mehr Wasser lassen und fing an aufzuschwellen: »Wie solche N o t bei zwaien oder dreien Tagen geweret, fieng er an und harnet Kislingstein, in der Gröse wie die Haselnuß. Deren hat er etlich Hand vol geharnet. Das haben vil erbar und bider Leut augenscheinlichen gesehen, und das sich noch mehr zu verwundern, so baldt der Jung die Kissling von im gelassen, hat er kain weitern Schmerzen oder Schaden entpfunden. Vil der Verstendigen haben vermaint, solch Harnen sei nit natürlichen, sonder ein Maleficum oder Zauberei, darfür ichs dann auch hab.«65 Steinleiden zählten immerhin zu den wenigen inneren Krankheiten, für die es grundsätzlich die Möglichkeit einer operativen Behandlung gab. Das galt zumindest dann, wenn der Stein in einem zugänglichen Bereich lag; bei Gallensteinen oder »Steinen in der Leber«, wie es vereinzelt hieß, schied diese Möglichkeit aus. Ein erfolgreicher Eingriff konnte eine lange, schwere Leidenszeit auf geradezu wundersame Weise beenden. Begeistert erzählte man sich von »geschickten Steinschneidern«, die »den Kranken Steine aus dem Leib mit Gottes Hilfe glücklich herausgeschnitten«, worauf die Kranken »fast wunderbar genesen und ganz gesund worden.« 66 Der Eingriff selbst war freilich eine Tortur. Eindringlich beschrieb Vincentz den Fall des Goldschmiedsohns Hans Schaller, der lange Jahre vergeblich Tränke aus Bärenkraut, Benediktenkraut, Erdbeeren und Gundelrebe gebrauchte. Schließ-

62 Wilhelm Fabricius Hildanus, Deß weitberühmten Guilhelmi Fabricii Hildani WundArtzney. Frankfurt 1652, 1239, Brief Utenhovens vom 8.9.1596; s. a. Brandis, 540, zu Dr. Peter Hagen, der 1608 »gantz gefehrlich und beswerlich krank, daß er gar zu Bette lag, und hadde under andern mehr Krankheiten große Noth am Steine.« 63 Montaigne, 268-270. 64 Khevenhüller, 282 (1603). 65 Zimmern III, 248. 66 Vincentz, 389.

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lieh wurde seine Pein so groß, daß er in »großer Qual und Zittern« hin- und herlief, denn »in seinen Nieren war ein brennend Feuer«. Ein »Meister des Steinschneidens« aus Nürnberg war damals gerade in Breslau, und der Kranke entschloß sich zur Operation: »Da wurde ihm das heilige Abendmahl gereicht, und baten alle Gott um Hilfe für diesen Gerechten. Darnach bereitete der Nürnberger seine greulichen Werkzeuge, Messer und Zangen aus, und ließ sich der Schaller fesseln und binden. Nach langem Wühlen und Suchen ließ sich der Stein nicht finden und mußte zum andern Male gefährlich gerissen werden. Es war dies alles mit großem Jammer anzusehen. Als nun seine Augen gebrochen, wurde er noch einmal mit aller Gewalt gerissen und der Stein von ihm genommen, und wurde die Gefahr des Todes durch Gottes große Güte überwunden. Ich werde aber dieses greuliche Werk, das ich mit angesehen, nimmermehr vergessen.« 67 Andere hatten weniger Glück. Von Graf Hanns von Lupfen erzählte Zimmern, wie er sich aus Angst vor einem Blasenstein schneiden ließ, »ehe dann derselbig gröser würde und zulegte.« Leider »missrieth das Schneiden oder die Cura«. Er starb und hatte also sozusagen »muetwilligclich« sein Leben »umb etliche Jahr« verkürzt. 68 Verständlich, daß die meisten Steinleidenden es lieber so lange wie möglich mit »steinauflösenden« Arzneien versuchten, und manche starben, ohne eine operative Entfernung auch nur versucht zu haben. Erasmus von Schenk etwa holte sich in seinem jahrelangen Steinleiden den Rat der »allergelertesten und erfarnesten Erzeten« und brauchte, als die nicht helfen konnten, »etlich Juden zu Frankfort und Worbms, so in der Arznei verrüempt gewesen«. Aber operieren ließ er sich nicht. Er starb schließlich »in seinem bösten Alter und blüeenden Jugendt, als er über 40 Jar nit gewest«. 6 ' Schmerzerfahrung, das wissen wir aus modernen kulturvergleichenden Untersuchungen, läßt sich nicht allein auf die biologische Eigengesetzlichkeit des Körpers reduzieren. Sie ist in hohem Maße auch ein kulturelles Produkt. Einzelne Gesellschaften (und zuweilen auch gesellschaftliche Gruppierungen) unterscheiden sich ganz erheblich in dem Maße, in dem sie den mehr oder weniger dramatischen Ausdruck von Schmerzen zulassen oder sogar ermutigen. Mehr noch: physiologische Untersuchungen zeigen, daß nicht nur die Artikulation, der Ausdruck von Schmerzen, sondern auch die scheinbar unmittelbare, körperliche Schmerzwahrnehmung und Schmerzempfindung sowie die physiologischen Reaktionen auf sie von Land zu Land, von Kultur zu Kultur ganz erheblich variieren.70

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Ebd., 497f. Ebd. 111,284. Zimmern II, 59f. Guter Uberblick bei David B. Morris, Geschichte des Schmerzes. Frankfurt/Leipzig 1994; der Originaltitel lautet treffender »The culture of pain«.

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Als Historiker können wir uns nicht auf vergleichende physiologische Untersuchungen stützen. Die sprachliche Beschreibung von Schmerzerfahrung durch die Betroffenen erlaubt wiederum nur begrenzt Rückschlüsse auf das subjektive, körperliche Schmerzempfinden. Die Formulierungen der Kranken und die ärztlichen Schilderungen über den herrschenden praktischen Umgang mit »Schmerz« in der breiteren Bevölkerung legen aber zumindest nahe, daß es damals auch innerhalb der europäischen Gesellschaften erhebliche Unterschiede in der Schmerzempfindung und Schmerzempfindlichkeit gab und daß diese im Laufe des 18. Jahrhunderts zunahmen. Wenn sich die Arzte des 19. Jahrhunderts immer wieder erstaunt über die »Indolenz« der ungebildeten Landleute äußerten, dann mögen sie zuweilen fälschlich den Verzicht auf die teuere und von den Landleuten keineswegs für überlegen erachtete ärztliche Hilfe mit hoher Schmerztoleranz gleichgesetzt haben. Immerhin gehörte das »Schmerzstillen« zu den wichtigsten Aufgabengebieten von Segnern und Krankheitsbesprechern und mit Bibiana, Blasius, Ottilie und Aurelie standen je nach Lokalisation des Schmerzes auch einschlägig »spezialisierte« Heilige zur Verfügung, an die man sich gegebenenfalls wenden konnte.71 Diverse volksfromme und sympathetische Heilpraktiken sind überliefert. »Bei Ohrenschmerz wird der rechte Zeigefinger in das Ohr gesteckt und gebetet«, berichtete ein Landarzt aus Bayern.72 Ein ausgefeiltes Heilritual kam dort gegen manche Formen des Kopfwehs zum Einsatz, den sogenannten »Hauptschein«, bei dem es dem Betroffenen war, als ob »der Kopf auseinandergeht«.73 Die Behandlung bestand im »Messen« oder »Ausmessen« des Kopfes. Der Heiler legte eine Schnur oder ein Band um den Kopf des Patienten und maß den Umfang. Drei Kerzen wurden angezündet und dann nochmals »gemessen«. War die Behandlung erfolgreich, dann war der Kopfumfang nun deutlich kleiner. Im Blick auf die Patientenbriefe und andere Selbstzeugnisse Gebildeter deutet sich aber doch eine wachsende soziale Kluft an. In den Oberschichten scheinen die Toleranzschwellen für Schmerzen im ausgehenden 18. Jahrhundert deutlich gesunken zu sein, zu jener Zeit ab etwa 1750 nämlich, als die »Sensibilität«, die »Empfindsamkeit« des adligen und bürgerlichen Körpers und seiner Nerven zu einem wichtigen distinguierenden Moment wurde, durch das sich die Eliten von der grobschlächtigeren körperlichen Natur der Unterschichten abgrenzten.74 Die Schilderungen körperlicher Pein nahmen in manchen der damaligen Briefe hochdramatische Töne an, und im Einzel-

71 72 73 74

С gm 6874; StAM Hist. Ver. Ms. 401. Cgm 6874/137, Parsberg. Cgm 6874/118 Neumarkt in der Oberpfalz. Vgl. Teil 3.

Sinnsuche: Religion, Hexerei und Astrologie

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fall klagte man selbst über heftigste Schmerzen im Haar, die jede Berührung unerträglich machten.

Sinnsuche: Religion, Hexerei und Astrologie Krankheit ruft stets den Wunsch nach Erklärung hervor. Auf einer ganz konkreten Ebene gilt es dabei zunächst, das Wesen der Krankheit zu erkennen und die körperlichen Vorgänge zu begreifen, die sie verursachen oder begleiten. Diese »medizinische«, »pathophysiologische« Form der Erklärung war auch für die Patienten damals von überragender Bedeutung. Das Wissen, ob es sich beispielsweise um einen »Fluß« oder eine »Schärfe« im Geblüt handelte und wie sie sich auswirkten, war die unverzichtbare Grundlage für den praktischen Umgang mit der Krankheit, für die Gestaltung der Therapie und einer angemessenen Lebensordnung. Sie nahm der Krankheit zugleich ein Stück von ihrer unheimlichen Bedrohlichkeit und wirkte der Erfahrung der Ohnmacht, des Kontrollverlustes entgegen. Das unfaßliche Geschehen im eigenen Körper und die ungewohnten, womöglich schmerzhaften Empfindungen, die es begleiteten, wurden greifbar gemacht. Ansatzpunkte für eine kausale Behandlung wurden geschaffen. Jenseits des Bedürfnisses nach Kontrolle und Anleitung zur konkreten praktischen Bekämpfung der Krankheit, erfüllte (und erfüllt) die Erklärung von Krankheit für die Laien aber vielfach auch eine weitergehende Funktion. Das gilt besonders für schwere und langwierige Leiden. Sie antwortete zugleich auf die alte Frage: »warum gerade ich?«75 Sie verlieh der Krankheit einen subjektiven, persönlichen Sinn und machte sie so erträglicher. Zwei Ebenen einer solchen Sinnsuche lassen sich hier für unseren Untersuchungszeitraum grob unterscheiden, auch wenn sie teilweise gemeinsam auftraten und sich miteinander verschränkten: die Suche nach einem transzendenten, religiösen Sinn und die Erklärung der Krankheit aus der eigenen Lebensgeschichte und eigenem Fehlverhalten. Im folgenden soll es zunächst um den Bereich des »Transzendenten«, »Ubernatürlichen« gehen, auch wenn sich dieser oft nicht klar vom »Natürlichen« trennen läßt. Religiöser Glaube und Gottvertrauen bieten vielen Kranken heute noch, auch in den weithin säkularisierten westlichen Gesellschaften, eine wichtige Quelle von Sinn und Orientierung. Sie helfen ihnen, mit ihrer Krankheit, mit ihren Schmerzen und gegebenenfalls mit dem nahenden Tod besser zurecht zu kommen. So überrascht es nicht, daß die religiöse Dimension in der Krankheitserfahrung in früheren Jahrhunderten eine noch viel wichtigere 75 Allgemein hierzu Pedro Lain Entralgo, Das Erlebnis der Krankheit als geschichtliches Problem. In: Antaios 2 (1961), 285-298.

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Teil 1: Kranksein im Alltag

Rolle spielte, da ja Kirche und Religion Kultur und Alltag noch viel stärker prägten als heute.76 Für die breite Bevölkerung war der religiöse Glaube auch im 19. Jahrhundert noch - und womöglich sogar wieder verstärkt maßgebliche Stütze und Quelle der Hoffnung. Er nahm der Angst vor dem Tod und der Trauer der Hinterbliebenen ein wenig von ihrer Schärfe. In deutschen Patientenbriefen des 16. Jahrhunderts - ein vergleichbares Quellencorpus liegt uns für Frankreich leider nicht vor - ist die Rede von Gott allgegenwärtig. »Nächst Gottes Hilfe«, so lautete eine geläufige Wendung bei Thurneissers Patienten, erhoffe man sich Besserung von der ärztlichen Behandlung. Manche formulierten auch ausführlicher: »Gott der allmechtig Vater vnsers Herren Jesu Christi, welcher ist der beste Helffer, der wolle mir syne Gnade vorleien vnd mir widderumb zu meyner Gesuntheit helfen.« 77 Oder, wie Caspar von Hobergk meinte, es solle »doch fuernemblich vnd zu allen Dingen der Wille des Allmechtigen« geschehen, »wie den alles in seiner Kraft vnnd Macht stehet«; was ihn freilich nicht daran hinderte, eifrig der »Toctores Rath« zu suchen.78 Auch in anderen zeitgenössischen Selbstzeugnissen ist immer wieder von Gottes Hilfe oder Gnade die Rede, von der man Heilung erhoffte oder der man die glückliche Genesung zu verdanken glaubte.79 Nur ausnahmsweise findet sich bei individuellen Erkrankungen - im Gegensatz zu Seuchen - die Uberzeugung angedeutet, daß die Krankheit eine Züchtigung war, daß man von Gott womöglich der eigenen »Sunde willen« mit einer »sweren Kranckheit beiecht vnnd gestrafft« wurde.80 In einem allgemeineren Sinn sahen aber sehr wohl viele Menschen den allmächtigen und allwissenden Gott als die letzte Ursache ihrer Krankheit an. Durch die schwere Krankheit seines Sohnes, dieses »Hauskreuz«, habe er gelernt, den göttlichen Willen immer mehr zu verehren, schrieb der schwäbische Pfarrer Johann Valentin Andreä.81 Manche Patienten meinten ganz konkret, der »allmechtige Gott« habe sie mit ihrer Krankheit »angegriffen« oder »heimgesucht«, oder Beschwerden kämen aus »Gottes Vorhenckung« oder seien »Gottes Warnung«, der »seiner Zeytt ein selig End verleyen« wolle.82 Der fromme Glaube eröffnete andererseits konkrete Aussicht auf Heilung. »Was ein ernstliches Gebeth zue Guet in so unversehenen schreckli-

76 77 78 79 80 81 82

Jütte, Geschichte, 148-162; Wear, Puritan perceptions; Beier McCray. TK 420a, Georg Krakewitz, 28.12.1571. TK 421b, 118r-119r, 9.3.1577. So etwa Bosch, 91. TK 420a, Georg von Königsmark, 1571. Andrea, 57. TK 420a 20r-v, Anthonius Billig (ca. 1571); ebd. 420b, 135r, Johan Schagern, o. D.; ebd. 422a, 113r, David Frank (?), o. D.

Sinnsuche: Religion, Hexerei und A s t r o l o g i e

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chen Casibus würkhen, das haben wir alle ersehen. Gottlob!«, kommentierte Caspar Hirsch die rasche Genesung seines Sohns, als dieser 1612 eine Art Krampfanfall erlitt und anschließend zwei Tage lang ohne Sprache und Verstand war.83 Auch Jakob Andreae äußerte sich überzeugt, seine schwindsüchtige Frau sei »durch die Gebete des Gatten, der Kinder und anderer frommer Menschen wider alle Erwartung und Hoffnung durch ein fast einzigartiges Wunder gerettet« worden. Die Ärzte hätten sie schon längst aufgegeben gehabt.84 Und gegebenenfalls vertraute man auch auf die wundertätige Heilkraft von Mirakelbildern, Reliquien und anderen heiligen Gegenständen oder man machte Wallfahrten oder Prozessionsgänge. So berichtete der hessen-darmstädtische Gesandte Passer von den Wiener Katholiken, die am Fest des heiligen Blasius dessen Statue küßten, »welches sie superstitiose [abergläubisch] vor Halßweh gut zu sein glauben.« 85 In Paris sah Lucas Geizkofler 1572 etliche alte Weiber, die für teueres Geld »Pater noster« verkauften, »fürnemlich darum, weil damit die groß Genoveva in der Procession berüeret war und man dadurch für allerley Krankheiten und Unfall gesegnet wurde.« 86 Tausende und Abertausende reisten noch im 19. Jahrhundert an die bekannten Wallfahrtsorte in der Hoffnung auf Heilung. Zahllose Votivgaben zeugen heute davon. Religiöse und »volksfromme« Heilpraktiken wie das »Besprechen« oder »Segnen« von Krankheiten blieben gleichfalls ein fester und lange Zeit unverzichtbarer Teil der medizinischen Alltagskultur. 87 In den bürgerlichen und adligen Eliten des 18. Jahrhunderts stellt sich die Lage im Vergleich dazu deutlich anders dar. Besonders in Frankreich erschütterten Rationalismus und der allmähliche Aufstieg der Naturwissenschaften zur bestimmenden Deutungsmacht frühere Glaubensgewißheiten in ihren Grundfesten. Gewiß, auch im ausgehenden 18. Jahrhundert blieben Atheismus und Agnostizismus eine Anomalie. Doch verlor das Religiöse, jedenfalls im konfessionellen Sinne, im Laufe des 18. Jahrhunderts viel von seiner früheren Bedeutung. Man ging noch zur Kirche und verlangte nach den Sterbesakramenten. Allenthalben finden sich jedoch, vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte, Zeichen einer vermehrt diesseitigen, weHichen

83 Caspar Hirsch, Familienaufzeichnungen. Hg. v. Ferdinand Mencik. In: Jahrb. der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Osterreich 22 (1901), 18-52, S. 49f. 84 Andreae, 66. 85 Passer, 331 (1682). 86 Geizkofler, 63. 87 Stolberg, »Volksfromme« Heilpraktiken (wie Anm. 8); Jütte, Geschichte, 69-90; Peter Assion, Geistliche und weltliche Heilkunst in Konkurrenz. Zur Interpretation der Heilslehren in der älteren Medizin- und Mirakelliteratur. In: Bayer. Jahrb. für Volkskunde 1976/77, 7-23.

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Teil 1: Kranksein im Alltag

Lebensorientierung. 88 Die Glaubensvorstellungen waren vielfach von einem eher fernen Gott bestimmt, der sich in die alltäglichen Dinge und die natürlichen Vorgänge kaum mehr einmischte und deshalb auch im Krankheitsfall nicht mehr die gleiche seelische Unterstützung bot wie früher. Die mondäne Gesellschaft, so könnte man überspitzt formulieren, pilgerte nun zu den bekannten Badeorten statt zu den christlichen Wallfahrtsstätten. In den überlieferten französischen Patientenbriefen spielt die Rede von Gott und Religion jedenfalls eine auffällig geringe Rolle. Nur ab und zu finden sich kurze, floskelhaften Wendungen wie »Gott sei Dank« oder »mit Gottes Hilfe«, Ausrufe wie »Mon Dieu!« oder der Hinweis auf die erhoffte »gute Vorsehung« - und selbst diese bezeichnenderweise vor allem in Briefen von Geistlichen. Eingehender thematisiert wurde das Religiöse nur von wenigen Patienten, und dies in recht zwiespältiger Weise. Einige von diesen verwiesen ausdrücklich auf die wohltätige, körperliche Wirkung ihres Glaubens. Sie erlebten religiöse Gedanken als beruhigend und schrieben ihnen sogar einen günstigen Einfluß auf ihren Gesundheitszustand zu.89 Sie fanden Trost in Büchern und in der Religion, wie der 23jährige Göret, der glaubte, sonst womöglich verrückt zu werden, nachdem ein schweres Ohrenleiden ihn nahezu taub gemacht und der Freude am Vogelgesang ebenso beraubt hatte wie der Annehmlichkeiten menschlicher Geselligkeit.90 In anderen Briefen wird der Religion aber auch eine krankheitsfördernde Rolle zuschrieben; das gilt besonders für Menschen mit sogenannten »Vapeurs« oder solche von eher »melancholischer« oder »hypochondrischer« Verfassung.91 Ein melancholischer Geistlicher in St. Malo beispielsweise war immer zu jenen Zeiten frohgemuter, ja ausgelassener Stimmung, in denen er nach eigenen Worten »Materialist« war. Wenn er dann, nach einem Aderlaß, seinen Zustand als krankhaft erkannte und zum Glauben an Gott zurückkehrte, dann lebte er wieder in ständiger Angst, während der Messe etwas falsch zu machen oder einen nervösen Anfall zu erleiden.92 Der Abbe Tinseau, der sein Leiden insbesondere auf seine wiederholten Akte sexueller Selbstbefriedigung seit dem 13. Lebensjahr zurückführte, schilderte seinerseits sehr

88 Michel Vovelle, Piete baroque et dechristianisation en Provence au XVIIIe siecle. Paris 1978; Elinor G. Barber, The bourgeosie in 18th century France. Princeton 1955, 38-54. 89 FT, Μ Bruckner, Lyon, 29.11.1789; er drohte zu erblinden. 90 FT, Μ Göret, 20.8.1791. 91 Auch bei Wahnsinnigen - deren Wahnvorstellungen häufig jeweils zentrale kulturelle Bilder und Inhalte aufgreifen - spielten religiöse Inhalte im 18. und 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle; vgl. etwa Doris Kaufmann, »Irre und Wahnsinnige«. Zum Problem sozialer Ausgrenzung von Geisteskranken in der ländlichen Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts. In: Richard van Dülmen (Hg.), Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle. Frankfurt 1990, 178-214, hierS. 192-195, 92 FT, Μ Le Chartier, 19.1.1776.

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eindringlich, wie »das Nachdenken über einige erschreckende religiöse Wahrheiten« sein Seelenleben und über dieses zugleich seinen Körper empfindlich in Mitleidenschaft gezogen habe.93 Eine ungesunde Lebensweise und die Seelenqualen durch eine »ins Exzessive entartete Frömmigkeit« sah der Arzt einer 58jährigen Kranken als Ursache von deren merkwürdigen Schwindelanfällen. Die Augen wie gebannt auf den Himmel gerichtet, hob sie wiederholt die Arme, schlug sie auf die Knie und verlor schließlich das Bewußtsein.94 Einer Patientin mit schweren Krampfanfällen und Todesahnungen versagte, nach den Schilderungen ihres Bruders, die Zunge unter anderem dann den Dienst, wenn sie laut beten wollte, und wenn sie darauf beharrte, bekam sie einen Anfall. Er hatte sie sogar schon erbleichen sehen, nur weil ein Kind in ihrer Gegenwart ein kurzes Gebet aufsagte.95 Auf manche Patienten hatten auch Kirchenräume und Trauerfeierlichkeiten eine eigentümliche Wirkung. Die eben erwähnte Patientin erlitt einen ihrer ersten schweren Anfälle bei einer solchen Gelegenheit. Und Mme de Chastenay, die Gott nach eigenen Worten diente »wie eine Sklavin, die ihren Herren fürchtet«, wurde vor allem unter dem hohen Gewölbe von Kirchen von panischer Angst erfaßt. Sie fürchtete, die Decke werde jeden Augenblick auf sie herabstürzen.96 Als die etwa 20jährige Tochter des königlichen Rats Nicolas Diacre einmal versehentlich für eine Nacht in der Kirche ihrer Pfarrei eingeschlossen wurde, soll sie gar gänzlich den Verstand verloren haben und mußte in ihrem Wahnsinn festgebunden werden.97 Der Eindruck einer verhältnismäßig geringen und zudem zwiespältigen Rolle des Glaubens in der Krankheitsbewältigung besonders der französischen Oberschichten des 18. Jahrhunderts mag zum Teil auf die spezifische Funktion des Patientenbriefs zurückzuführen sein. Schließlich erwartete der Arzt eine exakte Krankengeschichte und kein Glaubensbekenntnis. Aber der religiöse Glaube wurde auch in anderen zeitgenössischen französischen Selbstzeugnissen nur gelegentlich erwähnt, wenn von Krankheit und dem Umgang mit ihr die Rede war.98 Möglicherweise deutet sich hier ein wichtiger Unterschied in den nationalen Kulturen an. Denn in den deutschen Pati-

93

F T , Tinseau, o. D., mit begleitender, von ihm selbst in der dritten Person verfaßter Kran-

94

F T , D r . Esperandieu, 27.2.1790; Tissot empfahl daraufhin unter anderem, den Kopf zu ra-

95

F T , Krankengeschichte einer 19jg. Frau, 10.2.1772.

kengeschichte. sieren, wohl um den Austritt des Krankheitsstoffes aus dem Schädel zu erleichtern. 96

F T , M m e de Chastenay, Winter 1784/85.

97

Recueil des pieces, 7 8 - 8 0 , Aussage der Mutter.

98

Ein Lebensbericht wie der der M m e G u y o n (geb. 1648) sticht insofern heraus: sie zählte die vielfältige Krankheitserfahrungen zu den wesentlichen »Kreuzen«, den Prüfungen, die ihr Gott auferlegt habe; zu G u y o n s. a. Elizabeth C. Goldsmith, Publishing women's life stories in France, 1 6 4 7 - 1 7 2 0 . Aldershot 2001, 7 1 - 9 7 .

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entenbriefen und anderen Selbstzeugnissen wurde auch im 18. Jahrhundert die Heilung viel öfter durch die »von Gott verliehene Krafft« der Arznei oder von »Gottes Segen« erhofft." Oder Krankheit wurde weiterhin als ein »Hauß-Creutz« begriffen, das »der Allerhöchste mir [...] zugeschicket gehabt«.100 In pietistisch geprägten Kreisen scheint die religiöse Sinngebung von Krankheit als göttliche Prüfung, Mahnung oder Strafe teilweise sogar eine überragende Rolle gespielt zu haben.101 Und noch im frühen 19. Jahrhundert pilgerten auch zahlreiche Angehörige der oberen Schichten zu den öffentlichen Gebetsheilungen des Geistlichen Rats von Hohenlohe; besonderes Aufsehen erregte die angebliche Heilung der 17jährigen Nichte des österreichischen Feldmarschalls von Schwarzenberg.102 Der religiöse Glaube spielt auch in den deutschen Patientenbriefen des 18. Jahrhunderts eine deutlich geringere Rolle als in der vorangehenden Zeit, aber er bleibt doch wesentlich präsenter als in den französischen. Der Glaube, daß »böse Leute« andere »versehren« und Krankheiten »anhexen« oder »antun« konnten, war im 16. und 17. Jahrhundert in allen Schichten verbreitet.103 Bekanntlich spielte er in den zahlreichen Hexenverfolgungen des ausgehenden 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts eine Schlüsselrolle. Uber Jahre zurück verfolgten die Inquisitoren allerlei verdächtige Krankheits- und Todesfälle und suchten sie als Hexenwerk zu entlarven. Aber es waren nicht nur eifernde Inquisitoren, die derlei Umtriebe durch »scharfes Verhör« an Tag bringen wollten. Der Glaube an böse Mächte war Teil der Alltagskultur. Angesichts der großen »Beschwerung« ihres Hauptes meinte Frau von Closter 1571, daß sie es vielleicht »von bösen Luthen« habe.104 »[E]ß sycht [sieht] mych vor eyne seltzam Krancheytt an«, kommentierte Ludolf von Closter das Leiden seiner Frau.105 Rasch, dramatisch verlaufende Krankheiten oder solche mit besonders merkwürdi-

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Christa Habrich, Pathographische und ätiologische Versuche medizinischer Laien. In: Wolfgang Eckart/Johanna Geyer-Kordesch (Hg.), Heilberufe und Kranke im 17. und 18. Jahrhundert: Die Quellen- und Forschungssituation. Münster 1982, 9 9 - 1 2 3 , mit weiteren Belegen. 100 M C 5, 2 7 4 - 2 7 5 , J. H. P., 6.5.1726. 101 Christa Habrich, Characteristic features of eighteenth-century therapeutics in Germany. In: Bynum/Nutton, Essays, 39—49; Johanna Geyer-Kordesch, Cultural habits of illness. The enlightened and the pious in eighteenth-century Germany. In: Porter, Patients and practitioners, 177-204. 102 Stephan Baron von Koskull, Wunderglaube und Medizin. Die religiösen Heilungsversuche des Fürsten Alexander von Hohenlohe in Franken. Bamberg 1988; Dankende Geheilte in Bamberg auf das Gebeth des Fürsten A . v. Hohenlohe. Würzburg 1821. 103 Ausführlich dazu Eva Labouvie, Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglaube in den Dorfgemeinden des Saarraumes (16.-19. Jahrhundert). St. Ingbert 1992. 104 T K 420a, 198r, Brief des Ehemanns Ludolf, Mi. nach Exaudi 1571. 105 Ebd., 200r, Sa. nach Exaudi 1571.

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gen, therapieresistenten Beschwerden erregten besonderen Argwohn. Nicht selten hegte man auch einen konkreten Verdacht. Als die 30jährige Anna Vetter schwer erkrankte und vom Fleisch fiel, beargwöhnte sie anfänglich eine Nachbarin, »welche der Zauberey verdächtig war und öffters sagte, daß sie die Leute krum und lahm machen könnte«; die Frau hatte sie zudem wegen ihres fleißigen Kirchgangs verspottet.106 Im Kloster Himmelthal begann 1567 die Nichte der Äbtissin zu hinken, nachdem sie eine Treppe hochgestiegen war, auf die eine alte Zauberin, wie es hieß, etwas Schädliches gelegt hatte. Sie empfand Schmerzen in den Beinen, Geschwüre brachen auf und schließlich verstarb die Kranke.107 Im Falle von Alexander Boschs Krankheit argwöhnte sogar der behandelnde Arzt, es handle sich um die Folgen eines Liebeszaubers. Eine schöne Magd, die ihn »nit ungern gesehen«, habe ihm ein »Lieb Tränklin zu trinken gegeben«. Die Magd wurde entlassen.108 Noch im ausgehenden 17. Jahrhundert berichtete Maria Elisabeth Stampfer ausführlich von ihrem gichtkranken Bruder, einem kaiserlichen Forstmeister, der fünf Jahre in größten Schmerzen lag und schließlich starb. Sein Verdacht sei auf eine Frau gefallen, die, wie er meinte, zuvor auch schon seinen Hund krumm gemacht hatte. Kurz vor seinem Tod habe die Frau bekannt, daß sie ihm die Krankheit angetan habe und angeboten, ihm ein heilkräftiges Kraut zu geben und seine Krankheit zu besprechen. Aber der Kranke habe lieber in Gottes Namen sterben wollen, als sich von einer Zauberin anbeten und ansprechen zu lassen.109 Manche Heiler galten wiederum für besonders begabt im Erkennen und Behandeln von »angetanen« Krankheiten. So erklärte der Senn von Kreuzlingen im ausgehenden 16. Jahrhundert einer gelähmten Frau, sie sei »angriffen« worden, und er fragte sie, ob sie jemand im Haus habe und ob »sy uff iemandts kainen Argkwon habe«. Die Kranke wußte nur eine Pflegerin zu nennen, und der Heiler bestätigte, eben diese habe es getan. Der Senn ließ seine Patienten dann die Verdächtige mit den Worten ansprechen »Um Gottes Willen, ich bitte dich, heile mich.« Die Gelähmte tat dies und meinte, »von solchem Anbetten sye ihr Sach von Tag zu Tag besser worden und khönne ietzo wider gon.«110 Im Umgang mit Wahnsinnigen war gar die Vorstellung verbreitet, sie seien ganz unmittelbar vom Teufel besessen. Eindrucksvoll beteuerte Gangolf Härtung, er habe 1634 »mit meinen Ohren gehört undt mit meinen Au106 107 108 109 110

Vetter, 74; später deutete sie ihre Krankheit als Zeichen ihrer religiösen Erwähltheit. Fleck, 219-221. Bosch, 78f (um 1630). Stampfer, 12f. Stadtarchiv Konstanz Η IX 48, zit. nach Martin Burkhardt u. a., Konstanz in der frühen Neuzeit. Reformation, Verlust der Reichsfreiheit, österreichische Zeit. Konstanz 1991, 282-284.

