Homers Wilder Westen: Die historisch-geographische Wiedergeburt der Odyssee 9783515116213, 3515116214

Heinz Warnecke holt Homers Odyssee aus der "literarischen Entrückung" in die historische Wirklichkeit zurück u

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German Pages 441 [446] Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Vorwort zur zweiten Auflage
Geleitwort
1. Die Ithaka-Antwort
1.1 Der westgriechische Inselraum
1.1.1 Zur Geschichte der Ithaka-Frage
1.1.2 Homerische Toponyme
1.1.3 Die dulichische Thalassokratie
1.1.4 Das homerische Ithaka
1.1.5 Die Lösung der Ithaka-Frage
1.2 Die Landschaft Ithakas
1.2.1 Das Waldgebirge Neriton
1.2.2 Der Gebirgsgipfel Neion
1.2.3 Die Fruchtbarkeit Ithakas
1.2.4 Die Hafenstadt Ithaka
1.2.5 Der Palast des Odysseus und das Krongut
1.2.6 Das Landgut des Laertes und die Rheithron-Bucht
1.2.7 Der Viehhof des Eumaios
1.3 Das Inselreich der Kephallenen
1.3.1 Der enträtselte Inselraum
1.3.2 Der Inselrumpf Kranae
1.3.3 Das westliche Samos und das Eiland Asteris
1.3.4 Die Insel Zakynthos und die felsigen Thoai
1.3.5 Die Inselkörper Krokyleia und Aigilips
1.3.6 Der Festlandsbesitz und die Gegenküste
1.3.7 Die Genese des Kephallenenreichs
1.3.8 Die Freier der Penelope
2. Die Irrfahrtgeschichte
2.1 Abdrift ins Ungewisse
2.1.1 Die Küste der berauschten Lotophagen
2.1.2 Im Dunstkreis der gewaltigen Kyklopen
2.1.3 Das schwimmende Eiland des Aiolos
2.2 Die Grenze zum Jenseits
2.2.1 Der tödliche Hafen der Laistrygonen
2.2.2 Die Insel der zauberhaften Kirke
2.2.3 Die unheimliche Stadt der Kimmerier
2.2.4 Der düstere Erebos und der Leukas-Felsen
2.3 Der längste Tag
2.3.1 Das Eiland der lockenden Sirenen
2.3.2 Die Meerenge der Skylla und Charybdis
2.3.3 Die wegelagernden Plankten
2.3.4 Die unheilvolle Insel des Helios
2.3.5 Die mysteriösen Hinterwäldler
2.4 Das neue Finale
2.4.1 Die Insel der einsamen Kalypso
2.4.2 Das wunderbare Land der Phaiaken
2.4.3 Die west-ionischen Seefahrer
2.4.4 Die Heimat des Dichters
Anhang
Nachwort
Literaturverzeichnis
Verzeichnis der Abbildungen und Skizzen
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Homers Wilder Westen: Die historisch-geographische Wiedergeburt der Odyssee
 9783515116213, 3515116214

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heinz warnecke

HOMERS WILDER WESTEN

Die historisch-geographische Wiedergeburt der Odyssee Alte Geschichte Franz Steiner Verlag

Heinz Warnecke Homers Wilder Westen

Heinz Warnecke

Homers Wilder Westen Die historisch-geographische Wiedergeburt der Odyssee

2., überarbeitete und ergänzte Auflage

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Die Inselkörper Erissos und Theaki. In: Joseph Partsch: Kephallenia und Ithaka – eine geographische Monographie. Justus Perthes, Gotha 1890. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage, Stuttgart 2018 © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2008 Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11621-3 (Print) ISBN 978-3-515-11631-2 (E-Book)

Meinen Eltern Helga und Gerhard Warnecke gewidmet

Was ins Wanken gebracht wird, ist der negative Glaube, daß Homers Schilderungen keinen festen Halt haben, daß die Welt, in die er uns versetzt, ein Gebäude der Phantasie sei; was uns den vertrauten Boden unter den Füßen wegzuziehen droht, ist die Erkenntnis, daß die Phantasie des Dichters den festesten Boden unter den Füßen gehabt hat. (Paul Cauer, Grundfragen der Homerkritik 256)

Inhalt Vorwort Vorwort zur zweiten Auflage Geleitwort

11 13 15

1.

Die Ithaka-Antwort

17

1. 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5

Die Ithaka-Antwort Der westgriechische Inselraum Zur Geschichte der Ithaka-Frage Homerische Toponyme Die dulichische Thalassokratie Das homerische Ithaka Die Lösung der Ithaka-Frage

17 17 17 31 36 47 52

1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.2.6 1.2.7

Die Landschaft Ithakas Das Waldgebirge Neriton Der Gebirgsgipfel Neion Die Fruchtbarkeit Ithakas Die Hafenstadt Ithaka Der Palast des Odysseus und das Krongut Das Landgut des Laertes und die Rheithron-Bucht Der Viehhof des Eumaios

63 63 74 79 83 92 99 104

1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5 1.3.6 1.3.7 1.3.8

Das Inselreich der Kephallenen Der enträtselte Inselraum Der Inselrumpf Kranae Das westliche Samos und das Eiland Asteris Die Insel Zakynthos und die felsigen Thoai Die Inselkörper Krokyleia und Aigilips Der Festlandsbesitz und die Gegenküste Die Genese des Kephallenenreichs Die Freier der Penelope

114 114 125 134 151 159 164 180 194

2.

Die Irrfahrtgeschichte

207

2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3

Abdrift ins Ungewisse Die Küste der berauschten Lotophagen Im Dunstkreis der gewaltigen Kyklopen Das schwimmende Eiland des Aiolos

207 207 219 230

2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4

Die Grenze zum Jenseits Der tödliche Hafen der Laistrygonen Die Insel der zauberhaften Kirke Die unheimliche Stadt der Kimmerier Der düstere Erebos und der Leukas-Felsen

243 243 261 277 290

2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5

Der längste Tag Das Eiland der lockenden Sirenen Die Meerenge der Skylla und Charybdis Die wegelagernden Plankten Die unheilvolle Insel des Helios Die mysteriösen Hinterwäldler

298 298 306 322 329 336

2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4

Das neue Finale Die Insel der einsamen Kalypso Das wunderbare Land der Phaiaken Die west-ionischen Seefahrer Die Heimat des Dichters

346 346 357 368 379

Anhang (Der deutsche Krieg um Ithaka) Nachwort Literaturverzeichnis Verzeichnis der Abbildungen und Skizzen

391 425 427 441

Vorwort Das homerische Epos Odyssee, das zu den Grundtexten der Weltliteratur zählt, ist nicht nur unter literarisch-ästhetischen Gesichtspunkten wertvoll, sondern auch als historisch-geographische Quelle von Bedeutung. Die Komplexität des Stoffes einerseits und nahezu dogmatisch verfestigte Positionen in der Homerforschung andererseits nähren den Zweifel, dass eine gültige und endgültige Deutung der Odyssee möglich sei. Ziel der vorliegenden Studie ist es, Gewissheit zumindest in der fundamentalen Frage zu schaffen, ob der Dichter bei der Darstellung der epischen Handlung konkrete Landschaften vor Augen hatte, oder ob dem geistigen Auge des angeblich ‚blinden‘ Dichters bloß fiktive Räume vorschwebten. Wenn es im vorliegenden Buch gelingt, die historisch-geographischen Daten der Odyssee zu dechiffrieren und damit „das homerische Gedicht aus der literarischen Entrückung in geschichtliche Wirklichkeit zurückzuholen“,1 dann ist das nicht das Verdienst des Verfassers allein, sondern auch das seiner Förderer, denen deshalb zunächst aufrichtig zu danken ist. Meinem verehrten Mentor, dem Althistoriker Prof. Dr. Dr.h.c. Gerhard Wirth (Universität Bonn), bin ich in herzlicher Dankbarkeit verbunden, da er meine Forschungsarbeiten viele Jahre hindurch mit Offenheit und Interesse förderte und mir in seinen unvergessenen Colloquien die Möglichkeit zur detaillierten wissenschaftlichen Auseinandersetzung bot. Dem Gräzisten Prof. Dr. Tilman Krischer (Freie Universität Berlin), der die Genese des vorliegenden Werkes mit Lob und interdisziplinären Verbesserungsvorschlägen begleitete, schulde ich großen Dank! Besonders erfreut hatte mich seine Bereitschaft, das Geleitwort zu verfassen. Der Althistoriker Prof. Dr. Detlef Lotze (Universität Jena) begleitete seit der Wende in der sog. DDR meine Homerforschung mit konstruktiver Kritik und trug somit dazu bei, dass meine Auseinandersetzung mit dem Thema nicht scheiterte. Dafür danke ich ihm sehr. Besonderen Dank gebührt dem Althistoriker Prof. Dr. Eckart Olshausen (Universität Stuttgart), der meine Forschungsergebnisse gern und vorbehaltlos publizierte und

1

HÖLSCHER, Strukturen 421.

12

Vorwort

mich als Referent zu den Internationalen Symposien zur Historischen Geographie der Alten Welt einlud. Meinen grenzenlosen Dank verdient der Theologe und Philosoph Prof. Dr. Dr. Georgios Metallinos (Universität Athen), der seit drei Jahrzehnten meine altertumswissenschaftlichen Forschungen mit Interesse verfolgt und mir die Herzen der Kephallenen öffnete, deren Ehrenbürger ich seit 1999 bin. Mit dem Altertumswissenschaftler Prof. Dr. Dieter Metzler (Universität Münster) durfte ich in freundschaftlicher Atmosphäre wiederholt den westgriechischen Inselraum erkunden. Für die vorliegende Studie verdanke ich ihm etliche historische und archäologische Informationen. Für Anregungen und sachdienliche Hinweise danke ich auch Prof. Dr. Dr.h.c. Jost Knauss (Technische Universität München), Prof. Dr. Armin Wolf (Max-Planck-Institut Frankfurt) sowie Prof. Dr. Helmut Brückner (Universität Köln), der mit seinem Team wiederholt im kephallenischen Inselraum forschte. Danken möchte ich auch meinem Freund, dem Physiker Dr. Klaus Max Kramp (Bonn), der nicht nur Korrektur las, sondern mir überdies beratend zur Seite stand. Forsbach im Herbst 2007 Heinz Warnecke

Vorwort zur zweiten Auflage Als die erste Auflage von „Homers Wilder Westen – Die historisch-geographische Wiedergeburt der Odyssee“ vergriffen war, bot der Franz Steiner Verlag den Titel als E-Book an. Diese moderne Form der Vermarktung indiziert den Zeitgeist ebenso wie folgende Kuriosität: Viele Käufer dachten bei „Homer“, trotz des eindeutigen Untertitels, nicht an den griechischen Dichter, der die abendländische Geistesgeschichte prägte, sondern an das gleichnamige Familienoberhaupt der Comicserie „Die Simpsons“.1 Zwar wurden die so bedingten Fehlkäufe alsbald im Internet angeboten, da aber weltweit viele Bibliotheken zugriffen, sind kaum noch Exemplare erhältlich. Anlass zur zweiten Auflage gab auch die ‚Terra-X ‘-Sendung über die Odyssee von ZDF und Arte, die meinen Forschungsergebnissen folgt und wohl eine rege Nachfrage evozieren wird. Zu danken habe ich v. a. dem Filmproduzenten Robert Schotter, der bei der Umsetzung des Projekts von meiner Deutung der Odyssee überzeugt war. Die nun vorliegende Neuauflage wurde gründlich überarbeitet; so flossen einerseits zusätzliche Erkenntnisse ein, andererseits wurden manche Passagen gestrafft und einiges zur stringenteren Argumentation umgruppiert. Zudem sind die Skizzen professionell aufbereitet. Für hilfreiche Unterstützung danke ich dem weitsichtigen Verlagsleiter Dr. Thomas Schaber und seiner engagierten Mitarbeiterin Katharina Stüdemann. Abgesehen von den schon im Vorwort zur ersten Auflage gedankten Wissenschaftlern, gilt mein besonderer Dank all denjenigen, die in den vergangenen Jahren meine Homerforschung gefördert sowie konstruktive Rezensionen verfasst haben, unter denen der Gräzist Prof. Dr. Dr.h.c. André Hurst (ehem. Rektor der Universität Genf) hervorzuheben ist.2 Danken möchte ich auch dem Althistoriker und Mykenologen Prof. Dr. Herbert Graßl (Universität Salzburg), mit dem ich sämtliche antike Stätten auf den Inseln Kephallenia und Ithaka erkundete. Stets zu großem Dank verpflichtet bin ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Hermann Schulz (Universität Bremen). 1 2

Sogar der Buchhandel vermarktete „Homers Wilder Westen“ als Kinder- und Jugendbuch (u. a. die Kette ‚Hugendubel‘ in der Rubrik „Bücher, die Kinder glücklich machen“ (http.//www.hugendubel. de/cat/ homers wilder westen/heinz warnecke) vom 02.06.2008. Siehe dessen Rezension zu „Homers Wilder Westen“ in der AGORA (3/2011) u. (4/2012) – Les comptes rendus de GAIA (http://agora.xtek.fr/UserFiles/Warnecke.pdf).

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Vorwort zur zweiten Auflage

Bahnbrechend sind im Inselreich des Odysseus die geoarchäologischen Forschungen meines Freundes Prof. Dr. Andreas Vött (Universität Mainz),3 der mit seinem Team den antiken Hafen der kephallenischen Hauptstadt Krane entdeckte sowie im westgriechischen Inselraum spektakuläre Naturkatastrophen während des Altertums und Mittelalters nachwies, die literarisch nicht überliefert wurden. So indizieren auch seine Forschungen, dass Altertumswissenschaften nur noch im interdisziplinären Dialog sinnvoll zu betreiben sind. Forsbach im Frühling 2017 Heinz Warnecke

3

Andreas VÖTT, Lehrstuhlinhaber für Natural Hazard Research an der Universität Mainz, wies v. a. Tsunamis nach (siehe Lit.-Verz.: VÖTT und VÖTT/BRÜCKNER).

Geleitwort Das vorliegende Buch bringt einen unerhört wichtigen Beitrag zum Verständnis der Odyssee. Der Autor kennt sich in der Fachliteratur bestens aus, doch was er untersucht, die geographische Lokalisation der Heimat und der Abenteuer des Odysseus, ist ein interdisziplinäres Projekt. Etwa zur Zeit der Entstehung der Odyssee beginnt die griechische Kolonisation, die insbesondere die Bereiche westlich von Griechenland erschließt, und in eben diesem Raum finden die Irrfahrten des Odysseus statt. Keine Frage also, daß die geographische Lokalisation der Abenteuer für das Verständnis des Epos von großer Wichtigkeit ist. Aber es geht eben nicht nur um die Poesie, sondern zugleich um den historischen Hintergrund. Diese Betrachtung ließe sich allenfalls noch um einen sehr schwer zu erfassenden Aspekt erweitern: Die dem archaischen Zeitalter Homers vorausgehende Epoche der Dunklen Jahrhunderte (nach dem Trojanischen Krieg) war für den Mittelmeer-Raum offenbar eine Periode der Dürre. Durch die geringere Sonneneinstrahlung auf der Erde (Kälteperiode durch Sonnenfleckenzyklus) wurden die feuchten Winde in den Norden Europas umgeleitet, was sich in Deutschland und England, wo die Verkehrswege mit Steinen und Holz ausgelegt werden mussten, archäologisch nachweisen lässt. Doch im 8. Jahrhundert änderte sich der Zustand, und das führte u. a. zur Gründung von Karthago sowie von Rom, und in Griechenland kam es zur Kolonisation in Richtung Westen. Aber dieser Wandel betrifft nicht nur die politische Geschichte und die Wirtschaftsgeschichte, sondern in hohem Maße auch die Geistesgeschichte. Man denke an die Israeliten und die Römer jener Epoche, für die das göttliche Gebot und das vom Staat gehütete Recht im Vordergrund standen, also die Gemeinsamkeiten. Anders bei den Griechen: Hier sind es nicht die Gemeinsamkeiten, die im Vordergrund stehen, sondern die Unterschiede. Man denke etwa an Platons Ideen, die zwar die Gemeinsamkeiten einer Klasse von Gegenständen zum Ausdruck bringen, die man aber nur verstehen kann, wenn man zur Kenntnis nimmt, wodurch sie sich voneinander unterscheiden, und Entsprechendes gilt ganz allgemein für die Philosophie der Griechen und auch für ihre Wissenschaften als da sind: Geometrie, Geographie, Historiographie, Medizin u. a. Überall werden die maßgeblichen Unterschiede herausgehoben. Davon aber wurde in hohem Maße auch die geistige Entwicklung des neuzeitlichen Europa beeinflusst, worauf wir hier nicht näher eingehen müssen. Die Anfänge dieses Prozesses sind schwerlich irgendwo besser zu erfassen als eben in der Odyssee. Freilich

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Geleitwort

darf man, um auf diesem Wege voranzukommen, den Blick nicht auf die literarischen bzw. ästhetischen Aspekte richten, sondern man muss die Lebensbedingungen jener Region in der entsprechenden Epoche im Auge behalten. Dazu aber liefert Warneckes Buch den besten und interessantesten Beitrag. Wo liegt die Heimatinsel des Odysseus? Wer waren die Kyklopen? Wer die Phäaken? Welche Wege konnte man nutzen? Diese und andere Fragen sucht der Autor auf der Basis neuester Erkenntnisse zu beantworten und entsprechend zu kombinieren; dadurch erscheint die Odyssee nicht mehr als ein Werk, das allein der Unterhaltung dient und auf dichterischer Phantasie basiert, sondern als ein Werk, das die Zuhörer über die Welt, in der sie lebten, aufklären soll. Der Titel Homers Wilder Westen erinnert natürlich an die Entdeckung Amerikas, die bekannt ist als ein Prozess der Erweiterung menschlichen Wissens. Die Parallele ist einleuchtend und so sollte das Buch auf breitester Basis Anerkennung und Unterstützung finden. Prof. Dr. Tilman Krischer †1 Seminar für Klassische Philologie, Freie Universität Berlin.

1

Der im Mai 2013 verstorbene Tilman Krischer habilitierte sich im Jahr 1970 mit dem Thema Formale Konventionen der homerischen Epik.

1. Die Ithaka-Antwort 1.1 Der westgriechische Inselraum 1.1.1 Zur Geschichte der Ithaka-Frage Ilias und Odyssee rühmen unter dem Namen „Ithaka“ die Königsinsel des Odysseus, der im westgriechischen Inselraum das Volk der Kephallenen beherrschte.1 Aber „mit dem Ausklingen des Homerischen Liedes verhallt für lange Zeit jede ausführlichere Kunde über Ithaka“,2 das meist mit dem unbedeutenden Eiland östlich der großen westgriechischen Insel Kephallenia (Cefalonia) identifiziert wird und bis ins 20. Jahrhundert hinein den Namen Theaki trug, bzw. im osmanisch beherrschten Griechenland Phiachi hieß.3 Infolge der Homereuphorie wurde diese Insel als Heimat des Odysseus betrachtet und offiziell Ithaka genannt.4 Dennoch schrieb schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts einer der besten Kenner der westgriechischen Inseln, der Geograph und Althistoriker Joseph Partsch: „Der Adelsbrief Ithakas ist die Homerische Dichtung“, aber „so ehrwürdig sein Alter, so umstritten ist bis heute sein Wert“.5 In der Mitte des 19. Jahrhunderts wandte sich Rudolf Hercher in der klassisch-philologischen Fachzeitschrift ‚Hermes‘ gegen den v. a. auf Strabons Geographica beruhen1 2 3 4

5

Ilias 2,631 ff. Od. 9,19 ff.

PARTSCH, Kephallenia 62. SCHREIBER 8. Noch „die heutigen Griechen nennen sie Θεάκη (Theaki, Thiachi)“ (BUCHHOLZ 120). – Wie mir Dieter METZLER (Münster) mitteilte, ist „Phiachi” = „Fiaki“ und zeugt von der slawischen

Aussprache des neugriechischen „Thiaki“ („vgl. russ. Feodor = Theodor“). Vgl. BÜRCHNER, Ithake 2289,42: „offiziell wieder ᾽Ιθάκη benannt“. Meine Recherche ergab kein exaktes Datum. Den offiziellen Namen Ithaka führte die Insel zumindest vor dem Ersten Weltkrieg, denn Emil BELZNER (44, Anm. 2) schreibt im Jahr 1915: „Für das moderne Ithaka gebrauche ich stets die offizielle Form ‚Itháki‘“. Als die Ionischen Inseln im Jahr 1797durch Napoleon Bonaparte unter französische Herrschaft kamen, wurde – nach Corfu und den umliegenden Paxoi und Othonoi – als „zweites Departement des Ionischen Meeres … das Departement von Ithaka“ eingerichtet, das aus den festländischen Bezirken Preveza und Vonizza bestand sowie aus den Inseln Leukas, Kephallenia und „Ithaka oder Thiaki“ (BELLAIRE 172). Den offiziellen Namen „Ithaka“ trug in der Neuzeit also zuerst ein Departement, dessen kleinster Bestandteil (abgesehen von den taphischen Eilanden) das heutige Ithaka ist. Dennoch fügte im Jahr 1805 der französische Offizier Francois POUQUEVILLE (41) dem (homerischen) Inselnamen „Ithaka“ noch hinzu: „heut zu Tage Thiaki genannt“. PARTSCH, Kephallenia 54.

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1. Die Ithaka-Antwort

den Irrglauben, die antike Überlieferung würde das heutige Ithaka (Theaki)6 als das homerische ausweisen: „Strabo, der Ithaka nie gesehen hat, schöpft seine ganze Weisheit aus Homer, eine einzige Notiz ausgenommen, nach welcher irgend wer eine Fahrt um die Insel unternommen und die Nymphengrotte gesucht, aber nicht gefunden hatte; und auch Artemidor von Ephesos, der von den Raritäten Ithakas nur den Hafen Phorkys und die Nymphengrotte kennt, berichtet keineswegs als Augenzeuge, sondern nur als Leser Homers“.7 Tatsächlich kannte Strabon (1. Jh. v. Chr.) das antike Griechenland kaum aus eigener Anschauung,8 und sein Opus enthält nachweislich grobe geographische Fehler über den westgriechischen Inselbogen,9 also über das mutmaßliche Herrschaftsgebiet des Odysseus. Hervorzuheben ist jedoch, dass Strabon selbst ausdrücklich sagt, dass sich Homer „über Kephallenia und Ithaka und die übrigen Inseln in der Nähe nicht deutlich ausgedrückt hat, so daß die Ausleger und Geschichtsschreiber hier mit einander nicht übereinstimmen“.10 Im Fokus der unterschiedlichen Ansichten stehen v. a. die vier großen in den homerischen Epen genannten Glieder des westgriechischen Inselbogens, von denen das heutige Ithaka (ca. 100 qkm Fläche) das mit Abstand kleinste ist. Das weitaus größte ist die Insel Kephallenia (ca. 770 qkm), gefolgt von der südöstlich benachbarten Insel Zakynthos (ca. 400 qkm) und Leukas (ca. 300 qkm), das nordöstlich von Kephallenia liegt und das Strabon, wie die anderen antiken Geographen auch, als ein maritimes Glied des akarnanischen Festlandes betrachtet.11 Strabon empört sich geradezu, dass bedeutende Gelehrte, namentlich Hellanikos, Andron und Pherekydes, die Hauptinsel Kephallenia bzw. einen Teil der stark gegliederten Insel für das homerische Dulichion halten,12 das Ilias und Odyssee als bedeutendste Insel im Westen Griechenlands ausweisen.13 Denn meist wurde seit späthellenistischer 6 7 8 9

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13

HERCHER 263 ff. „Skylax und Strabo rechnen die Insel zu Akarnanien, Ptolemaios aber zu Epeiros, das mit Akarnanien vereinigt wurde“ (HOFFMANN 2068; mit Verweis auf Scylax p. 13, Strabo X d. 454, Ptol.

geogr. III 14). HERCHER 268; mit Bezug auf STRABO I 18 S. 59 („Dieselbe Notiz hat auch Kronios bei Porphyr. A. N. 2“) und ARTEMIDOR Porphyr. A. N. 4. „Strabo went to several countries in the Mediteranean, but he saw very little of Greece” (Cees GOEKOOP 34). „Aus eigener Anschauung kennt Strabo in Hellas nur Korinth (VIII 379), wohin er auf der Reise nach Rom bald nach der Schlacht von Aktium kam (X 485)“ (NIESE, Commentar 281). So korrigiert Joseph PARTSCH (Kephallenia 2) „Strabo (X, 2, 15), der nachweislich für Ithaka und wahrscheinlich auch für Kephallenia eine ihm vorliegende Angabe der Längsausdehnung als Umfangsbestimmung auffaßte“. Und beim 4,2 km breiten und an der niedrigsten Stelle ca. 250 m hohen Isthmus, mit dem die große Westhalbinsel Kephallenias (Paliki) am Inselrumpf Kephallenias ansitzt, denkt Strabon (10,2,15) „ernsthaft daran, daß bisweilen die Meereswogen ihn ganz überfluteten, also Paliki völlig zu einer besondern Insel machten“ (Partsch, Kephallenia 37). Die vorliegende Studie wird noch darlegen, welche Aussagen Strabons über den kephallenischen Inselraum ebenfalls unzutreffend sind. Strab. 10,2,14 (übersetzt von Karl KÄRCHER, Geographie 842). „Not only Strabo but Livy and Pliny too state that in earlier times it was a peninsula“ (STUBBINGS 404). „Am meisten stehen jedoch diejenigen im Widerspruch mit Homer, die Kephallenia und Dulichion für einerlei halten“ (Strab. 10,2,14), wobei STRABON (a. a. O.) ANDRON und PHEREKYDES namentlich hervorhebt. Auch PAUSANIAS (7,15,7) weist darauf hin, dass der Westteil Kephallenias angeblich den homerischen Namen Dulichion trug. Die auf Dulichion und den Echinaden wohnenden Dulichier stellten im Trojanischen Krieg 40 Schiffe, während der Kephallenenkönig Odysseus nur zwölf aufzubieten vermochte (Ilias 2,637). Die Insel

1.1 Der westgriechische Inselraum

19

Zeit Kephallenia als das homerische – westgriechische – Samos betrachtet und das östlich benachbarte kleine Theaki als das homerische Ithaka.14 Jedoch darf bezweifelt werden, ob dieser scheinbare Konsens (v. a. unter den Autoren der römischen Kaiserzeit) den homerischen Sachverhalt trifft, zumal zwischen der Entstehung der homerischen Epen und der antiken Diskussion über die Identität der Inseln des Odysseus bereits ein halbes Jahrtausend verstrichen war. Zwar werden in Ilias und Odyssee die Inselnamen Ithaka und Zakynthos genannt,15 aber „die seit der Antike bis heute gebräuchlichen Namen der anderen Ionischen Inseln, Leukas, Kephallenia und Korfu (Kerkyra) in den homerischen Epen nicht erwähnt“.16 Nach Ilias und Odyssee taucht der Inselname Ithaka zunächst im sog. Homerischen Hymnos an Apollon auf, der „ins ausgehende 7. Jh. [v. Chr.]“ datiert wird und dessen Erwähnung der Insel Ithaka „wahrscheinlich nur eine Reminiszenz an die homerischen Epen“ ist.17 Die Stelle im Homerischen Hymnos an Apollon beschreibt detailliert, wie ein kretisches Schiff die Nordwestküste des Peloponnes in Richtung Golf von Korinth umrundet. Und als das Schiff die Küste von Elis erreichte, da erblickten die Seeleute „Ithakas steiles Gebirge“.18 Der Dichter dieses Teils des Apollonhymnos verstand unter „Ithaka“ keineswegs die heutige Insel dieses Namens, sondern offensichtlich deren große Nachbarinsel Kephallenia mit ihrem über 1.600 m hohen, südostwärts vortretenden Bergmassiv Aenos. Man denke nur an die Worte des Geographen und Althistorikers Joseph Partsch: „Bei einem Abendspaziergang in Pyrgos [Elis] war ich überrascht von der imposanten Gestalt des vom glühenden Abendhimmel schwarzblau sich abhebenden großen Berges von Kephallenia und hatte Mühe, daneben die schwache Aufwölbung der Höhen des fernen Ithaka überhaupt wahrzunehmen“.19 „Only a few writers in antiquity wrote about the Homeric Ithaca”, und so „we find nothing about Ithaca in Hesiod”; auch „it is remarkable that the most important classical writers, Herodotus und Thucydides, are silent as the grave when it comes to Ithaca”.20 Dennoch wird oft behauptet, das homerische Ithaka sei für die heutige Insel desselben Namens zumindest „seit dem 5. Jh. v. Chr. eindeutig bezeugt“, denn „eine exakte Zuweisung der Namen an die einzelnen Ionischen Inseln wird uns gar erst durch

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18 19 20

Dulichion allein stellte fast genauso viele adlige Freier der Penelope wie die übrigen drei großen Inseln zusammen (Od. 16,247 ff.). Paus. 7,15,7. Strab. 10,2,14. „Die homerischen Namen Ithaka und Zakynthos sind auch in der Tat schon in der Antike für die kleinste [Theaki] und für die südlichste [Zakynthos] der fünf Ionischen Inseln bezeugt“ (SIEBERER 158). Diese Behauptung trifft jedoch nur für Zakynthos zu. SIEBERER 158. SIEBERER 158, Anm. 33 (mit Bezug auf Hom. Hym. 3,429). Der „Vers 429 [im Hom. Hym. an Apollon] ist ident mit Od. 1,246 = 9,24 = 16,123 = 19,131“ (a. a.O). Bzgl. der Datierung des Apollonhymnos sagt auch Carl ROBERT (42): „Das Gedicht ist notorisch nicht älter das ausgehende 7. Jahrh.“. Und Benedictus NIESE, Schiffskatalog 58) meint, „der Hymnus auf den pythischen Apollo … ist wahrscheinlich vor 586 [v. Chr.], der Beendigung des kirrhäischen Krieges und der Einsetzung der pythischen Spiele verfasst“. Hom. Hym. 428. PARTSCH, Kephallenia 57. Cees GOEKOOP 34 u. 37.

20

1. Die Ithaka-Antwort

Thukydides ermöglicht“.21 Indes, in seiner Beschreibung des Peloponnesischen Krieges erwähnt Thukydides den Inselnamen „Ithaka“ gar nicht! Stattdessen nennt er – bei der Schilderung der Flottenbewegungen im Bereich des westgriechischen Inselbogens – ausschließlich die Inseln Kephallenia, Leukas und Zakynthos.22 Und weil Thukydides die drei großen Glieder des westgriechischen Inselbogens namentlich nennt, nicht aber eine Insel namens Ithaka oder Theaki, folgern viele Homerphilologen, Theaki müsse das homerische Ithaka sein. Also die Behauptung, der Name „Ithaka“ sei für die heutige Insel desselben Namens „seit dem 5. Jh. v. Chr. eindeutig bezeugt“, beruht einzig auf der Tatsache, dass Thukydides diese Insel überhaupt nicht erwähnt! Derartige auf dem Ausschlussprinzip beruhende Folgerungen greifen aber schon deshalb nicht, weil die homerischen Epen die heutigen Inseln Kephallenia und Leukas noch nicht bei ihren Namen nennen, die sie seit historischer Zeit tragen,23 und folglich Kephallenia oder Leukas das homerische Ithaka gewesen sein könnten (falls man nicht an ein fiktives Ithaka denkt). Während kein geringerer als der klassische Philologe Ulrich von Wilamowitz andeutet, dass Kephallenia das homerische Ithaka gewesen sein könnte,24 vertrat der von Kaiser Wilhelm II. protegierte Archäologe Wilhelm Dörpfeld die Theorie, dass Leukas Homers Ithaka sei.25 Zudem gilt es zu bedenken, dass antike Autoren für Teile der großen und stark gegliederten Insel Kephallenia zugleich zwei verschiedene homerische Inselnamen vorhalten,26 so dass z. B. nur ein Inselteil von Kephallenia den Namen Ithaka getragen haben könnte. Thukydides darf also nicht als Kronzeuge für das etablierte Diktum herangezogen werden, Theaki (das heutige Ithaka) sei „eindeutig“ das homerische Ithaka gewesen. Im ausgehenden 5. Jh. v. Chr. erwähnt der Tragödiendichter Euripides in „Die Troerinnen“ und im „Kyklops“ das homerische Ithaka. Jedoch wird in den „Troerinnen“ der Inselname Ithaka ohne geographischen Anhaltspunkt genannt.27 Bemerkenswert ist dagegen die Stelle im „Kyklops“, in der es heißt: „Odysseus der Ithaker, Fürst Kephal-

21 22 23 24

25

26 27

SIEBERER 158. „Thiaki hieß im Altertum Ithaka und galt als Heimat des Odysseus“ (DRAHEIM I).

Thuk. 2,30 (Kephallenia, Leukas) u. 2,66 (Zakynthos). Der Inselname Kephallenia erscheint erstmals bei HERODOT (9,28). Und STRABON (10,2,8) berichtet, erst die korinthischen Kolonisten hätten der westlichen Festlandshalbinsel Akarnaniens den Namen „Leukas“ gegeben. „Ich habe auch gesagt, daß hier [Od. 20,210: der von Odysseus beherrschte Κεφαλλήνων ᾽ενὶ δήμῳ] die Gemeinde der Kephallenen eben Kephallenia ist“ (WILAMOWITZ, Wochenschrift 381). Dennoch dürfte es zutreffen, wenn Josef GRÖSCHL (42) mitteilt, dass Ulrich von WILAMOWITZ „aber nach mir zugekommenen Mitteilungen gegenwärtig der alten [Theaki-Ithaka-] Theorie größere Sympathien entgegen zu bringen“ scheint als der Leukas-Ithaka-Theorie oder der Fiktionsthese (GRÖSCHL 42). DÖRPFELD, Alt-Ithaka 76 ff. „Ein Besuch Kaiser Wilhelms an Ort und Selle 1908 gab den weiteren, bis 1914 fortgesetzten Arbeiten eine mächtige Förderung“ (OBERHUMMER, Ithaka 15). – U. a. verweist Hans KALETSCH (Ithaka 282) auf DÖRPFELDs „Hypothese, die sich jedoch nicht durchsetzte, besonders nachdem auf Ithaka [Theaki] selbst durch englische Ausgrabungen an den genannten Punkten [an der Bucht von Polis und bei Stavros] frühgeschichtliche Reste festgestellt wurden“. „Vielleicht ist der Bericht der Alten richtig, daß statt des fehlenden Gesamtnamens der großen heutigen Insel Kephallenia von Homer zwei Namen zu ihrer Bezeichnung gewählt wurden“ (GRÖSCHL 14; mit Bezug auf Strab. X 2, p. 456 [10,2,14]). Eurip. Tro. 277.

1.1 Der westgriechische Inselraum

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lenias“.28 Euripides sagt also explizit, dass Odysseus der Herr auf und über Kephallenia sei (γής Κεφαλλήνων ἄναξ), und nicht, wie u. a. Ulrich von Wilamowitz zweideutig übersetzt, Odysseus sei „Fürst der Kephallenen“ (was indes auch zutrifft).29 So könnte die Stelle bei Euripides ein Indiz dafür sein, dass Ithaka der alte Name der Insel Kephallenia war. Erwähnt sei in diesem Kontext, dass im homerischen Epos der heimgekehrte Odysseus dem treuen Philoitios begegnete, der als Oberaufseher der Rinder im Κεφαλλήνων ᾽ενὶ δήμῳ fungierte,30 und so stellt Ulrich von Wilamowitz fest, dass der genannte ‚Demos der Kephallenen‘ „hier die Gemeinde der Kephallenen, eben Kephallenia ist“.31 Andere Aussagen von Autoren der Klassischen Zeit Griechenlands, wie die dem Philosophen Aristoteles (4. Jh. v. Chr.) zugeschriebene seltsame Notiz, derzufolge auf der Insel Ithaka keine Hasen und Kaninchen leben könnten,32 tragen zur Identifizierung des homerischen Ithaka nichts bei. So stellte z. B. Otto Seeck in seinem Werk ‚Die Quellen der Odyssee‘ treffend fest: „Ithaka war den Griechen nichts anderes als ein blosser Name“.33 Zum gleichen Ergebnis gelangte schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts Samuel Hoffmann in seinem Werk ‚Griechenland und die Griechen im Alterthum‘: „Die Nachrichten der Alten selbst über diese Insel sind sehr spärlich und ungenügend. Es scheint, als sei dieselbe nur in den alten Gesängen der beliebte Gegenstand ohne politische Bedeutung gewesen, und mit der alten Zeit den Augen der späteren fast völlig verschwunden. Weder Herodot, noch Thukydides, Xenophon, noch Agathemer, der doch die höher gelegenen Inseln erwähnt, nennen Ithaka“.34 In der römischen Zeit Griechenlands wird zwar durch die bereits erwähnte Abhandlung des Geographen Strabon (1. Jh. v. Chr.) die Ithaka-Frage thematisiert, jedoch nicht mit wünschenswerter Klarheit behandelt, da Strabon den westgriechischen Inselraum nicht kannte und seine Ausführungen auf teils problematischen Quellen beruhen. Und auch „Pausanias [2. Jh. n. Chr.], the great traveller and observer of the places and monuments of the ancient Greek world, probably never visited the Ionian islands. In any case, he ignores them”, und so hören wir in seiner Beschreibung Griechenlands nichts über Ithaka.35 Es stimmt also nicht, wenn z. B. – stellvertretend für viele Homerphilologen – Josef Gröschl behauptet: „Auf Grund vielfacher Forschungen identifizierte fast das gan28 29 30 31 32 33 34 35

Eurip. Cycl. 103 (Übersetzung von Wilhelm GEUTHE). – Die versehentlich falsche Zeilenangabe („Euripides Cycl. 277“) im RE-Artikel Ithake (2295,27) von Hans BÜRCHNER wird zuweilen ungeprüft tradiert (u. a. SIEBERER 158, Anm. 33). WILAMOWITZ, Tragödien 103. So war auch „dem Dichter der Ilias (dem Verfasser des Katalogs) Kephallenia die Hauptinsel des dem Odysseus zugeschriebenen Reiches, Odysseus ist Kephallenenführer“ (MÜLDER 15). Od. 20,210. WILAMOWITZ, Wochenschrift 381. – Also, „dass der Dichter Kephallenia und die Kephallenen kennt, ist über jeden Zweifel erhaben“ (MÜLDER, Ithaka 18). Plin. n. h. VIII 226. Eustath. Il. 1821,29. SEECK 266. HOFFMANN 2068. – Dagegen behauptet der vielzitierte Victor BÉRARD (II 411), ohne hinreichende Belege: „Durant toute l’antiquité et jusqu‘à nos jours, trois de ces îlles ont conserve leurs noms homériques”. Cees GOEKOOP 38.

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1. Die Ithaka-Antwort

ze Altertum das damalige Ithaka und das heutige Thiaki mit dem homerischen Ithaka“.36 Aus historisch-geographischer Sicht ist es auch nicht verwunderlich, dass die östlich von Kephallenia liegende Insel Theaki (das sog. Ithaka) im Altertum kaum greifbar ist, denn „Ithakas Weltstellung war, soweit die historische Erinnerung zurückreicht, eine äußerst bescheidene, ja die Insel ist zu allen Zeiten kaum mehr als ein Name gewesen. In der alten Geschichte hat sie nirgends eine Stelle gefunden“, resümiert Otto Seeck.37 Immerhin verfasste im 3. Jahrhundert n. Chr. der Philosoph Porphyrios eine Abhandlung mit dem Titel ‚Über die Nymphengrotte der Odyssee‘.38 Darin „widmet Porphyrios sich der allegorischen Erklärung jener in der Odyssee (8,102–112) beschriebenen Grotte auf Ithaka, in der Odysseus, vom Wunderschiffe der Phäaken zurückgeführt, die heimatliche Erde erreichte“.39 Diese Abhandlung steht „in einer langen, bis ins sechste Jahrhundert zurückreichenden Tradition der allegorischen Homerinterpretationen“.40 Über die Nymphengrotte, auf die der lange Traktat des Porphyrios Bezug nimmt, erzählt Homer, dass Odysseus dort mit Hilfe Athenes die Schätze versteckt habe, die ihm die dreizehn Fürsten der Phaiaken geschenkt hätten, worunter die hochbeinigen Dreifußkessel hervorzuheben sind.41 Eine entsprechende Anzahl an Dreifüßen „aus dem 9. und 8. Jh. v. Chr.“, zudem eine in die „hellenistische Zeit datierte Weihinschrift an Odysseus sowie an die Nymphen“, wurden an der sog. Polis-Bucht im Nordwesten des heutigen Ithaka gefunden.42 Wenn man jedoch bedenkt, dass Odysseus seine Schätze angeblich nur vorübergehend zum Schutz vor Räubern in der den Nymphen geweihten Höhle gelagert hatte,43 überdies die Handlung der Odyssee wohl weitgehend fiktiv ist, dann ist der Schluss erlaubt, dass die Höhle erst etliche Jahrhunderte nach Homer als odysseeische Nymphengrotte ver-

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GRÖSCHL 4. – Derartige Aussagen sind aufgrund mangelnder Quellen nicht stichhaltig. Dennoch gab

es im Altertum sicherlich Überlieferungen, die Licht auf die Ithaka-Frage warfen: z. B. APOLLODORs „8. Buch beschäftigte sich, wie wir wiederum bestimmt wissen (Steph. v. ῎Ωλενος), mit Aetolien, woran sich dann gewiss das Reich des Odysseus (Akarnanien und die Inseln) anschloss“ (NIESE, Commentar 306). SEECK 265. PORPHYRIOS, de antro nympharum. ALT 466. – Bzgl. der Ausdeutung der Nymphengrotte s. a. Karl PRAECHTER 122–128. Vieles was Porphyrios fabuliert, ist „aus der homerischen Höhlenbeschreibung nicht abzuleiten“, z. B. „die Festigkeit des Felsgesteins, das die Höhle bildet“ (127). „Die Höhle ist, so wird [Porphyr. nymph. antr.] c. 5 f. ausgeführt, Symbol der (sinnlichen) Welt, wie alte Kulte beweisen“ (PRAECHTER 123). ALT 466. Die Abhandlung ist „das einzige erhaltene Beispiel einer durchgehenden allegorischen Behandlung einer längeren Homer-Passage“ (a. a. O.). Aber STRABON (1,3,18) bestritt eine homerische Nymphengrotte auf Ithaka. Die Phäaken hatten zwölf Fürsten, und Alkinoos war als dreizehnter der primus inter pares (Od. 8,391 f.). Jeder von ihnen schenkte dem Odysseus einen Dreifuß (13,13 u. 217). SIEBERER 162 (mit Literaturangaben). Indes, es ist „die von Stubbings vertretene Behauptung, daß in diesem Heiligtum exakt 13 Dreifußkessel gefunden wurden, was in der Tat eine verblüffende Übereinstimmung mit dem Odysseetext darstellen würde, nicht ganz korrekt. Die Ausgräberin S. Benton spricht nur von Resten von zumindest 12 Dreifüßen und führt im Fundkatalog Fragmente von 14 Dreifüßen an“ (a. a. O.); bzgl. der Literaturangaben über die auf Theaki-Ithaka erfolgten Grabungen (s. STUBBINGS 421). Od. 13,217, 361 ff.

1.1 Der westgriechische Inselraum

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ehrt und mit Antiquitäten, v. a. dem guten Dutzend alter Dreifüße, ausgestattet wurde44 sowie mit der Weihinschrift an Odysseus. Die These, dass die östlich von Kephallenia liegende Insel Theaki schon im Altertum als die Heimatinsel des Odysseus betrachtet wurde, kann somit „nur aufgrund der ins 2. oder 1. Jh. v. Chr. datierenden Weihinschrift an Odysseus erschlossen werden. In dieser späten Zeit kann die Weihung aber ebenso gut umgekehrt als Reflex auf die inzwischen längst allgemein verbreiteten homerischen Epen aufgefasst werden“.45 Trotz der archäologisch gesicherten Weihinschrift an Odysseus einerseits und der „porphyrischen Allegorese“ über die homerische Nymphengrotte andererseits,46 bleibt festzustellen: „Auf Ithaka selbst können wir einen Kult des Odysseus nicht nachweisen“.47 Auch gibt es keine historische oder mythische Notiz über eine Grabstätte des Odysseus auf Ithaka.48 Stattdessen wird überliefert, dass der Großvater des Odysseus und Begründer der Dynastie, Arkeisios, auf der Insel Kephallenia herrschte und dort bestattet wurde.49 Befand sich also schon der Familiensitz der Kephallenendynastie nicht auf dem heutigen Ithaka, stellt sich die Frage, weshalb Laertes und sein Sohn Odysseus von Kephallenia auf das unbedeutende und karge Nachbareiland übergesiedelt sein sollen?! Dieses Problem beschäftigte u. a. schon Dietrich Mülder, denn „in Wirklichkeit steht die Kleinheit und geringe Bedeutung“ des heutigen „Ithaka in einem Gegensatz zu seiner herrschenden Stellung in der Handlung der Odyssee“,50 zumal wenn man bedenkt, dass „der gesamte zweite Teil der Odyssee, nicht weniger als die Hälfte des Gedichts, Odysseus’ Erlebnissen auf Ithaka gewidmet ist“.51 In Anbetracht des literarischen Befundes und der anderen vorgetragenen Argumente erscheint es befremdlich, wenn Frank H. Stubbings in dem vielzitierten Werk ‚A Companion to Homer‘ dem Kapitel ‚The Ithaca Question‘ demonstrativ das präjudizierende Statement vorausschickt: „ITHACA. This island retains its ancient name“.52 Dieses Zitat, das dem ‚Admiralty Mediterranean Pilot‘ entnommen ist und nicht auf historischer Forschung beruht, suggeriert eine nicht belegbare Namenskontinuität in historischer Zeit. „Allerdings regten sich mehrfach Zweifel, wieso gerade diese kleinste und armseligste unter den sogenannten Ionischen Inseln der Kern eines immerhin an-

44 Anders Wido SIEBERER (162): „Die Dreifußkessel stellen zwar eindeutige Weihegaben dar und beweisen als solche die Existenz eines schon vor der Abfassung der homerischen Epen ausgeübten Kultes, besagen aber nicht, daß sie an Odysseus adressiert waren“. 45 SIEBERER 162. – PORPHYRIOS (antr. Nymp. 2) berichtet, dass im Altertum Beschreibungen von Reisen nach Ithaka vorhanden waren. Vgl.a. EUSTATHIOS (Od. 13,408) sowie PAUSANIAS (6,15,7). 46 PRAECHTER 128. Aber unabhängig vom Symbolcharakter der Nymphengrotte ist Porphyrios der Meinung, dass sie in der geographischen Realität existiert. 47 SEECK 273. 48 „Aus dieser Sage [die im Aristotelesfragment aufscheint, das Plutarch qu. Gr. 14 überliefert] wie aus anderen ist zu schließen, daß es auf Ithaka kein Grab des Odysseus gab“ (HERKENRATH 1270, Anm. 14). 49 Apollod. 1,9,16 u. Hyg. fab. 189. „Die Abkunft des Odysseus ist bei Homer nur bis zu seinem Großvater Arkeisios (Od. XVI 118) zurückgeführt” (GLADSTONE 313). 50 MÜLDER, Ithaka 19. 51 GRETHLEIN 159. 52 STUBBINGS 398; mit Verweis auf den „Admiralty Mediterranean Pilot, 1929“.

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1. Die Ithaka-Antwort

sehnlichen Reiches der mykenischen Zeit gewesen sein sollte, wie es uns in der Odyssee geschildert wird“.53 Ja, selbst wenn man nicht ausschließt, dass die Insel Theaki seit der Klassischen Zeit des Altertums „Ithaka“ genannt und als Heimat des Odysseus betrachtet wurde,54 muss es sich nicht um das homerische Ithaka handeln, wie diverse Beispiele antiker Fehlidentifizierungen im westgriechischen Insel- und Küstenraum lehren.55 Hervorzuheben ist das in den homerischen Epen häufig genannte „sandige Pylos“ Homers,56 also die von Telemach besuchte Stadt des weisen Königs Nestor, die man im klassischen Altertum auf dem messenischen Kap Koryphasion verortete, was jedoch mit den ausführlichen geo- und topographischen Angaben der Ilias und Odyssee unvereinbar ist, denen zufolge das homerische Pylos erheblich weiter nördlich an der Küste Triphyliens lag.57 Erinnert sei auch an die korinthisch stämmigen Kerkyräer, die es nach der Annexion der nordwestgriechischen Insel Kerkyra (Corfu) vorzogen, sich mit dem Namen der in der Odyssee verherrlichten Phaiaken zu schmücken,58 worauf in der vorliegenden Studie noch detailliert einzugehen ist. Wie grotesk antike ‚Wiederbenennungen‘ westgriechischer Inseln sein können, illustriert v. a. das Beispiel der nur 3 qkm kleinen „Insel Dolicha, die von vielen dem homerischen Dulichion gleichgesetzt wurde“, auch schon von Strabon.59 „Dolicha lies opposite Oeneiadae“, der antiken Hafenstadt in Akarnanien,60 wie auch das in deren Nähe liegende, noch kleinere Makri (1 qkm Fläche), das in der Neutzeit ebenfalls dafür gehalten wurde.61 Diese beiden winzigen Echinaden-Eilande eignen sich jedoch keineswegs, das getreidereiche homerische Dulichion zu sein, das Ilias und Odyssee als bedeutendste Insel im westgriechischen Meeresraum ausweisen, weil es im Trojani53 54

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OBERHUMMER, Ithaka 4.

So gab es auf dieser (?) Insel „ein Odysseion und Spiele Odysseia; Inschrift von Magnesia 36 = Syll. II 558“ (MEYER, Ithake 1486,46 f.). Aber „das Odysseion in der magnetischen Inschrift 36 braucht ursprünglich ebensowenig ein Heroon gewesen zu sein wie ein Artemisoon, Heraion, Metron oder Poseideioon“ (HERKENRATH 1270, Anm. 14). Eugen OBERHUMMER (Ithaka 17 ff.) führt etliche antike Beispiele für „historisch beglaubigte Verschiebungen von Ortsnamen“ auf. Ilias 1,252, 269; 2,54, 77, 591; 11,682, 689, 716, 760; 9,153, 295; 23,303. Od. 1,93; 2,214, 326, 359; 4,633; 11,257, 459; 24,152. Hom. Hym. 3,398, 424, 470; 4,216, 342, 355, 389. Siehe den umfangreichen Pylos-Artikel von Ernst MEYER in der RE (Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft). Die Pylos-Problematik wird in der vorliegenden Studie noch behandelt (Kapitel 2.2.3). Strab. 6,2,4. Denn die homerischen Phaiaken gelten als glückselig, da sie abseits gewöhnlicher Sterblicher ungestört in Frieden und Wohlstand leben (vgl. Od. 6,201 ff.). „Wir finden auf der Insel der Phäaken nicht Armuth, Kummer, Sorge und Mangel, sondern Freude und Wonne in Fülle“ (GLADSTONE 240). PHILIPPSON/KIRSTEN II 406,2; mit Bezug auf Strabon (10,2,19). Dieser Auffassung ist auch Ulrich von WILAMOWITZ (Wochenschrift 382). Und so spricht Albert BISCHOFF (13) von der „sehr wahrscheinlichen [Identität] von Dulichion mit der im späteren Alterthum Doliche, jetzt Kurtzolari gen. Halbinsel an der Acheloosmündung (Bursian I 127)“. Strab. 10,2,19; übersetzt von Horace L. JONES (V 55). Bzgl. Doliche s. LEAF (164 ff.). Vgl. BÉRARD II 437: „… et l’Île Longue, Makri”. Der homerische Inselname Dulichion bedeutet „die langgestreckte“; eine „echinadische Insel im Ionischen Meer“ (BENSELER 223). Und „wie heute eine der Echinaden Makri heißt, mag auch im Altertum ein, vielleicht gar dieselbe, den Namen Dolicha geführt haben“ (PARTSCH, Kephallenia 37, Anm. 3).

1.1 Der westgriechische Inselraum

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schen Krieg ein bemerkenswert großes Kontingent von 40 Schiffen sowie die weitaus meisten herrschaftlichen Freier der Penelope stellte.62 Ist die Recherche nach dem homerischen Ithaka schon problematisch genug, so „ist der Fall Dulichion um so schwieriger. Eine Insel dieses Namens ist offensichtlich keinem späteren Geographen mehr bekannt“.63 Deshalb ließ mancher Homerforscher die Insel Dulichion einfach im Meer versinken.64 Dieser kurze Überblick zur Geschichte der homerischen Ithaka-Frage, die die Frage nach der Identität aller in den homerischen Epen genannten Inseln im Westen Griechenlands stellt, spricht für die Notwendigkeit, die Angaben antiker Autoren über den westgriechischen Insel- und Küstenraum kritisch zu prüfen. Und so besagt die auf eine fragwürdige Überlieferung gestützte Annahme, dass auf Theaki (dem heutigen Ithaka) zeitweilig dem Odysseus gehuldigt und das Eiland in hellenistischer Zeit möglicherweise als Ithaka bezeichnet wurde,65 für die homerische Geographie wenig. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass die Frage, welches Glied des westgriechischen Inselbogens die Heimat des Odysseus war, bereits die antiken Gelehrten beschäftigte. Wie Strabon mitteilt, haben sich, abgesehen von ihm selbst, namentlich Hellanikos, Andron, Pherekydes und Apollodoros mit der Ithaka-Frage auseinandergesetzt.66 Jedoch sind genauere Ergebnisse über deren Studien nicht bekannt,67 und wohl deshalb trifft die Aussage von Thomas W. Allen zu: „No ancient was ever found to doubt that [das homerische] Ithaca was Ithaca [Theaki]“.68 „Aus dem byzantinischen Mittelalter wissen wir von Ithaka fast nichts“.69 Immerhin gibt es aus dem 12. Jh. einen Beleg zur homerischen Ithaka-Frage. So berichtet die gelehrte byzantinische Kaisertochter Anna Komnena über einen Einheimischen auf der 62 63 64 65

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Ilias 2,625–630. Od. 16,247 f.. Dulichion „ist aber nicht nur in der Aufzählung die erste, sondern auch offenbar die bedeutendste“ von Homer genannte Insel im westgriechischen Inselraum (MICHAEL 9). VISSER 579. So suchte K. H. W. VÖLCKER (59 f.) „das homerische Dulichion mit [Edward] DODWELL [I 107 f.] östlich von Zakynthos und zeichnet es an einer Stelle, wo nach der griechischen Volkssage eine alte Insel untergegangen sei“ (DÖRPFELD, Alt-Ithaka 11). Wobei die Belege teils weniger zwingend sind, als behauptet. So wies z. B. Hans DRAHEIM (S. I) in seiner kurzen Schrift „Die Ithaka-Frage“ auf „eine noch nicht beachtete Stelle bei Plinius (Nat. Hist. XXXVI 21,39)“ hin (iuxta Leucadem in Taphiusa, qui locus est dextra Navigantibus ex Ithaca Leucadem), die angeblich „beweist“, „daß über [die geographische Lage von] Ithaka Zweifel nicht bestanden“. Vgl. aber STRABON (10,2,8), wonach „Ithaka und Kephallenia“ gegenüber von Leukas liegen, sowie 10,2,15, wonach auch „Kephallenia gegenüber von Akarnanien“ liegt. Strab. 10,2,14–16. Und nur ARTEMIDOROS von Ephesos „hat vielleicht Ithaka durch Autopsie kennen gelernt“ (BÜRCHNER, Ithake 2295,34 ff.). Aber „Apollodoros, who probably lived in the second century BC or later, … mentions Ithaca several times, but never gives its geographical position” (Cees GOEKOOP 37). „Andron gab die geographische Teilung Kephallenias zwischen Dulichion und Same, und Hellanikos hielt Same für ein untergebenes Gebiet der politischen Einheit Dulichion = Kephallenia“, und auch Pherekydes scheint die homerischen Inselnamen Dulichion und Same auf Kephallenia zu beziehen“ (HERKENRATH 1236). ALLEN 92. Ebenso STUBBINGS (398): „Nor did the ancients have any doubt that this was the home of Odysseus“. PHILIPPSON/KIRSTEN II 500. Also, „im Mittelalter erscheint sie [die Insel Theaki], ohne dass sich das geringste historische Faktum an ihren Namen knüpft“ SEECK (265).

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1. Die Ithaka-Antwort

Insel Kephallenia, der pathetisch sagte: „Seht, dies ist die Insel Ithaka“!70 Infolge der etablierten Theaki-Ithaka-Theorie wird dieser Satz aus der Alexias jedoch meist falsch übersetzt, und zwar mit den Worten: „Ihr seht dort die Insel Ithaka“!71 Zumindest brachten mittelalterliche Schriftsteller die Insel Theaki, also das heutige Ithaka, nicht mit der Heimatinsel des Odysseus in Verbindung: So hielt der bedeutende Geograph und Mönch Cristoforo Bondelmonte (14./15. Jh.) Theaki für die homerische Insel Dulichion.72 Anna Komnenas beachtenswerter Beleg zur Identität des homerischen Ithaka sowie Notizen von Bondelmonte und Palmerius über das kephallenische Jerusalem73 deuten darauf hin, dass im Mittelalter die Insel Kephallenia als das homerische Ithaka betrachtet wurde und nicht das kleine, östlich benachbarte Theaki. Und so ist mit den Worten von Rudolf Hercher über die heutige Insel namens Ithaka festzustellen: „In der alten Geschichte hat sie nirgends eine Stelle [genannt zu werden,] gefunden, im Mittelalter erscheint sie, ohne daß sich das geringste historische Factum an ihren Namen knüpft“, und auch „in der neuern Zeit weiß Francesco Baldu, der 1622 von Cefalonia nach Venedig zurückkehrte, nichts von homerischen Antiquitäten auf Ithaka“.74 Für das Altertum und das Mittelalter ergibt sich in der Ithaka-Frage also folgender Befund: Entgegen allgemeiner Behauptung ist der homerische Name Ithaka für die heutige Insel dieses Namens keineswegs seit dem frühen Altertum bezeugt; im Gegenteil: die spärliche altgriechische Überlieferung deutet eher auf die große Nachbarinsel Kephallenia hin. So wurde erst seit hellenistischer Zeit das heutige Ithaka mit dem homerischen in Verbindung gebracht, doch geriet das wohl nach der römischen Kaiserzeit wieder in Vergessenheit, denn die wenigen Quellen aus dem Mittelalter verweisen wiederum auf Kephallenia. Welchen Namen das infolge von politischen Wirren, Überfällen der Sarazenen etc. zeitweilig völlig entvölkerte75 sog. Ithaka über Jahrhunderte trug, bleibt aufgrund mangelnder Quellen wohl im Dunkel der Geschichte verborgen. Seit dem 12. Jahrhundert nennen genuesische Seefahrer die ganze Insel „Val di Compare“ („Tal des Taufpaten“), und „der Name ‚Klein-Kephallenia‘ taucht an der Schwelle der Neuzeit in italieni70 71 72 73

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Anna KOMNENA, Alexias (6,52): „Seht, diese [ταύτῃ] Insel Ithaka“. Namentlich BARTHOLDY (8) übersetzt korrekt: „Seht, dies ist Ithaca, wo weiland …“. REINSCH 179. Ebenso u. a. DAWES (Book VI, Chapter VI): „You see there, Ithaca“. – Vgl. SOUSTAL 117, der „vielleicht“ an eine „Verwechslung“ denkt. SCHREIBER 3. Und BONDELMONTE (auch: BUONDELMONTI) nennt das heutige Ithaka „Val di Compare“ (a. a. O.). PALMERIUS (lib. IV. c. 23. p. 518) weist darauf hin, „daß auf Ithaca sich eine Stadt mit Namen ‚Gerusalem‘ befunden habe. Auch Bondelmontius spricht von ihr“, „sie wäre einst ‚Hierusalem‘ genannt worden, … welche Stadt nach Anna Comnena, wie Palmerius anführt, auf ‚Ithaca‘ sich befunden haben soll“ (SCHREIBER 116; er zitiert a. a. O., Anm. 1 ausführlich Palmerius). Das mittelalterliche „Gerusalem“ bzw. „Hierusalem“ dürfte jedoch in der Homala-Mulde im Zentrum Kephallenias zu verorten sein, denn das dort liegende Kloster des Inselheiligen Gerasimos, das „the largest and richest in the Ionian Islands“ war (DAVY I 75), wurde auf den Ruinen des im 13. Jh. wüstgefallenen Klosters ‚Hagia Jerusalem‘ gegründet (s. PARTSCH, Kephallenia 88, mit Anm. 1). Demnach haben BONDELMONTE und PALMERIUS sich entweder bei der Insel geirrt, oder ältere Notizen genutzt, in denen Ithaka als Synonym für Kephallenia diente; vgl. o. Anm. 70 (Anna KOMNENAs Gleichsetzung von „Ithaka“ mit Kephallenia). HERCHER 268 f. So weisen u. a. Alfred PHILIPPSON und Ernst KIRSTEN (II 501) darauf hin, „daß die Venezianer, die es [Theaki] von 1500 bis 1797 beherrschten, die Insel zunächst neu bevölkern mußten“.