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gen gesehen«, wie der »bösse Geist« aus dem Mund einer besessenen Sattlerstochter geredet habe. Unter dem harten Zureden der katholischen Priester sei er dann »auss dem Ohr gegrogen [gekrochen], so gross undt so schwartz wie ein gross schwartz Hommel« und schließlich wurde die Kranke wieder gesund." 1 Im 18. Jahrhundert spielte die Vorstellung von »angetanen« oder »angehexten« Krankheiten unter den Gebildeten Frankreichs wie Deutschlands dagegen kaum mehr eine Rolle. Dies ist eine zweite wesentliche Veränderung in unserem Untersuchungszeitraum." 2 Daß insbesondere seltsame, merkwürdige Krankheitserscheinungen wie Krampfanfälle und Wahnsinn, oder auch plötzliche Impotenz auf einen Schadenszauber zurückgehen konnten, gestanden zwar selbst manche akademische Arzte weiterhin zu. Für den alltäglichen Umgang mit Krankheiten aber waren solche Uberzeugungen unter den Gebildeten offenbar unbedeutend. Eine der ganz wenigen Ausnahmen, auf die ich im 18. Jahrhundert noch gestoßen bin, war freilich ausgerechnet ein Arzt. Seine ganze Familie war krank geworden, nachdem sie ein Stück Rindfleisch gegessen hatten. Sein Sohn war daran schließlich gestorben. Zuvor hatte er freilich einer gewissen Frau ins Gesicht gesagt, sie sei schuld an seiner Krankheit. Diese Frau ihrerseits habe ihn, den Sohn, zu sehen verlangt und seinen Namen gerufen, und daraufhin habe er heftige Kopfschmerzen bekommen. Nach all dem hatte der Vater »einen grossen Argwohn geschöpffet«, daß nämlich dieses alles durch magische Künste zuwege gebracht worden«." 3 Unter den weniger Gebildeten stellt sich die Lage ganz anders dar. Zumindest in der süddeutschen Landbevölkerung war der Glaube an Schadenszauber und angehexte Krankheiten, den einhelligen Klagen der Ärzte zufolge, noch im 19. Jahrhundert weit verbreitet. Manche Heiler waren damals vor allem für ihr Geschick im Umgang mit derlei Kranken gesucht, und Geistliche beider Konfessionen betrieben eine blühende Exorzistenpraxis." 4 111

Gangolf Härtung, Die chronikalischen Aufzeichnungen des Fuldaer Bürgers Gangolf Härtung (1607-1666). Hg. v. Th. Haas. In: Fuldaer Geschichtsblätter IX (1910) Nr. 4-11, 49-176, hier S. 114f; s. a. Hans de Waardt, Van exorcisten tot doctores medicinae. Geestelijken als gidsen naar genezing in de Republiek, met name in Holland, in de zestiende en de zeventiende eeuw. In: Blecourt u.a.: Grenzen van genezing, 88-114. 112 Vgl. Willem de Blecourt, Termen van toverij. De veranderende betekenis van toverij in Noordoost-Nederland tussen de 16de en 20ste eeuw. Nijmegen 1990. 113 MC 5, 274f, J. H. P., 6.5.1726; die Beschuldigte hatte ihn offenbar wegen dieses Vorwurfs angezeigt, worauf er sich mit der Bitte um Unterstützung an die medizinische Fakultät in Halle wandte; diese freilich konnte keine Hinweise auf ein übernatürliches Geschehen erkennen (ebd., 282-284, Gutachten, 31.5.1726). 114 Vgl. Michael Stolberg, Alternative medicine, irregular healers and the medical market in nineteenth-century Bavaria. In: Robert Jütte u. a. (Hg.), Historical aspects of unconventional medicine. Approaches, concepts, case studies. Sheffield 2001, 139-162; für das Her-

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Die Astrologie hatte in der gelehrten Heilkunde eine lange Tradition, und sie fanden in volkssprachlichen Aderlaßkalendern und Gesundheitsratgebern große Verbreitung.115 Den einzelnen Sternzeichen und Planeten wurden hier jeweils bestimmte Körperteile und Krankheiten zugeordnet. Die alltagspraktische medizinische Bedeutung astrologischer Vorstellungen und Praktiken ist allerdings schwer einzuschätzen, ebenso ihre Zuordnung zum Reich des Übernatürlichen oder Natürlichen. Pestepidemien wurden auch von Laien unter anderem auf Planetenkonstellationen zurückgeführt. Von der verheerenden Pest im Jahr 1585 meinte Vincentz beispielsweise, sie sei durch die siebente große Zusammenkunft der sieben Planeten angezeigt worden, die nur alle 792 Jahre einmal geschehe.116 Die Planeten galten freilich nicht nur als Zeichen. Ihr Einfluß auf das innerweltliche und körperliche Geschehen wurde offenbar vielfach durchaus in einem buchstäblichen, »physikalischen« Sinn verstanden. Einzelne Patienten erfuhren den Einfluß der Planeten und vor allem des Mondes - ebenso wie den des Klimas - am eigenen Leibe. Ihrem Sohn gehe es recht gut, berichtete Benigna von Lubbersdorff 1579, »alleine das er im Abbrechenn des Monats ahnn seiner naturlichen Farbe vnnd Gestaldt sehr abnimpt vnnd ghar hager alß wenn ihme das Fleisch entfiele« und das vergehe wieder, wenn »der Monat wider wachset vnd zunimptt«.117 Ein anderer machte sich Hoffnung auf Besserung, weil die Luft »gelinder« und auch »die Constellationes mitiores [milder]« würden.118 Vertraut und notwendig war vielen Kranken zudem die Rücksicht auf die Mondphasen und Planetenkonstellation bei der Wahl des Zeitpunkts für einen Aderlaß oder den Beginn einer Arzneimittel-Therapie. Anhand von englischen Quellen hat Michael MacDonald überzeugend die ausgeprägten sinnstiftenden Qualitäten der frühneuzeitlichen medizinischen Astrologie herausgearbeitet. Diese habe den Patienten und seine Krankheit in einen umfassenden, letztlich geordneten kosmischen Zusammenhang eingebettet.119 Deutsche und französische Selbstzeugnisse brachten freilich nur selten Krankheiten unmittelbar mit dem Einfluß der Planeten in Beziehung. Hieronymus Wolf war eine Ausnahme, wenn er rückblickend

zogtum Braunschweig-Wolfenbüttel konnte Mary Lindemann (Lindemann, Health) dergleichen Vorstellungen schon im 18. Jahrhundert kaum mehr nachweisen, was aber vermutlich nur auf eine lückenhafte Quellenüberlieferung verweist. 115 116 117 118 119

Guter Uberblick bei Wolf-Dieter Müller-Jahncke, Astrologisch-magische Theorie und Praxis in der Heilkunde der frühen Neuzeit. Stuttgart 1985, bes. 135-175. Vincentz, 504. T K 422b, 285r, Brief [1579]. T K 420b, 458r-459r, Simon Roter, So. nach Misericordia 1575. Michael MacDonald, The career of astrological medicine in England. In: O l e Peter Grell/Andrew Cunningham (Hg.), Religio medici. Medicine and religion in seventeenthcentury England. Aldershot 1996, 62-90.

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meinte: »das Quadrat von Saturn und Mond schwächte die Sehkraft meines linken Auges und die Opposition von Mond und Merkur verdrehte es, wie ich vermute, so daß zu der Schädigung noch die Entstellung hinzukam.«120 Ein ungenannter Patient des berühmten Paracelsisten Duchesne führte sein schweres Leiden auf einen »himmlischen Eindruck« (»impression coeleste«) zurück, den bis zum heutigen Tag der bösartige Einfluß des Saturn verursache, wenn er durch die Wurzel seines Aszendenten gehe.121 Und im frühen 18. Jahrhundert berichtete ein 45jähriger »Rotlauf«-Kranker, ein Astrologe habe ihm seine Krankheit vor langer Zeit vorhergesagt und ihm versichert, er werde davonkommen. Aber der habe nicht gewußt, was er sage, denn die »Richtung«, die »Umläufe«, die »Durchgänge« der Planeten, all das deute darauf hin, daß er im nächsten März sterben werde.122 Die meisten Patienten kamen aber offenbar ohne astrologische Deutungen aus. Hinweise auf den Einsatz astrologischer Berechnung für die spezifische, individuelle medizinische Diagnostik mit Hilfe von Horoskopen oder N a i vitäten sind in den hier untersuchten Quellen ebenfalls rar. Damit Thurneisser seine »Natur mit sampt der Complexion wohl erkennen möchte«, so immerhin ein »Kriegsfeldsecretarius« in Oberungarn, schicke er ihm nicht nur seinen Urin, sondern auch »dreierley Figur meiner Natiuitet, mit sampt der Computation vndt Verification meiner rechten Conception vndt Natiuitet«.123 Selbst Thurneisser, einer der berühmtesten Astrologen seiner Zeit, wurde aber nur ausnahmsweise aus primär medizinischen, diagnostischen Gründen um ein Horoskop gebeten. Möglicherweise bildeten sich hier freilich frühzeitig gewisse schichtenspezifische Unterschiede heraus. In den deutschen Eliten geriet die Astrologie nämlich schon im 16. Jahrhundert immer mehr in die Kritik. Das war womöglich eine paradoxe Folge ihrer zunehmenden Popularisierung in Almanachen und Kalendern, deren Vorhersagen der tatsächliche Gang der Ereignisse immer wieder Lügen strafte.124 In England lassen sich immerhin noch um 1600 diverse und teilweise blühende medizinisch-astrologische Praxen nachweisen. Sie wurden auch von hochrangigen Patienten aufgesucht, aber schon ihre im Vergleich zu anderen Ärzten deutlich niedrigen Honorare lassen vermuten, daß sie ihre Klientel vor allem unter den weniger Wohlhabenden fanden, die naturgemäß in Patientenbriefen und überlieferten Selbstzeugnissen kaum zu Wort kamen.125 Im

120 Wolf, Commentariolus, 31. 121 SUB Hamburg, Sup. ер. 4 30, fol. 140, Brief vom 26.2.1579 (Kopie). 122 BIM 2037,25-28, N. N., o. D.; Helvetius antwortete am 24.1.1728. 123 TK 424, 187r-188r, Ladislaus Cubinius (?), 16.3.1582. 124 Müller-Jahncke (wie Anm. 181), 175-193. 125 Michael MacDonald, Mystical bedlam. Madness, anxiety and healing in seventeenthcentury England. Cambridge 1981; s. a. Barbara Howard Traister, The notorious astrological physician of London. Works and days of Simon Forman. Chicago/London 2001.

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Amsterdam des frühen 18. Jahrhunderts machte der deutsche Arzt Johann Christoph Ludeman (1685-1757) Furore, aber auch er scheint die meisten seiner Patienten unter den weniger Gebildeten gefunden zu haben. Anhand von Geburtsort und Geburtsdatum berechnete er die Natur, die Krankheiten und die Heilungsaussichten der Ratsuchenden. So befand er in einem seiner Konsilien, das Naturell eines 34jährigen Kranken sei durch Jupiter beherrscht. U m Lunge und Zwerchfell hätten sich eine alte Schärfe und eine flüchtige Galle angesammelt. Blähungen und Irritationen in der Gegend von Leber und Galle seien die Folge; auch würden Blut und Säfte skorbutisch und er drohe gegen seine Natur in die Melancholie zu verfallen. Mit 40 erwarte ihn eine schwere Krankheit, die der Patient aber hoffentlich dank seiner Klugheit werde überwinden können. 126

Sinnsuche: Krankheit, Lebensordnung und Biographie Die Vorstellung von Krankheit als etwas schicksalhaft Vorherbestimmtes oder von Gott oder anderen höheren Mächten Verfügtes oder Zugefügtes spielte, wie wir gesehen haben, unter den gebildeten Schichten der Frühen Neuzeit allmählich eine zunehmend geringe Rolle. Den entscheidenden Schlüssel für das Verständnis ihres Leidens und die Antwort auf die Frage »warum gerade ich?« fanden die gebildeten Patienten und ihre Angehörigen um so mehr auf einer anderen Ebene, nämlich in ihrem eigenen Verhalten und ihrer persönlichen Lebensgeschichte. Sie griffen dabei weitgehend auf die überlieferten Prinzipien der ärztlichen Diätetik zurück, also auf die Lehre von einer gesunden Lebensordnung, wie sie zahllose frühneuzeitliche Gesundheits- und Seuchenratgeber immer wieder aufs neue variierten.127 Das Wissen um diese Prinzipien, das belegen zahllose Patientenbriefe, war unter den gebildeten Schichten weit verbreitet. Vier Dimensionen der individuellen Lebensweise und Lebensverhältnisse standen dabei im Vordergrund: Essen und Trinken, körperliche und sexuelle Betätigung, Umgebungsluft sowie die Affekte.' 28 Wenigstens eine dieser vier Dimensionen kam in vielen

126

U B Amsterdam, M s . 14 C D 1, Nativität vom 1.5.1745. Zu Ludeman: Hans de Waardt, Breaking the boundaries. Irregular healers in eighteenth-century Holland. In: Marijke Gijswijt-Hofstra u. a. (Hg.), Illness and healing alternatives in Western Europe. L o n d o n / N e w Y o r k 1997, 141-160. 127 Einen guten Uberblick bietet der Artikel »Regime« in: Encyclopedie, Bd. 14, 1767, 11-16; s. a. William Coleman, Health and hygiene in the Encyclopedie. A medical doctrine for the bourgeoisie. In: Journal of the history of medicine 26 (1974), 399-421. 128 In der ärztlichen Literatur wurde die Diätetik traditionell unter dem Begriff der sechs »res non-naturales« abgehandelt (vgl. Peter H . Niebyl, The non-naturals. In: Bulletin of the history of medicine 45 (1971), 486-492; L. J. Rather, The »six things non-natural«. In: Clio

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Patientenbriefen zur Sprache, und in den ausführlichen Briefen des 18. Jahrhunderts waren es nicht selten sogar zwei, drei oder alle vier. Körperliche Aktivität, davon waren auch die gebildeten Laien überzeugt, förderte die Ausscheidung schädlicher oder überflüssiger Stoffe vor allem mit dem Schweiß und sie erhöhte den Nahrungs- bzw. Blutverbrauch. So erlebte Alexander Bosch körperliche Arbeit als die beste Arznei. Sie half ihm zu schwitzen und förderte Schlaf und Appetit.129 Auch Lucas Geizkofler riet man nach einem Dreitagesfieber zu körperlicher Bewegung, »um die Reste des Fiebers auszuschwitzen«, worauf er von Straßburg zu Fuß nach Augsburg zurückreiste.130 Johann Valentin Andreä schrieb sein langes Leben seiner Mäßigkeit und seiner körperlichen Bewegung zu. Er kaufte sich eigens einen Garten, zur Gemütserholung und zum Spazierengehen.131 Allzuviel Aktivität freilich erschöpfte den Körper andererseits und führte zum übermäßigen Verlust von »Spiritus«, von Lebensgeistern. Die gebildeten Verfasser von Patientenbriefen und anderen Selbstzeugnissen berichteten freilich kaum von den schädlichen Folgen körperlicher Anstrengung, sondern erlebten, einem Topos humanistischer Selbstdarstellung folgend, vor allem übermäßige geistige und typischerweise nächtliche Arbeit als krankmachend.132 Die Qualität der Luft war aus verschiedenen Gründen wichtig. Zunächst einmal konnte sie krankmachende Beimengungen enthalten, die unreinen Miasmen vor allem, die herkömmlich als Ursache für die Malaria (»mala aria« = schlechte Luft) und andere Seuchen galten. Gideo von Boetzelaar vermutete 1591 beispielsweise, sein Viertagesfieber sei Folge der »infizierten Luft« (»aere infecto«) in Zeeland.133 In Schlesien glaubten die Leute bei der großen Pestepidemie von 1523 »es käme von verworfenen tiefen Brunnen, daraus sich die faulen Dünste erhoben oder von den großen starken Erdbeben in anderen Ländern, wo die bösen giftigen Dünste, die in den Bergen beschlossen, ledig geworden sind und über viele hundert Meilen hindunsteten.«134 raedica 3 (1968), 337-347; Saul Jarcho, Galen's six non-naturals. In: Bulletin of the history of medicine 44 (1970), 372-377); die Zahl sechs ergibt sich, weil neben dem Ausmaß der körperlichen Aktivität das rechte Verhältnis von Schlafen und Wachen als eigener Punkt zählte; die sechste traditionelle res non-naturalis, das rechte Verhältnis von Ausscheidung und Zurückhaltung, fällt etwas aus dem Rahmen, da sie primär auf eine Störung körpereigener Prozesse selbst abzielte, die sich allenfalls medikamentös und diätetisch beeinflussen ließ. 129 Bosch, 102. 130 Geizkofler, 103f. 131 Andreä, 134. 132 Hummel, 40; Wolf, Commentariolus, 74; vgl. Sabine Vogel, Kulturtransfer in der Frühen Neuzeit. Die Vorworte der Lyoner Drucke des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1999, 34-36. 133 Heurne, G . van Boetzelaar, 13.10.1591 (lat.). 134 Vincentz, 52.

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Die Luft konnte auch salzig sein oder irritierend. Und sie konnte den Körper über den Geruchssinn affizieren. Er könne »gar keinen starcken Geruch vertragen, sondern werde gleich übler davon«, erklärte einer von Hoffmanns Patienten. 35 Nicht zuletzt wirkte die Luft über ihre Temperatur, ihre Wärme oder Kälte auf den Körper, besonders auf die Fasern und die Hohlgänge, die diese umschlossen. Wärme ließ die Fasern erschlaffen und weitete die Poren. Das erleichterte die Abgabe von flüchtigen und flüssigen Krankheitsstoffen, aber auch von wertvollen Substanzen. Zogen sich die Poren aufgrund äußerer Kälte stark zusammen, dann war die Ausscheidung der Krankheitsstoffe behindert und sie drohten im Körperinneren weiter zu verderben. Die Kälte und Schlaffheit seiner Füße, so meinte Simon Roter, habe sich zweifellos »auß iziger Influenz des Hymmels« ereignet, besonders da er »yn die Lufft gegangen« sei und die Füße dabei etwas kalt wurden.136 Der Rheumatismus ihres Sohnes, so eine besorgte Mutter, habe am Morgen nach einem heißen Tag begonnen, an dem der 9jährige erst viel herumlief, sich erhitzte und schwitzte und dann unglücklicherweise in der Abendkühle weiter draußen blieb. Als es ihm wieder besser ging, blieb er eines Tages erneut zu lange draußen - und prompt fühlte sich sein linker Arm am folgenden Tag wie taub an.137 Speise und Trank wiederum wirkten auf den Körper ganz ähnlich wie Arzneimittel. Dementsprechend wurden beide auch vielfach in der Krankheitsbehandlung gezielt eingesetzt. Zumal bei Krankheit mußte man allzu kräftige Nahrung vermeiden. Sie konnte den Körper leicht überladen und eine Uberproduktion von Blut bewirken. Gefährlicher noch war kalte, rohe, schwer verdauliche Nahrung. Sie überforderte den Magen und schwächte seine Verdauungswärme. Rohe, unverdaute Stoffe häufigen sich im Magen und im übrigen Körper an. Die Nahrung konnte zudem verdorben sein die Konservierungsmöglichkeiten waren damals begrenzt.138 Einzelne Nahrungsbestandteile konnten darüber hinaus spezifische Wirkungen entfalten. Stark gewürzte Speisen - französische Patienten und Ärzte erwähnten in diesem Zusammenhang öfters die beliebten Ragouts - standen beispielsweise im Verdacht, »Schärfen« hervorzurufen. Ähnliche Gefahren gingen von geräuchertem oder stark gesalzenem Fleisch aus. Verschiedenen Weinen und selbst Wässern schrieb man aus der Erfahrung heraus jeweils unterschiedli135 136 137 138

M C 5, 300f, »v. D . « , 10.3.1727. T K 421b, 19.10.1576. F T , N . N., Brief der Mutter, o. D.; der Sohn war mittlerweile 14 und litt an Krampfanfällen. So führte Ludwig von Diesbach ein »kaltes Fieber« auf verdorbene Speisen zurück (L. von Diesbach, Die autobiographischen Aufzeichnungen Ludwig von Diesbachs. Studien zur spätmittelalterlichen Selbstdarstellung im oberdeutschen und schweizerischen Räume. H g . v. U r s Martin Zahnd. Bern 1986, 41).

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che körperliche Wirkungen zu. Leicht verdauliche Speisen dagegen förderten die Gesundheit. Auch Wein galt vielfach als willkommenes Stärkungsmittel. Der kranke Joachim Brandis glaubte körperlich zu spüren, wie ihn der Wein »stärkte« und ihm den Appetit zurückgab, gerade so als wenn einer Lampe das Ol ausgehe und man neues darauf gebe.13' Heftige Affekte schließlich gehörten nach verbreiteter Einschätzung zu den führenden Krankheitsursachen.140 Manchmal stand ein bestimmtes, von besonders heftigen Affekten begleitetes Ereignis im Mittelpunkt. So berichtete Simon Roter wie ihm wegen eines Todesfalls »grosser Grham und Bekümmernis mitt zugeschlagen, hergeflossen ist, das mirs die vergangenen 28 Novemb. zu Nacht etwa vmb 1 Vhr yn den lincken Schenckell geschlagen«.141 Als Gottschalk Weinsberg heftig erkrankte und etliche Monate darnieder lag, klagte er, er habe sich sehr erschreckt, als ihm eine Spinne aus dem Schnabel der Schenkkanne ins Glas gefallen sei.142 Eine Pariser Dame erlitt einen Schlaganfall mit Lähmungserscheinungen und Sprachausfällen, eine Stunde nachdem ein Hund sie auf einem Spaziergang heftig erschreckt hatte.145 Eine andere Patientin datierte den Beginn ihres Leidens auf jenen Tag, an dem ein fliehender Soldat sie fast umrannte, den man beim verbotenen Duell ertappt hatte.144 Bei anderen standen dagegen eher länger anhaltende negative Affekte im Zentrum. Er sei »zu Zorn und Eyfer sehr geneigt, die ich an den [sie] gantzen Leibe so fort empfinde«, schrieb ein von Magenund Kopfbeschwerden geplagter Kranker an Friedrich Hoffmann. 145 Familiäre Spannungen machten einer ledigen Patientin Tissots das Leben zur Hölle. Sie sei gezwungen, so berichtete ein Bekannter, mit ihrer Familie zu leben. Und die behandle sie schlecht, ganz besonders ein Familienmitglied, »das sich aus selbstsüchtigen Motiven nicht damit begnügt, ihr mit Worten und Drohungen Gewalt anzutun.« Die resultierenden heftigen Emotionen hätten ihr Blut zersetzt. Infolgedessen empfinde sie eine brennende innere Hitze, habe eine trockene, von Ausschlag gezeichnete Haut, fühle sich schwach, traurig und niedergeschlagen, habe Fieber und Zahnweh, träume schlecht, und wenn sie warmen Kaffee trinke, fühle es sich »zwischen

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141 142 143 144 145

Brandis, 451 f. Ausführlicher hierzu: Michael Stolberg, Emotions and the b o d y in early modern medicine. In: Vera L i n d / O t t o Ulbrich (Hg), Emotions in early modern Europe and Colonial N o r t h America [im Druck]. T K 421a, So. nach Mariae Empfängnis 1576. Herrmann von Weinsberg, Das Buch Weinsberg. Aus dem Leben eines Kölner Ratsherrn. H g . v. Johann J a k o b Hässlin. Stuttgart 1961, 261. B I M , unsign., in der 3. Person, wahrscheinlich von einen Laien verfaßter Brief, 15.9.1723. F T , Brief einer 43jg. Kranken, o. D . M C 5,300f., »v. D . « , 10.3.1727.

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den Häuten des Gesichts« wie abgestorben an.146 Gewissermaßen in Vorwegnahme moderner tiefenpsychologischer Ansichten beschrieben einzelne Patienten auch die verhängnisvollen Folgen unterdrückter Emotionen. So berichtete Willibald Pirckheimer, der sein Podagra vor allem der »Leidenschaftlichkeit seines Gemütes« zuschrieb, er habe zwar Ungerechtigkeiten und Anfeindungen mit Großmut ertragen, aber nicht verhindern können, daß »ihre beständigen und bittern Stacheln seine Brust zutiefst durchbohrten«.'47 1714 führte ein anderer Patient seine Blähungen, Zahnweh und starke aufsteigende Hitzen darauf zurück, »das ich bereiths 20 Monath lang in haimblichen Zorn gelebet, vnd meine Gemieths Passionen niemahls habe außlassen khönnen«. Im ausgehenden 18. Jahrhundert war wiederum Mme de Moncharle davon überzeugt, daß der »Zwang und die Gewalt«, die sie sich in der Zeit ihrer Hochzeit vor 30 Jahren auferlegt habe, womöglich an ihren gegenwärtigen Atemproblemen, Blähungen und Krämpfen erhebliche Schuld trügen. Die Mäßigung der Leidenschaften hatte also womöglich ihrerseits ebenfalls einen hohen Preis.148 Diese Grundprinzipien der ärztlichen Diätetik waren den gebildeten Laien allgemein bekannt und wurden in zahlreichen Aufklärungsschriften verbreitet. Gerade deshalb sollte man ihre alltagspraktische Bedeutung freilich nicht überschätzen und damit auch ihre Fähigkeit, bürgerliche Normen der Mäßigung über den Appell an das Gesundheitswohl durchzusetzen. Diätetisches Wissen wurde nach dem Zeugnis der Patientenbriefe vielmehr vor allem dann wichtig, wenn man die Ursache einer Erkrankung ergründen und ihre Heilung fördern wollte. Zahlreiche Kranke forderten vom Arzt ausdrücklich eine passende Lebensordnung oder erkundigten sich eingehend, inwieweit bestimmte Nahrungsmittel oder Getränke ihnen zuträglich seien. Hier war die Diätetik unverzichtbarer Teil der Therapie, und die Kranken scheinen sich auch oft an den ärztlichen Ratschlägen orientiert zu haben. Dagegen gibt es jedoch kaum Hinweise, daß Laien ihr Leben auch in gesunden Tagen nach diesen Regeln gestaltet hätten. Recht häufig finden sich dagegen Kommentare, die im Blick auf kranke und verstorbene Mitmenschen deren ungesunde Lebensweise hervorheben. Diätetisches Wissen und tatsächliche Lebensführung, das gilt damals wie heute, unterscheiden sich oft ganz grundlegend. Dieser oder jener habe unmäßig gelebt oder sei dem Essen und Wein ziemlich ergeben gewesen, heißt es da immer wieder

146 FT, Μ Reverdil, eine 30-40jg. Bekannte betr., 17.7.1791. 147 Willibald Pirckheimer, Autobiographie. In: W. P. Eckert/Christoph von Imhoff, Willibald Pirckheimer. Dürers Freund im Spiegel seines Lebens, seiner Werke und seiner Umwelt. Köln 1971,125-134, S. 132; s. a. Emil Reicke, Willibald Pirckheimer und sein Podagra. Ebd., 184-202. 148 UB Erlangen, Ms. 1029/1, 658-659, 1.10.1714, Unterschrift unleserlich; FT, o. D.

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unverblümt.149 Besonders kraß, ja vernichtend fiel das Urteil Elisabeth Charlotte von Orleans (Liselotte von der Pfalz) aus, einer deutschen Außenseiterin am französischen Königshof. Der Herzog von Berri, so meinte sie habe sich »selber ums Leben gebracht durch sein abscheulich Fressen und Saufen«. Auch dessen Frau habe sich durch »ihr tolles Baden und Fressen« ganz verdorben und selbst ums Leben gebracht, »und zwar so gut, als wenn sie sich eine Pistole vor den Kopf geschossen hätte, denn sie hat heimlich Melonen, Feigen und Milch gegessen; sie hat mirs selber gestanden.«150 Selbst den Brustkrebs der Anna Maria von Osterreich führte sie auf deren »abscheuliches« Essen viermal täglich zurück.151 Mit den eben vorgestellten vier Grunddimensionen gesundheitswidriger Einflüsse ist das Spektrum möglicher langfristig wirksamer Krankheitsursachen weitgehend abgedeckt, das die ätiologischen Deutungen der Kranken und ihrer Angehörigen in der Frühen Neuzeit bestimmte. Zwei andere, ebenfalls langfristig wirksame Krankheitsursachen sind jedoch zu ergänzen, die außerhalb des herkömmlichen diätetischen Kanons angesiedelt waren. Das waren zum einen die mutmaßlichen Nachwirkungen von Verletzungen oder, allgemeiner gesprochen, von traumatischen Einwirkungen. Wenn diese bleibende Schäden oder Behinderungen hinterließen, war ihre ursächliche Rolle offensichtlich. Aber zuweilen genügte den Laien schon ein bloßer Schlag auf einen empfindlichen Körperteil als Erklärung selbst langwieriger innerer Krankheiten. So führten manche Kranke Tumoren und Krebsgeschwüre insbesondere in der weiblichen Brust auf einen Schlag zurück, den sie unter Umständen schon Jahre oder Jahrzehnte vorher erlitten hatten, von dem ihnen aber ihrer Uberzeugung nach eine gewisse Verhärtung oder Verstopfung geblieben war.152 Und Henriette de la Tour du Pin war davon überzeugt, daß ihr Leiden von jener Schiffsreise herrührte, auf der die Matrosen ihr von Bord eines kleinen Bootes halfen und sie dabei nach oben stemmten. Sie verspürte einen heftigen Schmerz an der rechten Seite und glaubte seither, sie habe sich dabei eine innere Verletzung im Bereich der Leber geholt. Die Arzte, so schrieb sie, hätten das nie anerkennen wollen, »aber es ist nichtsdestoweniger wahr, daß ich seit jenem Tag nicht aufgehört

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Beispielsweise SK, 23r, Bruder Placidus über einen kranken Nachbarn, 20.4.1605. Orleans, 261 und 267-269; ausführlich zu Liselotte und ihrer kritischen Haltung gegen den H o f und die höfische Medizin Kristin Rönck, Gesundheit und Krankheit um 1700 in den Briefen Liselottes von der Pfalz. Unveröffentl. Staatsexamensarbeit, Berlin, H u m boldt-Universität 2000; ich danke Frau Rönck, die mir Einsicht in diese Arbeit gewährt hat.

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Orleans, 205. FT, N . N . , 37jg., über Μ Bruna geleiteter Brief, 26.4.1773.

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habe zu leiden und daß ich heute, mit dreiundsechzig Jahren, immer noch daran leide.«153 Viele Patienten und ihre Angehörigen verwiesen zum anderen auf erbliche Momente. Man glaubte, die betreffende Krankheit oder wenigstens eine entsprechende krankheitsprädisponierende Konstitution gingen von den Eltern auf die Kinder über. In diesem Sinne vermutete J. G . Bövingh bei seiner Frau eine »angebohrne Schwindsucht«.' 54 U n d eine 44jährige skorbutkranke Patientin Hallers begann ihren Bericht mit dem Hinweis, sie sei »von scorbutischen Altern gebohren« und auch ihre beiden jüngeren Geschwister seien mit dieser Krankheit behaftet. 155 Manche Leiden schienen sich so über mehrere Generationen fortzupflanzen. 156 In solchen Fällen griff die Einbettung des Krankheitsgeschehens in die eigene Lebensgeschichte über die Grenzen der individuellen Biographie hinaus. Die Krankheit wurde zum Teil einer Familiengeschichte, und dies um so mehr, als nach allgemeiner Uberzeugung auch erworbene Eigenschaften und Prädispositionen weitergegebenen wurden. Die sexuellen oder alkoholischen Exzesse oder auch die langwierige Krankheit eines Vaters konnten so in gleicher Weise zur letzten Ursache des schlechten Gesundheitszustands seiner Kinder werden, wie die körperliche Veranlagung, die er seinerseits schon von seinen Eltern geerbt hatte. Erbliche Momente wurden bei den verschiedensten Leiden in Erwägung gezogen. Selbst der gichtkranke J. H . Hummel meinte in den 1670er Jahren ausdrücklich: » U s mynes Voreiters war mynes Behalts mit dieser Krankheit niemand behaft.« 157 U n d Glückel von Hamelns Ehemann wollte sein Bruchleiden insbesondere auch zum Schutze seiner Kinder geheim halten, weil man sagen würde, daß ein solches Leiden »erblich« wäre.158 Allerdings gab es einzelne Krankheiten, bei denen ein solcher Zusammenhang besonders häufig unterstellt wurde, Krampfleiden (Epilepsie) und Schwindsucht vor allem. Sie fanden dementsprechend auch besondere Beachtung, wenn es um die Auswahl eines geeigneten Heiratspartners ging, und Eltern, deren Kinder an derlei Krankheiten litten, machten sich um deren Aussichten auf dem Heiratsmarkt große Sorgen.

153 Henriette La Tour du Pin, Journal d'une femme de cinquante ans 1778-1815. 7. Aufl. Bd. 2. Paris 1913, 202. 154 Bövingh, 146. 155 HK, A 94, N. N. 156 BIM 5245 148r-149v, Brief des Vaters der kranken Mile Herbolin, 23.4.1730; deren Großeltern litten schon an einem ähnlichen »gichtigen Rheumatismus«. 157 Hummel, 47. 158 Glückel von Hameln, 171-175.

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Die erzählerische Rekonstruktion der Lebensgeschichte In zahllosen Briefen und Krankengeschichten wird im eben skizzierten Sinne die intensive Suche greifbar nach den schädlichen Einwirkungen, den traumatischen Erfahrungen, den Verstößen gegen eine gesundheitsgemäße Lebensordnung, von denen das gegenwärtige Leiden seinen Ausgang nahm. Uber Jahre und Jahrzehnte richtete sich der Blick dabei oft zurück, auf gravierende Einschnitte, wie den T o d eines geliebten Kindes, aber auch auf scheinbar geringfügige Begebenheiten, wie einen Ausritt in der kühlen Abendluft. O f t führten die Kranken und ihre Angehörigen sogar eine ganze Reihe derartiger krankmachender Einflüsse und Begebenheiten ins Feld. Der unmittelbare Sinn einer solchen Suche nach oftmals lange zurückliegenden krankheitsauslösenden und krankheitsfördernden Momenten lag in dem Bemühen, das Wesen der Krankheit zu erfassen und eine möglichst gezielte Behandlung zu ermöglichen. Viele dieser Krankengeschichten bieten aber weit mehr als bloße Erinnerungen an mutmaßliche krankheitsauslösende oder krankheitsfördernde Momente. In der Suche nach Krankheitsursachen wurde zugleich die Lebensgeschichte insgesamt in gewisser Weise neu geschrieben. Sie wurde zur Vorgeschichte des gegenwärtigen Leidens und gewann ihrerseits aus diesem eine neue Bedeutung. Im Umkehrschluß verlieh die derart neu »geschriebene« Lebensgeschichte der gegenwärtigen Krankheit Sinn und Bedeutung. Rückblickend, so scheint es in vielen Briefen, führte die ganze Lebensgeschichte letztlich schon auf den gegenwärtigen Leidenszustand hin. Medizinsoziologen sprechen in diesem Zusammenhang von einer »erzählerischen Neugestaltung« (»narrative reconstruction«) der eigenen Lebensgeschichte. Indem sie diese im Licht der gegenwärtigen Krankheit neu schreiben, überbrücken die Patienten die drohende Kluft zwischen dem gesunden, vitalen Selbst der Vergangenheit und ihrem kranken, leidenden gegenwärtigen Zustand. Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen gewinnen eine neue Bedeutung. 159 Die Erzählung der eigenen Lebens- und Krankheitsgeschichte, wie wir vor allem in den ausführlicheren Briefen des 18. Jahrhunderts finden, erweist sich aus dieser Perspektive als ein aktiver, sinn- und identitätstiftender Prozeß. 160 Vier unterschiedliche, nur teilweise überlappende Erzählmuster lassen sich in den Quellen ausmachen. D a ist zunächst die Selbstbezichtigung. Be159

Gareth Williams, The genesis of chronic illness: Narrative reconstruction. In: Sociology of health and illness 6 (1984), 175-200; Catherine Kohler Riessman, Strategic uses of narrative in the presentation of self and illness. A research note. In: Social science and medicine 30 (1990), 1195-1200.

160

Ian Robinson, Personal narratives, social careers and medical courses. Analysing life trajectories in autobiographies of people with multiple sclerosis. In: Social science and medicine 30 (1990), 1173-1186.

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sonders eindrücklich kann man ihre Rolle im Prozeß einer »erzählerischen Neugestaltung« in den Patientenbriefen von Männern verfolgen, die im 18. Jahrhundert ihre Krankheit darauf zurückführten, daß sie sich in ihrer Jugend - und in manchen Fällen auch als Erwachsene - sexuell selbst befriedigt hatten. Wir werden darauf noch ausführlicher zurückkommen. Die Lektüre von Tissots Schrift über den »Onanismus« 1 6 1 und anderer zeitgenössischer Zeugnisse einer europaweiten Kampagne gegen die Masturbation wurde ihnen geradezu zum Damaskuserlebnis, zum entscheidenden Wendepunkt ihres Lebens. Endlich begriffen sie ihren oft jahrelangen Leidensweg als notwendige Folge ihres früheren Lasters. Ihre Briefe wurden zu Schuldbekenntnissen voller Selbstanklagen und brachten doch immer wieder zugleich die tief empfundene Dankbarkeit dafür zum Ausdruck, daß man ihnen endlich die Augen geöffnet habe. Die gegenwärtige Krankheit war keine Fügung eines blinden Schicksals mehr. Sie begriffen endlich ihren tieferen Sinn: sie war selbst verschuldet, eine Strafe für ihr Vergehen, die womöglich - im Falle von Impotenz und unkontrollierbarem »Samenfluß« sogar auf eben jenes Organ zielte, mit dem sie gesündigt hatten.162 Solche Deutungen von Krankheit als Folge früherer Verfehlungen finden sich auch im Zusammenhang mit sexuellen »Exzessen« anderer Art oder auch mit verfehlten Eß- und Trinkgewohnheiten. Sie bieten in gewisser Weise die verweltlichte Fassung des alten Motivs von Reue und Umkehr: auf die (Diät-)»Sünde« folgte die verdiente Strafe und die Rückbesinnung auf das Gebot von Gott und Natur. Einem verwandten zweiten Erzählmuster zufolge war das gegenwärtige Leiden zwar ebenfalls vorläufiger Endpunkt einer ganzen Serie von Krankheiten, die die Betroffenen mehr oder weniger ihr ganzes Leben lang begleiteten. Die Beschwerden verwiesen jedoch letztlich auf eine fundamentale, zur Krankheit bestimmte Verfaßtheit. Kranksein war gleichsam ihr Schicksal und zugleich zentrales Element der eigenen, leiblichen Identität. »In meiner Kindheit war ich sehr kränklich,« schrieb J. V. Andreä, »so daß ich erst als ein Knabe von zwei Jahren mich auf die Füße erheben konnte, und diese schwächliche Leibesbeschaffenheit fühlte ich durch mein ganzes Leben.« 163 Besonders Menschen, die sich selbst als »melancholisch« oder »hypochondrisch« einschätzten, strukturierten ihren Krankheitsbericht nach diesem Muster. Ein drittes Erzählmuster griff ebenfalls auf die Vorstellung einer grundlegend geschwächten, für vielfältige Krankheiten empfänglichen körperlichen Verfaßtheit zurück, setzte deren Beginn jedoch in Beziehung zu einer

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Tissot, Onanisme. Ausführlicher hierzu Stolberg, Unmanly vice. Andreä, 37.

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mehr oder weniger spezifischen traumatischen Erfahrung, etwa einer schweren Geburt oder dem Verlust eines nahen Angehörigen. Hier erschien die Krankheit stärker als etwas, das von außen schicksalhaft zustieß, und manchmal auch durch die Fehler oder Missetaten von Mitmenschen bedingt war. Die Krankengeschichte der 49jährigen, brustleidenden Mme de Merande etwa nahm gleich nach der Geburt ihren Anfang, als man sie für sechs Monate zu einer Amme gab, deren Milch aber so schlecht war, daß sie fast starb. Seither war ihr Gesundheitszustand stets delikat, und Pocken, Augenleiden, rheumatisches Fieber, weißer Ausfluß und Schwindsucht waren nur einige der Krankheiten, die ihren Lebenslauf prägten.164 Das vierte und letzte hier zu nennende Erzählmuster schließlich rekonstruierte die Lebensgeschichte additiv als eine mehr oder weniger lange Reihe von unterschiedlichen traumatischen Begebenheiten und krankmachenden Einflüssen, die im Körper jeweils ihre unauslöschlichen Spuren hinterließen. Der Körper wurde hier zum Archiv einer Vielzahl gesundheitswidriger Einwirkungen. Ähnliche Prozesse einer retrospektiven Ursachensuche und Sinngebung lassen sich auch heute bei schweren und/oder chronischen Krankheiten vielfach nachweisen. Manchmal gelingt die gemeinsame »Mythopoese«, stimmen Ärzte und Kranke in ihrer Deutung überein.165 Oft weichen die Vermutungen der Patienten auch deutlich von denen der Ärzte ab.166 Für den produktiven Umgang mit der eigenen Krankheit erweist sich das intensive Bemühen um Erklärung und Sinn aber selbst dann oft als hilfreich, wenn es im Widerspruch zur ärztlichen Auffassung steht. Krankheit, die konkret auf eine bestimmte Ursache zurückgeführt werden kann, und sei es auf eigenes schuldhaftes Versagen, verliert viel von ihrem Schrecken. Selbst wenn der Schaden nicht mehr gut zu machen ist, etwa beim querschnittsgelähmten Drachenflieger, hat solche Ursachen- und Sinnsuche oft günstige emotionale Folgen und erleichtert den meisten Betroffenen mit ihrer Krankheit umzugehen - man spricht hier von erfolgreichem »Coping« - oder ihr gar positive Aspekte abzugewinnen.167 Indem sie ihr Leiden selbstverschuldeten oder wenigstens vermeidbaren Ursachen zuschreiben, verschaffen sich die Kranken zugleich ein Gefühl rückgreifender (und im Hinblick auf mögliche kommende Krankheitsepisoden gegebenenfalls auch zukünftiger) Kontrolle 164 FT, Mme de Merande, 4.10.1783. 165 Vgl. Leon Eisenberg, The physician as interpreter. Ascribing meaning to the illness experience. In: Comprehensive psychiatry 22 (1981), 239-248. 166 Vgl. etwa das Fazit einer Untersuchung der Laientheorien einer Gruppe von 100 Rheumapatienten (Langer/Bormann, 55): »In den wenigsten Fällen fand sich eine Übereinstimmung mit medizinisch-wissenschaftlichen Konzepten.« 167 Ebd.; Rosmarie Welter-Enderlin, Krankheitsverständnis und Alltagsbewältigung in Familien mit chronischer Polyarthritis. München 1989.

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Krankheitsängste

über eine somit nur scheinbar unberechenbare Krankheit. Der drohende Bruch in der eigenen Lebensgeschichte wird erfolgreich verhindert. Das subjektive Erleben der Kontinuität der eigenen Lebensgeschichte - und damit der stets lebensgeschichtlich, in der Zeit verankerten Identität - bleibt bewahrt.168 Patienten, die ihr Leiden dagegen auf einen unglücklichen, sinnlosen Zufall zurückführen, etwa auf die Unachtsamkeit eines Mitmenschen, hadern meist mehr mit ihrem Schicksal.165 Verbitterung und Trauer prägen auch vielfach analoge Patientengeschichten des 18. Jahrhunderts. Die quälende Frage »warum gerade ich?« blieb unbeantwortet.

Krankheitsängste Krankheit macht Angst. Art und Ausmaß dieser Angst hängen freilich von verschiedenen Umständen ab, von Vorerfahrungen mit ähnlichen Krankheiten im Familien- und Bekanntenkreis, von der individuellen Ängstlichkeit, von der Wahrnehmung einer deutlichen Besserung durch die medizinische Behandlung und nicht zuletzt von der Natur der jeweiligen Krankheit, den Symptomen und Bildern, die sich mit ihr verbinden, dem mutmaßlichen Verlauf und den drohenden Folgen. Manche Krankheiten waren damals wegen ihrer typischen, zuweilen schier unerträglichen Schmerzen gefürchtet. Steinleiden, Podagra oder Zipperlein und natürlich das Zahnweh standen hier an erster Stelle. Andere waren durch den empfindlichen Verlust wichtiger Bewegungs- oder Sinnesvermögen geprägt. Voller Trauer schilderte beispielsweise der schon erwähnte Monsieur Göret, Sohn eines hohen Beamten, wie eine starke Schwerhörigkeit seit der Kindheit sein Leben überschattete. Die Rede anderer Menschen hörte er meist nur dann, wenn sie laut in das linke Ohr hinein sprachen, aus größerer Entfernung verstand er gar nichts mehr und mitunter wurde er völlig taub. Nur manchmal, aber nie länger als drei Tage, konnte er sich auf einmal wieder am Gesang der Vögel und am geselligen Beisammensein freuen, gerade genug, wie er meinte, um ihm seine traurige Lage noch stärker ins Bewußtsein zu rücken.170 Ahnlich verzweifelt schilderten andere eine drohende Blindheit. Ein 43jähriger Geistlicher etwa konnte wegen seiner nachlassenden, gleichsam nur mehr »tastenden« Sehkraft seinen seelsorgerischen Pflichten nicht mehr ausreichend nachkommen: mühsam mußte er bei der Messe die liturgischen Texte Wort für Wort ablesen, mit Hilfe einer Kerze, 168 169

Langer/Bormann, 75f. Hermann Faller, Das Krankheitsbild von Herz-Kreislauf-Kranken. Ein Gruppen- und Methodenvergleich. In: Bischoff/Zenz, 86-102; Welter-Enderlin (wie Anm. 233). 170 FT, Μ Göret, 20.8.1791.

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die er unmittelbar vor das Buch hielt. Auch eine Brille brachte nicht viel Besserung.171 Wieder andere Krankheiten machte vor allem der rasche, plötzliche und nicht selten tödliche Verlauf sehr bedrohlich. Typische Beispiele für derartige schwere, akute Leiden waren die Pest und heftige Fieberkrankheiten wie Gallenfieber, Faulfieber oder Nervenfieber. Im 19. Jahrhundert verbreitete, von Asien herkommend, die Cholera Angst und Schrecken. Ihre Opfer verstarben, einem oft wiederholten Topos zufolge, zuweilen binnen Stunden unter grauenvollen Qualen, nachdem sie am Vorabend noch vergnügt im Kreis der Familie gespeist hatten.172 Gefürchtet ob des plötzlichen, weitgehend unvermuteten Eintritts war auch der »Apoplex« oder »Schlagfluß«, der seine Opfer von einer Stunde auf die andere gelähmt auf das Krankenlager warf oder gar tötete. Angstlich registrierte man seine möglichen Vorbo173

ten. Derlei Krankheiten führten drastisch die Allgegenwart des Todes vor Augen. Selbst gesunde, kräftige Menschen im besten Erwachsenenalter konnten von einem Tag auf den anderen, aus heiterem Himmel ergriffen werden. Sie hatten oft nicht einmal mehr die Zeit, sich angemessen auf den Tod vorzubereiten und die Sterbesakramente zu empfangen, geschweige denn das eigene Sterben angemessen zu inszenieren, wie es eine jahrhundertealte »Kunst des Sterbens« forderte und wie es zeitgenössische Haus- und Familienbücher gerne schilderten: mutig und gefaßt dem Tod ins Auge sehend, den Angehörigen Trost und Vorbild zugleich. Deshalb hatte man auch Anlaß »dem lieben Gott höchlich zu danken«, wenn eine Kranke nach einem Schlaganfall noch mehrere Tage zwar »jämmerlich bis an ihr Ende gelegen«, aber doch wenigstens »ihren guten Verstand und Vernunft behalten« durfte.174 Allerdings lassen die Kranken ähnlich wie die meisten Menschen heute ein Spannungsverhältnis erkennen, zwischen der Angst vor einem plötzlichen, überraschenden Tod auf der einen Seite und dem Grauen vor einem langen Siechtum auf der anderen. Ja, es gibt im 18. Jahrhundert Hinweise auf eine gewisse positive Neubewertung des plötzlichen, unvermuteten To-

171 FT, Μ de Char(r)itte, o. D. 172 Michael Stolberg, Die Cholera im Großherzogtum Toskana. Ängste, Deutungen und Reaktionen im Angesicht einer tödlichen Seuche. Landsberg 1995; Patrice Bourdelais/JeanYves Raulot, Une peur bleue. Histoire du cholera en France, 1832-1854. Paris 1987; der Topos hat weit ältere Wurzeln in den mittelalterlichen Pestzeiten. 173 In der rückblickenden Perspektive des heutigen Mediziners dürften sich dahinter ganz unterschiedliche Leiden verborgen haben, von akuten Hirnblutungen und Verschlüssen der Hals- und Hirngefäße über Herzinfarkte bis hin zu Lungenembolien. 174 Brokes, 372f., Anm.

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des ohne vorangehendes Leiden. 175 Drei chronische Erkrankungen weckten besondere Ängste vor einem langen Siechtum: Krebs, Schwindsucht und Wassersucht. Auf alle drei werden wir noch ausführlicher zurückkommen. Sie waren durch einen zunehmenden körperlichen Verfall und, zumindest langfristig, auch durch eine dramatische Veränderung der leiblichen Identität, des Aussehens, der äußeren Gestalt gekennzeichnet. Bei der Schwindsucht verzehrte sich der Körper selbst oder die unnatürliche Hitze in ihm trocknete ihn buchstäblich aus und nahm der Lebensflamme ihre Nahrung. Bei der Wassersucht füllten sich die Körperhöhlen oder auch Gesicht und Extremitäten mit Wasser an. Das Blut, jene »Quelle des Lebens«, 176 verlor seine natürliche Konsistenz, es wurde wäßrig. U n d in merkwürdigem Gegensatz zur wachsenden Körperfülle kamen die Opfer zunehmend von Kräften. Die grauenvollsten Bilder aber verbanden sich mit dem Krebs, jener »schrecklichsten aller Krankheiten«, wie es schon damals hieß.'77 Er begegnete den Zeitgenossen vor allem als Brust- und Gebärmutterkrebs, mit ihren auch von außen sichtbaren Folgen. Heftige, unstillbare Schmerzen begleiteten hier den massiven körperlichen Verfall. Dazu kamen im späteren Verlauf oft auch noch stinkende Geschwüre mit jauchigen Sekreten. Die Opfer schienen bei lebendigem Leib zu verfaulen. Andere Krankheiten bedrohten weniger die leibliche Integrität als den Ruf und zuweilen auch die Heiratsfähigkeit der Betroffenen. Besonders schambehaftet oder stigmatisierend waren Krankheiten der Geschlechtsorgane. Sie wurden deshalb oft geheimgehalten, gegebenenfalls auch vor der eigenen Dienerschaft, der sonst wenig verborgen blieb. Sehr häufig waren Gonorrhoe - damals ein Sammelbegriff für männlichen Ausfluß - und bei der Frau der weißliche Ausfluß oder »fluor albus«. Beide erschienen in gewisser Weise als Ausdruck einer unzureichenden Beherrschung der Geschlechtsorgane und ihrer Öffnungen. Sie galten als abstoßend und ekelhaft und stellten zugleich die Fortpflanzungsfähigkeit in Frage. An die 3000 Taler hatte einer von Thurneissers adligen Patienten schon für die Behandlung seiner Gonorrhoe ausgegeben. Aber er war bereit, noch mehr zu opfern, wenn ihm »nur möcht geholffen werden«, denn er wollte heiraten, damit sein Geschlecht »nit gar vndergehe«. 178

175 Michel Vovelle, Mourir autrefois. Attitudes collectives devant la mort aux XVIIe et XVIIIe siecles. Paris 1974, 193f. 176 Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände, Bd. 1, 752. 177 BUP Genf, Ms. suppl. 1908, 260r-261v, Marquise de Contades, 13.7.1772. 178 T K 420b, 50r-52v, Johannes Theobaldus zum Fall des Simon Braschevius, Mi. vor Himmelfahrt 1574.

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Noch schwerer wog männliche Impotenz.179 Gab es doch, wie der berühmte englische Arzt John Hunter formulierte, »vielleicht kein Tun, an dem einem Mann mehr liegt, bei dem es ihm [so] wichtig ist, eine gute Vorstellung abzugeben und in das er ein Stück weit seinen Stolz setzt.«180 Das »ganze Glück meines Lebens« sah ein Patient Tissots vernichtet, weil er aufgrund seiner Impotenz nicht heiraten konnte.181 Ein anderer mochte sich wegen seiner mangelnden Männlichkeit und seiner kraftlosen Geschlechtsteile nicht einmal mehr in Gesellschaft bewegen, weil er sich »minderwertig« (»inferior«) fühlte.182 Und ein dritter war verzweifelt, weil er in der Hochzeitsnacht mit seiner geliebten Braut trotz der »Freiheiten«, die sie ihm »gestattete«, und trotz der gegenseitigen »Zärtlichkeiten« impotent blieb, und in der Folgezeit erleben mußte, wie es eher schlimmer wurde und der Kummer über sein Versagen die Impotenz noch zu fördern schien. Er hatte insofern noch Glück, als seine Frau das Ganze mit »einer recht bemerkenswerten und recht löblichen Geduld und Vernunft« aufnahm und sich nur um seine Gesundheit sorgte.183 Aber er hatte gute Gründe, seine Briefkonsultation anonym über zwei Mittelsleute zu leiten. Wurde die Impotenz nämlich öffentlich bekannt, so hatte das womöglich noch weit schwerer wiegende Folgen. Die Heiratsfähigkeit und das gesellschaftliche Ansehen als Mann wurden massiv in Frage gestellt, und bei Verheirateten drohte ein skandalöses Eheaufhebungsverfahren.184 Ahnlich wie der Ausfluß verwiesen auch zwei andere schambehaftete Krankheiten auf eine widernatürliche Auflösung der Körpergrenzen oder einen Kontrollverlust im Bereich und in der Umgebung der Geschlechtsteile: der Gebärmuttervorfall und, aus heutiger Sicht in seiner Anstößigkeit eher überraschend, der Bruch oder Leibschaden. So wollte sich beispielsweise Marie-Jeanne Orget kein Bruchband anlegen lassen, weil die Männer, die sich damit auskannten, das selbst tun wollten. Sie hätte sich vor ihnen entblößen müssen, wollte aber nicht, daß sie sie »in diesem Zustand« sähen. Nicht die Nacktheit als solche, so deutet sie dabei an, sondern der Anblick

179 Vgl. die ausführliche Falldokumentation in Daniel Teysseire, O b e s e et impuissant. L e dossier medical d'Elie-de-Beaumont 1765-1776. Grenoble 1995. 180 John Hunter, A treatise on the venereal disease. L o n d o n 1786, 202; Hunter selbst betonte die Bedeutung seelischer Einflüsse. 181 FT, Schwitzer de Buonas, Luzern 2.10.1793. 182 F T , Ν . Ν., 15.5.1792 (engl.). 183 F T , N . N . , auf Bitten (und vermutlich nach dem Diktat) des Kranken von einem Freund verfaßter Brief, 16.8.1772; die Antwort sollte an einen Genfer Geistlichen gehen. 184 Vgl. Pierre Darmon, L e tribunal de l'impuissance, Paris 1979 und für die vorangehende Zeit anhand der Aussagen in Eheauflösungsprozessen Daniela Hacke, Gendering men in early modern Venice. In: Acta Histriae 8 (2000), H e f t 1, 49-68.

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ihres Schadens war ihr peinlich. 185 Als sich das Bruchleiden von Glückel von Hamelns Ehemann durch einen Sturz drastisch verschlechterte, wollte auch er weder einen D o k t o r zu sich rufen lassen, noch andere fremde Leute bei sich sehen. Er meinte, er wolle lieber sterben, als es den Leuten offenbaren. Schließlich ließ er sich - wenn auch letztlich vergeblich - doch ärztlich behandeln, wollte aber weiter »nichts Fremdes bei sich haben« und bat seine Angehörigen, alles geheim zu halten. Der Junker Hans Adam von Höllenfürst gar, der nach Felix Platters Bericht, »viel Jahr heimblich gebrochen gewesen,« hatte nicht einmal seiner eigenen Frau davon erzählt. Ohne ihr Wissen ließ er sich schließlich in Colmar operieren und starb an dem Eingriff. 187 Auch Hermann von Weinsberg erzählte selbst seiner eigenen Frau erst dann von seinem hühnereigroßen Bruch, als die Beschwerden eines Nachts so heftig waren, daß er den Tod vor Augen sah.188 Bei Ausschlagskrankheiten war zusammen mit den Körpergrenzen auch das Aussehen stark verändert. Es sei ihm »gar gewalttigk sehr vntter dem Ahngesichtte [...] außgeschlagen vndt außgefarren«, klagte Christoph von Falckenberg 1577, mit »gar sehr vill bösser Rotte.« Er schämte sich so sehr, unter die Leute zu gehen, daß er drei Tage in seiner Herberge blieb und nicht ausgehen wollte. 189 »Ich hielt mich fast als ein Aussätziger einheimisch und schämte mich, Leuten vor Augen zu kommen«, berichtete ganz ähnlich Johann Georg Bövingh im frühen 18. Jahrhundert. 190 Bei vernarbenden Ausschlagskrankheiten, wie den Pocken oder Blattern, mußten Frauen (und ein Stück weit auch die Männer) dauerhaft um ihre Schönheit und ihren Wert auf dem »Heiratsmarkt« fürchten, denn in schwereren Fällen waren sie für ihr Leben gezeichnet. Monatelang habe sie nicht einmal gewagt, ihr Gesicht im Spiegel anzuschauen, berichtete Mme de Staal Delaunay in ihren Memoiren über ihre schwere Pockenkrankheit als Jugendliche. 191 N o c h schlechter als ohnehin schon, so berichtete Mme de Guyon, habe die Familie ihres Mannes sie behandelt, als eine Pockenerkrankung das Gesicht der 22jährigen völlig entstellte. 192 Als letzte wichtige Beispiele für Krankheiten, die mit besonderen Ängsten befrachtet waren, sind schließlich Krampfanfälle und Wahnsinn zu nennen. Uber die typischen Symptome einer »Epilepsie« oder »schweren

185 Recueil des miracles, 7-8, Aussage der 57jg. Marie-Jeanne Orget. 186 Glückel von Hameln, 171-175; wie schon erwähnt, fürchtete er auch nachteilige Folgen für seine Kinder, weil man das Bruchleiden für erblich hielt. 187 Platter, 427. 188 Weinsberg V, 50. 189 TK 421b, 161r-162v, Chr. von Falckenberg, Fr. nach Pfingsten 1577. 190 Bövingh, 121. 191 Mme de Staal Delaunay, Memoires. Hrg. v. Fs. Barriere. Paris 1846, 28f. 192 Guyon, 124f.

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Not« war man sich recht einig. Der heute für charakteristisch geltende Zungenbiß wurde kaum erwähnt, wohl aber hoben etliche Kranke und Angehörige den Schaum vor dem Mund hervor und, als besonders charakteristisches Symptom, die nach innen zur Handfläche gedrehten Daumen. 1 ' 3 Sie habe die tödliche Krankheit des Kindes nicht »für die schwere Noth angesehen,« gab eine alte Hebamme zu Protokoll, »dann dieselbe Kinder schlagen ihre Hendt starck in vndt verwenden ihre Augen.«194 Furchterregend war die Epilepsie offenbar vor allem wegen des massiven Kontrollverlust, der sie begleitete und der zutiefst gegen zeitgenössische Normen der Selbstkontrolle verstieß. Die Betroffenen schienen wie wilde Tiere. Die erschütternde, verstörende Qualität der epileptischen Anfälle wird am deutlichsten, wenn Patienten ihre eigene, ganz anders geartete Krankheit auf den starken Affekt zurückführten, den ihr bloßes Beisein beim Anfall eines Epileptikers ausgelöst habe. So brachte der 34jährige Sekretär und Hauslehrer Baville den Beginn seiner Leiden mit dem epileptischen Anfall eines Kameraden in Verbindung, dem er als 17j ähriger beigewohnt hatte. Noch lange Zeit danach habe er am ganzen Körper heftig und unwillkürlich gezittert, wenn er »das unglückliche Opfer dieser grausamen Krankheit« gesehen habe. Schließlich habe er sogar zwei Anatomiekurse besucht, um sich von seiner Angst zu befreien. Doch Geist und Gesundheit hätten unwiederbringlich Schaden genommen. Er leide seither an schlimmen Kopfschmerzen, nächtlichen Erstikkungsanfällen, Aufschrecken im Schlaf und zahllosen anderen Beschwerden.195 Schon durch ihre bloße Gegenwart wurden die Betroffenen somit zur Gefahr für andere, und ganz besonders für schwangere Frauen, denn deren Affekte wirkten sich nach immer noch verbreiteter Uberzeugung über die Einbildungskraft unmittelbar auf ihre Leibesfrucht aus.196 Das Kind wurde womöglich später selbst krampfleidend. Den Betroffenen drohte so die soziale Isolierung. Selbst ihren Wunsch, zur Kirche zu gehen, konnte die 68jährige Bedienstete Marie-Anna Couronneau nur mit Mühe durchsetzen. »Ihre ungeordneten und gezwungenen Bewegungen«, so hieß es im Verhörprotokoll, »verursachten ihr bei jedem Schritt Verwendungen und sehr häufig Krämpfe, so daß alle, die sie sahen, davon erschraken und daß die schwangeren Frauen vor der Begegnung mit ihr flohen.«197

193 MC 5, 305-9, N. N., Brief des Ehemanns, o. D. 194 HStA Wiesbaden, Abt. 369 Ms. 328, 56r-57r,Verhörsprotokoll wegen Hexereiverdacht, 5.2.1635. 195 FT, Μ Baville, 14.5.1774; s. a. FT, Prioratskurat Olivier, 2.3.1774. 196 Vgl. Anke Bennholdt-Thomsen/Alfredo Guzzoni, Zur Theorie des Versehens im 18. Jahrhundert. Ansätze einer pränatalen Psychologie. In: Thomas Kornbichler (Hg.), Klio und Psyche. Pfaffenweiler 1990, 112-125. 197 Second recueil, 21-24.

Die »Krankenbettgesellschaft«

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So gefürchtet war die Epilepsie, daß manche Ärzte und Angehörige sie auch bei sehr massiven Symptomen als bloßes »Nervenleiden« schönredeten. Noch einem Kranken mit zahlreichen schweren Anfällen - einmal fiel er dabei mit dem Gesicht ins Feuer - versicherte die Familie, er leide nur an »Vapeurs«." 8 Umgekehrt klammerten sich Patienten und Angehörige an die Hoffnung, es könne vielleicht doch nicht so schlimm sein, wenn charakteristische Symptome fehlten. So kommentierte eine Mutter die Krampfanfälle ihrer 16jährigen Tochter mit dem Hinweis, sie sei bei Verstand geblieben und schlage auch im Anfall nicht die Daumen ein, wie die Epileptiker es zu tun pflegten. 199 Der Wahnsinn wurde auch im 16. und 17. Jahrhundert oft durchaus nicht als dämonische Besessenheit, sondern als Ausdruck von Krankheit, etwa einer »Schwacheitt des Heuptes«, 200 begriffen. E r war sehr gefürchtet. Gott möge einen jeden Christenmenschen vor solcher Krankheit bewahren, kommentierte der Lübecker Bürgermeister Brokes den Fall eines Hauptmanns zu Mölln, der »ganz unsinnig und toll geworden« war. 2 1 Die Betroffenen ähnelten in ihrer »Wildheit« Tieren mehr als Menschen. Durch gutes Zureden, Schimpfen oder notfalls auch Züchtigung wollte man sie wieder zur Räson und damit zu ihrer Menschlichkeit bringen. Manchmal sah man freilich keinen anderen Ausweg, als sie festzubinden oder an einem »sicheren O r t « zu verwahren, zum Schutz ihrer selbst und dem ihrer Mitmenschen, aber zuweilen auch unter dem Druck der Nachbarschaft, die an der Gegenwart eines »Irren« Anstoß nahm.

Die »Krankenbettgesellschaft« Weit stärker als heute, so deutet sich in den Quellen immer wieder an, war Krankheit damals ein gemeinschaftliches, ja ein öffentliches Ereignis. Auch Schwerstkranke blieben meist zu Hause, im Kreis ihrer Familie und wurden nicht aus ihrem vertrauten Umfeld herausgerissen. Anders als lange Zeit angenommen, übernahm das Spital oder Krankenhaus zwar vielerorts schon lange vor 1800 auch medizinische Aufgaben, aber es war vor allem ein Zufluchtsort für alleinstehende und arme Kranke, die zu Hause nicht ausreichend versorgt waren.

198 FT, Brief der Mutter, Mme de Bouchet, 12.10.1769. 199 Storch II, 183f., E. L. v. C., 12.9.1723; es handelt sich um einen der seltenen Patientenbriefe in Storchs Sammlung. 200 T K 99 207r-208v, unsign. Schreiben des Vaters eines »Wahnsinnigen«, ca. 1578. 201 Brokes, 25f., Anm.

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Schenkt man den Berichten der Ärzte Glauben, dann waren die Kranken zu Hause oft von Menschen umringt, von der eigenen Familie, aber auch von Freunden und Bekannten. Den Ärzten war das allein schon deshalb ein Dorn im Auge, weil dadurch ihres Erachtens die ohnehin schon schlechte Luft in der Krankenstube noch ungesünder wurde. Den Laien aber waren Krankenbesuche offenbar Pflicht und Bedürfnis zugleich. Im Adel galten sie sogar als gesellschaftliches Muß, und man mußte ein Fernbleiben ausdrücklich entschuldigen und begründen.202 Aber auch in Handwerkerkreisen und in der einfacheren ländlichen Bevölkerung konnten die Kranken mit zahlreichem Besuch rechnen. Selbst in Seuchenzeiten überwogen zuweilen Pflichtgefühl, Solidarität und Neugierde die Angst vor einer Ansteckung. Zahlreiche Menschen flohen in Panik, als die Cholera im frühen 19. Jahrhundert durch Europa zog, aber gleichzeitig klagten italienische Ärzte über die Unvernunft von Freunden und Bekannten, die abends oder sonntags in großer Zahl zu Krankenbesuch kamen, die Schwerkranken umringten und sich sogar auf deren Betten setzten.203 Verwandte und Bekannte leisteten nicht nur Zuspruch. Sie nahmen auch am Krankheits- und Behandlungsgeschehen lebhaften Anteil. Sie äußerten ihre eigenen Vermutungen über die Natur der Krankheit. Sie empfahlen besonders begabte Heilkundige 4 oder als wirksam bewährte Heilmittel205 oder neue Diagnoseverfahren, wie Thurneissers Harnproben,206 oder sie rieten, der Kranke solle die Behandlung abbrechen, denn die Krankheit werde von selbst vergehen.207 Auch in Briefen teilte man sich gerne bewährte, erprobte Arzneien mit - übrigens auffällig oft gerade in Adelskreisen. Nachdem sie gehörte habe, daß »das böse Zahnweh noch immer mit unter dich incomodirt«, so etwa die Gräfin von Solms an ihr »hertzliebes Beliehen«, wolle sie ihr ein Mittel »welches mir offt hilft und letztens geholfen hat, communiciren«, und sie fügte gleich ein zweites hinzu, das ihre Mutter in einem vergleichbaren Fall von einer anderen Frau erfahren habe.208 Manche Kranke 202 203 204

205 206 207 208

Rijksarchief Arnhem, Archiv der Grafen von Coulembourg, Ms. 403, Sammlung von Briefen aus Krankheitszeiten, frühes 17. Jhd. Stolberg, Cholera (wie Anm. 172). In den Aussagen bei Streitigkeiten mit irregulären Heilern, wie sie aus Bologna überliefert sind, ist dies ein sehr auffälliges Element; regelmäßig erfuhren die - später enttäuschten Patienten über Bekannte oder Mittelsleute von dem betreffenden Heiler (AS Bologna, Studio 339-350). Heurne, N . N . , 29.7.1591 (lat.); Freunde hatten dem Kranken diverse Mittel gegen seine heftigen Schmerzen im After empfohlen. Sie habe sich von gutherzigen Leuten überreden lassen, Thurneisser ihren Urin zu schikken, meinte beispielsweise Judith Daniels ( T K 423b 139r, ca. 1581). T K 420a 215r, Balzer von Barfuß (oder Barwes), Mi. nach Lambertus 1571. Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Francke, 10.1/4: 48, Frid. Wilh. Louyse Solms (frühes 18. Jhd.).