1.1 Der westgriechische Inselraum

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schen Quellen auf “. Denn „Ithaka wird in dieser Zeit oft ‚Cefalonia piccola‘ genannt“ und zusammen mit Kephallenia als „l’una e l’altra Cefalonia“ bezeichnet.76 Der bis in die Moderne übliche Name „Klein-Kephallenia“, der die historisch-geographische Bedeutung der heutigen Insel Ithaka unterstreicht (denn sie war zusammen mit der großen Nachbarinsel stets im Nomos Kephallenias vereinigt), könnte der Schlüssel für die Beantwortung der dringlichen Frage sein, warum mancher Autor seit hellenistischer Zeit annahm, dieses Eiland führe den homerischen Inselnamen Ithaka.77 Denn falls Kephallenia im frühen Altertum den Namen Ithaka trug, dürfte die kleine Nachbarinsel bereits damals als Klein-Ithaka bezeichnet worden sein. Als dann zu Beginn des Klassischen Altertums das stark gegliederte Kephallenia in mehrere eigenständige und miteinander verfeindete Herrschaftsbereiche zerfiel (die sogar unterschiedlichen griechischen Bündnissystemen angehörten),78 wurde – und das sei als Hypothese formuliert – der gemeinsame Inselname Ithaka, den die geeinte Insel unter der in den homerischen Epen besungenen Arkeisiaden-Dynastie trug (zu der Odysseus und sein Vater Laertes gehörten), zunehmend durch den Inselnamen Kephallenia ersetzt, der vom Volksnamen der Kephallenen abgeleitet wurde.79 Und infolge dieses Ablösungsprozesses blieb der Name Klein-Ithaka nur noch an der Nachbarinsel haften, der verständlicherweise das Präfix „Klein-“ alsbald einbüßte und als Ithaka fortlebte. Die auf Autopsie beruhende Identifizierung des homerischen Ithaka und damit ‚die Ithaka-Frage‘ griffen in der Neuzeit zuerst der französische Arzt Jacob Spon und der englische Botaniker George Wheeler auf, die Ende des 17. Jahrhunderts den westgriechischen Inselraum besuchten. Sie hielten jedoch das taphische Eiland Atokos, das 9 km nordöstlich von Theaki liegt, für das homerische Ithaka,80 weil Atokos damals den Namen „Ithaco“ (auch: „Jathaco“) trug.81 Das größere Theaki identifizierte Spon, wie schon Bondelmonte, mit der homerischen Insel Dulichion.82 Im Verlaufe des 18. Jhs. betrachteten die Reisenden hingegen zunehmend die benachbarte Insel, welche die Einheimischen Thiachi oder Theaki nannten,83 als das gesuchte Ithaka. Und auch die umlie76 77 78

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PARTSCH, Kephallenia 46 u. 62, Anm. 1.

„If Thiaki-Ithaca were not really Ithaca, how did it get that position?” (ALLEN 99). „Kephallenia zerfiel in vier selbständige Stadtgebiete“, die THUKYDIDES (II 30, 2;ebenso STRABON 10,2,13) fälschlich als „Tetrapolis“ zusammenfasst. Denn „die gerade bei diesem Schriftsteller wiederholt hervortretende Selbständigkeit der Entschließungen der einzelnen Städte, die Zuneigung Pales zu Korinth, die Kranes zum athenischen Bündnis machen es durchaus unwahrscheinlich, daß zwischen den vier Städten ein politischer Zusammenhang bestand. Im Münzwesen stehen alle vier durchaus selbständig einander gegenüber, und die Befestigungen, mit welchen sie ihre Gebiete schützten, beweisen unverkennbar, daß sie gegeneinander nicht minder argwöhnisch auf der Hut waren, als gegen auswärtige Feinde“ (PARTSCH, Kephallenia 41). Vgl. Ilias 2,631; 4,330. Od. 20,210; 24,355, 378, 429. Den Inselnamen „Kephallenia“ nennt erstmals HERODOT (9,28). SPON/WHEELER I 2,28 f. Aber schon Karl MANNERT (93) monierte, dass man das homerische Ithaka „vergeblich in dem nordöstlich von Teaki liegenden Inselchen Jotako sucht, welches eigentlich diesen Namen gar nicht führt, sondern nach Coronelli Attico Sedestro hieß“. SCHREIBER 3 ff.; RÜHLE 4. – Manche Interpreten verstehen unter Atokos und dem benachbarten Arkoudi die homerischen Inseln Aigilips und Krokyleia (MICHAEL 20, Anm. 3; s. Ilias 2,633). SCHREIBER 132 f. SOUSTAL 168.

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1. Die Ithaka-Antwort

genden Inseln erhielten (wieder?) ihre antiken Namen, so wurde z. B. „Santa Maura“ in Leukas umbenannt und „Zante“ in Zakynthos.84 Indes, schon Heinrich Kiepert warnte vor anderthalb Jahrhunderten in seinem ‚Lehrbuch der Alten Geographie‘ im Kapitel ‚Inseln des Ionischen Meeres‘, dass diese Inselnamen „durch ihr classisches Gepräge leicht zu dem Irrtum einer Conservierung der meisten Namen aus dem Altertum verführen könnten. Es scheint daher nicht überflüssig, an das sehr neue Datum dieser officiellen Wiederherstellung längst verschollener Namen zu erinnern“.85 Die Umbennung der heutigen Insel mit dem homerischen Namen „Ithaka“ setzte sich aber nur langsam durch, und so stellte Carl Schreiber noch in der ersten Hälfte des 19. Jhs. fest: „Ithaca wird … fast stets Theaki, von den Türken aber Phiachi genannt“.86 Zur allgemeinen Akzeptanz, dass Theaki, also das heutige Ithaka, auch das homerische sei, trugen vor allem die in der ersten Hälfte des 19. Jhs. verfassten Reiseberichte des Archäologen William Gell und des Offiziers William Martin Leake bei.87 Indes, die beiden britischen Autoren gelangten zu grundlegend verschiedenen Lokalisierungen der in der Odyssee genannten Orte auf Theaki: Während Gell – wie später Heinrich Schliemann – die Hafenstadt des Odysseus auf dem südlichen Inselteil Theakis suchte (auf dem Aetos-Gipfel und an der Bucht von Vathy), votierte Leake für den nördlichen Inselteil (bei Polis-Stavros). Aufgrund der im 19. Jh. einsetzenden Homer-Euphorie und forciert durch die Ithaka-Theorien von Gell und Leake, 88 erhielt Theaki den offiziellen Namen Ithaka. Vor allem infolge des im Jahr 1866 erschienenen Aufsatzes über „Homer und das Ithaka der Wirklichkeit“ von Rudolf Hercher,89 der eine Fundamentalkritik an der Identifizierung des heutigen Ithaka90 und an jeglichem Lokalisierungsversuch des homerischen Ithaka enthält,91 sowie der vier Jahrzehnte später publizierten Leukas-Ithaka-The84 85

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SOUSTAL 195 f., 278 f. KIEPERT 297 f. – Es ist signifikant, dass Joseph PARTSCH (Kephallenia 62), der für die Theaki-Ithaka-The-

orie votiert und seine Aussagen stets belegt, ausgerechnet für folgende Behauptung keinerlei Beleg anzuführen vermag: „Aber bei den Bewohnern des Ionischen Archipels selbst erhielt sich offenbar der alte Name Ithaka [für die Insel Theaki] in beständiger Geltung. Er überdauerte selbst die gänzliche Verödung der Insel in den Türkenkriegen am Ende des 15. Jahrhunderts“. Indes, belegen kann PARTSCH (a. a. O.) lediglich den „seit dem 12. Jahrhundert“ für ganz Theaki auftauchenden Inselnamen „Val di Compare“. SCHREIBER 8. Vgl. o. S. 17, Anm. 3. GELL, Geography and Antiquities of Ithaca, London 1807. LEAKE, Travels in Northern Greece III, London 1835, 24–54. Zur Rezeption der beiden Werke s. PARTSCH, Kephallenia 54. – Die Identifikationen kritisierte entschieden Rudolf HERCHER (274), der die Insel durch eintägige Autopsie kannte: „Es ist vermessen, wenn man sich einbildet, das Terrain Ithakas in Linien zwingen oder auch nur die Lage eines einzigen Punktes auf der der Insel [Theaki/Ithaka] bestimmen zu können“. Bzgl. GELL und LEAKE s. Literaturverzeichnis. BELZNER (65 f.) bietet eine Literaturliste der jeweiligen Befürworter von Gell („Ithaki-Theorie I“) und Leake („Ithaki-Theorie II“). HERCHER 263 ff. Es ist offensichtlich, „daß zwischen dem Ithaka Homers und der Wirklichkeit eine Reihe factischer Widersprüche bestehen, die nicht hinwegzuinterpretieren sind“ (HERCHER 263). – Und der berühmte Maler William TURNER (101) schrieb angesichts seines Besuchs auf Theaki-Ithaka enttäuscht: „Its appearance was that of a rock“, „the bare pittance of land“. “Nothing but my bigotry for Homer could make me believe that Ulysses [Odysseus] would choose Ithaca for his residence, when Zante [Zakynthos] and Cephalonia were included in his dominions”. „Wenn die unbewusste Sagenbildung aufhört, so fällt die Sage entweder der rationalistischen Auflösung anheim, oder sie wird lokalisiert und heftet sich an bekannte Gegenden“ (HERCHER 268). Und da Ho-

1.1 Der westgriechische Inselraum

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orie von Wilhelm Dörpfeld,92 den das durch Herchers Thesen evozierte „unkritische Behagen an der Negation gestört hat“,93 avancierte die homerische Ithaka-Frage im 20. Jahrhundert zu einer der Hauptkontroversen in den Altertumswissenschaften.94 Die Widersacher Herchers und Dörpfelds, also diejenigen, die sowohl das Fiktionspostulat als auch die Leukas-Ithaka-Theorie ablehnten und unter denen Gustav Lang hervorzuheben ist, votierten überwiegend für Theaki = Ithaka, wobei dem Dichter allerdings eine freizügige epische Gestaltung des Inselraumes zugestanden wird.95 Denn es gelte zu „bedenken, daß der Dichter kein Geograph ist und nicht bloß den Schauplatz für seine Dichtung der Wirklichkeit entnimmt, sondern ihn auch nach deren Bedürfnis frei gestaltet, erweitert und verschönert“.96 Dass die problematische Theaki-Ithaka-Theorie überhaupt in den Altertumswissenschaften überlebte, bewirkte v. a. der Geograph und Althistoriker Joseph Partsch, der Ende des 19. Jhs. ausgezeichnete Monographien v. a. auch über die westgriechischen Inseln verfasste.97 Sein Verdienst für die Homerinterpretation hob kein geringerer als der Althistoriker Eduard Meyer gebührend hervor: „Nun hat Partsch in seiner vortrefflichen Untersuchung darauf hingewiesen, dass die [homerische] Beschreibung Ithakas ι 21 ff. [Od. 9,21 ff.] … völlig correct ist“ – allerdings mit zwei von Meyer angeführten Prämissen, nämlich erstens „abgesehen von der verschobenen Orientierung“ (gemeint ist die Drehung der tatsächlichen Lage der Inseln von der Nordwest-Südost-Achse auf West-Ost), und zweitens unter der Annahme, dass „man vom Peloponnes nach den ionischen Inseln hinüberschaut“ (also in Richtung Nordwesten) und sich somit nicht auf dem Inselbogen befindet.98

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mer angeblich seine Beschreibungen „an nichts Reales knüpft“ (ders. 270), sollte man „den Versuch aufgeben, aus dem das Reale auflösenden Zauber der homerischen Landschaften bestimmte Gegenden herauszuerkennen“ (ders. 276). DÖRPFELD äußerte seine Theorie „zuerst auf einer Sitzung des Archäologischen Instituts in Athen“. Publiziert wurde DÖRPFELDs Theorie erstmals von „P. Elsner in der Schlesischen Zeitung vom 13. April 1900 /Der Herrschersitz des Odysseus) und J. Gallina (Die Leukas-Ithaka-Theorie, Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 1901, II, S. 97–118)“ (DRAHEIM S. II). Hans DRAHEIM, der die beginnende Rezeption der Theorie bis Ende des Jahres 1902 darlegt, verweist (Wochenschr. f. Klass. Philol. 1894, No. 3, 63 ff.) darauf, dass er der erste war, der Leukas als das homerische Ithaka in Erwägung zog. CAUER, Homer 14. Diese treffenden Worte richten sich gegen die Analytiker, denen zufolge das homerische Ithaka literarische Fiktion sei. „The question of the identification of the Ithaca of the Odyssey has produced one of the most notorious learned controversies of this century“ (STUBBINGS 398). Einen straffen Überblick zur Geschichte der Ithaka-Frage bieten Hans BÜRCHNER (Ithake 2289–2293) und Horace L. JONES (V 523–527). LANG 5–112. Ebenso u. a. HENKE I 95 ff., PARTSCH, Kephallenia und Ithaka 55 ff. HENKE III 64. „Indes darf man bekanntlich von einer homerischen Erzählung geographische Genauigkeit nicht erwarten“ (NIESE, Schiffskatalog 37). So verweist schon Oskar HENKE (Bd. I, 82, Anm. 1) zur vorletzten Jahrhundertwende auf „die vorzügliche Arbeit von PARTSCH, Kephallenia und Ithaka“, und „his studies are still important“ (Cees GOEKOOP 47). – Aus den exzellenten Arbeiten von Joseph Partsch schöpft reichlich auch die vorliegende Studie. MEYER, Odysseusmythos 269 (mit Bezug auf Partsch, Kephallenia 55 ff.). Bei der zweiten Voraussetzung, bei der PARTSCH (Kephallenia 57) an einen Blickwinkel von „Pyrgos“ aus denkt, ist immerhin anzumerken, dass die Odyssee beim Königreich des Odysseus von „den Inseln vor Elis“ spricht (Od. 16,347).

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1. Die Ithaka-Antwort

Selbst wenn man diese beiden Prämissen, die in der vorliegenden Studie noch kritisch untersucht werden, akzeptiert, so hat Eduard Meyer geflissentlich übersehen, im Falle Theakis (des heutigen Ithaka) zwei weitere Anforderungen der Odyssee zu suspendieren, die für das homerische Ithaka konstitutiv sind, nämlich die westlichste und die höchste Insel des Archipels zu sein.99 Beides trifft für Theaki, das unmittelbar östlich der großen Insel Kephallenia liegt und nur halb so hoch wie diese ist, keineswegs zu. Indes, Eduard Meyer, Joseph Partsch und andere argumentieren – wider besseres Wissens – mit solchen Prämissen und Verdrängungen, um das homerische Ithaka nicht ins Reich der dichterischen Phantasie verweisen zu müssen. So sträubte sich v. a. Partsch als Geograph dagegen, dass „das Ithaka Homers ein schattenhaftes, willkürliches Phantasiegebilde eines nur mit Kleinasiens Ufern vertrauten Dichters“ sein soll, und deshalb votierte er lieber für die unbefriedigende Theaki-Ithaka-Theorie.100 Selbstverständlich haben diejenigen Altertumswissenschaftler, die sich mit der Ithaka-Frage befassten, bemerkt, dass die Identität des homerischen Ithaka mit der heutigen Insel dieses Namens – trotz der beschwörenden Worte von Eduard Meyer – alles andere als „völlig correct“, sondern äußerst problematisch ist, und so gilt die ungelöste Ithaka-Frage bis heute als „altes Zetema der Odysseeforschung“.101 Trotzdem wollen, wie der Homerphilologe Alfred Heubeck hervorhebt, viele Gelehrte „nicht mehr an der Identität des homerischen Ithaka mit der heutigen Insel Ithaka zweifeln“,102 obwohl, wie der Geograph Alfred Philippson und der Althistoriker Ernst Kirsten feststellen, „es wahrscheinlich ist, daß das heutige Ithaka nicht das Vorbild des homerischen gewesen ist. Dennoch bleibt ihm der Ruhm und der Gefühlswert, so lange dafür gehalten worden zu sein“.103 Aber, so sagte Thomas W. Allen schon vor einem Jahrhundert: „Thiaki is Ithaca, until the contrary is proved“.104

99 Od. 9,21u. 25 f.; vgl. 2,167; 13,212, 325; 14,344; 19,132. 100 PARTSCH, Kephallenia 54. – Bzgl. der Forschungen zur Ithaka-Frage „from the nineteenth century to the First world War” siehe Cees GOEKOOP (38–66), der a. a. O. die Autoren Gell, Völcker, Leake, Hercher, Gladstone, Partsch, Schliemann, Dörpfeld, Bérard, Vollgraf chronologisch vorstellt (die Autoren werden auch noch in der vorliegenden Studie genannt). 101 HEUBECK, Frage 120. –„Um Thiaki als das homerische Ithaka ansehen zu können, [bleibt] nur noch die des öfteren vertretene Annahme verschiedener Verfasser der Odyssee bzw. von Interpolatoren, durch die die ursprünglichen auf Theaki bezogenen Angaben verfälscht worden wären … Das Vorhandensein späterer Einschübe wird bei dieser heutigen Sicht des Odysseetextes zwar nicht bestritten, die für solche Interpolationen vermuteten Passagen enthalten aber keine der für die Lokalisierung Ithakas entscheidenden geographischen Angaben … Daß die Annahme verschiedener Verfasser der Odyssee bzw. von Interpolatoren Entscheidendes zur Frage der Ithaka-Lokalisierung beitragen kann, erscheint daher wenig wahrscheinlich“ (SIEBERER 153, Anm. 13). 102 HEUBECK, Frage 121. Genannt sei u. a. Max KIESSLING (343): Das heutige Ithaka, „das in allen Punkten sehr wohl den geographischen Angaben des Epos entspricht“. 103 PHILIPPSON/KIRSTEN II 11. Vgl. u.a. Karl VÖLKL (67): „So bestechend diese Namenserhaltung wäre, so wenig will sich die homerische Schilderung mit der Lage von Thiaki in Einklang bringen lassen“ (a. a. O.). Auch Widow SIEBERER (153) resümiert: „Aber auch das von den meisten modernen Forschern mit Odysseus’ Heimat identifizierte Thiaki paßt auf die [homerische] Beschreibung der Lage Ithakas nicht“. 104 ALLEN 86. Aber, so stellte Horace L. JONES (V 527) über das „Homeric Ithaka“ fest: „But the problem still remains open to further investigation“.

1.1 Der westgriechische Inselraum

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Wie der historische Überblick zur Ithaka-Frage zeigt, ist das Ithaka-Problem weiterhin ungelöst. Indes, „die ganze Lage der Dinge aber [ist] so verworren, die Namen der geschichtlichen Zeit so offenkundig verschoben gegen die homerischen, daß wir gedrängt werden nach einer Hypothese zu suchen, die Zusammenhang und Ordnung hineinbringt“.105 Diese Aufgabe soll, trotz der Vorbehalte vieler Skeptiker,106 nun hier angegangen werden, und deshalb ist nachfolgend aus der interdisziplinären historisch-geographischen Sicht das Ithaka-Problem unvoreingenommen und philologisch gründlich zu untersuchen. Zumal es keineswegs zutrifft, das sich alle „Versuche, Ithaka allein mittels der in der Odyssee enthaltenen geographischen Angaben zu lokalisieren, zwangsläufig totlaufen“.107 1.1.2 Homerische Toponyme „Wie weit die Angaben der homerischen Gesänge über Länder und Völker auf Thatsachen beruhen, wie weit sie nur als dichterische Erfindung zu betrachten sind, ist schon im Altertum Gegenstand emsiger Forschung und lebhaften Streites gewesen“.108 Deshalb empfiehlt es sich, bevor das Ithaka-Problem behandelt wird, zunächst zu diagnostizieren, ob oder inwieweit die Toponyme der Odyssee historisch-geographisch zuverlässig sind. Die Odyssee bietet zahlreiche Namen von historischen und unbekannten Völkern, von Orten, Ländern und Inseln, von Bergen, Vorgebirgen und Höhlen, sowie von Flüssen, Quellen, Hafenbuchten etc. Die Gesamtzahl dieser Eigennamen, die entweder einen geographischen oder mythischen Raumbezug aufweisen, beträgt etwa 140 (die Ilias bietet sogar ca. 380)109. Davon entfallen etwa 60 Toponyme auf den Ägäisraum, d. h. auf den Norden und die Osthälfte Griechenlands sowie auf die Ägäisinseln einschließlich Kreta und auf die kleinasiatische Küste. Weitere 40 Toponyme beziehen sich auf die Westhälfte Griechenlands und die vorgelagerten Inseln, die aus frühgriechischer Sicht am westlichen Horizont des Weltbildes lagen. Etwa 20 Toponyme entfallen auf die Inseln und Küstenländer des östlichen Mittelmeeres, die zu homerischer Zeit bloß vom Hörensagen bekannt waren, und ungefähr ebenso viele Namen bietet die Irrfahrterzählung des Odysseus, deren Stationen bislang nicht zwingend in der geographischen Wirklichkeit nachgewiesen werden konnten. 105 CAUER, Grundfragen 240. 106 „Daß dieses Reich des Odysseus historisch-geographisch gesehen eine Unmöglichkeit ist … hat man schon immer gesehen“ (VISSER 598, Anm. 20), und so „ist das Problem ‚Ithaka‘ nicht eindeutig zu lösen, es sei denn, man nimmt eine Vermischung von Mythos und historischen Gegebenheiten an“ (ders. 591, Anm. 3). 107 SIEBERER 159. Denn „die geographischen Angaben der Odyssee weichen zu weit von der geographischen Realität ab, als daß man eine der heutigen Ionischen Inseln als Ithaka identifizieren könnte … Derartige Bemühungen der Lokalisierung Ithakas sind aufgrund dieser zu vagen geographischen Angaben in den Epen von vornherein zum Scheitern verurteilt“ (157). 108 MICHAEL 1. 109 Aber „in der Odyssee gibt es mehr detaillierte Beschreibungen von Örtlichkeiten als in der Ilias“ (GRETHLEIN 285, Anm. 19).

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1. Die Ithaka-Antwort

Bevor der geographische Realitätsbezug der Heimat des Odysseus sowie der Irrfahrterzählung untersucht wird, sei zunächst die Frage aufgeworfen, wie zuverlässig die geographischen Angaben der Odyssee über den griechischen Erdraum sind. Die homerischen Informationen über den Ägäisraum scheinen von guter Lokalkenntnis zu zeugen, wofür v. a. die im 3. Gesang erzählte Rückfahrt der Griechen nach der Eroberung Trojas spricht: „In Lesbos planten wir, ob wir nördlich des staubigen Chios die längere Seefahrt heimwärts wählten in Richtung auf Psyria – links also Chios ließen – oder südlich davon, am windigen Mimas. Schließlich beteten wir um den Wink eines Gottes; der gab uns Zeichen und Auftrag, mitten durchs Meer nach Euboia zu furchen, … so dass wir Geraistos landend bei Nacht erreichten“.110 Wie die geschilderte Direktüberquerung des offenen Meeres von der Insel Lesbos zum Südostkap von Euboia indiziert, war der zentrale Bereich der Ägäis dem Dichter hinreichend bekannt. Das trifft auch für den Norden und Süden des Ägäisraumes zu, wovon z. B. einerseits die frivole Liebesgeschichte von Hephaistos mit Aphrodite auf der Insel Lemnos zeugt,111 und andererseits die häufigen Hinweise auf die große Insel Kreta mit ihren berühmten Städten Knosos, Gortyn und Phaistos.112 Auch die in der Odyssee gebotenen Mitteilungen über die Ostküste Griechenlands, z. B. über die Berge Olympos, Ossa und Pelion,113 oder über die Landschaft Attika mit Athen, Marathon und Kap Sunion,114 basieren auf konkreten geographischen Vorstellungen, ebenso die Angaben über den Osten des Peloponnes mit den Landschaften Argos und Lakedaimon bzw. Sparta.115 Im westlichen Griechenland treten uns mehrere Toponyme entgegen, deren Lokalisierung problemlos ist, so das Heiligtum Dodona in Epirus, die festländischen Territorien Thesprotien und Aitolien,116 ferner der westliche Peloponnes mit den Landschaften Elis und Messenien, zwischen denen der Fluss Alpheios dahinströmt.117 Dennoch bereitet es Schwierigkeiten, einige an der Westküste Griechenlands genannte Orte zu lokalisieren: Angefangen bei der unbekannten Lage der Orte Krunoi und Chalkis, die irgendwo an der Nordwestküste des Peloponnes anzusetzen sind,118 über den Ortsnamen Ephyra, der in der Odyssee wohl nicht das alte 110 Od. 3,169–178. 111 Od. 8,267–366. 112 Kreta: Od. 3,191 ff., 286–300; 11,321 ff.; 13,256–277; 14,245–258, 287–305; bes. 19,172–190, 338. Von den „neunzig Städten“ Kretas (19,174) werden Knos[s]os (19,178), Amnisos (19,188), Gortyn (3, 294) und Phaistos (3,296) namentlich genannt. – „Über diese Insel ist der Dichter merkwürdig genau unterrichtet. Er weiss über ihre gemischte Bevölkerung Auskunft zu geben (19,175) und kennt nicht nicht nur die Stadt Knossos (19,178), sondern sogar den schlechten Hafen derselben Amnisos und die dabei befindliche Höhle der Eileithyia (19,188)“ (SEECK 280). 113 Olymp: Od. 11,313–316; 20,104 f. (eine mythisch überhöhte Darstellung: Od. 6,41 ff.); Ossa und Pelion: 11,315 f. 114 Od. 3,278; 7,80 f. 115 Argos: Od. 3,180 f., 263; 4,99, 174 ff.; 15,239, 274; 21,108. Die Odyssee gebraucht die Landschafts- und Ortsnamen Lakedaimon (3,326 f., 481–4,2; 4,701 f.; 5,19 f.; 13,414; 15,1; 21,13 ff.) und Sparta (1,93; 2,214, 326 f., 359; 11,459 f.) synonym. 116 Dodona: Od. 14,327 f. (vgl. 315 f., 335); 19,296 f. (vgl. 292); Thesprotien: Od. 14,314–344; 16,65, 426 f.; 17,526; 19,271, 287–297; Aitolien: Od. 14,379. 117 Elis: Od. 4,634 ff.; 13,274 f.; 15,296 ff.; 21,346 f.; 24,431. Messenien: Od. 21,15. Alpheios: Od. 3,489; 15,197. 118 Od. 15,295. Die Küstenorte werden bei der Beschreibung der Heimfahrt des Telemach von Pylos nach Ithaka genannt (vgl. Hom. Hym. 3,425). Wie der Kontext zeigt, bezeichnet Chalkis hier weder die

1.1 Der westgriechische Inselraum

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Korinth, sondern eine Gemeinde in Thesprotien oder in Elis zu bezeichnen scheint,119 bis hin zum „sandigen Pylos“, dem Herrschersitz des weisen Königs Nestor,120 dessen Lage trotz der zahlreichen topographischen Angaben in Ilias und Odyssee „schon im Altertum wie heute … endlos umstritten“ ist.121 Schwieriger zu fassen sind jedoch diejenigen Toponyme der Odyssee, die sich auf die westgriechischen Inseln beziehen (auch Ionische Inseln genannt).122 Sogar die Lokalisierung der vier größten in Ilias und Odyssee genannten Inseln vor der Westküste Griechenlands, nämlich Dulichion, Ithaka, das kephallenische Samos und Zakynthos,123 ist bis heute strittig. Ein weitgehender Konsens besteht nur darin, das homerische Zakynthos mit der heutigen Insel gleichen Namens zu identifizieren,124 während an der Identität zwischen dem homerischen Ithaka, der Heimatinsel des Odysseus, mit der heutigen Insel namens Ithaka erhebliche Zweifel bestehen.125 Das kephallenische Samos wird meist als ein Teil der stark gegliederten Insel Kephallenia betrachtet, und für Dulichion, das Ilias und Odyssee als die bedeutendste Insel vor der Westküste Griechenlands ausweisen,126 scheint es gar in der geographischen Realität keinen Platz zu geben, sodass der Geograph und Althistoriker Joseph Partsch urteilte: „Die einfachste Lösung wäre es, wenn man diese kritische Insel in einer Versenkung verschwinden lassen könnte“.127

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Hauptstadt Euboias (Ilias 2,537) noch die gleichnamige Hafenstadt am Golf von Patras (Ilias 2,640). – Aber „diesen Vers [Od. 15,295], welche unsere Handschriften nicht kennen, hat [ Joshua] Barnes [Homeri Odyssea, Cambridge 1711] aus den Citaten bei Strabon VIII. p. 350 und X. p.447 in den Text eingeführt, wie mir scheint mit Unrecht; denn Strabon hat offenbar die Stelle der Odyssee mit der des Hymnus auf den pythischen Apollon Vs. 247 ff. in seinem Gedächtniss contaminirt und dadurch Verwirrung geschaffen“; der Vers „bildet jedenfalls die jüngste aller Interpolationen“ der Odyssee (KIRCHHOFF 508). Od. 1,259; 2,328. Die erste Erwähnung Ephyras weist nach Nordosten, da Odysseus von Ephyra aus über die Taphischen Inseln heimkehrt (vgl. Od. 181 f.; 257 ff.), die zweite nach Südosten, da Ephyra zusammen mit Pylos und Sparta genannt wird (Od. 2,326 ff.). Vgl. STRABON 8,3,5. Od. 1,93; 2,214, 326, 359; 4,633; 11,257, 459; 24,152. MEYER, Pylos 1250,32 f. – Die Odyssee nennt Pylos immerhin 41 mal (u. a. 1,284), und in der Ilias erscheint Pylos über ein Dutzend mal (u. a. 2,77). „Der Name ‚Ionische Inseln‘ war der Antike völlig unbekannt, und auch die mittelalterlichen Karten verzeichnen ihn noch nicht“ (TREIDLER, Meer 92). Erst aus der „langen venezianischen Zeit stammt die Bezeichnung als Jonische Inseln“, die nicht auf der geographischen, sondern auf der ehemaligen politischen Einheit basiert und die Insel Kythera mit einbezieht“. Deshalb empfiehlt es sich, von den westgriechischen Inseln zu sprechen (PHILIPPSON/KIRSTEN II 418). Ilias 2,625–636. Od. 16,247–25. Dulichion, Samos und Zakynthos werden mehrmals zusammen genannt: Od. 1,246; 9,24; 16,123, 19,131. “Scholars are agreed upon only one identification, that of the modern Zante with the Homeric Zacynthus” (JONES V 524), und „no one has ever doubted, so far as I know, that Homer’s Zakynthos is the modern Zakynthos or Zante” (LEAF 143). „Auf alle Fälle ist es wahrscheinlich, daß das heutige Ithaka nicht das Vorbild des homerischen ist“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 49). Die Dulichier boten im Trojanischen Krieg dreimal so viele Schiffe auf wie die Kephallenen (vgl. Ilias 2,630 mit 2,637) und stellten die weitaus meisten Freier der Penelope, nämlich fast so viele, wie die übrigen Inseln Ithaka, Samos und Zakynthos zusammen (Od. 16,246–251). PARTSCH, Kephallenia 36. Denn „vergeblich haben sich alte und neuere Geographen bemüht, eine plausible Hypothese zu finden, nach welcher die Insel Dulichion bei den jonischen Inseln unterzubringen wäre“ (LANG 25).

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1. Die Ithaka-Antwort

Die Lokalisierung der in den homerischen Epen erwähnten kleineren Westgriechischen Inseln, wie die Insel des Taphierfürsten Mentes128 und v. a. das Eiland Asteris, auf dem die Freier dem Telemach auflauerten,129 bereitet keine geringeren Probleme; und worauf sind gar „die eilenden“ bzw. „die spitzen Inseln“ in der Heimat des Odysseus zu beziehen?130 Problematisch sind auch die nur in der Ilias genannten Toponyme Krokyleia und Aigilips,131 bei denen schon die antiken Gelehrten nicht wussten, ob es sich dabei um Namen von westgriechischen Inseln oder um Orte auf der Insel Ithaka handelt.132 So drängt sich die Frage auf, ob die homerische Darstellung des Inselraums, aus dem der König Odysseus stammt und in den er nach seiner Irrfahrt heimkehrt, überhaupt auf zuverlässigen geographischen Angaben beruht, oder ob die Inseln lediglich fiktive Gebilde sind, denen allenfalls einige Realien der westgriechischen Inselwelt zugrunde liegen.133 In diesem Fall hätte die Heimat des Odysseus nur in der Phantasie des Dichters existiert, wofür übrigens etliche Altphilologen votieren.134 Und ein weiteres, kaum hinterfragtes Diktum entmutigte manchen Forscher, sich mit dem Ithaka-Problem zu befassen: „Irrtümer, Ungenauigkeiten, ja selbst Widersprüche sind bei einem naiv schaffenden Dichter ganz natürlich“.135 Viele Altertumswissenschaftler sind deshalb gar nicht mehr bereit, die leidige „Ithaka Question“, die „one of the most notorious learned controversies“ des 20. Jhs. hervorrief,136 nochmals zu stellen; und diejenigen, die einen letzten wissenschaftlichen Versuch wagen würden, fordern, „daß zunächst nochmals eine ganz genaue Scheidung der verschiedenen Altersschichten namentlich der Odysseeischen Gesänge nach allen nur möglichen Gesichtspunkten angestellt werden müßte“.137 Aber eine solche wünschenswerte Quellenscheidung scheint kaum objektiv durchführbar zu sein, sondern beruht wohl mehr auf subjektven Geschmacksurteilen,138 wie die sich teils im Kreise drehende Diskussion seit anderthalb Jahrhunderten lehrt. 128 129 130 131 132 133

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Taphos: Od. 1,417. Die Taphier: Od. 1,105, 181, 419; 14,452; 16,426. Od. 4,846 f. Od. 15,299. Ilias 2,633. Vgl. Strab. 10,2,8. „Von Ithaka haben Forscher behauptet, daß es eine ganz freie Schöpfung des Dichters sei ohne irgendwelchen Anhalt zur Wirklichkeit, andere dagegen haben schier alles bis ins kleinste hinein auf der heutigen Insel wiederfinden wollen. Die Wahrheit liegt dazwischen“ (HENKE III 82). Aber auch diese vermittelnde Position trifft den Sachverhalt nicht! Der Dichter „scheint“ die Topographie der Heimatinsel des Odysseus „erfunden zu haben. Mich bestärkt insbesondere der Umstand, daß bisher trotz wirklich angelegentlicher chorographischer Forschung keine überzeugende Übereinstimmung der Örtlichkeiten der Wirklichkeit mit den dichterischen Angaben weder auf Ithaka, noch auf Leukas zu erzielen war“ (BÜRCHNER, Ithake 2292, 56 ff.). MENGE 60. Auch Hans BÜRCHNER (Ithake 2292,31) meint, die homerischen Gesänge würden hinsichtlich geo- und topographischer Angaben „schwere Widersprüche“ aufweisen. STUBBINGS 398. BÜRCHNER, Ithake 2292,24 ff. „Wo immer sie [die ‚Analytiker‘] Unstimmigkeiten [in Ilias und Odyssee] zu erkennen meinten, postulierten sie mehr oder weniger kunstvoll zusammengeschweißte Gedichte“. „Die Analyse diskreditierte nicht zuletzt, daß ihre Vertreter sich nicht einigen konnten, ja, daß es fast ebenso viele Entstehungsmodelle wie Analytiker gab“ (GRETHLEIN 23 f.).

1.1 Der westgriechische Inselraum

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Einerseits erscheint mir eine weitere – leidliche – Quellenscheidung für die geographische Lösung des Ithaka-Problems nicht als dringlich. Andererseits lehne ich die aus Sicht der Historischen Geographie nicht stichhaltige These ab, die Angaben der Odyssee über den westgriechischen Inselraum seien weitgehend Fiktion. Und somit überzeugen mich die von der jüngeren Forschung vorgezeichneten Lösungsansätze des Ithaka-Problems nicht. Zwar soll nicht bestritten werden, dass verschiedene Dichter und Interpolatoren die homerischen Epen bearbeitet haben, aber selbst diese Prämisse ist für die vorliegende Studie unbedeutend, da die Epen bei angemessener Interpretation gar keine Unstimmigkeiten hinsichtlich der Geo- und Topographie der westgriechischen Inselflur aufweisen.139 Und folglich erhält die Jahrhunderte alte Ithaka-Frage endlich die ihr gebührende gültige Antwort! Diejenigen Wissenschaftler, die aufgrund dieses vollmundigen Anliegens das vorliegende Buch ungläubig oder gar kopfschüttelnd aus der Hand zu legen geneigt sind, möchte ich mit einem Zitat aus den ‚Grundfragen der Homerkritik‘ von Paul Cauer zum Weiterlesen ermutigen: Es „beruht jede neue wissenschaftliche Hypothese – ὑπόθεσις heißt ‚Voraussetzung‘ – darauf, daß etwas anderes, als was bisher gegolten hat, vorausgesetzt wird, versuchsweise, um zu sehen wie sich von da aus die Erscheinungen erklären. Wer einen solchen Versuch im voraus ablehnt, macht seinerseits den Fehler, eine Voraussetzung – die altgewohnte – zum Axiom zu erheben“.140 Der Versuch einer soliden Analyse der homerischen Topographie des westgriechischen Insel- und Küstenraumes ist lohnend, denn wie die vorliegende historisch-geographische Studie darlegen wird, trifft die herrschende Lehrmeinung nicht zu, derzufolge „die im Epentext integrierten geographischen Angaben über den ägäischen Raum im Unterschied zu jenen über die westlich davon gelegene griechische Welt wesentlich präziser sind und man daher davon ausgehen sollte, daß der Odysseedichter eine nur sehr vage geographische Kenntnis des westgriechischen Bereiches besaß“.141

139 Dagegen ging Joseph Partsch (Kephallenia 55) davon aus, dass durch die unterschiedlichen Dichter und Interpolatoren der Odyssee unvereinbare geo- bzw. topographische Vorstellungen einflossen, und er stellt die rhetorische Frage: „Könnte es bei dieser Sachlage überraschen, wenn verschiedene Teile der Odyssee eine ungleiche Bekanntschaft mit dem Schauplatze der Dichtung verrieten? Gewiß nicht. Es wäre denkbar, daß einzelne Glieder des Werkes nicht einmal die Lage der Inseln richtig beurteilen, andre bis in bezeichnende Einzelheiten sich vertraut erweisen mit der Gestaltung Ithakas“. 140 CAUER, Grundfragen 255. So sei „es ernstlich der Mühe wert …, einmal die Probe zu machen, ob sich das Bild von der Heimat des Odysseus vielleicht besser zurechtschieben würde, wenn man – doch an sich nichts Unerhörtes – voraussetzt, daß die vier großen [westgriechischen] Inseln, von denen Homer spricht, eben die vier sind, die jetzt noch dort liegen“ (a. a. O.). 141 SIEBERER 149. „Die Angaben über den ägäischen Raum sind zwar knapper als die über den westgriechischen Bereich, stimmen aber besser mit unserer heutigen geographischen Kenntnis überein“ (149, Anm. 1). Also, „der Dichter der Odyssee hatte sichere geographische Kunde nur von den Küstenländern des aigaiischen Meeres“ (HENKE, Bd. I, Vorwort S. V).

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1. Die Ithaka-Antwort

1.1.3 Die dulichische Thalassokratie Der Odyssee zufolge musste der griechische König Odysseus auf der Hin- und Rückfahrt nach und von Troja, das im Nordwesten Kleinasiens lag, den Peloponnes im Süden umrunden,142 und deshalb befindet sich seine Inselheimat nicht in der Ägäis, sondern unter den westgriechischen Inseln,143 die in Sichtweite der griechischen Festlandsküste liegen und über ein Dutzend bewohnte Inseln aufweisen. Diese Inselkette, die „die Grenze des griechischen Erdraumes gegen das weite, tiefe, inselleere Ionische Meer bildet“,144 gliedert sich in zwei Gruppen: Die nördliche, mit der Hauptinsel Kerkyra (Corfu) sowie den Othonoi und Paxoi, verläuft geradlinig von NW nach SO und ist der nordwestgriechischen Festlandsküste vorgelagert. Die südliche, mit der Hauptinsel Kephallenia (Cefalonia) sowie Leukas, Ithaka und Zakynthos, erscheint dagegen als konvexer Bogen, der sich von der Westküste Mittelgriechenlands bis zur Westspitze des Peloponnes erstreckt und den Golf von Patras gegen das offene Meer abschirmt. Erwähnt seien auch die vor der Küste Akarnaniens und Aitoliens liegenden taphischen Eilande und die winzigen Echinaden, ferner die kleinen Oinussai, die der Südwestküste Messeniens vorgelagert sind. Laut Ilias und Odyssee liegen im westgriechischen Meeresraum zwei bedeutende Inseln, nämlich Dulichion und Ithaka, und so stellt der Schiffskatalog der Ilias, der die Herrschaftsgebiete der griechischen und trojanischen Kriegsteilnehmer systematisch auflistet, die beiden Inselkönigreiche hintereinander vor, nämlich das der Dulichier mit der Hauptinsel Dulichion, und das der Kephallenen mit der Hauptinsel Ithaka.145 Aufgrund der auffälligen Korrelation zu den dargelegten geographischen Verhältnissen ist anzunehmen (und dies ist die grundlegende ὑπόθεσις meiner Untersuchung des Ithaka-Problems), dass die beiden Inselkönigreiche den beiden genannten Gruppen der westgriechischen Inseln zuzuordnen sind,146 zumal – abgesehen vom interpolierten Formelvers Od. 9,24 –147 „there is nothing else in the whole of either poem to suggest

142 Od. 19,185 ff.; 9,79 ff. 143 „Bei der Betrachtung der geographischen Angaben der homerischen Epen ist zunächst festzustellen, daß Ithaka und die anderen zum Reich des Odysseus gehörigen Inseln als im Westen Griechenlands erscheinen“ (SIEBERER 151). 144 PHILIPPSON/KIRSTEN II 420. 145 Ilias 2,625 ff., 631 ff. Vgl. Od. 9,21 ff.; 16,247 ff. – Es ist zudem zu beachten, dass, abgesehen von Ithaka, die in Ilias und Odyssee oft genannten Inseln Dulichion, Same und Zakynthos (Ilias 2,625, 634. Od. 1,246; 4,671, 845; 9,24; 14,335, 397; 15,29, 367; 16,123, 247, 249, 250, 396; 18,127, 395, 424; 19,131, 292; 20,282) „nicht alle drei zum Königreich des Odysseus [gehörten], sondern Dulichion ist ein benachbartes anderes Königreich“ (MICHAEL 10). Ähnlich u. a. VISSER (580): „Homer sagt nirgendwo explizit, daß diese Insel [Dulichion] un-mittelbar von Odysseus beherrscht wird“. 146 Dementsprechend sagte Dietrich MÜLDER (Ithaka 18) bzgl. des in den homerischen Epen (Ilias 2,631 ff. u. Od. 9,19 ff.) umrissenen Herrschaftsbereich des Odysseus: „Von Κέρκῡρα zu schweigen, dazu berechtigte der Vorgang der Ilias, die diese beiden Inseln [Kerkyra und Echinaden?] auch nicht dem Reich des Odysseus zurechnet“. 147 Der in der Odyssee mehrmals auftauchende Formelvers „Dulichion und Same und das waldige Zakynthos“ wurde im 9. Gesang interpoliert (BÜRCHNER, Ithake 2293,48 f. ROBERT 632 f.). Der Odysseevers 9,24 wird in der vorliegenden Studie noch eingehender behandelt.

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1.1 Der westgriechische Inselraum

Das Festland einschließlich festländischer Halbinseln ist dunkelgrau

Epiros

Kerkyra (Corfu)

Thesprotien Parga Paxoi

Leukas

Ionisches Meer

Akarnien Theaki

Kephallenia

Echinaden

Elis Zakynthos

Abb. 1: Der westgriechische Insel- und Küstenraum

Peleponnes

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1. Die Ithaka-Antwort

that Dulichium belonged to Ulysses [Odysseus]”.148 Das weitaus mächtigere der beiden benachbarten westgriechischen Inselreiche ist den homerischen Epen zufolge das der Dulichier, dessen Heerführer Meges mit einer stolzen Flotte von 40 Schiffen in den Trojanischen Krieg zog.149 Dagegen konnte der König der Kephallenen, Odysseus, lediglich zwölf Schiffe aufbieten.150 Die homerischen Dulichier stellten für den Krieg also genauso viele Schiffe wie die große Ägäisinsel Euboia und immerhin halb so viele Schiffe wie das zur See mächtige Kreta.151 Allein das enorme Flottenkontingent verlangt, die homerische Insel Dulichion mit Kerkyra (Corfu) gleichzusetzen, denn seitdem diese periphere nordwestgriechische Insel ins Licht der Geschichte trat, war sie eine bedeutende Seemacht.152 Wie Thukydides beteuert, ereignete sich sogar „die älteste Seeschlacht, von der wir wissen, zwischen den Korinthern und Kerkyräern“.153 Damals, im Jahr 665 v. Chr., besiegten die Kerkyräer die Flotte der mächtigen Handelsstadt Korinth, und dadurch wurde „Kerkyra nun selbst die herrschende Seemacht im westlichen Griechenland“.154 Während der Perserkriege verfügte Kerkyra über 60 Trieren,155 und im Peloponnesischen Krieg boten die Kerkyräer, als sie 433 v. Chr. Korinth abermals schlugen, eine Armada von 120 Kriegsschiffen mit ca. 24.000 Mann Besatzung auf!156 Wenn die in der Ilias genannte westgriechische Seemacht Dulichion keine dichterische Fiktion ist, dann kann man folglich nur an die Insel Kerkyra denken, die, wie Thukydides betont, sich schon in frühster historischer Zeit rühmte, „zur See [sogar] den Korinthern weit überlegen zu sein“.157 Und indem Kerkyra mit dem in Ilias und Odyssee genannten Dulichion identifiziert wird, erhält die große nordwestgriechische Insel einen angemessenen homerischen Namen. Somit hätte sich u. a. Benedictus Niese nicht wundern müssen, dass v. a. der iliadische Schiffs- „Katalog das so rasch emporblühende Korkyra nicht nennt, das doch den Hellenen nicht ferner lag als Kos oder Rhodos, selbst nicht als Kephallenia und Zakynthos“.158

148 ALLEN 84. – Dass die meisten Freier der Penelope von Dulichion kamen (Od. 16,247 ff.; vgl. a. 16,394 ff.: Amphinomos „war ein Führer der Freier und kam aus Dulichion“), nötigt nicht anzunehmen, dass auch die Insel Dulichion dem Odysseus unterstand. 149 Ilias 2,630. 150 Ilias 2,637. Od. 9,159. Indes, die zwölf Schiffe des Odysseus waren kein unbedeutendes Kontingent, wie ein Vergleich lehrt: „Ajas führte von Salamis zwölf gebogene Schiffe“ (Ilias 2,267), und Rhodos stellte lediglich neun Schiffe im trojanischen Krieg (Ilias 2,634). 151 Euboia mit den bedeutenden Städten Chalkis, Eiretria, Styra stellte 40 Schiffe (Ilias 2,536–545), Kreta mit seinen neunzig Städten 80 Schiffe (Ilias 2,645–652). 152 „Corkyra [„Kerkyra“] in early times enjoyed a happy lot and had a very large naval force” (Strab. 7,7 [Fragments of Book VII]; übersetzt von H. L. JONES III 327). 153 Thuk. 1,13,4. 154 PHILIPPSON/KIRSTEN II 450. 155 Hdt. 7,168. 156 PARTSCH, Korfu 92. 157 Thuk. 1,25,7. – „Wahrscheinlich bewohnten Liburner in frühern Zeiten die Insel, welche lange Zeit durch ihre Seemacht sich auszeichnete“ (KÄRCHER, Handbuch 273). 158 NIESE, Schiffskatalog 47.

1.1 Der westgriechische Inselraum

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Im frühen Altertum trug Kerkyra den Namen „Makris“, der mit dem homerischen Inselnamen Dulichion synonym ist und „die Langgestreckte“ bedeutet.159 Abgesehen von winzigen Felseilanden, charakterisiert dieser Name keine der westgriechischen Inseln treffender als Kerkyra, das bei einer Länge von 62 km durchschnittlich nur 9,5 km breit ist und sich mehr parallel als sichelförmig vor den nordwestgriechischen Küstenlandschaften Chaonien und Thesprotien erstreckt,160 und so sprechen die Historischen Geographen Alfred Philippson und Ernst Kirsten hinsichtlich Kerkyra von „der langgestreckten Insel“.161 „Konkretisiert werden die Angaben zu Dulichion noch durch die Angabe, daß Dulichion offensichtlich in relativer Nähe des Landes Thesprotien liegt“,162 denn in der Odyssee werden die Insel Dulichion und die nordwestgriechische Küstenlandschaft Thesprotien wiederholt zusammen in einem Vers genannt: So fuhren Schiffe „mit Männern aus Thesprotien nach Dulichions Weizengefilden“.163 In seiner ‚Lügengeschichte‘ bei Eumaios erzählt Odysseus, der König von Thesprotien habe ihn auf einem Schiff, das zur Insel Dulichion auslief, mitreisen lassen, damit ihn der König von Dulichion von dort in die Heimat geleite.164 Während im klassischen Altertum die Landwirtschaft Kerkyras besonders durch den Weinbau berühmt war,165 wurde zu homerischer Zeit auf der Insel, deren fruchtbare Böden „ebenso leistungsfähig sind wie die ganz ähnlich zusammengesetzten altberühmten Weizenböden des innern Siziliens“,166 vor allem Getreide angebaut. Dieser Sachverhalt 159 Apoll.Rhod. 4,540, 990. Schol. Apoll.Rhod. 4,650, 903; unter Makris versteht Homer die langgestreckte Ägäisinsel Euboia (Ilias 2,535). Zum Inselnamen Dulichion merkt A. D. FRASER (219) an: „The name must therefore be understood as ‚Long Island’. The evidence points directly at Corfu as being the island here designated by Homer“. Und M. MAYER (78) weist darauf hin, dass der „Dulichion-Name frühzeitig für Korkyra abkam“. In Anbetracht dessen ist es unverständlich, wenn Thomas W. ALLEN (84) in seinem Werk über den Schiffskatalog schreibt: „It is possible that the word means ‚long‘, but there is nothing to show that it does“. 160 Im Altertum wurde Kerkyra auch Drepane („Sichel“) genannt (u. a. Plin. nat. 4,12,52; Steph. Byz. B 245), und „bei Apollonios [Rhodios] immer Drepane/Makris“ (DRÄGER 529). 161 PHILIPPSON/KIRSTEN II 13. – Dementsprechend bedeutet „der Name Dulichion (vom homerischen Adj. δολιχός ‚lang‘), ‚Langeland‘“ (LANG 32). Unnötigerweise meint Emil BELZNER (61, Anm. 2), daß dem „Dichter sein Dulichion nicht als ‚Langeland‘ bewußt war“. 162 VISSER 580. 163 Od. 14,335; 19,292; vgl. 16,396. – Kerkyra ist dem festländischen Thesprotien unmittelbar vorgelagert: Die Meerenge zwischen der Nordspitze der Insel und dem Festland ist nur 2 km breit, die südliche Meerenge 8 km. 164 Od. 14,334 ff. Da die Seeleute ihn jedoch versklavten und er bei einem Zwischenstopp auf Ithaka angeblich entfliehen konnte (14,349–354), könnte man folgern, Dulichion sei nicht nordwestlich von Thesprotien zu lokalisieren, sondern südlich, zwischen Thesprotien und dem homerischen Ithaka (vgl. VISSER 580). So schrieb schon Thomas W. Allen (86 mit Bezug auf BUNBURG, VOLLGRAFF u. STÜRMER): „I therefore suggested ( J. H. S., 1. C., 305) … that Dulichium was Sta. Maura [Santa Maura; venezianischer Name für Leukas] or Leucas“. Aber „wenn die Thesproter die Absicht hatten, den Schützling ihres Königs nicht, wie ihnen befohlen war, zum befreundetet König Akastos [von Dulichion] zu bringen, sondern als Sklaven zu verkaufen, so konnten sie begreiflicher Weise diese Absicht nicht in Dulichion selbst zur Ausführung bringen wollen, wo die That durch den Fremdling bald ruchbar geworden und zu den Ohren des Königs gedrungen wäre. Sie mussten ihn in einem anderen Lande verkaufen und deshalb ihren Reiseweg ändern“ (MICHAEL 17), und so fuhren sie nicht zur benachbarten Insel Dulichion, sondern südostwärts in Richtung Peloponnes. 165 Xen. hell. 6,2,6. Ov. met. 13,719. 166 PARTSCH, Korfu 86. – Das homerische Dulichion „mußte es ein gesegnetes Land sein, reich an fetten Triften und fruchtbarem Ackerland“ (BELZNER 62).

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1. Die Ithaka-Antwort

fand seinen Niederschlag im frühgriechischen Mythos, wonach im Erdboden Kerkyras „Demeters nährende Sichel“ ruhte.167 Und dementsprechend ist „weizenreich“ das häufigste Attribut für das homerische Dulichion.168 Erst unter der Herrschaft Venedigs begann die systematische Beschränkung der Getreideerzeugung zugunsten von Weinund Obstbau.169 Die homerischen Angaben über die Insel Dulichion, nämlich erstens der selbstredende Inselname „die Langgestreckte“, zweitens die Nachbarschaft zur nordwestgriechischen Küstenlandschaft Thesprotien, drittens der Weizenreichtum der Insel und viertens die Hervorhebung als westgriechische Seemacht, treffen allesamt vorzüglich auf die Insel Kerkyra zu und auf keine andere Westgriechische Insel. Dennoch werden etliche Altertumsforscher einwenden, das homerische Dulichion sei weiter südlich nahe dem Golf von Patras zu suchen, da im Schiffskatalog der Ilias die Insel Dulichion mit den Eilanden der Echinen in einem Atemzug genannt wird: „Die aus Dulichion kamen und von den heiligen Echinen, Eilande jenseits des Meeres, im Angesichte von Elis …“.170 Unbestritten sind mit den Echinen die winzigen Echinaden gemeint, die im Golf von Patras der Südküste Akarnaniens vorgelagert und aufgrund ihrer felsigen Höhen von der nordwest-peloponnesischen Landschaft Elis aus mit bloßem Auge sichtbar sind.171 Jedoch kann das mächtige Dulichion „keine der armseligen, in geschichtlicher Zeit ganz unbewohnten Echinaden gewesen sein“,172 und deshalb nehmen manche Homerinterpreten an – allen voran Johann Heinrich Voss –,173 das homerische Dulichion bezeichne das fruchtbare akarnanische Festland im Delta des Stromes Acheloos,174 zumal einige der Echinaden schon im Altertum durch den Vorbau des Acheloos landfest geworden sind.175 Diese Annahme ist jedoch unbefriedigend, und so ist nun endlich die von Walter Leaf vor einem Jahrhundert gestellte Frage bezüglich der Echinaden zu beantworten: „Why … should this poor cluster of rocks have been found worthy 167 Apoll. Rhod. 4,987. 168 Od. 14,335; 16,396; 19,292. –„Weitaus die größte und reichste [Insel] ist Dulichion, das ja auch stets das weizenreiche genannt wird“ (BELZNER 28). 169 PARTSCH, Korfu 85 ff. 170 Ilias 2,625 f. Demnach „sind Dulichion und die Echinaden ‚gegenüber Elis‘ merkwürdigerweise eine eigene Seemacht“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 565). 171 Obwohl sogar die größten Eilande der Echinaden unter 5 qkm Fläche aufweisen, sind einige relativ hoch, v. a. Koutsilaris (434 m) und Oxia (421 m), die von der ca. 20 km entfernten Küste von Elis aus deutlich sichtbar sind. 172 PARTSCH, Kephallenia 36. Und Emil BELZNER (58, Anm. 1) fragt sich: „Aber wie kommt der Schiffskatalog dazu mit diesem ganz westlich gelegenen Dulichion die im Osten befindlichen Echinaden zum Reich des Meges zu verbinden?“ 173 VOSS, Myth. Briefe III 169: Der Acheloos habe „gewiß auch das große Dulichion mit Weizenfeldern und und Grasauen angeschlämmt“. 174 Siehe v. a. OBERHUMMER (Akarnanien 231 f.), KRUSE (II 455 ff.), BURSIAN (I 127 f.) und LANG (29 ff.), wonach Dulichion angeblich das Gebiet von Oiniadai umfasste. Aber „there was no [ancient] tradition of Oeniadae being a peraea of Dulichium“ (ALLEN 86), und „alle Versuche, die man schon im Altertum unternommen hat, das ‚weizenreiche Dulichion’“ Homers im Süden Akarnaniens „unterzubringen, vor allem auf den Echinaden oder in der Mündungsebene des Acheloos, sind unmöglich“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 503). 175 Hdt. 2,10. Thuk. 2,102,3. Paus. 8,24,11.

1.1 Der westgriechische Inselraum

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of mention in the Catalogue [Schiffskatalog der Ilias] at all? The question is one which calls for explanation“.176 Die Bedeutung der Echinaden im Nordwesten „des Golfes von Patras ist geknüpft an die Funktion dieses Teil-Golfes, westlicher Ein- und Ausgang des eigentlichen, auf den Ägäis-Raum bezogenen griechischen Kulturgebietes zu sein“, und so ließ sich von den Echinaden aus das westliche „Eingangstor Griechenlands“ kontrollieren,177 nämlich die Meerenge von Rhion zwischen den Golfen von Patras und Korinth. Deshalb annektierten bereits die seefahrenden Euboier, die als die ersten historisch greifbaren Kolonisten Kerkyras auftraten,178 den aitolisch-akarnanischen Küstensaum samt der Echinaden.179 Und als einige Jahrzehnte später die aufstrebende Handelsmetropole Korinth ihre Kolonisten nach Kerkyra und Süditalien aussandte, besetzten auch sie die nahe Festlandsküste und die Echinaden, wodurch die Akarnanen und Aitoler erst im 4. Jh. v. Chr. wieder Anschluss an die Nordküste des Golfs von Patras gewannen. Bis in die Neuzeit hinein besaßen die Echinaden eine große seestrategische Bedeutung,180 und so wurde vor diesen Eilanden im Jahr 1571 die größte Seeschlacht der Weltgeschichte ausgetragen, nämlich die sog. Seeschlacht von Lepanto.181 Einen Reflex der seestrategischen Bedeutung der kleinen Echinaden für die antike Seemacht Kerkyra bietet noch der hellenistische Dichter Kallimachos, der die Echinaden und Kerkyra – wie schon Homer die Echinen und Dulichion – in einem Satz zusammen rühmt: „… weder die Echinaden, die Schutz den Schiffen gewähren, noch Kerkyra, die gastlicher ist als alle anderen“ westgriechischen Inseln.182 Sowohl als euboiischer Vorposten und korinthische Kolonie als auch als unabhängige Seemacht bedurfte Kerkyra der Echinaden, um den See- und Handelsweg zu den mittelgriechischen Mutterstädten und Märkten im Ägäisraum zu sichern.183 Und aufgrund dieser seestrate176 LEAF 165. Den von Walter Leaf (165 f.) als Erklärung herangezogenen mythologischen Konnex zwischen den Echinaden und Theben halte ich für wenig überzeugend. 177 PHILIPPSON/KIRSTEN II 558 u. 70. Vgl. PUTMAN-CRAMER 265–280 (mit Skizzen und zwei Fotos von Oxia). 178 Plut. Quest. Gr. 11, p. 293; Strab. 6,2,4. Und „in der Übersiedlung der euboeischen Nymphe Makris nach Korkyra liegt auch der directe Beweis, dass Euboeer … zuerst die illyrische Insel besucht“ haben (WILAMOWITZ, Untersuchungen 172). „Hinzu kommt „ein spezifisch euboiischer Typus“ der „späteren kerkyräischen Münzprägung: eine Kuh, die ihr Kalb säugt“. „Infolge all dessen erscheint mir die Historizität einer eretrischen Kolonie auf Kerkyra unanfechtbar“ (PARKER 56). 179 „Die Echinaden an der Mündung des Acheloos bekunden schon durch ihre Namen Chalcis, Doliche, Kyrnos, Pinara, daß sie Stationen der euböischen Karer auf ihren Seefahrten nach dem ionischen Meere waren“ (DONDORFF 41). Auch der 20 km weiter westlich von Chalkis gelegene Hafenort Pleuron (vgl. Ilias 2,639; 13,217; 14,116; 23,635) „hatte seine Bewohner von Euboia empfangen, und westlich von Euenos findet sich auch hier ein lelantisches Gefilde wieder“ (a. a. O.). 180 So teilt Walter LEAF (165) den Lesern seines Werkes ‚Homer und History‘ mit, dass „the Hellenic Government allowed the British Mediterranean fleet“ dort Übungen abzuhalten, und dass „the Mediterranean Pilot (III 311–319)“ die Echinaden sehr ausführlich beschreibt. 181 Die bezüglich der Anzahl der Schiffe und der Toten bislang größte Seeschlacht, in der die christlichen Flotten die türkische Armada und ihre Verbündeten schlugen, ereignete sich vor dem Eiland Oxia, das den Eingang zum Golf von Patras markiert. Die Hafenstadt Lepanto (Naupaktos) liegt 60 km weiter östlich am Eingang des Golfs von Korinth; dort hatte sich die türkische Armada gesammelt. 182 Kall. h. 155 f. 183 PHILIPPSON/KIRSTEN II 362.