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Pflege

sahen sich mit gutgemeinten therapeutischen Ratschlägen geradezu überhäuft. Als der 80jährige John Evelyn an schmerzhaften Hämorrhoiden litt, hielten nach seinen Worten, »meine besuchenden Nachbarn dies für eine geringfügige Erkrankung« und »ein jeder ist bereit seine Mittel zu empfehlen.« 20 ' Viele Menschen hätten ihnen die Gnade erwiesen, am Leiden seines schwerkranken, von Wassersucht gezeichneten Sohnes Anteil zu nehmen, berichtete ein Geistlicher. Aber aus der übertriebenen Erwartung heraus, die Krankheit müsse sofort verschwinden, hätten sie ungeduldig auf eine Punktion oder eine Behandlung mit dem Brenneisen gedrängt. 210 Wer gar Arzte zu seinen Freunden zählte, konnte sich der Empfehlungen womöglich kaum erwehren: »Ich muß Ihnen nun mitteilen,« so klagte ein magenkranker Patient, »daß all meine Freunde, die Arzte sowohl in Dublin als auch hier, mich bedrängten, viele Dinge zu gebrauchen, die wirklich vernünftig waren, die mir aber beim Versuch sehr zuwider waren, und meine Verwandten haben mich zu wiederholten Versuchen mit diesen Verordnungen so gedrängt, die mir gegen den Strich gingen. Ich wurde von allzu vielen Ratschlägen und Arzneien erdrückt, und es ging mir von Tag zu Tag schlechter, bis jedermann meinen Fall für hoffnungslos hielt, obschon ich mich selbst in Wahrheit nie für unheilbar hielt.« Schließlich habe er sich zu einer Behandlung nach eigenen Vorstellungen entschieden, und zur Verwunderung aller gehe es ihm nun viel besser, und er gedenke zu Weihnachten ins Ausland zu ver211 reisen.

Pflege Wer krank und bettlägerig ist, braucht Pflege, jemanden, der sich um ihn kümmert, etwas zu essen oder zu trinken bringt, ihm gegebenenfalls aus dem Bett hilft und ähnliche Dienste für ihn leistet. Für die subjektive Erfahrung von Kranksein, so dürfen wir annehmen, spielte die Qualität dieser Pflege auch damals eine ganz wesentliche Rolle. Über kaum einen Aspekt des medizinischen Alltags vergangener Jahrhunderte sind wir jedoch so schlecht informiert, wie über den Alltag der häuslichen Krankenpflege. Einschlägige Hinweise lassen sich nur an sehr verstreuter Stelle aufspüren, in Selbstzeugnissen, ärztlichen Fallgeschichten und gelegentlich auch einmal in Haushaltsbüchern und testamentarischen Verfügungen zugunsten Pflegender oder in Gerichtsakten, bei Streitigkeiten um den Lohn für bezahlte Pflege. Hier steht die historische Forschung noch ganz am Anfang.

209 210 211

Sloane 4075, 94-96, Evelyn, 28.7.1703. FT, Brief des Vaters, Μ Cart, 8.5.1785. Sloane 4075, 124, V. Ferguson, 13.11.1699.

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Fraglich ist vielfach schon, wer die Pflege der Kranken überhaupt übernahm. In den wohlhabenderen Schichten scheinen zuweilen Mägde, Lakaien, Zofen oder Dienstboten die Pflege besorgt zu haben. Die älteste Tochter Christoph von Bismarcks starb 1636 auf dem Schoß einer Magd.212 Den kränkelnden Mann der Mme de Guyon pflegte unter anderem eine Zofe.213 Im Einzelfall kümmerten sich Dienstboten und Untergebene sogar im eigenen Haus um die vornehmen Kranken.214 Daneben ist vereinzelt auch ausdrücklich von (vermutlich bezahlten) Wärtern oder Wärterinnen die Rede, oder von den »Frauen«, die am Krankenbett wachten.215 Uber die jungen Frauen, die die Nachtwachen am Krankenbett lieber den alten überließen, klagte Vincentz in Breslau.216 Auch Nachbarn, Freunde, Bekannte und Wirtsleute scheinen geholfen zu haben.217 Bövingh lobte die Leute seines »Logiments«, die ihm »alle möglichste Pflege« angedeihen ließen. Den kolikleidenden Abraham Scultetus wiederum pflegte 1595 sein Schüler, der Magister Müller, als er durch die Krankheit »abgemattet« war; dieser führte ihn »bey den Händen bald hieher, bald dorthin«.218 Wenn selbst eine Mme de Graffigny im 18. Jahrhundert notierte, sie werde für ein paar Tage die »Krankenwärterin« bei Mme Eynaud spielen, dann deutet schon ihre Wortwahl an, daß sich ihre Rolle nicht ausschließlich auf die einer Gesellschafterin beschränkte.219 In der einfacheren Bevölkerung scheinen die Besucher sogar ganz selbstverständlich mitgeholfen zu haben. Es sei bei besuchenden Leuten »auff dem Land nichts Newes«, verlautet beispielsweise im 17. Jahrhundert aus Württemberg, daß sie den Kranken anboten, das Bett zu machen.220 Andere wachten in fremden Häusern am Krankenbett eines Kindes.221 Auch bei medizinischen Verrichtungen wie dem Aderlaß halfen Nachbarn und andere Besucher mit, etwa indem sie die Patienten festhielten.222 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222

Bismarck, 74. G u y o n , 95. Sloane 4075, 9 1 - 9 3 , John Evelyn, seine lungenkranke Frau betr., 1702. FT, Mme Develay, 21.5.1791; FT, Mme de Faugeroux, Brief des Ehemanns, 12.6.1787; s. a. Lachmund/Stollberg, 54. Vincentz, 455. Bövingh, 121; auch Hermann Weinsberg wurde als Student von seiner Hauswirtin gesund gepflegt (Weinsberg I, 88f). Abraham Scultetus, Die Selbstbiographie des Heidelberger Theologen und Hofpredigers Abraham Scultetus (1566-1624). Hg. v. Gustav A . Benrath. Karslruhe 1966, 35. Graffigny III, 262, Okt. 1741; auch an anderer Stelle (ebd. 341) bezeichnete sie sich als Krankenwärterin (»garde malade«). HStA Stuttgart A 209, Bü. 1547, Gutachten der Tübinger juristischen Fakultät zum Hexenprozeß gegen die Hebamme Barbara Wildermuth, 24.10.1662. Ebd., Bü. 1668, Bericht des Physicus von Nagold und Altenstein, Dr. Oetinger, 12.3.1742. Ebd., Bü. 1921, Aussage des Nachbarn einer angeblich an übermäßigem Aderlaß verstorbenen Kranken, 2.1.1664.

Pflege

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Besonders unklar ist die Bedeutung bezahlter häuslicher Pflege, sei es im Hause der Kranken, sei es in dem der Pflegenden. Möglicherweise handelte es sich dabei in den höheren Schichten um eine wichtige Alternative zur Aufnahme in ein Spital. In den Nürnberger Gerichtsakten werden im 16. Jahrhundert etliche Frauen erwähnt, die für ihre Hilfe Geld bekamen. Der Margretha Flaschnerin wurden da beispielsweise 10 Pfund zugebilligt für die zehn Tage und Nächte, die sie die Heintzin »in irer Kranckheit gewartt vnd gepflegt« hatte.223 Eine andere Frau bestätigte, sie habe 98 Pfund bekommen, dafür daß sie die unverheiratete Margaretha Behaim »in schwere Kranckheit gewart vnd bey ir gehabtt.«224 Vierzig Pfennig sprach das Gericht der Margreth Weberin für jede Woche zu, die sie eine letztlich verstorbene Witwe in ihrer Krankheit »gewart« hatte.225 Wer auf Reisen war, war in der Regel von vornherein auf derlei bezahlte Pflege in einem Gasthaus angewiesen, wenn er nicht ins Spital gehen wollte, und gerade Männer aus den höheren Schichten waren in der Frühen Neuzeit oft viel unterwegs. Als Samuel Kiechel im späten 16. Jahrhundert auf der Durchreise in Königsberg an einem »Fieber am Hals« erkrankte, mußte er sich in der Herberge zur »güldenen Krone« zu Bett legen, »wölches ein unlustig Haushalten, garstig und unrein«.226 Wenn das Krankheitsbild gar Pestverdacht erregte, dann wollte womöglich, wie es Konrad Pellikan erlebte, kein Gasthaus den Kranken mehr aufnehmen.227 Die entscheidende Verantwortung für die Pflege hatten aber in den allermeisten Fällen offenbar Familienangehörige, Mütter, Ehefrauen, Schwestern und Töchter vor allem. Mme de Guyon etwa pflegte sowohl ihren Vater als auch, anfänglich, ihren 22 Jahre älteren Ehemann.228 Gott habe seine Frau nach einem schweren Sturz wieder gesunden lassen, meinte Hummel, »damit sy mir in dieser myner letzten Krankheit abwarten könnte, welches sie auch nach Vermögen verrichtet.« Der kranke Hieronymus Birckholtz wollte sein Weib selbst auf Reisen »vmb der Pflegung vnnd Warttung willen« um sich haben.230 Ein Nürnberger Bürger bedachte seine »liebe Hausfraw« Christina mit einem besonderen Vermächtnis, weil sie ihm, da er »so lange Zeitt mit groster schwerer belenglicher Kranckheit der Franzhoßen beladen geweßen«, »allen guttenn freuntlichen Willen vnnd Werkg erzeigtt«

223 224 225 226 227 228 229 230

StA Nürnberg, В 14 II 9, 52v, 1516. StA Nürnberg В 14 II 15, 29r. StA Nürnberg В 14 II 18, 1 6 3 r - v und 166v. Kiechel, 98. Pellikan, 35. G u y o n , 41 und 58. Hummel, 52. T K 421b, H. Birckholtz, 9.3.1577.

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habe, »mit wischen, waschen, heben vnd lehen [legen].«231 Ähnliches tat auch ein Kölner Bürger, mit dem Hinweis, seine Frau habe ihm »Bystant vnnd Hilff in synem beschwerlichen Krencken ertzeigt.«232 Den kranken Hieronymus Wolf pflegten seine Schwestern Anna und Maria.233 Auf die Pflege seiner Mutter war 1591 der kranke Gideo van Boetzelaar angewiesen.234 Sie könne kaum über ihre Zeit verfügen, klagte zwei Jahrhunderte später Mme Marnais, denn sie habe eine sehr alte Mutter, die eingehender und täglicher Sorge bedürfe.235 Auch die Tochter von Restif de Bretonne scheint sich in dessen Krankheiten um ihn gekümmert zu haben; berichtenswert fand er freilich nur, daß sie ihn einmal, als er am Bein verletzt war, allein und ohne Essen zurückließ, um ihren Verehrer zu sehen. Er mußte schließlich eine Nachbarin bitten, ihm Suppe zu kochen.236 Selbst Adlige sahen die persönliche Pflege von nahen Angehörigen offenbar als selbstverständliche Pflicht an. Nach 20 glücklichen Ehejahren sei sie bereit, für den Rest ihres Lebens für ihren kranken Mann die Krankenwärterin zu machen, versicherte die Marquise d'Agrain.237 Die Pflege eines chronisch Kranken war oft eine große seelische und körperliche Belastung. Dazu kam zuweilen noch die Angst vor Ansteckung. Noch Jahre später führten manche Patienten ihre eigene Krankheit auf die körperlichen und seelischen Belastungen zurück, die sie mit der Pflege einer Tante, Mutter oder eines geliebten Kindes auf sich genommen hätten; in der Regel waren solche mutmaßlichen Zusammenhänge mit der eigenen Krankheit sogar der Hauptgrund, warum sie ihr pflegerisches Tun überhaupt erwähnten. Drei Jahre lang pflegte Comtesse de Mouroux ihren kranken Mann in den Tod. Er litt, nach ärztlicher Einschätzung, an einem Lungengeschwür, das ihn langsam verzehrte. Der mühselige Beistand, die Sorgen, die Unannehmlichkeiten und die Angst um sich selbst und um ihre Kinder, die ihr Mann bis zum Schluß hatte sehen wollen, hätten sie schließlich seelisch zerrüttet.238 Uber vier Jahre, vom 16. bis zum 20. Lebensjahr, widmete sich eine andere Patientin der Pflege ihrer schwindsüchtigen Tante. Bald wurde

231 StA Nürnberg В 14 II 12, 136r-v, 1519. 232 StA Köln Testamente 2/B/848,1530; s. a. Jütte, Ärzte, 202f. 233 Wolf, Leben, 40f. und 44f. 234 Heurne, G. van Boetzelaar, 13.10.1591. 235 FT, Mme de Marnais, 22.12.1784 236 Retif de la Bretonne, Monsieur Nicolas ou le coeur humain devoile. Hg. v. Pierre Testud. Paris 1989, Bd. 2,147. 237 FT, Marquise d'Agrain, 4.7.1785; Anlaß ihres Briefes war allerdings, daß sie ihrer 18jg. Tochter eine solche Pflege des auserkorenen, älteren Ehemanns nicht zumuten wollte, falls dessen Beinleiden schlimmer wurde. 238 FT, Brief des Chev. d'Alberey, 13.2.1790.

Pflege

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sie selbst brustleidend.239 Mme de Möhn pflegte ihren todgeweihten Bruders gar nur acht Tage, zusammen mit der Mutter, und doch bekam sie ihre früheren heftigen Hustenanfälle wieder. Hinweise, daß auch Männer sich derart an der Krankenpflege beteiligten, sind viel seltener, aber es gibt sie.241 Als die Mutter des späteren Superintendenten Fabricius an der Schwindsucht erkrankte, verließ sein Vater sie. Sein Sohn, damals in einer Schusterlehre, kümmerte sich um die Bettlägerige.242 Voll Lob berichtete gar Ulrich van Hutten, wie sich Georg Gros bei seiner Syphiliskrankheit oft in seinem Krankenzimmer aufgehalten und gewissenhaft dafür gesorgt habe, daß er alles Nötige habe, »auch wenn ich von der abscheulichen Krankheit ekelhaft stank.«243 Im 18. Jahrhundert berichtete die Baronin von Stael-Holstein von ihrem Vater, dieser habe sich in deren langer Krankheit hingebungsvoll um ihre Mutter gekümmert und sich stundenlang nicht bewegt, wenn sie in seinen Armen endlich einmal etwas Schlaf fand.244 Er lasse seine kranke Mutter nur sehr wenig allein, schrieb auch Devaux an Mme de Graffigny. 245 Und am Bett des schwerkranken Jean-Baptiste le Doulx wechselten sich die (männlichen) Freunde ab.246 Besonders schwer erträglich konnte die Lage für die Familien Wahnsinniger werden. Zeitgenössische Gesuche von Angehörigen, die um die »sichere Verwahrung« im Zuchthaus, im Turm oder im Irrenhaus baten, legen davon beredtes Zeugnis ab. Gewalttätigkeiten, Selbstmordgefahr und gelegentlich auch die Angst vor Brandstiftung 4 waren die wichtigsten Gründe. Ausführlich schilderte Mme Develay im ausgehenden 18. Jahrhundert ihr häusliches Drama. Sieben Kinder hatte sie mit ihrem Mann, und das achte war unterwegs. Trotz eines ausgeprägten Altersunterschieds, so schrieb sie, sei ihre Ehe glücklich und von zarten Gefühlen erfüllt gewesen. Seit einigen Jahren aber habe sich der Zustand ihres Mannes verschlechtert. Er rege sich

239 FT, Mme de Merande, 4.10.1783. 240 FT, Brief der Mutter, Mme de la Roche, 19.1.1792. 241 Lachmund/Stollberg (S. 56) meinen, man habe in solchen Fällen eher das Außergewöhnliche eines solchen Tuns hervorgehoben. 242 Theodor Fabricius, Lebensbeschreibung des ersten anhaltischen Superintendenten. Hg. v. Dr. Münnich. In: Zerbster Jahrbuch 16 (1931), 37-94, hier S. 40. 243 Ulrich von Hutten, Des Ritters Ulrich von Hutten Brief [vom 25.10.1518] an den Nürnberger Patrizier Willibald Pirckheimer, in dem er über sein Leben Rechenschaft ablegt. In: ders., Deutsche Schriften. Hg. v. Peter Ukena. München 1970, 317-340, S. 337f.; vgl. Michael Peschke, Ulrich von Hutten (1488-1523) als Kranker und als medizinischer Schriftsteller. Köln 1985. 244 Baronne de Stael-Holstein, Memoires sur la vie privee de mon pere. Paris 1818, 94. 245 Graffigny III, 330, Anmerkung zu einem Brief von Devaux, August 1742. 246 Second recueil, Protokoll zu Jean-Baptiste le Doulx, 14—17. 247 So im Falle der »wahnsinnigen Schmidtin« zu Jena 1771, die wiederholt brennendes Papier in Holzschuppen und dergleichen geworfen hatte (HStA Weimar, В 7607a).

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über Kleinigkeiten auf und bekomme heftige Wutanfälle. Dann wieder packten ihn Ängste und Todesahnungen und er breche in Tränen aus. Gedanken und Sprache verwirrten sich. Schließlich wollte er seine Frau selbst nachts nicht mehr von sich lassen - bis sein Zustand umkippte und er ihr Gleichgültigkeit gegenüber seinem Leiden vorwarf. Er weigerte sich, überhaupt noch Getränke, Nahrung und Arzneien von ihr oder irgendeinem anderen Hausangehörigen anzunehmen. Er war überzeugt, sie trachte ihm in Wirklichkeit nach dem Leben, habe zusammen mit dem Arzt, den Hausangestellten und seinen besten Freunden den Plan gefaßt, ihn umzubringen. So sah sie sich plötzlich von dem grausam zurückgestoßen, »den allein ich liebe, den ich schätze, den ich ehre.« Mit dem Mordverdacht verbanden sich in verhängnisvoller Weise weitere Wahnvorstellungen. Er glaubte, eine große Erbschaft gemacht zu haben und hielt sich für einen der vornehmsten Männer Frankreichs - es gab also gute Gründe für die Mordabsichten. Schließlich nahm er im örtlichen Spital Zuflucht, nach eigenem Willen, wie seine Frau betonte.248 Ahnlich schwer tat sich der Earl of Derby, als er den wahnsinnigen John Getting zu sich nahm, in der irrigen Meinung, dessen Zustand habe sich gebessert. Der Kranke erwies sich bald als unlenkbar (»ungovernable«) und kaum zur Arbeit zu gebrauchen. Man kam nicht mit ihm zurecht. Schließlich wußte sich der Earl nicht mehr zu helfen und ließ ihn in das bekannte Irrenhaus Bedlam einweisen.249 Die Selbstmordabsichten Wahnsinniger stellten die Angehörigen auf eine ähnlich harte Probe. So versetzte ein junger Savoyarde mit wiederholten Versuchen, sich selbst das Leben zu nehmen, seine Umgebung in große Aufregung. Er machte sich mehrfach daran, in den nächsten Fluß zu springen, wollte sich auch die Kehle durchschneiden, sich erschießen, sich aufhängen, und siebzehn Tage lang verweigerte er alle Nahrung und wollte den Hungertod sterben, so daß man ihm mit Gewalt Flüssigkeit einflößte. Er wurde von seinen Geschwistern im väterlichen Haus versorgt, und zum Zeitpunkt der Konsultation ging es ihm etwas besser, nach Aderlässen, Abführmitteln, tröstenden Worten und kalten Bädern, die er anfangs gerne

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FT, Mme Develay, 21.5.1791; Alexandra Lutz hat kürzlich den Fall einer wahnsinnigen Frau geschildert, die, den Klagen ihres Mannes zufolge, überzeugt war, behext zu werden, und ihr (überwiegend von ihr selbst in die Ehe eingebrachtes) Vermögen für allerlei einschlägige Mittel dagegen ausgab (A. Lutz, Abel Glashoff verliert den Verstand. Annäherungen an das Schicksal einer Wahnsinnigen im ländlichen Schleswig-Holstein, 1775-1778. In: Martin Rheinheimer (Hg.), Subjektive Welten. Wahrnehmung und Identität in der Neuzeit. Neumünster 1998, 109-135); da sich die Eheleute um Unterhaltszahlungen stritten und die Frau das Verhalten ihres Mannes als entscheidende Ursache ihres (wiederkehrenden) Wahnsinns anprangerte, ist es in diesem Fall allerdings schwierig, ein genaueres Bild zu gewinnen. 249 Sloane 4075, 61-67, Briefe vom Frühjahr 1714.

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nahm und zu denen er später gezwungen wurde. Aber er verbrachte noch ganze Tage im Bett und wollte sich nicht ankleiden. 250 Einer breiten Öffentlichkeit bis heute bekannt ist, nicht zuletzt dank der literarischen Darstellung durch Georg Büchner, das Schicksal des wahnsinnigen Schriftstellers Lenz, der unter anderem bei dem bekannten Pfarrer Oberlin Zuflucht fand und dessen Familie durch sein Verhalten und seine Selbstmordversuche auf eine harte Probe stellte. Über die häusliche Krankenpflege in den ärmeren Schichten wissen wir noch viel weniger. Glauben wir den ärztlichen Volksbeschreibungen, so war es oft schlecht darum bestellt. Das fing schon mit den äußeren Umständen an: ein schmutziges Krankenbett, zuweilen gar nur ein Strohlager in einer engen, überheizten oder auch eisig kalten Stube. Chronisch Kranke gar durften nach ärztlicher Erfahrung kein großes Mitgefühl erwarten. Sie würden von den Angehörigen als Last empfunden, schlecht von ihnen behandelt und grob vernachlässigt. 25 ' Vermutlich übertrieben die Arzte hier, aber zweifellos war der länger anhaltende Ausfall einer Arbeitskraft, deren medizinische Behandlung obendrein erhebliche Summen verschlang, für viele Familien eine große Belastung.

Medizinische Versorgung Die Erfahrung von Krankheit ruft in allen Kulturen Bemühungen um eine angemessene Diagnose und Behandlung hervor. Nachdem sich die medizingeschichtliche Forschung lange Zeit fast ausschließlich für die Arzte interessierte, haben in jüngerer Zeit zahlreiche sozialgeschichtliche Studien die Vielfalt der medizinischen Praktiken und das breite Spektrum unterschiedlicher Heilangebote herausgearbeitet, auf das die Kranken und ihre Angehörigen früher zurückgreifen konnten. 252 Bei längeren Krankheitsverläufen machten viele Kranke von einer ganzen Reihe solcher Angebote Gebrauch, hintereinander oder auch parallel. A m Krankheitsbeginn stand oft die Selbsthilfe, denn in vielen Fällen bedurfte es keines gelehrten Arztes, um aus dem Beschwerdebild die jeweilige Krankheit zu diagnostizieren und eine Behandlung einzuleiten. Krankheiten wie Wassersucht, Fieber, Schwindel, Durchfall, Rheumatismus, Gicht,

250 FT, N. N., vermutl. von einem Angehörigen oder nahen Bekannten verfaßter Bericht, o. D. 251 Michael Stolberg, »Ihr Herz bleibt kalt bey den Leiden ihrer Angehörigen.« Historische Aspekte des Umgangs mit alten Kranken und Pflegebedürftigen. In: Blätter der Wohlfahrtspflege 135 (1988), Heft 1, 24-26. 252 Siehe u. a. Brockliss/Jones; Lebrun; Sabine Sander, Handwerkschirurgen. Sozialgeschichte einer verdrängten Berufsgruppe. Göttingen 1989; Loetz; Jütte, Ärzte; Stolberg, Heilkunde.

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Krämpfe oder Ausfluß konnten auch Laien erkennen. Auch die Ausscheidungen wurden mitunter sorgfältig betrachtet, denn sie gaben wichtige Aufschlüsse über die Vorgänge im Körperinneren. Gegebenenfalls schaute man sich auch in den Hals,253 fühlte den Puls oder betastete beim Verdacht auf eine Verstopfung oder eine Verhärtung den Körper. Er könne weder Schwellung noch Verhärtung entdecken, obwohl er am Morgen sehr ausgiebig danach gefühlt habe, schrieb in diesem Sinne ein irischer Geistlicher sogar über die Brust seiner Frau. Seine Frau meine freilich, es sei dort »eine kleine Verhärtung und ein ständiges Ziehen, wie sie es nennt.«254 An der Suche nach der richtigen Diagnose nahm offenbar nicht selten auch das weitere soziale Umfeld teil. Immer wieder berichteten die Kranken jedenfalls von den Verdachtsdiagnosen ihrer Umgebung. Von den »guten Frauen« war beispielsweise im eben genannten Fall die Rede, die die Bauchschmerzen der Kranken auf deren unzureichende Monatsblutungen, schlechtes Blut, Winde und Steinleiden zurückführten.255 »Die Leute mit denen ich hier über meinen Fall rede, sagen mir, es sei nervös«, berichtete ein von Schwindelanfällen geplagter Geschichtsprofessor aus Cambridge. Sie rieten ihm, bald zum Arzt zu gehen, ehe sich das ganze zu Schlaganfall oder Lähmung entwickle.256 Die meisten Familien scheinen auch Hausmittel gekannt zu haben, mit denen man es vor allem bei leichteren Beschwerden und Krankheiten zunächst einmal versuchte, und zu denen man womöglich auch zurückkehrte, wenn sich eine professionelle Behandlung als unwirksam erwies. Einschlägige Empfehlungen wurden rege ausgetauscht. Die Zahl dieser Hausmittel war unübersehbar, und ich kann hier nur kurz einen groben Eindruck vermitteln.257 Pflanzliche Abführmittel sowie Einläufe waren besonders populär. Manche Kranke setzten auf ein einziges, spezifisches Hausmittel bei allen Krankheitsfällen. Μ Develay etwa, der grundsätzlich den ärztlichen Medikamenten mißtraute, diente die Zwiebel als eine solche Panazee.258 In der Regel galten einzelne Hausmittel jeweils bei speziellen Leiden als besonders bewährt. Mit heißem Moos, einem Bauernmittel, wie sie erzählte, behandelte die Comtesse de Wedel ihre ausbleibenden Monatsblutungen, nachdem die Arzte ans Ende ihrer Weisheit gelangt waren; die Blutungen setzten wieder ein.259 Die Vorschriften zur Herstellung und Einnahme waren 253 Graffigny III, 234. 254 Jurin, 398, 9.6.1733. 255 Ebd. 256 Jurin 328-330,20.2.1726. 257 Vgl. die ausgezeichnete, allerdings auf England konzentrierte Darstellung in Wear, Knowledge. 258 259

FT, Mme Develay, 21.5.1791 FT, Comtesse de Wedel, Kopenhagen, 12.11.1784.

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zuweilen recht kompliziert. Einem Steinleidenden empfahl man beispielsweise ein »in Branntwein eingeweichtes Knoblauch-Haupt einzunehmen, just wenn der neue Mond eintritt.« 260 In der äußerlichen Behandlung von Hautveränderungen, aber auch von Schmerzen, waren (zumindest in Süddeutschland) auch Tierfette aller Art sehr verbreitet.261 Manche Kranke stellten auch Ernährung und Lebensweise um, ohne vorher einen Arzt zu konsultieren. Sie griffen dabei zuweilen zu recht drastischen Mitteln. O b seiner heftigen, kolikartigen Schmerzen im Lendenbereich setzte sich Major Bouju schlicht auf Milchdiät. 262 Eine Zwischenstellung zwischen Hausmitteln und professioneller Behandlung nahmen kommerziell erhältliche Spezifika, Geheim- und Universalmittel ein. Apotheker, Laboranten, aber auch Ärzte traten vor allem im 18. Jahrhundert mit immer neuen Mitteln auf diesem florierenden Markt in Erscheinung. Manche Mittel waren in ganz Europa verbreitet und machten ihre Erfinder reich.263 Zu den bekanntesten, auch in den Patientenbriefen öfters erwähnten Mitteln zählten der Theriak, der Orvietan, der Gräfinnenpuder (»poudre de la comtesse«), die Rufus-Pillen, der Lebensbalsam von L e Lievre, James' Puder aus England, die heute noch bekannten Hoffmannstropfen, eine Mischung aus Alkohol und Äther, der von Augsburg aus vertriebene Schauer'sche Balsam, Pippel's Tieröl, das Homberger Beruhigungssalz und, in Frankreich besonders verbreitet, das Ailhaudsche Reinigungsmittel. 264 Viele dieser Mittel wirkten in erster Linie laxierend oder erzeugten starken Brechreiz. Dazu kamen die Spezifika gegen diverse Krankheiten, der »balsamische Sirup« der Schwestern von Ste. Perrine de Chaillot etwa, den man Μ Gringet gegen sein Asthma empfahl. 265 Zahlreiche Mittel wurden auch speziell gegen venerische Erkrankungen angepriesen. Eine den Spezifika und Universalmitteln vergleichbare Rolle spielten seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert die Mineralwässer und Badekuren. Sie verdankten ihren Aufstieg nicht zuletzt der Iatrochemie mit ihrer besonderen Wertschätzung für mineralische, chemisch definierte Heilstoffe. Zeitgenössische Ärzte und Kranke waren von den günstigen Wirkungen weithin überzeugt. Manche Patienten schilderten wie sich ihr Zustand schon nach wenigen Schlucken Mineralwasser deutlich gebessert oder auch verschlechtert habe. Im 18. Jahrhundert entstand daraus ein blühender und hochprofi260 261 262 263 264 265

M C 5, 326-333, N . N . , Prorektor. C g m 6874. F T , Major Bouju, 1773. Vgl. Probst, bes. 77-127; Franklin, 207-237, basierend auf einer Sammlung von zeitgenössischen Anzeigen. Vgl. Jean-Gaspard Ailhaud, Medecine universelle prouvee par le raisonnement demontree par Γ experience. Carpentras 1760. F T , Μ Gringet, Chambery 4.1.1784.

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tabler Handel mit in Flaschen abgefülltem Mineralwasser für die Kur zu Hause. 266 Erst später wurden die Mineralwässer weitgehend entmedikalisiert und zu jenem gewöhnlichen Getränk, für das sie bei uns heute weitgehend gelten. Zahlreich Kranke machten sich auch auf den Weg zu einem der berühmten Heilbäder wie Schwabach, Sedlitz, Ems, Spa, Vichy, Plombieres, Forges, Bareges, um dort das heilkräftige Wasser zu trinken oder darin zu baden. Die Wahl der geeigneten Heilquelle war dabei ähnlich entscheidend wie die des passenden Medikaments. Deshalb fragten viele Patienten fragten den fernen Arzt gezielt, welches Mineralwasser oder welches Heilbad in ihrem besonderen Fall den besten Erfolg versprach. Uber die Wirkungen verschiedener Hausmittel, Mineralwässer oder Geheimmittel tauschten sich die Laien auch rege untereinander aus. O f t waren im einzelnen Krankheitsfall die günstigen Erfahrungen und Empfehlungen anderer für die Auswahl des geeigneten Mittels ausschlaggebend. So gab ein Pfarrer seinem ödemkranken Sohn Weinläuse in Wein zu trinken, nachdem die Frau eines Geistlichen aus dem Bekanntenkreis von den günstigen Wirkungen dieses Mittels in einem ähnlichen Fall berichtet hatte.267 Zu den Hausmitteln im weiteren Sinne läßt sich auch der Aderlaß zählen. Manche Menschen gingen offenbar gleich direkt zu einem Aderlasser, wenn sie einen Aderlaß für nötig hielten,268 und viele ließen sich den Aderlaß vorbeugend machen, meist im Frühjahr und im Herbst. Sechsunddreißig Aderlässe in achtzehn Jahren zählte eine von Hahnemanns Patientinnen noch im frühen 19. Jahrhundert. 269 Erst im Laufe des 19. Jahrhundert schilderten die Arzte einen allmählichen Bedeutungsverlust der Praxis eines vorbeugenden Aderlasses. Man beschränkte ihn auf die Schwangerschaft, in der auch viele Arzte ihn weiterhin als unverzichtbar empfahlen. 270 Erwies sich die Selbstbehandlung im Familien- und Bekanntenkreis als erfolglos oder war die Natur der Krankheit ungewiß, so konnten die Kranken oder ihre Angehörigen, von Ort zu Ort unterschiedlich, auf ein mehr oder weniger breites Spektrum von Heilkundigen zurückgreifen. U n d sie

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Franklin, 162-199; Laurence W. B. Brockliss, The development of the spa in seventeenthcentury France. In: R o y Porter (Hg.), The medical history of waters and spas. L o n d o n 1990, 23-47; Pascale Cosma-Muller, Entre science et commerce. Les eaux minerales en France ä la fin de l'Ancien Regime. In: Jean-Pierre Goubert (Hg.), L a n^dicalisation de la societe fran?aise 1770-1830. Waterloo, Ont. 1982, 254-263. F T , Schreiben des Vaters, Pfarrer Cart, 21.6.1785. Vereinzelt finden sich sogar Hinweise, daß eine Dienstherrschaft den Aderlaß an den Bediensteten selbst vornahm; vgl. Second recueil, 21-24, Marie-Anna Couronneau. Н А С 2,27,1837. C g m 6874; »ziemlich häufig« wurde beispielsweise, nach eigener Darstellung, noch im frühen 19. Jahrhundert M m e Monteaux zur Ader gelassen ( Н А С 2, 14, M m e Monteaux, Paris 29.5.1837).