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1. Die Ithaka-Antwort

gischen und handelspolitischen Bedingungen gehörten die kleinen Echinaden bereits zum Seereich der homerischen Dulichier (Kerkyräer). Folglich ist die auf den ersten Blick verwirrende Angabe der Ilias, dass die Dulichier auch die Echinaden beherrschten, sogar ein weiteres Indiz für die Identität des homerischen Dulichion mit der nordwestgriechischen Insel Kerkyra. Und weil die Echinaden eben nicht in unmittelbarer Nähe der großen westgriechischen Insel Dulichion liegen, fügte der Dichter des Schiffskatalogs extra einen Vers über die geographische Lage dieser von den Dulichiern kontrollierten Inseln hinzu: Die Echinaden seien „Eilande jenseits des Meeres, im Angesichte von Elis.“184 Bereits Gustav Lang bemerkte treffend, dass v. a. dieser vom Dichter erläuternd hinzugesetzte Vers davon zeugt, dass die große Insel Dulichion nicht zu den winzigen Echinaden gehört.185 Wie dargelegt, lässt sich Dulichion unter Berücksichtigung sämtlicher homerischer Angaben widerspruchsfrei im westgriechischen Inselraum lokalisieren. Dass dies bislang nicht geschah, darüber wunderte sich schon Theodor Bergk in seiner ‚Griechische(n) Literaturgeschichte‘: „Viel auffallender [als das Ithaka-Problem] ist es, daß es bisher nicht gelungen ist, die Insel Dulichium nachzuweisen, die doch nach Homers Schilderung die größte von allen [westgriechischen Inseln] war und das bedeutendste Contingent an Freiern lieferte“.186 Die Kapitulation vor dem Dulichion-Problem ist v. a. denjenigen Analytikern anzulasten, die apodiktisch orakelten: „Dulichion, das in der Phantasie des Dichters der Odyssee lebt, gibt es nicht“.187 Und auch die Behauptung von Ulrich von Wilamowitz ist falsch: „Dulichion ist im Schiffskatalog eine sicher fixierte Insel: die der Odyssee ist nirgends zu finden“.188 Tatsächlich harmoniert, wie dargelegt, die dichterische Vorstellung von der Insel Dulichion in der Ilias mit der der Odyssee. Obwohl kaum eine andere in Ilias und Odyssee genannte westgriechische Insel sich von vornherein treffender identifizieren lässt als das fruchtbare und seemächtige Dulichion, wurde diese homerische Insel meist nicht auf die nordwestgriechische Insel Kerkyra bezogen, weil man einer antiken Tradition folgte, die Kerkyra als das homerische Phaiakenland ausweist.189 Dabei hatte schon Friedrich Gottlieb Welcker die These, 184 Ilias 2,626. 185 Dulichion „scheint ja zudem in [Ilias] B 625 von ihnen [den Echinaden] unterschieden zu werden“ (LANG 25). 186 BERGK 785. Dabei war Theodor BERGK (a. a. O.) der Lösung nahe, „da Homer sonst nirgends der Insel Korkyra erwähnt, was man doch wegen der Nähe von Ithaka erwarten durfte“. Auch Emil BELZNER (60) ging, wie BERGK, bei Dulichion von derselben falschen Prämisse aus: „Aber die Schwierigkeit ist eben die, daß diese Insel größer [nein: bevölkerungsreicher!] sein müßte als selbst Kephallenia und daß eine solche Insel im jonischen Meere nicht vorhanden ist“; Kerkyra ist nur die zweitgrößte westgriechische Insel, war aber stets die bedeutendste. 187 BELZNER 59. Indes, die Doppeldeutigkeit der Aussage war von BELZNER nicht bezweckt, denn er weist darauf hin, „daß der Homer der Odyssee im Kreise der jonischen Inseln ein ganz utopisches, nirgends zu identifizierendes Eiland nennt: Dulichion“ (57). 188 WILAMOWITZ, Ithaka-Hypothese 383. Und Dietrich MÜLDER (Ithaka 17) fragt: „Sollen wir zwei Dulichion annehmen, von denen das eine [der Ilias] diesen Namen bis in die späte Zeit des Katalogdichters behauptete ..?“ 189 „Scheria, das Land der Phäaken, fand schon das Alterthum in der Insel Korkyra wieder“ (BERGK 786). Bereits bei HELLANIKOS (FGrH 4 frg. 77) und THUKYDIDES (1,25,4) erscheint Kerkyra als das ho-

1.1 Der westgriechische Inselraum

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dass Kerkyra die Heimat der Phaiaken sei, „so bündig widerlegt“.190 Zwar mögen die von Odysseus besuchten Phaiaken, die angeblich nur eine halbe Tagesreise von seiner Königsinsel Ithaka entfernt lebten,191 tatsächlich im nordwestgriechischen Insel- und Küstenraum zu lokalisieren sein. Aber es ist falsch, das homerische Phaiakenland mit der Insel Kerkyra gleichzusetzen, denn „der griechische Text nennt das Phaiakenland nicht nur niemals eine Insel, er nennt es vielmehr Scheria, d. h. wörtlich Kontinent, Festland!“192 Die Identifizierung der Insel Kerkyra mit dem homerischen Dulichion scheitert also keineswegs an den homerischen Phaiaken, deren Identität in der vorliegenden Studie noch historisch-geographisch untersucht wird. Vor allem die in der homerischen Geographie vorherrschende Gleichsetzung des Phaiakenlandes mit der Insel Kerkyra verhinderte eine angemessene Identifizierung des homerischen Dulichion193 und damit auch die der anderen in Ilias und Odyssee genannten westgriechischen Inseln. So folgert namentlich Edzard Visser in dem Werk ‚Homers Katalog der Schiffe‘ zunächst treffend: „Dulichion ist demzufolge [hohe Anzahl der Kriegsschiffe, Entsendung der weitaus meisten herrschaftlichen Freier der Penelope, beachtlicher Getreidereichtum] das bedeutendste Zentrum unter den Inseln des Ionischen Meeres, und Homer sagt nirgendwo explizit, daß diese Insel unmittelbar von Odysseus beherrscht wird,“194 dessen Reich im kephallenischen Inselraum anzusetzen ist. Demnach, so sollte man meinen, ist eindeutig Kerkyra das homerische Dulichion. Um so merkwürdiger erscheint es, dass Edzard Visser stattdessen das homerische Dulichion „vor allem aufgrund seiner Lage zwischen Thesprotien und Ithaka [warum dazwischen?!]“195 mit

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merische Phaiakenland. – Siehe das Kapitel „Ueber die Lage Scheria’s und die früheren Wohnsitze der Phäaken“ von Gregor Wilhelm NITZSCH (II 72 ff.). PRELLER Ib 491. „Die Uebertragung Scherias auf Korkyra ist eine alte und zwar hängt sie wahrscheinlich mit der Argonautensage zusammen, wie diese seit den Hesiodischen Eöen und dem Naupaktischen Gedichte erzählt zu werden pflegte“ (ders. I 395). Od. 13,35 ff., 93 ff. – Das homerische Phaiakenland ist ein „nordwestlich von Ithaka gedachtes Küstenland“ (BENSELER 890). WOLF, Reise 86 (mit Belegen: 248, Anm. 125). Und „nur wenige Autoren haben bisher auf das Fehlen der Bezeichnung Insel (νῆσος) für das Phaiakenland hingewiesen“ (a. a. O.). – Belege namhafter Altertumswissenschaftler, dass „Scheria“ = Festland bedeutet, bietet in der vorliegenden Studie die Anmerkung 1392 (S. 358). So warnte u. a. schon Dietrich MÜLDER (Ithaka 25): „Es ist deshalb von vornherein irreführend, wenn man dem Gedanken nachgibt, Scheria, das Phaiakenland, sei Kerkyra“. Und Walter LEAF (184) gibt zu bedenken: „But if Corfu [Kerkyra] is not Scherie, it will indeed be strange that so fair and famous an island should never be named in Homer”. VISSER 580. VISSER 580. Der einzige Anlass, Dulichion „zwischen Thesprotien und Ithaka“ anzusetzen, ist die Aussage des Odysseus (in der sog. Lügengeschichte vor Eumaios), derzufolge er auf dem Schiff, das von Thesprotien nach Dulichion fuhr und auf dem er von den Seeleuten heimtückisch versklavt worden sei, angeblich auf Ithaka eine Zwischenlandung machte, die er zur Flucht genutzt habe (Od. 14,334 ff.). Und so folgert u. a. Heinrich RÜTER (38), um Ithaka mit Leukas gleichzusetzen: „Ithaka muss also nach Ansicht des Dichters grade zwischen Thesprotien und Dulichion [das RÜTER mit Kephallenia identifiziert] liegen“. Aber schon Hugo MICHAEL (17) wies darauf hin, dass die Seeleute gerade nicht, wie beabsichtigt, von Thesprotien ins benachbarte Dulichion gefahren wären, nachdem sie den Schützling des thesprotischen Königs versklavt hatten und zu verkaufen beabsichigten, sondern v. a. deshalb „ihren Reiseweg ändern“ mussten (s. o. Anm. 164). Somit ist Dulichion nicht unbedingt auf dem Seeweg nach bzw. nahe Ithaka zu suchen.

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1. Die Ithaka-Antwort

der „Fastinsel“ Leukas identifiziert,196 um dann – dem Mainstream der Homerphilologie entsprechend – zu resümieren: „So ist schon in der Problematik einer Gleichsetzung von Leukas mit Dulichion zu erkennen, daß Homer hier offensichtlich mythologische Angaben als Basis für seine Darstellung genommen hat, also Angaben, die in der Geographie nur ungefähre Entsprechungen haben“.197 Für nachhaltige Irritationen in der Auseinandersetzung mit dem homerischen Dulichion sorgt auch das Werk ‚Homer and History‘ von Walter Leaf, der als Befürworter von Wilhelm Dörpfelds Leukas-Ithaka-Theorie die Angaben der Ilias über die Insel Dulichion unnötig problematisierend deutet.198 Denn im Schiffskatalog der Ilias wird die Insel Dulichion als eine von Odysseus unabhängige Seemacht geschildert, die auch die Echinaden kontrolliert.199 Das ist mit Dörpfelds Theorie kaum vereinbar, weil dieser Leukas mit dem homerischen Ithaka identifiziert und Kephallenia mit dem homerischen Dulichion.200 So ist kritisch zu fragen, welche historisch-geographische Evidenz eine Theorie hat, derzufolge Odysseus, den die homerischen Epen als König der „Kephallenen“ ausweisen,201 ausgerechnet nicht die große Insel Kephallenia beherrscht (denn diese ist laut Dörpfeld und Leaf der Hauptsitz der Dulichier), sondern stattdessen die nördlich, östlich und südlich von Kephallenia liegenden Inseln Leukas, Theaki und Zakynthos?! Der Schiffskatalog der Ilias weist Dulichion ganz eindeutig als eigenständiges westgriechisches Inselreich aus, das mit einem großen Truppenaufgebot unter dem Heerführer „Meges“ am Trojanischen Krieg teilnahm.202 In der Odyssee zeugt von der Autonomie der großen Insel jedoch der nur einmal erwähnte König Akastos von Dulichion.203 Das nimmt Walter Leaf als Stein des Anstoßes: „No allusion to Meges here. Worse still, we do, in a passing mention, we hear who is the king (βασιλεύς) of Dulichion – it is not Meges but Akastos”.204 Aber der suggerierte Widerspruch hinsichtlich der dulichischen 196 Denn „Leucas, in short, was not an island in Homer’s time“ (STUBBINGS 400). Als „Fastinsel“ bezeichnen Leukas Alfred PHILIPPSON und Ernst KIRSTEN II 9. 197 VISSER 581. 198 LEAF 148 f., 157; „the name of Dörpfeld, its ablest and foremost champion“. Da Walter LEAF die Angaben der Ilias als unzuverlässig verwirft, schreibt er gleich in der Einleitung seines Kapitels ‚The Dominion of Odysseus‘:„In the Odyssey, in fact, occur the only real pieces of geographical description in Homer” (139). 199 Ilias 2,625. So fragt Walter LEAF bzgl. der Echinaden: „But why should they form a part of the realm of Meges? Why should any one care to them?“ (ders. 163). 200 Wilhelm DÖRPFELD „pretends that Ἰθάκη here [Ilias 2,631–635] means the post-Homeric Ithaca, modern Ithaki“ (STUBBINGS 407). 201 Ilias 2,631; 4,329 f.; vgl. Od. 24,378. 202 Ilias 2,625 ff. Dass das Inselreich Dulichion vor der Westküste Griechenlands liegt, geht aus der systematischen geographischen Anordnung im Schiffskatalog hervor. In den Versen Ilias 2,615–644 werden ausschließlich Truppen von solchen Völkern aufgezählt, die am bzw. im Ionischen Meer liegen: Epeier, Dulichier, Kephallenen, Aitolier und Akarnanen. 203 Od. 14,335 f. Dass der König Akastos die Zweifel der Befürworter der Leukas-Ithaka-Theorie nicht unbeschadet überstand, ist z. B. dem Namenregister der Artemis-Ausgabe der Odyssee (713) zu entnehmen: „Akastos, sonst nicht genannter König von Dulichion“ (bei den vielen anderen im Register auftauchenden Personen, die nur einmal im Epos vorkommen, steht nicht der zweifelnde Zusatz: „sonst nicht genannt“). 204 LEAF 158; mit Bezug auf Ilias 2,627 u. Od. 14,335 f. Also, „Meges was not king of Dulichion during the action of the Odyssey“ (LEAF 159), sondern er war über ein Jahrzehnt zuvor Heerführer der Dulichier vor

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Königswürde zwischen dem in der Ilias mehrfach genannten Meges205 und dem Akastos der Odyssee ist nicht stichhaltig, denn dass der dulichische Heerführer Meges auch König von Dulichion war, wird in den homerischen Epen nirgends gesagt; es ist zudem wenig wahrscheinlich, da in der Ilias als Vater des Meges der rüstige Phylos genannt wird, der aus Elis nach Dulichion emigriert war.206 Schon William Gladstone bemerkte treffend: „Meges, Sohn des Phyleus, Führer der dulichischen Epeier (Ilias II 625 ff.), gehörte nicht zu den Kriegern ersten Ranges … Auch war er nicht Mitglied der gewöhnlichen βουλή [Ratsversammlung der Könige vor Troja]“, und er ist „aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in die βασιλῆες [Gruppe der Könige] eingeschlossen“.207 Ein weiteres gilt es zu bedenken: selbst wenn Meges beim Aufmarsch vor Troja König der Dulichier gewesen wäre, könnte zur Zeit der Heimkehr des Odysseus, die ja erst zwei Jahrzehnte später erfolgte, durchaus ein anderer König auf Dulichion regiert haben, der den Namen Akastos trug. Zudem räumt Leaf selbst die Möglichkeit ein, dass Meges „had been killed at Troy or perished on the way home“,208 infolge dessen in Dulichion ohnehin ein anderer König geherrscht hätte. Abgesehen vom dulichischen Heerführer Meges und dem dulichischen König Akastos nennt die Odyssee noch einen weiteren prominenten Dulichier, nämlich Amphinomos, der als einer der Anführer der zahlreichen herrschaftlichen Freier der Penelope hervortrat.209 Das Epos stellt ihn als Sohn des Nisos und Enkel des „Herrschers (ἄναξ) Aretos“ vor.210 Indem Walter Leaf diesen Amphinomos als „prince“ bezeichnet und ihn somit zum Thronfolger bzw. künftigen König von Dulichion proklamiert,211 stiftet er nur noch mehr Konfusion über das Königsgeschlecht der Dulichier. Zwar hat schon in den homerischen Epen „das Substantiv ἄναξ die Bedeutung eines Titels angenommen“,212 aber „nur wirklichen Thronerben ist der Titel βασιλεύς verliehen“,213 den jedoch Amphinomos (ggf. im Gegensatz zu einem seiner Brüder bzw. Halbbrüder oder Vettern) nicht führt.214 Zudem wird von Amphinomos oder dessen Vater Nisos, die in der epischen Wirklichkeit als Zeitgenossen des dulichischen Königs Akastos infrage kommen, nicht gesagt, dass sie – wie deren Ahn Aretos – „Herrscher“ sind. Ja selbst wenn der

205 206 207 208 209 210 211 212 213

214

Troja (Ilias 2,627 verwendet das Verb ῾ηγεμόνεω „Anführer sein“, „ein Heer führen“; BENSELER 390). Auch William GLADSTONE (285) listet Meges nicht unter den Königen auf, die vor Troja kämpften. Ilias 2,627; 5,69; 13,692; 15,302; 19,239. Ilias 2,628 f.; vgl. 13,691 f. GLADSTONE 286 f. „Nur zu der nächtlichen βουλή des 10. Gesangs [der Ilias] wird er eingeladen“ (287). LEAF 159. Od. 16,394; als einer der Rädelsführer erscheint er auch 16,405 f.; 18,394 ff., 423 f.; 20,244 ff. Ansonsten wird Amphinomos genannt in 16,351; 18,119, 125; 22,89, 96. Od. 16,394 f. u. 18,412 f. LEAF 158. Aber selbst wenn der Vater von Nisos, Aretos, „statt Herrscher“, „König“ gewesen wäre, müsste Nisos nicht zwangsläufig der Kronprinz sein und folglich mit dem König Akastos der Odyssee kollidieren. GLADSTONE 87 (mit Verweis auf Ilias 16, 233); zum homerischen Titel anax s. GLADSTONE 86–101. GLADSTONE 87. „Der bei weitem grössere Theil selbst der Führer der einzelnen Contingente [vor Troja] waren zwar die ἄνακτες eines gewissen Stammes oder Territoriums, aber sie waren nicht βασιλῆες“ (GLADSTONE 281). So gab es „die localen Könige, von denen einige bedeutend genug waren, um wieder andere ἄνακτες unter sich zu haben“ (ders. 282). So erscheinen unter den Freiern der Penelope nur Antinoos und Eurymachos als βασιλῆες (Od. 18,64 f.).

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1. Die Ithaka-Antwort

„Herrscher (ἄναξ)“ Aretos, der wohl eher älter als Meges war, „König (βασιλεύς)“ von Dulichion gewesen wäre, könnte der Einwanderer-Sohn Meges unter ihm als Heerführer gedient haben.215 Und wenn Amphinomos, der ebensowenig wie sein Vater Nisos als Herrscher oder Prinz bezeichnet wird, tatsächlich Thronfolger bzw. König von Dulichion gewesen wäre, hätte Odysseus ihn wohl mit anderen Worten als den folgenden angesprochen: „Du hast doch auch einen Vater, ich höre als edel ihn rühmen, Nisos ist es aus Dulichion, reich begütert und tüchtig“.216 Die Angaben der Odyssee über die Vorfahren des dulichischen Freiers Amphinomos und deren Titel kollidieren also weder mit dem Heerführer Meges noch mit dem König Akastos. Deshalb gibt es weder stichhaltige genealogische Gründe noch andere Ungereimtheiten (wenn man nicht eine der gescheiterten Dulichion- bzw. Ithaka-Theorien als Basis der Kritik zugrunde legt),217 um das Dulichion der Ilias und das Dulichion der Odyssee als inkompatibel darzustellen. Indes, Walter Leaf gelangt zu einem anderen, d. h. seinem gewünschten Ergebnis: „The fact is as clear as the day that the poet of the Odyssey had never heard of Meges at Dulichion“; „and if it is necessary to choose between the Catalogue [Schiffskatalog der Ilias] and the Odyssey, I for one shall vote in favour of the Odyssey“.218 Mit dieser unnötig evozierten Alternative legitimiert Leaf, dass für die Rekonstruktion der homerischen Geographie der westgriechischen Inseln ausschließlich die Angaben der Odyssee über Dulichion zu berücksichtigen sind. Dagegen sind bei unbefangener Analyse, wie in der vorliegenden Studie dargelegt, die Angaben des Schiffskatalogs der Ilias über Dulichion durchaus mit denen der Odyssee vereinbar,219 und das gilt auch für die genannten dulichischen Adligen Akastos, Meges, Aretos, Nisos und Amphinomos. Lediglich aufgrund diverser unberechtigter Monita, die auf dem Fiktionsdogma der Analytiker oder unzutreffenden Ithaka-Theorien beruhen, erschien das homerische Dulichion unauffindbar, und deshalb resümiert Frank H. Stubbings in dem Werk ‚A Companion to Homer‘ verunsichert: „From such evidence it is difficult, if not impossible,

215 Dass Meges als Sohn „zeusgeliebten Rossebändigers Phyleus“ (Ilias 2,628) und somit dulichischer Immigrant bis zum Heerführer avancierte, ist nicht zu bezweifeln. So erhielt Antinoos sogar den Königstitel (Od. 18,64 f.; 24,179), obwohl sein Vater als verfolgter Asylant auf Ithaka eingetroffen war (16,417–430). 216 Od. 18,125 ff. 217 Da Walter LEAF seiner Untersuchung jedoch die Geographie der Leukas-Ithaka-Theorie zugrunde legt, findet er bei der homerischen Darstellung des Inselreichs Dulichion zahlreiche Fehler, wie z. B. folgende rhetorische Frage (159) indiziert: Warum fuhr Telemach von Ithaka nach Pylos (an der Westküste des Peloponnes) und Sparta, „to have some news“ über Odysseus, und nicht zu „his next-door neighbour“, den König von Dulichion (für LEAF der König der Insel Kephallenia!)? Die Konfusion ist also perfekt! 218 LEAF 159; und er fügt hinzu: „there is in fact an end of the credit of the Cataloguer“. Der Dichter des Schiffskatalog hat aber nur deshalb den Kredit verspielt, weil LEAF (161) zu eigenwilligen Ergebnissen kommt, z. B.: „And finally it appears that Homer Phyleus himself, the father [des dulichischen Heerführer Meges], is not an exile [so in Ilias 2,628]; for it is at Buprasion, in his own land of Elis”. 219 Abschließend sei erwähnt, dass Walter Leaf, der die Leukas-Ithaka-Theorie zu stützen sucht, bei der Beseitigung diverser Widersprüche sich derart verstrickt, dass er das homerische Seeräubervölkchen der Taphier, das aufgrund historischer Belege zweifellos im westgriechischen Inselbogen zu fixieren ist, gar in den nordwestgriechischen Inselraum versetzt und deren Hauptinsel „Taphos“ mit Kerkyra identifiziert (LEAF 175 f., 182), das in der vorliegenden Studie als homerisches Dulichion gedeutet wurde.

1.1 Der westgriechische Inselraum

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to identify Dulichion“.220 Indes, schon Friedrich Wilhelm Grotefend führt die Dulichion-Problematik „als Hauptbeleg für seinen Skepticismus“ in der Ithaka-Frage an.221 Da das homerische Dulichion jedoch in der geographischen Wirklichkeit wiederzufinden ist, stellt sich die nun zu lösende Frage nach dem homerischen Ithaka. 1.1.4 Das homerische Ithaka Die Thalassokratie der Dulichier umfasste, wie dargelegt, das große Kerkyra (samt den nordwestlich liegenden Eilanden Othonoi und den südöstlichen Paxoi) sowie die weiter entfernten winzigen Echinaden im Golf von Patras, die strategisch wertvoll waren. Folglich ist dem Inselreich der Kephallenen, das Odysseus beherrschte, die südliche Gruppe der westgriechischen Inseln zuzuweisen, also der konvexe Inselbogen, der sich von der ‚Fastinsel‘ Leukas über Kephallenia, Theaki (das heutige Ithaka) und Zakynthos zum nordwestlichen Peloponnes erstreckt. Diese Annahme bestätigt die detailliert beschriebene Heimreise des Odysseus-Sohnes Telemach: Da Telemach, der von der westpeloponnesischen Hafenstadt Pylos heimkehrte, die Küste von Elis nach Sonnenuntergang nordwestwärts passiert hatte und bereits vor Sonnenaufgang Ithaka erreichte,222 und antike Schiffe selbst unter günstigen Windbedingungen maximal 4–6 Knoten liefen,223 konnte Telemach innerhalb des genannten Zeitraumes nur ein Glied des westgriechischen Inselbogens erreicht haben, nicht aber die von Elis 160–270 km entfernten nordwestgriechischen Inseln (Kerkyra samt den Paxoi und Othonoi). Als Kandidaten für das homerische Ithaka, der Heimatinsel des Odysseus, kommen folglich nur die vier Glieder des westgriechischen Inselbogens in Betracht, nämlich Leukas, das heutige Ithaka, Kephallenia und Zakynthos. Innerhalb des Inselbogens ist Leukas jedoch ein morphologischer und kulturgeographischer Sonderfall, da es erst in nachhomerischer Zeit durch einen Kanal vom akarnanischen Festland getrennt wurde.224 Trotz des anthropogenen Kanals „blieb Leukas geschichtlich stets eine Halbinsel, ein Teil Akarnaniens“.225 So weisen Althistoriker darauf hin, „daß Homer und nach ihm, aber nicht durch ihn bestimmt, alle Schriftsteller des Altertums Leukas überhaupt nicht als Insel betrachtet haben“,226 und noch der neuzeitliche Ausdruck ‚Ionische Inseln‘ 220 221 222 223 224

STUBBINGS 403. NITZSCH I, Vorwort S.XIX.

Od. 15,293–300, 495 ff.; vgl. 21,343 ff. Es war eine lange Winternacht (Od. 5,465 ff., 485 ff.; 14,487 f.).

CASSON, Ships 288.

Den leukadischen „Isthmus durchstachen die Korinther, wohl bald nach der Gründung der Kolonie im 8. Jahrhundert vor Chr. Doch musste die Fahrtrinne immer wieder, so zwischen 167 und 150 vor Chr. und unter Augustus nach der Schlacht von Aktion 31 vor Chr., erneuert werden“ (KIRSTEN/KRAIKER 721). Die Untersuchung der Lagune von Leukas ergab, dass „im homerischen Zeitalter eine feste Landbrücke von 4 bis 5 km Breite zwischen Leukas und dem Festland“ bestand (LANG 14). Vgl.a. BERTELE/WACKER 29 ff. u. OBERHUMMER, Akarnanien 7 ff. 225 KIRSTEN/KRAIKER II 721. „Die Stadt Leukas war 230–167 v. Chr. sogar der Hauptort des Akarnanischen Staates“ (a. a. O.). 226 ENGEL 31 (mit Verweis auf Thukydides, Strabo, Livius, Ovid, Plinius und Plutarch). „Allen alten Schriftstellern, die Leukas überhaupt erwähnen, galt es als eine Halbinsel“ (ders. 33).

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1. Die Ithaka-Antwort

Leukas Arkoudi

Atokos

Theaki

Erissos

Paliki

Lixouri

Inselrumpf

LivadiGolf

Argostoli Vardiani Aenos-Massiv Lourda-Bai

Abb. 2: Die Inseln Kephallenia und Theaki

1.1 Der westgriechische Inselraum

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schließt Leukas aus.227 Zudem verlangt die epische Handlung, dass Ithaka eine allseits vom Meer umgebene Insel ist, denn Telemach benötigte dringend ein Schiff, um von seiner Heimatinsel Ithaka zum griechischen Festland zu gelangen.228 Auch setzt der zeitaufwendige Hinterhalt der Freier, die beim Eiland Asteris lauerten, unbedingt voraus, dass dem heimkehrenden Telemach der Landweg nicht als mögliche Alternative zur Verfügung stand.229 Leukas „kann also Ithaka nicht gewesen sein“.230 So bleiben für die Suche nach dem homerischen Ithaka nur die drei Inseln übrig, die „vollständig vom Festland gelöst sind“, nämlich Kephallenia, Theaki (das heutige Ithaka) und Zakynthos.231 Im Gegensatz zu Leukas sind diese Inseln dem Golf von Patras und somit auch dem nordwestlichen Peloponnes vorgelagert. Übereinstimmend mit diesem Befund weist das Epos darauf hin, dass Odysseus die „Inseln vor Elis“ beherrschte,232 also diejenigen Inseln, die der nordwest-peloponnesischen Landschaft Elis vorgelagert sind. Und ebenso setzt der Schiffskatalog der Ilias das Inselreich des Odysseus in diesen geographischen Kontext.233 Erwähnt sei zudem, dass die für die kephallenische Maultierzucht erforderlichen Stuten in Elis gehalten wurden,234 und dass die erzürnten Verwandten der getöteten kephallenischen Freier annahmen, Odysseus und Telemach würden zunächst zum gerenischen „Pylos“ fliehen „oder ins heilige Elis zum Herrschersitz der Epeier“ (beide Toponyme beziehen sich auf die Westküste des Peloponnes), um von dort Hilfe zur Verteidigung ihrer Königsherrschaft zu holen.235 Aber welche der drei dem nordwestlichen Peloponnes vorgelagerten Inseln ist das homerische Ithaka? Die Antwort gibt Odysseus selbst, indem er seine Heimatinsel folgendermaßen vorstellt: „Ich bewohne das weithin sichtbare Ithaka, gar herrlich ragt dort empor und rüttelt den Bergwald Neritons Gipfel“.236 Auch an anderen Stellen betont der Dichter, dass innerhalb des Inselraums vor allem Ithaka mit seinem hohen

227 PHILIPPSON/KIRSTEN II 418. – „Leukas war eben keine Insel, galt für keine Insel, ist noch heute keine Insel im strengen Sinne des Wortes“ (ENGEL 33). Deshalb sprechen Alfred PHILIPPSON und Ernst KIRSTEN (II 9) von der „Fastinsel“ Leukas. 228 Od. 2,212 ff., 382 ff., 4,634 f., 646 f. – Wäre Leukas das homerische Ithaka, wie v. a. Wilhelm DÖRPFELD annahm, hätte Telemach seine Heimat auch zu Fuß verlassen können: Noch „ums Jahr 400 v. Chr. war in Griechenland allgemein bekannt, dass zwischen Leukas und dem Festland eine Landenge, also eine Landverbindung bestand“ (LANG 8; mit Bezug auf Thuk. 3,81 u. 94; 4,8). 229 Od. 4,663–672, 842–847; 15,298 f., 16,346–372. 230 LANG 20; ders. (97–111) widerlegt detailliert Dörpfelds Leukas-Ithaka-Theorie. 231 NEUMANN/PARTSCH 130. 232 Od. 21,346 f. – Das heutige Ithaka (Theaki) liegt gewissermaßen zwar auch „vor Elis“, aber es befindet sich deutlich näher der mittelgriechischen Küste von Akarnanien. 233 „So werden Odysseus und seine Gefolgschaft, die Kephallenen, im Schiffskatalog der Ilias (II 615–638) nach den Leuten des Meges, der die gegenüber der Elis gelegenen Echinaden beherrscht, und vor den ebenfalls mit dem westgriechischen Raum verbundenen Ätolern genannt“ (SIEBERER 151). 234 Od. 4,634 ff.; vgl. Ilias 23,612. 235 Od. 24,430 ff.; vgl. 2,316 f. 236 Od. 9,21 f. „Für die gegebene Erklärung von ἐυδείελος [„sehr deutlich“ bzw. „leicht erkennbar“, weil „weithin sichtbar“] würde auch der Umstand sprechen, dass Odysseus bei der Schilderung seines Heimatlandes unmittelbar hinter diesem Wort [d. h. wenige Worte dahinter in Vers Od. 9,22], also gleichsam zur Erklärung, das Gebirge erwähnt“ (MICHAEL 20).

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Neriton-Gebirge237 „weithin sichtbar“ ist.238 Folglich denkt der Dichter bei Ithaka an die Insel Kephallenia,239 die mit dem 1.628 m hohen Aenos das weitaus höchste Gebirge aller westgriechischen Inseln besitzt. Es diente den antiken Seefahrern im Ionischen Meer zur Orientierung auf dem Seeweg von und nach Sizilien,240 da es aufgrund seiner enormen Höhe und Breite etwa 150 km weit sichtbar ist.241 Aber nicht nur vom offenen Meer her, auch vom Festland und Peloponnes aus ist Kephallenia beeindruckend. So bekamen z. B. Heinrich Rüter und Wilhelm Dörpfeld, als sie auf dem Landweg „das Kap Kalogria in Elis passiert hatten, in wunderbarer Färbung die ionischen Inseln zu Gesicht: links Zakynthos, geradeaus Kephallenia mit seinen gewaltigen Höhen und schönen Linien, dicht vor Kephallenia Thiaki [das heutige Ithaka] mit seinen niedrigen Bergen“.242 Nachdem Odysseus auf das weithin sichtbare Gebirge Ithakas hingewiesen hat, berichtet er weiter, seine Heimatinsel läge in dem von ihm beherrschten Inselreich der Kephallenen „am weitesten westlich, abseits liegen die anderen nach Osten und Süden“.243 Auch diese Angabe spricht für die Identität des homerischen Ithaka mit Kephallenia, denn innerhalb des westgriechischen Inselbogens liegt Kephallenia eindeutig am weitesten westlich, und die anderen Inseln liegen im Osten und Süden davon: im Osten bzw. Nordosten liegen Theaki (das heutige Ithaka) sowie die taphischen Eilande, und im Süden erstrecken sich Zakynthos sowie die winzigen Strophaden (knapp 50 km südlich Zakynthos). Nördlich von Kephallenia liegt zwar die heutige „Fastinsel“ Leukas,244 aber diese war zu homerischer Zeit ein Vorgebirge Akarnaniens,245 zumal der anthropogene Kanal noch nicht existierte. Deshalb befinden sich die (Voll-) Inseln des Archipels, wie in der Odyssee beschrieben, ausschließlich „östlich und südlich“ des homerischen Ithaka (Kephallenia). Der Bereich des westgriechischen Inselbogens weist ausgesprochen viele kleine Eilande auf, von denen heutzutage aber nur wenige ganzjährig bewohnt sind, so die 237 Ilias 2,632. Od. 13,351; (vgl. Od. 1,186; 3,81. Hom. h. 3,428). 238 Od. 2,167; 9,21; 13,212, 325; 14,344; 19,132. In der Odyssee tritt das Adjektiv ausschließlich in Verbindung mit dem Inselnamen Ithaka auf (nur nicht Od. 13,234, wo es sich aber auf Ithaka bezieht). 239 „This description clearly points to one island, and one alone – the modern Cephallenia“ (FRASER 225). 240 PARTSCH, Kephallenia 40. Vgl. WARNECKE, Lebensnerv 279 ff. 241 NEUMANN/PARTSCH 148, Anm.1. – So fragte u. a. Wido SIEBERER (156, Anm. 23) in Anbetracht der etablierten Ithaka-Theorie und der Leukas-Ithaka-Theorie, „warum das deutlich höhere und unbestritten besser sichtbare Kephallenia nicht als εὐδείελος bezeichnet wurde?“ 242 RÜTER 6; das Zitat fährt fort: „… weiter rechts Atakos und Oxia und dahinter Leukas“, und es waren die Höhen von Thiaki an Kephallenia angeschmiegt und wie damit verwachsen“. Auch „Dörpfeld freute sich über den Anblick; er hatte die Inseln noch nie so klar gesehen“. Seltsam ist nur, dass er angesichts dessen kein Zweifel an seiner Leukas-Ithaka-Theorie bekam. 243 Od. 9,25 f. „Die Bezeichnung der Lage von Ithaka ‚gegen Westen‘ wäre wohl die wichtigste geographische Angabe“ (BÜRCHNER, Ithake 2293,54 ff.). Auch die Worte der Göttin Athene, Ithaka liege „gar weit von Achaia“ entfernt (Od. 13,249), weisen die Insel als westlichste des Inselbogens aus, ebenso die Behauptung des Odysseus, er habe, von Westen kommend (Od. 10,25; vgl. 5,269 ff.), nach der Meeresüberquerung zuerst die Leuchtfeuer von Ithaka gesehen (Od. 10,29 f.). 244 PHILIPPSON/KIRSTEN II 9. Noch heute gehört Leukas zum „mittelgriechischen Festland“ (dies. II 561 f.). 245 Laut STRABON (X 2,8–10) ist Leukas das in Od. 24,378 erwähnte „Vorgebirge des Festlandes“ (ἀκτὴν ἠπειροίο). Auch LIVIUS (XXXIII 17,6) schreibt: „Leucadia nunc insula est“. Und noch auf mittelalterlichen Karten erscheint Leukas „überhaupt nicht als Insel, sondern als Vorgebirge des Festlandes“ (BELZNER 69).

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nordöstlich des kephallenischen Inselraums liegenden Inseln Meganisi, Kalamos und Kastos. Selbst wenn man die bedeutenden Inseln Kephallenia, Zakynthos und Theaki hinzuzählt, scheint damit nicht die Forderung der Odyssee erfüllt, die Heimat des Odysseus weise „viele bewohnte Inseln“ auf.246 Indes, v. a. im vergangenen Jahrhundert setzte auf fast allen griechischen Eilanden eine Abwanderung ein, wodurch diese zunehmend entvölkert wurden. So waren im westgriechischen Inselbogen noch bis in die Neuzeit hinein – außer den genannten sechs Inseln – auch Atokos und Arkoudi ganzjährig bewohnt, ferner die kleinen Klosterinseln Megalo Strophadi, Vardiani und Dia.247 Sogar von den „seventeen islands“ der winzigen Echinaden waren noch vor einem Jahrhundert „nine cultivated“ und sechs davon spärlich besiedelt.248 Von den insgesamt etwa 40 Inseln und Eilanden östlich und südlich von Kephallenia waren also noch in der Neuzeit über ein Dutzend bewohnt, und deshalb konnte Odysseus durchaus behaupten, dass es in seinem Heimatraum „viele bewohnte Inseln“ gibt. Und auf einen weiteren geographischen Aspekt sei hingewiesen: Wenn Odysseus sagt, seine Heimatinsel „liege im Meer am weitesten westlich“, könnte man einwenden, die dem nordwestgriechischen Festland unmittelbar vorgelagerte und außer Sichtweite Kephallenias liegende Insel Kerkyra befinde sich noch etwas weiter westlich. Aber dieses Argument greift in der Ithaka-Frage nicht, denn Kephallenia galt stets als „westlicher Eckpfeiler Griechenlands“,249 weil es diejenige westgriechische Insel ist, „die am weitesten vom Festland entfernt in das offene Ionische Meer vorspringt“.250 Und dementsprechend stellt der Geograph Alfred Philippson fest: „Kephallenia ist zwar nicht dem Meridian nach, aber nach der Lage zum Festland und zum Meer das westlichste Stück griechischen Landes“.251 Ohnehin geht die Diskussion, ob Kephallenia oder Kerkyra als westlichste Insel zu betrachten sei,252 am Problem vorbei, da Odysseus seine Inselheimat dem Volk der Phaiaken schildert, das in der Vorstellung des Dichters im nordwestgriechischen Raum zu lokalisieren ist,253 aber eben nicht auf Kerkyra, wie noch dargelegt wird. Und im nord246 Od. 9,22 f. 247 Kalamos ist 25 qkm groß, Meganisi 20 qkm und Kastos 6 qkm; Atokos und Arkoudi je knapp 5 qkm; Petalas 5,5 qkm, Oxia 4 qkm und Drakonera 2,5 qkm; Megalo Strophadi 1,5 qkm (mit außerordentlich mächtiger Klosterfestung), Vardiani 0,5 qkm und Dia wenige Hektar. Um hier nicht für jede Insel weitere Belege vorzulegen, sei auf das Internet (Wikipedia) verwiesen. 248 LEAF 164 f. Auf Petala (mit „San Nicolo chapel“), Vromona, Oxia, Makri, Dragonera und Provati lebten v. a. Schäfer in wenigen Häusern und Hütten (a. a. O.). Im Altertum waren die Echinaden ebenfalls kaum besiedelt (Thuk. II 102,3. Skyl. 34). – Bemerkenswert ist, dass noch heute ein Teil der Echinaden, obwohl sie der akarnanischen Küste vorgelagert sind, zum kephallenischen Dimos Pylaros gehören. 249 PARTSCH, Kephallenia 23. – Immerhin veranlasste die Tatsache, dass Kerkyra geringfügig westlicher liegt als Kephallenia, LEUTZ-SPITTA (288 ff.) zur Kerkyra-Ithaka-Theorie. Später plädierten für Kerkyra u. a. auch Richard HENNIG (Geographie 85 ff.) und P. B. D. ANDREWS (17 ff.). 250 PHILIPPSON/KIRSTEN II 504. „In der Gruppe der Jonischen Inseln … erscheint uns Kephalonia am weitesten nach Westen vorgeschoben“ (WIEBEL 7). 251 PHILIPPSON/KIRSTEN II 504. Für die Alten Griechen kennzeichnete die Richtung des Sonnenuntergangs den Westen, und so sei darauf hingewiesen, dass zumindest zur Zeit der Wintersonnenwende die Sonne auf Kerkyra eher untergeht als auf Kephallenia (a. a. O.). 252 Darauf basiert FRASERs Ithaka-Hypothese, derzufolge das homerische Ithaka Kerkyra sei. 253 Denn das Schiff verließ bei Sonnenuntergang das Phaiakenland und traf während der Morgenröte auf Ithaka ein (Od. 13,35, 94). Da die Phaiaken, die Odysseus heimbrachten, aufgrund des plötzlich auftre-

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westgriechischen Phaiakenland wäre der Bezugsrahmen der Aussage des Odysseus sicherlich nicht die gesamte westgriechische Inselflur gewesen, sondern nur der von den Kephallenen beherrschte westgriechische Inselbogen. Und in diesem überschaubaren Archipel ist Kephallenia zweifellos die westlichste Insel. Dies veranlasste Rudolf Hercher zu der sarkastischen Aussage, dass, selbst wenn (der angeblich blinde) Homer „nur mit halbem Auge hingesehen hätte, er die Lage der beiden Inseln [Kephallenia und Theaki/ Ithaka] zu einander auf keinen Fall verwechselt haben würde“,254 woraufhin Heinrich Rüter verunsichert fragte: „Ist also vielleicht Kephallenia das homerische Ithaka?“255 Festzuhalten bleibt, dass die Aussage des Odysseus, wonach das homerische Ithaka sowohl die höchste als auch die westlichste Insel des der Westküste Mittelgriechenlands vorgelagerten Archipels ist, zwingend für die Insel Kephallenia spricht, die erst in nachhomerischer Zeit diesen Namen erhielt.256 Und weil Odysseus in den homerischen Epen als König des Inselvolks der Kephallenen auftritt,257 dürfte diese Identifizierung seiner Heimatinsel niemanden verwundern. 1.1.5 Die Lösung der Ithaka-Frage Wie dargelegt, lässt sich unter Berücksichtigung der geographisch relevanten Angaben der Ilias und Odyssee die Insel des Odysseus widerspruchsfrei und ungezwungen lokalisieren.258 Umso unverständlicher erscheint es, dass die Suche nach dem homerischen Ithaka bislang gescheitert ist. Das lag aber nicht allein an dogmatisch verhärteten Forschern, die dieses oder jenes Eiland rücksichtslos als die Heimat des Odysseus auswiesen,259 sondern auch an verdienten Altphilologen, die zu keiner gültigen Interpretation derjenigen Verse fanden, die zu Beginn des 9. Gesangs der Odyssee das Inselreich der Kephallenen beschreiben. So klagte schon vor über einem Jahrhundert Carl Robert: „Die Verse, in denen Odysseus den Phaeaken seine Heimat beschreibt, sind in den letzten Jahren so oft und so ausführlich besprochen worden, daß man einem sollte, neues ließe sich darüber überhaupt nicht mehr sagen, und daß, wer doch noch einmal auf sie zurückkommt, vor allem den Überdruß der Leser zu fürchten hat“.260

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tendenen Scirocco-Nebels (Od. 13,189 f.) anscheinend mit Südwestwind nach Scheria heimkehrten, ist deren Hafenstadt im nordwestgriechen Küstenraum anzusetzen, aber nicht auf der vorgelagerten Insel Kerkyra (s. S. 346 ff.). HERCHER 264. RÜTER 37. Den Inselnamen Kephallenia nennt erstmals HERODOT (9,28). Ilias 2,631; 4,329 f.; Od. 20,209 f.; 24,355, 378, 429. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass dem Odysseus nicht nur in der Ilias (2,625 ff.), sondern „auch in der Odyssee eine solche Insel wie Dulichion nicht unumstritten zu gehören scheint“ (VISSER 598), worauf in der vorliegenden Studie noch eingegangen wird. Man denke u. a. an die vielbeachtete Studie von Samuel BUTLER, der die Inselheimat des Odysseus auf die Ägadischen Inseln vor der Westspitze Siziliens verlegt (vgl. u. Anm. 295), was Lewis POCOCK (siehe dessen Vorwort in: ‚The Sicilian Origin of the Odyssey‘) als „the most important discovery in the whole history of Homeric scholarship“ bezeichnet. ROBERT 632.

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Dem ist entgegen zu halten, dass zahlreiche Probleme sowohl in den Geistes- als auch in den Naturwissenschaften erst nach vielen Versuchen und Fehlschlägen zu überzeugenden Lösungen führten, und das ist Grund genug, vor einer erneuten historisch-geographischen Untersuchung des Ithaka-Problems nicht zurückzuschrecken. Die vieldiskutierten Verse,261 die nachfolgend analysiert werden, sind m. E. so zu übersetzen: Ich bin Odysseus, der Sohn des Laertes; von all meinen Listen singen und sagen die Menschen: Es dringt mein Ruhm bis zum Himmel. Ich bewohne das weithin sichtbare Ithaka; gar herrlich ragt dort empor und rüttelt den Bergwald Neritons Gipfel. Beidseits [von Ithaka] liegen noch viele bewohnte Inseln dicht beieinander, Dulichion und Same und das waldige Zakynthos. Es selbst [Ithaka] wurzelt tief am [Meeres-]Boden und liegt am höchsten [weitesten]im Meer nach Westen, abseits liegen die anderen nach Osten und Süden; es ist zwar rauh, doch nährt es treffliche Jugend.

In einer der beiden maßgeblichen Odyssee-Handschriften (Harleianus)262 fehlt im 9. Gesang jedoch der Vers 24, nämlich der Formelvers „Dulichion und Same und das waldige Zakynthos“, der in anderen odysseeischen Gesängen wiederholt auftaucht.263 Und der renommierte Altphilologe Carl Robert hebt hervor: Vers 9,24 „ist ohne Zweifel für das π [den 16. Gesang, Vers 122] gedichtet und aus diesem an den anderen Stellen entlehnt“.264 So wurde der Vers in den 9. Gesang unpassend interpoliert: Denn „der stilistische Schnitzer liegt darin, daß als Apposition zu νῆσοι πολλαὶ [viele Inseln] nur drei Inseln genannt werden. Das ist absolut unhomerisch. Es ist aber auch unlogisch, denn mindestens müßte hinzugefügt werden: ‚und noch viele andere‘, womit zwar auch nicht dem homerischen Sprachgebrauch, aber doch der Logik Genüge geschehen wäre“.265 Und Carl Robert beendet seine Ausführung mit den Worten: „Auch sachlich läßt sich diese Athetese begründen: Denn es wäre doch absurd, wenn Odysseus, um die unbekannte Lage des unbekannten Ithaka zu veranschaulichen, den Phaeaken drei ihnen nicht minder unbekannte Inseln nennen würde“.266 261 „Die Lage von Ithaka wird in Worten, die vielfach gedeutet worden sind, angegeben in Od. 9,21–27“ (BÜRCHNER, Ithake 2293,17 f.). Die Identität des homerischen Ithaka „war bestritten, sowohl im Altertum wie heute, wie die Erklärungsversuche der Hauptstelle dafür Od. IX, 21 bis 26 zeigen“ (OBERHUMMER, Ithaka 4). 262 „Was von Odysseescholien in das Mittelalter gerettet wurde, ist am besten erhalten in zwei Handschriften des 13. Jahrhunderts, Harleianus 5674 des Britischen Museums (H) und Venetus 613 (M)“ (SCHMID /STÄHLIN 170). 263 Od. 1,246; (9,24); 16,123; 19,131. Zwar „erscheinen auch hier die drei Namen als Apposition zu νήσοισιν, aber mit einem sehr wesentlichen Unterschied, durch den die Inkorrektheit der Verwendung im 9. Gesang erst recht grell hervortritt; denn an allen drei Stellen werden eben die νῆσοι nicht als πολλαὶ bezeichnet“ (ROBERT 633). 264 ROBERT 632 f. U. a. meint auch Emil HERKENRATH (1236), dass der Vers „nur im π ursprünglich sein kann“ und somit der Vers „ι 24 ist aus π 123 interpoliert“, während Friedrich BLASS (110) die Verse Od. 9,1–27 mit den Worten kommentiert: „Zu streichen ist nichts“. 265 ROBERT 632. – Also „es geht nicht an, auf πολλαὶ νῆσοι als Erläuterung nur drei Namen folgen zu lassen; dann aber ist auch noch dem Gesamtsinn und Zusammenhang der Stelle hier keine realistische Schilderung mit Ortsnamen zu erwarten“ (HERKENRATH 1236). 266 ROBERT 632. Zudem sagt er bzgl. des Verses Od. 9,23: „Ich möchte sogar soweit gehen, zu behaupten, daß sich ein solcher Gebrauch der Apposition überhaupt in keiner halbwegs kultivierten Sprache findet“.

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Aus den genannten Gründen ist der Odysseevers 9,24 zu athetieren, und infolgedessen muss die in dem Vers genannte Insel Dulichion, die v. a. dem Schiffskatalog der Ilias zufolge das Zentrum des eigenständigen Inselvolks der Dulichier bildet und keineswegs zum Inselreich der Kephallenen gehörte,267 nicht unbedingt „südlich und östlich“ von Ithaka liegen (Vers 26). Zwar bleibt von der Athetese des Verses 9,24 die dichterische Vorstellung unberührt, dass die drei oft genannten Inseln Dulichion, Same und Zakynthos den westgriechischen Inseln zuzuordnen sind, aber durch den philologischen Befund steht der bereits erfolgten Identifizierung des homerischen Dulichion mit Kerkyra, das in nördlicher Richtung von Ithaka (Kephallenia) liegt, nichts entgegen. Trotz der allgemein akzeptierten Erkenntnis, dass der Vers „Dulichion und Same und das waldige Zakynthos“ im 9. Gesang zu streichen ist,268 galt das Ithaka-Problem als geographisch kaum lösbar, weil die betreffenden Verse angeblich widersprüchliche Angaben über die Topographie Ithakas sowie über die Raumbezüge der umliegenden Inseln enthalten. Diese Malaise brachte schon vor über einem Jahrhundert Carl Robert auf den Punkt: Die Verse 9,21 ff., in denen Odysseus den Zuhörern sein Inselreich vorstellt, enthalten „erstens einen groben stilistischen Schnitzer [Vers 24, der interpoliert ist] und zweitens einen krassen Widerspruch oder vielmehr einen doppelten krassen Widerspruch … Die beiden Widersprüche liegen aber darin, daß 1) Ithaka nach Vers 22 f. von vielen dicht gedrängten Inseln umgeben sein soll, während es nach Vers 25 f. isoliert in beträchtlicher Entfernung von den anderen nach Norden oder Westen hin im offenen Meer liegt, und daß es 2) nach Vers 21 f. einen hohen weithin sichtbaren Berg hat, während es nach Vers 25 flach und eben ist. Keine methodische Exegese hat bisher die Widersprüche zu beseitigen vermocht, auf die verwegenen Versuche aber, … um Sinn in den Unsinn zu bringen, brauche ich hier nicht einzugehen, da Grammatik und Sprachgebrauch gleichermaßen energisch Protest dagegen erheben“.269 Unsinnig sind die Verse keineswegs, auch enthalten sie keine geographisch „falsche Orientierung“,270 wie oft behauptet wird, sie wurden bislang nur nicht angemessen übersetzt, weil zu viele Altphilologen die Heimat des Odysseus ebenso voreilig wie unnötig ins Reich der Phantasie versetzen.271 Und diese Fiktionsthese erhob die Ho267 Ilias 2,625 ff. Auch die Odyssee bietet keinen Beleg, dass Dulichion zum Inselreich der Kephallenen gehört. 268 So steht im RE-Artikel über Ithaka (BÜRCHNER, Ithake 2293,48 f.): Der Formelvers ist „an dieser Stelle zu athetieren“. Schon Gregor Wilhelm NITZSCH (III 10) sprach von dem „sehr naheliegenden Verdacht“, „dass der 24ste Vers mit den Inselnamen einem Interpolator angehöre“. – Auch Wilhelm „Dörpfeld hat nichts dagegen, wenn Vers [Od. 9,] 24 gestrichen wird“ (RÜTER 37), v. a. weil das homerische Dulichion für die Leukas-Ithaka-Theorie besonders problematisch ist, worauf noch eingegangen wird. 269 ROBERT 632 f. 270 „Die Gelehrten sind allmählich darüber einig, dass die Verse in ι [Odyssee, 9. Gesang] eine falsche Orientierung enthalten“ (LANG 26). Aber schon Joseph Partsch (Kephallenia 56) gab zu bedenken: „Zunächst verdient die Vorfrage Erwägung, ob überhaupt richtige oder falsche Orientierung ein entscheidender Prüfstein ist für das Vorhandensein oder den Mangel der Autopsie. Das wird niemand zu behaupten wagen“. 271 Beispielhaft ist Dietrich MÜLDERs (Ithaka 23) Urteil über die Verse Od. 9,20 ff., in denen Odysseus seine Inselheimat vorstellt: „Das ist natürlich keine Autopsie, aber es ist dichterische Abfindung mit der Wirklichkeit, Umgestaltung des Materiellen zum Ideellen, Abbild des unvollkommenen Materiellen im Spiegel der Phantasie“.

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merphilologie seit einem Jahrhundert zu einem unantastbaren Dogma. So hätten, wie z. B. schon Dietrich Mülder mahnt, die Angaben des Dichters, „mögen sie auch noch so geographisch aussehen und mögen sie zünftige Geographen auch noch so reizen, dichterischen Zweck“.272 Jedoch ist es nun an der Zeit, die interdisziplinäre Deutungshoheit über die homerischen Epen zu gewinnen, zumal an der Ithaka-Frage und bei der Interpretation der Irrfahrterzählung nicht allein geographisch interessierte Homerforscher gescheitert sind, sondern auch gestandene Philologen,273 wie in der vorliegenden Studie hinreichend dargelegt wird. (Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den philologischen Streitigkeiten über die Odysseeverse 9,21–26 erfolgt im Kapitel „Der Deutsche Krieg um Ithaka“ im Anhang des vorliegenden Buches). Der erste vermeintliche Widerspruch, dass Ithaka innerhalb des Archipels „am weitesten westlich“ liegt (Vers 9,25 f.) und somit am äußersten (westlichen) Rand des Inselreichs, jedoch nach Vers 9,22 f. angeblich im Zentrum des Inselreichs platziert ist, weil es u. a. laut Carl Robert „von vielen dicht gedrängten Inseln umgeben“ sei, bzw. der Dichter sich Ithaka als „von einem Kranz von Inseln umgeben vorstellt“,274 beruht auf der misslichen Deutung des Wortes amphi (ἀμφί) im Vers 22. Auch die meisten anderen Übersetzer dieser Odysseestelle bieten ähnlich lautende Formulierungen („herum“, „ringsum“, „rings herum“, „rings umher“, „im Umkreis“, „around“ und „round about“),275 obwohl der Dichter in dem Vers nicht von peri (περί; „ringsum“) oder amphi peri (ἀμφὶ περὶ) spricht,276 sondern bloß von amphi, und das ist keineswegs mit Worten wie „im Umkreis“ und „ringsum“ zu übersetzten, welche die Bedeutung von amphi unzulässig überreizen und suggerieren, Ithaka sei von einem Kranz von Inseln umgeben. So stellt u. a. Hjalmar Frisk (Griechisches Etymologisches Wörterbuch) fest: „ἀμφί, eigentlich zu beiden Seiten“, bedeutet „nicht eine völlige Umschließung“, und „noch we-

272 MÜLDER, Ithaka 23. Die Spitze gegen „zünftige Geographen“ dürfte sich v. a. gegen den renommierten Geographen Joseph PARTSCH richten, der indes auch Althistoriker war. 273 „Zu oft haben sich die Kriterien für analytische Scheidungen als arbiträr erwiesen“ (GRETHLEIN, Die Odyssee 240). „Die Analyse [der sog. „Analytiker“] spielt zwar keine große Rolle mehr, wird aber noch von einzelnen , teilweise namhaften Gelehrten betrieben“ (ders. 25). „Neue Konzepte der Präsenz, Erfahrung und Materialität zeugen von einem breiten Unbehagen in den Geistes- und Kulturwissenschaften, im fensterlosen Gefängnis der Sprache eingesperrt zu werden. Eine Welle von neuen ‚Romantikern‘ treibt die Sehnsucht nach Wirklichkeit um“ (ders. 281). 274 ROBERT 633. 275 VOSS (Odyssee 100), PARTSCH (Kephallenia 56) und HAMPE (134; Reclam-Ausgabe) übersetzen amphi in Od. 9,22 mit „ringsum“, ebenso SEECK (266) „rings um“ und HANKE (III 85) mit „rings herum“ sowie SCHREIBER (17) „rings umher“. WEIHER (227) bietet „im Umkreis“ und BELZNER (8) übersetzt: „Dort herum liegen viele Inseln“. LEAF (140) interpretiert „around“, und ALLEN (84) „Round about Ithaca“. 276 Wenn zwei der vier Kardinalrichtungen hervorgehoben werden, taucht in den homerischen Epen ἀμφὶπερι auf: Dem Herakles „hing um die Brust das Wehrgehänge“ (Od. 11,609), nämlich Bogen und Köcher, die Herakles beidseits (ἀμφί) trägt, nämlich vor der Brust und auf dem Rücken; indes hielt der verzierte goldene Riemen (den der folgende Vers 11,610 hervorhebt) die beidseitigen Waffenteile zusammen, und so umschließt das Wehrgehänge den Körper des Helden allseits (deshalb: ἀμφὶ περὶ). Oder man denke an folgende Verse der Ilias (21,9 f.): „Es rauschten die reißenden Fluten“ des Flusses, „laut aber hallten die Ufer rund-um“. Die Ufer des Flusses sind nur beidseits des Flusses, dennoch rauscht das Wasser rundherum (also: ἀμφὶ περὶ).

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niger eine ‚kreisförmige‘, welche der Etymologie nach dem Wort ganz fremd ist“.277 Die Grundbedeutung des Wortes amphi (ἀμφί) lautet also „zu beiden Seiten“,278 und dieser eigentliche Wortsinn ging im Sprachschatz nie verloren.279 Der Odysseedichter äußert sich demnach über Ithaka wie folgt: „Zu beiden Seiten liegen viele bewohnte Inseln“.280 Odysseus sagt in den Versen 9,22–23 also gar nicht, die Inseln der Kephallenen lägen um Ithaka herum, im Sinne einer kreis- oder kranzförmigen Umschließung, sondern er meint, sie liegen „beidseits“ seiner Heimatinsel, also in zwei Richtungen von Ithaka, wobei man nicht an entgegengesetzte Richtungen denken muss. Und diese beiden Himmelsrichtungen werden sogleich im Vers 26 spezifiziert, demzufolge die Inseln der Kephallenen „im Osten und Süden“ von Ithaka liegen.281 Diese Bedingung erfüllt im westgriechischen Inselbogen einzig Kephallenia, von dem aus Theaki (das heutige Ithaka) und einige Eilande im Osten liegen, und die anderen, nämlich Zakynthos und die Strophaden, im Süden (das nördlich von Kephallenia liegende Leukas galt zu homerischer Zeit als Festlandshalbinsel Akarnaniens!).282 Überdies harmoniert die Aussage des Odysseus, die von ihm beherrschten Inseln lägen „beidseits“ (amphi) von Ithaka, durchaus mit der Angabe, Ithaka liege „am weitesten westlich“.283 So ist die Insel Kephallenia das eindeutig westlichste Glied des westgriechischen Inselbogens, und westlich von ihr erstreckt sich bis Sizilien nur noch das weite, inselleere Ionische Meer. Um einer voreiligen Kritik an dieser Deutung vorzubeugen, sei schon hier kurz darauf hingewiesen, dass die unpräzisen Übersetzungen von amphi zu Beginn des 9. Gesangs als „rundherum“ u.dgl. keineswegs durch den Odysseevers 355 im 24. Gesang gestützt wird, wo der Freiermord „überall in den Städten der Kephallenen gemeldet“ 277 FRISK (I 46). „Altererbtes Adverb (idg. ambhi), u. a. mit lat. amb(i) identisch” (ders. I 98). – Auch „when the friends of Polyphemos are described as living ‚around‘ [ἀμφί] him on windy heights (Od. 9,399), the meaning is not that they encircle him but that they live nearby“ (DIGGLE 520). Und als „Odysseus vom Kyklopenabenteuer zurückkehrt, findet er die Schiffe so, wie er sie verlassen (vergl. ι 136–151); auf dem Strand gelaufen und von den Gefährten heißt es: ἀμφί [Od. 9,544] … ‚Rings (um die Schiffe herum) saßen die Gefährten‘ kann der Sinn nicht sein, denn vor den Schiffen auf der Seeseite ist kein Platz zum lagern“, und vor der Bugspitze werden sie auch nicht gesessen haben, sondern auf dem Strand beidseits des Schiffsrumpfs (BELZNER 11). 278 BENSELER 46. Auch „bei Hesiod Sc. 172 auf beiden Seiten, s. ἀμφίς“ (PAPE I 125). 279 So leben z. B. Amphibien nicht „rundherum“, d. h. nicht im Wasser, unter und auf der Erde sowie in der Luft, sondern nur „beidseits“, nämlich zu Wasser und auf dem Lande. Und das Amphitheater heißt nicht so, weil manche die Bühne kreisrund umschließen, sondern weil man die Bühne unter Wasser setzen und somit das Theater zweifach nutzen konnte, z. B. für Seeschlachten (vgl. Sonnabend 28 f.). 280 MICHAEL 5. Also „wörtlich ‚zu beiden Seiten‘ von Ithaka liegt ein Inselkomplex“ (GOESSLER 36). 281 „Abseits liegen die andern nach Osten und Süden“ (WEIHER, Artemis-Ausgabe); ebenso A. T. MURRAY (Loeb-Edition): „but the others lie apart toward Dawn and the sun“. In etlichen Übersetzungen wird jedoch die im Vers Od. 9,26 genannte Himmelsrichtung „Süden“ unterschlagen; z. B. bei Karl VÖLKL (65), obwohl er Kephallenia als das homerische Ithaka favorisiert: „Die anderen Inseln aber liegen seitwärts gegen Osten“. 282 Die Korinther, „in the reign of Cypselus (655–625 B. C.), ‚dug a canal through the isthmus of the peninsula and made Leucas an island‘ (Strabo 10. 2. 8). Other ancient writers agree with Strabo in speaking of Leucas as a peninsula (Scholiast on Odyssey, 24. 376; Plutarch, De sera numinis vindicta, 7. 552 E; Pliny, Nat. Hist. 4. 2“ (JONES V 523). 283 Od. 9,26.

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wird; und auch der Vers 65 im 2. Gesang, der von den um Ithaka rundherum wohnenden Leuten erzählt, trägt zur Interpretation des Wortes amphi im 9. Gesang (Vers 22) nichts bei,284 zumal in den beiden genannten Stellen des 2. und 24. Gesangs das Wort amphi nicht erscheint (die Stellen werden auf S. 123 f. geklärt). Es bleibt also festzuhalten, dass aufgrund der Äußerung des Odysseus zu Beginn des 9. Gesangs die Inseln des Kephallenenreichs nicht „rundherum“ um das homerische Ithaka liegen, sondern ausschließlich im Süden und Osten. Zudem sei daran erinnert, dass der interpolierte Formelvers 9,24 unbestritten zu athetieren ist. Deshalb kann die Insel Dulichion, die der Ilias zufolge eindeutig nicht zum Reich des Odysseus gehört, sich durchaus nördlich des homerischen Ithaka befinden, oder gar, wie die außer Sichtweite Kephallenias liegende Insel Kerkyra, nordnordwestlich. Auch den angeblich zweiten „krassen Widerspruch“, den Carl Robert moniert, nämlich dass Ithaka „nach Vers 21 f. einen hohen weithin sichtbaren Berg hat, während es nach Vers 25 flach und eben ist“, gilt es zu klären. Als Odysseus sich bei den Phaiaken vorstellt, nennt er seine Heimatinsel „Ithaka“, die aufgrund ihres hochaufragenden Berges „Neriton“ weithin sichtbar sei.285 Danach weist er auf die benachbarten Inseln hin, und sodann spricht er über Ithaka, für das er zunächst das Adjektiv chthamalos (χθαμαλός) verwendet,286 welches meist mit Worten wie „eben,“ „flach“ und „niedrig“ übersetzt wird.287 Aber die übliche Deutung von chthamalos ist beim Vers 9,25 unverständlich bzw. gar widersprüchlich, denn „der Dichter kann doch nicht eine Insel, die er eben weithin sichtbar und deren Hauptberg er in die Augen fallend genannt hat, als ‚niedrig‘ bezeichnen. Außerdem ist keine der ionischen Inseln niedrig“,288 was jedoch die Analytiker kaum interessiert, weil sie ein weitgehend imaginäres homerisches Ithaka annehmen. Wenn der Dichter keinen Unsinn erzählt, wovon zunächst auszugehen ist, kann das störend erscheinende Wort sich unmöglich auf die vertikale Höhe der Insel beziehen, und zwar unabhängig davon, ob Ithaka in der geographischen Wirklichkeit oder in der Märchenwelt zu lokalisieren ist. Eben weil sich der Dichter sonst innerhalb der Verse 9,21–25 tatsächlich widersprechen würde. „Um diesen Widersinn zu beseitigen und die Richtigkeit der Angaben Homers zu retten, hat man einen Ausweg gesucht, indem man sagte, χθαμαλὴ bedeute an dieser Stelle nicht wie sonst ‚niedrig‘, sondern ‚nahe dem Festlande‘. Strabo findet diese Erklärung ‚nicht übel‘“. Aber „dass diese lediglich für diesen Vers gesuchte Bedeutung nicht richtig ist, beweist uns eine andere Stelle im Epos“: Dort wird im zehnten Gesang auch die Aiaia genannte Insel der Kirke als chtamalos be284 U. a. meint Gustav LANG (27) , dass der Vers Od. 2,65 „also in Übereinstimmung mit ι 22 [d. h. mit dem ἀμφί in Vers 9,22]“ steht, wo das homerische Ithaka „in der Mitte des Reiches des Odysseus liegend gedacht“ ist. 285 „Ich bewohne das weihin sichtbare Ithaka; gar herrlich ragt dort und rüttelt den Wald Neritons Gipfel“ (Od. 9,21 f.). 286 Od. 9,25. (χθαμαλός steht zudem in Odyssee 9,25; 10,196; 11, 194; 12,101 und in Ilias 13,683). 287 BENSELER 987: „χθαμαλός, (χαμαί, lat. humilis), an der Erde, daher niedrig, flach“. Aber LSJ The online LIDDELL-SCOTT-JONES: χθαμαλός: „of Ithaka … dub. sens. in Od. 9,25“. 288 GOESSLER 34 f. Vgl.a. OBERHUMMER (Ithaka 12) und MÜLDER (Ithaka 29).

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1. Die Ithaka-Antwort

zeichnet,289 und deren Insel ist ausdrücklich von einer „unermesslichen Meeresfläche umgeben, also fern von jeder anderen Küste“.290 Unter Berücksichtung der Worte ein hali keitai (εἰν ἁλι κεῖται) am Ende des problematisch erscheinenden Verses 9,25, übersetzen auch neuzeitliche Philologen den vollständigen Terminus wie folgt: Ithaka „liegt niedrig im Meer“.291 Aufgrund der genannten Odysseestelle, in der das seltene Adjektiv chthamalos auch die Insel Aiaia charakterisiert, die „vom endlosen Meere umgeben“ ist, stellt sich also gar nicht die Frage, ob mit dem Ausdruck, Ithaka liege „niedrig im Meer“ (und nicht „im niedrigen Meer“, wie v. a. die Befürworter der Leukas-Ithaka-Theorie behaupten)292 eine Insellage nahe der Küste gemeint ist. ‚Niedrig im Meer‘ entspricht nämlich unserem Ausdruck ‚tief im Meer‘, der in der horizontalen Bedeutung v. a. für Inseln üblich ist. Der Odysseedichter will also sagen, Ithaka liegt von den „Inseln vor Elis tief im Meer und am weitesten westlich“293 – womit ausschließlich Kephallenia gemeint sein kann.294 Wenn diese Lösung des chthamalos-Problems zutrifft, dann bedeutet, wie u. a. der Literaturwissenschaftler Eduard Engel schrieb, „die Stelle Odyssee IX, 25 gar nicht die Niedrigkeit der Insel Ithaka an sich, sondern … die Lage Ithakas ‚im Meere‘, wie ja Homer ausdrücklich hinzufügt“.295 Indes, „die Erklärung der Worte χθαμαλὴ … εἰν ἁλὶ κεῖται als ‚niedrig im Meer‘ ist viel umstritten“, und nicht nur wegen der Frage, ob der Terminus nahe oder fern der Küste bedeutet, sondern weil unmittelbar hinter chthamalê (χθαμαλὴ) das Wort panypertatê (πανυπερτάτη) steht. Also indem viele Übersetzer „χθαμαλὴ sehr eng mit κεῖται εἰν ἁλὶ“ verbinden, werden „getrennte Ausdrücke in gezwungener Weise verbunden und unmittelbar nebeneinander stehende Ausdrücke, die in ihrer Verbindung eine ungezwungene Deutung zulassen [gemeint sind die aufeinanderfolgenden Worte πανυπερτάτη εἰν ἁλὶ κεῖται], willkürlich getrennt“.296 Doch bevor der Ausdruck panypertatê ein hali keitai übersetzt werden kann, ist zuvor die Bedeutung von panypertatos zu klären: „Das Wort πανυπερτάτη kommt nur an dieser Stelle vor, während das einfache ὑπέρτατος M 38 [Ilias 12,38] und Ψ 451 [Ilias 23,451] im Sinne 289 Od. 10,196. 290 MICHAEL 7 f. (mit Bezug auf Od. 10,195). Diese Odyssee-Stelle behandelt ausführlich Carl SCHREIBER (11 ff.). 291 So liegt diese Deutung z. B. der Übersetzung (Tusculum-Ausgabe der Odyssee) von Anton WEIHER (227) zugrunde: Ithaka liegt „niedrig im Meer und am weitesten westlich“. 292 Für die Deutung „nahe am Festland“ votierten besonders Wilhelm DÖRPFELD (Alt-Ithaka 20, 77, 81 f.) und schon lange zuvor Karl VÖLCKER (47): „nah am festen Lande“. „Diese Übersetzung, die besonders im Neugriechischen ihre Analogie hat, ist von Wilamowitz (Sitzung d. Arch. Ges. Berlin Jan. 1903) u. a. zurückgewiesen worden“ (LANG 99). 293 Od. 21,346 kombiniert mit 9,25 f. – Und „durch die φ – Stelle [Od. 21,346 f.] wird zugleich die ι – Stelle [Od. 9,25 f.] dahin genauer bestimmt, daß die Hauptmasse jener Inseln … der Küste von Elis gegenüber (also westlich davon [präziser: nordwestlich!]) zu denken sind, während Ithaka für den in dieser Richtung Weiterfahrenden den äußersten [westlichsten: Od. 9,25 f.] Posten bedeutet“ (BELZNER 9 f.). 294 Damit ist auch der Einwand von Wido SIEBERER (156) hinfällig: Zwar „paßt das ‚gut sichtbar‘ und ‚der stark ins Auge fallende‘ Berg Neritos gut auf das bis zu 1600 Meter hohe Kephallenia. Dagegen spricht aber, daß das in der Odyssee ebenfalls auf Ithaka bezogene χθαμαλὴ – von Weiher und Schadewaldt mit ‚niedrig‘ übersetzt – nur schwer so interpretiert werden kann, daß es auf Kephallenia zutrifft“. 295 ENGEL 17. 296 GRÖSCHL 19.

1.1 Der westgriechische Inselraum

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von ‚ganz oben‘ gebraucht wird“.297 Somit würde panypertatê (παν-υπερτάτη) „am aller-höchsten“ bedeuten,298 und folglich ist nicht zu verkennen, daß „χθαμαλὴ [„niedrig, tief “] einen Widerspruch gegen das daneben stehende πανυπερτάατη ‚am allerhöchsten‘ enthält“.299 Laut Strabon bedeutet panypertatos in diesem Odysseevers aber nicht „am höchsten“ in der üblichen vertikalen Dimension, sondern im horizontalen Sinn („darüber hinaus“, „am weitesten“),300 und ist somit auf die anschließenden Worte vom Meer zu beziehen. Folglich lautet der Satzteil panypertatê ein hali keitai präzise übersetzt: Ithaka liegt – von den Inseln der Kephallenen – „am höchsten im Salzmeer“ (vgl. unseren Ausdruck „auf hoher See“). Die Lizenz, das Hapaxlegomenon panypertatos in diesem Kontext horizontal und nicht vertikal zu deuten, bietet z. B. der Odysseevers 14,300, in welchem die Grundform hyper („über, darüber, über – hinaus“)301 ebenfalls in geographisch horiziontaler Dimension gebraucht wird: So liegt für die Griechen das Land Ägypten hyper Kretes (ὑπέρ Κρήτης), d. h. „über Kreta hinaus“.302 Der problematisch erscheinende Odysseevers 9,25 endet also mit den Worten: Ithaka liegt unter den Eilanden des westgriechischen Inselraums „am weitesten im Meer“, und der Dichter fügt zu Beginn des folgenden Verses erläuternd hinzu: „nach Westen“ (pros zophon). So wird in der Homerphilologie das panypertatê ein hali keitai pros zophon vorwiegend als „am weitesten westlich im Meer“ gedeutet,303 und diese Lagebeschreibung trifft aufgrund des Superlativs einzig auf Kephallenia zu, weil es diejenige Insel westlich von Griechenland ist, „die am weitesten vom Festland entfernt in das offene Ionische Meer vorspringt“304 und noch im Weltbild der Ilias die westlichste bekannte Insel überhaupt war.305 Selbst die nordwestgriechische Insel Kerkyra (Corfu), die dem Meridian nach noch geringfügig westlicher liegt, ist der Festlandsküste von Epirus bis auf 2,5 km Entfernung sichelförmig vorgelagert und befindet sich somit – um mit den beiden synonymen, aber paradox klingenden Termini zu argumentieren – weder „auf hoher See“ noch 297 MICHAEL 8. Desgleichen ROBERT 634. 298 PAPE II 440: „πανυπέρτατος, der ganz oberste“. ARISTOTELES (de. Mund. 5) charakterisiert mit dem Superlativ den οὐρανός (den Uranos, die höchste himmlische Sphäre). – Vgl. u.a. BENSELER 683: „alleroberster“. HERCHER 264: „Ithaka liegt in der See am höchsten draußen von allen gegen West“. 299 MICHAEL 8. 300 Strab. 10,2,12. Horace L. JONES (V 41) übersetzt: „panupertatê on the sea“. Auch andere antike Autoren deuten laut STRABON (a. a. O.) „panupertatê as meaning ‚highest‘, but ‚highest‘ [im Meer] towards the darkness“ (JONES V 43). 301 BENSELER 936. 302 Somit kann „nicht bezweifelt werden, dass ὑπέρ im Epos nicht nur vertikal ‚darüber‘ heisst, sondern auch horizontal ‚darüber hinaus‘“ (DÖRPFELD, Alt-Ithaka 80). Siehe auch Od. 3,170 (über Chios hinaus) und 15,403 (über Ortygia hinaus). 303 „Accordingly, πανυπερτάτη – to which to make doubly sure εἰν ἁλὶ is added – can only mean furthest out to sea” (ALLEN 96). Also, Ithaka „liegt am höchsten im Meere nach Westen“ (SCHREIBER 12). „Ithaka heißt in jenen Versen ‚die äußerste gegen Westen‘“ (KIESSLING 343). 304 PHILIPPSON/KIRSTEN II 504. 305 Vgl. Ilias 2,631 f. mit Od. 9,25 f. Die Ilias nennt noch nichteinmal ein weiter westlich liegendes mythisches Lokal, wie die Inseln Hesperiden oder das Eiland Ortygia. – Schon Rudolf HERCHER (268) wies darauf hin, dass das homerische Ithaka „für den Glauben jener Zeit unter den westlichen Ländern der bekannten Erde das westlichste war“. Ebenso BUCHHOLZ 142.

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1. Die Ithaka-Antwort

„tief im Meer“. Zudem liegt Kerkyra weit entfernt vom westgriechischen Inselbogen, den Odysseus beherrschte und der den Bezugsrahmen seiner Aussage bildet. Aber durch die schon von Strabon bevorzugte Deutung des homerischen panypertatos in Vers 9,25, das mit „am höchsten (sprich: weitesten) im Meer“ zu übersetzen ist, verliert das unmittelbar vorausgehende Wort chthamalos („niedrig“, „tief “) seine bereits diskutierte – mögliche – Bedeutung,306 weil es für Ithakas Lagebeschreibung „niedrig bzw. tief im Meer“ überflüssig ist307 Immerhin steht der Versbeginn aute de chthamalê (αὐτὴ δὲ χθαμαλὴ; Ithaka „selbst ist niedrig“[?]) dadurch nicht mehr im spürbaren Konflikt zum nachfolgenden panypertatos, weil dieses Wort hier ja nicht vertikal „am höchsten“ bedeutet, sondern horizontal „am weitesten“. Also, im Vers 9,25 stehen die aufeinanderfolgenden Worte chthamalê und panypertatê keineswegs im Widerspruch, wie es auf den ersten Blick selbst Strabon erschien,308 und diese Erkenntnis veranlasst Carl Schreiber zu der lockeren Bemerkung: Auch „Eustathios endlich bemerkt, daß diese beiden Worte zwar an sich widersprechende Epitheta wären, aber daß auch jedes Wort etwas anderes bezeichne“;309 denn panypertatê bedeutet nicht vertikal „am aller-höchsten“ und steht dadurch nicht im Konflikt mit chthamalos („niedrig, tief “) . Obwohl somit der vermeintliche Widerspruch innerhalb des Verses 9,25 – Ithaka ist niedrig und die allerhöchste – gar nicht besteht, taucht stattdessen wieder das ursprüngliche Problem auf, nämlich dass chthamalos (im Sinne von „niedrig“) im schroffen Gegensatz zu den vorausgehenden Versen 9,21 f. zu stehen scheint, die Ithaka wegen des hohen Berges Neriton als weithin sichtbar ausweisen.310 Wohl aufgrund dieser Misere wird das lästige chthamalos schon in der berühmten Odyssee-Übersetzung des Johann Heinrich Voss einfach unterschlagen („Ithaka liegt in der See am höchsten hinauf an die Feste, gegen Nord“),311 zumal die denkbare Übersetzung „Ithaka liegt tief (im Meer) und am weitesten westlich im Meer“ tautologisch klingt und vom Dichter wohl nicht beabsichtigt war. Ebenso ist die Deutung des spätmittelalterlichen Gelehrten Matthaeus Palmerius aus grammatikalischen Gründen abzulehnen: „Sie selbst [Insel Ithaka] aber hochgelegen, liegt gegen Westen im hochgehenden Meer“.312 306 U. a. Wido SIEBERER (152): „Sie selbst aber liegt niedrig ganz zu oberst in dem Salzmeer“. 307 Also, „εἰν ἁλί gehört eben nicht zu χθαμαλὴ, denn es steht nicht dort, sondern bei πανυπερτάτη“ (BELZNER 20). 308 Strab. 10,2,12; Übersetzung von Horace L. Jones (V 41): „The following verse [Od. 9,25] also is thought to disclose a sort of contradiction: ‚Now Ithaca itself lies chtamalê, panypertatê on the sea’; for chthamalê means ‚low’, or ‚on the ground’, whereas panypertatê means ‚hig up’, as Homer indicates in several places when he calls Ithaca ‚rugged’”. 309 SCHREIBER 14. 310 Das moniert u. a. auch Otto August RÜHLE von Lilienstern (39): von Ithaka, was χθαμαλὴ ist, wird drei Verse vorher erst (IX.22) bemerkt, dass es einen hohen Berg habe“. 311 VOSS, Odyssee 100. VOSS bietet noch zwei Varianten von Od. 9,25 f.: „Ithaka liegt im Meer am höchsten hinauf an die Veste, nachtwärts“ (Blätter II 235); „Selber liegt sie am höchsten hinauf an die Veste, nachtwärts“ (Myth. Briefe II 73). Also, „Voß läßt unübersetzt oder doch nicht deutlich erkennbar das homerische χθαμαλὴ“ (ENGEL 16). 312 SCHREIBER 15 f. Mathaeus PALMERIUS schlug vor, das η des Wortes χθαμαλὴ mit einem jota subscriptum zu untersetzen, „so daß χθαμαλὴ auf εἰν ἁλὶ bezogen werde“ (a. a. O.). „Es kann aber auch nicht der Dativ χθαμαλῇ mit Palmerius gelesen und zu ἁλὶ gezogen werden, da das Meer nie dieses Prädicat hat und χθαμαλὸς nirgends eine absolute Fläche“ bezeichnet. Zudem „würde es auch auffallend sein, wenn

1.1 Der westgriechische Inselraum

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Wenn Homer nicht unbedacht seine Verse schuf, dann ist nun dringlich zu klären, weshalb er dem Odysseus bei der prägnanten Darstellung seiner Inselheimat ausgerechnet das überflüssig erscheinende Wort chthamalos in den Mund legt. Gewiss schließt das problematische Wort, ganz gleich, ob das homerische Ithaka eine geographische oder bloß literarische Insel ist, einen hohen Berg und „auch mehrere Berge bestimmt aus; ist aber Neriton ein praktisches Merkmal, so muss es χθαμαλὴ wohl auch sein“.313 Deshalb darf das unbequeme Wort weder athetiert314 noch in den Übersetzungen stillschweigend übergangen werden, sondern man muss der homerischen Bedeutung des Wortes im wahrsten Sinne des Wortes auf den Grund gehen: Zweifellos gehört chthamalos, das mit dem lateinischen humilis (humus) verwandt ist, zu chthonios (χθόνιος; „der Erde angehörig, unterirdisch“) und leitet sich von χθών („Erdboden, Erdtiefe“) ab.315 Auf diesem Wortstamm beruhen die Deutungs-Derivate „flach“ und „niedrig“, mit denen chthamalos meist übersetzt wird. Indes, das Adjektiv chthamalos bedeutet „am Boden befindlich, niedrig im absoluten Sinn“.316 Greift man also auf die Grundbedeutung des Wortes zurück, die in jedem altgriechischen Schulwörterbuch steht und „erdverbunden“ (im absoluten Sinn) bedeutet,317 dann meint der Dichter wohl etwas anderes als bloß „niedrig“, nämlich dass die Insel Ithaka, obwohl sie „am weitesten westlich im [tiefen] Meer liegt“, fest am Meeresboden (der Erdtiefe: χθών) sitzt.318 Die deshalb zu favorisierende Übersetzung des Versbeginns 9,25 lautet: „Ithaka ist – absolut, d. h. uneingeschränkt, unbedingt, völlig – erdverbunden“. Diese Aussage mag uns heutzutage befremdlich erscheinen, weil es in unserem Weltbild selbstverständlich ist, dass nicht nur das Festland, sondern auch die Inseln fest am Meeresboden sitzen (obwohl wir nicht, analog zum Wort ‚Festland‘, von ‚Fest-Inseln‘ sprechen).319 Dagegen stellten sich die frühen Griechen zumindest die Inseln des offenen Meeres schwimmend vor, und dementsprechend bedeutet das griechische Wort für Insel (nesos, νῆσος) „eigentlich das schwimmende Land“.320 Homer selbst erzählt von schwimmenden Inseln, so hinsichtlich der Ägäisinsel Delos und des angeblich von Odysseus

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nach dem auf Ithaka zurückführenden αὐτὴ δὲ nicht ein Prädicat der Insel, sondern eines zu ἁλὶ folgte“. Daher „muss der Insel selbst das Beiwort χθαμαλή gegeben sen, und zwar in irgend einem andern Bezuge als zum hohen Meer“ (NITZSCH III 9). MÜLDER, Ithaka 30. Carl ROBERT athetiert den ganzen Vers Od. 9,25 und somit auch das Wort chthamalos. BENSELER 987. GOESSLER 35. Ebenso ROBERT (42) und WILAMOWITZ (Ithaka-Hypothese 381): „das Wort gehört zu χθών, humilis ist es, also kein relatives Wort, sondern absolut“. GEMOLL 804: χθαμαλός bedeutet „bodenständig, erdverbunden, tiefgegründet, wurzelt tief.“ Darauf weist eingehend K. H. W. VÖLCKER (54) hin: „Jener Gegensatz gegen das Meer wird in der Bedeutung: Land oder festes Land, gefunden werden können, … also: rings ist unermeßliches Meer, die Insel selbst aber ist festes Land“. Die Alten Griechen konnten noch nicht wissen, ob der westgriechische Inselbogen, der dem mehrere Kilometer tiefen Ionischen Meer steil ensteigt, fest mit der Erdscheibe verbunden ist. Dies scheint Gregor Wilhelm NITZSCH (III 9) nicht bewusst zu sein, wenn er kritisiert: „Wir müssen auch Voelckers Erklärung, die grundfeste, verwerfen, da jede Insel gehörig am Boden wurzelt“. BENSELER 621. – Übrigens „hat das Wort νῆσος für ‚Insel‘ eine rein griechische Provenienz und gehört in die spätere Zeit der Kolonisation“ (LÄTSCH 29).

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1. Die Ithaka-Antwort

besuchten Eilandes Aiolia.321 Nicht nur im Gegensatz dazu, und das will der Dichter wohl sagen, ist die Heimatinsel des Odysseus fest mit dem Meeresboden verbunden, sondern v. a., weil sie als Hochseeeinsel am weitesten westlich im tiefen Meer liegt.322 Zu dieser Deutung gelangte bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Karl Heinrich Wilhelm Völcker in seinem Werk ‚Über Homerische Geographie und Weltkunde‘, in welchem chthamalos (χθαμαλός) mit den Worten erklärt wird: Auf der „Erde ruhend“, d. h. am Erdboden „fest angewurzelt“.323 Damit stellt der Dichter das weithin sichtbare Ithaka, das mit seinem mächtigen Gebirgsmassiv fest wie ‚ein Fels in der Brandung‘ am Rande des damaligen westlichen Ozeans steht, zudem „in Gegensatz zum ruhelosen Meer und zu gewissen schwimmenden Inseln“.324 Doch warum hätte Homer auf die „Erdverbundenheit“ der Insel ausdrücklich hinweisen sollen, und woher wusste er um dieselbe, da doch gerade die Glieder des westgriechischen Inselbogens einer ausgesprochenen Tiefsee entsteigen?325 Ein untrügliches Indiz für die Verbundenheit dieser Inseln mit der geheimnisvollen Erdtiefe (chthon, χθών) sind die schweren Erdstöße, die v. a. diesen Inselraum häufig erschüttern.326 Sie zeugen von der Missgunst des Gottes Poseidon, der in der Odyssee immerhin zwei Dutzend Mal als „Erderschütterer“ und „Erdbeweger“ bezeichnet wird,327 und der als solcher „dem Odysseus endlos zürnte“.328 Und dieser Sachverhalt, nämlich der

321 Hom. h. 3,71 f. Od. 10,3. 322 Der Sinn der Aussage ist m. E. folgender: Nicht nur die anderen, meist küstennahen westgriechischen Inseln sind erdverbunden, sondern sogar auch die Hochseeeinsel Ithaka (Kephallenia). So „ist bei χθαμαλὴ gar sehr auch der Gegensatz zu erwägen, in welchem αὐτὴ hier steht“ (NITZSCH III 7). 323 VÖLCKER 53 f. – Entgegen der herrschenden philologischen Ansicht (u. a. ROBERT 634,1: „auch die anderen Stellen lassen über die Bedeutung: niedrig keinen Zweifel“), ist aber aus historisch-geographischer Sicht anzumerken, dass das homerische Adjektiv χθαμαλός auch bei den anderen Ilias- und Odyssee-Stellen (Ilias 13,683. Od. 10,196; 12,101; 11,194) treffender mit „erdverbunden“ zu übersetzen ist, weil es weniger „am Erdboden“ und somit „niedrig“ bedeutet, sondern etymologisch mehr auf die geheimnisvolle Erdtiefe abzielt. Siehe dazu ausführlich Heinz WARNECKE, Erdbeben 21 f. Vgl.a. Albert BISCHOFF 15: So ist überhaupt „zu fragen, ob denn in χθαμαλός und den verwandten Worten an sich der Begriff des Niedrigen enthalten ist. In diesen allen liegt ja ursprünglich nur der Begriff von χθών, humus, dem an sich der relative Begriff des Niedrigen nicht innewohnt. Faktisch aber haben durch der Gebrauch diese Wörter eine Bedeutung erhalten, in welcher wie bei humilis der relative Begriff, wie nahe auch mit dem ursprünglichen verwandt, zum Hauptbegriff geworden ist“. 324 BELZNER 24, Anm. 3. – Vgl. PALMERIUS (Graecia antiqua lib. V c. 23 p. 511), der den Vers Od. 9,25 emendiert und wie folgt erklärt: „ipsa vero omnio excelsa in depresso mari sita est. Nam quotiens mare tranquillum est, iacet depressum et insulae excelsiores apparent“. 325 „Auf ihrer Westseite treten die Inseln nahe an den Rand der Jonischen Tiefsee heran“ (PHILIPPSON/ KIRSTEN II 547). Nur 15 km westlich von Kephallenia ist das Meer bereits 3.000 m tief, und etwa 50 km sw von Zakynthos sinkt der Meeresboden auf 4.240 m hinab (Seekarte Nr. 435, Ionisches Meer). 326 Man kann „für Griechenland, dem seismisch aktivsten Gebiet Europas, zwei Zentren unterscheiden: der erste Schwerpunkt liegt am Ausgang des Golfes von Patras bei der Insel Kephalonia im Ionischen Meer …“ (WALDHERR 43). 327 „Nach der Häufigkeit der ἐπίκλησεις wird Poseidon vor allem als Erderschütterer erwähnt“ (WÜST, Poseidon 455, 49 ff.), nämlich ἐνοσίχθων in Od. 1,74; 3,6; 5,339. 366; 7,35, 56. 271; 8,354; 9,283, 525; 11,252; 12,107; 13,125, 146. 159, und ἐννοσίγαιος 5,423; 6,326; 9,518; 11,102, 241; 13,140. Vgl.a. 1,68; 3,55; 5,282, 375; 8,322, 350; 9,528; 11,241“. Da „dieser vorhomerische Poseidon den chthonischen Gottheiten zuzurechnen ist“, wird er „als Herr der Erdtiefe“ charakterisiert (ders. 53,42 ff.). 328 Od. 1,20 f., 68 f.

1.2 Die Landschaft Ithakas

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Zorn des Erderschütterers Poseidon, ist für die Odyssee von zentraler Bedeutung, denn er motiviert die epische Handlung, sprich die Irrfahrt des Odysseus.329 Für den bislang problematischen Vers 9,25, mit dem Odysseus das Interesse der Zuhörer auf seine Inselheimat lenkt, bietet sich also folgende Übersetzung an, ohne dass – wie Carl Robert eingangs kategorisch vermutete – „Grammatik und Sprachgebrauch gleichermaßen energisch Protest dagegen erheben“ müssen. Die Übersetzung, die sämtliche im Originaltext stehenden Worte berücksichtigt sowie widerspruchsfrei und sinnvoll deutet, lautet wie folgt: „Es selbst [Ithaka] wurzelt tief am [Meeres-]Boden und liegt am höchsten [d. h. weitesten]im Meer nach Westen“. Mit dieser Deutung der Odysseestelle 9,25 f. ist das Hauptproblem der Ithaka-Frage gelöst,330 es sei denn, man betrachtet das heutige Ithaka als das homerische und nicht die große Insel Kephallenia. Ein sachlicher Widerspruch zwischen dem hohen Gebirge des homerischen Ithaka einerseits und der Erdverbundenheit der Insel andererseits, auf die das Adjektiv chthamalos abzielt, besteht somit nicht, im Gegenteil: Geologisch betrachtet, bedingt das eine sogar das andere, denn der kephallenische Inselraum wird durch die Plattentektonik zunehmend aufgefaltet, die sich durch die Erdbeben bemerkbar macht. Das Gebirge Kephallenias besitzt also nur deshalb die enorme Höhe, weil es infolge dieses Prozesses aus der untermeerischen Erdtiefe (χθών) empor wächst, und davon legen die versteinerten Muscheln und Meeresschnecken des Inselgebirges seit je her ein sichtbares Zeugnis ab.331 So könnte der Aenos auf Kephallenia den homerischen Gebirgsnamen Neriton aufgrund seiner durch Meeresmuscheln (Nerineen) geprägten Pedosphäre erhalten haben.332 1.2 Die Landschaft Ithakas 1.2.1 Das Waldgebirge Neriton Bei der Beschreibung seiner Heimat nennt Odysseus zuerst den „waldbedeckten Neriton“,333 und selbst die Göttin Athene hebt zunächst rühmend „den Neriton, jenen

329 Vgl. Od. 1,19 f., 68 ff.; 9,526–536; 23,265 ff. – “Homer läßt aber keine Zweifel zu, daß Poseidon hinter den Irrfahrten des Odysseus steckt” (GRETHLEIN 231). 330 „Die ganze Stelle [Od. 9,21–26] wäre sehr einfach zu deuten, böten nicht zwei Ausdrücke ζόφος und χθαμαλὴ den Erklärern schier unüberwindliche Schwierigkeiten“ (GRÖSCHL 18). Das noch zu lösende „zophos“-Problem (s. Anhang) wurde jedoch nur von Homerforschern generiert. 331 Der „sehr feinkörnig-kristallinische Kalkstein“ Kephallenias „schließt zahlreiche Nerineen ein. Oft sieht man auf den Verwitterungsflächen die spiralartigen Querdurchschnitte ihres Gehäuses“. V. a. auf dem Aenos „kehren dieselben Nerineen und Actaeonellen immer wieder“, und dort sind auch versteinerte „Seeigel“ zu finden (PARTSCH, Kephallenia 17 f.). 332 „Jedenfalls ist Νήριτος die Vollform [des Berges], wie auch der Name der offenbar dem Gott heiligen Muschel νήριτες zeigt; vgl. die Adjectiva νήριτος ὕλη (Hsd. ε κ υ 513)“ (GRUPPE 416, Anm. 5). Anders DOEDERLEIN (II 97) mit Bezug auf Hes. Opp. 511 und Aesch. Pers. 892, wonach „Νήριτον als Name eines Berges in Ithaca in Od. IX, 22. XIII, 351, fast homonym, aber ganz heterogen mit der Schwimmmuschel νηρίτης“ ist. 333 Od. 9,21 f. „Neriton (Νήριτον), epische Bezeichnung für Bergwald, Hom. Od. 9,22. Hes. erg. 511 und spätere“ (MEYER, Neriton 70,58 f.).

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1. Die Ithaka-Antwort

Berg, den Wälder bedecken“, hervor, als sie das homerische Ithaka vorstellt.334 Auch der Schiffskatalog der Ilias verweist bei der Darstellung des Königreichs des Odysseus zuerst auf den „waldbedeckten Neriton“.335 Das hohe Waldgebirge Neriton, aufgrund dessen die Heimatinsel des Odysseus „weithin sichtbar“336 ist, stellt nicht nur das signifikanteste landschaftliche Charakteristikum des homerischen Ithaka dar, es wird darüber hinaus vom Dichter sogar mit dem Attribut ἀριπρεπής („sehr hervorstechend“, „herrlich“) ausgezeichnet,337 das nur wenige, wirklich ganz hervorragende Phänomene in den homerischen Epen führen, wie die vom Gott Hephaistos geschmiedete Aigis des Zeus oder die strahlenden Sterne des Nachthimmels.338 Als homerischer Neriton kommt folglich nur der 1.628 m hohe Aenos in Betracht: „Dieser mächtige Berg überragt bedeutend alle anderen Höhen der Westgriechischen Inseln und ist weithin über das Meer und vom Festlande aus sichtbar; um so beherrschender ist er für Kephallenia selbst, da er in die südöstliche Halbinsel vortritt, also in geringem Abstand vom Meere umgeben, von allen Seiten isoliert erscheint“.339 Bis in die Moderne hinein diente dieses hohe kephallenische Gebirge der terrestrischen Navigation zwischen Griechenland und Italien bzw. Sizilien, weil es bei günstiger Witterung für die Seefahrer auf dem offenen über 150 km weit sichtbar ist.340 „Für das jonische Meer erfüllte der höchste Gipfel Kephallenias (1620 m)“ somit „eine ähnliche Bestimmung“ als „grosse Landmarke“ wie „das Ida-Gebirge auf Kreta“ in der Levante.341 Noch Anfang des 19. Jahrhunderts nahm der studierte britische Offizier Willliam Goodisson an, der kephallenische Aenos sei im griechischen Erdraum „second in height only to mount Olympus“,342 und sogar noch ein halbes Jahrhundert später glaubte der englische Geologe David T. Ansted, Kephallenia besitze „the highest point of land in any of the islands off the coast of Greece“.343 Davon war auch der österreichische Kronprinz Rudolf beeindruckt, als er auf dem Seeweg von Istrien nach Ägypten die Insel passierte: „Wir waren unter Kephalonia; die herrlichen Hochgebirge dieser Insel ragten zwischen leichten Nebeln empor, in ihrer Mitte am höchsten und schönsten der mit Schnee bedeckte Monte Nero, der antike Ainos“.344 Angesichts des imposanten Aenos, der – um mit den Worten 334 335 336 337

338 339 340 341 342 343 344

Od. 13,351. Ilias 2,632. Od. 2,167; 9,21; 13,212, 325; 14,344; 19,132, Od. 9,22. BENSELER 117 (auch: „stattlich, glänzend, ausgezeichnet“). „Das ἀριπρέπες ὄρος ist in dem 1620 m hohen Ainos vorhanden, und daß Kephallenia das Epitheton εὐδείελος für sich in Anspruch nehmen darf, wird niemand bestreiten wollen“ (VÖLKL 67), denn der Aenos ist „the most striking feature in the general aspect of the islands“ im Jonischen Meer (HOLLAND 50). Aigis: Ilias 15,308. Sterne: 8,555. Zudem das Pferd Agamemnons (Ilias 23,453). In der Odyssee werden, abgesehen vom Gebirgsmassiv Neriton, nur noch die Fürsten der gottähnlichen Phaiaken als ἀριπρεπής ausgezeichnet (8,390; vgl. 176), allen voran der König Alkinoos (8,424). PHILIPPSON/KIRSTEN II 514. „Ein besonderer Vorzug Kephallenias vor allen Schwesterinseln des Ionischen Meeres liegt in der Höhe seines mächtigen Gebirgskammes, des Aenos“ (PARTSCH, Kephallenia 33). „Le Mont Néro est visible de 80 milles” (BÉRAD 412). Laut NEUMANN/PARTSCH (148, Anm. 1) ist der „Ainos auf Kephallenia 154“ km weit sichtbar. Vgl. PARTSCH, Kephallenia 40. NEUMANN/PARTSCH 148. GOODISSON 131. ANSTED 313. RUDOLF 8.

Abb. 3: Der südliche Teil des kephallenischen Inselrumpfes (Ausschnitt der Karte von J. Partsch 1890)

1.2 Die Landschaft Ithakas 65

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des berühmten Weltreisenden Fürst von Pückler-Muskau zu sprechen – „wie eine schroffe Wand zwischen Himmel und Erde steht“,345 erscheint es geradezu grotesk, dass Homerinterpreten bei dem in Ilias und Odyssee gerühmten Waldgebirge Neriton überhaupt an eine andere Erhebung des westgriechischen Inselraumes hatten denken können! Die über 1.200 m hohe Gipfelpartie des Aenos ist „ein einziger, 8 km langer, walfischförmiger oder katzenbuckelartiger Rücken, der in mehreren, sich kaum als Gipfel abzeichnenden Punkten über 1500 m Höhe erreicht“.346 Über die Anzahl der zwischen 1.500 m und 1.628 m hohen Gipfelpunkte, die alle zusammen das sanft geschwungene Längsprofil des Aenoskammes bilden, herrscht selbst unter den modernen Geographen krasse Uneinigkeit: Manche geben bloß „vier Gipfel“ an, andere sprechen von „einem halben Dutzend“ oder zählen „sechs bis acht“, während mancher sogar auf „10–12“ Gipfel kommt.347 Diese erstaunliche Unstimmigkeit der sogar auf Autopsie beruhenden Angaben hat folgenden Grund: Während bei anderen hohen Gebirgen, auch wenn sie einen sanft geschwungenen Scheitel tragen, lediglich ein oder wenige Gipfel, die für das Auge klar zu unterscheiden sind, den höchsten Punkt markieren, liegen beim Aenosmassiv „eine Reihe nahezu ebenbürtiger Anschwellungen der Kammlinie hintereinander“,348 die teils nicht deutlich voneinander abzugrenzen sind. Aufgrund der dargelegten Physiognomie lässt sich die Anzahl der Gipfelkuppen des Aenos nicht eindeutig feststellen, und diese Eigenart des Bergrückens drückt der sprechende homerische Gebirgsname Neriton („unzählige“) treffend aus.349 Wie die Historische Geographie lehrt, leiten sich Oronyme und deren Appellativa v. a. auch von „der Form und Beschaffenheit“ der Berge her,350 wofür also schon der homerische Neriton ein signifikantes Beispiel bietet. Homerphilologen, für die das homerische Ithaka ohnehin weitgehend fiktiv ist, meinen stattdessen, der Bergname Neriton resultiere lediglich „aus dem mißverstandenen Adjektiv νήριτος [„unzählig“]“.351 Und so urteilt z. B. Helmut van Thiel: Die „Angaben des Dichters über die Orte auf Ithaka beruhen auf Hörensagen oder Phantasie“, und folglich sei Neriton „vermutlich kein historischer Name“, sondern bloß ein Mißverständnis.352 345 PÜCKLER-MUSKAU III 507. Joseph PARTSCH (Kephallenia 7) spricht von der „Mauer des Aenos“. 346 PHILIPPSON/KIRSTEN II 513. 347 „Vier Gipfel“ (MILLER 271; ebenso PÜCKLER-MUSKAU III 484: „eigentlich vier“); „halbes Dutzend“ (ANSTED 345); „sechs bis acht“ (WIEBEL 15); „10–12“ (BIEDERMANN 2,4). PARTSCH (Kephallenia 15) bietet keine Gesamtzahl der Aenosgipfel, nennt aber neun namentlich. 348 PARTSCH, Kephallenia 15. 349 Das Adjektiv νήριτος bedeutet wohl „unzählig“ (vgl. „νηριτό-φυλλος, mit unzähligen Blättern, Hesych.)“; vgl. νήηριθμος/ἀριθμός (PAPE II 238 f.). 350 POHL, Bergnamen 118. Informationen über die orographische Gestalt (ob z. B. die Gipfelpartie „spitz“ ist oder „abgeflachte bzw. rundliche Kuppe[n]“ aufweist, oder eine „jähe Felswand“ besitzt) finden ihren Niederschlag oft im Eigennamen des Berges bzw. Gebirges (POHL, Oronyme 3). 351 „Leumann 244 ff. hat den Bergnamen Νήριτον auf Ithaka in überzeugender Weise aus dem mißverstandenen Adjektiv νήριτος hergeleitet. νήριτος bedeutet, wie Leumann erneut darlegt, ‚unzählig‘; in Hes. Erga 511 (νήριτος ὕλη) ist es noch ganz richtig gebraucht. Der Hergang war vermutlich der, daß in einem Akkusativ νήριτον ὕλην das Epitheton nicht mehr verstanden und der Ausdruck als „den Bergwald Neriton“ interpretiert wurde; analog dazu wurde dann ὄρος Νήριτον gebildet (ι 22. ν 351)“ (MERKELBACH 182, Anm. 2). 352 THIEL, Odysseen 191 u. 195: „Neriton“ ist „vermutlich kein historischer Name, sondern ein missverstandenes formelhaftes Attribut (neritos – ungezählt)“.

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Wie bereits erwähnt, führt das Neriton-Gebirge das außergewöhnliche Beiwort ariprepes (ἀριπρεπες), das in den homerischen Epen nur ganz hervorragende Phänomene führen (wie die Aigis des Zeus oder die strahlenden Sterne des Nachthimmels).353 Aufgrund dessen weist der Philologe Emil Herkenrath beim Neriton – abgesehen von dessen enormer Höhe, durch die das homerische Ithaka weithin sichtbar ist – auf eine weitere wichtige Facette des Neriton hin: „Es wird eben das an dem Berge hervorgehoben, was ihn zur Landmarke macht: die dunkle Bewaldung, durch die er sich abhebt“.354 Nicht unerwähnt sei jedoch, dass Emil Herkenrath, dem Mainstream der ‚Höheren Kritik‘ huldigend, seinem treffenden Hinweis ebenso servil wie entschuldigend hinzufügt: Aber „realistische Geographie ist hier nicht zu suchen; sie würde auch nur stören“.355 Dabei wird der Aenos, also der homerische Neriton, nicht nur wegen seiner eindrucksvollen Höhe mit dem seltenen homerischen Prädikat ariprepes („sehr hervorstechend“, „herrlich“) ausgezeichnet, sondern auch, weil er „eine besondere Note durch die dunklen Tannenwälder“ erhält,356 aufgrund derer die Insel Kephallenia im Altertum den Beinamen „Melaena“ trug, wie der römische Historiker Plinius überliefert.357 „Oft wird der Wald von Kephallenia in historischen Quellen als etwas Besonderes und Auffallendes dargestellt“,358 zumal es sich bei diesen „Edeltannen“359 um „eine eigene Species“ handelt, die den botanischen Namen „abies Cefalonica“ trägt.360 Der Aenos, der noch heute „von durchschnittlich 1000 m an mit einem dichten Tannenwald bedeckt“ ist,361 war bis in die Neuzeit hinein weltbekannt, und so erkundigte sich selbst Kaiser Napoleon Bonaparte nach „dem berühmten Wald des Großen Berges“ von Kephallenia.362

353 Ilias 8,555; 15,308. 354 HERKENRATH 1237. Erstaunlich ist, dass er das εἰνοσί-φυλλος (Od. 9,22) nicht als „blätterschüttelnd“ und somit als „Laubwald“ (wie u. a. WEIHER 228) interpretiert, sondern als Schwarzwald und somit als Tannenwald (indes, Nadeln sind ja auch Blätter). 355 HERKENRATH 1238. Auch erscheint es abwegig, auf den westgriechischen Inseln einen Schwarzwald zu vermuten, also einen dunklen Tannenwald. 356 PHILIPPSON/KIRSTEN II 514. UNGER (52–67) bietet eine ausführliche Beschreibung des Waldes, dessen „aufheiternde und erfrischende Wirkung“, wie selbst der vielgereiste Joseph PARTSCH (Kephallenia 33) schwärmte, „schwerlich ein andrer Ort ganz Griechenlands zu bieten vermag“. 357 Plin. nat. IV 12,54: „Cephallania quondam Melaena dicta“. – Die antike Polis Pronnoi am Südostfuß des Aenos mit seinem ‚Schwarzwald‘ führte den Tannenzapfen im Münzzeichen (BIEDERMANN 71), das auf den Export von Tannenholz hindeutet, zumal botanisch für den Mittelmeerraum gilt: „Alles [Tannen-] Holz, das an der Nordseite gewachsen, ist größer, gerader, schöner“ (LENZ 3). 358 KNAPP 18. – Zumal man „aus der nackten Steinöde plötzlich in den dunklen Nadelwald, dessen Stämme von unten bis zum Gipfel mit Epheu umsponnen sind, versetzt wird“; so steht man unter „mächtigen Tannen und die Umwandlung war wie durch einen Zauberschlag geschehen“ (UNGER 55). 359 NEUMANN/PARTSCH 368. 360 BIEDERMANN 3. Die Spezies abies Cefalonica kommt jedoch „nicht bloss auf dem Ainos und benachbarten Abhängen vor, sondern kehren in wenig abweichenden Varietäten auch auf den Bergen Achaias und Arkadiens wieder“ (a. a. O.). 361 BIEDERMANN 3. PARTSCH, Kephallenia 91 f. 362 PARTSCH, Kephallenia 91. Vgl. NAPIER, Colonies 336. – Unabhängig davon „übersetzt Mad. [Madame] de Dacier“ das Beiwort ἀριπρεπής des homerischen Neriton treffend mit „qui est célèbre“ (MÜLDER, Ithaka 28, Anm. 2).

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Den außergewöhnlichen Bergwald der Insel, der „als einzige Erscheinung dieser Art von weit und breit her in die Augen springt“,363 hebt bereits Homer als Waldgebirge Neriton rühmend hervor, eben weil es für die Heimat des Kephallenenkönigs Odysseus kennzeichnend ist. Ebenso begeistert stellte noch in der Mitte des 20. Jhs. der gebürtige Kephallene und berühmte Archäologe Spyridon Marinatos fest: „Der Stolz Kephallenias ist sein von Wäldern bedeckter Berg, der Aenos“,364 über dem noch heute, wie zu Zeiten des Odysseus, mächtige Adler majestätisch kreisen.365 So irrte u. a. Rudolf Hercher, indem er ausgerechnet den homerischen Neriton als Beispiel seiner Fiktionsthese anführt: „Allgemeinster Natur ist auch ‚der Berg‘, von dem die Adler herabfliegen“.366 Auch Dietrich Mülder wies in einer philologisch fundierten Studie darauf hin, dass der Odysseedichter den Berg Neriton „eigens geschaffen“ habe,367 denn es bedurfte „eines Kennzeichens für [das mutmaßlich literarische Konstrukt] Ithaka“, und „ein solches ist der darauf liegende Berg Neriton; er erhält deshalb auch das Beiwort ἀριπρεπής“.368 Und so resümiert Mülder: „Einen Berg Neriton hat es dort [auf einer der westgriechischen Inseln] vor der Odyssee niemals gegeben“.369 Dem ist jedoch entschieden zu widersprechen! Denn das ebenso außergewöhnliche wie eindrucksvolle Gebirgsmassiv von Kephallenia, das Homer in treffenden Worten als Neriton vorstellt, überragt den westgriechischen Inselbogen wie ein Wahrzeichen seit Äonen, also schon lange bevor die Evolution den Menschen und damit auch die Homerphilologie hervorbrachte. Für ein angemessenes Verständnis der homerischen Geographie ist also einzig der interdisziplinäre Ansatz zielführend, und somit ist die vorliegende Studie ein Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der Erforschung und Beurteilung der Homerischen Epen. Der herrliche Bergwald des Aenos auf Kephallenia, den der Dichter als Neriton ausweist, ist und war nicht nur schön anzusehen, sondern auch nützlich, denn seine hohen Stämme lieferten Jahrtausende lang begehrtes Bau- und Schiffsholz.370 So waren aus dem „Tannenholz“ des Aenos die Balken im Palast des Odysseus gefertigt371 und, 363 MOUSSON 44. Denn die Tannenwälder des Aenos waren und sind „die einzigen auf allen Westgriechischen Inseln“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 514). 364 MARINATOS 103. Spyridon MARINATOS wurde v. a. wegen seiner Ausgrabung der minoischen Stadt Akrotiri auf der Ägäisinsel Thera (Santorin) bekannt. 365 Od. 2,146 f.; 19,538; 20,243; 24,538. – Der ‚Guide for Visitors’, National Park of Ainos (S. 6), nennt verschiedene Greifvogelarten, darunter Falken, Bussarde, Habichte (vgl. Od. 15,526) und Adler, so den „Booted Eagle (Hieraetus pennatus), Golden Eagle (Aquila chrysaetos) and others“. 366 HERCHER 270. – U. a. identifizierte Theophrastos CHARTOULIARIS (Pessada) den Aenos mit dem homerischen Neriton (privat vervielfältigte Studie). 367 MÜLDER, Ithaka 29. Inspiriert durch den Schiffskatalog der Ilias (2,632), habe der Odysseedichter den „Νήριτος zum Berge Νήριτον gemacht“ (28). 368 MÜLDER, Ithaka 28. 369 MÜLDER, Ithaka 29; und er fügt hinzu: „Gewiss gab und gibt es nicht einen, sondern mehrere Berge auf der wirklichen Insel Ithaka [die der Dichter als Folie wählte]“; und warum sagt der Dichter „nicht: es liegen mehrere Berge auf ihr?“ Eben weil er mit dem Neriton nicht ein x-beliebiges Gebirge vorstellt, sondern den alles überragenden Aenos auf Kephallenia. 370 „Die Bedeutung Kephallenias lag während der antiken und mittelalterlichen Epoche in dem Bauholz seiner Berge“ (MARINATOS 93). Und während der dreihundertjährigen „venetianischen Besatzung erhielt der Wald von Kephallenia die Seeüberlegenheit der Serenissima aufrecht“ (ders. 118). 371 Od. 19,38.

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wie moderne Analysen ergaben, sogar die Säulen des minoischen Palastes von Knossos auf Kreta!372 Trotz der jahrhundertelangen intensiven Nutzung des Waldes, „machen die Tannenbestände am Aenos insbesondere in den hohen Lagen vielfach noch einen sehr ursprünglichen Eindruck“.373 Heute stehen sie unter Naturschutz, zumal unter sämtlichen griechischen Inseln „nennenswerte Waldreste“ nur noch „Kreta und Kephallenia“ aufweisen.374 Im Winter ist der kephallenische Bergwald verschneit, und einige Schneefelder an den Nordabhängen des schluchtenreichen Aenos halten sich bis in den Frühsommer hinein.375 Deshalb, und weil der häufige „Nebel-Niederschlag“ am Aenos „so stark ist, daß er in seiner Wirkung mit einem Regenfall verglichen werden kann“,376 ist der Wald ganzjährig süßwasserreich. Und so fand das Wild in den „Schluchten der tiefen Wälder“, in denen Odysseus laut Odyssee „Hasen und Rehe“ jagte,377 tatsächlich „Tränken, die niemals im Jahr versiegen“.378 Die Odyssee verleiht dem Neriton zweimal das Adjektiv einosi-phyllos (εἰνοσί-φυλλος = ἐννοσί-φυλλος).379 Es wird meist mit „blätterschüttelnd“ übersetzt und besaß in nachhomerischer Zeit wohl diese Bedeutung.380 Jedoch liegt dem Wort einosi- (εἰνοσί- bzw. ἐννοσί-) eine indogermanische Sprachwurzel zugrunde,381 die „stoßen“ bedeutet und ähnliche destruktive Eigenschaften ausdrückt.382 Deshalb ist das homerische einosi-phyllos wohl nicht als „blätterschüttelnd“ oder gar als „waldig“ zu deuten.383 Bedenkt man 372 MARINATOS 117. 373 KNAPP 83. Es gibt sogar „urwaldartige Bestände am Aenos, die nicht von Katastrophen wie Windwurf oder Brände betroffen sind“ (ders. 80). 374 NEUMANN/PARTSCH 362. – Inzwischen richten jedoch Ziegenherden Schäden im Nationalpark an! 375 PARTSCH, Kephallenia 34 f.; vgl. Wiebel 63. „The mountain chain is so lofty as to be covered with snow always more than half the year“ (ANSTED 365). 376 KNAPP 151. – So ist über den Niederschlag auf dem homerischen Ithaka (Od. 13,245) anzumerken: „Der Dichter setzt ausdrücklich hinzu: τεθαλυῖα τ᾽ ἐέρση, ‚reichlicher Tau‘“ (MICHAEL 22). 377 Od. 17,294 f., 316; vgl. 13,436. 378 Od. 13,246 f. – So befindet sich z. B. auf dem Aenos die Talmulde „von Pigi (Πηγή)“, in der das gleichnamige „Kloster am ‚Quell‘ (815 m [hoch gelegen])“ steht (PARTSCH, Kephallenia 16). Angesichts der heutigen Insel namens Ithaka wird die Aussage der Athene in Od. 13,247 bezweifelt: „ἀρδμοὶ darf nicht mit ‚Quellen‘ übersetzt werden. Gemeint sind hier gegrabene Brunnen [in den Wäldern für das Wild?!], in denen das Wasser nie versiegt“ (BELZNER 30, Anm. 2). 379 Ilias 2,632. Od. 9,22; zudem führt in der Ilias (2,757; 11,316) der Pelion dieses Beiwort. „Beide Male also kennzeichnet es einen Berg“ (BELZNER 45, Anm. 3). 380 BENSELER (287): „ἐννοσί-φυλλος, ep., s. eἰνοσί-φυλλος“; (ders. 246): „eἰνοσί-φυλλος (ενοσις), ep. laubschüttelnd, waldig“. 381 „εἰνοσίφυλλος = εν Fοθ-σι-φυλ-λος aus W. [Wurzel] Fοθ stoßen (in ωθεω) mit Ersatzdehnung nach Ausfall des Diagamma, ἐννοσί-γαιος = ἐν Fοθ-σί-γαιος mit Assimilation des F an ν“. Wurzel „οθ ωθ-ε-ω (ἕ-ωσα) stosse ἐν-οσί-χθων, ἐνν- οσί-γαιο-ς Erderschütterer, εἰν-οσί-φυλλο-ς blätterschüttelnd” (G. CURTIUS 244). 382 FICK (129): „vedh- stossen, schlagen. s. vadh ávadhît schlagen, vádar = zend. vadhare Schlag, zend. vádhaya zurückstossen. Ἐννοσί-γαιος, εἰνοσί-φυλλος ὠθέω ἔωσα“; auch FICK (312): „vedh- stossen, schlagen“. CHRIST (224): „vadh-à-mi heisst im Skt. [Sanskrit] ich schlage, ich stosse“, und an vadh-à-mi „lehnt sich dasgriechische ὠθέω [„stoßen“] an, das in dem unregelmäßigen Augment des imperf. und aor. ἐώθουν und ἔωσα ein unverkennbares Anzeichen der ehemaligen Geltung seines Diagamma bewahrt hat“. 383 So steht in Teubners Schülerausgabe zu Homer: „εἰνοσίφυλλον. Das Gebirg schüttelt die Blätter, weil der Wind den hochgelegenen (εὐδείελον) Wald durchweht: waldumrauscht“ (HENKE I 91 f.).

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zudem, dass die Epitheta des Erderschütterers Poseidon mit ἐν(ν)οσί- gebildet werden (ἐνοσί-χθων, ἐννοσί-γαιος),384 und dass in der Ilias Poseidons Schritte „Berge und Wälder beben“ ließen,385 dann charakterisiert das Adjektiv einosi-phyllos, mit dem Odysseus das mächtige Gebirge seiner Heimatinsel beschreibt, offenstichtlich die von den Stößen der Erdbeben durchgerüttelten Bergwälder. Und das ergibt durchaus Sinn: Denn kaum ein bevölkerter Teil Griechenlands wird häufiger und schwerer von Erdbeben erschüttert als der westgriechische Inselbogen, dessen Zentrum die Insel Kephallenia bildet.386 Folglich dürfte es in der epischen Konzeption der Odyssee kein Zufall sein, dass unter allen griechischen Fürsten gerade der Kephallenenkönig Odysseus vom zürnenden „Erderschütterer Poseidon“ verfolgt wird.387 Für die Annahme, aufgrund der Erdbeben würde das homerische Attribut einosi-phyllos den Neriton als „Rüttelwald“ ausweisen,388 spricht nicht nur der sprachwissenschaftliche und geomorphologische Befund, sondern auch der literarische: In der Odyssee führt auch der thessalische Gebirgszug Pelion das Attribut einosi-phyllos,389 und zwar in der Titanengeschichte, in der die Titanen den Pelion auf das benachbarte Gebirge Ossa türmen wollten, um den Göttersitz Olymp zu erstürmen.390 Bei diesem mythischen Kraftakt, also dem Aufeinandertürmen von Gebirgsstöcken, würden freilich nicht nur die Blätter des Bergwaldes geschüttelt, sondern der den Pelion bekleidende Bergwald kräftig durchgerüttelt und wohl streckenweise auch zerstört. Analog dazu dürfte Odysseus, als er seine Heimatinsel beschreibt, mit dem Attribut einosi-phyllos auf den vom ennosi-gaios (ἐννοσί-γαιος) gerüttelten Bergwald hinweisen. Und dementsprechend wird bei Erdbeben im kephallenischen Inselraum der tannenbewaldete Aenos derart gerüttelt, dass es nicht nur „Tannenzapfen regnet“ und einzelne Bäume brechen bzw. entwurzelt stürzen, sondern dass auch ganze Strecken des Waldes niederliegen.391

384 „Durch Zusammensetzung unserer W. [Wurzel; s. o. Anm. 385] mit dem Präverbium ἐν bildete sich ἐννόσσω aus ἐνFοθjω, wozu Hesychius den Infinitiv ἐνοσσέμεν anführt; in ihm hat sich das F wie in ἐννέπω dem vorausgehenden ν assimiliert; dasselbe Verbum liegt auch in Ἐννοσίγαιος und Ἐνοσιχθων, den bekannten homerischen Epithetis des erderschütternden Poseidon; in dem letzteren ist aus handgreiflichen metrischen Gründen im Hexameter die Verdoppelung unterblieben; doch finden wir dieselbe in der von Hesychius überlieferten Form Ἐννοσιχθων“ (CHRIST 224). 385 Ilias 13,18 f. 386 WALDHERR 43. 387 Das Epitheton „Erderschütterer“ taucht in der Odyssee 24 Mal auf (u. a. 1,74; 5,339. 366; 7,56, 271; 8,354; 9,283; 11,252; 13,146. 149). 388 So übersetzt Anton WEIHER (227) in der hervorragenden Tusculum-Ausgabe Od. 9,21 f.: „gar herrlich ragt dort und rüttelt den Laubwald Neritons Gipfel“. Indes, „Laubwald“, steht in der Odyssee nicht; aber Kephallenia ist die einzige westgriechische Insel, die Berggipfel mit Nadelwald (Tannen) aufweist. 389 Od. 11,316. Ilias 2,757. – Vgl. FRISK (523): „ἐνοσίς für ‚Erschütterung‘ (Hes., E. in lyr.) … danach εἰνοσί φυλλος ‚laubschüttelnd‘“. 390 Od. 11,313–317. Otos und Ephialtes „droheten ja nur, sie stiegen ja nicht schon hinan, … aber blosse Absichten malt man nicht so aus“ (NITZSCH III 250). 391 PARTSCH, Kephallenia 27. – Eine weite Strecke durch Beben geköpfter Bäume fotografierte der Verf. auf dem Aenos im Jahr 2003.