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machten von ihrer Wahlmöglichkeit regen Gebrauch. Die politischen und gesetzgeberischen Rahmenbedingungen heilkundlicher Tätigkeit waren in den europäischen Ländern recht unterschiedlich und veränderten sich im Zeitverlauf. Drei Gruppen von Heilern lassen sich jedoch grob fast überall unterscheiden. Eine kleine Elite akademisch gebildeter Arzte und Chirurgen konzentrierte sich überwiegend, aber keineswegs ausschließlich auf die größeren Städte. 1 Sie vertraten in ihrer großen Mehrheit die offizielle (freilich in sich durchaus vielfältige) Medizin wie sie an den Universitäten gelehrt wurde. Einzelne Arzte begaben sich aber auch auf neue Wege und entwickelten »alternative« Theorien und Heilverfahren. Im 16. und frühen 17. Jahrhundert machte vor allem der Paracelsismus Furore. Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert kamen mit Homöopathie, Mesmerismus, Naturheilkunde, Baunscheidtismus und dergleichen eine ganze Reihe von Lehren und Verfahren auf den Gesundheitsmarkt, deren ärztliche Vertreter nicht nur von der Schulmedizin ausgegrenzt wurden, sondern sich auch selbst als deren Widerpart verstanden. 272 Sie erweiterten damit das Spektrum der verfügbaren Behandlungsangebote nochmals. Andere Arzte gaben ihrer Medizin immerhin einen gewissen charakteristischen Anstrich und sicherten sich so eine Nische auf dem Markt medizinischer Angebote: wenn andere Therapien versagt hatten, gab ihr Ansatz aufgrund seiner Andersartigkeit nochmals Hoffnung. Theodore Tronchin und teilweise auch Samuel Tissot beispielsweise setzten in besonderem Maße auf »natürliche« Heilweisen, auf frische Luft und Bewegung. Andere gründeten ihren Ruf auf eine besondere Behandlungsart, die sie bei fast allen Krankheiten einsetzten. Pierre Pomme etwa, auf den wir noch zurückkommen werden, verschrieb den meisten Patienten stundenlange Bäder und erlangte damit landesweiten Ruhm. 273 Neben den Ärzten wirkte jahrhundertelang eine oft um ein Vielfaches größere Zahl von handwerklich oder handwerksähnlich gebildeten Heilern als Handwerkschirurgen, Bader oder Barbiere. Sie übten vielerorts bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die gesamte Medizin aus und waren für die medizinische Versorgung der großen Bevölkerungsmehrheit viel wichtiger als die studierten Ärzte. Unter den Druck ärztlicher Professionalisierungsbestrebungen sahen sie sich allerdings vielerorts zunehmend durch Verordnungen

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Insbesondere in Frankreich erlangten die gebildeten Chirurgen seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert, nach ihrer Trennung von Barbieren, einen vergleichsweise hohen Status (Toby Gelfand, Professionalizing medicine. Paris surgeons and medical science and institutions in the eighteenth century. Westport, Conn. 1980).

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Uberblick bei Jütte, Geschichte. Pomme, Traite.

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und Gesetze in ihrem Wirkungskreis empfindlich eingeengt. Am Ende sollten sie gar nur mehr medizinische Hilfstätigkeiten verrichten.274 Schließlich gab es eine Vielzahl von Laienbehandlern, Frauen und Männer. Manche befaßten sich nur gelegentlich, im Verwandten- und Bekanntenkreis mit der Krankenbehandlung, andere machten die Medizin zu ihrem Broterwerb. Manche waren Generalisten und behandelten alle möglichen Krankheiten, andere waren auf bestimmte Krankheiten oder Diagnose- und Heilverfahren spezialisiert - das Spektrum reichte von den Knochensetzern und Kräuterfrauen bis zu Sympathieheilern und Exorzisten.275 Dieser Pluralismus der Heilangebote eröffnete den Kranken die Möglichkeit, je nach persönlichen Vorlieben und der mutmaßlichen Natur ihrer Krankheit den geeigneten Heiler zu wählen. Und im Falle eines Fehlschlags konnten sie mit nahezu gleicher Erfolgsaussicht mit einem anderen Heiler und/oder einem anderen Heilverfahren ihr Glück versuchen. »Weiter schauen« nannte man das später im Bayern des 19. Jahrhunderts. Bei schweren, längeren Erkrankungen versuchten manche Kranke es immer wieder mit einem neuen Heilkundigen, in der Hoffnung, doch noch Hilfe zu finden. Selbst im Bekanntenkreis weckte das zuweilen Skepsis. Drei Arzte, zwei Barbiere »und sunst vil Leuthe und Erzte, Menner und Weyber« habe der Bürgermeister Hassz 1544 in seiner letzten Krankheit hinzugezogen, berichtete Paul Schneider aus Görlitz und fügte hinzu, das komme ihm vor » w y eyner wolt eyn Fewer leschen und güsse gebranten Weyn« hinein.276 Im Ausmaß, in dem die verschiedenen Arten von Heilkundigen von unterschiedlichen Bevölkerungsteilen konsultiert wurden, finden sich freilich deutliche Unterschiede. Die höheren Schichten bevorzugten schon im 16. und 17. Jahrhundert in aller Regel die Hilfe gebildeter Ärzte und Wundärzte.277 In Selbstzeugnissen erscheinen sie vielfach als erste Anlaufstelle. Öfters ist da gar die Rede von einem bestimmten Arzt, dessen man sich »gewöhnlich« bediente, also von einer Art Hausarzt. So mancher wohlhabende Patient versicherte sich aber auch der Dienste mehrerer Ärzte und versammelte sie gegebenenfalls täglich gemeinsam an seinem Bett. Städte und Herrscherhöfe bemühten sich nach Kräften, die besten, renommiertesten Ärzte an sich zu binden, und ließen sie nur mit ausdrücklicher Genehmigung verreisen. Im 18. Jahrhunderts wurden die Ärzte dann von den Wohlhabenden selbst bei geringfügigen Beschwerden konsultiert. 274 So etwa, besonders ausgeprägt, die Entwicklung in Bayern (Stolberg, Heilkunde). 275 Matthew Ramsey, Professional and popular medicine in France, 1770-1830. The social world of medical practice. Cambridge 1988; Probst; Stolberg, Heilkunde. 276 Paul Schneider, Diarium des Görlitzer Consul Paul Schneider (1532-1545). Hg. v. E. Schulze. In: Neues Lausitzisches Magazin 71 (1895), 1-69, S. 60. 277 Brockliss/Jones, 288f.; Lachmund/Stollberg; Porter/Porter, Patient's progress, 53 und 209f.

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Auf eine merkliche Überlegenheit der ärztlichen Behandlungsmethoden im Vergleich zum natürlichen Verlauf - oder zur Behandlung mit Kräutern oder Gebeten - läßt sich diese Bevorzugung der akademischen Arzte übrigens nach heutigen Maßstäben nicht zurückführen. Die allermeisten der damaligen Mittel und Behandlungsverfahren gelten in der modernen Medizin als nutzlos, wenn nicht gar schädlich. Viele gebildete Zeitgenossen waren jedoch offenbar bereit, den Ärzten aufgrund der Wissenschaftlichkeit und »Rationalität« ihres Denkens und Tuns, einen solchen Kompetenzvorsprung zuzuschreiben. 278 Hinzu kamen vermutlich, in Frankreich noch mehr als in Deutschland, umfassende gesellschaftliche Wandlungsprozesse. In der gleichen Zeit, zu der sich ein eigenständiges städtisches, bürgerliches Selbstbewußtsein zu formieren begann, wurde die Nachahmung adliger und insbesondere höfischer Lebensformen stärker denn je zum Werkzeug und Ausdruck bürgerlichen Aufstiegswillens. 279 Einen akademisch gebildeten Arzt gewissermaßen zum Haus- oder Leibarzt zu haben, wurde noch mehr als früher zum Statussymbol, und das meiste »symbolische Kapital«, so darf man annehmen, ließ sich herausschlagen, wenn man sich der Dienste einer hochberühmten und hochgelobten medizinischen Koryphäen versicherte, eines Bordeu, eines Petit, eines Tronchin oder eines Tissot - oder sie gar gemeinsam um das Krankenbett versammelte. 280 Die Kosten spielten in diesen Schichten meist nur eine untergeordnete Rolle, auch wenn sie sich bei längerem Krankheitsverlauf zu erklecklichen Summen addierten. 28-30.000 Livres hatte ein 31 jähriger Advokat nach eigenem Bekunden bereits für seine Behandlung ausgegeben, ehe er sich an Tissot wandte.281 Das heißt nicht, daß sich die Oberschichten ausschließlich ärztlicher Hilfe bedient hätten. Zumal dann, wenn diese versagte, riefen auch wohlhabendere und gebildetere Kranke, bis in die königliche Familie hinein,282 einen renommierten Heiler oder suchten diesen sogar im eigenen Hause auf.283 Nachdem um 1600 der ehemalige schwäbische Landvogt, Ritter von Trozberg, mit seiner schweren »Podagra« bei einem »Wundermann« rasche Hilfe gefunden hatte, der nur mit Wasser und »aufgelegten gesegneten Kräutern« zu kurieren pflegte, schickten sich auch etliche andere hochrangige Adlige an, ihn mit dem gleichen Leiden zu konsultieren. Der bekannte Jesuit Petrus Canisius verteidigte den Heiler ausdrücklich gegen den Vorwurf, all dies sei 278 Brockliss/Jones, 288-290. 279 Ausführlich hierzu Barber (wie Anm. 88). 280 Vgl. Delaunay; Henry Tronchin, Un medecin du XVIIIe siecle. Theodore Tronchin (1709-1781). Paris/Genf 1906. 281 FT, Μ Dauphin, 5.6.1772. 282 Caylus. 283 Francois Lebrun, Medecins et empiriques ä la cour de Louis XIV. In: Histoire, economie, societe 3 (1984), 557-566; Brockliss/Jones, 291f.

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falsches, abergläubisches Wunderwerk. 284 Obschon sie ihre Ärzte sehr lobte, scheute sich im 18. Jahrhundert selbst eine Mme de Chastenay nicht zwei-, dreimal Harnschauer aufzusuchen, freilich um festzustellen, daß deren Diagnose mit der der gelehrtesten Arzte übereinstimmte.285 Landesweiten Ruhm erlangte damals eine Lothringer Familie, die unter dem Namen ihres Dorfes Valdageoux bekannt war. Ihren Mitgliedern sagte man großartige Fähigkeiten beim Einrichten von Knochenbrüchen nach. Als einer von ihnen den gebrochenen Arm der Herzogin von Luynes erfolgreich behandelte, der unter den Händen der Chirurgen ganz fehlerhaft zusammengewachsen war, war das in der vornehmen Gesellschaft Gesprächsthema.286 Bei einem anderen Heiler, Michel Schüppach in Langnau (1707-1781) im Schweizer Emmental, gab sich gar die hohe Gesellschaft aus ganz Europa ein Stelldichein.287 Selbst in den Briefen an Tissot, der in seinen Schriften lautstark gegen solche »Kurpfuscher« wetterte,288 taucht der Name ein paarmal auf, etwa im Falle eines kranken Klostergeistlichen, den ein Mitbruder unbedingt zu Schüppach schicken wollte.289 Die in der Forschung zeitweilig vertretene These, die breite Bevölkerung habe ihrerseits fast nie ärztliche Hilfe beansprucht, hat sich mittlerweile als unhaltbar erwiesen. Schon die Fallgeschichten zeitgenössischer Arzte belegen das zur Genüge. In manchen ärztlichen Praxen stellten wohlhabende, gebildete Patienten sogar nur eine kleine Minderheit.290 Grundsätzlich konnten sich also auch zahlreiche Handwerker und Bauern eine ärztliche Behandlung leisten. Im Gegensatz zu den oberen Schichten scheinen sie einen Arzt allerdings oft erst dann konsultiert zu haben, wenn die Heilversuche anderer fehlschlugen. Die ärztlichen Dienste waren ja auch vergleichsweise teuer. Dazu kam noch die Apothekerrechnung, deren Höhe die ärztlichen Gebühren womöglich noch übertraf. Selbst wohlhabende Patienten Tissots und mehr noch manche der bürgerlichen Patienten Hahnemanns, der für seine hohen Honorare bekannt war, gelangten durchaus an die Grenzen 284 285 286 287

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Geizkofler, 90-92. Chastenay II, 36. Deffand II, 1 4 - 1 6 , 1.2.1770. Vgl. Camille Vieillard, U n uromante au XVIIIe siecle. Michel Schuppach. In: Bulletin de la societe fran^aise d'histoire de la medecine 2 (1903), 1 4 6 - 1 6 4 ; Eugen Wehren, Das medizinische W e r k des Wundarztes Michel Schüppach ( 1 7 0 7 - 1 7 8 1 ) an Hand seiner Rezept- und Ordinationsbücher. In: Berner Zeitschrift f ü r Geschichte und Heimatkunde 47 (1985), 8 5 166; Stephanie-Felicite Comtesse du Crest de St. Aubin Genlis, Souvenirs de Felicie L*. Paris 1804, 1 9 4 - 1 9 6 . Tissot, Anleitung, 6 4 7 - 6 7 8 , »Von den Marktschreyern und Dorfärzten«. FT, ärztl. Schreiben, den kranken Domenikaner Schinz betr. (lat.); FT, in der dritten Person, wahrscheinlich von den Eltern verfaßter Brief, ein von Absencen geplagtes 9jg. Mädchen betr.; Schuppach verordnete ein Zugpflaster am Kopf, allerdings ohne Erfolg. Brockliss/Jones, 284f. und 537-540.

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ihrer finanziellen Möglichkeiten. Das galt zumindest bei einer längeren Behandlung, wie sie gerade für Hahnemanns homöopathische Praxis typisch war. Zuweilen bat man um einen Nachlaß oder gar um kostenlosen Rat. 2 " Für die Unterschichten fehlt es an aussagekräftigen Selbstzeugnissen, aber schon das Mißverhältnis zwischen den durchschnittlichen Tages- oder Wochenlöhnen und den Kosten einer einzigen ärztlichen Konsultation spricht für sich. Gewiß konnten auch viele ärmere Familien das nötige Geld gegebenenfalls aufbringen. Aber die Hilfe von Handwerkschirurgen und Laienbehandlern war in der Regel deutlich billiger und manche von diesen verzichteten auch auf die teurere persönliche Visite (und die Weggebühren) und ließen sich einfach nur den Urin bringen. Teilweise gaben sie auch (meist verbotenerweise) selbst Medikamente aus und minderten so zudem die Arzneikosten. Allerdings konnte selbst die Hilfe eines einfachen Baders oder eines irregulären Heilers den Geldbeutel eines durchschnittlichen Handwerkers oder Bauern ganz erheblich belasten. Abgesehen vom Geld spielte in diesen Schichten sicher auch die soziale Distanz zum Arzt eine wichtige Rolle. Man denke allein an die vornehme Kleidung der akademischen Ärzte, mit Umhang, Brustkrause, Manschetten und Stock. 292 Mancherorts war auch die enge Bindung der Arzte an eine ungeliebte Obrigkeit der Nachfrage nach ihren Diensten hinderlich.293 Und nicht zuletzt differenzierte man nach der Art des Leidens. Bei Krampfanfällen und Wahnsinn, die noch im 19. Jahrhundert vielfach übernatürlichen, dämonischen Kräften zugeschrieben wurden, schien der Arzt vielfach von vornherein inkompetent. Er verstand sich nicht auf jene sympathetischen oder exorzistischen Praktiken, die nach verbreiteter Uberzeugung in solchen Fällen allein Erfolg versprachen.

Die Arzt-Patienten-Beziehung Die Geschichte der Arzt-Patienten-Beziehung hat in jüngerer Zeit wachsendes Interesse gefunden, auch unter dem Eindruck einer verbreiteten Kritik an den Defiziten einer oft als anonym, ja inhuman beschriebenen modernen Krankenhausmedizin. Einem zuweilen stark überzeichneten negativen Bild von einer entmenschlichten, technikzentrierten medizinischen Moderne (das beispielsweise Umfragen unter Patienten nach der Entlassung aus dem Kran-

291

292 293

Robert Jütte, » U n d es sammelte sich ohne Verdruß von Seiten des Kranken in des Arztes Beutel.« Samuel Hahnemann und die Honorarfrage. In: Medizin, Gesellschaft und G e schichte 18 (1999), 149-167; Stolberg, Krankheitserfahrung. Alfred Franklin, La vie privee d'autrefois. Les medecins. Paris 1892, 146. Brockliss/Jones, 535; Stolberg, Heilkunde, 259-276.

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kenhaus nur beschränkt bestätigen) wird gerne die väterlich-einfühlsame Figur des alten »Hausarztes« gegenübergestellt und zuweilen ins Romantische verklärt. Ubersehen wird dabei, daß sich früher nur eine kleine Minderheit von wohlhabenderen, gebildeteren Patienten überhaupt regelmäßig an einen akademischen Arzt wandte, und noch weniger einen »Hausarzt« im engeren Sinne hatten. Wie wir sehen werden, war das Arzt-Patienten-Verhältnis zudem durchaus nicht frei von Spannungen, Mißverständnissen und Konflikten. Richtig ist jedoch zunächst, daß sich sowohl die Rahmenbedingungen als auch die Form und Struktur der Begegnung zwischen den Kranken und ihren Ärzten in der Frühen Neuzeit in mancher Hinsicht ganz anders gestalteten als heute, und daß sie insgesamt wohl mehr Raum boten für eine echte persönliche Begegnung. Anhand zeitgenössischer Selbstzeugnisse werden wir uns im folgenden vorwiegend auf die quellenmäßig gut belegte Beziehung der Arzte zu ihren wohlhabenderen, gebildeteren Patienten konzentrieren. Die Patientenbriefe sind die dabei in doppelter Weise besonders aufschlußreich. Zum einen berichten sie vielfach von früheren Begegnungen mit Ärzten und Heilern unterschiedlicher Couleur. Zum anderen sind sie selbst Spiegel einer Arzt-Patienten-Beziehung, die allerdings, soweit es sich um eine ausschließliche Fernbehandlung handelte, den besonderen Bedingungen einer brieflichen Beziehung gehorchte. Schon die äußeren Rahmenbedingungen der Begegnung zwischen Ärzten und Patienten unterschieden sich wesentlich von jenen, die uns heute vertraut sind. Wie schon angedeutet, war die ärztliche Praxis damals weitgehend Hausbesuchspraxis. Ärztliche Sprechstunden - zunächst durchaus im Wortsinn als eine Stunde zu verstehen, zu der der Arzt in seinem Haus aufgesucht werden konnte - und poliklinische Ambulanzen an den Krankenhäusern setzten sich erst im 19. Jahrhundert allmählich durch. Sie zielten zudem in der Regel vorwiegend oder ausschließlich auf die Armenkranken. Nur einzelne hochberühmte Pariser Koryphäen wie Tronchin oder Corvisart konnten es sich leisten, die Verhältnisse umzukehren und auch reiche Patienten zu sich zu bestellen. Für die Kranken war das offenbar gewöhnungsbedürftig. Als »bizarr« bezeichnete Marie Victorine de Chastenay rückblickend ihre diesbezügliche Erfahrung mit Corvisart, den man um einen Termin bitten mußte, an einem bestimmten Tag zu festgelegter Stunde, an dem man zu ihm kommen durfte.294 In Deutschland bemühte sich Samuel Hahnemann noch in den 1820er Jahren vergeblich, seine Kollegen von der üblichen Hausbesuchspraxis abzubringen, in der sich der Arzt nach seiner Einschätzung stets zu entwürdigen drohte.295

294

Chastenay II, 35.

295

Vgl. Stolberg, Krankheitserfahrung.

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Für gewöhnlich begegnete der Arzt seinen Patienten also als Gast, und nicht, wie im Krankenhaus oder in der eigenen ärztlichen Praxis, als Hausherr oder als Vertreter einer mächtigen Institution. Damit waren die Voraussetzungen gegeben für eine persönliche Beziehung, die immer wieder auch die Grenzen einer diagnostischen und therapeutischen Interaktion überschritt. So manch einer von Thurneissers Patienten wünschte sich ein persönliches Gespräch, lud den Arzt zum Mahl und zur Übernachtung ein und viele nannten ihn - was man damals im Briefverkehr allerdings insgesamt schneller tat - einen »guten Freund«. Sie waren »zunächst Arzte und dann Freunde«, schrieb im 18. Jahrhundert Marie Victorine de Chastenay, in deren Vaterhaus zahlreiche Arzte verkehrten, und ihren Hausarzt Larue nannte sie ausdrücklich »unseren Chirurgen und Freund«.296 In vornehmen Pariser Haushalten, so Chastenay, habe die Arzte oft sogar ein eigenes Gedeck erwartet. Sie beteiligten sich am Spiel oder am gemeinsamen Musizieren.297 In Notsituationen taten manche Ärzte noch weit mehr, etwa indem sie ihren vornehmen Patienten bei der Flucht vor den revolutionären Unruhen halfen.298 Persönlich, auf die jeweilige körperliche Verfaßtheit zugeschneidert, sollte sich auch die Behandlung gestalten, und manche Arzte verstanden es vorzüglich, solche Bedürfnisse zu befriedigen. So war der hypochondrische Hofmeister Gringet sehr beeindruckt von der Sorgfalt des berühmten Villermoz. Mehr als eine Stunde lang fühlte dieser den Puls, ehe er zu dem sicheren Schluß kam, es liege kein Fieber vor.299 Ähnlich ausführlich tastete Helvetius den Puls des Königs.3 Hahnemann betonte, wie unverzichtbar es für ihn sei, genauen Aufschluß über den Zustand und über die jeweiligen Reaktionen auf Veränderungen von Diät oder Medikation zu erlangen, und forderte von seinen Patienten sogar tägliche Aufzeichnungen ihres Befindens.501 Wenn es dem Arzt gelang, den Kranken und ihren Angehörigen den Eindruck zu vermitteln, er habe ihre ganz individuelle, persönliche Konstitution genau erkundet und in seiner Therapie berücksichtigt, dann konnte er damit zugleich die Patienten stärker an sich binden. Zwangsläufig kannte er den Körper des Kranken besser als jeder neu hinzugezogene Arzt. »Die weill euch mein Complecktion, Natur vnnd Kranckheit sunderlichen woll

296

Chastenay I, 43 und II, 13.

297

Ebd., I, 43 und 294, sowie II, 1 7 - 1 9 .

298

Ebd., 1 , 1 5 4 und 205.

299

F T , Μ Gringet, 4.1.1784; erwähnenswert ist, daß die Konsultation durch die Großzügigkeit der Comtesse de Perron ermöglicht wurde; bei ihr war der Kranke vermutlich in Diensten und sie zu beeindrucken, mag das eigentliche Ziel von Villermoz gewesen sein.

300

Mathieu Marais, Journal et memoires sur la regence et le regne de Louis X V ( 1 7 1 5 - 1 7 3 7 ) . Hg. ν. Μ D e Lescure. Bd. 1. Paris 1863, 182.

301

Vgl. Stolberg, Krankheitserfahrung.

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Teil 1: Kranksein im Alltag

bekhant«, so einer von Thurneissers Patienten, wolle er seinen Rat.302 »Weiln mein Medicus gestorben, der meine Natur gekant«, so eine andere Patientin, habe sie sich »zu keinem wieder erst resolviren können« und die Behandlung mit Hilfe von einschlägigen Büchern erst einmal selbst versucht.303 Nicht immer wurden die Arzte solchen Wünschen nach einer individuellen Betreuung ausreichend gerecht. Die Marquise d'Aglie ließ Tissot eindringlich bitten, er möge ihre Behandlung sorgfältig gestalten und den Erfolg Schritt für Schritt überprüfen, »was die gewöhnlichen Arzte nicht tun wollen.«304 Ein anderer Patient schilderte anschaulich seinen Besuch bei dem berühmten Arzt Petit. Bevor er überhaupt den Mund öffnen konnte, habe der ihm gesagt, er sei nervenkrank. Da er selbst eher dick war, sein ihn begleitender Bruder aber mager, glaubte der Patient zunächst an ein Mißverständnis. Petit habe aber sehr wohl ihn selbst gemeint und ihm auch gar nicht recht zuhören wollen, sondern immer nur ausgerufen »ja, Nervenleiden!«. Immerhin tastete er kurz den Unterleib des Patienten ab und versicherte ihm, es liege keine Verstopfung vor. Aber weil Petit ihn nicht hatte reden lassen und von seinem bloßen Aussehen auf ein Nervenübel geschlossen hatte, folgte er Petits Rat erst, als sich die Versuche eines anderen Arztes als fruchtlos erwiesen hatten.305 Quälende Ängste stand gar ein anderer Patient aus, der seinem Arzt von einem Stechen in der Seite berichtete. Der Arzt, »offenbar durch andere Bemerkungen abgelenkt«, ging darauf nicht ein, und kaum war er gegangen, wurde das Stechen immer stärker.306 Als besonders eng schilderten die Zeitgenossen im 18. Jahrhundert die Beziehungen zwischen den Ärzten und ihren weiblichen Patienten, und ähnliches deutet sich auch schon für die vorangehenden Jahrhunderte an, in denen allerdings, zumindest im brieflichen Verkehr, noch viel häufiger die Ehemänner für ihre Frauen das Wort führten. Für die Ärzte wiederum, da herrschte Einigkeit, führte der Weg zum beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg vor allem über hochstehende Frauen. Für manche Frauen der Aufklärungszeit war der Arzt wohl sogar der einzige männliche Gesprächspartner außerhalb der Familie, dem sie Intimes anvertrauen konnten. Insofern hatten die Ärzte, in Μ de Levis' Worten, jene Rolle übernommen, die bei ihren Großmüttern im ausgehenden 17. Jahrhundert noch dem Beichtvater zukam. In drei Viertel der Fälle, so meinte er, habe man die Ärzte auch mehr aus »Luxus« denn aus Notwendigkeit gerufen.307 Für ihren beruflichen 302 303 304 305

TK 421b, 118r-119r, Caspar von Hobergk, 9.3.1577. MC 10, 279-282, Brief einer 44jg. Patientin. FT, Brief des Ehemanns, 21.6.1776. FT, Krankenbericht von Μ Torchon de Lihu, 40, 26.4.1785; er war offenbar Besitzer eines größeren Landguts. 306 FT, Mme Develay, ihren kranken Mann betr., 21.5.1791 307 Levis, 237f.

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Erfolg war die Fähigkeit und Bereitschaft, sich auf die Patientinnen einzustellen, insofern vermutlich ebenso wichtig wie die Rede von glücklichen Krankheitsverläufen unter ihrer Behandlung. Die Arzte, so jedenfalls Levis mit leisem Sarkasmus, mußten »ein empfindsames Herz haben oder vorgaukeln«. Geduld war auch nötig. Selbst manche der Patientenbriefe lassen das in ihrer Ausführlichkeit, um nicht zu sagen Weitschweifigkeit, noch erahnen. Dennoch mußten die Arzte, Levis zufolge, »mit den Anzeichen lebhaftesten Interesses den langen Erzählungen ihrer Kranken zuhören.« Sie durften deren Ängste nicht übermäßig ernst nehmen oder sie gar darin bestärken, aber sie durften sie auch nicht brüsk als bloße Hirngespinste abtun, um nicht die Eigenliebe der Frauen zu verletzen oder für hart zu gelten. »Die Kunst bestand darin, den Mut dieser verweichlichten Seelen zu stärken, ihnen mit scheinbarer Aufmerksamkeit harmlose Verordnungen zu verschreiben, die den Geist befriedigen ohne die Gesundheit zu schädigen, und mit einem taktvollen und leichten Scherz einen Krankenbesuch zu beenden, dessen Beginn der Empfindsamkeit geweiht war.«308 Der berühmte Anne-Charles Lorry beispielsweise habe es vorzüglich verstanden, seine Patienten zu trösten und aufzuheitern. Er habe sich derart in deren Nöte vertieft, daß er ihre Leiden zu teilen schien, und sie mit einer Genauigkeit zu beschreiben gewußt, als wären sie seine eigenen.309 Mme d'Arblay beschrieb ihrerseits berührt, wie »der gute Dr. Larrey« in ihrer langen Krankheit »die wärmste Freundschaft« für sie gehegt habe. Die Tränen seien ihm in den Augen gestanden, als man ihre Krebserkrankung diagnostizierte.310 Selbst der von manchen als sarkastisch beschriebene Bouvart311 soll geweint haben, als das Kind Marmontels unter seiner Behandlung starb.312 Die briefliche Konsultation stellte insofern eine gewisse Anomalie dar, als sie den Patienten in die Rolle eines oftmals anonymen Bittstellers drängte, der nur hoffen konnte, der Arzt werde seiner Bitte um Rat auch nachkommen. Deshalb wandten sich viele Kranke, im 16. ebenso wie im 18. Jahrhundert, über Angehörige oder Bekannte an den berühmten Arzt oder erwähnten wenigstens gemeinsame Bekannte.313 Gänzlich unberechtigt waren ihre Befürchtungen nicht. Thurneisser ebenso wie Tissot ließen so manchen Brief unbeantwortet, und das keineswegs nur dann, wenn die Briefschreiber keine Bezahlung in Aussicht stellten, sondern an ihr christliches Mitgefühl

308 309 310 311 312 313

Ebd., 238. Ebd., 241; Lorry lebte von 1726 bis 1783. Hemlow, 603. Levis, 240f; gemeint ist Michel-Philippe Bouvart, 1711-1787. Marmontel, 304. S. a. Severine Pilloud, Mettre les maux en mots, mediations dans la consultation epistolaire au XVIIIe siecle: Les malades du D r Tissot (1728-1797). In: Canadian bulletin of medical history 16 (1999), 215-245.

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appellierten. Selbst in der rein brieflichen Beziehung zur fernen medizinischen Koryphäe wird jedoch der Wunsch der Patienten nach einer engeren, persönlicheren Beziehung immer wieder greifbar. Ausdrücklich formulierte einer von Tissots Patienten seinen sehnlichen Wunsch, Tissot persönlich zu sehen, »aber mehr um von den Annehmlichkeiten Ihrer Gesellschaft zu profitieren, als um Ihnen von meinen Leiden zu erzählen.« Denn »es wäre Mr. Tissot, den ich besuchen würde, und nicht mein Arzt.« Es wäre sehr schön für ihn, »den Gefühlen der Wertschätzung und Bewunderung, die ich Ihnen, Monsieur, seit langem entgegenbringe, jene hinzuzufügen, die aus einer spezielleren Beziehung entstehen, und mit einer gewissen Erwiderung Ihrerseits belohnt zu werden.«314 Er wäre glücklich, wenn er ein wenig Tissots Freundschaft gewonnen hätte, schrieb ein anderer.315 So wichtig das persönliche Element zwischen den Ärzten und ihren (hochrangigen) Patienten war: die Bilder von einem persönlichen Gespräch unter vier Augen, die wir heute damit verbinden, treffen die damalige Situation nur begrenzt. Oft, da stimmen die zeitgenössischen Quellen überein, hatte es der Arzt zugleich mit den Angehörigen zu tun, oft auch mit besuchenden Verwandten und Bekannten, die alle keinen Grund sahen, bei seiner Ankunft den Raum zu verlassen. Für die Ärzte hatte das erhebliche Konsequenzen. Nicht nur den Kranken, sondern auch die Familie und gegebenenfalls alle übrigen Umstehenden mußten sie von ihrem medizinischen Können, von der Richtigkeit ihrer Diagnose, von der Angemessenheit ihrer Therapie überzeugen. Jenseits aller persönlichen Empathie war hier auch die Fähigkeit zu einer wirksamen Selbstdarstellung wichtig. Nicht zu Unrecht hat man deshalb die therapeutische Interaktion mit dem Geschehen auf einer Theaterbühne verglichen, an dem freilich auch die »Krankenbettgesellschaft« der Umstehenden als Publikum zuweilen lebhaften Anteil nahm.316 Besonders eingehend hat sich die jüngere medizingeschichtliche Forschung mit der Frage des Machtverhältnisses, der Symmetrie oder Asymmetrie in der Beziehung zwischen Ärzten und Patienten beschäftigt. Auslöser und anhaltender Stimulus waren zwei Beiträge des britischen Soziologen Nicholas Jewson. Aufgrund englischer Quellen kam Jewson zu dem Schluß, daß die Arzt-Patienten-Beziehung im 18. Jahrhundert von einem »Patro314 315 316

FT, Μ Larrei, 5.1.1784. FT, Μ Marcard, Livorno/Florenz, 6.12.1785. So Jens Lachmund/Gunnar Stollberg, The doctor, his audience, and the meaning of illness: The drama of medical practice in the late 18th and early 19th centuries. In: dies. (Hg.), The social construction of illness. Stuttgart 1992, 53-66; ich teile allerdings nur begrenzt ihre These, daß die Wirklichkeit der Krankheit und ihre »Bedeutung« erst in diesem »theatralischen« Geschehen konstituiert wurden; m. E. bestimmten vielmehr vorgängige, kulturell und biographisch geprägte Wahrnehmungs- und Deutungsraster ihrerseits dieses »theatralische« Geschehen maßgeblich.

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nage«-Verhältnis geprägt gewesen sei. Ihre überwiegend adlige - und zahlenmäßig sehr begrenzte - Klientel sei den Ärzten nämlich an Status und Macht meist überlegen gewesen. Sie hätten über den wirtschaftlichen und sozialen Erfolg des einzelnen Arztes entschieden und nicht die Fachkollegen, deren Urteil keinen unmittelbaren Einfluß auf das berufliche Fortkommen hatte. Deshalb sei der Arzt gezwungen gewesen, sich den Vorlieben und Wünschen seiner Patienten weitgehend anzupassen. D a medizinische Forschungen und Entdeckungen damals noch weitgehend von einzelnen praktischen Ärzten vorangetrieben und veröffentlicht wurden, hätten die Vorlieben der Patienten selbst neuen Theorien und Verfahren den aufgedrückt und letztlich über die Entwicklungsrichtung der ärztlichen Medizin entschieden. N u r solche Neuerungen konnten sich nämlich durchsetzen, die auch die Gunst der reichen Patienten fanden. 317 Jewsons Thesen haben manche Kritik, Korrektur und Ergänzung erfahren, zumal im Blick über die Grenzen Englands hinaus. So läßt sich ein echtes »Patronage«-Verhältnis zwischen gesellschaftlich höherstehenden Kranken und einem von ihnen abhängigen Arzt nur sehr bedingt nachweisen. Zwar waren gesellschaftlich hochstehende Kranke für das Einkommen und das berufliche Fortkommen der Ärzte zweifellos von besonderer Bedeutung. Aber die meisten Patienten waren ihren Ärzten an gesellschaftlichem Rang keineswegs überlegen und viele standen gesellschaftlich sogar unter ihnen. Richtig ist jedoch Jewsons Hinweis auf die stets prekäre Stellung des einzelnen Arztes gegenüber seinen Patienten und die größere Symmetrie in der therapeutischen Interaktion. Die meisten Kranken waren nicht bereit, sich den Anordnungen der Ärzte ohne weiteres zu unterwerfen. 318 Gewiß, vordergründig mochten sie ihre Bereitschaft zur völligen Unterordnung signalisieren , besonders dem »göttlich begnadeten« Heiler oder dem »Orakel« 3 1 ' der berühmten medizinischen Koryphäe gegenüber. Sie gestanden zu, daß »der Patient dem Medico volgen soll«, 320 und manche Patienten Thurneissers ebenso wie später Hahnemanns waren bereit, in blindem Vertrauen Arzneien einzunehmen, deren Zusammensetzung und mutmaßliche Wirkart sie nicht kannten. Die meisten gebildeteren Kranken aber setzten dem ärztlichen Führungsanspruch klare Grenzen und äußerten unmißverständlich eigene Wünsche. Sie begehre diesmal »nüt in zuonemen, dan nur ein Pur-

317

318

319 320

N . D . Jewson, Medical knowledge and the patronage system in 18th century England. In: Sociology 8 (1974), 369-385; ders., The disappearance of the sick man from medical cosmology, 1770-1870. In: Sociology 10 (1976), 225-244. Ausführlicher dazu Michael Stolberg, L a negociation de la therapie dans la pratique medicale du X V I I I e siecle. In: Olivier Faure (Hg.), Les therapeutiques: savoirs et usages. L y o n 1999,357-368. F T , M m e Viard d'Arnay, 6.7.1778; F T , Μ Gringet, 4.1.1784. S K , 119r-120r, B. B[odmer], Arbon, 15.3.1616.