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Im Zusammenhang mit dem homerischen Neriton ist auch noch das Wort eudeielos (εὐδείελος) zu beleuchten. „Die Bedeutung des Wortes ist nicht ganz sicher, doch wird es gewöhnlich durch ‚sehr deutlich‘, ‚leicht erkennbar‘ übersetzt“.392 Wenn eine zu einem Archipel gehörige Insel, wie Ithaka, leicht bzw. sehr deutlich zu erkennen ist, dann liegt es offensichtlich am signifikanten Relief, das die Seefahrer schon von weitem erblicken. Deshalb wird eudeielos meist „mit weithin sichtbar“ übersetzt, zumal Ithaka sich ja durch das hohe Gebirgsmassiv Neriton auszeichnet. Da in Ilias und Odyssee etliche hohe Berge des griechischen Erdraumes genannt werden,393 aber eudeielos „im Epos nur für Ithaka“ verwendet wird,394 ist es erforderlich zu prüfen, ob das Beiwort eine spezielle Bedeutung besitzt. Zwar stellte u. a. Dietrich Mülder fest: „Über die Etymologie kann kein Zweifel bestehen, ebensowenig über die Bedeutung im allgemeinen: ‚abend-schön‘“.395 Aber warum ausgerechnet das homerische Ithaka, im Gegensatz zu den anderen Inseln, als „abendschön“ hervorgehoben wird, dafür vermochte auch Mülder keine sinnvolle Erklärung zu bieten.396 Die eigentliche Bedeutung des exklusiven Beiworts eudeielos, das das homerische Ithaka auszeichnet, ist angesichts des signifikanten Gebirges Neriton verständlich, der als Aenos auf Kephallenia zu identifizieren ist und das Erscheinungsbild Kephallenias beherrscht. Wenn am späten Nachmittag die Sonne im Westen sinkt, wird der mächtige Aenos, der auf seiner westlichen Längsseite steil dem offenen Meere entsteigt und „wie eine schroffe Wand zwischen Himmel und Erde steht“,397 auf breiter Front angestrahlt, und so erscheint er im abendlichen Sonnenlicht besonders imposant. Zudem ist dieser „abend-schöne“ Berg bei dieser Beleuchtung ca. 150 km weit sichtbar.398 Und so diente den antiken und mittelalterlichen Seefahrern, die zwischen Sizilien und Griechenland

392 MICHAEL 19 (mit Verweis auf Od. 1,167; 9,21; 13,212, 234, 325; 19,132). Die relativierende Deutung von Hugo MICHAEL (er ist ein Befürworter der Theaki-Ithaka-Theorie), ist auch folgendem Zitat zu entnehmen: „Je näher die Erhebungen unmittelbar über dem Meere aufsteigen, um so leichter wird sich das Bild dem Auge einprägen“ (a. a. O.). „Dass Pindar, Ol. I, 179 den Kronoshügel bei Olympia so bezeichnet, spricht für diese Erklärung, denn er erhebt sich dort, wo Alpheios und Kladeos zusammentreffen, als eine alleinstehende, die Ebene weithin beherrschende Höhe“ (MICHAEL. 19, Anm. 1). 393 Hervorzuheben sind Olymp (u. a. Ilias 1,497; 15,192; 16,364. Od. 1,102; 6,42; 11,315), Parnassos (u. a. Od. 19,394; 21,220; 24,332), Taygetos (Od. 6,103), Pelion (Ilias 2,744; 16,144. Od. 11,316), Ossa (Od. 11,315); Kyllene (Ilias 2,603. Od. 24,1), Geraistos (Od. 3,177) und Maleia (Od. 3,287; 4,514; 9,80; 11,187). 394 MICHAEL 19. 395 MÜLDER, Ithaka 32. – Für seine Leukas-Ithaka-Theorie interpretiert Wilhelm DÖRPFELD (Alt-Ithaka 77) das Adjektiv εὐδείελος als „abendlich“, wobei er die Vorsilbe εὐ unterschlägt, um das „abendlich“ als nordwestlich zu deuten, wofür ihn Dietrich MÜLDER (Ithaka 32) kritisiert. 396 Dietrich MÜLDER (Ithaka 32) fragt zunächst: „Wodurch wird der Abend schön?“ In Anbetracht der südlichen Breiten lautet seine Antwort: durch „ein Sinken der Sonne und Nachlassen der Hitze“. Über ein interessantes philologisch-literarisches Argumentationsszenario kommt er zu dem Schluss: „Somit wäre εὐδείελος eine Insel, auf der man in der Nachmittagskühle fröhlich feiert“. Aber, so ist zu fragen, warum zeichnet Homer ausgerechnet und einzig Ithaka mit εὐδείελος aus? Feierte man auf anderen griechischen Inseln nicht fröhlich in der Nachmittagskühle? – Somit ist dies wieder ein Beispiel dafür, wie philologische Überlegungen ohne Berücksichtigung des geographischen Kontextes scheitern! 397 PÜCKLER-MUSKAU III 507. 398 NEUMANN-PARTSCH 148, Anm. 1.

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auf dem offenen Ionischen Meer unterwegs waren, v. a. während des Sonnenuntergangs das Aufleuchten des Aenos am fernen Horizont zur Kurskorrektur.399 Ja, selbst wenn die Sonne bereits im Meer versunken ist, bietet der dem Meer entsteigende „abend-schöne“ Berg noch ein prächtiges Bild, wie z. B. den Worten des Geographen Joseph Partsch zu entnehmen ist: „Bei einem Abendspaziergang in Pyrgos [Elis, NW-Peloponnes] war ich überrascht von der imposanten Gestalt des vom glühenden Abendhimmel schwarzblau sich abhebenden großen Berges von Kephallenia und hatte Mühe, daneben die schwache Aufwölbung der Höhen des fernen Ithaka überhaupt wahrzunehmen“. Und so ist es ein beeindruckendes Naturschauspiel, wenn die Sonne „hinter Kephallenias Gipfeln versinkt und allmählich die Inselberge, zuletzt der schneeige Aenos, nach letztem rosigen Aufleuchten in das tiefe Blau der rasch heranschreitenden Dämmerung sich tauchen“.400 Nun dürfte verständlich sein, weshalb der Odysseedichter einzig das homerische Ithaka (Kephallenia) mit dem Beiwort eudeielos auszeichnet. Der homerische Hymnos an Apollon berichtet, die kretischen Seefahrer des Apollonschiffes, das den westlichen Peloponnes in Richtung Golf von Korinth umrundete, hätten das am Seeweg liegende Gebirgsmassiv Ithakas (also den Aenos auf Kephallenia) lediglich „im Nebel verschwommen“ gesehen.401 Da das Schiff explizit „mit kräftigem Südwind“ an der Westküste des Peloponnes entlangfuhr, musste den Seefahrern die Insel Kephallenia mit ihrem südostwärts vortretenden Aenos-Gebirge geradezu im Nebel verschwommen erscheinen.402 Denn „mit Drehung der nördlichen Winde nach S. O. oder nach S. W. erfolgt augenblickliche Nebel- und Wolkenbildung. Der Aenos mit seinem fast bis zum Gipfel reichenden Waldgürtel entschwindet rasch dem Auge, und die Wolkenmassen, welche ihn umlagern und mit Hartnäckigkeit an ihm haften, senken sich besonders während der Winterzeit herab bis zum Meeresspiegel. Mit gleicher Schnelligkeit lösen sich aber beim Eintritt der nördlichen Winde Nebel und Wolken wieder auf, dem Beobachter das überraschende Schauspiel einer abwechselnd verdeckten und enthüllten Landschaft gewährend“.403 Die „Nebelhäufigkeit“ und der „erhebliche Nebelreichtum“ sind für den Aenos signifikant,404 und wegen des dichten Nebels erkannte sogar Odysseus seine Heimatinsel zunächst nicht,405 nachdem ihn die Phaiaken dort abgesetzt hatten. Als die Göttin Athene ihren heimgekehrten Schützling Odysseus nach der Abfahrt der Phaiaken und dessen Erwachen gesprochen hatte, zeigte sie ihm seine Heimat: „Dort ist der waldbedeckte Neriton, sprach sie, und die Göttin zerstreute den Nebel, die Erde ward sicht399 PARTSCH, Kephallenia 40. – „Le Mont Néro [Aenos] est visible de 80 milles: c’est ordinairement la première terre que l’on apercoive en venant de l’Ouest” (BÉRARD II 412). 400 PARTSCH, Kephallenia 57 u. 7. 401 Hom. h. 3,91–429. 402 Hom. h. 3,408. – Vgl. Ilias 3,10–12: „Gleichwie der Südwind die Gipfel der Berge verhüllt mit dem Nebel, … dass man weiter nicht blickt als über den Wurf eines Steines“. 403 WIEBEL 60. 404 KNAPP 80. 405 Od. 13,190 f.

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bar“.406 Das von Athene inszenierte Naturschauspiel wird von namhaften Altphilologen als unrealistisch kritisiert, denn dass ein über der Landschaft „lagernder Nebel nicht ruckartig verschwindet wie ein Theatervorhang, weiß jeder, der einen solchen Vorgang beobachtet hat“.407 Zudem wird aus literarischer Sicht der Einwand erhoben: „Wenn Odysseus die Gegend nicht erkannte, weil er so lange in der Fremde gewesen war, so war der Nebel überflüssig“.408 Aber solche ebenso theoretischen wie kleinlichen Einwände und auch die vermittelnden philologischen Erklärungen für das Szenario durch Ulrich von Wilamowitz werden dem Epos nicht gerecht,409 da der Dichter an den kephallenischen Aenos denkt, der das in der Odyssee beschriebene Schauspiel tatsächlich bietet, welches der Gräzist Hartmut Erbse in seinen ‚Beiträge[n] zum Verständnis der Odyssee‘ mit der Metapher des sich öffnenden „Theatervorhangs“ spöttisch diskreditiert, ohne sich zuvor mit der Meteorologie des westgriechischen Inselraums befasst zu haben. So schrieb u. a. der General John Davy über die dem Aenos anhaftende Nebelhülle: „A change of wind, from S. E. to the N. E. or N. W., has a remarkable effect: the atmosphere of a sudden becomes clear; a new landscape opens before one, as if a curtain were withdrawn from a picture; – at first one can hardly credit the senses: it looks like illusion“.410 Da viele Altphilologen den historisch-geographisch orientierten Homerforschern vorwerfen, dass diese den angeblich „rein literarischen“ Charakter der homerischen Epen verkennen und somit den Text „vergewaltigen“,411 wurden hier mal am Beispiel des homerischen Berges Neriton die Grenzen der philologisch-kritischen Exegese aufgezeigt, die den geographischen Rahmen der epischen Handlung weitgehend negiert und dadurch unzutreffende Schlüsse zieht.412 Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschien in der ‚Zeitschrift für die Altertumswissenschaft‘ ein anonymer Artikel, demzufolge es für die „Homerische Geographie von der grössten Wichtigkeit ist, dass der 406 Od. 13,351 f. 407 ERBSE 161. Auch Eduard SCHWARTZ (55) stört sich am Nebel, ebenso Erich BETHE (62 u. 63, Anm.4) sowie Otto SEECK (146), der von „jenem wunderbaren Nebel“ spricht. Und Friedrich BLASS (143) folgert gar: „So werden wir zur Athetese gedrängt“. – Zu bestreiten ist indes nicht, dass bei der Ankunft des Odysseus im Palast des Phaiakenkönigs Alkinoos der Dichter zu „der Allerweltsmaschinerie, dem verhüllenden Nebel, seine Zuflucht nimmt“ (MÜLDER, Phäakendichtung 38). 408 WILAMWOWITZ, Heimkehr 7. Und Adolf KIRCHHOFF (497) moniert: „Um Odysseus, wie im Folgenden geschieht, zu verwandeln und dadurch unkenntlich zu machen, und um ihm die nothwendigen Anweisungen zu geben, hatte Athene nicht nöthig über die Scene einen Nebel zu verbreiten; schon Aristophanes von Byzanz corrigirte daher αὐτὸν Vs. [Od. 13,] 190 in αὐτῷ, um μιν auf Ithaka beziehen zu können“. 409 Man denke z. B. an die Erklärung von WILAMOWITZ (Heimkehr 11): „Wer daran anstößt, überlege sich, wie ein epischer Dichter ausdrücken konnte: ‚Während ihrer Rede hatte die Göttin den Nebel zerstreut und das Land war sichtbar geworden’. Ein Plusquamperfektum stand ihm nicht zu Gebote“. 410 DAVY I 236 ( John Davy war in der Mitte des 19. Jhs. ‚Inspector-General of Army-Hospitals‘ im Mittelmeer). Die Briten unterhielten auf dem Aenos ein Sanatorium für lungenkranke Soldaten. – Es sei angemerkt, dass das Davy-Zitat in keinerlei Bezug zur Odyssee steht. 411 Bzgl. „rein literarisch“: MÜLDER, Ithaka u. a. 31. Bzgl. „vergewaltigen“: MÜLDER, Ithaka-Hypothese 154. 412 Man denke z. B. an das Statement von Dietrich MÜLDER (Ithaka 10): „Ἰθάκη als Handlungsschauplatz ist ein zusammenhängender Raum – einerlei wie die geographische Wirklichkeit aussieht“.

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geographische Gesichtspunct [künftig] hinter dem poetischen zurückgestellt werden müsse“.413 Und in diesem Sinne verfährt auch Ulrich von Wilamowitz, wenn er mutmaßt, aus dem festländischen Stadtnamen „Nerikos“ habe „der minder geographisch bewanderte Dichter (oder viel mehr einer, dem ι 22, ν 351 gehören) einen Berg auf Ithaka gemacht, worauf dann spätere Mytho- und Geographen fußen“.414 1.2.2 Der Gebirgsgipfel Neion Nachdem der Sohn des Odysseus, Telemach, mit seinen Gefährten zur Westküste des Peloponnes gesegelt war, stellte er sich dem pylischen König Nestor mit den Worten vor: „Wir kommen aus Ithaka; der Neion ragt dort zum Himmel“.415 Aber warum spricht Telemach vom Neion und nicht vom Neriton?! Keine Exegese konnte darüber hinwegtäuschen, dass hier der „waldbedeckte Neion“416 und der „waldbedeckte Neriton“417 als Wahrzeichen des homerischen Ithaka miteinander konkurrieren, und so haben schon antike Gelehrte „darüber gestritten, ob man Neriton und Neion als ein und denselben Berg oder als verschiedene Berge ansehen sollte“.418 Strabon legte sich nicht fest, ob Neion und Neriton ein und dasselbe Bermassiv bezeichnen.419 Und Ulrich von Wilamowitz hielt es gar für „eine schwere Zumutung“, Neriton und Neion als zwei unterschiedliche Berge zu deuten.420 Also, „geschlossener und einfacher wäre das Bild, wenn man, wie anscheinend Wilamowitz tut, Neriton und Neion völlig gleichsetzen könnte“.421 Auch antike Kommentatoren deuten die Berge Neriton und Neion als unterschiedliche Lesarten desselben Gebirges. So weisen die Odyssee-Scholien „Neriton“ als andere Lesart von „Neion“ aus, während der byzantinische Gelehrte Eustathios umgekehrt „Neion“ als andere Lesart für „Neriton“ auffasste.422 Zwar ist aus philologischer und auch historisch-geographischer Sicht nichts dagegen einzuwenden, dass beide Namen unterschiedliche Lesarten

413 Cäsar 968 [der anonyme Autor versteckt sich hinter dem Pseudonym Julius Cäsar]. 414 WILAMOWITZ, Untersuchungen 73, Anm. 2. 415 Od. 3,81 (ἐξ Ἰθάκης Ὑπονηΐου). Die Übersetzung folgt „Strabon, der Od. 3,81 Ἰθκης ὑπὸ Νηΐου getrennt las“ (PAPE III 273). 416 Od. 1,186. 417 Od. 13,351. 418 LANG 82 (mit Bezug auf Strab. 51,2,11 und Schol. a 186). Vgl. WILAMOWITZ, Untersuchungen 73. 419 Strab. 10,2,11. 420 WILAMOWITZ, Ithaka-Hypothese 383. Da in Wilhelm DÖRPFELDs Leukas-Ithaka-Theorie Neriton und Neion als zwei verschiedene Berge ausgewiesen werden, schreibt WILAMOWITZ (a. a. O.): „In älteren Teilen [der homerischen Epen] heißt Neritos ein Berg auf Ithaka; aber dafür steht anderswo Neion. Diese Namen von einander zu reißen, ist eine schwere Zumutung“. 421 BELZNER 33. 422 Siehe Gustav LANG 82 (mit Bezug auf Eust. 1409 Z. 44 und Schol. ι 22). „Bei dieser Sachlage halte ich es überhaupt für unwahrscheinlich, dass man unter Neion einen besonderen Berg zu verstehen hat; vielmehr scheint mir die Notiz bei Eust. p. 1409 Z. 37 μέρος τοῦ Νηρίτου τὸ Νηίον, (ebenso Z. 45) das Richtige zu treffen“ (a. a. O.).

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desselben Berges sind, weil derartiges bei Toponymen durchaus vorkommt,423 aber dennoch bleibt zu fragen, warum für das signifikante Bergmassiv in der Heimat des Odysseus zwei Namen in Umlauf gewesen sein sollten? Der Grund dafür liegt in der Morphologie des kephallenischen Gebirgsmassivs: Die katzenbuckelartige Gestalt des schluchtenreichen Aenos lässt nämlich rätseln, ob es sich bei ihm bloß um einen länglichen Bergklotz oder gar um einen Gebirgszug handelt. Selbst der sorgfältige Geograph Joseph Partsch findet zu keiner Entscheidung und spricht sogar auf einer Druckseite von der „Aenoskette“ und dem „Gebirge“ sowie bloß vom „Berg“.424 Nicht zuletzt wegen dieses unbestimmten Sachverhaltes gebrauchen auch die neuzeitlichen Kephallenen für den Aenos zwei verschiedene Namen, nämlich Megalo Vuno und Megas Soros. Während Megalo Vuno das gesamte, ca. 15 km lange Massiv bezeichnet, bezieht sich Megas Soros auf dessen Zentrum, sozusagen auf den höchsten Berg bzw. auf den Zentralgipfel.425 Dieser differenzierte Sprachgebrauch für das Gebirgsmassiv, den das Relief des Aenos evoziert, berechtigt also zu der Vermutung, dass schon zu homerischer Zeit zwei Namen für ein- und dasselbe Gebirgsmassiv im Umlauf waren, nämlich Neriton und Neion. Die beiden Bezeichnungen wurden, analog zu den heutigen Namen, wahrscheinlich nicht willkürlich benutzt: So dürften die Kephallenen der homerischen Zeit unter dem sprechenden Namen „Neriton“, der auf die „zahllosen“ Einzelgipfel des katzenbuckelartigen Aenoskammes hinweist,426 den gesamten Gebirgsrücken verstanden haben. Dagegen bezeichnete der Name „Neion“, wie u. a. im ‚Griechisch-Deutschen Wörterbuch‘ von Gustav Eduard Benseler zu lesen ist, nur einen „Teil des Gebirges Νήριτον“,427 d. h. wohl den Kern des Aenos mit dem 1.628 m hohen Zentralgipfel. So erstreckt sich Ithaka, wie in der Odyssee zu lesen ist, „unter dem Neion“ (ἐξ Ἰθάκης Ὑπονηΐου),428 womit sicherlich die Gipfelpartie des Neriton und deren Abhänge gemeint sind. Wenn der Neion dagegen als ein eigenständiger, vom Neriton verschiedener Berg aufzufassen ist, dann wäre es nicht nur sprachlich problematisch, zu sagen, Ithaka läge ‚unter dem Berg Neion‘, weil man aufgrund der Ilias und der Odyssee eher annehmen würde, dass die Landschaften Ithakas sich unterhalb des hochaufragenden Neriton befinden.429 Während mancher namhafte Homerphilologe annimmt,

423 „Vielfach weisen Berge verschiedene Namen auf, je nachdem von wo aus sie benannt worden sind“. Auch spielen unterschiedliche „Lagenamen nach der Form und Beschaffenheit“ eine Rolle (POHL, Bergnamen 117 f.). 424 PARTSCH, Kephallenia 88. 425 Siehe u. a. PARTSCH, Kephallenia 15 (sowie dessen Karte: Kephallenia und Ithaka), und BÜRCHNER, Kephallenia 199,47 ff. 426 Vgl. BENSELER 621: „νήρῐτος, zahllos, unendlich“. 427 BENSELER 620. Ähnlich folgert Otto August RÜHLE (69): Der homerische Neriton „scheint sich über den größten Theil des Felseneilandes hingezogen zu haben, und kein einzelner Berg blos so genannt gewesen sein“; dagegen „scheint“ Neion „also nur ein Abhang des Hauptgebirges zu sein“. 428 Od. 3,84: ἡμεῖς ἐξ Ἰθάκης Ὑπονηΐου ἐιλήλουθμεν. 429 Der Neriton (Ilias 2,632. Od. 9,22; 13,351) wird noch stärker hervorgehoben als der Neion (Od. 1,186; 3,81).

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im Gegensatz zum Neriton sei nur der Neion ein historischer Name,430 lässt sich aus historisch-geographischer Sicht die problematisch erscheinende Konkurrenz von Neriton und Neion befriedigend nur lösen, wenn der Neion ein Teil des Neriton ist.431 Zwar sind die beiden Oronyme Neion und Neriton in der geographischen Wirklichkeit nicht konkret voneinander abzugrenzen, aber immerhin setzten sie, wie deren neuzeitliche Pendants Megas Soros und Megalo Vuno (deren Wortbedeutungen indes synonym sind) unterschiedliche Akzente. Das bei günstiger Witterung etwa 150 km weit sichtbare Aenos-Massiv432 erscheint aus südwestlichen Richtungen, vom offenen Ionischen Meer her, wie ein länglicher Gebirgszug, da es dem seefahrenden Betrachter seine Breitseite darbietet. Dagegen sieht der Aenos aus südöstlicher Richtung wie ein steiler kegelförmiger Berg aus, hinter dem die übrigen Landschaften Kephallenias zurücktreten bzw. verschwinden, da das Bergmassiv die keilförmige Südosthalbinsel Kephallenias bildet und somit das übrige Land in seinen Schatten stellt.433 Dementsprechend erzählt der homerische Apollonhymnos, kretische Seefahrer hätten auf der Reise entlang der peloponnesischen Westküste, nachdem sie „das sandige Pylos“ in Triphylien und Elis passiert hatten, lediglich „im Nebel verschwommen, Ithakas steilen Berg“ bemerkt und keinen anderen Teil der Insel.434 Und weil bei klarer Sicht vom „sandigen Pylos“ aus,435 das etwa 110 km südöstlich von Kephallenia anzusetzen ist, die Silhouette des Aenos nicht einem länglichen Gebirgsrücken (sprich: Neriton) gleicht, sondern einem gigantischen kegelförmigen Berg,436 könnte Telemach bei seiner Vorstellung in Pylos den Berg- und Gipfelnamen Neion der Bezeichnung Neriton vorgezogen haben. Der Bergname Neion ist ein sprechender Name, der zum Schiffbau geeignete Stämme und Balken bezeichnet.437 Das homerische Toponym verweist folglich auf die Gipfelpartie des Aenos, denn die – dort besonders hochstämmigen – „Tannenwälder, deren Holz meistens für den Schiffsbau verwendet wurde, boten in Fülle Bauholz für die Schiffswerften. Schon bei Homer wird Schiffszubehör aus Tannenholz erwähnt“,

430 THIEL, Odysseen 195. 431 Bei der etablierten Ithaka-Theaki-Theorie scheint das Problem auf den ersten Blick nicht vorhanden zu sein, weil das sog. Ithaka (Theaki) aus zwei Bergrücken besteht, die nur durch einen schmalen Isthmos miteinander verbunden sind. Deshalb werden die Namen Neriton und Neion einfach auf die beiden Gebirge verteilt. Aber diese, vermeintlich problemlösende Aufteilung führt der Ausdruck ἐξ Ἰθάκης Ὑπονηΐου (Od. 3,84) ad absurdum, weil dann nur einer der beiden Inselteile als Ithaka bezeichnet würde! 432 NEUMANN/PARTSCH 148, Anm. 1. 433 Das „überragende Massiv von Kephallenia (bis 1620 m hoch), das von Ferne gesehen [LANG meint vom Peloponnes aus], die Insel fast zu erdrücken scheint“ (LANG 28). 434 Hom. h. 3,424 ff. – In der Odyssee führt die Bezeichnung ὄρος αἰπὺ ansonsten nur noch das peloponnesische Kap Malea (3,287; 4,514) und der mittelgriechische Parnaß (19,431). 435 Das „sandige Pylos“ (u. a. Od. 1,93; 2,214, 326, 359), die Stadt des Nestor, lag an der Küste Triphyliens (MEYER, Pylos 2135 ff.). 436 „Bei guter Sicht können die Inseln [Kephallenia und Zakynthos] klar von der triphylischen Küste gesehen werden“ (MARINATOS 97). 437 „δόρυ νήϊον, ein zum Schiffbau gebrauchter Balken, Schiffbauholz“ (PAPE II 236). „νάιος, dor. u. poet., ep. u. poet. auch νήιος“ bedeutet „zum Schiffe gehörig“ (BENSELER 612).

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und in der Odyssee wird „das Ruder einfach als Tanne (ἐλάτη) geschrieben“.438 Auch der Mast des Schiffes, mit dem Telemach zum Peloponnes segelte, bestand explizit aus Tannenholz.439 Im Altertum war Tannenholz das begehrteste Schiffsbaumaterial überhaupt, insbesondere für Kriegsschiffe, „denn trockenes Weisstannenholz gehört zu den allerleichtesten Holzarten“ und galt wegen seiner geringeren Anfälligkeit gegen die im Meer lebenden Bohrmuscheln als besonders langlebig.440 Da die untere Waldgrenze der Tanne im griechischen Erdraum bei 800 m Höhe liegt,441 bot kaum ein anderer Berg das begehrte Schiffsbauholz in solcher Meeresnähe, wie der tannenbewaldete Aenos, dessen 1.628 m hoher Zentralgipfel (der homerische Neion) aufgrund des steilen Böschungswinkels nur 4 km von der Küste entfernt ist. Die homerische Bezeichnung Neion lässt unwillkürlich an den Beinamen des Zeus (ionisch: Νάϊος; dorisch: Νήϊος) denken, den dieser in seinem alten nordwestgriechischen Heiligtum zu Dodona führte.442 Da auch Odysseus dem dodonischen Zeus huldigte443 und Berge oft „kultisch-mythische bzw. religiöse Namen“ tragen,444 drängt sich die schon von Wilhelm Dörpfeld geäußerte Vermutung auf, dass den homerischen Berggipfel Neion einst eine Kultstätte des Zeus krönte.445 Und tatsächlich trug der Aenosgipfel das neben Dodona und Olympia berühmteste Zeus-Heiligtum im Westen Griechenlands! Diese hochgelegene Kultstätte des Zeus, die seit prähistorischer Zeit bestand446 und bereits im 8. Jh. v. Chr. von Hesiod erwähnt wird,447 „scheint das ganze Altertum wie ein Wahrzeichen der Insel gekannt zu haben“.448 Und auch deshalb stellt sich Telemach auswärts beim König Nestor mit den Worten vor: Er komme „aus Ithaka her; der Neion ragt dort zum Himmel“.449 438 MARINATOS 94 (mit Bezug auf Od. 12,172). 439 Od. 2,424. – „Die ragende Tanne, die Zimmerer hoch im Gebirge fällten zum Balken des Schiffes“ (Ilias 13,390 f.). 440 NEUMANN/PARTSCH 371 f. „Nur wo es an Tannenholz fehlte, baute man Kriegsschiffe auch aus Kiefern“ bzw. aus Pinien- und Zedernholz (a. a. O.). Überhaupt galt im Altertum: „Das nützlichste Holz hat die Weißtanne und Kiefer, auch geben sie die schönsten und längsten Stämme“ (LENZ 3). 441 NEUMANN/PARTSCH 368. 442 FAUTH, Orakel 326,2 f. 443 Od. 14,327 ff.; 19,296 ff. Aufgrund dessen und Od. 16,403 folgert Wolfgang HELBIG (282): „Die Ithakesier … verehren den dodonäischen Zeus“. HELBIG verweist a. a. O. auch auf Od. 16,403; in diesem Vers fragen sich die skrupellosen Freier auf Ithaka (Kephallenia), ob der „αἰνήσωσι Διὸς“ (vgl. Αἰνήσιος, Beiname des Zeus, vom kephallenischen Berge Αἰνος, Strab. 10,2.15; vgl. Αἰνηϊος) den geplanten Mord an Telemech billigen wird. 444 POHL, Bergnamen 117. 445 Deshalb beabsichtigte DÖRPFELD (Alt-Ithaka 109) zur Erhärtung seiner Leukas-Ithaka-Theorie auf dem von ihm identifizierten Berg Neion auf Leukas (Skaros bei Nidri, 650 m) eine Zeus-Kultstätte zu finden, musste aber leider feststellen, „vergeblich nach einer solchen gesucht“ zu haben (a. a. O.). 446 Die Insel Kephallenia gipfelt im „antiken Ainos mit schon prähistorischer Kultstätte und Heiligtum des Zeus Aine(s)ios“ (MEYER, Kephallenia 187,4 ff.). „Auf dem höchsten Scheitel des Berges findet man heute noch zahlreiche kalcinierte Knochenreste. Sie rühren zweifellos von einer alten Opferstätte her“ (PARTSCH, Kephallenia 82). 447 Hes. Frg. 165. 448 PARTSCH, Kephallenia 82 (mit Bezug auf Strab. 10,2,15. Schol. Apoll.Rhod. 2,297. Etym.M. 153, 41. Leo Byz. FHG II nr. 4 u. a.). 449 Od. 3,81.

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Die in der neuzeitlichen Reise- und Fachliteratur oft erwähnten „Überreste des Heiligtums von Zeus Aineios sind immer noch vorhanden. Sie befinden sich nicht genau auf dem höchsten Gipfel [Megas Soros], sondern etwas östlicher und tiefer“, schrieb in der Mitte des 20. Jhs. der Archäologe Spyridon Marinatos.450 Heutzutage sind die materiellen Spuren anscheinend verschwunden, und so bezeugt nur noch die literarische Überlieferung des Altertums die Existenz des Zeus-Heiligtums.451 Bemerkenswert ist, dass die Kultstätte dem Zeus Aineios (Αἰνήϊος) geweiht war,452 und diese Zeusepiklese scheint noch ein Reflex des homerischen Gipfelnamens Neion (Νήϊον, νήιος) zu sein.453 Hinzuweisen ist auch auf den Odysseevers, in welchem die skrupellosen Freier auf Ithaka (Kephallenia) beraten, ob der „αἰνήσωσι Διὸς“ (vgl. „Αἰνήσιος, Beiname des Zeus, vom kephallenischen Berge Αἰνος, vgl. Αἰνήϊος“) den geplanten Mord an Telemach billigen wird.454 Aufgrund des mächtigen küstennahen Gebirges, auf dem der Zeus Aineios thronte, entstehen über dem kephallenischen Inselrumpf häufig Gewitter mit furchterregenden Blitzen,455 wie auch dem Epos zu entnehmen ist: Als z. B. die rachsüchtigen Familienangehörigen der getöteten Freier nahe dem Landgut des Laertes (also auf Ithake Hypo-neion!)456den bewaffneten Odysseus und dessen Gefährten stellten, „drängte der große Dulder, der hehre Odysseus, grausig und schreiend und stürmisch gestrafft wie ein Adler im Hochflug. Schließlich warf der Kronide [Zeus] den schweflichten Blitz, daß er einschlug“ und somit den Bürgerkrieg unterband.457 In diesem meteorologischen Kontext sei darauf hingewiesen, dass die indogermanische Wurzel des Beiwortes einosi-phyllos (εἰνοσί-φυλλος), das der homerische Neriton (und damit sein Berggipfel Neion) führt,458 auch die Wortfelder „Gewitter“, „Wetterschlag“ und „Donnerwetter“ umfasst.459 450 MARINATOS 104. Die Altarsteine auf dem Aenosgipfel sah auch noch BENTON (BSA 1934, 225). 451 Siehe WARNECKE, Zeus 399 ff. 452 „Αἰνήϊος … 2) Beiname des Zeus in Kephallenia, vom Berge Αἰνος, siehe Αἰνήσιος“ (PAPE III 17). Hans BÜRCHNER (Kephallenia 199,54 f.) spricht von der „Opferstätte des Zeus Ainesios oder (richtiger) Aineios (Strab. 10,456)“. Der Name „kommt möglicherweise von αἰνός = schrecklich“ (BÜRCHNER 199,59) und erinnert an den homerischen Ausdruck αἰνότατε Κρονίδη („der schreckliche Zeus“); u. a. Ilias 18,361. – Immerhin verfolgte ‚der schreckliche Zeus‘ den Odysseus mit Gewittern und vernichtenden Blitzen (Od. 5,128, 131; 7,250; 12,387, 415; 14,305; 23,330). 453 „Νήϊον, Teil des Gebirges von Νήριτον, w. s. [wo siehe] νήιος u. νηίτης, s. [siehe] νάιος“ (BENSELER 620). 454 Od. 16,403. Das Zitat in der Klammer stammt von Wilhelm PAPE III 17; mit Bezug auf Strab. 10,2,15. 455 Der Geograph Joseph PARTSCH (Kephallenia 33) verweist beim Klima der Insel auf „kräftige, anhaltende Gewitter“, und der Hydrologe Karl Wilhelm WIEBEL (62) auf „eine grössere [„Anzahl“] von Wintergewittern“. – Winterliche Blitze und Donner über dem homerischen Ithaka hebt die Odyssee (20,103, 113, 120; 24,539) hervor. 456 Od. 3,81 (ἐξ Ἰθάκης Ὑπονεΐου). Das Landgut des Laertes liegt nicht weit von der Rheithron-Bucht „an Neions waldiger Höhe“ (Od. 1,185 f.). 457 Od. 24,537 ff. – Vgl. die Verse 2,146 f. u. 19,538, in denen vom hohen Gebirge Ithakas her Adler über das Stammkönigreich des Odysseus schweben. 458 Ilias 2,632. Od. 9,22. 459 Wie bereits dargelegt (vgl. Anm. 381–384), ist das Wort εἰνοσί-φυλλος (= ἐννοσί-φυλλος) verwandt mit „vad schlagen, vadhay zurückschlagen“, und dies gehört „zu skt. vadh-as Wetterschlag, zd. vad-are Mittel zum Schlagen“; vgl. „ags. veder, unser Wetter, das danach vom Donnerwetter und Gewitter aus erst allmählich seinen indifferenten Gebrauch erhalten hat“ (G. CURTIUS 245).

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1.2.3 Die Fruchtbarkeit Ithakas „Von welcher Seite man sich auch Kephalonia [Kephallenia] nähern mag, fast überall bietet das Land im Aufrisse das Bild eines wilden und schroffen Felsgebäudes“.460 Diesen Sachverhalt drückt der homerische Inselname Ithaka („die Steile“) aus, und so erscheint die Heimatinsel des Odysseus auch den Seefahrern im Hymnos an Apollon als „schroff aufsteigendes Gebirg“.461 Aufgrund der spröden Insellandschaft, die im Epos als „steinig, felsig und rauh“ bezeichnet wird,462 lehnte Telemach mit folgenden Worten die herrlichen Pferde ab, die ihm der König von Sparta, Menelaos, schenken wollte: „Du bist ein Herr über breitestes Flachland: Gräser gedeihen, Klee auch in Fülle und Weizen, da wuchert die blinkende Gerste. Ithaka aber hat keine Auen, nicht breite Flächen zum Wettrennen. Mir ist mein Land für die Ziege viel lieber als eines für Pferde. Liebliche Auen und Räume für Pferde hat keine der Inseln, wie sie im Meere dort liegen; von Ithaka gilt dies vor allen“.463 Zweifellos ist die gebirgige Heimat des Odysseus für Pferdehaltung ungeeignet. Indes, der relativierende Zusatz, dass unter den westgriechischen Inseln vor allen das homerische Ithaka für Pferde ungeeignet sei, hat die Gemüter mancher Homerforscher bewegt.464 Zwar könnte die Aussage des Telemach über das kleinräumige und anscheinend karge Ithaka angesichts der weiten und fruchtbaren Ebene von Sparta sowie des unglaublichen Reichtums des Menelaos465 als kontra-positionierende Topik im Epos konstruiert sein, aber diese Vermutung entbindet uns nicht der Notwendigkeit, den Dichter beim Wort zu nehmen. Und so ist nun zu fragen, ob das homerische Ithaka (Kephallenia) unter den umliegenden Inseln wirklich am ungeeignetsten für Pferde war, wie Telemach dem Menelaos beteuert. Um unnötigen Spekulationen vorzubeugen, sei ein Blick auf die ältesten exakten Viehzählungen des westgriechischen Inselraumes geworfen,466 die im frühen 19. Jahrhundert unter britischem Protektorat erfolgten. Obwohl fast alle westgriechischen Inseln aufgrund ihrer gebirgigen Struktur nicht sonderlich geeignet für Pferde sind, belegen die alten Statistiken, dass es aufgrund 460 WIEBEL 12. 461 Hom. h. 3,428. – Ithaka bedeutet „die Steile“, zumal „das griechische ἰθύς (steil) eine völlig unbedenkliche Deutung der sichtlich zusammengehörigen Namen Ithaka und Ithome an die Hand gibt“ (PARTSCH, Kephallenia 39). 462 Od. 1,247; 15,510; 16,124; 21,346. Ilias 3,201 (κραναός). Od. 10,417, 463 (τρηχύς). 463 Od. 4,601 ff. – U. a. nimmt KIRCHHOFF (190) an, dass „die Ablehnung des angebotenen [Pferde-] Geschenkes … erst später hinzugefügt worden sei und zwar von Jemandem, welchem die Schilderung der Vorzüge Ithaka’s in [Od.] ν 242 ff. vorschwebte“. 464 ENGEL (22) meint sogar, Telemachs „Angabe, daß es auf der Odysseus-Insel keine Ebenen gibt und daß man dort keine Pferde brauche, könne die ganze [Ithaka-] Frage lösen“. Ähnlich äußert sich DÖRPFELD (Alt-Ithaka 102 ff.). 465 Od. 4,45 f., 72 ff. 466 Die Jahresberichte der venezianischen Provveditori (Statthalter), die drei Jahrhunderte lang die Ionischen Inseln beherrschten, bieten zuweilen zwar Vieh-Schätzungen, aber diese sind nachweislich unzutreffend, sodass „erst unter der englischen Herrschaft“ brauchbare Zahlen über die Viehbestände vorliegen (PARTSCH, Kephallenia 95).

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geringfügig differierender naturräumlicher Bedingungen innerhalb der Inselgruppe dennoch signifikante Unterschiede in der Dichte der Pferdehaltung gab.467 Bezogen auf die Inselfläche besaßen am meisten Pferde Zakynthos und Leukas (mit 8,5 bzw. 8,2 Pferden pro qkm), gefolgt von Kerkyra/Corfu und Ithaka/Theaki (mit 6,7 bzw. 6,4 pro qkm), während Kephallenia die wenigsten Pferde aufwies (3,3 pro qkm). Kephallenia war also diejenige Insel, auf der es pro Quadratkilometer mit Abstand am wenigsten Pferde gab, was angesichts der unmittelbar benachbarten Inseln den Kephallenen auffallen musste: Selbst das karge Theaki (das heutige Ithaka) besaß – bezogen auf die Fläche – immerhin doppelt so viele Pferde wie Kephallenia, und Leukas sowie Zakynthos jeweils fast dreimal so viele. Die differenzierte Aussage des Telemach, „Räume für Pferde hat keine der Inseln, von Ithaka gilt dies vor allen“, bestätigt also die Identität des homerischen Ithaka mit Kephallenia und ist Anlass genug, auch die anderen naturräumlichen Angaben der Odyssee wörtlich zu nehmen! Kurz nachdem der in Sparta weilende Telemach auf den geringen Nutzen prächtiger Pferde in seiner gebirgigen Heimat hingewiesen hat, blendet der Dichter nach Ithaka zurück und lässt vor dem Palast des Odysseus den Kephallenen Noemon auftreten, der mit seinen in Elis weidenden Stuten Maultiere züchtet und sie auf seinem Schiff importiert.468 Sowohl die Maultiere des Noemon als auch der Hinweis, dass beim Palast des Odysseus ein großer Haufen Maultiermist lag,469 sind weitere Indizien dafür, dass das homerische Ithaka mit der Insel Kephallenia gleichzusetzen ist und sich die Heimat des Odysseus über den hochgebirgigen Südosten der Insel erstreckte. Denn Maultiere, die wegen ihrer ausdauernden Trag- und Steigleistung im Hochgebirge eingesetzt werden, waren auf den westgriechischen Inseln nahezu ausschließlich im kephallenischen Aenos-Gebirge anzutreffen: So weist die früheste exakte Viehzählung aus dem Jahr 1825 für Kephallenia lediglich 725 Pferde aus, aber etwa doppelt so viele Maultiere, nämlich 1.412;470 dagegen weist die Statistik für die Nachbarinsel Theaki (das heutige Ithaka) keine Maultiere aus. Noch Anfang des 19. Jhs. war sogar die Hauptverbindung zwischen der West- und Ostküste Kephallenias nur „a mule track“,471 und dementsprechend klagte Fürst von Pückler-Muskau über seine Reise durch Kephallenia: „Die Wege und Verbindungen im Innern der Insel sind, wie sie selbst, sehr rauh, ungebahnt und felsig. Man kann nur zu Fuß oder mit geübten Saumthieren [= Maultie-

467 DAVY I 327: Corfu 4.067 Pferde, Leukas 2.452, Ithaka/Theaki 643, Kephallenia 2.405, Zakynthos 3.400. Bei dieser Statistik ist jedoch zu beachten, dass bei den Pferden auch Maultiere hinzugezählt wurden, von denen es auf den Inseln nur wenige gab, mit Ausnahme der Insel Kephallenia, bei der sich das Verhältnis von Pferden zu Maultieren sogar auf etwa ein Drittel zu zwei Drittel belief (s. PARTSCH, Kephallenia 95). 468 Od. 4,634 ff. Maultiere (Kreuzung zwischen Esel und Stute) sind nicht fortpflanzungsfähig. 469 Od. 17,297 f. 470 PARTSCH, Kephallenia 95. 471 NAPIER, Roads 8. – Angesichts dessen ist die Kritik von Rudolf HERCHER (270) absurd, dass die befahrbaren Wege, die Ithaka schon zur Zeit des Odysseus gehabt hätte, nirgendes erwähnt werden. Aber das homerische Bild von Ithaka sei nur „etwas Generelles, ohne bestimmten Contour … Es ist also nicht als spezifische Eigenthümlichkeit gerade Ithakas anzusehen, daß es keine Fahrstraßen besitzt“.

1.2 Die Landschaft Ithakas

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re] fortkommen“;472 und so bereiste auch der berühmte Maler William Turner die Insel Kephallenia „on a mule-back“.473 Trotz des vorherrschenden Berglandes mit seinen tiefen Wäldern ist die Heimatinsel des Odysseus nicht unfruchtbar und wurde landwirtschaftlich genutzt, wie insbesondere den Worten der Athene zu entnehmen ist: „Freilich, der Boden ist rauh und gar nicht für Rosse geeignet, aber auch wieder nicht dürr, doch fehlen die breiteren Flächen. Immerhin wächst hier Getreide und Wein in unsagbarer Fülle, Regen gibt es immer und perlenden Tau. So gedeihen treffliche Weiden für Rinder und Ziegen“.474 Dem Weidegang der anspruchslosen Ziegen dienen die kargen Gebirgslehnen Kephallenias noch heute, und die saftigen Wiesen in den feuchten Niederungen der Insel, die teils sogar ganzjährig fließende Bäche aufweisen,475 bieten noch immer „treffliche Weiden für Rinder“, sodass eine moderne landwirtschaftliche Studie den Kephallenen empfahl: „Das Schwergewicht der modernen Viehzucht und Viehhaltung sollte in Zukunft auf einer intensiven Haltung von Rindern“ basieren.476 Von der bereits in der Odyssee hervorgehobenen kephallenischen Rinderzucht477 zeugen auch antike Münzen Kephallenias, die als Prägezeichen teils Rinder und Kuhköpfe aufweisen.478 Aber wie glaubwürdig ist die erstaunliche Aussage der Athene, die Insel Ithaka böte, trotz des überwiegend „rauhen“ Bodens, „Getreide und Wein in unsagbarer Fülle“? Trifft auch diese Behauptung zu, oder ist sie als „poetische Hyperbel“ nicht ernst zu nehmen,479 weil Athene in Gestalt eines kephallenischen Schafhirten spricht,480 dessen geistiger Horizont womöglich hinter der Heimat endet?! – Zunächst ist hinsichtlich der von den Exegeten wohl nicht als anstößig empfundenen Weinproduktion darauf hinzuweisen, dass auf Kephallenia seit dem Altertum intensiv Weinbau betrieben wird, und 472 PÜCKLER-MUSKAU III 200. – Maultiere nutzten noch die deutschen Gebirgsjäger der Division ‚Edelweiß‘ während der Rückeroberung Kephallenias im September 1943. 473 TURNER 197. Und Joseph PARTSCH (Kephallenia 33) weist Ende des 19. Jhs. darauf hin, dass bis in den Sommer hinein „beinahe jede Nacht Maultiere mit Schnee herab vom Großen Berge [Aenos]“ kommen. 474 Od. 13,242 ff. (knapper äußerst sich Odysseus über sein Heimatland: „Es ist wohl rauh, doch nährt es treffliche Jugend“; Od. 9,27). „Wenn wir ferner den in der Schilderung [der Athene] gebrauchten Ausdruck ἀθέσφατος σῖτος mit ‚unendlich viel Getreide‘ übersetzen, so ist dies im Griechischen und im Deutschen dieselbe Übertreibung des Ausdrucks, wie wenn wir die λ 373 und ο 392 als ἀθέσφατοι νύκτες bezeichneten Nächte des Herbstes mit ‚unendlich lange‘ Nächte wiedergeben … Die Worte besagen also eigentlich nur [bzw. immerhin!], dass auf Ithaka viel Getreide [an-] gebaut wird“ (MICHAEL 23). 475 So erstreckt sich am Ostabhang des Aenos das Tal Arakli, „in welchem auch zur Zeit der grössten Dürre der hindurchfließende Bach nie versiegt“ und noch im 19. Jh. „auf seinem Laufe sechzehn hinter einander liegende Mühlen“ trieb (WIEBEL 81 f.). Dieses Gewässer mündet seit Ende des 20. Jhs. in zwei Staubecken. 476 KNAPP 174. 477 V. a. Od. 19,366: Odysseus hat dem Zeus „erlesene Rinder hekatombenweise geopfert“; sowie Od. 4,764; 14,100 ff.; 20,209 ff., 219 ff.; 22,336. Siehe auch 1,92; 3,382, 422; 4,320; 10,523; 17,535; 18,371 f.; 20,186, 227, 235; 21,83, 189, 193, 199; 22,104, 268, 285, 290–292, 435, 454; 23,297; 24,359, 363. 478 Bei den antiken Münzen Kephallenias „findet sich auf vielen auch der Kopf einer Kuh“ (BIEDERMANN 66). Hervorzuheben sind Münzen von Krane: „Ein Opferdiener hält mit der rechten Hand einen Hammer und ergreift mit der Linken einen Stier“ (ders. 67); und von Same: „Stier nach rechts springend“ (ders. 69). 479 BUCHHOLZ 121 bzgl. Od. 9,242 ff. 480 Od. 13,221 ff.

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1. Die Ithaka-Antwort

noch vor einem Jahrhundert wurden kephallenische Weine in großen Mengen insbesondere nach Deutschland und sogar bis nach Südostasien exportiert.481 Und bezüglich der Fruchtbarkeit der Heimat des Odysseus schrieb schon Walter Leaf in seinem Werk ‚Homer and History‘, jedoch ohne daraus Rückschlüsse für die Ithaka-Frage zu ziehen: „Kephallenia has large plains in southern part, still famous for fertility“.482 Im Vergleich zu den anderen westgriechischen Inseln hat Kephallenia zwar prozentual den geringsten Anteil an landwirtschaftlicher Nutzfläche,483 aber als weitaus größte Insel des Ionischen Meeres produzierte sie dennoch erhebliche Mengen an Getreide und wurde während der venezianischen Herrschaft (von 1500 bis 1797) sogar „als die Kornkammer der anderen Ionischen Inseln betrachtet“.484 Kephallenisches Getreide wurde damals sogar auf die sehr fruchtbare Insel Kerkyra (Corfu) exportiert!485 Und auf Kephallenia „waltete der Getreideanbau schon im Altertum augenscheinlich vor“, da er „die einzige Art des [landwirtschaftlichen] Anbaues ist, welcher in Münzsymbolen Kephallenias verkörpert ist“.486 Man denke auch an den Zweiten Punischen Krieg, als der Makedonenkönig Philipp V. sein großes Heer auf der Insel mit Getreide verproviantieren wollte, aber von den Kephallenen bei der Hafenstadt Pale zurückgeschlagen wurde.487 „Daran kann man sich erinnern gegenüber den voreilig absprechenden Urteilen über die von der Odyssee versicherte Selbständigkeit Ithakas in seiner Getreideversorgung“, urteilte bereits Joseph Partsch über „die kephallenische Gruppe“, zu der das heutige Ithaka zählt. Indes, die antiken und späteren Belege, v. a. auch aus venezianischer Zeit, beziehen sich auf die einst gerühmten „Getreidelandschaften“ Kephallenias.488

481 PARTSCH, Kephallenia 99 f. (wegen des enormen Weinexports entsandte das Deutsche Kaiserreich auf die Insel einen Vize-Konsul). – Zum Weinbau der Kephallenen s. a. Od. 2,340 ff. 482 LEAF 151. Vgl. BURSIAN II 355: „Zwischen den Gebirgsmassen ziehen sich, wenigstens auf den drei größeren Inseln, Korkyra, Kephallenia und Zakynthos, breite Thäler hin“. 483 DAVY I 327. Bezogen auf die Gesamtflächen der Inseln ist der Anteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche von Zakynthos gegenüber Kephallenia immerhin doppelt so groß, und die von Corfu ist sogar fünfmal größer! Und auch „der günstigere Anbauzustand Ithakas [Theakis] tritt deutlich hervor“ (PARTSCH, Kephallenia 96). 484 MARINATOS 94. Noch in der Mitte des 19. Jhs. wurde auf Kephallenia fast halb so viel Getreide angebaut wie auf der sprichwörtlich ‚getreidereichen‘ Insel Kerkyra (Corfu), obwohl Kerkyra eine mehr als dreimal größere landwirtschaftliche Nutzfläche aufweist (s. DAVY 327 f.). 485 PARTSCH (Kephallenia 96): Noch im 16. Jh. „war der Zehnte vom Getreide größer als der vom Wein, und die Insel deckte nicht nur ihren eigenen Bedarf an Korn, sondern beteiligte sich noch an der Versorgung von Korfu“. 486 PARTSCH, Kephallenia 96. „Auf den Münzen des alten Kephallenia beherrscht der Feldbau neben Wald und Viehzucht die Prägezeichen“, und „namentlich auf den Münzen von Pale, dessen Feldmark die fruchtbarste war, erscheint Persephone im Ährenkranz oder eine Gerstenähre mit langen Grannen. Auch Pronnoi führt das Gerstenkorn in seinem Monogramm“ (a. a. O., mit Quellenangabe). Also, „die vorwiegenden [antiken] Embleme dieser Städte [Krane, Pale u. Same auf Kephallenia] waren Getreide-Körner und Ähren, was auf die große Bedeutung des Anbaues von Weizen (bzw. Triticum-Arten) und Gerste in damaliger Zeit schließen läßt“ (KNAPP 17) 487 Polyb. 5,3 ff. 488 PARTSCH, Kephallenia 96 (mit Bezug auf Od. 13,242 f.), obwohl er das heutige Ithaka (Theaki) als Vorbild des homerischen Ithaka betrachtet.

1.2 Die Landschaft Ithakas

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Die Aussage der Athene, die Heimatinsel des Odysseus, also das sprichwörtlich „rauhe Ithaka“,489 würde kleinräumige sowie steinige Böden aufweisen und dennoch „Getreide und Wein in unsagbarer Fülle“ hervorbringen, erschien vielen Philologen suspekt und wurde folglich als „schiefer Einschub“ deklariert bzw. als „ungeschickte Beschreibung“ verworfen,490 bei der „sich zwei Gedanken in so ungeschickter Weise durchkreuzen“ und diese deshalb „ein und demselben Dichter nicht zugewiesen werden“ können.491 Jedoch handelt es sich bei den homerischen Versen keineswegs um eine epische Ungereimtheit, sondern um eine treffende Darstellung der Landesnatur Kephallenias. Der widersprüchlich erscheinende Dualismus von landschaftlicher Kargheit und Fruchtbarkeit, der in der Aussage der Athene aufscheint und die Friedrich Blass deshalb als „zweifellos verwirrt“ athetiert,492 schlägt sich z. B. selbst in den Worten des einst berühmten Naturwissenschaftlers Albert Mousson493 nieder, die er beim Blick vom Aenosgrat notierte: „Unter sich aber hat man ein Chaos von Bergen und Thälern,“ und „alles, obgleich fleißig für Getreide- und Weinbau benutzt, erscheint öde und kahl“.494 Insgesamt bleibt also festzuhalten, dass die in der Odyssee geschilderte Landesnatur Ithakas in jeder Hinsicht vortrefflich zur westgriechischen Insel Kephallenia passt und keinerlei Widersprüche aufweist, wie in der Homerphilologie oft postuliert wird. Und deshalb sei nun die ergebnisoffene Frage erlaubt, ob auch die vom Dichter beschriebenen Orte auf Ithaka in der topographischen Wirklichkeit Kephallenias wiederzufinden sind, nämlich die Hafenstadt mit dem Palast des Odysseus sowie das Landgut des Laertes und der Viehhof des Eumaios, die zentrale Orte der epischen Handlung sind. 1.2.4 Die Hafenstadt Ithaka Wie Ilias und Odyssee berichten, herrschte Odysseus als Hochkönig über das Inselvolk der „Kephallenen“,495 das der größten westgriechischen Insel, Kephallenia, ihren Namen gab.496 Die Hauptstadt der Kephallenen trug zu homerischer Zeit – wie auch die Insel

489 Od. 10,417; 463. 490 MÜHLL, Odyssee 734,50 u. 58 (mit Bezug auf Od. 13,242–247). Vgl. BERGK 786. 491 Eduard SCHWARTZ (336 f.) meint, „die Schilderung der Insel v 242 ff. … ist ein schiefer Gegensatz“, denn „die zweite Hälfte“ der genannten Verse „widerspricht der ersten“; also, „hier durchkreuzen sich zwei Gedanken in so ungeschickter Weise, daß sie ein und demselben Dichter nicht zugewiesen werden können“. 492 „Zweifellos ist diese Schilderung Ithakas verwirrt“ (BLASS 145; bzgl. Od. 13,242 ff.). 493 Albert Mousson war der erste Professor für experimentelle Physik an der ETH Zürich. Anlässlich seines 200. Geburtstags würdigte die ETH-Bibliothek den Physiker im Jahr 2005 mit einer Ausstellung (www. library.ethz.ch/de/Ressources/AlbertMousson). 494 MOUSSON 49. 495 Ilias 2,631; 4,330. Od. 20,210; 24,355, 378, 429. – Odysseus war Hochkönig über die Inseln der Kephallenen, denn „that they are all united under the single rule of Odysseus is not expressly said“ (LEAF 140). 496 Den Inselnamen Kephallenia erwähnt erstmals HERODOT (9,28).

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1. Die Ithaka-Antwort

– den Namen Ithaka.497 Homer spricht sogar von der „hochberühmten“498 und „geräumigen Hauptstadt“499 der Kephallenen, zudem sei „Ithaka ein reicher Demos“.500 Dennoch steht in wissenschaftlichen Publikationen, deren Autoren wohl an die benachbarte kleine Insel denken, die heute den Namen Ithaka trägt: „Ithaka dagegen hat für Homer nur eine kleine Polis, jedenfalls nach den Beschreibungen der Odyssee zu urteilen“.501 Derartige Aussagen halten jedoch einer Prüfung nicht stand. Zwar kann man den Wahrheitsgehalt der homerischen Worte bezweifeln oder der „Gedankenlosigkeit des Nachdichters“ zuschreiben,502 aber das bedeutet nicht, dass in der Odyssee die Stadt Ithaka als unbedeutend und klein beschrieben wird. Schon Theodor Bergk moniert in seiner ‚Griechische(n) Literaturgeschichte‘, dass die vom Dichter mehrmals „unbedenklich gebrauchte stehende Formel Ἰθάκης ἐς πίονα δῆμον gerade hier nicht zutrifft“,503 derzufolge „Ithaka ein reicher Demos“ sei.504 Diese ebenso unbewiesene wie falsche Behauptung ist nur vor dem Hintergrund zu entschuldigen, dass Theodor Bergk und andere Homerinterpreten vermutlich an die als Ithaka-Stadt gebotenen Orte (‚Polis‘, ‚Stavros‘ oder ‚Aetos‘) auf der heutigen Insel Ithaka dachten,505

497 Die Namensgleichheit von Insel und Inselhauptstadt ist in Griechenland häufig anzutreffen (z. B. Kerkyra, Zakynthos, Leukas). Laut Od. 15,36 f., 495 ff. (beachte bes. 503) und 16,322 ff. fährt das Schiff von der Landspitze „Ithakas“ nach „Ithaka“ in den Stadthafen, und daraus ist zu schließen, dass sowohl die Insel als auch deren Hauptstadt „Ithaka“ heißen (vgl. u.a. VÖLCKER 70 f.; FORBIGER III 694, Anm. 49). 498 Od. 16,170; 24,154. 499 Od. 24,468. 500 Od. 14,329; 19,399. Das Wort πῖον = πίων hat v. a. zwei Bedeutungen, „a) fruchtbar, ergiebig … b) reich, begütert, wohlhabend …“ (BENSELER 736). 501 VISSER 593; mit Anm. 10: „Siehe vor allem κ 416 f.; es läßt sich generell aus der Odyssee eine Vielzahl von Belegen beibringen (e. g. α 189, β 154)“. Der Verf. der vorliegenden Studie ist anderer Auffassung: Edzard VISSERs Hauptbeleg Od. 10,416 f. greift nicht, weil bisher die Irrfahrtstation Aiaia nicht treffend geographisch gedeutet wurde (s. Kapitel 2.2.2. Die Insel der zauberhaften Kirke). Und warum die Stellen Od. 1,189 (der greise Laertes, der vom Verhalten der Bewohner der Stadt Ithaka enttäuscht ist, „komme nicht mehr in die Stadt“) und Od. 2,154 (zwei Adler „stürmten im Flug dann nach rechts über die Stadt und Häuser der Leute“) als Beleg für eine kleine Polis dienen sollen, ist mir unverständlich. 502 Die Stadt führt im 24. Gesang (Vers 468) das Beiwort εὐρύχορος „weiträumig“, „so zeigt das wiederum die Gedankenlosigkeit des Nachdichters“ (BELZNER 41, Anm. 1). U. a. moniert auch Otto SEECK (308): „Das Epitheton εὐρύχορος, welches sie [die Odyssee] ω 468 dem Städtchen Ithaka beilegt, ist äusserst unpassend“. 503 BERGK 786, Anm. 9. Theodor BERGK (786) irrt auch, wenn er schreibt: „Während sonst bei Homer namentlich in der Ilias die Beiworte bei Ortsbeschreibungen meist angemessen sind, wird Ithaka in der Odyssee ein paar mal als fruchtbares, reiches Land bezeichnet …, was natürlich nicht einmal mit der Schilderung der Insel in anderen Stellen stimmt“. Wie in der vorliegenden Studie bereits dargelegt, war die tatsächliche Heimat des Odysseus nicht nur reich, sondern auch fruchtbar. 504 Indes, die Insel Kephallenia rechtfertigt beide Bedeutungen von πίον (vgl. o. Anm. 500). 505 „Seit der frühen Bronzezeit lag im NW der Insel eine größere [?] Siedlung über der Bucht von Polis, deren Name vielleicht auf die antike Inselhauptstadt hinweist. Auch auf dem Hügel Pelikata nördlich des Dorfes Stavros wurde eine frühhelladische Siedlung (2200 v. Chr.) festgestellt, die bis in mykenische Zeit fortdauerte. Nach der meistvertretenen Ansicht wäre dort auch der Palast des Odysseus anzunehmen … Auch der Berg Aetos (669 m) [ausgesprochen steiler Bergkegel!] auf der Landenge in der Mitte der Insel trug an seinem W-Hang eine mykenische Befestigung und, wie neuerdings festgestellt, vom 8. Jh. an eine ausgedehnte [?] Siedlung mit Tempel und öffentlichen Gebäuden (6. Jh.). Wegen seiner Siedlungskontinuität bis ins 1. Jh. v. Chr. wird auch dieser Platz für die antike Stadt Ithaka in Anspruch genommen“ (KALETSCH, Ithaka 282).