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gatz«, schrieb 1613 eine Maggenauer Nonne an den »hochgelehrten Herrn Doctor« Schobinger.321 Um seine Gesundheit zu erhalten, so ein Geistlicher, halte er es »für nothwendig, ein Ader lässen zuthuon«. Nur wie und an welchem Tag »solches beschechen möchte, wellen wir eweren Rathes hierüber erwarten.«322 »Ich erwarte von Ihnen, Monsieur, ein sicheres Spezifikum um meine Nerven zu stärken, hieß es fast 200 Jahre später bei einem 51jährigen Major.323 Daneben standen Suggestivfragen, deren abschlägige Beantwortung zumindest eine ausführliche Begründung ratsam erscheinen ließ. Müßte sich nicht dieses Mineralwasser oder jener Badeort in ihrem Fall als höchst nützlich erweisen? Wäre es nicht an der Zeit, sich zu purgieren oder für einen Aderlaß.324 Gewiß, es gab auch viele Kranke, die zunächst keine persönlichen Vorlieben zu erkennen gaben. So mancher von ihnen brachte dann aber auf die ärztliche Verschreibung hin Gründe vor, warum sie diese doch nicht befolgen konnten. Sie verweigerten die Einnahme von Mitteln, weil sie fürchteten, diese würden ihren Magen belasten. Oder sie fragten erst einmal nach. Er könne aus dem beigelegten Zettlein nicht verstehen, so einer von Thurneissers Patienten, »was in den beiden Gieselein damit mich der Herre vorehret, ist, wie es Nahmen hatt, vnd worfür ich es eigendtlich genissen sol.«325 Oder sie verringerten die Dosis, weil sie auch eine geringere für ausreichend hielten.326 Oder sie konkretisierten nun ihre eigenen Wünsche, und forderten etwa anstelle einer Salsapariila-Abkochung ein Malzgetränk mit entsprechenden Mitteln, das aber nicht zu übel schmecken dürfe.327 Oder sie machten einen kurzen Versuch mit den verordneten Mitteln, um dann zu berichten, daß beispielsweise die verschriebenen Bäder ihr Nervensystem in so unerträglicher Weise agitiert hätten, daß sie zum Abbruch der Therapie ge328

zwungen gewesen seien. Ließ der gewünschte Behandlungserfolg auf sich warten, dann nahmen auch gerade jene Kranke kein Blatt vor den Mund, die sich den ärztlichen Vorschriften gebeugt hatten. Sie habe Thurneissers »Ertzteney vnd waß ihr mihr geordenett mitt allem Fleise gebrauchett vnd dannach gleichwoll gar keine Besserunge« empfunden, klagte Anna von Bradowa 1574. Dies habe sie ihm »als meinem gar gueten Freunde frundlich nicht vorhalten wollen« 321 322 323 324 325 326 327 328

Ebd., 91r-v, Schwester Afra, 4.5.1613. Ebd., 1 2 5 r , N . N . , Abt, 1.8.1616. F T , Μ de Conde, 7.10.1773. So T K 421b, Caspar von Hobergk, 9.3.1577. T K 420b, 25-26r, Anthonius Kholl, Königsberg, 14.8.1574. Verdeil, N . N . , Aubonne, 28.7.1801. Sloane 4039, 188f., Lord Hatton, Brief des Bruders, 20.9.1703; wörtlich forderte man »a diet drinke brew'd with malt and what drugs you think proper«. FT, M m e de Chastenay, 21.2.1785.

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und sie hoffe der liebe Gott werde »mitt Gnaden helffen.«329 »Ich habe Ihre Verordnung strikt befolgt«, schrieb 200 Jahre später Freifrau Louise von Werthern an Tissot, aber »leider haben sie überhaupt nicht die Wirkung hervorgebracht, die ich erwartete.«330 »Ihre Pillen haben absolut nichts getan, um den Husten zu beruhigen«, schrieb ein Geistlicher voller Ungeduld an Verdeil; dabei hatte er schon acht Wochen zuvor »die wahren Mittel« gegen diesen Husten gefordert.331 Verschlechterte sich der Zustand gar während der Behandlung, so suchte man die Verantwortung fast zwangsläufig beim Heilkundigen. »[D]er Bader aber ließ ihm soviel Blut heraus,« berichtete Anna Vetter über den Tod ihres verletzten Vaters, »daß er schwach ward und am 3. Tag starb.«332 Vor allem in den Schilderungen längerer, chronischer Krankheitsverläufe finden sich Klagen über ungünstige Behandlungsfolgen sehr häufig. So beschwerte sich eine ältere Patientin, ein übermäßig kräftiger Aderlaß habe sie völlig entkräftet und alle Organe ihres Körpers in Mitleidenschaft gezogen.333 Ahnlich befürchtete eine von Herman Boerhaaves Patientinnen, man habe ihr wohl zuviel Blut genommen, »weshalb ich jetzt in Bauch und Gliedern von Wassersucht bedroht bin.334 Zwei Monate lang litt ein 20jähriger Student an einer »schwarzen Melancholie«, nachdem sein Arzt fälschlich eine Verstopfung diagnostiziert und ihm sehr drastische Purgantien gegeben hatte; vermutlich, so meinte er, hätten die Mittel ihn ausgetrocknet und sein Geblüt zäh gemacht, wie es für die Melancholie typisch war.335 Schwere Nervenanfälle bekam eine andere Patientin und fühlte gar »eine Art von Sand in ihren Gefäßen umlaufen« nachdem der Arzt ihr das allzu wirkkräftige Wasser von Seltz verschrieben hatte; »sehen Sie, Monsieur, ob es richtig ist, weiter [darauf] zu beharren,« schrieb ihre Tochter daraufhin. Andere stellten diese Frage erst gar nicht. Sie setzten die beanstandeten Mittel eigenmächtig ab, 37 oder ließen bestimmte Inhaltsstoffe weg, etwa ein Guajakholz, weil es den Körper erhitzte und austrocknete. 338

329 330 331 332 333

334 335 336 337 338

TK 420b, 14r-v, A. von Bradowa, So. nach Bartholomäus 1574. FT, Freifrau von Werthern, 3.2.1792 (franz.). Verdeil, N . N., 12.7. und 10.9.1801. Vetter, 72. FT, N . N., Schwester der Mme Butex, o. D.; in der eigenwilligen Schreibweise der Patientin: »l'on ma seigne et cela tres mal a propos et encor une fort grosse saignee qui ma entierement epuise et fort deranger toutes les organes de mon corps«; sie litt an Verdauungsstörungen und Vapeurs und schimpfte auch über die »sehr schlechten Pillen«, die ein früherer Arzt ihr gegeben habe. Boerhaave, 196, o. D. FT, Μ Bardin (?), ca. 1781. FT, Mme d'Arthaud, Brief der Tochter, 16.7.1768. Verdeil, Μ Raiss, Sommer 1801. Sloane 4036,155, John Ray, 16.10.1693.

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Der Arzt, der angesichts solcher Klagen und Einwände noch weiter auf seiner Verordnung beharren wollte, brauchte Standvermögen. Viele Arzte setzten sich im Einzelfall erfolgreich über den erklärten Willen von Kranken und Angehörigen hinweg, und ihre Patienten akzeptierten das, zumindest für eine gewisse Zeit. Zuweilen fand der Arzt auch Unterstützung bei den Angehörigen. Verweigerte ein Kranker die verordnete Behandlung, so gab ihm womöglich nicht nur der Arzt, sondern auch seine Mitwelt die Schuld, wenn sich sein Zustand verschlechterte. Der Arzt, der die Vorstellungen und Wünsche seiner Patienten ignorierte, riskierte allerdings viel. Schon an und für sich stellte jede mißglückte Kur die ärztliche Autorität in Frage. Hatte sich der Arzt aber obendrein über die ausdrücklichen Wünsche der Kranken und ihrer Angehörigen hinweggesetzt, dann trug er die volle Verantwortung und mußte mit massiven Vorwürfen rechnen. Einer der Patienten des angesehenen Londoner Arztes Hans Sloane wollte diesen nicht einmal mehr sehen, nachdem dessen Abführmittel keinen einzigen Stuhlgang hervorgebracht, dafür aber heftige Krämpfe ausgelöst hatte. In seinem Zorn, so hieß es aus der Umgebung des Patienten, »gebraucht er sehr harte Worte gegen Sie, weil Sie versucht haben, ihn mit Wässern zu purgieren, von denen er Ihnen, nach eigenen Worten, sagte, sie seien nicht geeignet.«"' Arztliche Karrieren konnten sich damals auf eine Handvoll aufsehenerregender Genesungen gründen,340 aber der Ruf war auch schnell ruiniert. Selbst die großen Koryphäen wurden zur Zielscheibe heftigster Kritik. Dem berühmten Cabanis blieb der Vorwurf der Ignoranz oder gar Scharlatanerie ebensowenig erspart341 wie dem königlichen Leibarzt Fagon342 und dem Modearzt Bouvart, den Genevieve de Malboissiere nach der erfolglosen Behandlung ihres Verlobten schlichtweg als »Mörder« bezeichnete; am liebsten, so schrieb sie, hätte sie ihn aus dem Fenster werfen lassen.343 Gerade in solchen extremen Vorwürfen wird zugleich das komplexe Verhältnis von Vertrauen und Mißtrauen spürbar, in das die Arzt-Patienten-Beziehung damals eingebettet war. Was das Vertrauen angeht, so dürfen 339 340 341 342

343

Sloane 4075, 46, N . N . (Verf. nicht sicher auszumachen), Kensington, 1.2.1707. Paul-Joseph Barthez (1734-1806) etwa soll seinen R u h m der Genesung des Grafen von Perigord unter seiner Behandlung verdankt haben (Levis, 240). Charles-Elie Marquis de Ferneres, Memoires. H g . von Berville und Barriere. 2. Aufl. Paris 1822,296-301, Bericht vom T o d Mirabeaus im Jahr 1791. Vgl. Orleans, 206f: »Unsere Königin ist an einem Geschwür gestorben, so sie unterm A r m hatte; anstatt es heraus zu ziehen, ließ Fagon die Königin zur Ader (er war zu allem U n glück damals ihr Doctor), das machte ihr Geschwür innerlich bersten, und alles fiel auf das Herz, und das emetique [Brechmittel], so er ihr dazu gab, erstickte die Königin. Der Barbier, so die Königin zur Ader ließ, sagte zu ihm: Monsieur! у songez Vous bien, ce sera la mort de ma maitresse.« Genevieve de Malboissiere, Lettres de ä Adelaide Meliand 1761-1766. H g . v. Albert de Luppe, Paris 1924, 294f., 25.10.1765.

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heutige Maßstäbe, wie gesagt, den historischen Blick nicht trüben. Gewiß, nach den Maßstäben der modernen Medizin waren die meisten Arzneimittel und Behandlungsverfahren der damaligen Medizin wirkungslos und manche waren schädlich, die Gabe von Quecksilberverbindungen bei Hautveränderungen und von drastischen Abführmitteln bei Durchfall beispielsweise, oder der Aderlaß bei schweren Gebärmutterblutungen. Die meisten Zeitgenossen waren aber von der grundsätzlichen Wirksamkeit der verfügbaren Behandlungsverfahren felsenfest überzeugt. Deshalb waren sie auch vielfach bereit, lästige und schmerzhafte Behandlungen über sich ergehen zu lassen. Von Dutzenden, ja zuweilen Hunderten von Aderlässen erzählen ihre Briefe, von drastischen Abführ- und Brechmitteln, um die mutmaßliche Krankheitsmaterie auszutreiben, die sie alle halbe Stunde zur »Garderobe« zwangen, von künstlich gesetzten Geschwüren, die monate- und jahrelang eitrige Flüssigkeit absonderten. Ja, manche forderten ausdrücklich eine massive, drastische Behandlung. Keine »geringfügigen Arzneien«, sondern »starke Gegenmittel« wollte der Ehemann einer englischen wassersüchtigen Patientin für seine Frau. 344 Da die erfolgreiche Behandlung von Krankheiten für die meisten Laien vornehmlich auf die Entfernung der mutmaßlichen Krankheitsmaterie zielte, war zum Beispiel ein gutes Laxativ eines, das recht häufig und kräftig ausleerte. Heftige Vorwürfe machte andererseits ein Patient seinem Arzt, weil dieser aus Ängstlichkeit auf den nötigen dritten Aderlaß verzichtet habe und so die Entstehung einer Ablagerung (»depot«) in den Beinen zugelassen habe, die sich mit schweren Allgemeinerscheinungen wieder auflöste. 346 Gefährlich waren auch voreilige Prognosen oder Warnungen. Mit triumphierendem Unterton berichtete Μ Decheppe, wie er mit gutem Erfolg neun Gläser von einem Arzneimittel genommen habe, unbeeindruckt von den Warnungen seiner Chirurgen, die ihm schon nach dem Genuß eines einzigen Glases den sicheren T o d vorhergesagt hätten. 347 Als Hummel als Student schwer erkrankte, kam der Arzt aufgrund einer Harnschau zu dem Schluß, daß er nicht mehr genesen werde; Hummel wurde 63 Jahre alt.348 Die tiefe Uberzeugung, daß es mit geeigneten Mitteln grundsätzlich möglich sei, ihre Krankheit zu heilen oder wenigstens zu bessern, blieb auch in scheinbar verzweifelten Fällen treibende Kraft hinter der Suche nach Heilung. Wenn sich der erhoffte Erfolg nicht einstellte, dann suchten viele 344 345

Sloane 4038, 23, Μ Cheyne (?), 25.6.1700. So lobte der Bruder des kranken L o r d Hatton, Sloane's »purging physick« »which hath wrought very well with him as they say here that is often« (Sloane 4039, 188f., 20.9.1703).

346

F T , einen 43jg. Geistl. v o m Großen St. Bernhard betr., vermutl. von einem Mitbruder verfaßt, 18.10.1789.

347

F T , Μ Decheppe de Morville, Reihe von Briefen, 1782.

348

Hummel, 40.

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Teil 1: Kranksein im Alltag

Kranke und ihre Angehörigen die Ursache deshalb zunächst nicht in erster Linie in der Schwere des Leidens und den Grenzen ärztlicher Therapie, sondern entweder, ausnahmsweise, in übernatürlichen Kräften oder, das war der Regelfall, bei den befragten Ärzten und deren Verordnungen. Dafür gab es gute Gründe. Immer wieder, ja fast alltäglich machte man nämlich die Erfahrung, daß die diagnostischen Urteile und die therapeutischen Empfehlungen der konsultierten Heilkundigen stark von einander abwichen. Er wisse nicht, woran er sich halten solle, klagte beispielsweise P. D. Steelant 1614, denn die Behandlungsvorschläge der Arzte widersprächen sich.349 Chronisch Kranke vor allem, die im Laufe ihres Leidens verschiedene Heilkundige gleichzeitig oder nacheinander konsultiert hatten, erzählten verbittert, ja verzweifelt, wie sie immer wieder mit neuen, gegensätzlichen Diagnosen und Therapien konfrontiert wurden. Sie erlebten, wie sie unter dem Einfluß der Medikamente immer schwächer wurden, wie ihre Eingeweide mit Abführmitteln »überhitzt« oder »verstopft« wurden. Sie gaben Unsummen von Geld aus, und doch blieb die erhoffte Heilung aus. Die Arzte könnten sich nicht einigen, ob seine Krankheit von übermäßigen Flüssen, wie er selbst glaube, oder anderen natürlichen Ursachen herrühre, oder von Gift, oder ihm von einer Frau angetan worden sei, klagte der Augsburger Kaufmann Lucas Rem. Es sage »ainer diz, ander jens«.350 Von »Vermutung zu Vermutung« habe man ihn tappen lassen, klagte ganz ähnlich einer von Tissots Patienten. »Einmal hielt man alles für ein Brustleiden, dann wieder alles für eine Verdauungsschwäche, dann wieder alles für eitrigen Auswurf, Tuberkel, dann alles für ein Gift (»virus«), dann alles für Hämorrhoiden«. 351 Uber zehn Arzte hatte eine holländische Patientin gar schon konsultiert und »ein jeder begann von Neuem mit mir.«352 Manche Patienten wollten schließlich keinem der ärztlichen Urteile mehr folgen. Der eine Arzt meine, er habe seinen Magen mit Wein überhitzt und sein Hirn mit scharfem Phlegma verdorben, so einer von Thurneissers Patienten, der andere behaupte, sein Magen sei nicht überhitzt, sondern die Krankheit komme vielmehr von kalter Feuchtigkeit im Magen. Ebenso sage der eine, es sei der »Lendenstein«, der andere, es sei kein Lendenstein vorhanden. Weil nun die »humoristischen« Doktoren in ihren »Juditijs nichtt vbereinstimmen, sondern Contraria sagen«, wollte er sich »weitter ihrer vngewissen Kunst nicht vnterwerffen«. Er selbst glaubte nämlich, er habe einen »hefftigen Tarta-

349 Rijksarchief Arnhem, Archiv der Grafen von Coulembourg, Ms. 403, P. D. Steelant, 17.9.1614. 350 Rem, 23. 351 FT, Μ de Walmoden (ca. 1781). 352 FT, Mme de Konauw, 26.1.1773.

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rum«.353 Die einen meinten er habe Darmkoliken, die anderen vermuteten eine erkrankte Milz, berichtete 1593 ähnlich Gideo von Boetzelaar. Der Ort seiner heftigen Schmerzen und die spürbare Verhärtung über dem Nabel widerlegten seiner Ansicht nach Beides. Er glaubte vielmehr, sein Magen sei schuld und bat um eine entsprechende Behandlung.354 Ein Grund für derart widersprüchliche ärztliche Urteile, das war den Laien bewußt, lag im Pluralismus der zeitgenössischen gelehrten Medizin, in der Konkurrenz unterschiedlicher Modelle und Behandlungssysteme. Schon innerhalb der überlieferten hippokratisch-galenischen Medizin gab es vielfältige Diskrepanzen. Im 16. Jahrhundert schufen die Paracelsisten dann erstmals einen radikalen, auch von Laien als solchen wahrgenommenen Gegenentwurf. Im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert verstärkte sich dieser Pluralismus. Mechanistische und cartesianische Arzte verstanden den Körper als eine Art hydraulische Maschine und lenkten den Blick vor allem auf die Wechselwirkung zwischen den Säften und den Fasern. Helmontianer und Iatrochemiker sahen im körperlichen Geschehen allenthalben Schärfen und Alkali, Gärungen und Efferveszenzen am Werk. In Deutschland griffen die Anhänger Georg Ernst Stahls auf überlieferte Vorstellungen von einer körpereigenen Naturheilkraft zurück und deuteten Krankheiten primär in Relation zu einer Störung des lenkenden Einflusses der Seele. Im Laufe des 18. Jahrhunderts rückten schließlich Phänomene der Irritabilität in den Vordergrund. Und nahezu alle Arzte suchten ihre jeweiligen Auffassungen mit Elementen der Säfte- und Qualitätenmedizin irgendwie in Einklang zu bringen. Für die Kranken konnte dieses Nebeneinander unterschiedlicher Theorien und Verfahren neue Wahlmöglichkeiten eröffnen. Er habe wohl die »Doctores« um Rat gefragt, klagte 1571 der Magdeburger Georg Stange, nachdem ihm , als ihm am ganzen Leib braune Flecken auf der Haut aufgeschossen waren. Sie behaupteten, das komme Trinken und von einer hitzigen Leber, und man nenne sie »Leberflecken«. Er wisse aber, daß »die Rath oder Medicinenn der Galenistenn wenigk zu achten, vnnd bisher weniger dann nichts ausgericht wordenn, die weil sie gantz vnnd gar kein Quintum esse [Quintessenz] brauchenn, noch zu preparierenn wissenn.« Deshalb wandte er sich nun an Thurneisser.355 Die meisten Kranken scheinen das Nebeneinander widersprüchlicher Theorien aber als verwirrend empfunden zu haben und begegneten diesen eher mit Skepsis. Manche Kranke erklärten im 18. Jahrhundert gar ausdrücklich, sie zögen es vor, ihre Krankenge-

353 354 355

T K 422a, 120r-121r, N. N., vermutl. zur Visite mitgebrachter Brief, o. D. Heurne, G. von Boetzelaar, 14.12.1591. T K 420a, 293r-294r, G. Stange, o. D.

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Teil 1: Kranksein im Alltag

schichte selbst aufzuschreiben, aus Sorge, ein Arzt werde ihre Darstellung womöglich in sein System einordnen und verfälschen. Ein verwandter Verdacht war, daß der Arzt allzu rasch zu einem bewährten Standardmittel griff, ohne der genauen Natur des Leidens und der je individuellen Verfassung und Lebensweise gerecht zu werden. D a die Behandlung der Arzte »nicht verfangen will, sie auch keine sufficiente Ration geben können«, bezweifelte ein Patient Hoffmanns, daß »sie genügsame cognitionem morbi haben, und argwohne vielmehr, daß sie nur empirice curiren, und alle Circumstantien nicht zur Genüge erwägen.« 356 Ansonsten entschied nach Einschätzung der Kranken vor allem das individuelle Geschick des Arztes über den Erfolg der Behandlung, seine Erfahrung, seine Urteilskraft. Angesichts der geringen Standardisierung der Medizin wäre es geradezu naiv gewesen, dem nächst besten Arzt blind zu vertrauen. Eine gehörige Portion Skepsis war vielmehr überlebenswichtig. Entsprechend intensiv tauschte man sich über die Qualitäten der einzelnen Ärzte aus, empfahl den einen, riet von dem anderen ab. Halten wir zusammenfassend fest: die frühneuzeitliche Arzt-PatientenBeziehung läßt sich weder pauschal als Patronage-Verhältnis charakterisieren, noch als Ausdruck einer zunehmenden Entmachtung der Kranken durch eine omnipotente medikalisierende Ärzteschaft. 357 Ein komplexes Wechselspiel von Geltungsansprüchen und Handlungsstrategien, von Beeinflussungsversuchen und Sanktionen, von Macht und Ohnmacht, Verklärung und Verdammung kristallisiert sich vielmehr heraus, das dem Arzt-Patienten-Verhältnis von Fall zu Fall unterschiedliche Gestalt gab, mit einer im Vergleich zu heute allerdings tendenziell deutlich stärkeren Stellung der Kranken. Die Patienten konnten die Entscheidungen der Ärzte gezielt in eine bestimmte Richtung lenken. Die Ärzte ihrerseits sahen sich genötigt, die Wünsche der Kranken angemessen zu berücksichtigen und ihre Diagnose und Behandlung auch entsprechend zu rechtfertigen. Die Drohung, gegebenenfalls einen anderen Arzt zu konsultieren, stand stets im Raum und wegen der geringen Standardisierung der ärztlichen Therapie war ein Wechsel des Behandlers auch eine echte Alternative. Freilich suchen kranke Menschen in der Regel zuallererst Heilung, nicht Macht. Gerade die Patientenbriefe dokumentieren zugleich die Sehnsucht

356 357

M C 4 , 1 7 2 4 , 1 2 - 1 4 , N . N., 34jg., 25.2.1723. Mary Fissell, The disappearance of the patient's narrative and the invention of hospital medicine. In: Roger French/Andrew Wear (Hg.), British medicine in an age of reform. L o n d o n / N e w York 1991, vermutet einen Bedeutungsverlust des »patient narrative« in der Medizin um 1800; ob ihre Untersuchung der speziellen Verhältnisse an Krankenhäusern in Bristol mit ihren überwiegend armen und unterprivilegierten Krankenhauspatienten eine derart verallgemeinernde Aussage zuläßt, scheint aber zweifelhaft.

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nach einer ärztlichen Lichtgestalt, nach jenem Genie, das dank göttlicher Eingebung oder dank eines untrüglichen Urteilsvermögens endlich den richtigen Weg weisen werde. Noch in den triumphierenden Worten einer Mme. de Graffigny wird diese prekäre Balance zwischen dem Eigensinn der Patienten und dem Wunsch nach einer ärztlichen Autorität jenseits aller Skepsis und Zweifel spürbar: »Bisher ist mir, zu meiner Zufriedenheit, alles gelungen, was ich mir vorgestellt hatte, denn es war wieder ich, die die Molke wollte. Der Arzt diskutiert ein Weilchen, der Ehre halber. Ich, die ich nur schnöde Gründe hören will, treibe ihn an den Rand. Er stimmt zu - und die Wirkung folgt stets. Hätte er mich die [Mineral-]Wässer früher nehmen lassen, hätte ich mir 15 Tage Magenkrämpfe erspart. Ach, wie ich mich täglich erneut in der Gewißheit der Eselei dieser Tiere [»animaux«] bestätigt sehe, und wie unglücklich man in ihren Händen ist, ohne Licht und ohne Kenntnis der Heilmittel. Ich weiß wohl, daß man ihrem Räsonnieren zuhören muß und daß es manche Fälle gibt, in denen wir nicht klarer sehen als sie, aber man muß wenigstes ihr Räsonnieren dem gegenüberstellen, was wir empfinden, und jene Wahl treffen, die uns am geeignetsten erscheint.«358 Uber die Beziehung der weniger gebildeten Patienten zu den Ärzten und zu den übrigen Heilkundigen, derer sie sich bevorzugt bedienten, wissen wir nur Bruchstückhaftes. Sie kommt in den Archiven vor allem dort zur Sprache, wo sie von Spannungen und Konflikten begleitet war, etwa in Auseinandersetzungen um mißglückte Heilversuche oder unbeglichene Honorarforderungen. Allgemein läßt sich wohl sagen, daß auch die weniger gebildeten Patienten dem Heilpersonal selbstbewußt, auf gleicher Augenhöhe begegneten - übrigens sehr zum Leidwesen der akademischen Ärzte, die sich mitunter lautstark über den »Eigendünkel« der einfachen Landleute beklagten, die ihnen keineswegs den erwarteten unterwürfigen Respekt vor ihrem überlegenen, gelehrten Wissen entgegenbrächten. Finanzielle, ökonomische Erwägungen spielten zudem eine noch wichtigere Rolle. Man erwartete einen greifbaren Gegenwert für die geleistete Bezahlung. Auffällig sind in diesem Zusammenhang die verschiedentlichen Hinweise auf eine Verweigerung von Honoraren, wenn die Behandlung scheiterte. Die Kranken oder ihre überlebenden Angehörigen wollten zuweilen nicht einsehen, warum sie für solches Versagen auch noch bezahlen sollten, zumal wenn der Heilkundige eine erfolgreiche Kultur versprochen hatte. So klagte 1750 in Köln die Dienstmagd Lucia Heppenstreit gegen einen Barbier, weil dieser trotz erfolgloser Behandlung sein Honorar verlangte.35'. Gegen die Forderungen eines anderen Heilers wehrte sich die Schwester eines verstorbenen Kranken mit den Wor-

358 Graffigny IV, 214, 18.3.1743. 359 StA Köln A 459, 8r-9r, Klage vom 11.2.1750.

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Teil 1: Kranksein im Alltag

ten, sie glaube »daß dem anmaßlichen Doctor nichts gebühre«, denn er habe seine Hilfe aufgedrängt und dem Kranken versichert, »daß er ihn kurieren -. 1 360 wurde.«

360 StA Köln 459, 21r-22r, 4.4.1791; vgl. AS Bologna, Studio 339-351; Gianna Pomata hat am Beispiel des dort dokumentierten halben Dutzend solcher Fälle im frühneuzeitlichen Bologna mit Nachdruck auf die Vorstellung eines impliziten Heil-Vertrags aufmerksam gemacht (Pomata, Promessa); s. a. Jütte, Ärzte, 140, 147, 221f.

TEIL 2 WAHRNEHMUNGEN UND DEUTUNGEN Schwere Krankheit, das war ein Grundthema des ersten Abschnitts, ist in mehrfacher Hinsicht eine existentielle Herausforderung. Die vertraute Lebendigkeit und Kraft des gesunden Leibes geht verloren. Die gegenwärtige Lebenssituation und der Lebensweg, der zu ihr führte, erscheinen in einem neuen Licht. Nichts, so eine verbreitete Erfahrung Schwerkranker, ist so wie es war. Die Welt bricht auseinander. In dem Bemühen, dem Geschehen dennoch Sinn zu verleihen und quälenden Empfindungen von Ohnmacht und Ausgeliefertsein zu begegnen, kann die religiöse Deutung als Prüfung, Mahnung oder Strafe Gottes oder auch die Einbettung der Krankheit in die eigene Lebensgeschichte sehr hilfreich sein. Damals wie heute versuchten die Kranken und ihre Angehörigen jedoch zugleich, das Wesen der Krankheit auch konkreter, in körperlichen Begriffen zu verstehen. Sie wollten begreifen, was im Körper vorging, wie die verschiedenen Beschwerden zusammenhingen, auf welche krankhaften Vorgänge oder Veränderungen im Körperinneren sie hinwiesen, welchen Gesetzen sie gehorchten und, natürlich, wie sie sich von außen beeinflussen ließen. Sie suchten, mit anderen Worten, zugleich nach einer im engeren Sinne »natürlichen«, »medizinischen« Erklärung. In diesem Bemühen griffen sie vielfach auf die Begriffe, Bilder und Erklärungsmodelle zurück, mit denen sie schon als Kinder aufgewachsen waren, die sie sich durch Lektüre und Gespräche erworben hatten oder in der persönlichen Begegnung mit Ärzten kennengelernt hatten. Diese Begriffe, Bilder und Erklärungsmodelle wurden nicht nur dann wirksam, wenn es galt, ein konkretes Krankheitsgeschehen zu deuten und einer Behandlung zugänglich zu machen. Sie prägten zugleich die Vorstellungen, die sich medizinische Laien vom Körper als solchem machten, von seinem Aufbau und seinen Funktionen. Sie spiegelten mit anderen Worten ein bestimmtes Bild vom gewöhnlichen, gesunden Körper und gaben dessen Wahrnehmung und Erfahrung eine spezifische Gestalt. Um diese Begriffe, Bilder und Vorstellungen, mit denen frühneuzeitliche Laien ihre Krankheiten und ihren Körper zu begreifen suchten, soll es im folgenden gehen. Dazu werden wir uns zunächst den Quellen medizinischen Laienwissens zuwenden.

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Teil 2: Wahrnehmungen und Deutungen

Medizinische Popularisierung D a s Körper- und Krankheitswissen (gebildeter) medizinischer Laien stand in der Frühen Neuzeit in enger Wechselbeziehung zur ärztlichen Medizin. Deren Theorien und Konzepte leisteten auch unter den Laien einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis ihrer Leiden. Im konkreten Krankheitsfall vertraten Arzte und Patienten zwar oft durchaus unterschiedliche Auffassungen, und Diagnose und Therapie waren nicht selten Ergebnis eines Aushandelns zwischen dem Arzt auf der einen Seite und den Kranken und ihren Angehörigen auf der anderen. Grundsätzlich aber lebten Ärzte und gebildete Laien über weite Strecken in einer gemeinsamen medizinischen Welt und sprachen eine gemeinsame Sprache. Damit stellt sich allerdings die Frage, wie gelehrtes medizinisches Wissen die Laien erreichte und wie sie damit umgingen. Die Popularisierung von Wissenschaft und Medizin hat in der jüngeren Geschichtsschreibung wachsende Aufmerksamkeit gefunden. Das liegt auch am steigenden aktuellen Interesse an Fragen der Wissenschafts- und Technikakzeptanz oder eines »public understanding of science«. Gerade im medizingeschichtlichen Bereich konzentriert sich die Forschung allerdings bisher fast ausschließlich auf die Untersuchung von einschlägigen, »populären«, gesundheitsaufklärerischen Texten und deren Autoren. 1 Die Beschäftigung mit solchen Texten ist zweifellos reizvoll. Sie eröffnet mannigfaltige Aufschlüsse über die Vorstellungen der meist ärztlichen Verfasser über ihre erhofften Leser und über das Bild von der Qualität und Bedeutung medizinischer Wissenschaft und Praxis, das sie ihnen vermitteln wollten. Solche Schriften bildeten zudem eines der beliebtesten literarischen Genres überhaupt. Die erfolgreicheren unter ihnen erlebten zahlreiche Auflagen und Ubersetzungen, und ihre Autoren waren in ganz Europa berühmt. 2 Das läßt einen breiten Le1

Porter, Popularization; Corinne Verry-Jolivet, Les livres de medecine des pauvres aux X V I I et XVIIIe siecles. Les debuts de la vulgarisation nredicale. In: Maladies medecines et socictes. Approches historiques pour le present. Bd. 1. Paris 1993, 51-66; Roselyne Rey, La vulgarisation medicale au XVIIIe siecle: le cas des dictionnaires portatifs de sante. In: Revue d'histoire des sciences 44 (1991), 413-^33; Mary Lindemann, »Aufklärung« and the health of the people. »Volksschriften« and medical advice in Braunschweig-Wolfenbüttel, 1756-1803. In: Rudolf Vierhaus (Hg.) Kultur und Gesellschaft in Nordwestdeutschland zur Zeit der Aufklärung. Tübingen 1992,101-120; Mireille Läget, Les livrets de sante pour les pauvres aux X V I I e et XVIIIe siecles. In: Histoire, economie, societe 3 (1984), 567-582; s. a. Roger Cooter/Stephen Pumfrey, Separate spheres and public places, reflections on the history of science popularization and science in popular culture. In: History of science 32 (1994), 237-267; als »populär« bezeichne ich im folgenden medizinische Schriften, die sich an Laien richteten und nicht oder nicht in erster Linie an professionelle Heilkundige; damit soll nicht behauptet werden, daß sie auch auf die breite Bevölkerung zielten, geschweige denn sie erreichten.