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und nicht an das unmittelbar benachbarte Kephallenia, deren Hauptstadt in frühhistorischer Zeit das Heiligtum der Artemis-Laphria trug, dessen Reichtum legendär war.506 Ungeachtet aller Vorurteile soll nun die im Epos aufscheinende Stadt des Odysseus untersucht werden, und so ist zu prüfen, ob eine den homerischen Angaben entsprechende Stadt im kephallenischen Inselraum existierte. Der Odyssee zufolge lag die Stadt namens Ithaka an einer geschützten Hafenbucht, in die „starkes Gewoge von außen nicht eindringt, auch nicht bei widrigen Winden. Drinnen indessen warten die trefflich gebordeten Schiffe ohne Taue, sobald sie die Landungsplätze erreichten“.507 Diese Beschreibung des ithakesischen Stadthafens namens „Phorkys“508 passt vortrefflich auf die 4 km lange und ca. 1 km breite Bucht von Argostoli, die „von allen Seiten umsäumt, den Eindruck eines Sees“ vermittelt.509 Denn sie öffnet sich nicht zum Meer hin, sondern zum süd-nord-gerichteten Livadi-Golf, von dem sie gegenläufig, in südöstlicher Richtung abzweigt. So bietet die Bucht, wie der Geograph Joseph Partsch hervorhebt, den Seefahrern große „Sicherheit bei stets ungetrübter Ruhe ihres Wasserspiegels“.510 Also bei der ausgesprochen tief ins Inselinnere ragenden „Bucht von Argostoli“ ist es die außergewöhnliche „Abgeschlossenheit, welche ihren Wert als Hafen bestimmt“,511 und somit entspricht diese kephallenische Hafenbucht der idealisiert erscheinenden Mitteilung der Odyssee über den ithakesischen Stadthafen. Der antike Hafen der kephallenischen Inselhauptstadt Krane lag im hinteren, inneren Becken der natürlichen Hafenbucht, das ‚Kutavos‘ genannt wird.512 Die fruchtbare Schwemmlandebene von Krane geht seicht in den Kutavos über, und so konnten die Bewohner der homerischen Stadt Ithaka tatsächlich – wie Rudolf Hercher ungläubig anmerkt – von der „Flachküste … ihre Schiffe über den Sand des Ufers ins Meer schieben“.513 506 Anton. Lib. met. 40. – „Reichen Segen bezeugt die Menge der Weihgeschenke, wovon Lafria Artemis die schwerreiche hieß: Suid. Βαθύπλουτος“. „Die Artemis im Bereich von Patras (v. a. in Kalydon und Patras) sowie „am adriatischen Meer (Strab. V 215)“ war die „Lafria kefallenischer Herkunft (VOSS, Briefe III 170 f.). 507 Od. 13,98 ff. 508 Od.13,96 f., 344 f. Die Bucht wurde nach der Meeresgottheit „Phorkys“ (1,72) benannt. 509 MARINATOS, Kephallenia 90. – „Letzte Zacken der Berge springen an beiden Ufern noch vor und senken zum Hafen sich nieder“(Od. 13,97 f.). Dementsprechend liegt die Hafenstadt Argostoli „au pied d’une chaîne de montagnes qui encaissent le golfe“ (SAINT VINCENT 360). 510 PARTSCH, Kephallenia 80. „In der Regel können die Schiffe, welche in diesem Hafen Anker werfen, bei jeglichem Winde sich durchaus sicher fühlen“ (79 f.). 511 PARTSCH, Kephallenia 32. – „Den Hafen [der Stadt Ithaka] selbst zeichnet der Dichter mit dem einzigen Beiwort Πολυβεντής, sehr tief (π 324, 352), womit die horizontale Tiefe gemeint ist. Denn für „die kleinen antiken Schiffe … ist es viel wichtiger [als die vertikale Tiefe einer Hafenbucht], daß sich die Bucht tief ins Land hineinstreckt und so vor den Winden guten Schutz bietet. Wir denken uns also auch den Hafen Ithakas tief ins Land einschneidend“ (BELZNER 42). So wird das Beiwort Πολυβεντής „auch zum Ausdruck der horizontalen Ausdehnung verwendet und findet sich bei Homer in der Verbindung ἐν βένθεσιν ὕλης, in den Tiefen des Waldes (ρ 316)“ (a. a. O.). 512 Der antike Hafen von Krane lag nicht, wie PARTSCH (81 f.) und BIEDERMANN (52 ff.) annahmen, am verlandeten südlichen Kutavos bzw. in der Flur Alaphona, sondern am südöstlichen Rand des Kutavos (VÖTT et al., Krane 111 ff.). 513 HERCHER 267 (mit Bezug auf Od. 16,358 f.; vgl. 4,779 f.; 16,324 f.). U. a. weist auch Hugo MICHAEL (24; mit Bezug auf Od. 1,398, 16,325) darauf hin, „dass der Strand flach ist, weil die Schiffe auf ihn gezogen werden können“.

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Aufgrund der ungewöhnlichen naturräumlichen Bedingungen müssen Seefahrer die schlauchförmige Bucht von Argostoli zunächst nordwestwärts verlassen, um dann mit südlichem Kurs durch den Livadi-Golf ins offene Meer zu gelangen. Von diesem Sachverhalt zeugt auch die Beschreibung der Abreise des Telemach vom ithakesischen Stadthafen nach Pylos an der Westküste des Peloponnes: Wegen des herrschenden Nordwestwindes, der für die Reise nach Pylos ausgesprochen günstig war,514 konnten Telemach und seine Freunde nämlich nicht aus dem Stadthafen heraussegeln, sondern sie mussten das Schiff zunächst aus dem tiefen Naturhafen heraustreideln bzw. hinausrudern,515 und dies legt den Schluss nahe, dass die Hafenausfahrt dem günstigen Fahrtwind entgegengesetzt und somit nach Nordwesten gerichtet ist.516 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die tiefe Hafenbucht nur durch die schmale Landzunge von Lassi vom offenen Ionischen Meer getrennt ist, und so hätte Telemach tatsächlich in kurzer Zeit vom belebten Stadthafen zum offenen Meer gehen können, um dort ungestört zu beten,517 was in der Homerphilologie hinsichtlich der Topographie als anstößig empfunden wird.518 Die Bucht von Argostoli, die südostwärts vom Livadi-Golf abzweigt und von einer eindrucksvollen Gebirgskulisse beherrscht wird, bildet aufgrund der außergewöhnlichen Landschaft „den schönsten Naturhafen Kephallenias und einen der schönsten des ganzen Mittelmeeres“, wie schon der bedeutende Geograph Joseph Partsch hervorhebt.519 Nicht zuletzt dieser ästhetische Aspekt dürfte den Dichter bewogen haben, den heimgekehrten Odysseus ausgerechnet dort schlafend anlanden zu lassen, damit ihm die Göttin Athene am frühen Morgen persönlich das überwältigende Panorama seiner Heimatinsel darbieten konnte.520 Danach versteckten angeblich Athene und Odysseus die wertvollen Geschenke der Phaiaken in einer Höhle, in der „steinerne, riesige Webstühle“ der Nymphen stehen, „die wie ein Wunder zu schauen sind“.521 Der Dichter denkt dabei wohl an eine der prächtigen kephallenischen Tropfsteinhöhlen, die teils unterirdische Wasserläufe und stehende Gewässer aufweisen,522 in denen sogar antike Nymphenheiligtümer gefunden wurden.523 514 515 516 517 518

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Od. 2,420 f. mit 427 und 434 (also Nordwestwind). Od. 2,389–391 bzw. 2,403, 419; erst 2,426 f. wurden die Segel in den günstigen Wind gesetzt. Zu dieser Schlussfolgerung gelangte u. a. DÖRPFELD (Alt-Ithaka 118). Od. 2,260 ff. Die Verse Od. 2,260 ff. gehen „nach Inhalt und Form auf Rechnung des Bearbeiters“ (KIRCHHOFF 180), denn „Homer versetzt ihn [Telemach] also durch einen plötzlichen Scenenwechsel. Auf dem wirklichen Ithaka [nicht nur auf Theaki] wäre eine solche Wanderung nicht ohne erheblichen Zeitverlust auszuführen“ (HERCHER 270, Anm. 3). PARTSCH, Kephallenia 79. Od. 13,93 ff., 187 ff. Od. 13,103 ff., 303 ff. „Wahrscheinlich war es eine Tropfsteinhöhle, die allerley Figuren enthielt, welche die Einbildungskraft des Dichters nur anders wandte, und den Gottheiten anpaßte“ (HERMANN 205, Anm. 1). Od. 13,109. Einen unterirdischen Teich weist die „stattliche“ Tropsteinhöhle Drongarati „mit Stalaktiten“ auf, und die Melissani-Höhle einen See und eine Öffnung im Dach (vgl. Od. 13,109 ff.). „Gewiß sind eine Unzahl solcher Hohlräume im Schoße des Gebirges vorhanden. Nur wenige sind durch freie Zugänglichkeit der menschlichen Kenntnis erschlossen“ (PARTSCH, Kephallenia 19). Ebenso WIEBEL 46 ff. Armin WOLF (Reise 238) zeigt Abbildungen der Weihe-Reliefs mit tanzenden und opfernden Nymphen aus der Höhle von Melissani auf Kephallenia.

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Die binnenseeartige Bucht von Argostoli ist der am weitesten ins Ionische Meer vorgeschobene Naturhafen Griechenlands. Aufgrund dieser exponierten Lage diente die geschützte und süßwasserreiche Bucht den Seemächten des frühen Altertums als Brückenkopf für ihre Fahrten nach Sizilien und Süditalien.524 Schon in mykenischer Zeit stützte die Insel Kephallenia mit ihrem hervorragenden Naturhafen den maritimen Fernhandel auf der Route von Phönizien und Kreta nach Sizilien, wie archäologische Funde belegen.525 Auch das homerische Epos bezeugt die direkte Seeverbindung zwischen Sizilien und der Heimatinsel des Odysseus, wie der Drohung der Freier gegenüber dem bettelnden Gesindel zu entnehmen ist: „Stecken wir doch diese Fremden ins Schiff mit zahlreichen Rudern, schicken sie dann nach Sizilien, dort aber brächten sie Geld ein“.526 Im Zeitalter Homers war die Hafenbucht auf der Westseite Kephallenias der wichtigste Etappenhafen für die nach Süditalien und Sizilien ausgesandten Kolonisten,527 und deshalb behauptet die Göttin Athene, die Insel Ithaka (Kephallenia) „kennen recht viele, ja alle, mögen sie wohnen, wo Morgen es wird [im Osten] und sonniger Mittag [im Süden] oder auch dort, wo sie hinter uns hausen im dunstigen Dunkel [im Westen]“.528 Und dementsprechend landeten – der Odyssee zufolge – auf dem homerische Ithaka (Kephallenia) Seefahrer, Kaufleute, Erz- und Sklavenhändler unterschiedlicher Nationen,529 die zum „Reichtum von Ithakas Bewohnern“ beitrugen,530 namentlich Phönizier, Sizilianer, Kreter und Taphier,531 sowie die noch zu identifizierenden Phaiaken, die Odysseus als „die Meister der Seefahrt“ bezeichnet.532 Offensichtlich aufgrund ihrer im frühen Altertum bedeutenden verkehrs- und handelspolitischen Funktion als Brückenkopf zwischen Griechenland und Süditalien bzw. Sizilien533 erhielt die Hafenstadt des Kephallenenkönigs Odysseus das seltene homerische Prädikat „hochberühmt“.534 Erst als die von Korinthern kolonialisierte nordwestgriechische Insel Kerkyra (Corfu) die Seerouten zunehmend an sich band, verlor 524 PARTSCH, Kephallenia 39 f. WARNECKE, Lebensnerv 271 ff. 525 KALLIGAS 417. „Auch [Spyridon] MARINATOS nimmt an, daß man [„schon in mykenischer Zeit“] von diesem Hafen aus direkt nach Sizilien gefahren sei“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 520). 526 Od. 20,382 f.; vgl. 24,304 ff. 527 Es „ist nicht zu verkennen, daß für die kürzeste Verbindung zwischen Korinth und seiner blühendsten Kolonie Syrakus Kephallenias westlichster Hafen, Pale [im Livadi-Golf], den vorteilhaftesten Stützpunkt bot“, und Korinth diesen zur „Aussendung von Kolonisten“ nach Sizilien nutzte. So tragen die Münzbilder Pales „die Zeichen Korinths, den Pegasos und das Koppa“ (PARTSCH, Kephallenia 40). 528 Od. 13,239 ff. 529 Od.1,176, 409, 429 ff.; 14,453; 15,472–488; 17,249 f.; 20,382 ff.; 24,300 f. 530 Od. 14,329. 531 Ein phönizisches Handelsschiff legte auf der Strecke von Ortygia (Od. 15,404; das alte Syrakus) nach Sidon (15,425–431) einen Zwischenstopp auf Ithaka ein (15,572–584), ebenso fuhr der Sizilianer Eperitos nonstop nach Ithaka (24,306 ff.). In Gegenrichtung fuhren Kreter (13, 256 f.) und der Taphierfürst Mentes (1,180 ff.). 532 Od. 16,227. Beachtenswert ist der Hinweis, dass die Phaiaken, die Odysseus heimbrachten, Ithakas Hafenbucht „von früher schon kannten“ (13,113). 533 Noch für die Römer waren die Kephallenen „gefährlich wegen der Lage der Insel und ihrer Seemacht zwischen Italien und Griechenland“ (HOFFMANN 2084). 534 Od. 16,170; 24,154.

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Kephallenia seine herausragende handelspolitische Funktion. Und davon zeugt auch der archäologische Befund: „Bis jetzt haben noch keine nennenswerten Funde mykenischer Kultur auf Kérkyra den Beweis geliefert, daß die Insel, wie sicher Kephallenía, bereits in jener Zeit ein Stützpunkt des Handels gewesen sei“.535 So war Kephallenia im spätmykenischer Zeit und bis zu Beginn der griechischen Westkolonisation – wie Robert Schotter hervorhebt – die „Drehscheibe des Seeverkehrs“ im Westen Griechenlands.536 Seit prähistorischer Zeit lag der Siedlungsschwerpunkt Kephallenias im Bereich der geschützten Bucht von Argostoli, die ihre geomorphologische Fortsetzung in der fruchtbaren Schwemmlandebene von Krane findet.537 Am Nordrand der Ebene, auf den beiden Anhöhen unmittelbar im Südosten der Bucht, erstreckte sich die antike Polis Krane,538 deren unvollendeter mächtiger Mauergürtel im 5. Jh. v. Chr. die enorme Fläche von 144 Hektar umfing.539 In Anbetracht dessen sollte man keinen Anstoß daran nehmen, dass der Dichter im letzten Gesang der Odyssee von der „geräumigen Hauptstadt“ der Kephallenen spricht (πρὸ ἄστεος εὐρυχόροιο),540 und somit „das übliche Beiwort hellenistischer Städte auch auf den Hauptort der Insel ohne weiteres übertragen“ wird.541 Bei der Hafenstadt Krane ist „weitaus der größte Teil der [Stadt-] Mauer aus gewaltigen polygonalen Blöcken, die sehr genau zusammenschließen, errichtet“, und „besonders häufig findet Quaderbau Anwendung bei den 21 quadratischen Bastionen“.542 Angesichts der durchschnittlich 3,5 m dicken Stadtmauer mit ihren starken Bastionen und imposanten Toranlagen543 urteilte Joseph Partsch, dass hier „der unwillkürlich sich aufdrängende Vergleich mit den Riesenmauern von Tiryns seine Rechtfertigung findet“.544 Die Stadt wurde im 4. Jh. v. Chr. aus unbekanntem Grund weitgehend verlassen. Unter römischer Herrschaft diente die von „der Raubgier“ der Besatzer gebeutelte Stadt

535 PHILIPPSON/KIRSTEN II 420. 536 Robert SCHOTTER (s. Internet) drehte für ZDF und Arte in der Sendereihe ‚Terra-X‘ einen Film über die Odyssee. Er hebt hervor, dass Kephallenia (das homerische Ithaka) im Fadenkreuz der in der Irrfahrterzählung genannten Seewege liegt (s. Teil II der vorliegenden Studie), die nordwestwärts bis Corfu und Thesprotien führten, südostwärts bis Pylos und Kreta, sowie nach Westen bis Sizilien und Malta, und nach Osten in den Doppelgolf von Patras und Korinth. 537 „Die Mittelpunkte der vorgeschichtlichen Besiedlung waren die Landschaft Livatho nebst Krane“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 503). 538 Thuk. 2,48. „ΚΡΑΝΗ steht auf mehreren Münzen der Stadt“ (PARTSCH, Kephallenia 80, Anm. 2). „Krane, d. h. wohl ursprünglich Krana (Κράνα)“, die Münzen: Κράνη“ (BÜRCHNER, Kephallenia 207,32 f.). „Die Quantität des ersten α ist uns unbekannt“ (ders. 38 f.). 539 PARTSCH, Kephallenia 84. Er weist (83) auf „die Annahme“ hin, „daß die Kranier an der Vollendung des weiten Mauergürtels [an der „Nordseite“] verhindert worden sind“. 540 Od. 24,468. 541 BERGK 786, Anm. 9. 542 PARTSCH, Kephallenia 82. PARTSCH (Kephallenia 80–84) und BIEDERMANN (49–55) befassen sich detailliert mit der Geschichte der Stadt Krane und ihren Ruinen. 543 Hervorzuheben ist „die große Toranlage, eins der merkwürdigsten Denkmäler griechische Baukunst … An dieser Stelle erreichen die einzelnen genau zusammengefügten Blöcke die erstaunlichste Größe (bis 3 m Länge, 2 m Höhe; ein Block 3,7 m lang)“ (PARTSCH, Kephallenia 83). Zur Rekonstruktion der Toranlage s. RANDSBORG II 301. 544 PARTSCH, Kephallenia 83.

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zeitweilig als Flottenstützpunkt,545 und im frühen Mittelalter verlagerte sich die Hauptstadt der Kephallenen in den Schutz des mächtigen Burgbergs ‚Heiliger Georg‘ (Hagios Georgios), der 4 km weiter südöstlich der Ebene von Krane entsteigt. Auf dem Burgberg erstreckte sich die byzantinische und später venezianische Inselhauptstadt namens „Kastro mit sehr interessanten Festungs- und Kirchenanlagen“. In der Blütezeit hatte die Stadt „fünfzehntausend Einwohner“, aber „sie wurde nach dem Erdbeben von 1636 aufgegeben“.546 So entstand zu Beginn der Neuzeit am Westufer der Bucht die heutige Inselhauptstadt Argostoli, die die Venezianer gegen Ende des 18. Jhs. zum Regierungssitz Kephallenias erhoben. Aufgrund der dargelegten Siedlungs- und Funktionskontinuität erscheint die Annahme evident, dass auch in frühgriechischer Zeit der Hauptort Kephallenias und somit das politische Zentrum der Kephallenen im Bereich der fruchtbaren Ebene von Krane lag. Zumal wenn man bedenkt, dass schon „die ältesten und ganz alten Niederlassungen von den neolithischen Zeiten des dritten vorchristlichen Jahrtausends bis zu den prämykenäischen Jahrhunderten herab südlich von der hellenistischen Stadt Krane lagen“547 und dort bedeutende Funde vor allem aus spätmykenischer Zeit entdeckt wurden.548 Sollte die homerische Stadt des Kephallenenkönigs Odysseus je in der geographischen Wirklichkeit existiert haben, ist sie also im Bereich der Ebene von Krane anzusetzen. Ob die Stadt jedoch in der geräumigen Küstenebene oder auf den südostwärts angrenzenden Hügeln zu lokalisieren ist, kann man der Odyssee nicht entnehmen.549 Zumindest lag sie an bzw. nahe der tiefen Hafenbucht, „da der Weg zum Hafen oder zurück ohne jeden Zeitverlust zurückgelegt wird“, wie dem Epos zu entnehmen ist.550 Über das homerische Ithaka und deren Stadt offenbart die Odyssee „keinen einzigen Zug, welcher eigene Kenntnis [des Dichters] der Localität verriethe. Höchstens könnte man die Schilderung des Nymphenaltars mit seinem Felsenquell und dem umliegenden Hain anführen“,551 da es das einzige Bauwerk der Stadt Ithaka ist, welches das Epos ausführlich darstellt. Das schöne, bereits vom mythischen Helden Ithakos geschaffene Brunnenbecken mit „der herrlich flutenden Quelle“, an dem die Stadtbewohner das Trinkwasser entnahmen, wird wie folgt beschrieben: „Aus dem Felsen ergoß sich von oben eisiges Wasser herab. Ein Altar für die Nymphen, wo alle Wanderer opferten, krönte darüber das Ganze“, und beidseits der pittoresk gestalteten Anlage „zog sich ein Hain 545 BIEDERMANN 39. Am „schlimmsten“ walteten Gaius Antonius und Caius Proculeius Luci Filius (a. a. O.). 546 BRADFORD 57. 547 BÜRCHNER, Kephallenia 203,6 ff. 548 „Schon um 3000 v. Chr. suchten Leute die Gegend des späteren Krane auf und hinterließen südlich vom heutigen Kutavos 5–6 m über dem Meer eine große Anzahl prämykenäischer Gräber. Um 1500 v. Chr. wurden sie von Leuten, die dem mykenäischen Kulturkreis angehörten, abgelöst“ (BÜRCHNER, Kephallenia 207,57 ff.). 549 „Ob nun die Stadt selbst in einer kleinen Küstenebene liegt, ist nirgends ausgesprochen, wie überhaupt über ihre [topographischen] Verhältnisse gar nichts Direktes gesagt wird“ (BELZNER 41). 550 MICHAEL 24; mit Bezug auf Od. 2,260, 298, 407. Indes, als Befürworter der Theaki-Ithaka-Theorie kann man Hugo MICHAEL verdächtigen, eher für kurze Distanzen zu plädieren. 551 SEECK 281.

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von wasserziehenden Pappeln“.552 Man ist schnell geneigt, eine derartig idealtypisch erscheinende Wasserstelle für ein Produkt literarischer Phantasie zu halten, zumal wenn man z. B. bedenkt, dass Wilhelm Dörpfeld in seiner Leukas-Ithaka-Theorie den Bewohnern der von ihm an der Nidri-Bucht lokalisierten Hafenstadt Ithaka bloß ein postuliertes Wassebecken zumutet, das nicht von einem aus dem Felsen entspringenden Quell gespeist wird, wie es die Odyssee verlangt,553 sondern nur von einer – mangels Quelle – angeblichen Wasserleitung.554 Dagegen entspricht der topographische Rahmen der homerischen Stadtquelle vollauf den Gegebenheiten am Fuß des Stadthügels des antiken Krane. Denn unmittelbar am Kutavos (d. h. dem inneren Teil der Bucht von Argostoli) befindet sich der bis auf 70 m Höhe „schroff ansteigende Hügel“ namens Kastelli, der die untere der beiden Akropolen von Krane trug. Auf einem 20 m hohen Absatz der felsigen Steilwand des Hügels, die den Kutavos überragt, darf man sich den homerischen Nymphenaltar vorstellen. Heute befindet sich dort das teils in die Felswand gebaute „Kirchlein H. Triada. Hier öffnete sich gewiß eine Pforte in der [antiken] Mauer. Denn von diesem Punkte steigen nach dem quellreichen Fuße des Berges zwei breite (5,2 m) Wege hinab, deren hoher polygonaler Unterbau großenteils erhalten ist: der eine auf hoher Rampe nordöstlich zu der unmittelbar unter H. Triada liegenden Quellgruppe Pignatorres, der andere westlich zu der Quellgruppe am Kirchlein H. Joannis“.555 Dementsprechend bildete die Brunnenanlage laut Odyssee auch einen Schnittpunkt der Fußwege für Wanderer.556 Also, „die rauhen Felshügel, aus deren Fuß die Quellen hervortreten, tragen die Mauerzüge der alten Stadt Krane“, und „diese Quellen gaben die Entscheidung über die Lage der ältesten Ansiedlung an diesem landumfangenden Becken“, d. h. der Bucht von Argostoli.557 „Manche dieser Quellen sind wirklich Quellgruppen; 3–5 kräftige Strähne Wassers brechen nebeneinander hervor. Einige fließen ungemein reichlich und liefern herrliches, reines Trinkwasser“,558 auch im Hochsommer, sodass die Ebene am Fuße des antiken Stadthügels ganzjährig feucht ist. Die Funktion des homerischen Hains der 552 Od. 17,204–211. Das ἀμφί im Vers 208 wird meist mit „rundherum“ übersetzt (u. a. WEIHER 467). In diesem Fall müsste die Wasserstelle an, und der Altar auf einem isolierten Felsklotz liegen (der dann wohl kaum ergiebig Wasser spenden würde!), und um ihn „rundherum“ wäre der Hain mit den Pappeln. Wie bereits dargelegt, bedeutet amphi jedoch „beidseits“ (vgl. o. S. 49), und dementsprechend umgibt die feuchte und baumbewachsene Küstenebene den Stadthügel von Krane im Westen und Süden. 553 So „deutet alles auf die ganz ursprüngliche Natürlichkeit eines an Ort und Stelle entspringenden Quells, der über die Felswand herunterrieselt und dessen Wasser sich unten in einem steinernen Becken sammelt“. Und „an dem Quellbecken holen die Leute der Stadt ihr Wasser und auf dem Altar [„oben auf dem Felsen“] opfern die Wanderer den Quellnymphen“ (BELZNER 39). 554 „Im südlichen Teil der Ebene“ von Nidri „muss nach Homer der künstliche Stadtbrunnen Kallirrhoos gelegen haben, der sein Wasser durch eine Leitung aus einer hoch am Berge entspringenden Quelle erhielt (Od. 17,204–210). Tatsächlich haben wir die Reste einer uralten Wasserleitung entdeckt …“ (DÖRPFELD, Alt-Ithaka 121; vgl.a. 124 ff.). 555 PARTSCH, Kephallenia 81. Das Kirchlein H. Triada (mit alten Wandmalereien) fand schon Joseph PARTSCH (a. a. O.) vor 130 Jahren zerstört vor (wohl durch Erdbeben). 556 Od. 17,204–214. 557 PARTSCH, Kephallenia 80. 558 PARTSCH, Kephallenia 20. So hat sich der Geograph Joseph PARTSCH (Kephallenia 87) „oft nach heißer Arbeit in den Ruinen Kranes an den herrlichen Quellen im Hintergrund des Kutavos“ gelabt.

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„wasserziehenden Pappeln“ übernahm in der Moderne ein stattlicher Hain riesiger Eukalyptusbäume, die für ihren enormen Süßwasserbedarf berühmt-berüchtigt sind und den „wertlosen Überfluß an Wasser hart am Meeresrande“ nutzen.559 Die Hauptquellgruppe, die unterhalb des Kirchleins H. Triada aus der steilen Felswand unglaublich ergiebig hervorbricht,560 hatten in der dichterischen Vorstellung die myhtischen Heroen „Ithakos, Neritos und auch Polyktor“ gefasst und in ein prächtig gestaltetes Wasserbecken geführt.561 Den Kephallenen, die nur ca. zweieinhalb Jahrhunderte nach Homer an der heutigen Bucht von Argostoli lebten, dürfte noch bewusst gewesen sein, dass ihre Stadt die Nachfolgerin der von Homer besungenen Stadt des Odysseus ist. So zeugen vom stolzen Anspruch der antiken Stadt Krane, in dieser Tradition zu stehen, die Prägezeichen der ältesten Münzen, die „um 500 v. Chr.“ geschlagen wurden562 und „meistens einen nach links schreitenden Widder darstellen“.563 Der Widder ist ein altertümliches Symbol der Königsherrschaft,564 und er dürfte in den frühen Münzbildern Kranes darüber hinaus speziell auf Odysseus hinweisen: Man denke bloß an die Worte des trojanischen Königs Priamos, als er mit der schönen Helena während der berühmten Mauerschau den Kephallenenkönig erblickt: „Er [Odysseus] durchschreitet wie ein Widder die Scharen der Männer, gleich einem Bock mit dickwolligem Vließ erscheint er mir“.565 Die Annahme, derzufolge die frühen Widdermünzen der kephallenischen Polis Krane auf den Kephallenenkönig Odysseus zu beziehen sind, wird dadurch erhärtet, dass „auf der Rückseite häufig ein horizontal liegender Bogen“ dargestellt ist.566 Dieser Reverstypus weist offensichtlich auf den berühmten Bogen des Odysseus hin,567 der in dem Epos die zentrale Waffe darstellt und nach dem der 21. Gesang der Odyssee überschrieben ist. Nur derjenige, dem es gelang, den Bogen des Odysseus zu spannen, durfte

559 PARTSCH, Kephallenia 20. 560 Heute stehen dort, am Bergfuß, drei nüchterne Wasserwerke aus unterschiedlichen Epochen; das älteste stammt noch aus dem 19. Jh., als Kephallenia unter britischem Protektorat stand. 561 Od. 9,206 f. 562 BÜRCHNER, Kephallenia 204,61. Die Münzprägung von Krane erlosch um 370 v. Chr. (ders. 208,44). 563 BIEDERMANN 66; „… oder bloss den Kopf oder Fuß eines solchen“ Widders (a. a. O.). 564 Man denke z. B. „an das goldene Widderfell, welches Jason“ (vgl. Od. 12,69 ff.) aus Kolchis „geraubt hat, um die Königsherrschaft in Iolkos antreten zu können“ (HAAS/KOCH 285), und im Alten Testament „versinnbildlicht“ der Widder „den König der Makedonen (Daniel 8,20 f.)“. Auch „spielt der Widder eine Rolle in der persischen Königslegende, wo er ein Symbol für den königlichen Glücksglanz, das ‚Xvarna‘ ist, ohne dessen Besitz eine Königs-Herrschaft im Iran nicht denkbar ist“ (DELGADO/KOCH/ MARSCH 110 f.). 565 Ilias 3,196 f. (vgl. 17,61: Menelaos wird mit einem Löwen verglichen). – Auch ist daran zu erinnern, dass Odysseus mittels eines schreitenden Widders sein Leben rettet (Od. 9,420 ff.). „‘Den Stärksten‘ [Widder] gebraucht der Held für sich“; so ist „der Widder“, mit dem Odysseus sich rettet, „etwas ganz Singuläres, der Herdenbock“ (MÜLDER, Kyklopengedicht 430). 566 BIEDERMANN 66. Der Bogen auf den Münzbildern hängt möglicherweise „mit dem Apollonkult in Krane zusammen“ (BÜRCHNER, Kephallenia 207,51 f.). Der Bogenwettkampf und die Vernichtung der Freier (v. a. durch den Bogen des Odysseus: Od. 22,70 ff., 81 ff., 116 ff.) fand am Festtag des Apollon statt (Od. 20,276 ff.; 21,258 f.), der auch der Gott des Bogens ist (Od. 18,226; 21,267). 567 Od. 21,11 ff. Den Bogen erhielt Odysseus von Iphitos als Gastgeschenk (Od. 21,13–41). Odysseus gilt als großer Bogenschütze (Od. 12,101 f.; 21,404 ff.).

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die kephallenische Königswürde empfangen.568 Also mit den genannten Münzzeichen, nämlich dem Widder einerseits und dem Bogen andererseits, beanspruchte das frühantike Krane, die Nachfolgerin der Stadt des Odysseus zu sein! 1.2.5 Der Palast des Odysseus und das Krongut Der kephallenische Königspalast, der, wie Odysseus sagt, „leicht zu erkennen ist, sähe man ihn auch unter vielen“, liegt dem Epos zufolge in exponierter Lage im Bereich der Hafenstadt,569 die sich – wie dargelegt – an der Bucht von Argostoli befand. In der dichterischen Vorstellung befindet sich der festungsartige Palast nicht in der Stadt, sondern außerhalb,570 aber dennoch in Sichtweite der Hafenstadt und nicht allzuweit entfernt.571 Zudem ist dem Epos folgendes zu entnehmen: Während die Stadt sich in der Ebene erstreckte,572 lag der Palast auf einer Anhöhe.573 So drängt sich die Vermutung auf, der Palast des Odysseus habe auf dem späteren Akropolishügel der antiken Stadt Krane gestanden, der sich unmittelbar an der östlichen Ecke der argostolischen Bucht befindet und bereits mykenische Siedlungsspuren aufweist.574 Indes, einige Indizien sprechen eher gegen die Annahme, dass der Palast im Stadtgebiet von Krane lag, und nicht nur, weil die Palastbewohner und die Städter zwei unterschiedliche Trinkwasserquellen nutzten.575 Auch teilt der Dichter mit, dass Odysseus und seine Gefährten nach dem Freiermord vom Palast aufs Land entkommen konnten, ohne dass es die Bewohner der Stadt bemerkten.576 Zudem glaubten die auf der Agora versammelten Angehörigen der ermordeten Freier, Odysseus und seine Gefährten würden zum Peloponnes nach Elis oder Pylos, also in Richtung Südosten flüchten577 568 Od. 21,73 ff. 569 Od. 16,322 ff.; 17,254 f., 264 f. 570 „Wir dürfen es [das Königshaus] aber auch nicht zu nahe an den Strand rücken; die Szene δ 778–786 scheint das auszuschließen. Dort geht Antinoos mit seinen zwanzig Kameraden, nachdem der heimtückische Anschlag gegen Telemach ausgeheckt ist,, an den Hafen, um ein Schiff zur Fahrt nach Asteris zu rüsten. Als das geschehen ist, verlassen sie das Schiff wieder um am Strande die Abendmahlzeit einzunehmen und auf die Dämmerung zu warten. Wenn sich auch daraus nichts Bindendes schließen lässt, so hat man doch den Eindruck, daß es sich eben nicht verlohnte erst nocheinmal zu den anderen [Freiern im Palast] zurückzugehen um mit ihnen gemeinsam zu Abend zu essen“ (BELZNER 42); „zu einer etwa denkbaren Bewachung des gerüsteten Schiffes wären Diener dagewesen (δ 784)“ (ders. 42, Anm. 1). 571 Bzgl. der Sichtweite des Palastes von der Stadt s. Od. 17,2264 f. (vgl. 16,351 f.). Die Freier gingen abends vom Palast zur Stadt, um dort zu schlafen (Od. 1,424,18,428). 572 Od. 24,568. 573 Od. 2,407. „Das Haus des Odysseus liegt etwas höher [als die Stadt], so dass man von dem Platze vor ihm einen Ausblick auf den Hafen hat (π 352)“ (MICHAEL 24); ebenso u. a. BISCHOFF 20 (mit Bezug auf Od. 2,407 u. 16,352). 574 „Von den späteren Poleis der Insel gehen … Krane, vielleicht auch Pronnoi, kontinuierlich auf mykenische Burgen zurück“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 602). 575 Od. 17,204 ff.; 20,158 576 Od. 23,369 f. 577 Od. 24,430 f. „Da werden Elis und Pylos genannt, von Akarnanien aber ist keine Rede – wiederum ein Beweis dafür, daß sich der Dichter Ithaka nicht nahe am akarnanischen Festlande gelegen denkt“ und somit Leukas nicht das homersche Ithaka war (BELZNER 16). „Diese Stelle ist um so wichtiger, wenn

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und hätten womöglich einen Vorsprung, den es einzuholen gelte, bevor Odysseus die Küste erreicht und mit einem Schiff entkommen würde.578 Wenn die Kulisse der epischen Handlung topographisch stimmig ist, dann befand sich der Palast des Odysseus also außerhalb der Stadt, und zwar auf einem Berg südöstlich der Hafenstadt. Knapp 4 km südöstlich der Bucht von Argostoli, und damit südöstlich sowohl der antiken als auch der neuzeitlichen Hafenstadt, erhebt sich im oberen Bereich der Ebene von Krane ein auffälliger, isolierter kegelförmiger Bergklotz, der zwischen der Hafenbucht von Argostoli und der südwärts geöffneten Lourda-Bai liegt, von der aus Odysseus und seine Gefährten zum Peloponnes hätten übersetzen können. Auf dem abgestuften Gipfelplateau des allseits steil abfallenden Bergklotzes thront seit Menschengedenken eine Festung, die in byzantinischer Zeit den Namen des Heiligen Andreas führte und seit venezianischer Zeit den Namen des Heiligen Georg (San Giorgio, Hagios Georgios) trägt. Die Festung wird im Jahr 1262 erstmals urkundlich erwähnt, bestand „aber wohl schon mehrere Jahrhunderte vorher“.579 Sie trotzte den Einfällen der Sarazenen in den Jahren 867 und 1032, wurde um 1100 wechselweise von Pisanern, Genuesen und Venezianern umkämpft, konnte aber erst 1185 durch den Ansturm der Normannen den Byzantinern entrissen werden. „Im Jahre 1479 fiel die Feste in die Hände der Türken und blieb zwei Jahrzehnte lang deren Hauptstützpunkt im Jonischen Meer, ein bedrohlicher Keil zwischen den griechischen Besitzungen Venedigs“.580 Nach ergebnislosen Belagerungen gelang es den Venezianern, die „alles aufboten“ und überdies „von Spaniern mit 65 Segelschiffen und 7000 Mann Elitetruppen unterstützt wurden, nach mehrtägigem Bombardement die Festung am Weihnachtstag des Jahres 1500 zu erobern“.581 Somit gehört der kephallenische ‚Hagios Georgios‘ zu den am heftigsten umkämpften Burgbergen Griechenlands, und er galt, neben der Zitadelle von Corfu, als das wichtigste „Bollwerk der Christenheit“ auf den westgriechischen Inseln.582 Heute krönen den Berg die restaurierten Ruinen der venezianischen Festung, die eine Fläche von ca. 16.000 qm bedeckt und von einer knapp 600 m langen Mauer umgeben ist, die bis zu 25 m hoch empor steigt.583 Die exponierte Lage des nahezu uneinnehmbaren Burgbergs im politischen Zentrum Kephallenias und die von ihm aus wahrzunehmende Kontrolle der seestrategisch bedeutenden Bucht von Argostoli, sicherte

578 579

580 581 582 583

man bedenkt daß ω 437 [Od. 24,437] die Verbalverbindung φθέωσι περαιωθέντες gebraucht wird: um ein ‚Hinüberentrinnen‘ handelt es sich, hinüber nämlich zur nächsten rettenden Festlandsküste“, nämlich nach Elis (a. a. O., Anm. 2). Laut POLYBIOS (V 3,9) liegt Kephallenia „dem Lande der Eleier zunächst“. Od. 24,436 f.; 466 ff. PARTSCH, Kephallenia 84. – Im Jahr 1821 untersuchte Dr. Christian MÜLLER (181 f.) mit einem Abt, „der sich viel mit kefalonischen Alterthümern beschäftigt“, die Burg, und „wir begannen damit, bei der neuen [bzw. neu ausgebauten] Festung die antiken Ruinen eines unterirdischen Ganges zu besichtigen. Sie sind ohne Zweifel aus späterer Römerzeit“. PARTSCH, Kephallenia 84. BEESKOW 34. PARTSCH, Kephallenia 85. In byzantinischer Zeit hieß die Festung „Hagios Andreas“ nach dem alten Andreas-Kloster westlich des Berges mit der Fußreliquie des in Patras gekreuzigten Heiligen. KANZLER/SIEBENHAAR 183 f. „Zu der mittelalterlichen Zitadelle gehörten einst Kirchen, Kasernen, Häuser. In ihrer Blütezeit hatte die [Burg-] Stadt 15.000 Einwohner!“ (SIEBENHAAR 559).

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dem Bergkegel seit je her eine Funktionskontinuität. So ist anzunehmen, dass dieser von Natur aus „strongest fortified point in the island“584 auch während der unruhigen submykenischen und vorklassischen Zeit den schutzbedürftigen Herrschersitz der Kephallenen trug, zumal die Burgen der mykenischen Epoche wegen der überfallartigen Angriffe von Seeräubern die unmittelbare Nähe des Meeres mieden und oft auf schwer zu erobernden Bergen etwas landeinwärts thronten.585 Die Residenz des Odysseus, die den homerischen Schilderungen zufolge weniger einem glanzvollen Palast586 als vielmehr einer geräumigen587 und schwer zu erobernden Festung glich,588 dürfte sich also auf dem Burgberg Hagios Georgios befunden haben. Der Burgberg bietet auch die vom Dichter hervorgehobene weitumschauende Aussicht,589 denn das 320 m hohe Gipfelplateau eröffnet einen überwältigenden Rundblick über weite Teile Kephallenias, v. a. auf die Bucht von Argostoli und das Aenos-Massiv, sowie über das Meer bis hin zur westlichen Halbinsel Paliki und zur Insel Zakynthos.590 Und so erlaubte „die strategisch extrem günstige Lage“ des Burgbergs, „Gegner bereits kilometerweit auszumachen“.591 Am Westfuß des genannten Burgberges wurde in der Ebene von Krane beim Dorf Mazarakata „eine große submykenische Nekropole mit Kuppelgräbern“ aufgedeckt.592 Die in den Kalksandstein gehauenen siebzehn Grabkammern weisen insgesamt etwa achtzig Einzelgräber auf, die „nach der typologischen Chronologie der Funde in die Endphase der mykenischen Kulturentwicklung zu datieren“ sind593 – also in die mutmaßliche Zeit des Odysseus. Dennoch soll nicht bestritten werden, dass der Dichter der Odyssee weitgehend Zustände seiner eigenen Epoche beschreibt. Die Untersuchungen 584 HOLLAND 51. 585 Von diesem unseligen Treiben zeugt auch die Odyssee (9,39–61; 21,16–19). So galt wohl schon im frühen Altertum auch die „fern vom Meere liegende Bergfeste H. Georgios … als beherrschende Warte in einer Zeit des Seeraubes“ (PARTSCH, Kephallenia 84). 586 Den Kontrast zwischen dem schlichten Herrschersitz des Odysseus und dem prächtigen Palast des Menelaos illustrieren die Worte Od. 4,72 ff. 587 Eine detaillierte Rekonstruktion der Festung bietet Oskar HENKE (131–143). Kernstück der Burg war das Hauptgebäude (Od. 1,360; 21,188) mit dem Megaron, „in dem 108 Freier und zahlreiche Dienerschaft sich bequem bewegen können“ (HENKE 135; mit Bezug auf Od. 22,95 ff., 270). Hinzu kamen Wohn- und Wirtschaftsbauten (1,425 ff.; 3,339; 4,297; 4,302; 7,336 ff.; 8,57; 14,5; 18,105; 20,1, 106 ff., 143; 22,459; 24,208). Zur Rekonstruktion des Palastes s. a. DÖRPFELD/RÜTER 270–303. 588 Od. 17,267 f. – Die Festung wies eine Mauer samt Zinnen auf (16,341; 17,266 ff.) sowie eine Zwischenmauer mit einem wehrhaften zweiflügeligem Hoftor (17,267; 18,102, 239). 589 So konnte man vom Odysseus-Palast aus „Umschau halten“ (Od. 23,365) und dabei „nicht nur auf das Meer sehen, sondern sogar den Eingang zum Hafen deutlich erkennen, ja zum Theil noch den hinter der Stadt … liegenden Hermeshügel“ (VÖLCKER 71; mit Bezug auf Od. 16,351 ff.; 471 ff.). 590 So schreibt J. P. BELLAIRE (158), dessen Ausblick vom „Schloß Cephalonien“ vor über zwei Jahrhunderten auf Autopsie beruht: „Von der Bergfläche, auf welcher es liegt, entdeckt man einen großen Theil der Insel, die Küsten von Morea [Peloponnes], die Patras (ehedem Elis) nahe liegen, die Insel Zante [Zakynthos] und das [offene] Mittelländische Meer. Auch sieht man sehr deutlich den Schwarzen Berg [Monte Nero/Aenos]“. 591 SIEBENHAAR 559. 592 PHILIPPSON/KIRSTEN II 517. Die Nekropole besteht aus „16 Felskammern mit 83 Gräbern“ (FIMMEN 4). Über die Nekropole handelt auch KNOEPFLER (107–116). 593 PHILIPPSON/KIRSTEN II 602.

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der Skelette der spätmykenischen Nekropole und „Dutzende von Schädeln“, von denen viele Kampfspuren aufweisen, zeigen, „daß es sich um zähe Krieger handelte“.594 Wie weitere Funde bei dieser spätmykenischen Nekropole belegen, entstand dort im 7. Jh. v. Chr. ein „Heroen- und Ahnenkult“,595 also im Zeitalter der Verbreitung der homerischen Epen.596 Das könnte ein Indiz dafür sein, dass diese herrschaftliche Nekropole unterhalb des bedeutendsten Festungsberges des kephallenischen Inselraumes im frühen Altertum als Grablege der Arkeisiadendynastie und ihrer Angehörigen galt, deren Könige Arkeisios, Laertes, Odysseus und Telemach in den homerischen Epen verewigt sind.597 Bei dem faszinierenden Gedanken sei an das Zugeständnis von Ulrich von Wilamowitz erinnert, dass „Odysseus zum festen Bestandteil unter den Achäerhelden gehört“, und deshalb „mag sich die Waage zugunsten der Annahme neigen, daß ein Kephallenenfürst Odysseus von Ithaka einmal gelebt hat“.598 Acht Kammern der spätmykenischen Nekropole von Mazarakata wurden bereits im Jahr 1647 geöffnet und einige kostbare Grabbeigaben nach Venedig gesandt.599 Die übrigen neun Grabkammern wurden in den Jahren 1810–14 unter dem britischen Inselgouverneur Charles Philippe de Bosset entdeckt, der einen Teil der Schätze dem Britischen Museum und dem Museum seiner schweizerischen Heimatstadt Neuchâtel schenkte.600 Ein anderer Teil dieser herrschaftlichen Funde der Bronzezeit befinden sich im Archäologischen Museum von Argostoli und v. a. im griechischen National-Museum in Athen.601 Die „reichen submykenischen Grabfunde“ von De Bosset bildeten die erste mykenische Kunstsammlung der Welt;602 sie wurde aber – sechs Jahrzehnte vor den Entdeckungen Heinrich Schliemanns in Mykene – nicht als solche erkannt und gedeutet. Heinrich Schliemann hätte übrigens gar nicht wiederholt und vergeblich auf dem heutigen Ithaka nach den Spuren des Odysseus suchen sollen,603 da „nur Kephallenia 594 MARINATOS 101. „Knochenfunde aus mykenischen Gräbern von Kephallenia sind behandelt bei Marinatos 1932, 27 f.“ (BRODBECK-JUCKER 21, Anm. 33). 595 KALLIGAS 417. – In der Nekropole „auf Kephallenia hat man Spuren von Grabopfern der mykenischen Zeit beobachtet; an dem Grab A begann ein Kult im 7. Jahrhundert; da Geometrisches fehlt, scheint er in der Zwischenzeit eingegangen zu sein. In dreizehn der von Blegen an dem argivischen Heraion ausgegrabenen mykenischen Kammergräber sind Deposita gefunden, die in die spätgeometrische Zeit hinaufgehen; da die große Zahl Zufall ausschließt, scheint es sich um einen Kult zu handeln, obgleich auch hier ein Bruch vorhanden ist“ (NILSON 380). 596 „Im großen und ganzen entspricht die homerische Sprache dem Griechischen des 8. und 7. Jahrhunderts, zugleich enthalten die Epen jedoch frühere Formen und Elemente“ (GRETHLEIN 31). 597 Während Laertes, Odysseus und Telemach auch die Ilias kennt (2,173, 260, 631; 3,200, 330; 4,354, 10,144), wird der Dynastiegründer Arkeisios nur in der Odyssee genannt (14,182; 16,118); er herrschte auf Kephallenia (Apollod. 1,9,16 u. Hyg. fab. 189). 598 WILAMOWITZ, Ilias/Homer 494. Vgl. HÖLSCHER, Odyssee 319. 599 WARNECKE, Gefäße 181–184. 600 Einen Teil der Funde beschreibt BRODBECK-JUCKER (1–140). „Die Nekropole von Mazarakata ist mit ihren 17 Grabhöhlen und 83 einzelnen Gruben mit Abstand die grösste der Insel, jedoch sind die Gräber von Lakkithra und Metaxata weitaus reicher an Funden“ (dies. 19). 601 KALETSCH, Kephallenia 319. 602 PHILIPPSON/KIRSTEN II 517. 603 „In Ithaka allerdings versagte sein Finderglück“ (OBERHUMMER, Ithaka 6). Dies gesteht übrigens SCHLIEMANN (Selbstbiograhie 43) ein: Beim Aufenthalt auf Ithaka „war jede Hoffnung für mich verschwunden, hier archäologische Gegenstände zu finden“, die von Odysseus und seiner Zeit zeugen.

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unter allen anderen Ionischen Inseln eine Fülle bedeutender Spuren mykenischer und auch vormykenischer Kultur aufweist“.604 Noch im Jahr 1991 wurde im Südosten Kephallenias, bei Tzanata nahe der Hafenstadt Poros, ein großes Kuppelgrab mit einem Durchmesser von knapp 7 m entdeckt, das um 1350 v. Chr. datiert wird.605 Auf Kephallenia sind „besonders Kuppelgräber der späten mykenischen Zeit so zahlreich wie sonst nur in Messenien“,606 und „nur in Mykene selbst sind größere Schätze oder reichere Nachweise der mykenischen Kultur gefunden worden“ als auf Kephallenia!607 Angesichts dessen hätte mancher Altphilologe, der wie Dietrich Mülder behauptet, „die Schilderung des Odysseus von seiner Heimat“ sei „nicht geographisch realistisch, sondern rein poetisch“,608 sich seine Häme lieber verkneifen sollen: „Läßt sich des ithakesischen Reiches goldene Herrlichkeit nicht aus dem Schutte von Thiaki [das heutige Ithaka] zutage fördern, so ist das eben ein Beweis, daß sich das Zentrum dieses höchst tatsächlichen Reiches anderswo befunden haben muß“.609 Wie dargelegt, befand sich die Hauptstadt und der Palast der Kephallenen, die der Odyssee als dichterische Vorlage dienten, am Fuß der Westabdachung des kephallenischen Inselrumpfes, dem offenen Ionischen Meer zugewandt, und somit abseits der Seewege, die das Handel treibende Völkchen der Taphier auf ihren Fahrten zum kalabrischen Temesa und nach Phönizien frequentierten.610 Dagegen liegt sowohl bei der etablierten Theaki-Ithaka-Theorie als auch bei Wilhelm Dörpfelds Leukas-Ithaka-Theorie die mutmaßliche Hafenstadt des Odysseus in unmittelbarer Nähe der kleinen Taphischen Inseln, die sich nur wenige Kilometer östlich von Leukas bzw. nordöstlich von Theaki (dem sog. Ithaka) befinden. Angesichts dessen ist es kaum glaubhaft, dass der Taphierfürst Mentes „noch nichts davon erfahren haben sollte, wie es die Freier seit mehreren Jahren im Hause des Odysseus treiben“.611 Da der Palast des Odysseus (sei er nun real oder fiktiv) in der Vorstellung des Dichters im Raum des westgriechischen 604 MARINATOS 94. Vgl. WOLTERS 486–490. 605 RANDSBORG II 18. Es ist „das bei weitem größte Rundgrab aus mykenischer Zeit im Bereich der mittleren Ionischen Inseln, das bislang bekannt geworden ist“ (STEINHART/WIRBELAUER 9). 606 KIRSTEN/KRAIKER 722. 607 BRADFORD 59. Kephallenia weist „herrliche mykenische Überreste“ auf (58). 608 MÜLDER, Ithaka-Hypothese 562. Bei der Ithaka-Frage „basiert doch der ganze Streit auf der irrtümlichen Meinung, daß der Dichter aus Autopsie oder doch wenigstens wirklichkeitsgetreu schildere, daß … kurz die Odyssee splitternackte Fakta sei“ (MÜLDER, Ithaka-Hypothese 156). – Der Autor der vorliegenden Studie (Heinz WARNECKE) betont indes, dass zwischen Handlung und Handlungsraum der Odyssee zu differenzieren ist! 609 MÜLDER, Ithaka-Hypothese 152. Anzumerken ist, dass die Odyssee gar nicht von „des ithakesischen Reiches goldener Herrlichkeit“ spricht; sie kontrastiert sogar die prächtigen Paläste des Menelaos in Sparta und des Alkinoos in Scheria mit den bescheidenen Verhältnissen in der Heimat des Odysseus (Od. 4,43 f., 71 ff.; 7,81 ff.). 610 Od. 1,180 ff. Vgl. STRABON (6,1,5): „People say that Homer has in mind this Temesa, not Tamassus in Cyprus“ (übersetzt v. H. L. JONES III 17). Schon die antiken Gelehrten stritten, „ob α 184 ἐς Τεμέσην μετὰ χαλκὸν vom italischen Tempsa oder vom kyprischen Tamassos zu verstehen sei (Stephanus Byz. v. Ταμασσός, Strabo VI 255 f.)“ (NIESE, Commentar 302). 611 MICHAEL 17 (mit Bezug auf Od. 1,225 ff.). Andererseits muss der kephallenische Königspalast im westgriechischen Inselbogen liegen, „um zu rechtfertigen, dass nach α 209 früher beide Könige [der Kephallene Laertes und der Taphier Anchialos] häufig miteinander verkehrt haben“ (a. a. O.).

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Inselbogens lokalisiert werden muss, ist der Auftritt des Mentes nur verständlich, wenn der Palast im westlichen Teil Kephallenias lag und somit relativ fern von den Taphischen Inseln sowie abseits der taphischen Seerouten. „Die Basis königlichen Besitzes und königlicher Macht bestand in Lehnsgütern, in Land und Vieh, ohne die niemand überhaupt hätte König sein können. Solange der König regierte, hatte er auch die Nutznießung eines besonderen Landstückes, das temenos genannt wurde und das die Gemeinschaft ihm zur Verfügung stellte“.612 Auch der Phaiakenkönig Alkinoos besaß ein Temenos, das der Odyssee zufolge unzweideutig vor den Toren der Stadt lag.613 Analog dazu dürfte das im Epos genannte „große Temenos des Odysseus“,614 für dessen Düngung vor dem Palasttor hohe Misthaufen lagen,615 sich auf die 4 km lange und ca. 1,5 km breite Ebene von Krane beziehen, die sich zwischen der Bucht von Argostoli und dem Burgberg erstreckt und sich „durch hohe Fruchtbarkeit auszeichnet“.616 Und weil die Phaiaken den Odysseus am frühen und nebeligen Morgen an der heimatlichen Hafenbucht abgesetzt hatten, die von der fetten Ebene von Krane begrenzt wird, fragte sich Odysseus, irritiert von den schlechten Sichtverhältnissen zunächst, ob er an „einer Festlandsküste voll mächtiger Schollen“ eingetroffen sei.617 Die unmittelbare Nähe des kephallenischen Kronguts zur Hafenstadt Ithaka und zum Königspalast suggerieren auch die tröstlichen Worte der Amme Eurykleia, denen zufolge noch Telemach als Spross des Arkeisiadengeschlechts vorhanden sei, „hier für den hohen Palast und draußen für die fetten Äcker“.618 Ähnliches ist dem Satz zu entnehmen, der auf den Besuch des Autolykos reflektiert, der damals seinem Enkel den Namen Odysseus gab: „Einst nun besuchte Autolykos Ithakas fette Gefilde, dort aber traf er das eben geborene Knäblein der Tochter“.619 Die räumliche Nähe von Palast und Temenos sowie seine Lage zwischen Ithaka-Stadt und dem Palast indiziert v. a. die Episode, die vom Besuch der Atriden auf Ithaka erzählt: Die griechischen Hochkönige Agamemnon und Menelaos waren in Begleitung anderer Fürsten erschienen, um Odysseus zur Teilnahme am Krieg gegen Troja zu drängen. Die schwierige Werbung, die in der Odyssee nur angedeutet ist,620 wurde in der Antike oft erzählt.621 So seien die Atriden nach ihrer Ankunft in der Hafenstadt Ithaka durch den Temenos zum Palast gegangen und dabei dem Odysseus begegnet, 612 FINLEY, Odysseus 98. „Das Wort τέμενος wird von Homer nur auf das Eigenthum von Göttern und Regenten angewandt“ (GLADSTONE 296; mit Verweis auf Ilias 6,194; 9,578; 12,313; 18,550; 20,184, 391; Od. 6,293; 11,185; 17,299). 613 Od. 6,293 f. 614 Od. 17,299. Insbesondere darauf, sowie auf das Landgut des Laertes und den Viehhof des Eumaios, beziehen sich die Krongüter (τεμένεα) des Telemach (11,185). 615 Od. 17,297 f. 616 WIEBEL 22. Auch PHILIPPSON/KIRSTEN (II 517) sprechen von der „sehr fruchtbaren“ Ebene von Krane, aus der – noch vor wenigen Jahrzehnten – „viereckige Gutshöfe aufragen“. 617 Od. 13,235. 618 Od. 4,757. 619 Od. 19,399 f., 403 ff. 620 Od. 24,116 ff.; vgl. 14,237 ff. 621 Ovid. met. 13,301. Schol. Od. 24,119. Kypria S. 103 Allen. Serv. Aen. 2,81; ebenso Stasinos nach Proklos. Stat. Ach. 1,94. Schol. Stat. Ach. 1,94. Lykophr. 815 ff. mit Tzetz. anteh. Hyg. fab. 95.

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der sich geisteskrank stellte, indem er am Wegesrand mit einem gemischten Esel- und Ochsengespann pflügte und Salz säte.622 Daraufhin ließen die Atriden den Säugling Telemach aus dem nahegelegenen Palast holen und auf den Acker vor den Pflug legen, und als Odysseus daraufhin stoppte, um das Leben seines einzigen Sohnes zu schonen, war er als Simulant entlarvt und so musste er Heerfolge leisten.623 Da im Einzugsbereich der Schwemmlandebene von Krane stets das Siedlungszentrum und die Hauptstadt der Kephallenen lag, war die Ebene geradezu prädestiniert, als Krongut der Könige von Kephallenia zu fungieren. Dieser wohl schon seit mykenischer Zeit zur kephallenischen Krone gehörende Großgrundbesitz, wie die fürstlichen Gräber von Mazarakata indizieren, erlebte wechselhafte Zeiten. So verwaltete dort in der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts Gaius Antonius, der Onkel des Marcus Antonius und Mitkonsul des Tullius Cicero, seine „große Gutsherrschaft“ und befasste sich mit der Neugründung der antiken Stadt Krane.624 Und nach dem entscheidenden Seesieg von Actium (31 v. Chr.) über Antonius und Kleopatra schenkte Octavian (der als Kaiser Augustus in die Geschichte einging) die Ebene von Krane seinem Freund und Kampfgefährten Caius Proculeius Luci Filius, dessen Kopf und Monogramm auf den Kupfermünzen der damals weitgehend entvölkerten Stadt Krane (Kranioi) erscheint.625 Wie schon im Altertum, so weist die Ebene von Krane noch heute wogende Getreidefelder, ertragreiche Gemüseäcker und saftige Rinderweiden auf,626 doch verringern sich die landwirtschaftlichen Flächen stetig durch die fortschreitende Ausdehnung der Inselhauptstadt Argostoli und ihrer Gewerbegebiete. Dieser Sachverhalt erfordert geradezu eine systematische archäologische Untersuchung der Ebene von Krane, zumal wenn man bedenkt, dass selbst die umfangreiche submykenische Nekropole von Mazarakta, die in der Ebene liegt, während des britischen Protektorats nur zufällig beim Straßenbau entdeckt wurde. Ohnehin sollte Kephallenia stärker in den Fokus der Archäologie geraten, da in den vergangenen beiden Jahrhunderten von den westgriechischen Inseln ausschließlich Kerkyra (Corfu) und das heutige Ithaka (Theaki) intensiv erforscht wurden.627

622 Einen Reflex dieser Geschichte bietet womöglich Od. 18,371 ff. 623 So wird diese Episode z. B. im Schülerhilfsbuch zu Homer – in der Vita des Odysseus – so erzählt, als stünde sie explizit in der Odyssee (HENKE III 64). 624 PARTSCH, Kephallenia 41 (mit Bezug auf Strabon 10,2,13). Gaius Antonius weilte nach 59 bis 47 v. Chr. als Verbannter auf Kephallenia. 625 BIEDERMANN, Kephallenia 41. 626 PARTSCH, Kephallenia 21. Er spricht a. a. O. von der „fetten Ebene der Kraneia“, deren heute kärglicher Südosten früher auch „tauglich für den Getreideanbau“ war. 627 „In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, daß auf keiner der anderen Ionischen Inseln, abgesehen vielleicht von Korfu, Grabungen durchgeführt wurden, die in Umfang und Intensität mit denen auf Thiaki [dem sog. Ithaka] vergleichbar wären“ (SIEBERER 164, Anm. 51). Immerhin hat Klaus RANDSBORG im Jahr 2002 ein zweibändiges Werk (Kephallenia; s. Lit.-Verz.) publiziert, das flächendeckend „the Archaeological Surveys“ samt „sites and small finds“ sowie „the lithics“ enthält, ferner “the surveyed and mapped ancient greek stone walls and other architecture” sowie “drawings and photos”, “planes of cities” etc.

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1.2.6 Das Landgut des Laertes und die Rheithron-Bucht Abgesehen vom Temenos des Odysseus nennt der Dichter noch zwei andere landwirtschaftliche Betriebe im Stammland der Arkeisiadendynastie, nämlich das Landgut des Laertes und die Domäne des Eumaios. Die Odyssee beschreibt das Landgut des Laertes, das „sein eigener Besitz war und das er mühsam kultiviert hatte“,628 als eine weitläufige Plantage mit Oliven- und Feigenkulturen, diversen Obstbäumen, üppigen Weinbergen und ausgedehnten Gemüsefeldern.629 Aufgrund der Dimension des landwirtschaftlichen Betriebs, den Laertes von Fronarbeitern und Sklaven bearbeiten ließ,630 urteilte der Geograph Alfred Philippson: „Das Landgut des Laertes kann leichter in der westkleinasiatischen Heimat des Dichters als auf Ithaka [Theaki] gesucht werden – allerdings immerhin auch auf Kephallenia“.631 Doch wo auf Kephallenia, das als das homerische Ithaka identifiziert werden konnte, ist das Landgut des Laertes zu lokalisieren? Das Landgut lag nicht im Stadtkreis Ithakas, sondern „abseits“ bzw. „fern“ der Stadt,632 die in der Ebene an der Hafenbucht lag.633 Dennoch kann die Entfernung zwischen dem Landgut und dem Palast bzw. der Stadt nicht sonderlich groß gewesen sein, da Fußgänger für die Strecke allenfalls wenige Stunden benötigten.634 So übermittelten lediglich die Mägde des Palastes die Botschaften der Penelope an Laertes, und der auf dem Landgut lebende alte Dolios bewirtschaftete auch den am Palast gelegenen Garten der Penelope.635 Selbst für den von seinem entlegenen Viehhof zum Palast eilenden Eumaios schien die zusätzliche Strecke vom Palast zum Landgut kein großer Umweg zu sein,636 und Odysseus gelangte vom Palast aus „rasch“ zum Landgut des Laertes.637 Auch von der Hafenstadt bis zum Landgut des Laertes war es nicht sonderlich weit, sonst wären die in voller Rüstung stehenden Kephallenen, darunter auch alte Männer, sicherlich nicht „vom breiten Tanzplatz am Rande der Stadt“ einerseits und vom Landgut andererseits zur Schlacht aufeinander zu marschiert.638 Also, in der dichterischen Vorstellung lag das Landgut des Laertes zwar abseits des Stadtkreises, aber trotzdem nicht allzu weit entfernt, d. h. nicht in einem anderen Teil der Insel. Ein weiteres kommt 628 Od. 24,205 ff. 629 Od. 24,221 f., 246 f. – Auch im „Hain des des Laertes … gewinnt die ‚Geschichtlichkeit‘ von Objekten eine herausragende erzählerische Bedeutung“ (GRETHLEIN 189). 630 Od. 24,209 ff. 631 PHILIPPSON/KIRSTEN II 603. 632 Od. 1,189 f.; 9,187 f.; 24,212. – Vgl.a. Anm. 649. 633 „Daß sich Homer die Stadt Ithaca auf keinem Berge oder Bergrücken, sondern an dem Fuße eines Berges, und dicht am Meere denkt“, sollte nicht bestritten werden (VÖLCKER 56). 634 „Die drei bis vier Morgenstunden, an denen Odysseus im jetzigen Epos [im 20. Gesang] nicht zu finden ist, reichen für seinen Gang zu Laertes völlig aus, wenn wir das Landgut etwa vier Kilometer vom Könighause“ ansetzen, folgerte Wilhelm DÖRPFELD (Odyssee 138). 635 Od. 4,735 ff. 636 Od. 16,135 ff. Dem Gespräch zwischen Telemach und Eumaios ist zu entnehmen, dass für einen Wanderer, der vom Viehhof des Eumaios zum Palast geht, die zusätzliche Strecke über das Landgut des Laertes kein allzu großer Umweg ist. 637 Od. 24,205. 638 Od. 24,463–530. Zitat: 24,468.