2

Einen guten Überblick über das deutschsprachige Schrifttum gibt Böning.

Medizinische Popularisierung

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serkreis vermuten. Aber der bloße Blick auf die einschlägigen Texte gibt nur wenig Aufschluß über deren tatsächliche Wirkkraft und Bedeutung im Vergleich zu anderen Quellen medizinischen Laienwissens. 3 Hier eröffnen zeitgenössische Selbstzeugnisse und allen voran die Patientenbriefe einen wertvollen Zugang gerade zu den Wissensquellen jener gebildeteren und wohlhabenderen Schichten, auf die diese Schriften ohnehin in erster Linie zielten. Dutzende von Briefkonsultationen aus Laienhand, so ist zunächst festzustellen, erwähnten insbesondere im 18. Jahrhundert ausdrücklich die Lektüre »populärer« medizinischer Schriften. Vermutlich, dafür sprechen schon die zahlreichen einschlägigen Werke mit ihren vielen Auflagen, hatten noch weitaus mehr Ratsuchende schon gelegentlich ein solches Werk zur Hand genommen, ohne daß sie dies in ihren Briefen eigens erwähnten. Ausdrücklich genannt werden nämlich meist nur Werke jenes Arztes, an den sich auch der Brief richtete. Im Falle Tissots, eines der erfolgreichsten Vertreter dieses Genre, lag dies besonders nahe, aber auch Hoffmanns Patienten verwiesen in erster Linie auf dessen eigene Schriften. Solche Erwähnungen lassen zugleich eine spezifische Form der Nutzung, des Umgangs mit solchen Schriften erkennen. Populäre medizinische Schriften wurden offenbar in vielen Fällen nicht als Quelle medizinischen Allgemeinwissens benannt, sondern gezielt wegen ihrer Angaben zu einer konkreten, aktuellen Erkrankung zitiert. Gewiß, vereinzelt berichteten die Leser, wie sie solche Schriften benutzten, um selbst Kranke zu behandeln, die aus Gründen der Entfernung oder aus Geldmangel keinen Arzt beiziehen konnten. Die Comtesse de Vougy etwa schilderte voll Dankbarkeit, wie sie mit Hilfe von Tissots »Anleitung für das Landvolk« auf ihren Ländereien Kranke behandelte, und wie glücklich es sie machte, wenn die armen Leute dann zu ihr kamen und ihr sagten, sie habe ihr Leben gerettet.4 Meist verwies man jedoch auf den persönlichen Gebrauch dieser Bücher bei eigenen Krankheiten oder jenen von Familienangehörigen. Man suchte und fand dort Anleitungen für die Diagnose und Behandlung eine konkreten Krankheitsepisode. »Ich las,« so ein Patient Tissots, »ich prüfte, ich ging alle Krankheiten der Brust durch; ich dachte, ich hätte meine Krankheit unter

3

Z u m Programm einer historischen Analyse von Popularisierungsprozessen aus der Laienperspektive vgl. meine ausführlichere Darstellung in Michael Stolberg, Medical popularization and the patient in the 18th century. In: Willem de Blecourt/Cornelia Usborne (Hg.), Cultural approaches to the history of medicine, mediating medicine in early modern and modern Europe. Basingstoke [im Druck]; Überlegungen zu möglichen Rückwirkungen der (antizipierten) Leserreaktionen auf die Textgestaltung finden sich in Anwendung neuerer rezeptionsästhetischer Ansätze, aber leider ohne empirische Belege bei Mary E. Fissell, Readers, texts, and contexts. In: Porter, Popularization, 72-96.

4

FT, Comtesse de Vougy, 3.4.1785; ähnlich begründete die verarmte M m e de Boubers ihre Bitte um ein kostenloses Exemplar von Tissots Buch (FT, M m e de Boubers, 30.12.1792).

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Teil 2: Wahrnehmungen und Deutungen

den Verstopfungen gefunden und nahm dies zum Ausgangspunkt, um mein eigener Arzt zu sein.« 5 Ein anderer Patient, Geistlicher in St. Malo, gelangte durch seine Tissot-Lektüre zu der Uberzeugung, seine Ohnmächten kämen »von den Nerven«. 6 Für einen von Angstattacken geplagten Mann, beendete Tissots Schrift über die Krankheiten der Gelehrten gar Jahre der Ungewißheit über seinen »ziemlich merkwürdigen Zustand«. 7 Wiederholt behandelten die Patienten ihre Krankheit auf dieser Grundlage zunächst selbst, wenn auch letztlich meist vergeblich, sonst hätte sich die Konsultation erübrigt. Manche von Tissots Patienten verwiesen sogar einfach, mit bloßer Zahlenangabe und ohne nähere Erläuterung, auf die numerierte Liste von Medikamenten(mischungen), die Tissot seiner »Anleitung für das Landvolk« angehängt hatte. Patientenbriefe mögen ein verzerrtes Bild abgeben. Schließlich waren sie in der Regel durch eine aktuelle Krankheit motiviert, für die man eine konkrete Diagnose und Therapie suchte. Zweifellos erwarben sich manche gebildete Zeitgenossen durch einschlägige Lektüre ein recht breites medizinisches Wissen, und vereinzelt brüsteten sie sich ausdrücklich ihrer medizinischen Kenntnisse, wie Mme de Maraise, die »meinen Tissot zur Hand« Kranke untersuchte und behandelte und auch in ihren Briefen eingehend medizinische Dinge diskutierte. 8 Anstreichungen in überlieferten Exemplaren populärer medizinischer Schriften lassen jedoch ebenfalls eine primär praxisgeleitete, fallbezogene Lektüre vermuten. So finden sich in einem Münchner Exemplar von Tissots »Avis au peuple« nur zwei Randanmerkungen, beide im Abschnitt über Krankheiten des Rachens: »Dies, denke ich, ist die Krankheit«, heißt es da, und wenige Seiten später: »Und dies das Heilmittel«. 9 Ahnlich beschränkten sich die zahlreichen Anstreichungen in einer deutschen Ausgabe des gleichen Werks allein auf das Kapitel über den Hitzschlag.10 Eine ausgesprochen kasuistische, am Einzelfall orientierte Lektüre deutet sich hier an. Auffällig ist daneben, daß die meisten der circa 80 Exemplare diverser Ausgaben von Tissots Werken, die ich selbst gesehen habe," gar keine Gebrauchsspuren aufweisen, ja oft wie neu wirken. Schlüssige Beweiskraft hat all dies nicht. Es legt aber zumindest die Vermutung nahe, daß es für viele 5 6 7 8 9 10 11

FT, Μ de Pollet, 20.4.1772. FT, Μ Le Chartier, 19.1.1776. FT, Μ d'Eyrand, 6.8.1776. Chassagne, 119; ähnl. äußert sich auch wiederholt Mme de Graffigny. Samuel Auguste Tissot, A v i s au peuple sur sa sante. Lausanne 1761 (UB München, Sign. Med. 621), 132 und 136. Tissot, Anleitung, Ausg. 1772 (Bayer. Staatsbibliothek München, Sign. Path. 1258), 159— 168. V o r allem in München, Paris und London.

Medizinische Popularisierung

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Zeitgenossen vielleicht wichtiger war, ein solches Werk zu besitzen, um notfalls auch einmal darin nachschlagen zu können, als es von vorne bis hinten durchzulesen. Roy Porters Frage nach der »rituellen« (»ceremonial«), »psychologischen«, ja »talismanischen« Bedeutung eines solchen Buchbesitzes scheint insofern mehr als berechtigt. 12 Eines steht im übrigen außer Zweifel, selbst für den Fall, daß solche Werke teilweise doch eingehender und systematischer studiert und verwendet wurden, als sich hier andeutet: diese Werke waren bei weitem nicht die einzige Quelle medizinischen Laienwissens, und man darf ihre Wirkkraft und ihre Bedeutung für die medikale Laienkultur nicht überschätzen. Zunächst, dies ist nur ein Einwand am Rande, ist festzuhalten, daß Vertreter der gebildeten Schichten, an die sich solche Werke vor allem richteten, oft auch ohne größere Probleme unmittelbar auf die wissenschaftliche, ärztliche Literatur zurückgreifen konnten. Manche Patienten zitierten sogar gelehrte lateinische Abhandlungen. 13 Vor allem aber gab es auch andere, nichtschriftliche Kanäle der Wissensvermittlung. Das wichtigste Medium für die unmittelbare Vermittlung ärztlichen Wissens war allem Anschein nach nicht das Buch, sondern das Gespräch das Krankenbett. Jedesmal wenn behandelnde Ärzte oder Chirurgen eine Verdachtsdiagnose äußerten oder eine Behandlung vorschlugen, vermittelten sie damit zugleich bestimmte Vorstellungen vom Körper und seinen Krankheiten. U n d vielfach waren solche Mitteilungen von einer mehr oder weniger eingehenden Erklärung der mutmaßlichen Krankheitsursache und der krankhaften Vorgänge im Körperinneren begleitet, mit der die Arzte zugleich ihre besondere Expertise zu unterstreichen suchten. Auch die schriftlichen Consilia, mit denen die Arzte auf die Patientenbriefe antworteten, enthielten oft eine mehr oder weniger ausführliche, für die Patienten bestimmte und von diesen auch erwartete Erläuterung des Krankheitsgeschehens, die zugleich die Notwendigkeit der vorgeschlagenen Behandlung begründen sollte. Die mündlichen Erläuterungen der Arzte wurden unterstrichen und ergänzt durch ihr praktisches Handeln. Wenn der Arzt beispielsweise einen Aderlaß verschrieb und dem Patienten anhand des abgelassenen Blutes die »entzündlichen« Veränderungen des Blutes oder aufgelagerten »Schleim« oder »Schärfe« zeigte, so vermittelte er zugleich eine bestimmte Auffassung vom Körper und seinen Krankheiten und von der spezifischen Natur der vorliegenden Krankheit im besonderen. Ja, er verlieh dieser Auffassung oft eine kaum mehr zu hinterfragende Faktizität: die Krankheitsmaterie wurde

12 Porter, Introduction in: ders., Popularization, 9. 13 M C 5, 326-333, N . N . , Vizerektor, o. D., mit dem Hinweis auf G e o r g W. Wedels »Tractatus de medicamentorum facultatibus cognoscendis et applicandis« (Jena 1678); weitere Belege bei Stolberg, Medical popularization (wie Anm. 3).

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Teil 2: Wahrnehmungen und Deutungen

ja buchstäblich sichtbar. Einschlägige Schilderungen und Erörterungen in den Patientenbriefen lassen erkennen, daß manche Patienten schließlich ihrerseits eine beachtliche Fähigkeit entwickelten, von der Beschaffenheit etwa des Stuhls oder des Periodenblutes auf krankhafte Veränderungen in ihrem Körper zu schließen. Der vergleichsweise »öffentliche« Charakter von Krankheit, die Anwesenheit von Angehörigen, Verwandten und Bekannten im Krankenzimmer, auch während des Besuchs eines Heilkundigen, sorgte zudem für eine wirksame Streuung des Gelernten weit über die unmittelbare Arzt-Patienten-Beziehung hinaus im näheren und weiteren Umfeld. Nur in Umrissen erahnen läßt sich schließlich der Umfang einer mündlichen Weitergabe medizinischen Wissens im Gespräch der Laien untereinander. Krankheit, das deutete sich schon mehrfach an, war damals in allen Schichten ein wichtiges und beliebtes Gesprächsthema. Man tauschte sich untereinander aus, gab persönliche Erfahrungen mit einzelnen Heilkundigen und Behandlungsverfahren weiter, mutmaßte über die Krankheitsursachen und brachte seine eigene Meinung zur Geltung, ja drängte medizinischen Rat zuweilen regelrecht auf. Als Zuhörer bei solchen Gesprächen wurden so vermutlich schon Kinder mit der medizinischen Vorstellungswelt der Erwachsenen vertraut. Medizinisches Laienwissen, so läßt sich das Gesagte zusammenfassen, wurde auf vielfältigen Wegen weitergegeben und im alltäglichen Umgang mit Krankheit immer wieder erneut angewandt und bestätigt. Medizinische Popularisierung in der spezifischen Form von populären, gesundheitsaufklärerischen Texten spielte dabei allem Anschein nach nur eine nachrangige, ergänzende Rolle im Vergleich zu anderen, vorwiegend oralen und nonverbalen Vermittlungswegen. Auch wenn sich die Laien untereinander austauschten, die blumigen Anzeigen für ein angebliches Spezifikum lasen oder den Ausführungen eines Harnschauers lauschten, war die ärztliche Medizin zweifellos letztlich meist der Ursprung solchen Wissens, sei es die ärztliche Medizin der jeweiligen Gegenwart oder auch die von den Ärzten in früheren Jahrhunderten vertretenen, mittlerweile aber aufgegebenen Vorstellungen und Praktiken. Doch wurde dieses Wissen durch die jeweilige Vorstellungswelt und die konkreten medizinischen Erfahrungen der Laien in vielfacher Weise gebrochen oder selektiert. Dazu kamen als zweite, alternative Quelle, besonders in der weniger gebildeten ländlichen Bevölkerung, magische, sympathetische und volksfromme Traditionen, die zwar zur älteren ärztlichen Medizin in einem gewissen Wechselverhältnis standen, sich ihr aber nicht ausschließlich verdankten.

D i e kulturelle Ü b e r f o r m u n g von Krankheit

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Die kulturelle Überformung von Krankheit Die Begriffe, Bilder und Erklärungen, mit denen die Kranken und ihre Angehörigen damals Körper- und Krankheitserscheinungen zu verstehen und auszudrücken suchten, verweisen also oft auf ganz ähnliche Vorstellungen und Erklärungsmodelle in der zeitgenössischen ärztlichen Medizin. Arzte und Laien, zumal jene aus den höheren Schichten, bewegten sich in einer gemeinsamen medizinischen Welt. Sie sprachen eine ähnliche Sprache und gründeten ihre medizinischen Auffassungen und Praktiken auf ähnliche Bilder vom Körper und seinen Gefährdungen. Die Auffassungen von Ärzten und Laien waren aber deshalb noch lange nicht identisch. Auch im modernen Medizinbetrieb haben die Ärzte als allgemein anerkannte Experten in Krankheitsdingen lernen müssen, medizinischen »Laientheorien« und ihrem Verhältnis zu den Theorien und Modellen der medizinischen Wissenschaft mehr Aufmerksamkeit zu schenken - schon alleine deshalb, weil die andersartigen Krankheitsauffassungen der Laien in zahlreichen Fällen Sinn oder Notwendigkeit ärztlicher Verordnungen in Frage stellen und dazu führen, daß diese nicht befolgt werden. 14 Ähnlich wie heute beruhten derlei Unterschiede damals teilweise auch auf der unterschiedlichen Funktion von ärztlichem Wissen und Laientheorien. Die Ärzte wollten die Krankheitserscheinungen und die körperlichen Veränderungen, die diesen zu Grunde lagen, bis ins Detail verstehen und erklären. Sie entwickelten dazu komplizierte und nicht selten widersprüchliche Theorien und Modelle und bedienten sich einer vorwiegend lateinischen Begrifflichkeit. Die Laien übernahmen diese Begriffe zuweilen, doch ihr Blick war vergleichsweise pragmatischer, zweckorientierter und eklektischer, ganz besonders wenn sie selbst krank waren. Hier zählte vor allem eines: daß man das Wesen der Krankheit ausreichend begriff, um sie wirksam bekämpfen zu können, gegebenenfalls im Rückgriff auf eigene oder fremde frühere Erfahrungen in mutmaßlich ähnlichen Krankheitsfällen. Für die historische Arbeit haben solche Differenzen weitreichende methodische Konsequenzen. Der Blick auf die zeitgenössische ärztliche Literatur oder auf die meist gleichfalls von Ärzten verfaßten einschlägigen Beiträge zu zeitgenössischen Enzyklopädien eröffnet nämlich vor diesem Hintergrund nur unzureichende, allenfalls mittelbare Aufschlüsse über die Wahrnehmungs- und Deutungsraster, die den alltäglichen Umgang mit Krankheit unter Laien bestimmten. Unverzichtbar ist der möglichst unvermittelte gleichzeitige Blick auf die Äußerungen der Laien selbst.

14 Für solche »Unfolgsamkeit« hat sich in der modernen Medizin der Begriff der »noncompliance« eingebürgert.

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Die Begriffe, Bilder und Vorstellungen, die frühneuzeitliche Laien (und Arzte) mit dem Körper und seinen Krankheiten verbanden und die ich im folgenden näher vorstellen möchte, sind uns heute in mancher Hinsicht sehr fremd geworden. Der Körper, so wie er uns in den Patientenbriefen und anderen zeitgenössischen Selbstzeugnissen, aber auch in den Schriften der gelehrten Mediziner begegnet, gehorchte ganz anderen Gesetzen. Er war beispielsweise viel durchlässiger, viel stärker durch das Strömen von Säften und das Wirken widernatürlicher Stoffe bestimmt als durch Veränderungen in den festen Teilen, den Organen selbst. Diese Andersartigkeit macht die historische Analyse reizvoll, aber auch schwierig. Es gilt, dem inneren Zusammenhang, der eigenen Logik und Rationalität einer fremden Körperund Krankheitswelt gerecht zu werden, sich in sie hineinzudenken, soweit unsere eigene, kulturell geprägte Körperlichkeit das erlaubt, um deren Bilder und Vorstellungen dann sprachlich so zur Darstellung zu bringen, daß sie heutigen Zeitgenossen mit ihrem ganz anderen und für das subjektive Empfinden doch so selbstverständlichen, scheinbar naturgegebenen Körpererleben verstehbar werden. Ein hilfreiches methodisches und begriffliches Instrumentarium bietet angesichts solcher Herausforderungen die medizinethnologische Forschung. Die Erfahrung und Deutung des Fremden, Andersartigen ist für sie konstitutiv.15 Völkerkundler haben es seit jeher mit Vorstellungen und Praktiken zu tun, die von jenen der modernen westlichen Gesellschaften stark abweichen. Oft gehorchen diese einer eigenen, uns fremden Logik, die erst die Kenntnis des jeweiligen Menschen- und Weltbilds nachvollziehbar macht etwa wenn eine »Neidgesellschaft«, in der Böses vorwiegend auf die magischen Sprüche mißgünstiger Nachbarn zurückgeführt wird, auch Krankheiten als Folge von Schadenszauber deutet. Oder wenn eine Kultur, in der Verstöße gegen den Willen der Vorfahren als Hauptursache privaten Mißgeschicks gelten, auch Krankheit eher als Folge von Tabubrüchen sieht.16 Mit dem Konzept der »semantischen Netzwerke« hat sich zudem speziell die jüngere medizinethnologische Forschung bemüht, der andersartigen logischen Struktur vieler fremder medikaler Kulturen besser gerecht zu werden.17 Letztere zeichnen sich nämlich meist dadurch aus, daß unterschiedliche und zuweilen scheinbar widersprüchliche Krankheitsauffassungen oft eher assoziativ nebeneinander stehen oder nur locker miteinander verbun-

15 Schon die Grenzen dessen, was als überhaupt als »medizinisches« Problem zu begreifen ist, variieren von Kultur zu Kultur. 16 Bahnbrechend: Benedict; s. a. Ackerknecht; Arthur Kleinman, Medicine's symbolic reality. O n a central problem in the philosophy of medicine. In: Inquiry 16 (1973), 206-213. 17 B y r o n J. G o o d , The heart of what's the matter. The semantics of illness in Iran. In: Culture, medicine and psychiatry 1 (1977), 25-58.

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den werden und von Fall zu Fall in unterschiedlicher F o r m oder Verbindung zur Anwendung kommen. »Semantische Netzwerke«, so hat Thomas Lux diesen Ansatz kürzlich beschrieben, »sind assoziativ und als Modelle nicht notwendigerweise logisch aufgebaut: Es können also in einem Modell auch widersprüchliche Thesen gleichzeitig auftreten und es können mehrere Modelle parallel zueinander und unabhängig voneinander stehen.« Diese Modelle fügen sich also gerade nicht zu einem geschlossenen System zusammen. Sie lassen sich eher mit einer Collage vergleichen.' 8 Sie bilden ein assoziativ und kasuistisch begründetes Nebeneinander von Wissensversatzstücken und Erfahrungen, die von Fall zu Fall der jeweiligen Situation und dem jeweiligen Beschwerdebild angepaßt werden können. 1 ' Das heißt übrigens zugleich, daß die Bilder und Deutungen kaum grundsätzlich widerlegbar sind, denn Erfahrungen, die einzelne Teile der »Collage« in Frage stellen, lassen die Geltung anderer Deutungselemente unberührt. 20 Das Modell der »Collage«, der »semantischen Netzwerke« oder der »Bedeutungsgeflechte«, wie ich sie im folgenden nennen möchte, erweist sich auch für die Analyse frühneuzeitlicher Krankheitsauffassungen als wertvoll. Der Grund liegt auf der Hand: stärker als die meisten anderen bekannten medikalen Kulturen war die Medizin des frühneuzeitlichen Europa ihrerseits bereits Ergebnis einer jahrhundertelangen historischen Entwicklung, die im Lauf der Zeit immer wieder neue Erklärungsansätze hervorbrachte. Diese verschwanden nicht einfach wieder in der historische Bedeutungslosigkeit. Sie hinterließen Spuren in den herrschenden Krankheitsauffassungen und Praktiken nachfolgender Generationen. Wir haben es also mit einer Collage zu tun, deren Teile aus unterschiedlichen historischen Schichten stammen. Die methodische Annäherung über Bedeutungsgeflechte wird zugleich der Individualität und dem »interpretierenden« Moment jeglicher Körperund Krankheitserfahrung besser gerecht. Denn das jeweilige persönliche Bedeutungsgeflecht, mit dessen Hilfe der einzelne Kranke oder seine Angehörigen das Krankheitsgeschehen deuten und ihm Sinn verleihen, kann auch bei scheinbar sehr ähnlichen Symptomen recht unterschiedlich aussehen und eine ganz eigene, persönliche Gestalt annehmen. Grund ist die je individuelle Auswahl, Deutung, Wertung und Zusammenfügung verschiedener Bilder und Wissensbruchstücke und deren Einbettung in die je eigene Lebenswirklichkeit und Lebensgeschichte. 21 Wenn im folgenden dennoch in der Einzahl von »Erfahrung« oder »Wahrnehmung« oder »Erleben« die Rede ist, dann

18 So das treffende Bild von Langer/Bormann. 19 Thomas Lux, Semantische Netzwerke bei Laien und Spezialisten. Eine Studie zum Hypertonus in den USA. In: ders., Semantische Netzwerke, 73-98, zit. S. 80. 20 Kleinman, Patients, 109f, unter Hinweis auf Evans Pritchard. 21 Langer/Bormann.

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soll keine homogene, einheitliche, gemeinsame Körper- und Krankheitserfahrung frühneuzeitlicher Menschen oder selbst nur der damaligen Oberschichten behauptet werden und erst recht kein einheitliches medizinisches Denksystem. Nicht »die« frühneuzeitliche Krankheitserfahrung und -deutung gilt es zu rekonstruieren, sondern ein Repertoire von Erklärungselementen und Deutungsmustern, auf das die meisten Kranken und ihre Angehörigen in unterschiedlichen Kombinationen zurückgriffen, wenn es darum ging, Krankheiten zu begreifen und zu bekämpfen. In diesem Sinne möchte ich im folgenden die gängigeren, verbreiteteren dieser Erklärungselemente eingehender vorstellen, die die alltägliche Erfahrung und Deutung von Krankheit in der medikalen Laienkultur der Frühen Neuzeit prägten. Und ich möchte anhand ihrer praktischen, alltäglichen Anwendung auf konkrete Krankheitsfälle die vielfältigen Verflechtungen und Verbindungen zwischen ihnen aufzeigen und einzelne Verdichtungsräume und Knotenpunkte hervorheben. Selbstverständlich kann meine Darstellung nicht die Gesamtheit aller damals im Laienpublikum wirksamen medizinischen Bilder, Begriffe und Konzepte mit einbeziehen. Manches interessante, aber weniger gebräuchliche Konzept und manche seltenere oder regional begrenzte Krankheit werde ich kaum am Rande erwähnen, den »Weichselzopf« etwa oder die damals als Krankheit begriffene, von Schweiß, Gewichtsverlust und Pulsveränderungen begleitete »Nostalgie«. 22 Ein allgemeiner Uberblick über die wichtigsten Begriffe und Erklärungselemente in der zeitgenössischen medikalen Laienkultur scheint mir aber nicht nur für die medizinhistorische Forschung im engeren Sinne ein wichtiges Desiderat. Auch Vertreter der allgemeinen Sozialgeschichte, der Literaturwissenschaft, der Kunstgeschichte oder auch der Philosophiegeschichte begegnen in ihren Quellen immer wieder auch frühneuzeitlichen Krankheitsbegriffen und -konzepten und verkennen oft deren spezifischen zeitgenössischen Konnotationen.

Vom Temperament zum Charakter Das gängige Bild des »herrschenden«, insbesondere ärztlichen Körper- und Krankheitsverständnisses der Frühen Neuzeit, wie es noch zahlreiche medizin- und allgemeinhistorische Arbeiten aus jüngerer und jüngster Zeit bestimmt, ist ein sehr einfaches und pauschales. Gesundheit, so heißt es da in Erläuterung der Rede von der »Säftelehre« oder »Humoralpathologie«, gründete nach zeitgenössischem Verständnis im Gleichgewicht der vier Säfte,

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Klaus Brunnen, Nostalgie in der Geschichte der Medizin. Düsseldorf 1984.

Vom Temperament zum Charakter

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also von Blut und Schleim sowie gelber und schwarzer Galle. Krankheit war dagegen eine Störung dieses natürlichen Gleichgewichts. Die medizinische Behandlung zielte auf seine Wiederherstellung und Bewahrung. » U m wieder gesund zu werden«, heißt es beispielsweise in einem neueren Uberblick über die frühmoderne Medizin, »war es innerhalb des Säftemodells nötig, das verlorene Säftegleichgewicht wieder zu gewinnen.« 23 Diese Beschreibung ist nicht völlig falsch. Doch sie reduziert die Komplexität selbst der zeitgenössischen Laienauffassungen, geschweige denn der oft noch viel ausgefeilteren ärztlichen Konzepte, auf einen einzigen Aspekt - und keineswegs auf den wichtigsten. Krankheit, das wurde schon angedeutet, war nach zeitgenössischem Verständnis nur in den seltensten Fällen Folge eines gestörten Gleichgewichts. Anklänge an das alte Modell eines Gleichgewichts der Säfte finden sich noch am ehesten in der Beschreibung der je individuellen Verfaßtheit und Krankheitsanfälligkeit des gesunden Körpers. In der Antike entwickelt, verwies der Begriff »Temperament« ebenso wie sein griechisches Pendant, die »(Eu)Krasis« ursprünglich unmittelbar auf die gemäßigte Mischung der Säfte oder Qualitäten. 24 Je nachdem, welcher Saft im natürlichen, gesunden Zustand vorherrschte, hatte der Mensch ein cholerisches, melancholisches, sanguinisches oder phlegmatisches Temperament. Herrschten zwei Säfte vor, beispielsweise schwarze Galle und Schleim (Phlegma), dann ergab sich dementsprechend ein melancholisch-phlegmatisches Temperament usw. Jedem Saft waren wiederum seit der Antike zwei Qualitäten zugeordnet: das Blut war warm und feucht, die gelbe Galle warm und trocken, die schwarze Galle kalt und trocken und der Schleim kalt und feucht. Mit einem bestimmten Temperament verband sich somit ein spezifisches Mischungsverhältnis der entsprechenden Qualitäten, die sogenannte »Complexio«. Der Choleriker war hitzig und trocken, der Phlegmatiker kalt und feucht und so weiter. Subjekt oder stoffliches Substrat von »Temperament« und »Complexio« war zunächst der Körper des Menschen in seiner Gesamtheit. Jeder Mensch hatte sein individuelles Temperament, in dem ein oder zwei Säfte oder ein oder zwei Qualitäten überwogen. Dieses Ubergewicht - beispielsweise des Schleims im Phlegmatiker - wurde nicht an sich als krankhaft gewertet. Es kennzeichnete zunächst nur die natürliche individuelle Verfaßtheit der Betroffenen und prädisponierte allenfalls für krankhafte Abweichungen in die jeweils vorgegebene Richtung. So war der Phlegmatiker nach alter ärztlicher Lehre besonders anfällig für Krankheiten, die sich durch ein Übergewicht an Schleim oder von Kälte und Feuchtigkeit auszeichneten. Der Choleriker

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Lindemann, Medicine, 17. Ausführliche Darstellung bei E. Schöner, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie. Wiesbaden 1964.

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war entsprechend vermehrt von galligen, heißen und trockenen Krankheiten bedroht. 25 Darüber hinaus hatten auch die einzelnen Körperteile und Organe jeweils ein bestimmtes, ihren jeweiligen Aufgaben angemessenes Temperament. So war das Hirn als besonders »schleimiges« Organ eher vom kalten und feuchten Phlegma bestimmt. Die Leber war dagegen eher warm und trocken; sie war der Ort der Galle und »verkochte« den Nahrungsbrei zu Blut. Die Begrifflichkeit der Temperamentenlehre war den frühneuzeitlichen Laien vertraut, und das Wissen um ihre jeweilige »Natur« oder ihr jeweiliges »Temperament« galt vielen als unverzichtbare Voraussetzung für eine gezielte Diagnose, Behandlung oder Vorbeugung. Patientenbriefe begannen deshalb nicht selten mit dem Hinweis auf das eigene »sanguinische«, »cholerische« oder »phlegmatisch-melancholische« oder auch auf das »trockene« und/oder »erhitzte« oder »feurige« Temperament. Er sei »etwa« 42 Jahre alt und seiner »Complexion« nach »ein Flegmaticus vnd Melancolicus« meinte in diesem Sinne einer von Thurneissers Patienten. 26 Andere baten diesen ausdrücklich, er solle aus dem Harn ihre »Natur vnd Complexio« bestimmen,27 oder sie vertrauten darauf, daß er ihre »Complexion, Artt vnd Eigenschafft« bereits kenne und »ein guts Praeseruatiff nach meiner Natur vndt Complexion« schicken oder seine Behandlung entsprechend gestalten werde.28 Äußerlich gab sich ihnen das jeweilige Temperament beispielsweise an der lebhaften Gesichtsfarbe zu erkennen, am gesteigerten sexuellen Begehren beim Sanguiniker, oder an einer Neigung zu Wutanfällen beim galligen Choleriker. Ihr Fehler, schrieb eine von Hoffmanns Patientinnen, sei, daß »ich mich leichte ärgern kan, und also die Galle ins Geblüte kan getreten seyn.« 29 Wie die Arzte schreiben die Laien daneben den einzelnen Organen ein besonderes natürliches Temperament zu, das im Einzelfall auch einmal krankhaft verändert sein konnte. So ließ der an »Catarrh« und »Hauptfluß« leidende Isaac Keller Thurneisser ausrichten, er habe eine »hitzige Complexio« und insbesondere eine »hitzige«, große Leber, weshalb sein Gesicht gerötet sei.30 Die Behandlung, so meinte ein anderer, habe gottlob, das Hirn »zu einem gutten Temperamento wieder gebracht vndt habe nicht mehr solche Beschwerung von den Catharris.« 31

25 D i e Existenz der schwarzen Galle als ursprünglich viertem natürlichen Körpersaft wurde von den Ärzten des 18. Jahrhunderts allgemein bezweifelt. 26 T K 422a, 101r-102r, Ludwig Albricht, D o . nach Jubilate 1578. 27 Beispielsweise T K 423a, 245r-248v, Remich Rechwerm, 13.2.1580. 28 T K 424, 16r-v, Jorgen Eckhard, 22.3.1582; ebd. 187r-188r, 29 M C 10,279-282, Brief einer 44jg. Kranken (ca. 1732). 30 T K 421a, 62r, Frühjahr 1576. 31 T K 420b, 479r-v, Matthäus C u n o (?), 7.2.1575.

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Schon im 16. Jahrhundert beschränkte sich die Einschätzung der eigenen körperlichen Verfaßtheit jedoch oftmals nicht auf das Temperament im engeren Sinne. Vielmehr war die Rede vom »Temperament« oder der »Complexio« gleichbedeutend mit der - oft ausdrücklichen - Rede über die eigene »Natur« oder auch »Person« 32 unter dem Einfluß von Ernährung, Lebensweise, aber auch elterlichem Herkommen und Lebensgeschichte. Der herkömmliche Temperamentbegriff trat in den Hintergrund. Manche Briefschreiber relativierten nur die Rolle des Temperaments im Vergleich zu anderen Einflußgrößen, die ebenfalls die körperliche Konstitution bestimmten. Sie stellten beispielsweise dem Hinweis auf das »gallig-sanguinische« Temperament andere Angaben zur Seite, die sich eher auf den Körperbau oder auf das Aussehen bezogen. »Erstlich bin ich am Alter bey 40. Jahren«, heißt es da, »vom Leib dickh vnd vntersezt, phlegmatisch- vnd sanguinischer Natur, vnd hab einen grossen Bauch.«" Als großgewachsen und breitbrüstig, oder auch als etwas mollig beschrieben sich andere, und selbst die Farbe und Fülle der Haare fand man in diesem Zusammenhang erwähnenswert.34 In anderen Briefen war von »Temperament« oder »Complexio« in einer Weise die Rede, die den Grundannahmen des Viererschemas widersprach. So beschrieben manche Kranke ihr Temperament beispielsweise als sanguinisch-biliös-phlegmatisch, obwohl das im herkömmlichen Verständnis wenig Sinn gab, denn das Kalte und Feuchte des Schleims hätte gleichzeitig mit dem Warmen und Trockenen der gelben Galle überwiegen müssen.35 Für andere bezeichnete das »Temperament« gar nur allgemein die jeweilige spezifische körperliche Individualität, das teilweise von Geburt vorgegebene, teilweise durch die Lebenseinflüsse geprägte Substrat der vielfältigen physiologischen und pathologischen Vorgänge im Körper. Von einem »mageren« Temperament ist in diesem Sinne die Rede,36 oder von einem »ziemlich verstopften« Temperament, wenn der Stuhlgang nur mühsam in Gang kam,37 oder die Kranken meinten, ihr »Temperament« habe früher zum Durchfall geneigt.38 Wieder andere setzten »Temperament« eher mit körperlichem Elan oder Kraft gleich. Sie schrieben sich ein »kräftiges«, 39 »starkes« oder »energisches« Temperament zu, oder auch ein »schwächliches«, »er-

32 Von seiner »Persohn oder Complexion« schrieb Johann Christoff Amberg, Stadtschreiber in Feldkirch (SK, 241r-243r, 29.10.1624). 33 UB Erlangen, Ms. 948, 342r-344v, offenbar an Georg Fabricius gerichtete Krankengeschichte eines lungenleidenden und impotenten Mannes, o. D. 34 FT, Adjutant Goyen, 30, 10.12.1772; BIM 5245, 61r-62r, N. N.. eine 38jg. Dame betr., o. D. 35 BIM 5242, 215r-216r, kranke Nonne, an ihre Schwester, 10.9.1724. 36 FT, Mme de Villeterque, o. D. 37 FT, Μ Decheppe de Morville, 20.7.1783; FT, Mme de Chastenay, Herbst 1784. 38 FT, Comtesse de Wedel, 21.11.1784. 39 FT, Jacques Le Meilleur, Medizinstudent, 26.3.1770.

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schöpftes«, ein »delikates« oder gar ein verweiblichtes, »effeminiertes«.40 Sein Temperament sei »schwach, kann Kälte nicht vertragen, dauert aber Arbeit aus,« meinte Johann Valentin Andreä schon im ausgehenden 17. Jahrhundert.41 Vor allem im 18. Jahrhundert ist dann zudem in zahlreichen Briefen von »Temperament« primär im heutigen Sinne als affektive Gestimmtheit oder als Vitalität die Rede, Eigenschaften, die Laien und Arzte damals freilich noch viel stärker als heute als körperliche Eigenschaften begriffen. So berichteten Patienten und Ärzte von einem »ernsten«, »glühenden«, »lebhaften« oder »sehr fröhlichen« Temperament.42 In französischen, englischen oder italienischen Briefen näherte sich die Rede vom »Temperament« damit weitgehend jener vom »humeur«, »humour« oder »umore«, der ganz ähnlich wie der des »Temperaments« auf die Säftelehre verweist (lat. humor = Saft), aber schon im 17. Jahrhundert im übertragenen Sinne generell für die »Stimmung« gebraucht wurde.43 So ist in den Briefen analog von einem »schrecklichen«, »schlechten«, »ungeduldigen« oder »schwankenden« »humeur« im modernen deutschen Verständnis von »Stimmung« oder »Laune« die Rede, die sich allenfalls mittelbar aus der Vorherrschaft eines Saftes ableiten mochte.44 Ein Patient von Helvetius beschrieb sich beispielsweise mit folgenden Worten: »Mein Temperament ist meines Erachtens ziemlich bedächtig [»pose«]. Aber alle sagen, ich sei sehr lebhaft, und zwar deshalb, weil ich ein wenig rasch handle und Feuer fange wie Kanonenpulver.« Seine Stimmung (»humeur«) wechsle dabei, aber er neige eher dazu, zu lachen als sich aufzuregen.45 So verstanden konnte das Temperament auch unterschiedlich groß oder ausgeprägt sein. Man konnte »viel«, »mehr« oder auch »weniger« Temperament haben. Es sei eine neue Erfahrung für sie, »soviel Temperament zu haben wie gegenwärtig« meinte eine Regensburger Baronesse.46 Manchmal war auch vom sexuellen Begehren in diesem quantifizierenden Sinne als »Temperament« die Rede: sie habe mehr »Temperament« als sie glaube, hieß es in Anspielung auf ihre sexuellen Bedürfnisse von einer Patientin Tissots. 47

40 FT, Rouviere, Chirurg, 26.5.1783. 41 Andreä, 134. 42 FT, Ouvrard de Liniere, 12.8.1772; FT, Krankheitsbericht Μ Larrei, in der 3. Person abgefaßt, aber eindeutig von ihm selbst geschrieben [5.1.1784]. 43 So beispielsweise vielfach bei M m e de Sevigne. 44 Ein (freilich ärztlich ausgebildeter) Patient erklärte ausdrücklich, er sei von »lebhafter«, ja »unruhiger« Stimmung« (»humeur vive«, »inquiete meme«), wie es alle galligen Temperamente seien (FT, Μ Lantrac, 10.9.1789). 45 B I M , 2037, 25-28, unsign. Brief eines 45jg. Kranken (Helvetius antwortete am 24.1.1728). 46 F T , Baronesse von Vrentz (?), 8.4.1771. 47 F T , Brief des Bruders einer 19jg. Kranken, 10.2.1772.

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Blutfülle (Plethora)

So löste sich die Rede von »Temperament« und »Complexio« immer mehr von ihrem herkömmlichen, säftepathologischen Bezugsrahmen. Manchen Patienten scheint das auch ein Stück weit bewußt gewesen zu sein. Einer fügte beispielsweise dem Hinweis auf sein »sanguinisches« und »cholerisches« Temperament ein relativierendes »wie man so sagt« hinzu. 48 U n d viele verzichteten ganz auf den Begriff. Schon 1593 erwähnte beispielsweise ein Jurastudent sein »Temperament« nicht einmal, als er Johannes Heurne um Rat fragte. Dafür schilderte er ausführlich seine »Constitution«, seine kleine, magere Statur, seinen ständigen Appetit, seine Kälteempfindlichkeit, seine unbeholfene Rede und seinen oft unmotivierten Hang zu Niedergeschlagenheit und Seufzen. 49 Im 18. Jahrhundert waren solche umfassenden Selbstdarstellungen dann gang und gäbe. Die Tendenz zur Individualisierung, zur Charakterisierung der spezifischen Qualitäten ihres Körpers mit seinen Krankheitsanfälligkeiten und Schwächen blieb vorläufig erhalten Die jeweilige Mischung der Säfte oder Qualitäten aber war allenfalls nur noch ein Faktor unter vielen, die die spezifische körperliche und auch, wie wir heute sagen würden, seelische Verfaßtheit bestimmten.

Blutfülle (Plethora) Im Gegensatz zur Bestimmung der allgemeinen körperlichen Verfaßtheit und Krankheitsdisposition, spielte die Temperamentenlehre für die Deutung konkreter Krankheitsepisoden schon im 16. Jahrhundert nur mehr eine untergeordnete Rolle. N u r wenige Krankheitsfälle wurden, wenigstens in einem weiteren Sinne, auf das bloße Ubermaß eines natürlichen, physiologischen Saftes zurückgeführt. U n d selbst in diesen Fällen stand in der Regel nicht das Gleichgewicht der Säfte untereinander im Vordergrund, sondern das Mißverhältnis zum verfügbaren Raum. Das wichtigste Beispiel für die Folgen des bloßen Überschusses eines gesunden, natürlichen Körpersaftes, waren Krankheiten, die aus der Vollblütigkeit oder »Plethora« entstanden. Das zeitgenössische Verständnis der »Plethora« und die Ängste, die sich mit ihr verbanden, erklären sich aus den herrschenden Annahmen über die Herkunft und die Rolle des Blutes im Körper. Das Blut stammte nach alter ärztlicher Auffassung unmittelbar aus der Nahrung. Diese wurde zunächst im Magen zu Speisebrei und anschließend von der Leber weiter zu Blut »verkocht«. Aus der Leber ergoß sich das Blut dann in das H e r z und in den übrigen Körper. Die einzelnen Körperteile oder Organe nahmen das Blut oder die jeweils benötigten Bestand48 FT, Μ de Diesbach, o. D. 49 Heurne, Jacob Baldwein von Zweybruch, 30.6.1593 (lat.).

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Teil 2: Wahrnehmungen und Deutungen

teile auf und assimilierten sie in einem dritten Verkochungsschritt, glichen sie also im Wortsinn der eigenen Materie an. Das Blut war demnach nicht in erster Linie Transportmittel, sondern es wurde stofflich von den Organen aufgenommen und nährte diese. Seit dem frühen 17. Jahrhundert fand zwar William Harveys Blutkreislauflehre50 zunehmende Anerkennung und stellte die herkömmliche Annahme in Frage, daß das nahrhafte Blut langsam und nur in einer Richtung über die Venen zu den Organen strömte. Das besondere Augenmerk für die Plethora im Sinne einer Überfüllung von Körper und Gefäßen mit Blut aber blieb erhalten, ja sie gewann zusätzliche Bedeutung, insofern die Uberfüllung und Uberdehnung der Gefäße den lebenserhaltenden Kreislauf behinderte. Ursache der Plethora war nach Meinung der Ärzte vor allem die Ernährung. Die Plethora wurde damit im 18. Jahrhundert ein wichtiges Thema ärztlicher Zivilisationskritik. Vor allem die reichen Städterinnen, so hieß es, nähmen ständig überreichlich nahrhaftes Essen zu sich, aus dem die Leber mehr Blut herstelle als der Körper benötige. Dazu komme ein unzureichender Verbrauch des Blutes durch eine bewegungsarme, vorwiegend sitzende Lebensweise, wie sie insbesondere für die wohlhabenderen Frauen als typisch galt. Bei Bauern und Bäuerinnen, so etwa Tissot, sei die Plethora dagegen viel weniger verbreitet.51 Die typischen Symptome und Folgeerscheinungen der Plethora hatten nichts mit dem Gleichgewicht oder dem Mengenverhältnis zu den übrigen Körpersäften zu tun. Sie spiegelten vielmehr die Überfüllung der Gefäße und des Körpers insgesamt. Manche Patienten bezeichneten ihr Temperament in diesem Sinne ausdrücklich nicht als »sanguinisch«, sondern als »plethorisch« oder »voll«. Zeitgenössische Arzte führten eine ganze Serie von typischen Folgeerscheinungen der Plethora auf,52 und viele von diesen finden sich auch in den Patientenbriefen wieder. Die Glieder wurden schwer, der Puls fühlte sich hart und voll an. Das Gesicht rötete sich. Ihre Tochter habe wohl manchmal zuviel Blut, schrieb in diesem Sinne eine besorgte Mutter, denn ihr Gesicht sei zuweilen recht rot.53 Im begrenzten Raum des Schädels machte sich die Blutfülle besonders unangenehm bemerkbar. Kopfweh und Schwindel wurden oft mit der Plethora in Verbindung gebracht, zuweilen auch Ohrensausen.54 Typisch waren auch örtliche Dehnungs50 William Harvey, Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus. Frankfurt 1628. 51 Tissot, Anleitung, 578. 52 Besonders ausführlich beschrieb John Freind die Folgen der Plethora am Beispiel der Blutanhäufung bei Amenorrhoe (J. Freind, Emmenologia. L o n d o n 1729, 77-110); sie dienten als Beleg für seine stark hydraulisch-mechanistisch angelegte Deutung. 53 F T , M m e Mieg, Mulhouse 9.5.1790. 54 So S K , Abt Augustin von Einsiedeln, 4.3.1616.

Blutfülle (Plethora)

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schmerzen im Unterleib, als Ausdruck der übermäßigen Anspannung der dortigen Gefäße. Dazu zählten insbesondere ziehende Schmerzen im Bereich des Afters, die zuweilen mit dem Austritt von Hämorrhoidalblut fast schlagartig aufhörten. Bei übermäßiger Blutfülle blieb dem Körper oft nur mehr der Ausweg, das überflüssige Blut in regelmäßigen Abständen über zusätzliche oder stellvertretende Ausscheidungswege zu entleeren. Dieses Bemühen nachzuahmen und zu unterstützen, war zugleich ein wichtiger Grund für den Aderlaß. Bei Buben dienten dazu vor allem Blutungen aus der Nase, beim Mann aus den Hämorrhoiden. So lästig und schmerzhaft Hämorrhoidenblutungen zuweilen auch waren, wurden sie deshalb oft als positiv bewertet und ausdrücklich begrüßt. Wenn nur seine früheren, regelmäßigen Hämorrhoidenblutungen wiederkämen, meinte beispielsweise ein 46jähriger Oberst, dann hätte er zwar eine Beschwerde mehr, aber er würde endlich von seinen übrigen Schmerzen befreit, dem Dröhnen, den Hitzeempfindungen in seinem Kopf, die einsetzten als die Hämorrhoiden versiegten, und die ihn einen Schlagfluß fürchten ließen.55 Man sprach gar von der »goldenen«, »güldenen Ader«. 56 Bei Frauen bot die Monatsblutung den wichtigsten Weg, überflüssiges Blut auszuscheiden. 57 Für die große Mehrheit der Ärzte seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert war dies sogar die hauptsächliche Funktion der Monatsblutung. Nach ärztlicher Auffassung erzeugten geschlechtsreife Frauen nämlich allmonatlich einen Uberschuß an Blut. Während der Schwangerschaft diente dieses überschüssige Blut dazu, das Kind in ihrem Leib zu ernähren und nach der Geburt wurde es zu Milch; deshalb hatten Schwangere und Stillende keine Monatsblutung. War sie nicht schwanger, dann mußte die Frau das Blut nur deshalb ausscheiden, weil es sich sonst allzu sehr in ihrem Körper angehäuft hätte. Die Frau schied nach überlieferter ärztlicher Einschätzung allmonatlich immerhin rund ein Pfund Blut aus. Somit hätte sich sonst in kürzester Zeit eine große Menge Blut angesammelt. Der erwähnten ärztlichen Zivilisationskritik folgend, war die monatliche Ausscheidung überschüssigen Blutes bei den untätigen und wohlgenährten Frauen der Oberschichten ganz besonders wichtig. Deren Perioden, so hieß es im 18. Jahrhundert, seien denn auch deutlich stärker als etwa die von Bäuerinnen. Ja, manche Arzte meinten sogar, die Menstruation sei über55 FT, C h e v . d e Virieu, 28.7.1772. 56 Beispielsweise M C 5, 93-98, Brief eines 31jg. Patienten, anfänglich in der 3. Person, o. D . 57 Michael Stolberg, Erfahrungen und Deutungen der weiblichen Monatsblutung in der Frühen Neuzeit. In: Barbara Bauer (Hg.), Artes et scientiae. Beiträge zum 10. Jahrestreffen des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Barockforschung. Wolfenbüttel [im Druck]; s. a. Patricia Crawford, Attitudes to menstruation in seventeenth-century England. In: Past & present 91 (1981), 47-73.

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haupt nur eine Folge des unnatürlichen Lebensstils in der modernen europäischen Gesellschaft und verwiesen auf Reisebeschreibungen, denen zufolge Frauen in anderen Ländern ihrer weit weniger bedurften oder gar keine Monatsblutungen hatten. 58 Unter den Frauen selbst scheint sich die Überzeugung, die gewöhnliche Monatsblutung diene der bloßen Entleerung reinen, überflüssigen Blutes, nicht durchgesetzt zu haben. Sie betrachteten die Menstruation weiterhin im buchstäblichen Sinne als eine »monatliche Reinigung«, die den Körper nicht nur von Blut, sondern auch von unreiner, krankmachender Materie befreite. Wenn die monatliche Blutung freilich aus irgendwelchen Gründen nachließ oder ganz versiegte, dann mußte sich das Blut auf jeden Fall einen anderen Ausweg suchen, und zwar über die gleichen sichtbaren und unsichtbaren Körperöffnungen wie beim Mann, also über Hämorrhoiden und Nasenbluten vor allem. Eine 17jährige Patientin Geoffroys bekam Fieber und ihr ganzer Körper verfärbte sich tiefrot, als sie ihre Periode verlor. Erst als sie schließlich wiederholt massives, tagelang anhaltendes Nasenbluten bekam, besserte sich ihr Zustand deutlich.59 Neben den Hämorrhoiden und der Menstruation, das deutet sich damit schon an, konnten grundsätzlich auch alle anderen gesunden oder krankhaften Körperöffnungen und Ausscheidungswege den Körper von überflüssigem Blut befreien. 60 Die frisch verheiratete Tochter von Μ Cerrier etwa, bekam einen Hautausschlag, als ihr Monatsfluß nachließ, und auch ihr Urin wurde rot, trotz eines Aderlasses. 6 ' Bei Hans Khevenhüllers Frau ließ der Wochenbettfluß nach, als sie heftiges Nasenbluten bekam.62 Eine von Verdeils Patientinnen bekam massives Nasenbluten als sie sich den Wechseljahren näherte und ihre Monatsblutungen nachließen.63 »Sieben Maaß Bluets« wollte der Feldkircher Stadtschreiber Amberg gar aus dem rechten Nasenloch verloren haben und bald darauf fünf weitere aus dem linken. Nach einem Aderlaß habe er sich dann »Leibes halben« wieder wohl befunden. 64 Selbst Lungenblutungen wurden vielfach zunächst als Versuch des Körpers oder der Natur gedeutet, überflüssiges Blut auszuscheiden. So verdankte ein

58 Pierre Roussel, Systeme physique et moral de la femme. Paris 1775,196-202. 59 BIM 5245, 263r-264v, Brief vermutl. eines Bekannten oder Verwandten, 11.11.1729. 60 In der frühneuzeitlichen »Observationes«-Literatur finden sich zahlreiche Fälle einer »stellvertretenden« Menstruation und menstruationsanaloger Blutungen bei Männern; vgl. Martin Schurig, Parthenologia historico-medica. Dresden/Leipzig 1729, 83-127; Gianna Pomata, Uomini mestruanti. Somiglianza e differenza fra i sessi in Europa in etä moderna. In: Quaderni storici 79 (1992), 51-103. 61 BIM 5242,134r-135r, Μ Cerrier, o. D. 62 Khevenhüller, 3. 63 Verdeil, N . N . (Name nicht sicher lesbar), 5.2.1801. 64 SK, 241r-243r, Johann Christoff Amberg, 29.10.1624.

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Berliner Prediger seine Lungenblutungen nach Einschätzung seines Arztes dem Versiegen seiner früher viel häufigeren Nasenblutungen; die » N a t u r « habe »statt derer eine andere gefährliche Excretion durch die Lunge vor genommen«. 6 5 Ein anderer Patient fühlte sich deshalb immerhin »ein wenig erleichtert«, wenn er abends zwei Mundvoll Blut ausspuckte; Beine und Bauch waren geschwollen und er hatte auch Nasenbluten, was sich sein Vater so erklärte, daß das überschüssige Blut wohl nach oben gestiegen sei.66 So lästig sie mitunter waren: in den meisten Fällen boten derlei Blutungen also willkommene Entlastung, und ihre Bekämpfung wollte gut überlegt sein. Manchmal aber wurden sie selbst zur Gefahr. Wenn sich das geborstene Gefäß nicht mehr Schloß oder die Blutung aus anderen Gründen außer Kontrolle geriet, dann drohten übermäßige Verluste wertvollen, nahrhaften Blutes. Besondere Sorge bereiteten derlei Blutungen aus der Lunge und aus der Gebärmutter, sicher auch deshalb, weil sie sich erfahrungsgemäß oft mit zwei der gefürchtetsten Krankheiten verbanden, nämlich mit Schwindsucht und Gebärmutterkrebs. Wir werden auf sie zurückkommen.

Schlagfluß Versagten die Bemühungen von Körper oder Natur, dem überflüssigen Blut irgendeinen Weg nach außen zu bahnen, dann drohten schwerwiegende Konsequenzen. Die Bewegung des Geblüts in den überdehnten und überfüllten Gefäßen verlangsamte sich, erklärten ärztliche Aufklärungsschriften ihren Lesern, 67 es wurde dicker und zähflüssiger, geriet ins Stocken. Besonders gefährlich war es, wenn sich das Blut im beengten Raum des Schädels versammelte und die Hirngefäße verstopfte. 68 Dann drohte ein »Schlag«, »Schlagfluß« oder »Apoplex« 6 9 mit seinen typischen, verhängnisvollen Symptomen: dem plötzlichen »Verlust aller Sinnen, und der willkührlichen Bewegung, da indessen der Puls noch schlägt, auch das Athemholen, obgleich

65 Clacius, 11-14. 66 FT, Brief des Vaters, Μ Cart, 8.5.1785. 67 Ausführlich hierzu Flamant, Die Kunst sein eigener Medicus zu seyn. Franckenhausen 1721, 63-67. 68 Tissot, Anleitung, 168; kurz darauf meinte Tissot freilich, ohne den Widerspruch aufzulösen, der starke Druck des überreichlich andrängenden Blutes hemme die »Bewegung der Nerven« (ebd., 172). 69 Tissot, Anleitung, 173-175 unterschied daneben noch eine zweite F o r m des Schlagflusses bei Menschen mit einem eher »wäßrigen« und »schleimigen« Geblüt, offenbar ein Versuch ähnliche Lähmungserscheinungen bei Menschen ohne andere Symptome einer Plethora zu erklären.

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mit Beschwerde, fortgehet.«70 Nach der Genesung verblieben vielfach Lähmungen der Zunge, der Extremitäten oder der Gesichtsmuskeln auf einer Körperseite.71 Das Wissen um diese Gefahren und Folgeerscheinungen eines Schlags scheint auch unter den Laien sehr verbreitet gewesen zu sein. »Apoplex« und »Schlag(fluß)« waren gängige Krankheitsbegriffe und, wie schon erwähnt, als Ursache eines plötzlichen Todes gefürchtet. Die Symptome, die gebildete Laien mit dem »Schlaganfall« verbanden, klingen heute noch vertraut. Wen der Schlag »rührte«, der litt in erster Linie an halbseitigen Gefühls- und Bewegungsstörungen sowie Sprachausfällen und verlor, bei schwerem Verlauf, das Bewußtsein. Uber den Tod des Hildesheimer Bürgermeisters Ameke im Jahr 1601 berichtete Joachim Brandes beispielsweise, er sei am Abend »hastigen und erschrecklichen krank geworden, daß die Sprache und Vornunft fast mit weg gegangen, und up der rechten Seiten geruiret.«72 Die »Sprache auch kombt mich noch fast schwer ahn,« klagte einer von Thurneissers Patienten nach einem Schlagfluß; er rede »also als wen mir die Lippen und der Gummen [Gaumen] dick oder wie gefuttert wehre«.73 Lähmungserscheinungen an Mund, Zunge und Arm beklagte einer von Hoffmanns Patienten noch drei Jahre nachdem er »von dem Höchsten mit einem Schlagflusse anheim gesuchet worden«.74 Einen apoplektischen Anfall vermuteten folgerichtig die Umstehenden auch, als eine 68jährige Bedienstete im Hotel Dieu plötzlich eine halbe Stunde lang nicht mehr reden konnte. Man ließ sie sofort zur Ader, ohne auch nur auf den Chirurgen zu warten. Das Sprechen fiel ihr freilich weiter schwer, und ihre Mundwinkel verzogen sich krampfhaft. 75 Wichtiger Hinweis auf den übermäßigen Blutandrang speziell zu Kopf und Gehirn als drohender Auslöser eines Apoplex war ein stark gerötetes Gesicht, womöglich gar mit sichtbar vorstehenden Adern als Ausdruck ei-

70 Tissot, Anleitung, 168; ähnlich Ettmüller II, 296-312. 71 Tissot, Anleitung, 172f. 72 Brandis, 500; Sprachausfälle erwähnt auch Spener im Zusammenhang mit dem tödlichen Schlaganfall seiner Patin (Philipp J a c o b Spener, D . Phil. Jacob Speners eigenhaendig aufgesetzter Lebens-Lauf. In: Heinrich Anshelm von Ziegler und Kliphausen, Continuirter H i storischer Schau-Platz und Labyrinth der Zeit [...]. Erste [und einzige] Fortsetzung. Leipzig 1718,. 856-864. 857); Lähmungen wurden teilweise mit einem Verlust an vitaler Lebenswärme assoziiert und Kälteempfindungen waren insofern wichtige Warnzeichen (BIM 5245, 106-v, in der 3. Person, aber vermutl. von der Patientin selbst verfaßter Bericht, M m e de Chambery betr., ca. 1730). 73 T K 420a 88r-v, C . Morgriesser, 31.5.1571. 74 M C 5, 4 5 ^ 7 , mit » G . S. V.« gezeichneter Brief, 23.4.1729, an einen ungenannten Arzt zur Weitergabe an H o f f m a n n . 75 Second recueil, 21-24, Marie-Anna Courronneau.

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ner starken Plethora.76 Manchmal kündigten auch kleinere Störungen oder Lähmungserscheinungen den vollständigen Apoplex erst an: »Den Mund bis zum Ohr gezogen und das eine Auge geöffnet, ohne es schließen zu können und unbeweglich«, beschrieb Mme de Graffigny die Gesichtslähmung der Prinzessin de Ligne. Sie drohe zur Apoplexie zu werden, wenn man nichts gegen sie unternehme.77 Selbst Schwindelanfälle, so warnte La Mettrie seine Leser, entarteten häufig in Apoplexien.78 Einen Apoplex fürchteten auch die Angehörigen eines Geheimrats und Kanzlers ob dessen merkwürdiger Zustände von Sinnesverwirrung und Bewußtseinsstörung. 7 ' Selbst Beschwerdebilder, die damals gewöhnlich eher dem Bereich der »Hypochondrie«, der »Vapeurs« oder der »Nervenleiden« zugeordnet wurden, weckten gelegentlich Ängste vor einem drohenden Apoplex, bei einer Dame aus Reims beispielsweise, die unter anderem über ein anhaltendes Gefühl von Kälte in Kopf und Nacken, über plötzliche Beinschwäche, störendes Ohrenklingeln, Konzentrationsstörungen und allgemeine Unlust klagte.80 Auch die 43jährige Mme Faugeroux war überzeugt, an einem Apoplex zu leiden, während Tissot ihre Symptome für rein nervös hielt. Sie fürchtete, bald sterben zu müssen, und ihr Mann teilte diese Sorge. Ihre Periode war seit einem Jahr unregelmäßig, und sie spürte nicht nur eine brennende Hitze im Körper, sondern hatte auch Mühe beim Sprechen, Kopfschmerzen und Herzklopfen, und ihre Arme und Beine waren derart benommen, daß vier Männer ihr in die Hände schlagen konnten, ohne daß sie es spürte.8' Die Genese des Apoplexes und dessen ursächlichen Zusammenhang mit der Plethora scheinen sich die Laien ähnlich vorgestellt zu haben wie die Arzte. Bilder eines übermäßigen Andrangs und des verlangsamten Flusses eines krankhaft veränderten Geblüts deuten sich an, zuweilen auch Vorstellungen von einem gewissermaßen mechanischen Druck im beengten Raum des Schädels.82 Sie wurden aber in der Regel nicht klar ausformuliert. Der erwähnte Feldkircher Stadtschreiber Amberg etwa hatte nicht nur insgesamt zwölf Maß von seinem - offensichtlich im Überschuß vorhandenen - Blut über die Nase ausgeschieden. Er litt auch an Schwindel und starken Haupt-

76 FT, Mme de Brackel, 24.2.1793. 77 Graffigny III, 37, Dez. 1740; ähnl. ebd., 66, Brief an den Arzt John Clephane; man behandelte die Kranke mit Aderlaß und Brechmitteln. 78 Julien Offray de la Mettrie, Traite du vertige. Paris 1738, 8-10; zu La Mettrie s. Kathleen Wellman, La Mettrie. Medicine, philosophy, and Enlightenment. Durham/London 1992. 79 MC 5,290-292, Brief des Patienten. 80 BIM 5241, 22r-23r, Ν. Ν., in der 3. Person abgefaßt, mit Begleitschreiben des behandelnden Arztes, 18.5.1730. 81 FT, Μ Faugeroux, 12.6.1787. 82 Einer gestörten Bewegung der »Seelengeister« scheinen Laien - im Gegensatz zu manchen Ärzten - keine Beachtung geschenkt zu haben (vgl. etwa Ettmüller II, 296-312).

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flüssen und beim Aderlaß zeigte sich das Blut »schwartz verbrent«. Mit Nachdruck bat er seinen Arzt, er solle ihm ein Vorbeugungsmittel »für die Apoplexiam (davon ich mich am meisten besorge) miteilen [sie].«83 Seit seiner Heirat sei an die Stelle seines früheren galligen Temperaments ein zunehmender Uberfluß an Blut getreten, klagte ähnlich ein 39jähriger Patient Tissots, und er sei trotz halbjährlicher Aderlässe zunehmend »dickflüssig« geworden. Manchmal sehe er gar so etwas wie Blutteilchen vor dem Auge, und er habe ein Gefühl von Schwere, von Bedrängnis. Seine Angehörigen fürchteten daraufhin »Verstopfungen« oder eine Neigung zum Apoplex, die sie frühzeitig bekämpft wissen wollten.84 Ein anderer Patient hatte ebenfalls schweres und dickes Blut und fürchtete eine Lähmung oder einen Apoplex, wenn es seinem Körper nicht mehr gelingen sollte, sich seiner Säfte zu entledigen.85 Auch im übrigen Körper, da waren sich Arzte und Patienten einig, konnte das eingedickte, verlangsamt strömende Blut bei übermäßiger Blutfülle stocken und die Gefäße verstopfen. Drastische Ausfallerscheinungen wie beim Apoplex folgten daraus in der Regel nicht. Behindert wurde jedoch insbesondere die Ausscheidung schädlicher Krankheitsstoffe. Wir werden im Zusammenhang mit den Folgen gestörter Ausscheidungen auf dieses Thema zurückkommen. Das wichtigste Verfahren, einem Blutüberschuß und damit auch einem Apoplex vorbeugend oder therapeutisch entgegenzuwirken, waren, wie schon angedeutet, Blutentleerungen. In der ungebrochenen Uberzeugung von der Notwendigkeit und Wirksamkeit eines Aderlasses bei plethorisch verursachten Krankheiten werden Wirkkraft und innere Logik der eben skizzierten Auffassungen zugleich besonders anschaulich. Soweit sich die Plethora durch die Zeichen einer zunehmenden Anfüllung des Körpers und seiner Gefäße bemerkbar machte, ist das auch heute noch ganz gut nachvollziehbar. 86 Bei massiven Blutungen aus Lunge, Gebärmutter und anderen Organen aber muß der Aderlaß dem heutigen Leser als lebensgefährlicher Unfug erscheinen, drohten die Kranken doch ohnehin schon an ihrem Blutverlust zu sterben. Das eben skizzierte Plethorakonzept läßt aber erkennen, warum der Aderlaß auch in solchen Fällen als sinnvoll und notwendig begriffen wurde. Denn wiederholte Blutungen belegten, daß weiterhin zuviel

83 SK,241r-243r, 29.10.1624. 84 FT, Μ Cheroz, Troyes, 16.1.1785. 85 BIM 5241 113r-v, N . N., o. D., vermutlich vom Patienten selbst verfaßt oder diktiert. Er litt unter anderem an Benommenheit, Beinschwäche, Zittern, krampfhaften Kopfbewegungen und einer unüberwindlichen Melancholie; etwas überraschend hielt er allerdings auch eine »Wassersucht« für möglich. 86 Bei einer krankhaften Vermehrung des Blutes - genauer: der roten Blutkörperchen - wird heute noch zuweilen zur Ader gelassen.

Flüsse, Gicht und Rheumatismus

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Blut im Körper war, das die Natur auszuscheiden suchte, oder das auf gleichsam mechanischem Wege die Gefäße so sehr anspannte, daß sie dem Druck schließlich nachgaben. Folgerichtig mußte man diese Ausscheidungsneigung unterstützen und nicht etwa behindern. Nicht selten forderten die Kranken und ihre Angehörigen deshalb aus eigenem Antrieb einen Aderlaß, wenn sie eine Blutfülle als Ursache ihrer Beschwerden vermuteten, etwa bei heftigem Kopfweh und Nasenbluten. 87 Nachher glaubten sie, die günstigen Wirkungen des Aderlasses am eigenen Leib beobachten zu können. Das Nasenbluten oder der Bluthusten etwa hörten auf, wenn auch womöglich erst nach mehreren Aderlässen an Arm und Fuß. 88 Wenn der Behandlungserfolg einmal ausblieb, dann hieß das umgekehrt nicht, daß der Aderlaß falsch war. Vermutlich war vielmehr die Menge des entnommenen Blutes immer noch unzureichend. 12mal binnen vierzehn Tagen ließ man eine schwerkranke Klosterfrau, nach Klara Staigers Bericht, zur Ader; dennoch habe sie »das uberflüssig Bluet wellen ersteckhen«. 89 Die später wundersam genesene Marguerite FranSymptomproduktion