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hinzu: Auch „von der Küste kann es nicht weit abgelegen sein, denn Odysseus, der in ω [24. Gesang] unerkannt mit seinem alten Vater spricht, weist auf sein in der Nähe am Strande liegendes Schiff hin“.639 Odysseus, der im Gespräch mit seinem Vater vorgibt, als Fremder in den Stadtkreis bzw. zum Palast gelangen zu wollen,640 kann mit seinem angeblichen Schiff nicht in der Hafenbucht von Ithaka-Stadt gelandet sein, denn sonst stellt sich entweder die Frage, weshalb er nicht gleich zur Stadt und zum weithin sichtbaren Palast gegangen ist, oder, falls das Landgut an derselben Bucht wie der Stadthafen lag, weshalb er nicht den selbigen angesteuert hat und stattdessen zum Landgut ging. Unweit des Landguts des Laertes befindet sich zumindest in der Vorstellung des Dichters noch eine weitere Meeresbucht. Und noch etwas gilt es bei der geographischen Lokalisierung des Landgutes zu berücksichtigen: Da der landwirtschaftliche Ertrag durch mühevolle Arbeit dem dornigen Gelände abgerungen wurde, wie die Odyssee berichtet,641 lag es nicht in einer fruchtbaren Naturlandschaft. Aufgrund dieser Information sowie der vagen Entfernungsangaben ist das Landgut des Laertes in der Homala-Mulde anzusetzen, die ca. 6 km östlich der Bucht von Argostoli in 390 m Höhe in den Nordausläufern des Aenos eingebettet ist. Die überirdisch abflusslose Gebirgsmulde, deren ebener Talgrund ca. 5 km lang und bis zu 2 km breit ist,642 wurde seit dem Altertum zunehmend kultiviert, indem man einerseits den versumpften Talgrund trockenlegte und somit ausgedehnte landwirtschaftliche Nutzflächen gewann und andererseits die steinigen, mit Macchie bewachsenen Berghänge v. a. dem Weinbau erschloss.643 Die Knochenarbeit bewältigte Laertes mit Hilfe gekaufter Sklaven,644 und viele Jahrhunderte später führten in dieser Gebirgsmulde hart arbeitende Mönche die Urbarmachung fort. So liegt seit dem Mittelalter in der Homala-Mulde das Kloster des kephallenischen Inselheiligen Gerasimos, welches als „the largest and richest in the Ionian Islands“ galt.645 Die Homala-Mulde wird von der Ebene von Krane durch den etwa 4 km breiten Höhenzug Talamiaes geschieden, dessen höchste Kuppen bis 650 m hoch aufragen, und der somit eine naturräumliche Barriere zwischen dem Landgut des Laertes und der homerischen Hafenstadt Ithaka bildete. Dementsprechend meinen „einige Erklärer“ der Odyssee, „der Dichter habe ausdrücken wollen, daß zwischen der Stadt und dem Landgut ein Höhenrücken durchlaufe“.646 Der Höhenzug Talamiaes ist mit dem 320 m hohen Burgberg, der die Ebene von Krane überragt, durch einen schmalen, 200 m ho-

639 640 641 642 643 644 645 646

BELZNER 40 (mit Bezug auf Od. 24,308).

Od. 302 ff.; dass ‚der Fremde‘ zum Palast wollte, ist aus 24,13 f. zu schließen. Od. 24,206 f., 223 f., 230. PARTSCH, Kephallenia 17: Der Talgrund „ist 6 km lang, seine Breite beträgt etwa 1500–1800 m“. Und auf die „sumpfige Niederung“ der „Thalpfanne“ beziehe ich die Angabe der Urkunde von 1262“ (ders., Anm, 1; mit Literaturangabe). PARTSCH, Kephallenia 88. Die Ebene war teils noch im 13. Jh. versumpft (17, Anm. 1). Od. 24,209 ff. DAVY I 75. Das heutige Kloster, „which stands in the middle of the plain“ (a. a. O.), wurde 1570 an der Stelle des im 13. Jh. wüstgefallenen Klosters Hagia Hierusalem neu gegründet. BELZNER 40.

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hen Felsrücken verbunden,647 und so führt über den Felsrücken und den Höhenzug seit alters her ein ca. 8 km langer Weg (heute Straße) von der Burg zum Kloster in der Homala-Mulde. Aufgrund dieser Topographie ist es nicht erforderlich, vom Gipfelplateau des Burgbergs bis in die Ebene von Krane hinunterzusteigen, um zur Homala-Mulde zu gelangen. Deshalb hätte Odysseus mit seinen Gefährten am Morgen nach dem Freiermord tatsächlich vom hochgelegenen Palast zum Landgut des Laertes entkommen können, ohne dass es die am Fuß des Burgbergs siedelnden Bauern bzw. die Bewohner der in der Ebene liegenden Stadt Ithaka bemerkten.648 Unabhängig von der Frage, ob die unbemerkte Flucht des Odysseus und seiner Gefährten auf einem historischen Ereignis beruht oder fiktiv ist, darf man also aufgrund des konkreten landschaftlichen Reliefs an der epischen Darstellung der Szene keinen Anstoß nehmen!649 Zudem hat diese Szene bei Homerinterpreten für Verwirrung gesorgt über das Verhältnis der geographischen Lage der Hafenstadt Ithaka und dem Landgut des Laertes,650 was bei Zugrundelegung der konkreten geographischen Situation nicht geschehen wäre. Beachtenswert sind auch die Fragen des Laertes, als sein noch unerkannter Sohn Odysseus auf dem Landgut eintraf und sich zunächst als sizilianischer Edelmann ausgab:651 „Wo steht jetzt dein eilendes Schiff, das dich gebracht hat?“ Und „kamst du als Kaufmann? Setzten vom fremden Schiff sie dich ab und fuhren dann weiter?“652 Diese Fragen implizieren, wie schon Hugo Michael bemerkte, „dass man auch von einem andern Landungsplatz, nicht bloss vom Hafen der Stadt aus, das Landgut erreichen könnte“. Tatsächlich öffnet die in Mittelgebirgszügen eingebettete Homala-Mulde, in der das Landgut des Laertes anzusetzen ist, sich nach Süden durch einen flachen Sattel zum Meer hin, und über diesen führt ein ca. 8 km langer Weg zum Scheitel der bogenförmi647 „Die Bergfeste H. Georgios krönt einen steilen Kalkberg (320 m), der nur durch ein schmales Joch (202 m) im Osten verknüpft ist mit dem Bergland von Talamíaes“ (PARTSCH, Kephallenia 84). 648 Od. 23,369 ff.; 24,430–441. Das Wort πόλιος (Od. 24,205) kann Stadt oder Burg bedeuten. „Der ἀγρὸς πολυδένδρεος hier [Od. 23,139] und unten 359 ist offenbar derselbe, welchen der Bearbeiter schon δ. 737 als κῆπος πολυδένδρεος im Auge hat“ (KIRCHHOFF 531). 649 Offensichtlich sah bereits der letzte Bearbeiter der Odyssee (die Verse 23,310–343 gehören zum „Zweiten Apolog“; s. BLASS 217 ff.) darin ein Problem, denn er schreibt widersprüchlich : Sie „gingen hinaus zum geöffneten Tor und als erster Odysseus. Licht (φάος) schon wurde es über der Erde; aber Athene barg sie in nächtliches Dunkel und führte sie schnell aus dem Stadtkreis“ (Od. 23,370 ff.). Der Dichter übermittelte zwar die morgendliche Flucht bei Tageslicht (PAPE II 1187: „φά0ς, das Licht, bes. das Tageslicht“) der Vorlage, meinte wohl aber plausibilitätshalber hinzufügen zu müssen, dass Athene die Fliehenden mit nächtlicher Dunkelheit umhüllen müsse, um sie vor den Städtern zu verbergen (Od. 23,371 f.: Ἀθήνη νυκτὶ κατακρύψασα θοῶς ἐξῆγε πόληος). 650 So sagt Antikleia in der Unterwelt Od. 11,188, „daß Laertes immer auf dem Lande weile und gar nicht mehr in die Stadt hinabkomme (οὐδὲ πόλινδε κατέρχεται). … Demgegenüber wird ω 205 [κατέβαν] von einem Hinabgehen des Odysseus und seiner Leute von der Stadt zum Landgute des Laertes gesprochen“ (BELZNER 40). Auch Hugo Michael (27) weist auf diesen vermeintlichen Widerspruch hin, der auf der falschen Annahme beruht, der Palast des Odysseus habe sich in der Stadt Ithaka befunden. Stattdessen gehen Odysseus und seine Gefährten nicht von der Stadt, die in der Hafenebene liegt, zum Landgut des Laertes hinunter, sondern vom gut 300 m hohen Burgberg über das 200 m hohe Joch. 651 Od. 24,304 ff. – „Odysseus giebt vor, aus Alybas d. h. der Gegend von Metapont zu stammen und von Sicanien d. h. der Insel Sicilien nach Ithaka verschlagen zu sein“ (BERGK 789 f.). 652 Od. 24,299 ff.

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gen Lourda-Bai, die stets als kephallenischer Durchgangs- und Außenhafen diente.653 So können ortsunkundige fremde Seefahrer, die an der zum offenen Ionischen Meer weit geöffneten Lourda-Bai anlanden und von dort nach Norden gehen, anstatt nach Nordwesten in Richtung Burgberg und Stadt, versehentlich in die Homala-Mulde gelangen. Und so sagte Odysseus, der sich auf dem Landgut des Laertes als Sizilianer ausgab: „Mein Schiff ankert weit von der Stadt bei den Feldern“.654 Also, um die Homala Mulde oder den Burgberg und somit das Siedlungszentrum der Insel zu erreichen, mussten die Seefahrer nicht unbedingt den Umweg durch den Golf von Livadi und von dort in die geschützte argostolische Bucht nehmen, sondern sie konnten – zumindest bei normalen Witterungsbedingungen – an der zum Meere weit geöffneten Lourda-Bai landen.655 Und weil man an diesem südkephallenischen Küstenstrich ‚en passant‘ anlanden und wieder zügig aufs offene Meer gelangen kann, war die Lourda-Bai, deren Bewohner im 19. Jh. immerhin „300 kleine Küstenschiffe“ besaßen, „wie geschaffen für einen schwer zu überwachenden heimlichen Export“ und blühenden Schmuggel.656 Es verwundert also nicht, dass der Dichter den taphischen Seeräuber Mentes,657 der während seiner Überseefahrt nur einen kurzen Zwischenstopp auf der Insel einlegte, um Telemach eine Nachricht zu bringen,658 ausgerechnet an der Lourda-Bai landen und von dort aus den Weg zum 5 km entfernten Palastberg antreten ließ. Er war als alter Gastfreund der kephallenischen Königsfamilie659 orstkundig und wollte sich damit den weiten Seeweg durch den Livadi-Golf zum Stadthafen ersparen.660 Deshalb sagt Mentes zu Telemach: „Mein Schiff ankert gar weit von der Stadt bei den Feldern. Rheithron heißt die Meeresbucht an Neions waldiger Höhe“.661

653 PARTSCH, Kephallenia 77. – Heutzutage verkehrt eine Autofähre zwischen der Lourda-Bai und Zakynthos. 654 Od. 24,308. 655 Bemerkenswert ist, dass Hugo MICHAEL (25) aufgrund rein theoretischer Überlegungen zur Geographie des Inselreichs des Odysseus folgende Aussage trifft, die mit der nun vorgelegten Identifizierung erstaunlich überein stimmt: Die Lage der homerischen Rheithron-Bucht „macht es sehr verständlich, dass auf der Fahrt nach Westen begriffene König [Mentes] nicht erst in den Kanal zwischen Samos und Ithaka [der mit dem schlauchförmigen Livadi-Golf zu identifizieren ist] hineinfährt und den Haupthafen [von Ithaka] aufsucht“. 656 PARTSCH, Kephallenia 77. 657 Od. 14,452; 15,427; 16,426 f. 658 Od. 1,180 ff. 659 Od. 1,105, 417. 660 Aufgrund theoretischer Überlegungen gelangte bereits Emil BELZNER (43) zu der Auffassung, bei der Fahrt von Taphos nach Temesa sei „Mentes, um das mit einem Segelschiff lästige Einbiegen und Wiederauslaufen in und aus Sund und Bucht von Ithaka [der Stadthafen lag in einer tiefen Bucht: Od. 16,324, 352] zu vermeiden“, von der Rheithron-Bucht „zu Fuß … zur Sadt [bzw. zum Palast!] herübergegangen“. Als Hommage an die Fiktionstheorie fügt BELZNER (43 f.) jedoch hinzu: Dennoch „halte ich diesen ganzen Gedankengang für sehr unsicher und glaube nicht, daß der Dichter um seinen einfachen Zweck zu erreichen eine so umständliche Erwägung mit genauer Berechnung aller örtlichen Verhältnisse angestellt hat“. 661 Od. 1,185 f. – Wilhelm DÖRPFELD (Alt-Ithaka 123) bemerkt scharfsinnig, dass „das Schiff des Mentes tatsächlich nicht vorhanden war“, weil die Göttin Athene in dessen Gestalt im Palast erschienen war und danach wie ein Vogel entschwand (vgl. Od. 1,319 f.).

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Sowohl Mentes als auch Odysseus, der sich als Sizilianer ausgibt, benutzen zur Lagebeschreibung ihres Schiffes dieselbe Formulierung (Od. 1,185 = 24,308: „Mein Schiff ankert gar weit von der Stadt bei den Feldern“), jedoch fügt Mentes noch den homerischen Namen der Meeresbucht hinzu und er weist darauf hin, dass diese „Rheithron“ genannte Bucht am „waldigen Neion“ liegt, also zu Füßen des Hauptgebirges der Insel. Damit bestätigt die Aussage des Mentes die bereits erfolgte Identifizierung des Ankerplatzes, denn der Zentralgipfel des Aenos-Massivs, den das Epos als Neion bezeichnet, erhebt sich unmittelbar über der Lourda-Bai. Der 1.620 m hohe Gipfel des Aenos befindet sich vom Küstenort Lourdata nur 4 km entfernt, und so ließen die Venezianer die im Hochwald geschlagenen Tannenstämme über steile Rutschen in den Schluchten des Bergmassivs bis zum Meer hinunter sausen, von wo aus sie verschifft wurden.662 Zu Zeiten des Odysseus wurden die Stämme wohl mit den im Reich des Odysseus zahlreich vorhandenen Mulis663 herabtransportiert, wie z. B. einer Metapher der Ilias zu entnehmen ist: „so, wie die Maultiere stark mit beharrlichen Kräften, hoch von den Bergen herab auf steinigen Pfade den Balken schleppen oder den großen Stamm für das Schiff …“.664 Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass der Name der Meeresbucht „Rheithron“,665 den der Taphierfürst in der Odyssee nennt, ein Gewässer bezeichnet, in das Sturzbäche münden, die v. a. auch die Schneeschmelze speist.666 Dementsprechend erhebt sich unmittelbar über der Lourda-Bai die im Winter tief verschneite Gipfelpartie des Aenos, deren zum Meer hin abfallende Westflanke durch „Wildbachschluchten“ bzw. „Engschluchten“ gekennzeichnet ist.667 Diese in die Felswände eingeschnittenen Schluchten stürzen steil zum Strand der Lourda-Bai ab und schwellen besonders im Winterhalbjahr durch Schmelzwasser und Regen gefährlich an. Somit charakterisiert der Name „Rheithron“, „wohin viele Bergströme herabkommen“,668 keine Bucht des kephallenischen Inselraumes treffender als die Lourda-Bai,669 zumal sie – der Odyssee entsprechend – südöstlich der kephallenischen Hauptstadt liegt,670 die sich stets im Raum der Ebene von Krane befand.

662 PARTSCH, Kephallenia 92. Seit der Neuzeit weist die Bergflanke oberhalb der Bai am Gipfelkamm eine durch Raubbau verursachte ca. 1,5 km breite Waldlücke auf. 663 Od. 4,634 ff.; 17,297 f. 664 Ilias 17,743 f. 665 Od. 1,186. 666 EUSTATHIOS (1409 Z. 31 f.): ρεῖθρον = χειμάρρους. PAPE II 1270: „χειμάρ-ροος winterlich fluthend, von Regengüssen und geschmolzenem Schnee angeschwellt und reißend fließend“; vgl. Ilias 13,138. Der Name weist also zumindest auf einen „Sturzbach“ hin (LANG 84). 667 PARTSCH, Kephallenia 16 u. 78. 668 NITZSCH I 150. 669 DÖRPFELD (Alt-Ithaka 123 f.) kommt bzgl. der Rheithron-Bucht zu einem anderen Ergebnis: Da „der Name Ρεῖθρον offenbar ‚Fluss‘ bedeutet“, „glaube ich den Flusshafen ρεῖθρον“ im „Mündungsgebiet des Dimosari Baches“ auf Leukas „erkennen zu dürfen“. 670 „Nach dem Gesagten, darf “ die Bucht Rheithron „nicht nördlich über, sondern sie muss östlich oder südöstlich neben der Stadt gesucht werden“ (RÜHLE 84).

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1.2.7 Der Viehhof des Eumaios Abgesehen vom Krongut des Odysseus, das die Ebene von Krane umfasste, und dem Landgut des Laertes, das in der Homala-Mulde anzusetzen ist, stellt die Odyssee einen weiteren landwirtschaftlichen Betrieb auf Ithaka (Kephallenia) vor, nämlich eine von Eumaios verwaltete Domäne des Odysseus. Während das Krongut vor allem Getreide trug und Laertes auf seinem Landgut besonders Obst- und Gemüseanbau betrieb, widmete sich Eumaios der extensiven Viehwirtschaft, nämlich der Schweinezucht und Ziegenhaltung.671 Zwar wies schon William E. Gladstone darauf hin, dass „die ländliche Arbeit, die uns der Dichter zeigt, nach einem grösseren Maasstabe organisiert ist“,672 aber angesichts der kleinen und kargen Insel Theaki, die bisher als das homerische Ithaka galt und deshalb seit der Moderne den Namen Ithaka trägt, degradieren die Homerinterpreten den tatkräftigen Eumaios meist zum einfachen „Schweinehirten, dessen Hof das Bild einer ländlichen Idylle bietet“.673 Da jedoch das homerische Ithaka mit der vielfach größeren Nachbarinsel Kephallenia zu identifizieren ist, erscheint es endlich an der Zeit, auch den Eumaios zu rehabilitieren. Denn im Gegensatz zum Zerrbild des einfachen „Sauhirten“, der in seiner „Hütte“ wohnte,674 beschreibt die Odyssee den ausdrücklich „göttlichen“ Eumaios675 als einflussreichen Vasall aus königlicher Familie,676 der riesige Viehbestände verwaltete: Seine Domäne zählte „zahllose [μυρίαι] Schweine“:677 Dort wurden hunderte von Ebern unter freiem Himmel gemästet,678 während ca. 600 Muttersauen in großen Stallungen „mit Völkern von Ferkeln“ lagerten.679 Zudem weideten im Umkreis des Eumaios-Gehöfts in zahlreichen Herden Tausende von Ziegen.680 Das Gehöft war von einer großen, durch zusätzliche Pallisaden geschützten Steinmauer umgeben und innerhalb des Arreals befanden sich ein Dutzend geräumige Stallungen und Gebäude.681 So dürfte 671 Od. 14,13–20, 103 ff. 672 GLADSTONE 352. Dennoch meint er (457 f.), dass die Zahlen der Viehbestände nicht wörtlich zu nehmen sind. 673 GRETHLEIN 160. 674 Von der „Hütte des Sauhirten“ sprechen u. a. schon Adolf KIRCHHOFF (560; immerhin 177 auch vom „Gehöft des Sauhirten“) und Rudolf HERCHER 274 (ebd. Anm. 1), der wiederholt die „Hütte des Eumaios“ nennt; ebenso Hugo MICHAEL (25) und Emil BELZNER (37): „Inmitten des Ganzen steht die Hirtenhütte“. 675 Als „göttlich“ wird Eumaios 17 mal gekennzeichnet (u. a. Od. 16,1; 17,508; 21,234; 22,157). Also in „häufiger Formel heißt es gar, ‚der göttliche Sauhirt’: ein Attribut, das sonst nur Heroen gegeben wird. Man hat gemeint, ‚göttlich‘ sei der Sauhirt geworden um des Versmaßes willen; aber nichts nötigte den Dichter, diesen zweiten Formelvers einzuführen“ (HÖLSCHER, Odyssee 203). 676 Od. 15,413. Zur Vita des Eumaios s. Od. 15,403–484. – „Eumaios, auf den sich später das ithakesische Geschlecht der Koliadai gründet (Arsttl. bei Plut. qu. Gr. 14), ist keine freie Schöpfung der Sage“ (GRUPPE 712, Anm. 3). 677 Od. 15,556. 678 Die Eber wurden unter freiem Himmel gehalten (Od. 14,16 u. 532 f.; vgl. 13,407 ff.). Aufgrund des jahrelangen Gastrechtfrevels der über einhundert Freier lebten ‚nur noch‘ 360 Eber (14,20). 679 Od. 14,13–20; zitiert wurde Vers 14,73. Eumaios hatte zwölf Ställe mit je 50 Säuen (also für ca. 600 Muttertiere: 14,14 f.). 680 Od. 14,103 ff. Odysseus besaß zudem Herden auf dem Festland (Od. 14,96–102). 681 Od. 14,5–14; 16,165.

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das Hauptgebäude mit Vorhaus, das „der göttliche“ Eumaios bewohnte, keine armselige „Hütte“ gewesen sein, sondern ein dem großen Anwesen angemessenes stattliches Blockhaus.682 Der von Eumaios bewirtschaftete ländliche Großbetrieb lag ausgesprochen peripher (ἔσχατος),683 und zwar nahe derjenigen Landspitze der Insel, die dem Peloponnes zugewendet ist: Die Göttin Athene hatte nämlich den Kronprinzen Telemach während der Rückfahrt von Pylos (an der Westküste des Peloponnes) angewiesen, nicht bis zum kephallenischen Stadthafen zu segeln, sondern sogleich „an der ersten Spitze“ seiner Heimatinsel zu landen und von dort aus den Hof des Eumaios aufzusuchen.684 Da Telemach während der Morgenröte die Küste seiner Heimatinsel erreichte, dort mit der Mannschaft des Schiffes das Frühstück einnahm und danach zu Fuß zum Eumaios-Hof eilte,685 jedoch schon bei Eumaios eintraf, als dieser noch frühstückte und die Hirten gerade zur täglichen Arbeit aufbrachen,686 ist der Hof des Eumaios nur wenige Kilometer von der auf den Peloponnes gerichteten Inselspitze zu suchen. Wenn Kephallenia das homerische Ithaka ist, dann lag der Hof des Eumaios also in der signifikanten Südostspitze der Insel, die auf das Nordwestkap des Peloponnes ausgerichtet ist. Außerdem erfahren wir über die geographische Lage des Hofes, dass er „hoch, auf einer weitumschauenden Höhe“ lag.687 Diese beiden aufschlussreichen Informationen genügen, um den Hof des Eumaios im äußersten Südosten Kephallenias zu lokalisieren, und zwar auf dem 570 m hohen Berg Koroni, der „als eine stolze, den ganzen Südosten Kephallenias überschauende Warte ins Auge fällt“.688 Der Berg trug im frühen Altertum das Landstädtchen Pronnoi (heute Palaiokastro genannt), dessen Name „Höhenstadt“ bedeutet,689 weil es „in 682 Die Unterkunft des Eumaios wird als κλισίη bezeichnet (Od. 14,45, 48, 194, 404, 16,159, 178), worunter meist eine provisorische Unterkunft „von leichterer Bauart als die Wohnhäuser“, v. a. im Heerlager zu verstehen ist (PAPE I 1337 f.). Indes, Eumaios wohnte angesichts des stattlichen Gutshofes, wie auch der Alt-König Laertes in seinem Landgut (dessen κλισίη, Od. 24,208, wird übrigens meist mit „Haus“ übersetzt!), wohl in keinem Provisorium, wie auch die Existenz des προ-δόμος („Vorhaus“) andeutet (Od. 14,5; desgleichen wird z. B. das Vorhaus des Nestor-Palastes auch als προ-δόμος bezeichnet: Od. 4,302). Die Heimstatt des Eumaios dürfte zumindest von der Bauweise der Unterkunft (aber nicht der Aussttatung) des Achill im Schiffslager vor Troja ähneln, die ebenfalls als κλισίη (Ilias 24,448) bezeichnet wird: „Dieses hatten die Myrmidonen dem Fürsten gezimmert. Hoch aus dem Holze der Tannen … Rings aber war ein geräumiger Hof dem Herrscher von festen Pfählen gebaut; ein einziger Pfosten vom Holze der Tanne sperrte die Tür; es konnten nur drei Achaier ihn schieben“ (Od. 24,449–454). Aufgrund des festen Hauses vermutet Dietrich MÜLDER (Phäakendichtung 45), „daß die Wohnung des Achill im Feldlager von der alten Vorlage als οἰκία bezeichnet worden zu sein scheint; die Gleichsetzung dieses Holzhauses mit den κλισίαι, welche sonst erwähnt werden, rührt wohl auch vom Bearbeiter her“. Dies ist nur eines von vielen Beispielen, dass auch gestandene Philologen ebenso willkürliche Behauptungen aufstellen wie die von ihnen gescholtenen Homerforscher, die krude geographische Deutungen vornehmen. 683 Od. 24,150. „Der Sinn wäre: ‚Hier auf der Insel und zwar auf ihrem äußersten Punkte‘“ (BELZNER 12). 684 Od. 15,27–42. 685 Od. 15,495–505. Er zog sich Sandalen an und ging „mit eilenden Schritten zum Hofe“ (15,550 ff.). 686 Od. 16,1–21. 687 Od. 14,6 f. 688 PARTSCH, Kephallenia 75. 689 BIEDERMANN 8,4.

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aussichtsreicher, imposanter Höhe (540 m)“ lag.690 Es befindet sich 3,5 km nördlich des heutigen Hafendorfs Katelios, das an dem weit gebogenen Sandstrand liegt, der zur Südostspitze Kephallenias ausläuft, und an dem Telemach in der Vorstellung des Dichters gelandet ist.691 – Das alte Pronnoi, von dem hier die Rede ist, darf nicht mit der gleichnamigen und jüngeren antiken Hafenstadt verwechselt werden, die 5 km weiter nördlich liegt (beim Hafenort Poros). Nach den unruhigen Zeiten des frühen Altertums verlagerte sich die Stadt nämlich unmittelbar an die Küste. Das alte Pronnoi geht auf vorgeschichtliche Zeiten zurück,692 zumal „die Bezeichnung Polis an das Vorhandensein einer mykenischen Siedlung auf der Burghöhe anzuknüpfen scheint“.693 Von der teils kyklopischen, teils polygonalen Mauer des alten Pronnoi „sind noch bedeutende Reste“ erhalten,694 und vielleicht fußen sie auf den Ruinen der „hohen Mauer“, für die einst angeblich Eumaios und seine Leute schwere Steine herangeschafft hatten.695 Die Mauer wurde, wie die Odyssee erzählt, zur Sicherung des geräumigen Gehöfts mit seinen Dutzend Stallungen und Gebäuden696 errichtet und außerdem mit Palisaden aus Eichenholz umgeben.697 Dieses Baumaterial war, wie auch die erwähnten Eicheln zur Mast der unzähligen Schweine des Eumaios,698 in den einst ausgedehnten Eichenwäldern im Südosten Kephallenias reichlich vorhanden.699 Von den „alten Eichenwäldern waren im 16. Jahrhundert noch so beträchtliche Reste übrig, dass [die von Färbereien benötigten] Knoppern das wichtigste zur Ausfuhr gelangende Erzeugnis der Insel bildeten“.700 Den Festungscharakter des hochliegenden Hofes begründet Eumaios mit der ständig drohenden Gefahr des Viehraubs durch fremde Völker.701 Und diesem Zweck, nämlich eine Fliehburg für die Landbevölkerung und deren Vieh bei Seeräuberüberfällen und in Kriegen zu sein, diente die Bergfestung seit alters her. So weist das alte Pronnoi nur relativ wenig feste Gebäude auf, obwohl der weite Mauergürtel die enorme Fläche von 200.000 qm umfasst.702 Der Historiker Polybios berichtet, der Makedonenkönig Philipp V. habe im Jahr 218 v. Chr. erwogen, Pronnoi zu erstürmen, um sein Heer mit 690 PARTSCH, Bericht 626; die Höhenangabe a. a. O. ist falsch und auf 570 m zu korrigieren. 691 „A second harbour for Pronnoi is to the south, at Kato Katelios“ (RANDSBORG II 259); der andere Hafen, an dem das hellenistische Pronnoi lag, ist die heutige Hafenstadt Poros. 692 PHILIPPSON/KIRSTEN II 511,1. 693 PHILIPPSON/KIRSTEN II 245; vgl. II 602. 694 BIEDERMANN 62. „Die Höhe derselben beträgt noch durchschnittlich 2,5 m, die Größe der Steine 1 m“ (a. a. O.). RANDSBORG (II 260) bietet Skizzen, die die Mauerabschnitte drei Bauphasen zuweisen. 695 Od. 14,10; 16,165. 696 Od. 14,5, 13 f. 697 Od. 14,11 f. 698 Od. 13,408 f. 699 KNAPP 31 ff. Im Südosten Kephallenias wuchsen vorwiegend Steineichen. Im Altertum hat aufgrund der „noch größeren Verbreitung von hochstämmigen Wäldern aus Eichen-Arten (in erster Linie wohl Quercus coccifera) die Schweinemast eine viel größere Rolle gespielt als in den letzten Jahrhunderten“ (ders. 14). Rüdiger KNAPP (58) erblickte in der Mitte des 19. Jhs. „die umfangreichsten Ansammlungen relativ großer und alter Eichen in einigen zentralen Lagen der Insel“. 700 PARTSCH, Kephallenia 93. – Die an Eichen wuchernden Gallen nennt man Knoppern oder Wallonen. Sie wachsen an Quercus macrolepis (s. KNAPP 20). 701 Od. 14,85 ff. Indes, die Kephallenen waren Opfer (21,18 ff.) und Täter (23,356 f.; 24,111 f.) zugleich. 702 „Pronnoi dramatically expanding the walled aerea to about 200,000 m2“ (RANDSBORG II 261).

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Lebensmitteln zu versorgen.703 Unter byzantinischer Herrschaft wurde der Verteidigungsring des wüstgefallenen Pronnoi „zur vollen Sicherheit dieser Landschaft gegen Angriffe von See aus“ instand gesetzt.704 Und noch in der Neuzeit, als Kephallenia drei Jahrhunderte der Republik Venedig unterstand, konnte die Landbevölkerung auf den schützenden Mauerring der alten Bergfestung nicht verzichten, denn damals plünderten seeräuberische Horden der Sarazenen sowie die Türken ganze Landstriche der Insel und entführten zahlreiche Menschen und deren Vieh. So beklagten die Kephallenen z. B. im Jahr 1538 die Entführung von ca. 13.000 Menschen „und den Raub zahlreicher Viehherden“.705 Dieses unselige Treiben herrschte schon in vorhomerischen Zeiten, wie die Odyssee erzählt: „Männer aus Messenien hatten aus Ithaka Schafe gestohlen, dreihundert Stück, auf Schiffen mit Ruderbänken, samt ihren Hirten“.706 Der weitläufige Festungsring der Fliehburg Pronnoi umschloss den Gipfel des Berges Koroni (570 m) sowie die unmittelbar südöstlich benachbarte Bergkuppe namens Takori (520 m).707 Zwischen dem Berggipfel und der tiefer gelegenen Bergkuppe erstreckt sich in 430 bis 480 m Höhe ein länglich abfallender Talgrund, der eine ganzjährig fließende Süßwasserquelle aufweist. Dort befindet sich noch heutzutage ein Bauernhof mit umfangreichen Stallungen. Schon der aus dem Altertum erhaltene „weite Mauergürtel“ der Bergfestung lag „tief genug, um die Quelle (446 m) am Ostfuß des Burghügels mit einzuschließen“.708 Diese Quelle dürfte der homerischen Arethusa entsprechen, die innerhalb des Berghofes des Eumaios die zahllosen Schweine tränkte709 und im Belagerungsfall die Wasserversorgung des Gehöfts sicherte. Der 570 m hohe Berggipfel mit dem höchsten Teil der Festungsanlage fällt nach Südosten, zur Quelle hin, mit einer fast 100 m hohen Kalksteinwand schroff ab, und so dürfte dies der homerische Korax-Felsen sein, der innerhalb des Mauergürtels des Eumaios-Hofes den zahlreichen Ebern hinreichenden Schutz vor dem nasskalten Nordwestwind bot.710 Zudem ist der hohe Felsen geeignet, von dessen Gipfel missliebige 703 704 705 706 707

Polyb. 5,3,4.

PARTSCH, Kephallenia 75. PARTSCH, Kephallenia 46.

Od. 21,18 ff. „Ancient Pronnoi incorporates two hill-tops. On the highest of these, Palaiokastro (570 m), is the ancient Akropolis“ (RANDSBORG II 259). 708 PARTSCH, Kephallenia 75. Die Quelle ist auch verzeichnet in der „Originalkarte der Inseln Kephallenia und Ithaka“ im Maßstab 1:100.000 von Joseph PARTSCH (im Anhang). Einen Nachdruck der vorzüglichen Karte bietet das Buch von STEINHART/WIRBELAUER (im Anhang). 709 Od. 13,408 f. – Die sog. Arethusa-Quelle auf dem Südteil des heutigen Ithaka (Theaki) gilt als eine der wenigen auffindbaren homerischen Orte, obwohl diese Quelle überhaupt nicht als Viehtränke geeignet ist: „Aber freilich kann dieses einen Kubikmeter haltende Felsloch, das ja nur ein Wassersammelbecken ist und seinen Spiegel im Sommer gar nicht in Reichhöhe hat, niemals der homerische Quell sein. Ein dutzend Schweine würden es bald leergetrunken haben; überdies ist mir unverständlich, wie jemand, der den steilen Pfad östlich des Felsens von der Höhe zu der Wasserstelle heruntergeklettert ist, auf den Gedanken verfallen kann, daß sich jene dicken Borstentiere hier überhaupt bewegen könnten“ (BELZNER 51 f.; ders. 50, Anm. 1). 710 Od. 13,408; 14,457 f., 533. „Am Fuße oder unter dem Felsen (Od. 14,533) und auf der südlichen Seite waren die männlichen Schweine, an der Zahl 360“ (VÖLCKER 64).

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1. Die Ithaka-Antwort

Zeitgenossen zu Tode stürzen zu lassen, wie Eumaios betont.711 Angemerkt sei noch, dass die hohe Felswand, die Vögeln sichere Nistplätze bietet und in der Odyssee „Korax“ („Rabe“) heißt,712 seit etlichen Jahrhunderten den Namen Koroni („Krähe“) trägt. Das schmale Plateau auf dem Gipfel des Koroni-Felsens, das als Akropolis der Fliehburg Pronnoi fungierte, bietet Siedlungsspuren seit neolithischer Zeit „and in particular from the Archaic to the Roman Imperial period“.713 Vor allem „finden sich noch heute ein dreistufiger Felsaltar in Gipfellage sowie viele Ziegel- und Mauerreste aus verschiedenen Zeiten“.714 Der erst vor wenigen Jahren freigelegte und archäologisch untersuchte Altar ist ein Monolith von quadratischer Grundfläche (ca. 2 × 2 m; 1,60 m hoch), in den längliche Stufen ausgeschlagen worden sind.715 Der mächtige Altar war dem Zeus geweiht,716 und dementsprechend tragen die antiken „Münzen von Pronnoi das Bild des Zeus Aenesios“.717 Der Zeus-Altar wird in die Achäische Epoche datiert, doch halten ihn die Ausgräber möglicherweise für noch älter.718 Faszinierend ist nun, dass bereits die Odyssee am selben Ort einen Altar erwähnt (!), nämlich als Eumaios ein Ferkel opfert und ihm dort die Heimkehr des Odysseus prophezeit wird: „Zeus soll jetzt vor allem es wissen, der Tisch für die Fremden, auch der Altar des Odysseus, des Trefflichen, an den ich nun trete; was ich jetzt sage, wird alles wahrhaftig so sich vollenden: Dieses Jahr noch wird Odysseus hierher gelangen!“719 Seit der Freilegung der Kultstätte wird gerätselt, warum ausgerechnet der schmale Gipfel des Berges Koroni einen derart alten und monumentalen Zeus-Altar trug.720 Die vorliegende Lokalisation des Eumaios-Hofes bietet die Erklärung,721 denn die Odyssee weist die Felskuppe, die den Zeusaltar trägt, als einen zentralen Ort der epischen 711 Od. 14,399. 712 Die ätiologische Geschichte vom Jäger Korax (schol. v 408) entstand aber erst infolge der Odysseestelle (s. SCHWARTZ 399, Anm. 1). 713 RANDSBORG II 259. „During the Geometric/Archaic to Late Classical period a new Necropolis was situated on the north-western slope of the Acropolis“ (a. a. O.). 714 STEINHART/WIRBELAUER 155. 715 „At the top of the Acropolis an evocative ancient Rock-cut step-altar, facing a tall rock outcrop, indicates the location of religious ceremonies“ (RANDSBORG II 259). Der Altar ziert das Cover beider Kephallenia-Bände von RANDSBORG aus dem Jahr 2002 (s. a. Bd. I, 152). 716 Der Altar und „Pronnoi stands for … powerful Zeus (Aineios)“ (RANDSBORG II 311). Auf dem Gipfel fand man auch „a black-colored cameo – the head of Dias (Zeus) – which forms a mask“ und andere Artefakte, u. a. eine „large etruscan-clay vase“ (LIVADA-DUCA 76). 717 PARTSCH, Kephallenia 88. Die Münzen der Stadt Pronnoi tragen „meist den Kopf des Zeus und auf der Kehrseite einen Tannenzapfen“ (BIEDERMANN 71). 718 „The ancient step-altar on the top of the Acropolis of Pronnoi probably stems from this phase [Archaic period], if not an older one“ (RANDSBORG II 309). 719 Od. 14,158 ff. Das Wort ἑστία, ep. ion. ἱστίη (Od. 14,159), bedeutet „der Altar“ und „zugleich der Hausaltar der Hausgötter, besonders des Zeus“ (BENSELER 353). Ein weiterer „Altar des Odysseus“, der auch dem Zeus geweiht war, befand ich im kephallenischen Königspalast (Od. 17,155 f.; 19,303 f.; 20,230 f.). 720 „Es ist daher zu erwägen, ob die Berichte über ein ‚Gipfelheiligtum‘ auf dem Enos [der Altar des berühmten Zeus-Aineios] nicht mit diesem Ort zu verbinden sind“ (STEINHART/WIRBELAUER 155). Vgl. dagegen WARNECKE, Zeus 399–411. 721 Nicht unerwähnt sei, dass ich den Gipfel des Berges Koroni schon vor der Freilegung des Zeus-Altars für den Ort hielt, an dem Odysseus bei Eumaios einkehrte und dem Zeus opferte (WARNECKE, Lösung 89 f.).

1.2 Die Landschaft Ithakas

109

Handlung aus: Hierhin schickte die Göttin Athene ihren Schützling Odysseus als er nach zwanzigjähriger Abwesenheit heimischen Boden betreten hatte,722 hier wurde dem als Fremden getarnten Odysseus das dem Zeus heilige Gastrecht gewährt,723 hier hatte Odysseus seinen zum Manne gereiften Sohn wiedergesehen,724 und hier hatte er sich erstmals in der Heimat als Odysseus zu erkennen gegeben725 und die Vernichtung der Freier geplant,726 deren Schuld v. a. darin bestand, gegen das dem Zeus heilige Gastrecht gefrevelt zu haben.727 Bedenkt man zudem, dass Zeus die Heimkehr des Odysseus gegen den Willen seines mächtigen Bruders Poseidon durchgesetzt hatte,728 und dass Odysseus – wie er selbst betont – erst auf dem Hof des Eumaios „vom schrecklichen Jammer der Irrfahrt endlich befreit“ wurde,729 dann dürfte der fast dreitausend Jahre alte Stufenaltar des Zeus auf der Bergkuppe Koroni im Südostzipfel Kephallenias in Gedenken an die Heimkehr des Odysseus gesetzt worden sein, die im Epos hier mit einem opulenten Zeus-Opfer vollzogen wurde.730 Eumaios waltete mit herrschaftlichen Privilegien über die südostkephallenische Domäne des Odysseus: So verfügte er über vererbbares Land,731 und er benötigte für seinen Festungsbau noch nicht einmal die Einwilligung der kephallenischen Königsfamilie.732 Ferner konnte Eumaios nach eigenem Ermessen den Fremden das Gastrecht gewähren733 und Sklaven kaufen.734 Allerdings avancierte Eumaios wohl nur infolge der jahrzehntelangen Abwesenheit des Königs Odysseus und der damit einhergehenden Anarchie zum relativ unabhängigen Potentaten, dessen Privilegien jedoch für seine Treue und Teilnahme am Kampf gegen die adligen Freier durch den heimgekehrten Odysseus bestätigt und erweitert wurden.735 So entwickelte sich sein trutziges Anwesen, nämlich die ländliche Fliehburg Pronnoi, im Altertum zur kleinsten der vier kephallenischen Poleis,736 und auf diese aufkeimende Autonomie Südostkephallenias weist bereits die Odyssee hin, indem das Wort 722 Od. 13,403 ff.; 14,2 ff. 723 Od. 14,45 ff.; 158 f. Zeus war der Schützer des Gastrechts (6,207; 7,165; 9,270, 478; 14,57, 284, 389, 406) und der Schützer des Hauses (22,35). 724 Od. 16,11 ff. 725 Od. 16,186 ff. 726 Od. 16,167 ff. So sprach Odysseus zu Telemach: „Jetzt aber kam ich hierher im Auftrag Athenes, wir beide sollen vereint die Ermordung der feindlichen Männer beraten“ (Od. 16, 233 f.). 727 Od. 13,394 f.; 14,81 f., 90 ff.; 15,326 ff.; 20, 215 f. 728 Od. 1,62 ff., bes. 76 f.; 13,340 ff. 729 Od. 15,342; „es gibt für Sterbliche nichts, was an Unheil gliche dem ewigen Wandern“ (Od. 15,343). 730 Od. 14,74 ff.; 420–447. Am nächsten Tag folgt dort ein weiteres Opfer (Od. 16,454). 731 Od. 14,62 ff.; 17,594; vgl. 21,214 f. 732 Od. 14,5 ff. 733 Od. 14,48 ff. 734 Od. 14,449 ff. Der Vers 451 („ohne dass es die Herrin [Penelope] vernahm und der greise Laertes“, hat Eumaios den Sklaven Mesaulios erworben) „fehlt in zwei Handschriften, worauf an sich nicht viel zu geben ist. Indessen ist er an unserer Stelle entbehrlich [warum?] und scheint …nachträglich eingelegt worden zu sein“ (KIRCHHOFF 501 f.). 735 Od. 21,212 ff. 736 Zwar gehörte neben Krane, Pale und Samos auch Pronnoi zu der kephallenischen „Tetrapolis“ (Thuk. 3,30,2), aber „auch im Altertum ist Pronnoi augenscheinlich das unbedeutendste der kleinen Staatswesen Kephallenias gewesen“ (PARTSCH, Kephallenia 74).

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1. Die Ithaka-Antwort

autos (ἀυτός) zu Beginn dreier Verse die Selbständigkeit des Eumaios unterstreicht.737 Die politische Unabhängigkeit des landwirtschaftlich geprägten Südostens Kephallenias wurde durch die Inselmorphologie forciert, denn zwischen der kephallenischen Hauptstadt Krane, der einst das „Polismation“ („Städtchen“) Pronnoi738 suffragan war, erstreckt sich in voller Länge das hochgebirgige und kaum besiedelte Aenos-Massiv, das kulturgeographisch „entscheidend geworden ist für die Abkehr der einzelnen Landschaften voneinander“.739 Ein frühes Zeugnis dieser aufkeimenden Autonomie der Südostspitze Kephallenias ist das große mykenische Kuppelgrab zwischen dem Berg Koroni und der Hafenstadt Poros, dessen fürstlichste Bestattung in das erste Viertel des 12. Jahrhunderts v. Chr. datiert wird.740 Die Entfernung zwischen dem Stadtkreis mit dem Palast des Odysseus und dem Hof des Eumaios ist recht groß, denn der Hof „liegt am Ende der Insel, und zur Stadt ist es weit“.741 Für eine relativ große Entfernung spricht zudem, dass sowohl die vielen Bediensteten des Palastes als auch die über einhundert Freier und die Stadtbewohner bis zur Rückkehr des Telemach nicht wussten, dass dieser zum Peloponnes nach Pylos und Sparta gereist war, sondern annahmen, er sei auf Ithaka und weile bei Eumaios in dessen Gehöft.742 Bei Zugrundelegung der vorliegenden Lokalisierungen ist das verständlich, denn der Fußweg zwischen dem Hof des Eumaios und dem Palast des Odysseus beträgt ca. 25 km; für den Weg bis zum Marktplatz in Ithaka-Stadt743 sind nochmals 3–4 km hinzuzuaddieren, wodurch die gesamte Strecke zwischen der Stadt und dem Eumaios-Hof ca. 30 km beträgt. Das mag auf den ersten Blick weniger als erwartet erscheinen. Andererseits sollte die Entfernung aber kaum größer sein, denn Telemach bewältigte die Strecke zwischen dem Berghof des Eumaios und dem ithakesischen Stadtkreis zu Fuß in der Zeit zwischen Morgenröte und Mittagsmahlzeit,744 und Odysseus legte denselben „waldigen und gebirgigen“ Weg745 entlang der Westflanke des Aenosgebirges zwischen der Mittagsmahlzeit und dem Abendessen zurück.746 Die Helden wanderten die Strecke also zügig mit etwa 4–5 Stundenkilometern ab, und das war zweifellos eine realistische Marschleistung. Der tatkräftige Eumaios, der eher jünger als Odysseus war,747 bewältigte die Stre-

737 738 739 740

741 742 743 744 745 746 747

Od. 14,8, 23, 450.

POLYBIOS (5,3,4) bezeichnet Pronnoi als πολισμάτιον. PARTSCH, Kephallenia 88.

„The main grave“ was „built of white limestone belonged to other officials in the area, who lived about the first quarter of the 12th c. BC”. Das Kuppelgrab zeugt von “the existence of a strong Mycaean centre, which was probably connected with Homer’s Ithaki“ (Offizielles Informationsblatt am Kuppelgrab, April 2016). HÖLSCHER, Odyssee 186 (mit Bezug auf Od. 17,25 u. 24,150). Od. 4,638 ff. Od. 17,52, 72. Od. 17,1 f., 26 ff., 61 ff., 72, 84 f., 170 ff. Od. 14,2. Od. 17,182 ff., 256 ff. Od. 15,351–364.

1.2 Die Landschaft Ithakas

111

cke mit ausdrücklich zügigem Schritt748 sogar an einem Tag hin und zurück,749 wodurch er immerhin ca. 60 km unterwegs war. Zum Vergleich sei erwähnt, dass im griechischen Altertum bei militärischen Einsätzen „ein gewöhnlicher Tagesmarsch 250–300 Stadien“ betrug, also gut 50 km, „in Berggegenden 180 Stadien“, also ca. 35 km.750 So konnte ohne militärische Ausrüstung ein durchtrainierter Mann – wie der „göttliche“ Eumaios – die 60 km lange Strecke sogar innerhalb nur eines halben Tages bewältigen, d. h. zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang.751 Indes, ein Vorgang erscheint kurios: Telemach landete auf Weisung Athenes an der Landspitze seiner Heimatinsel und begab sich von dort zum nahegelegenen Hof des Eumaios,752 während die Gefährten sogleich mit dem Schiff zum Stadthafen weiterfuhren und nach der Ankunft einen Botschafter zu Penelope in den Palast sandten.753 Als Telemach bei Eumaios ankam, schickte er ihn nach kurzer Unterredung ebenfalls zum Palast, und Eumaios traf dort zur selben Zeit ein wie der Botschafter.754 Die raumzeitliche Evidenz dieser Darstellung wurde oft bezweifelt, denn es erscheint merkwürdig, dass der Fußmarsch vom „äußersten Ende“ der Insel bis zum Stadtkreis nicht mehr Zeit benötigt haben soll als die Seefahrt, denn, so monieren Altphilologen, das Schiff „muß doch viel schneller“ gewesen sein.755 Zwar fuhr das Schiff tatsächlich schneller als Telemach und Eumaios wanderten, aber ein Blick auf eine Landkarte Kephallenias entlarvt den Trugschluss der Homerforscher: Der von Telemach bewältigte Weg vom Strand der Inselspitze bis zum Hof des Eumaios beträgt ca. 5 km, der des Eumaios vom Hof bis zum Palast ca. 25 km, ergibt zusammen etwa 30 km Wegstrecke. Dagegen war der Seeweg von der Inselspitze bis zum Stadthafen mit ca. 45 km deutlich länger, weil die Bucht von Argostoli in Gegenrichtung vom Livadi-Golf abzweigt.756 Zudem ist noch die ca. 4 km lange Wegstrecke zwischen Hafen und Palast hinzuzurechnen, die der Botschafter zurücklegte. 748 So hatte sich Eumaios auf Geheiss des Odysseus beeilt: Od. 16,130. 749 Eumaios brach am frühen Morgen auf (Od. 16,154 f.), blieb nur kurz im Palast und kehrte von dort sofort zu seinem Berghof zurück (16,464 ff.), wo er am Abend eintraf (16,452 f.). Am nächsten Mittag ging er mit Odysseus wieder zum Palast (17,182 ff.) und brach gegen Abend abermals auf (17,593 f.). Ob er bis zum Berghof heimkehrte und von dort am nächsten Tag wiederum zum Palast zurückkehrte, bleibt ungewiss, da Aufbruch und Rückkehr zum Palast lediglich angedeutet werden (17,599 f.; 20,163 f.). 750 FORBIGER I 551; ders. bietet a. a. O. eine Tabelle antiker Tagesmärsche. 751 Der Tibetforscher Heinrich Harrer bewältigte per pedes z. B. in 8 Stunden bis zu 80 km (ZDF, Interview 10. Juli 1988). – Hugo MICHAEL (25), der als Befürworter der Theaki-Ithaka-Theorie eher an geringe Distanzen denkt, traut dem Eumaios wohl zu wenig zu: „Unter Berücksichtigung des gebirgigen Terrains haben wir uns nach diesen Angaben [Eumaios schafft den Weg vom Gehöft zur Stadt und zurück an „einem ganzen (hellichten) Tag“] das Gehöft etwa 4–5 Stunden, 15–18 Kilometer, von der Stadt entfernt zu denken“. 752 Od. 15,36 ff.; 495 ff. 753 Od. 15,547 ff.; 16,322 ff. 754 Od. 16,333 755 VÖLCKER 48. Ebenso u. a. Tilman KRISCHER (Epik 106) und Eduard SCHWARTZ (87). – Indes, dieser Schluss ist nicht unbedingt zwingend; so wies Hugo MICHAEL (26) darauf hin, dass die Gefährten, nachdem Telemach an der ersten Spitze der Insel ausgestiegen war, „von der langen nächtlichen Fahrt ermüdet, keine Veranlassung hatten, sich besonders zu beeilen“. 756 Einen derartigen Sachverhalt hatte schon Rudolf HERCHER (274, Anm. 1) nicht bedacht, und deshalb kritisierte er die raumzeitliche Evidenz mit den Worten, dass „der Weg zur Stadt von dem Ankerplatze

112

1. Die Ithaka-Antwort

Obwohl schon Rudolf Hercher die Überprüfung raumzeitlicher Handlungen in der Odyssee als „ganz nutzlose Rechnungen“ verwarf,757 ist nun ist folgende Bilanz zu erstellen: Wenn Telemach und Eumaios die Strecken zwischen Landspitze, Gehöft und Palast mit 4 km/h bewältigten, benötigten sie ca. 7,5 Stunden; hinzurechnen muss man etwa eine halbe Stunde, die verstrich, ehe Eumaios, den Telemach nach der Unterredung zum zügigen Aufbruch drängte,758 tatsächlich das Gehöft verließ. Von dem Zeitpunkt, an dem Telemach bei seinen Gefährten an der Landspitze aufbrach, bis zu dem Zeitpunkt, als Eumaios im Palast eintraf, vergingen also insgesamt ca. 8 Stunden. Gegenzurechnen ist nun die Fahrtdauer des Schiffes von der Landspitze zum Hafen sowie die Zeit, die der Botschafter vom Hafen zum Palast benötigte. Wenn der Botschafter für den 4 km langen Weg eine knappe Stunde benötigte, und er mit Eumaios zur selben Zeit im Palast eintraf, dann war das Schiff ca. 7 Stunden unterwegs, d. h. es lief den 25 sm (ca. 45 km) langen Seeweg zum Stadthafen mit etwa 3,5 Knoten (ca. 6,5 km/h). Auf den ersten Blick erscheint die Geschwindigkeit für das mit den besten Jünglingen der Kephallenen759 bemannte Schiff nicht sonderlich hoch, jedoch gilt es erstens zu bedenken, dass es sich um einen für den Frachtverkehr gebauten Rudersegler handelte,760 und zweitens, dass das Schiff im Schutz der Küste zum Hafen gerudert wurde und nicht unter Segel lief,761 um die auf dem Eiland Asteris lauernden Freier nicht schon von Ferne zu alarmieren. Unter den genannten Umständen fuhren die Gefährten des Telemach mit einer beachtlichen Ausdauer und Geschwindigkeit, die dem nautischen Erwartungshorizont für ein solches Schiff durchaus entspricht.762 Die raumzeitlichen Angaben über die Heimkehr des Telemach sind also erstaunlich stimmig, und so ist dieses Beispiel wieder ein schlagender Beleg dafür, dass der Dichter bei der Darstellung der epischen Handlung reale Landschaftsräume vor Augen hatte. Also, auch „der Dichter der Telemachie kennt Ithaka“,763 und seine geographischen Angaben stehen keineswegs im Widerspruch zur übrigen Darstellung der Odyssee, wie u. a. Theodor Bergk in seiner ‚Griechische(n) Literaturgeschichte‘ behauptet.764

757

758 759 760 761 762

763 764

unterhalb der Hütte des Eumaios über den Berg und an der Küste hin auch in Wirklichkeit von gleicher Länge sein müsse“. „Ganz nutzlos sind Rechnungen, wie jene, daß, weil das Schiff des Telemach auf seiner Rückfahrt von Pylos in demselben Augenblick im Hafen von Ithaka einläuft, in welchem Eumaios über das Gebirg die Stadt erreicht,“ weil „der Weg zur Stadt von dem Ankerplatze unterhalb der Hütte des Eumaios über den Berg und an der Küste hin auch in Wirklichkeit von gleicher Länge gewesen sein müsse“ (HERCHER 247, Anm. 1). Od. 16,154. Od. 4,652. Od. 2,386 mit 4,630 ff.; v. a. 3,365 u. 4,731. Od. 15,549. Zwar erreichten die schmalen Trieren [sie gab es erst im klassischen Altertum] sogar auf längeren Strecken Durchschnittsgeschwindigkeiten „von 5 Knoten und darüber“ (KÖSTER 125 f.), aber das Schiff, auf dem Telemach reiste, war ein bauchiger Rudersegler (mit nur 20 Mann Besatzung: Od. 2,212), für den eine geruderte Geschwindigkeit von gut 3 Knoten über einige Stunden hinweg eine stolze Leistung war. WILAMOWITZ, Heimkehr 168. „Im neunten Gesange [Od. 9,21 ff.] ist wohl der Dichter in der Schilderung der geographischen Lage Ithaka’s einem älteren Liede, was ihm vorlag gefolgt; der Widerspruch mit dem vierten und fünfzehnten Buche [Od. 4,671 f., 845 ff.; 15,29 f., 296 ff.] löst sich einfach dadurch, daß die Partien, wo die Nachstellung der Freier erzählt wird, der alten Odyssee fremd sind“ (BERGK 785).

10 km

(Asteris)

Vardiani

Livadi Golf

Argostolische Bucht

Lourda-Bai (Rheithron)

(Palast des Odysseus)

Burgberg H. Georgios

(Landgut des Laertes)

Gerasimos-Kloster

Abb. 4: Der Inselrumpf Kephallenias

(Stadt Ithaka)

Polis Krane

(ithakesischer Stadthafen)

Aenos

(Neriton)

(Hof des Eumaios)

Fliehburg Pronnoi

1.2 Die Landschaft Ithakas 113

114

1. Die Ithaka-Antwort

1.3 Das Inselreich der Kephallenen 1.3.1 Der enträtselte Inselraum Die bisherige Untersuchung ergab, dass sämtliche Mitteilungen über die geographische Lage und Landesnatur des homerischen Ithaka, der Königsinsel der Kephallenen, auf die große westgriechische Insel Kephallenia detailliert und widerspruchsfrei zutreffen. Indes, neben Ithaka gehörten noch zwei weitere große Inseln zum Reich der Kephallenen, nämlich Zakynthos und Samos (bzw. Same),765 die der 9. Gesang der Odyssee ausdrücklich im „Osten und Süden“ des homerischen Ithaka platziert.766 Da in diesen beiden Himmelsrichtungen von Kephallenia, abgesehen von einigen unbedeutenden Eilanden, nur zwei Inseln liegen, nämlich Theaki (das heutige Ithaka) im Osten und Zakynthos im Süden, könnte man voreilig schließen, diese mit den homerischen Inselnamen Samos und Zakynthos zu belegen, zumal die südlichere der beiden Inseln vom Altertum bis in die Gegenwart den Namen Zakynthos trägt. Diese Folgerung, die eine schnelle geographische Lösung der Ithaka-Frage zu versprechen scheint, ist aber ein Kurzschluss, da nicht die Angaben des Schiffskatalogs der Ilias berücksichtigt sind. Dort werden nämlich bei der Beschreibung des Inselreichs der Kephallenen nicht nur Ithaka, Zakynthos und Samos genannt, sondern zudem Krokyleia und Aigilips.767 Die Aufteilung von insgesamt fünf homerischen Toponymen auf den westgriechischen Inselbogen scheint jedoch der Quadratur des Kreises zu gleichen. Denn ein Blick auf die Land- bzw. Seekarte zeigt, dass der betreffende Inselraum in der geographischen Wirklichkeit gar nicht fünf größere Inseln aufweist, sondern nur drei, nämlich Kephallenia, Theaki und Zakynthos. Auf fünf Hauptinseln der Kephallenen kommt man selbst dann nicht, wenn die Festlandshalbinsel Leukas hinzugezählt wird. Und das peripher gelegene Kerkyra (Corfu), das bereits als die homerische Insel Dulichion identifiziert wurde, hilft auch nicht weiter, denn erstens gehörte es nie zum Reich des Volksstammes der Kephallenen, zweitens bildet es dem homerischen Schiffskatalog zufolge ein eigenes Inselreich,768 und drittens nennt der Dichter mit Dulichion insgesamt sechs größere Inseln im Westen Griechenlands. Folglich scheint in den Homerischen Epen zumindest ein kephallenischer Inselkörper überzählig zu sein, und so bildet die mit der geographischen Wirklichkeit un-

765 Od. 1,246; 4,671, 845; 9,24; 15,29, 367; 16,123, 249, 250; 19,131; 20,288. – „Die Doppelform des Namens [Samos/Same] entspricht metrischem Bedürfnis“ (MÜLDER, Ithaka 17). 766 Od. 9,25 f. Zwar ist der Formelvers „Dulichion, Same und das waldige Zakynthos“ in Od. 9,24 interpoliert (u. a. ROBERT 632 f.), aber die Richtungen gelten dennoch v. a. für das kephallenische Samos und Zakynthos. 767 Ilias 2,631–634: Das Inselreich der Kephallenen umfasst die Inseln bzw. Inselteile Ithaka, Neriton, Krokyleia, Aigilips, Zakynthos und Samos. Aber „in the Odyssey there are never more than three [größere!] islands besides Ithaca“ (BUTLER 175) sowie das kleine Asteris (Od. 4,846) und die Thoai (Od. 15,299). 768 Odysseus beherrschte also „nicht auch, wie es nach Od. 1,245 f. und 9,24 erscheinen könnte, Dulichion, dessen Herrscher Meges mehr Schiffe als Odysseus nach Troja führt“ (SCHMIDT, Odysseus 603,18 ff.; mit Bezug auf Ilias 2,625 ff.).

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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vereinbar erscheinende Anzahl der Inseln die Crux aller Ithaka-Theorien.769 Dennoch sollte man dem Ilias- und dem Odysseedichter nicht voreilig unzutreffende Kenntnisse des westgriechischen Inselraumes unterstellen, wie häufig geschehen. So glaubte u. a. Ulrich von Wilamowitz feststellen zu können: „Der in Kleinasien lebende Dichter hat keine Ahnung von Westgriechenland“.770 Obwohl Wilamowitz eine philologische Koryphäe war, empfiehlt es sich, auf der Grundlage fundierter historisch-geographischer Kenntnisse nochmals unvoreingenommen zu prüfen, ob der Dichter bei den Inseln der Kephallenen, „die vor den Augen seiner Zeitgenossen lagen, in unverzeihliche geographische Ungenauigkeiten verfällt“.771 Dazu sei zunächst ein Blick auf die Gestalt der stark gegliederten Insel Kephallenia geworfen: „Kephallenia, die größte der Westgriechischen Inseln, ist von komplizierter Gestalt. Der östliche Hauptteil ist ca. 50 km in nord-südlicher Richtung lang und bis zu 25 km breit“; und „der West-Teil, die Halbinsel Paliki, 24 km lang und 3–9 km breit, ist durch die 17 km tief von Süden eindringende Bucht von Livadi fast ganz abgetrennt und nur im Norden durch einen 4 km breiten Isthmos mit dem Ost-Teil verbunden“.772 „Viel selbständiger in den Umrissen ist die schlanke nördliche Halbinsel Erissos, die wie ein Finger 20 km weit“ aus dem Inselrumpf herausragt und „zwischen 8 und 3 km breit ist“. Die Insel Kephallenia besteht also aus „einem Rumpf, an dem auseinanderstrebende Glieder ansitzen“, nämlich die Halbinseln Paliki im Westen und Erissos im Norden.773 Die westliche Paliki-Halbinsel, die „das selbständigste Glied des ganzen kephallenischen Inselkörpers ist“,774 weist der antike Geograph Strabon nahezu als Vollinsel aus, weil er annahm, das Meer würde den knapp 4 km breiten und teils versumpften Isthmos überspülen.775 Und auch die nördliche Halbinsel Erissos, von der man annahm, dass sie „früher eine wirkliche Insel“ gewesen sei,776 wurde noch im 6. Jh. n. Chr. als νῆσος Πάνορμος („Insel Panormos“) bezeichnet.777 Denn sie stand bis zum neuzeitlichen „kühnen Straßenbau wie ein besonderes Eiland den übrigen Insellandschaften gegenüber“, weil sie durch eine ca. 6 km lange und bis 900 m hohe Gebirgswand vom

769 Im Werk ‚Homer and History‘ sagt Walter LEAF (158) in Anbetracht der problematischen Anzahl der Inseln: „we receive a startling shock“. 770 WILAMOWITZ, Untersuchungen 26. 771 KURUKLIS 698. 772 MEYER, Kephallenia 187,Anm. 1 ff. 773 PHILIPPSON/KIRSTEN II 504. 774 PARTSCH, Kephallenia 24. 775 Strab. 10,2,15: „Wo die Insel [Kephallenia] am schmalsten ist, bildet sie einen niedrigen Isthmos, der oft von einem Meer bis zum anderen überschwemmt ist“. „Es ist also hier sicher von dem Isthmos von Paliki die Rede“ (PARTSCH, Kephallenia 37, Anm. 2), auch wenn er nie ganz überschwemmt wurde. 776 BUCHHOLZ 147 (mit Bezug auf GOODISSON 132 f.); vgl. KRUSE (Hell. II 453). Auch BEESKOW (4) nahm irrig an, dass „die heutige Halbinsel Erisso früher eine besondere Insel war und erst in der Folge mit der grösseren Insel zusammenwuchs“. 777 HIEROKLES SYNEKDEMOS (ed. Parthey) 648,6. Panormos ist der spätantike Name der einzigen mittelalterlichen Hafenstadt von Erissos, die seit dem Mittelalter Phiskardo heißt (vgl. PARTSCH, Kephallenia 64).

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1. Die Ithaka-Antwort

kephallenischen Inselrumpf geschieden ist,778 die bis in die Neuzeit hinein allenfalls unbeladene Maultiere passieren konnten.779 Das „eigentlich aus selbständigen Inseln“ zusammengesetzte Kephallenia780 besteht also erstens aus dem südostwärts orientierten Inselrumpf mit dem mächtigen Aenos-Massiv (dem homerischen Neriton), zweitens aus der großen Halbinsel Paliki im Westen und drittens aus der Halbinsel Erissos im Norden. Da diese drei Inselkörper bis ins 19. Jh. hinein verkehrsgeographisch nur auf dem Seeweg miteinander verbunden waren,781 zerfiel Kephallenia auch verkehrs- und kulturgeographisch in drei Teile, deren Machthaber zeitweilig unabhängig voneinander politisch agierten. So war z. B. die antike Hauptstadt der Paliki-Halbinsel, Pale, deren Münzen den Pegasos und das Koppa tragen, ein enger Verbündeter Korinths,782 während das übrige Kephallenia unter der Führung der Inselhauptstadt Krane dem attischen Seebund angehörte.783 Als Kuriosum sei erwähnt, dass die kephallenische Stadt Same, ganz auf sich allein gestellt, 189 v. Chr. Rom den Krieg erklärt hatte und für diese Hybris nach viermonatiger Belagerung ausgelöscht wurde.784 Hervorzuheben ist ferner, dass im frühen Mittelalter die Normannen die Halbinsel Erissos zeitweilig besetzt hielten (in deren Hafenstädtchen Phiskardo der Normannenherzog Robert Guiskard im Jahr 1085 starb), während das übrige Kephallenia unter byzantinischer Herrschaft stand.785 Aufgrund der „dezentralisierenden Kraft der Reliefgliederung“ Kephallenias,786 vor allem aber in Anbetracht der Tatsache, dass das altgriechische Wort nesos (νῆσος) sowohl Vollinsel als auch Halbinsel bedeutet,787 wofür bekanntlich die „Insel des Pelops“ (Peloponnesos) ein redendes Beispiel ist,788 können die homerischen Epen die Insel 778 PARTSCH, Kephallenia 63. Die „Halbinsel Erissos hebt sich mit einem so scharfen, schwer zugänglichen Bergrande ab vom Körper der Insel“ Kephallenia (a. a. O.). 779 So schrieb der Inselgouverneur Charles NAPIER (Roads 6) über die verkehrsfeindliche Bergbarriere, dass sie „no loaded mule can pass“. Die Trasse, die Mitte des 19. Jhs. englische Ingenieure in die Steilwände gesprengt hatten, ähnelt denen hochalpiner Straßen. 780 MELAS 207. So ist v. a. hervorzuheben, „dass der sehr fruchtbare westliche Teil der Insel … in der ältesten Zeit auch staatlich gesondert war“ (MICHAEL 10). 781 Vgl. COSMETATOS, bes. 35–38. 782 BIEDERMANN 19, 23 f., 67 f. 783 Deshalb kritisiert Joseph PARTSCH (Kephallenia 41) den von THUKYDIDES (2,30,2) gewählten Begriff der kephallenischen „Tetrapolis“ und weist auf die im Altertum „wiederholt hervortretende Selbständigkeit der Entschließungen der einzelnen Städte“ hin. 784 PARTSCH, Kephallenia 41, 71. 785 PARTSCH, Kephallenia 42. 786 PARTSCH, Kephallenia 87. 787 „νῆσος, eigentlich die schwimmende, daher Insel, Eiland, auch von einer Halbinsel“ (BENSELER 621), und „there are many examples of peninsulas being called islands, by ancient authors“ (DODWELL I 75), z. B. die große Arktonesos im Nordwesten Kleinasiens (Apoll. Rhod. 1,936 ff.). Also, es kann „nämlich auch νῆσος überhaupt ein vom Meer umströmtes Land, und ebenso gut eine Halbinsel bezeichnen“ (NITZSCH II 76). 788 Die Peloponnes ist „dem Namen nach, wenigstens nach dem Homerischen Gebrauch des Wortes νῆσος, ebenfalls Insel“ (VÖLCKER 103). Aber, wie LANG (98 f.) treffend bemerkt, liefert der Peloponnes (6,3 km breiter Isthmos; 21.439 qkm Fläche) keine Analogie für Leukas (5 km breiter Isthmos; 293 qkm Fläche): „zwischen Leukas und dem Peloponnes ist doch ein himmelweiter Unterschied“, denn „die Insel Leukas ist klein und übersichtlich; ein Irrtum über ihre Natur kann bei ihren Bewohnern absolut nicht aufkommen“.

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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Kephallenia durchaus in drei nesoi auflösen, obwohl bekannt war, dass die drei individualisierten Inselkörper von einer gemeinsamen Küstenlinie eingebunden sind.789 Und dementsprechend waren die frühgriechischen Gelehrten Andron, Hellanikos, und Pherekydes der Auffassung, dass von den in Ilias und Odyssee genannten Inselnamen des Kephallenenreichs nicht nur ein einziger Name auf Kephallenia zu beziehen ist.790 Die antike Bedeutung des Wortes nesos, die auch eine individualisierte Halbinsel einer Insel bezeichnen kann, überdauerte die Zeiten, und so trug z. B. noch zu Beginn der Neuzeit die nordkephallenische Festungshalbinsel Assos, die durch einen schmalen Isthmus mit Kephallenia verbunden ist, als Eigennamen eine archaisierende Form von nesos, nämlich „Naxos“ bzw. venezianisch „Nasso“,791 die dem heutigen Ortsnamen Assos zugrunde liegt. Obwohl der antike Geograph Strabon sogar annahm, dass der Isthmos, mit dem die große Westhalbinsel Paliki am kephallenischen Inselrumpf ansitzt, zeitweilig vom Meer überspült ist,792 stimmt er lediglich aufgrund einer unzutreffenden ethnologischen Prämisse nicht den älteren Gelehrten zu, denen zufolge dem stark gegliederten Kephallenia nicht nur ein homerischer Inselname zuzuordnen sei.793 So dürften auf das aus drei Inselkörpern bestehende Kephallenia, deren Bewohner in historischen Zeiten politisch mehr und minder eigenständig agierten, sogar drei homerische Inselnamen des Kephallenenreichs entfallen. Und dementsprechend herrschten auf dem homerischen Ithaka (ganz Kephallenia) zur Zeit des Hochkönigs Odysseus noch zwei weitere, untereinander rivalisierende Könige, wie das Epos mitteilt.794 Dagegen besaß z. B. die politisch mächtigere nordwestgriechische Insel Dulichion (Kerkyra), deren Küstenlinie schwach gegliedert ist und die folglich stets nur von einer Stadt aus zentralistisch regiert wurde, lediglich einen einzigen König, wie der Odyssee zu entnehmen ist.795 Und weil einerseits Kephallenia verkehrs- und kulturgeographisch in drei Inseln zerfiel, und andererseits die westgriechische Festlandshalbinsel Leukas nicht zu den home-

789 So spricht Klaus GALLAS (100) von der „aus drei Halbinseln bestehenden Insel Kefallinia“. 790 „Darin jedenfalls stimmen alle drei [Andron, Hellanikos, Pherekydes] überein, daß Dulichion und Same auf Kephallenia“ zu beziehen sind (HERKENRATH 1239). „Vielleicht ist der Bericht der Alten richtig, daß statt des fehlenden Gesamtnamens der großen heutigen Insel Kephallenia von Homer zwei Namen zu ihrer Bezeichnung gewählt wurden“ (GRÖSCHL 14; mit Bezug auf Strab. X 2, p. 456). Dafür votiert auch Helmut van THIEL (Odysseen 191): „Dulichion und Same bezeichnen die beiden Teile der Insel Kephallenia“. 791 PARTSCH, Kephallenia 65, Anm. 2. Und dies hat früher „den Glauben an eine alte Stadt Nesos geweckt“ (a. a. O.). 792 Strab. 10,2,15. STRABON lässt „Kephallenia ursprünglich aus zwei Teilen bestehen, die erst durch Entstehung eines sie verbindenden Isthmus vereinigt wurde“ (RÜTER 37). 793 „Strabo himself well argues that we cannot cut islands in two, still less partition one island between to races, Epeans and Cephallenians” (ALLEN 86). Dieses Argument beruht jedoch einzig auf der falschen Annahme, die kephallenische Westhalbinsel Paliki habe den homerischen Inselnamen Dulichion getragen. Nur in diesem Fall läge der Inselrumpf Kephallenias zwischen Dulichion (dessen Heerführer ein „Epeier“ war; vgl. Ilias 2,625 ff. mit 13,691 f.) und der nordwestpeloponnesischen Landschaft Elis (die Bevölkerung des nördlichen Teils von Elis wurden „Epeier“ genannt; Ilias 2,619; 11,732, 744; 15,519; 13,632). 794 Nämlich die beiden Könige Antinoos und Eurymachos (Od. 18,64 f.). 795 Od. 14,366.

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1. Die Ithaka-Antwort

rischen Inseln zählt,796 wie v. a. Strabon betont,797 weist der von Odysseus beherrschte Inselraum tatsächlich insgesamt fünf nesoi (Inseln, Halbinseln) auf, nämlich erstens den kephallenischen Inselrumpf, zweitens die Westhalbinsel Paliki, drittens die Nordhalbinsel Erissos, viertens die Insel Theaki (das heutige Ithaka) und fünftens die Insel Zakynthos. Die Anzahl der zum Reich des Odysseus gehörenden Inselkörper, die den Homerforschern stets rätselhaft erschien, stimmt also mit der anthropo-geographischen Wirklichkeit des westgriechischen Inselbogens überein!798 Das Volk der Kephallenen wohnte aufgrund der naturräumlichen Bedingungen des durch tiefe Meeeresbuchten stark gegliederten und von hohen Gebirgen geprägten kephallenischen Inselraumes stets auf vier unterschiedlichen Inselkörpern, und dementsprechend war bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts der „Nomós Kephallinías“, d. h. der Regierungsbezirk Kephallenia, „in 4 Eparchien“ (Landkreise mit je einem Verwaltungszentrum) aufgeteilt, „wovon drei auf Kephallenía entfallen“ und eine das heutige Ithaka (Theaki) umfasste.799 Dass Kephallenia auch in der Vorstellung Homers aus mehreren Inselkörpern besteht, ist nicht nur antiken Autoren zu entnehmen,800 sondern dem Epos selbst. Denn als Odysseus seine Inselheimat im 9. Gesang vorstellt, klassifiziert er die von ihm beherrschten nesoi (νῆσοι = Inseln, Halbinseln) in zwei Gruppen, nämlich in diejenigen die mala schedon (μάλα σχεδὸν) und die aneuthe (ἄνευθε) von Ithaka (= Kephallenia) liegen.801 Der Terminus mala schedon besteht aus den Worten mala („sehr“ bzw. „ganz“)802 und schedon („σχεδόν, von σχεῖν, daher eigentlich anschließend“);803 das Adverb aneuthe bedeutet dagegen „getrennt, fernab“.804 Schon Otto August Rühle von Lilienstern forderte bei der Interpretation des Odysseeverses 9,23 mit Nachdruck: „Das μάλα σχεδὸν muss in dem buchstäblichen Sinne genommen sein“.805 Folglich gibt es nesoi, die an Ithaka (Kephallenia) unmittelbar anschließen, d. h. physisch mit der Insel verbunden sind, und solche, die getrennt bzw. abseits von Ithaka liegen. 796 „Homer betrachtet die Insel als einen Theil des festen Landes“ (MANNERT 70). 797 Strab. 10,2,8–10. Vgl. Liv. XXXIII 17,6: „Leucadia nunc insula est“. Leukas ist allenfalls eine „Festlands-Insel“ (χερσόνησος) oder Vorgebirge (ἀκτή). 798 Der kephallenische Inselraum besteht aus Kephallenia und dem heutigen Ithaka, „das in Natur und Geschichte von der Nachbarinsel nicht füglich zu trennen ist“ (PARTSCH, Kephallenia 2), und somit aus vier Inselkörpern. „Insofern ist die Erklärung Herakleons (Steph. Κροκύλειον), der vier Teile Ithakas ansetzt, nicht unverständig“ (SCHWARTZ 341, Anm.2). 799 PHILIPPSON/KIRSTEN II 526. 800 Abgesehen von den bereits genannten Gelehrten Pherekydes (6. Jh.), Hellanikos (5. Jh.), Andron (4. Jh.) und Strabon (1. Jh.), ist auch im 2. Jh. n. Chr. Pausanias (7,15,7) zu nennen. 801 Od. 9,23 u. 26. STRABON (10,2,12) deutet den Odysseevers 9,26: „but the other islands lie aneuthe towards the dawn and the sun“; für „the word aneuthe is ‚at a distance’, or ‚apart’, implying that the other islands lie towards the south and farther away” (übersetzt von Horace L. JONES V 43). 802 BENSELER 570 (der Superlativ μάλιστα war wohl v. a. aufgrund des Versmaßes nicht angebracht). 803 BENSELER 890. 804 BENSELER 69. „ἄνευθε bedeutet bei Homer auch ‚abseits‘, ‚seitwärts‘“ (BELZNER 25, Anm. 1; mit Verweis auf Ilias 10,368 und Od. 11,82). „ἄνευθε ν 26, d. h. sie [die Inseln] liegen entfernt von Ithaka“ (GOESSLER 36). Zuweilen wird eine größere Entfernung angenommen, weil das Adverb in Od. 4,356 eine Insel kennzeichnet, die vom Festland bei günstigem Wind mit dem Schiff über Tag zu erreichen ist (4,354 ff.); aber dabei handelt es sich bloß um die der ägyptischen Küste vorgelagerte Insel Pharos. 805 RÜHLE 7.

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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Da die Inseln der Kephallenen, die sich weiter entfernt und laut Odyssee im Osten und Süden von Ithaka befinden,806 können die mala schedon liegenden Inselkörper ausschließlich im Norden und Westen von Ithaka angrenzen. Und diese homerische Darstellung entspricht der geographischen Realität Kephallenias, an dessen Inselrumpf im Norden und Westen die individualisierten Halbinseln Erissos und Paliki ansitzen, während Theaki (das heutige Ithaka) und Zakynthos samt einigen Eilanden durch das Meer getrennt östlich und südlich von Kephallenia liegen.807 – Die für die geographische Lösung der Ithaka-Frage wichtige Erkenntnis, dass am homerischen Ithaka zwei weitere Inselkörper unmittelbar ansitzen, hatten auch manche Analytiker (obwohl sie das homerische Ithaka für fiktiv halten und aufgrund der Fehlinterpretation des amphi in Vers 9,22 Ithaka im Mittelpunkt des Inselreichs fixieren): „Die Vorstellung ist also folgende: Ithaka bildet Mittelpunkt und Haupt einer Inselgruppe, deren Teile dem Mittelpunkt ganz nahe liegen“.808 Wenn der südostwärts orientierte kephallenische Inselrumpf, der zum dynastischen Herrschaftsbereich des Odysseus gehörte, den Namen Ithaka trug, dann beziehen sich also zwei der vier zu identifizierenden homerischen Inselnamen des Kephallenenreichs (nämlich Samos, Zakynthos, Krokyleia und Aigilips)809 auf die Nord- und die Westhalbinsel Kephallenias, und zwei auf die im Osten und Süden durchs Meer vollständig getrennten Inseln, wie noch eingehend dargelegt wird. Die kephallenische Westhalbinsel, der einer der homerischen Inselnamen zugewiesen werden muss, ist das westlichste Glied des westgriechischen Inselbogens, und es liegt somit deutlich westlicher als der kephallenische Inselrumpf, dem der Inselname Ithaka zuzuordnen ist. Aber wie lässt sich dieser Sachverhalt mit den Odysseeversen 9,25–26 vereinbaren, denen zufolge Ithaka „tief im Meer und am weitesten westlich liegt“? Und so drängt sich zunächst die Vermutung auf, dass entweder die vorgelegte Ithaka-Kephallenia-Deutung damit falsifiziert ist oder die Angaben der Ilias nicht mit denen der Odyssee in Einklang zu bringen sind. Sind also oder die Verse zu Beginn des neunten Gesangs, in denen Odysseus sein Inselreich vorstellt, doch nicht widerspruchsfrei zu deuten? Indes, es gibt noch eine problemlösende dritte Möglichkeit: Der Dichter könnte unter dem homerischen Eigennamen „Ithaka“, je nach Kontext, sowohl das zentrifugale Gesamtgebilde verstehen, das seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. „Kephallenia“ genannt wird,810 als auch dessen Hauptteil, also den kephallenischen Inselrumpf, der – wie Spy-

806 Od. 9,26. 807 So greift die Kritik von Hugo MICHAEL (9) bzgl. der Verse Od. 9,24–26 nicht, „dass der Dichter [im zu athetierenden Formelvers!] drei nahe liegende Inseln anführt und sie dann durch die Worte αἱ δὲ τ‘ ἄνευθε wieder in die Ferne rückt“. 808 MÜLDER, Ithaka 23. 809 Ilias 2,631 ff. Od. 16,249 ff. – Dulichion ist, wie bereits dargelegt, aufgrund des in Od. 9,24 interpolierten Formelverses zu athetieren, zumal Dulichion ein eigenes Inselreich bildete (Ilias 2,625 ff.). 810 Κεφαληνία nennt eine Inschrift des 6. Jhs. v. Chr. (IG IX 1 S.137; IG II nr. 184); „die sich oft findende Schreibung mit einem λ ist nach Eust. unrichtig“ (PAPE III 191). In der Literatur taucht der Inselname Kephallenia, der wohl dem homerischen Volksnamen der Κεφαλλῆνες (Ilias 2,631; Od. 4,330; 20,210; 24,355, 378, 429) entlehnt ist, erstmals bei HERODOT (9,28) auf.

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1. Die Ithaka-Antwort

ridon Marinatos sagte – „die eigentliche Insel“ ist,811 weil die großen Halbinseln Paliki und Erissos wie separate Anhängsel erscheinen. Für einen derartigen differenzierten Gebrauch des Toponyms Ithaka kann man z. B. auf Analogien in der Ilias812 und sogar auf die ‚Höhere Kritik‘ verweisen, die eine derartige Anordnung der nesoi theoretisch angenommen, aber aufgrund des Fiktions-Dogmas nicht geographisch umgesetzt hat: „Ithaka ist also dem Odysseedichter eine meerumspülte Insel, aber auch eine Inselgruppe, deren Teile Einzelnamen führen“.813 Diesem Zitat zufolge deutet Dietrich Mülder die „meerumspülte Insel“ Ithaka als „Inselgruppe“, „deren Teile Einzelnamen führen“.814 Wenn aber diese Deutung zutrifft und zudem geographisch interprertiert wird, d. h. dass ganz Kephallenia (samt Theaki) als Inselgruppe und der kephallenische Inselrumpf als Hauptinsel zu interpretieren ist (wobei sowohl die ‚Hauptinsel‘ als auch die ‚Inselgruppe‘ den Namen Ithaka tragen), dann stellt sich die Frage, woher man weiß, ob das homerische Ithaka, das in Ilias und Odyssee immerhin 84 mal genannt wird, an einer bestimmten Stelle entweder ganz Kephallenia oder bloß den Inselrumpf, „die eigentliche Insel“ bezeichnet? Dafür gibt es folgende Faustregel: Wird Ithaka zusammen mit anderen Inselkörpern genannt, dann bezeichnet es konsequenterweise nur einen Teil der kephallenischen Inselflur, nämlich den Inselrumpf. Dabei handelt es sich keineswegs um theoretische Spekulationen, denn auch im heutigen Sprachgebrauch wird bei Toponymen oft so verfahren. Man denke z. B. an das Wort ‚England’, das umgangssprachlich meist für die Insel Großbritannien gebraucht wird; wird ‚England‘ aber zusammen mit anderen britischen Inselteilen (Schottland, Wales) genannt, dann bezeichnet es ausschließlich das südliche Königreich der Insel.815 Eine treffendere Analogie bietet das To811 MARINATOS 84. 812 Das vieldeutigste Toponym ist „Argos“, das sowohl die Stadt des Diomedes am Inachos sowie die sie umgebende Landschaft bezeichnet (Ilias 2,559; 4,52; 6,224; 14,119), als auch das sich über den Nordosten des Peloponnes erstreckenden Königreichs des Agamemnon (1,30; 2,108, 115; 4,171; 9,22; 13,379; 15,30) und überdies den gesamten Peloponnes (6,152); zudem bezeichnet es das nordgriechische Gebiet des Achill (2,681; 6,456; 24,437) und das gesamte Griechenland (2,287; 9,246; 12,70; 13, 227; 14,70). 813 MÜLDER, Ithaka 8. Edzard VISSER (591, Anm. 3) kritisiert jedoch Dietrich MÜLDER, dass dieser „die Bezeichnung eines geographischen Punktes [besser: Bereichs] innerhalb eines Teilelements dieses Gebiets (d. h. Ithaka [Region] – Ithaka [Insel]“ vorschlägt. 814 So lässt sich am Odysseetext nachweisen, dass Ithaka sowohl die Gesamtinsel als auch einen Teil derselben bezeichnet: Nachdem der aus Pylos heimgekehrte Telemach auf Weisung der Göttin Athene gleich an der „ersten Spitze Ithakas“ gelandet war (15,36, 495 ff.), fuhr das Schiff weiter in Richtung Stadt und traf schließlich dort ein, was der Dichter wie folgt kommentiert: „Das trefflich gebaute Schiff, das Telemach brachte, landete eben aus Pylos in Ithaka“ (16,322 f.). In diesem Zitat, und das sei betont, bezeichnet Ithaka eindeutig nur einen Teil der Gesamtinsel Ithaka, sei es nun einen Inselkörper derselben oder den Stadtkreis. „Dass hier der Name der Stadt gebraucht ist, lehrt der Umstand, dass das Schiff ja schon längst an der Insel [Ithaka] angekommen war“ (RÜHLE 72). Vgl.a. die Formulierungen Od. 1,401–404. 815 Es gibt viele weitere Beispiele, so das Toponym ‚Holland’, das meist als Synonym für die Niederlande dient, jedoch zusammen mit anderen Provinznamen nur die Kernprovinz Holland bezeichnet. – Die angeführten Beispiele sollen darlegen, dass ein Insel- oder Territorialname sowohl der Gesamtname der Insel oder des Territoriums ist als auch einen Teil desselben bezeichnen kann. Eine ähnliche Argumentation bietet Emil HERKENRATH (1238), indem er anhand des Formelverses „Dulichion und Same und das waldige Zakynthos“ darlegt, dass es sich dabei gar nicht um drei Inseln handeln muss. Denn aus dem Vers (Od. 16,123 u. ö.) geht „keineswegs hervor, daß jeder der drei Namen auch eine besondere Insel bezeichne. Νῆσοι sind diese Inseln wie ο 37 [Od. 15,37] also schon genügend bestimmt, so daß die folgenden Namen auch dann nicht mißzuverstehen wären, wenn ihre Zahl mit der der Inseln nicht über-

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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ponym ‚Haiti’, das einerseits die ganze Antilleninsel Haiti (auch ‚Hispaniola‘ genannt) bezeichnet, und andererseits nur den Westteil der Insel mit dem gleichnamigen Staat (auf dem östlichen Inselteil erstreckt sich die Dominikanische Republik). Doch zurück zum homerischen Ithaka: Wenn das Wort zusammen mit anderen kephallenischen Inselkörpern erscheint, z. B. mit dem mehrmals genannten Samos,816 das den meisten Interpreten zufolge auf Kephallenia zu beziehen ist,817 dann bezeichnet es konsequenterweise nur einen Teil der kephallenischen Inselflur, nämlich den Inselrumpf. Auch der mehrere Male auftauchende homerische Terminus kranaen Ithaken (κραναὴν Ἰθάκην)818 bezieht sich auf den kephallenischen Inselrumpf, und so lebte diese Bezeichnung im Namen der frühgriechischen Stadt Krana/e (Κράνα, Κράνη) fort,819 deren Demos sich über den bedeutendsten Teil des kephallenischen Inselrumpfes erstreckte.820 Und weil in den homerischen Epen das seltsame Wort kranae (κρανάη) ein ausschließlich für Ithaka bestimmtes Epitheton ist, diente wohl die Formel kranaen Ithaken gewissermaßen als Eigenname des Inselrumpfes.821 Wie bereits dargelegt, wird der kephallenische Inselrumpf vom Aenos-Massiv beherrscht, den die homerischen Epen als Neriton ausweisen und dessen Zentralteil Neion hieß. Folglich bezeichnen alle Verse, in denen Ithaka zusammen mit dem Neriton erscheint,822 ebenfalls den südöstlichen Inselrumpf Kephallenias, und desgleichen gilt für den Ausdruck ex Ithakes Hyponeiou (ἐξ Ἰθάκης Ὑπονεΐου),823 der sich auf diejenigen kephallenischen Landschaften bezieht, die zu Füßen des Aenosgipfels Neion liegen. Die genannten homerischen Formulierungen (Kranae, Neriton und Hypo-Neion) charakterisieren also den Hauptteil Kephallenias, nämlich den hochgebirgigen Inselrumpf, auf dem sich stets die kephallenische Hauptstadt befand.824 Der häufige Ausdruck „weithin sichtbares Ithaka“825 bezieht sich auf ganz Kephallenia,826 auch in der Anfrage, die der aufgrund des morgendlichen Nebels orientierungs-

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einstimmte. Es könnte also sein, als wenn wir sagten: ‚Der gesamte Adel der britischen Inseln, England und Schottlands sowie Irlands‘, wo auch den drei Namen [nur] zwei Inseln entsprechen“, nämlich Großbritannien und Irland (das zur Zeit HERKENRATHs noch vollständig zum britischen Staat gehörte). Ilias 2,632–634. Od. 4,671, 845; 15,29; 16,249–251. „Same, bei Homer Samos, … Name der Insel Kephallenia“ (MEYER, Same 1532,13 ff.). Ilias 3,201. Od. 1,247; 15,510; 16,124; 21,346. Der Name lautet „wohl ursprünglich Krana (Κράνα)“ (BÜRCHNER, Kephallenia 207,32). „Das Gebiet von Kranioi“ umfasste „nicht bloß das fruchtbare Gebiet von Livatho, sondern auch den weiteren Küstensaum bis Kataleo [Katelios] und die Hochtäler von Valsamata und Dilinata“ (BIEDERMANN 49 f.). Dagegen ist laut Dietrich MÜLDER (Ithaka 23) „Ithaka ein Name für das Ganze geworden“, d. h. für alle Inselglieder. Tatsächlich war Ithaka aber zunächst der Name für das vielgliedrige Gesamtgebilde, während der Hauptteil spezifizierend als kranae Ithake bezeichnet wurde. Ilias 2,632. Od. 3,81; 13,344–351. – In Od. 9,21 f. werden das „weithin sichtbare Ithaka“ und der „waldrüttelnde Neriton“ nicht additiv genannt, sondern jedes für sich in verschiedenen Satzteilen gerühmt. Od. 3,81. Man denke an „Strabon, der Od. 3,81 Ἰθάκης ὑπο Νηΐου getrennt las“ (PAPE III 273). Hugo MICHAEL (18, Anm. 3) meint jedoch: „Das je einmal gebrauchte ἐυκτιμένη und ὑπο-νήειος bezieht sich auf die Stadt Ithaka“. Indes, wie dargelegt, ist die Stadt auf dem südlichen Inselrumpf anzusetzen, über den sich der Stadtkreis (Demos) erstreckte. Od. 2,167; 9,21; 13,212, 325; 14,344; 19,132. Eine Ausnahme bildet die Odysseestelle 19,130 ff.: „Alle die Besten, die Herrschaft führen hier auf den Inseln Same, Dulichion und das waldige Zakynthos, jene sogar, die im weithin sichtbaren Ithaka hausen“.

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1. Die Ithaka-Antwort

lose heimgekehrte Odysseus an Athene richtet: „Welches Land und welches Volk? … Ist es eine weithin sichtbare Insel, oder lehnt eine Küste hier sich ans Meer, eine Festlandsküste voll mächtiger Schollen?“827 Zwar erstreckt sich das mit 1.628 m Höhe weitaus höchste Gebirge (Aenos) im Südosten der Insel, aber die anderen Inselteile sind keineswegs niedrig: So überragt selbst der nördliche Teil des kephallenischen Inselrumpfes mit bis zu 1.130 m hohen Bergen die übrige westgriechische Inselflur (Leukas ist immerhin bis 1.125 m hoch, Kerkyra/Corfu 914 m, Zakynthos 756 m), und sogar die bis 901 m hohe nordkephallenische Halbinsel Erissos stellt das sogenannte ‚Neriton-Gebirge‘ (809 m) auf der parallel verlaufenden Nachbarinsel Theaki (das heutige Ithaka) in den Schatten. Folglich spricht auch das Landschaftsrelief Kephallenias dafür, dass der Terminus „weithin sichtbares Ithaka“ die gesamte Insel bezeichnet. Homer bietet weitere Beispiele, in denen das Toponym Ithaka die gesamte Insel umfasst: Das gilt v. a., wenn Ithaka mit seinem zweithäufigsten Beiwort auftaucht, das amphialos lautet und meist im Sinne von „meerumströmt“ übersetzt wird. 828 Indes, es „heisst ohne Zweifel ‚an beiden Seiten vom Meere‘ umgeben“, und nicht allseits vom Meere umflossen, was richtiger „durch περί αλος bezeichnet würde“. Denn „an dem ἀμφί haftet immer die Vorstellung ‚zu beiden Seiten‘“,829 wie auch die Stellen bei Sophokles und Pindar bestätigen, in denen ebenfalls das Wort amphialos vorkommt.830 Der Odysseedichter bezeichnet mit dem Beiwort also eine Insel, „an welcher die ‚zu beiden Seiten‘ befindliche Meeresfläche besonders hervortritt“.831 So trifft der Terminus vorzüglich auf die große Insel Kephallenia zu, die den binnenmeerähnlichen Doppelgolf von Patras und Korinth (im Osten) von der Weite des offenen Ionischen Meeres (im Westen) scheidet.832 „Groß ist daher der Unterschied zwischen den geschützten und verkehrs-

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Aber die zitierten Verse des 19. Gesangs „130–133 – diese sicher – wurden [schon in der Antike] athetiert, und wir haben den Vermerk, daß sie in den meisten Exemplaren gar nicht standen (ἐν δὲ τοῖς πλείστοις οὐδὲ ἐφέροντο). Sie sind beinahe gleich mit π 122 ff., α 245 ff.; nur heißt es dort, wo Telemach spricht, im letzten Verse τόσσοι μητέῤ ἐμὴν μνῶνται, mit besserem Anschluß an ὃσσοι“; zudem sind die Verse „schlechter, da nicht die Bewohner Ithakas, sondern seine Fürsten freien … Schon hiernach und nach dem äußeren Zeugnis ist die Unechtheit klar“ (BLASS 188). Od, 13,233 ff. Od. 1,386, 395, 401; 2,293; 21,252. – Indes, auch die Übersetzung von ἀμφίαλος als „zwischen zwei Meeren gelegen“ setzt wohl „meerumgeben“ voraus (BENSELER 47). MICHAEL 18 f. Ebenso Josef GRÖSCHL (29): So ist „mit ἀμφί immer der Begriff ‚zu beiden Seiten‘ verbunden“, und wäre meerumströmt gemeint, „hätte man sonst besser περίαλος sagen müssen“. Auch deshalb deutet Peter GOESSLER (40 u. 55) als Befürworter der Leukas-Ithaka-Theorie „ἀμφίαλος = von zwei Meeren umflossen“, „auf zwei Seiten vom Meere umgeben“. „Sophokles spricht (Philoktet 1464) von Λήμνου πεδίον ἀμφίαλον, womit nicht etwa die ganze Insel, sondern nur die auf einer der vorspringenden Halbinseln von Lemnos gelegene Ebene meint. Noch deutlicher zeigt sich die Bedeutung des Wortes, wenn Pindar (Ol. XIII, 40) von den auf dem Isthmus von Korinth gefeierten Spielen sagt: ἐν δ᾽ ἀμφιάλοισι Ποτειδᾶνος τεθμοῖσιν“ (MICHAEL 19). MICHAEL 19. Vgl. Joseph PARTSCH (Kephallenia 4): „Vor seinem engen Zugang [„des Korinthischen Golfes“] öffnet sich freier der Busen von Patras gegen den weiten Vorhof des Taphischen Meeres, das ein lose geknüpfter Inselgürtel [mit der Hauptinsel Kephallenia] von der offenen See [d. h. „der Weite des Ionischen Meeres“] abgrenzt“. Das Argument nutzt auch Wilhelm DÖRPFELD (Alt-Ithaka 104) für seine Leukas-Ithaka-Theorie.

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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reichen Binnenmeeren im Osten und dem ‚Wildmeer‘ (Agriopelagos) im Westen“ der Insel.833 Wie dargelegt, weisen die Epitheta darauf hin, ob Ithaka an einer bestimmten Stelle der homerischen Epen als Insel oder Inselteil zu verstehen ist, und der differenzierte Gebrauch des Toponyms Ithaka ist – wenn der jeweilige Kontext korrekt übersetzt wird – stets widerspruchsfrei auf die geographische Wirklichkeit des kephallenischen Inselraumes anzuwenden, wie u. a. das folgende Beispiel lehrt: Das „weithin sichtbare Ithaka“, so sagt Odysseus, liegt „am weitesten westlich, die anderen liegen nach Osten und Süden“.834 Der vorgelegten Analyse zufolge kennzeichnet das Adjektiv hier Ithaka als ganz Kephallenia, und dementsprechend liegen die anderen Inseln der Kephallenen östlich und südlich des homerischen Ithaka, nämlich Theaki und Zakynthos nebst einigen Eilanden. Nördlich von Ithaka (Kephallenia) liegt tatsächlich keine Insel der Kephallenen, sondern nur die von Akarnanen besiedelte Festlandshalbinsel Leukas.835 Stünde in dem homerischen Zitat stattdessen der häufige Terminus kranae Ithake, der ausschließlich den südkephallenischen Inselrumpf bezeichnet, dann träfe die Aussage, dass die nesoi der Kephallenen ausschließlich östlich und südlich von (kranae) Ithaka liegen, in der geographischen Wirklichkeit nicht zu, da sich nördlich und westlich des Inselrumpfs die kephallenischen Halbinseln Erissos und Paliki erstrecken. Die auf dem Inselrumpf zu lokalisierende Hafenstadt des Odysseus, die sich – wie das antike Krana/e – an der Bucht von Argostoli befand, nimmt innerhalb des kephallenischen Inselraumes eine ausgesprochen zentrale Lage ein: Nördlich und nordöstlich erstrecken sich die Halbinsel Erissos und die Insel Theaki, östlich und südöstlich der Hauptteil des kephallenischen Inselrumpfs mit dem Aenos-Massiv, südlich die Insel Zakynthos und westlich die Halbinsel Paliki. Aufgrund dessen sagt im zweiten Gesang Telemach, der auf dem Marktplatz seiner Heimatstadt das frevelhafte Verhalten der Freier anklagt, geographisch korrekt: „Schämt euch endlich doch selbst vor den rundherum wohnenden Nachbarn …“.836 In den aufeinanderfogenden Versen werden mit unterschiedlichen Worten (περι-κτίονες und περι-ναιέται) zweimal von den auswärtigen Nachbarn gesprochen, die auf den Inseln „rundherum“ von Ithaka-Stadt wohnen. Und der Odysseevers 19,132, demzufolge um das „weithin sichtbare Ithaka herum“ die ithakesischen Freier wohnen, ist für eine geographische Deutung unergiebig und ohnehin zu athetieren.837 833 PHILIPPSON/KIRSTEN II 420. 834 Od. 9,21 u. 26. Bei der Interpretation ist zu beachten, dass der Formelvers 9,24 (mit den Inselnamen Dulichion, Same und Zakynthos) interpoliert ist (ROBERT 632 f.), und somit erstens Ithaka (Od. 9,21) durchaus die ganze Insel bezeichnen kann und zweitens Dulichion nicht östlich oder südlich davon liegen muss. 835 Es spricht für sich, wenn DÖRPFELD (Alt-Ithaka 90) angesichts seiner Leukas-Ithaka-Theorie feststellt: Es sei ein „unerklärliches Rätsel, dass kein Gelehrter, weder im Altertum noch in der Neuzeit, beim Suchen nach der verlorenen vierten homerischen Insel auch nur die Möglichkeit, dass Leukas diese Insel sein könnte, in Erwägung gezogen hat“. 836 Od. 2,65 f. 837 Siehe oben Anm. 826; zudem taucht in der Verszeile zuvor (Od. 19,131) der Formelvers „Dulichion und Same und das wadige Zakynthos“ auf, der für den 16. Gesang (Vers 122) gedichtet wurde und an den anderen Stellen interpoliert ist (s. o. S. 46). Im Vers Od. 19,132 steht ἀμφι-νέμονται, das zwar als „ringsherum bewohnen“ gedeutet wird (BENSELER 49), aber wegen des amphi allenfalls „beidseits bewohnen“ meint. Die Überset-

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1. Die Ithaka-Antwort

Im 24. Gesang wird der Mord an den Freiern im Palast des Odysseus „allseits in den Städten der Kephallenen“ gemeldet,838 zu denen vom ithakesischen Stadthafen aus die toten Freier „auf eilenden Schiffen“ gebracht wurden.839 Dies ist übrigens die „einzige Stelle, die eines Seeverkehrs zwischen den einzelnen Inseln“ des Reiches der Kephallenen gedenkt; und Dietrich Mülder fährt bzgl. der Verse 24,416–419 fort: „Genau genommen steht nicht einmal νήσων da, sondern πολίων, so dass auch durch diese Verse die Vorstellung einer getrennten Inselgruppe nicht unbedingt hervorgerufen wird; so könnte man auch von einer großen Insel sprechen, die mehrere πόλεις hat, aber nur eine Hauptstadt, mit der man [übereinstimmend mit den geographischen Verhältnissen] durch Schiffsverkehr in Verbindung steht“.840 Dieser Analyse entsprechend wurden die toten Freier von der zentral platzierten Hauptstadt (Krane) der großen Heimatinsel des Odysseus (Kephallenia) mit Schiffen insbesondere zu den anderen Städten der stark gegliederten Insel sowie nach Zakynthos gebracht. Die beiden genannten Stellen im 2. und 24. Gesang der Odyssee, die von den „rundherum wohnenden Nachbarn“ und dem „allseits“ gemeldeten Freiermord erzählen, verleiteten viele Homerforscher zu der falschen Annahme, der Dichter stelle sich die (Voll-) Insel Ithaka von einem Inselkranz umgeben vor.841 Und dieser fatale Trugschluss ermutigte die Interpreten in den Versen zu Beginn des 9. Gesangs, in denen Odysseus die geographische Lagebeziehung Ithakas zu den anderen Inseln der Kephallenen darstellt, das Wort amphi nicht mit „beidseits“, sondern irrig mit „rundherum“ zu übersetzten. Folglich lägen die Inseln der Kephallenen „rundherum“ bzw. „im Umkreis“ von Ithaka; dies wäre der Fall, wenn im Vers 9,21 – statt des Gesamtinselnamens Ithake – der für das Stammkönigreich des Odysseus geprägte Ausdruck kranae Ithake stünde. Zwar wurden durch die irrigen Übersetzungen die genannten topographischen Angaben des 2., 9. und 24. Gesangs – ohne zwingende Notwendigkeit – scheinbar harmonisiert, jedoch führte das zum schwerwiegenden Widerspruch innerhalb des 9. Gesangs: Denn das als „rundherum“ gedeutete amphi ist unvereinbar mit der nur vier Verse später folgenden Aussage des Odysseus, die anderen Inseln und Eilande der Kephallenen lägen ausschließlich „im Osten und Süden“ von Ithaka.842 Dagegen passt die Grundbedeutung von amphi, nämlich „beidseits“, ausgezeichnet zur östlichen und südlichen Lage der anderen (Voll-)Inseln, die sich laut Odyssee 9,26 „entfernt“ (ἄνευθε) von Ithaka (= Kephallenia) befinden. Während also die Inseln der Kephallenen lediglich beidseits von Ithaka (Kephallenia) lagen, befanden sich die Städte und Dörfer der Kephallenen tat-

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zung der Verse Od. 9,130 ff. (ohne den interpolierten Vers 131) würde also etwa lauten: „Alle die Besten, die Herrschaft führen hier auf den Inseln [der Kephallenen], jene sogar die beidseits vom weithin sichtbaren Ithaka hausen (womit dann ggf. Dulichion im Nordwesten und Zakynthos im Südosten gemeint wären). Od. 24,355; „πάντῃ, in allen Richtungen, überall umher“ (BENSELER 704; s. πᾶς, πᾶν). Od. 24,418 ff. MÜLDER, Ithaka 11. U. a. LANG (27): „Ithaka ist hier [Od. 9,22] also im Gegensatz zu i [Od. 9,] 25 f. in der Mitte des Reiches des Odysseus liegend gedacht“. Od. 9,26. So kritisiert z. B. Carl ROBERT (633) nicht etwa die Interpreten, sondern den Text: Es sei unverständlich, dass „Ithaka nach Vers 22 f. von vielen dicht gedrängten Inseln umgeben sein soll, während es nach Vers 25 f.“ am weitesten nach „Westen hin im offenen Meer liegt“.

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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sächlich rundherum der Hafenstadt des Odysseus, nämlich im Norden, Osten, Süden und Westen von ihr.843 1.3.2 Der Inselrumpf Kranae Das bereits erwähnte homerische Epitheton kranae (κρανάη) verdient besondere Aufmerksamkeit, weil es in der Odyssee ausschließlich in formelhafter Verknüpfung mit Ithaka erscheint. Der Ausdruck kranae Ithake bzw. Ithake kranae taucht in Ilias und Odyssee fünfmal auf.844 Meist wird das Wort kranae als „rauh“ und „steinig“ gedeutet und kranae Ithake folglich als „steiniges Ithaka“ übersetzt.845 Aber aufgrund der homerischen Nachrichten über die fruchtbare und waldreiche Landesnatur Ithakas erscheint die Übersetzung fragwürdig. Bedenkt man zudem, dass die Etymologie von kranaos (κραναός) nicht hinreichend geklärt ist846 und das aus der Wurzel kar (κάρ) gebildete kara (κάρᾱ) bzw. kare (κάρη) „Berghaupt und Berggipfel“ bedeutet,847 dürfte der homerische Ausdruck kranae Ithake wohl „hochgipfeliges Ithaka“ bedeuten; eine Bezeichnung, die innerhalb des Archipels vorzüglich auf Kephallenia zutrifft, dessen „südöstlich orientierter Zentralteil … die höchsten Berge der [Westgriechischen oder] Ionischen Inseln enthält“.848 So ist anzunehmen, dass der Terminus kranae Ithake bereits zu homerischer Zeit als fester Begriff für den südkephallenischen Inselrumpf verwendet wurde,849 wie wenige Jahrhunderte später der Polis- und Demos-Name Krana/e,850 der das Altertum und Mittelalter überdauerte und als Bezeichnung eines Gemeindekreises im Raum der Inselhauptstadt bis in die Gegenwart fortlebt.851 843 Von der Hafenstadt ‚Ithaka‘ (Krane) aus lagen die Poleis ‚Panormos‘ (auf Erissos) und ‚Polis‘ (auf Theaki) im Norden, ‚Pronnoi‘ (am Ostfuß des Aenos) im Osten, ‚Psophis‘ (auf Zakynthos) im Süden und ‚Pale‘ (auf der Paliki-Halbinsel) im Westen. 844 Ilias 3,201. Od. 1,247; 15,510; 16,124; 21,346. „Ein nur auf Ithaka angewendetes Epitheton ist κρανάη“ (BÜRCHNER, Ithake 2294,15 f.). 845 Krane/Krana „bedeutet wohl ‚steinig‘ (Diogen.-Hesych.: Κράνα)“ (BÜRCHNER, Kephallenia 207,45 f.); vgl. τρηχύς für Ithaka: Od. 10,417, 463. 846 „Die herkömmliche Verbindung mit Wörtern für ‚hart‘ (s. κρατὸς) besagt nichts, solange die Bildungsweise nicht aufgeklärt ist“ (FRISK, s. κραναός). 847 BENSELER 465 f. So wurden z. B. die Burgen πολίων κάρηνα genannt (GEMOLL 408, 450). 848 WILLING 25. – Dazu passt gut Od. 3,81 u. 9,22. 849 Schon Dietrich MÜLDER (Ithaka 15) gelangte beim Ithaka-Problem zu dem Schluss: „Es würde sich aber alles glatt fügen, wenn man, wie naheliegend ist, Ἰθάκη [nicht nur als Inselnamen, sondern bloß] als einen δῆμος des Kephallenenreichs ansähe“. Bezeichnenderweise steht schon in der Ilias (3,200 f.), dass Odysseus ἐν δήμω Ἰθάκης κραναῆς geboren und aufgewachsen ist. Und „diese Herkunftsangabe wird durch den Zusatz κραναῆς περ ἐούσης in einen verständlichen Gegensatz zu seiner Stellung als Führer der Kephallenen gebracht“, und zwar in dem Sinne: „ein kluger, kriegstüchtiger Führer eines Volkes [der Kephallenen], stammend aus einem … Gau seines [Insel-] Landes“ (MÜLDER, Ithaka 15). 850 „Le territoire de Krané devait comprendre tout le versant occidental de la grande chaîne, depuis l’isthme de Hagià Kyriakè jusqu’à Kateleo“ (RIEMANN 18). Vgl. BIEDERMANN (49 f.) und BÜRCHNER (Kephallenia 207,54 ff.). 851 Der Flurname Krane erscheint als „Krania“ auch im Praktikon Richard Orsinis aus dem Jahr 1264, das „eine Brücke zwischen der antiken und der heutigen Topographie der Insel schlägt“ (PARTSCH, Kephallenia 45), und so ist der Name „geradezu übernommen aus der antiken Topographie“ (44 f.).

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1. Die Ithaka-Antwort

Das Territorium, auf das sich der Ausdruck kranae Ithake bezieht, ist das größte und bevölkerungsreichste Glied der aus „drei in die Länge gestreckten Halbinseln“ bestehenden Insel Kephallenia.852 Und dieses Territorium, das vom alles überragenden Aenos-Massiv beherrscht wird, bildete das Stammland der Arkeisiaden-Dynastie,853 der Odysseus angehörte. Deshalb spielt die in der Odyssee geschilderte Handlung auf Ithaka ausschließlich in diesem Raum, nämlich zwischen der Südostspitze Kephallenias einerseits, in deren Nähe der Hof des Eumaios zu lokalisieren ist, und den nordwestlichen Ausläufern des Aenos und der Bucht von Argostoli andererseits, in deren Bereich sowohl das Landgut des Laertes als auch die Hafenstadt und der Palast mit dem Krongut des Odysseus lagen. Damit gab der Dichter, wie bereits dargelegt, der Handlung einen prächtigen naturräumlichen Rahmen, denn „the richest and most picturesque parts of Cephalonia are at the southern extremity of the island and surrounding mount Enos“.854 Die Dynastie der Arkeisiaden, die sukzessive die kephallenischen Könige Arkeisios, Laertes, Odysseus und Telemach hervorbrachte,855 verfügte innerhalb des kephallenischen Inselraumes über das strategisch wichtigste Gebiet, da es die hervorragende Hafenbucht von Argostoli einschloss, von der aus der Überseeverkehr zwischen Griechenland und Süditalien bzw. von und nach Sizilien gelenkt und kontrolliert werden konnte. Schon Johann Heinrich Voss wies auf „den [See-] Weg der Kephallener“ hin, dem kleinasiatische Ionier nach Sizilien folgten und die Hafenstadt Messalla (Messina) gründeten.856 Aufgrund der kephallenischen Überseeroute kannten das homerische Ithaka „viele, ja alle“, ob sie „im Osten, Süden oder Westen lebten“, wie die Göttin Athene erzählt,857 und so hatten bereits die prominenten Atriden (die Söhne des Atreus: Agamemnon und Menelaos) in der reichen Hafenstadt Ithaka einen Gastfreund,858 der womöglich im dorischen Kolonialhandel mit Sizilien involviert war.859 Überdies bot das Stammland der Arkeisiaden beachtliche landwirtschaftliche Ressourcen und mit dem tannenbewaldeten Hochgebirge ein einzigartiges Rohstoffreservoir für Schiffs- und Bauholz. Die Herrscher dieses ca. 400 qkm großen Gebietes, das gut die Hälfte der Inselfläche Kephallenias umfasst, konnten folglich stets die politische

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Hinsichtlich der zu Beginn der Neuzeit entstandenen neuen Inselhauptstadt Argostoli spricht Victor BÉRARD (II 434) von der „nouvelle Krania ou Argostoli“. Noch nahezu das gesamte 20. Jh. hindurch hieß die Eparchie „Kranea (Argostólion)“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 626), aber gegen Ende des Jhs. wurde der Südwesten des Inselrumpfes (Livatho) und der Süden (Poros) davon abgetrennt, bis die Verwaltungsreform im Jahr 2013 ganz Kephallenia zu einer Gemeinde (Argostoli) vereinigte und die einst eigenständige „Nomarchie Kephallenia und Ithaka“ dem Regierungsbezirk Korfu zugeschlagen wurde. BÜRCHNER, Kephallenia 204,46 f. Od. 14,182. Arkeisios, der Großvater des Odysseus, begründete die Dynastie (16,118 ff.). GOODISSON 139. Od. 16,118 ff.; auch a. a. O. wird Telemach König, wie ihm prophezeit wurde (15,531 ff.). – „Des Odysseus Geschlecht reicht nicht über Arkeisios hinaus, und es ist klar, dass kein König aus diesem Hause in Ithaka vor Arkeisios gewesen sein kann“ (GLADSTONE 90). VOSS, Myth. Briefe III 177; er bezeichnet Sizilien als „Thrinakia“. Od. 13,239 ff. Od. 24,102 ff. Erwähnt sei, dass die alten Namen Siziliens, „Sikanie“ und „Sikelos“, erstmals in der Odyssee auftauchen (20,383; 24,211, 307, 366, 389).

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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Hegemonie über das Volk der Kephallenen beanspruchen, und so bildete es – kulturgeographisch evident – das Stammkönigreich des kephallenischen Hochkönigs Odysseus. Dass der Terminus kranae Ithake860 ausschließlich das Stammland der Arkeisiaden bezeichnet und nicht auf die ganze Insel zu beziehen ist, lehren drei der fünf Stellen, an denen er auftaucht. So spricht Helena in der Ilias zum trojanischen König Priamos: „Das ist Laertes’ Sohn, der listenreiche Odysseus, der ἐν δήμῳ Ἰθάκης κραναῆς aufgewachsen ist“.861 Es bedarf wohl keines Kommentars, dass Odysseus fraglos in dem Territorium der Insel aufwuchs, das seinem Vater Laertes als Hausmacht gehörte. Als Telemach seinen Schützling Theoklymenos von Pylos zur Hafenstadt Ithaka bringen lässt, fragt dieser, wo er nach der Ankunft untergebracht wird: „Wer ist mein Hausherr? Wer von den Männern, die herrschen in κραναὴν Ἰθάκην? Oder soll ich zunächst deine Mutter in deinem Hause besuchen?“862 Unbestritten gewährt Telemach dem Theoklymenos im eigenen Herrschaftsgebiet Gastfreundschaft, also in seiner Stadt bzw. in seinem Palast, und nicht auf dem Territorium, auf dem einer der beiden anderen kephallenischen Inselkönige herrschte. Und vor dem Freierkampf sagt Telemach selbstbewusst: „Meine Mutter, befugter als ich ist kein anderer Achaier hier diesen Bogen zu geben, zu weigern nach meinem Belieben, sämtliche nicht, die in κραναὴν Ἰθάκην sitzen als Herren, sämtliche nicht auf den Inseln vor Elis“.863 In seinem Stammkönigreich lässt sich der zum Manne gereifte Telemach also von keinem mehr bevormunden, weder von den Herren seines Territoriums, noch von den anderen Fürsten, die die übrigen kephallenischen „Inseln vor Elis“ beherrschen. Die Genese vom stehenden Begriff kranae Ithake zum Eigennamen „Kranae“ deutet bereits der 3. Gesang der Ilias an: Nachdem die schöne Helena während der Mauerschau den König Priamos auf den listenreichen Odysseus hingewiesen hatte, der en demo Ithakes kranaes (ἐν δήμῳ Ἰθάκης κραναῆς) beheimatet sei,864 wird sie kurz darauf von ihrem Liebhaber Paris auf die „Insel Kranae (Κρανάη)“ angesprochen.865 Ein Bezug zwischen beiden Toponymen ist nicht zu übersehen, zumal das Epitheton „kranae“ in den homerischen Epen ausschließlich in formelhafter Verknüpfung mit Ithaka auftritt und das Toponym „Kranae“ nur ein einziges Mal genannt wird. So scheint der Schluss erlaubt, dass unter dem Inselkörper kranae Ithake die in der Ilias genannte Insel „Kranae“ zu verstehen ist, zumal auch der entsprechende Artikel der ‚Realencyclopädie der classischen 860 Ilias 3,201. Od. 1,247; 15,510; 16,124; 21,346. 861 Ilias 3,200 f. – In diesem Kontext, dass Ithake kranae nur einen Teil Kephallenias bezeichnet, ist die Überlegung von Dietrich MÜLDER (Ithaka-Hypothese 158) bemerkenswert: Zwar tritt Odysseus in den homerischen Epen als König der Kephallenen auf, aber „der Odysseus älterer Sage war wohl nur Ithakesier“, denn darauf weist die Form des Verses Γ 201 ὃς τράφη ἐν δήμῳ Ἰθάκης κραναῆς περ ἐοίσης“ hin. 862 Od. 15,508 ff. 863 Od. 21,344 ff. 864 Ilias 3,201. 865 Ilias 3,445. Das in diesem Vers auftauchende Κρανάη ist ein Hapaxlegomenon. Man würde annehmen, der wohl jüngere Eigenname „Kranae“ sei eher in der Odyssee als in der Ilias zu erwarten, aber es sei daran erinnert, dass die Ilias durchaus Stellen aufweist, die der Odyssee entnommen sind (vgl. KIRCHHOFF 197). Also, „der Dichter der letzteren [Odyssee] hat eine nicht geringe Anzahl von alten Vorlagen benutzt und in sein Werk verwoben, die gewiß älter sind als die Ilias als Ganzes“ (MÜLDER, Phäakendichtung 11).

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1. Die Ithaka-Antwort

Altertumswissenschaft‘ zu bedenken gibt: „Vielleicht deutet das für Ithaka formelhafte Beiwort κρανάη auf ursprünglichen Zusammenhang mit Κρανάη hin“.866 Diese Folgerung würde bei Altertumswissenschaftlern wohl kaum erhöhtes Interesse oder gar Verwunderung erregen, wenn Kranae nicht diejenige Insel wäre, zu der Paris mit Helena von Sparta aus zunächst geflüchtet war.867 Schon im Altertum rätselte man, wo die homerische Insel Kranae lag. Manche – namentlich Pausanias – dachten an eine Felsscholle im Golf von Sparta,868 andere – unter ihnen Euripides und Strabon – an ein Eiland vor Attika, das deshalb den Namen Helena oder Kranae trug.869 Übrigens wurden diesem Eiland in der Neuzeit versehentlich antike Münzen zugeschrieben, die nachweislich von der kephallenischen Polis Krana/e geprägt wurden.870 Auch wurde die Insel Kythera, die der Südostspitze des Peloponnes (und somit dem Kap Malea) vorgelagert ist – u. a. von Eustathios – als das homerische Kranae gedeutet;871 dieser irrigen Ansicht folgt noch Johann Wolfgang von Goethe im Zweiten Teil des ‚Faust‘.872 Immerhin gibt es Indizien für die verwegene Annahme, dass Paris und Helena zunächst nach Kranae, ins Stammkönigreich des Kephallenenkönigs Odysseus geflüchtet sind. Abgesehen von verwandtschaftlichen Banden – so gelten Helena und die kephallenische Königin Penelope als Cousinen –,873 führte die Seeroute des Paris ohnehin an der Insel Kephallenia vorbei, denn ihn hatte sein Vater Priamos von Troja aus angeblich nach Delphi gesandt, um das Orakel zu befragen.874 Bei der Umrundung des Peloponnes machte er jedoch den verhängnisvollen Zwischenstopp in Sparta, verliebte sich in Helena und floh mit ihr. Übersehen wird bei dieser herz-erwärmenden Tat oft, dass Paris nicht nur mit seiner großen Liebe, sondern auch mit vielen wertvollen Schätzen flüchtete, die er im Palast des Menelaos geraubt hat.875 Über die Fluchtroute von Sparta nach Troja „besteht ein großer scheinbar unlösbarer Widerspruch [v. a.] zwischen Herodot und der Epitome bei Proklos über die Fassung der Kyprien“,876 und auch die Ilias bietet keinen Aufschluss darüber, welchen Seeweg Paris mit Helena nach Troja wählte.877

866 TAMBORNINO, Kranaos 1570,14 ff. 867 Ilias 3,443 ff. Die Lage von Kranae war „schon den Alten unbekannt“ (FÄRBER 946). 868 PAUSANIAS (3,22,1 f.) und STEPHANOS BYZANTIOS (s. Κρανάη) dachten an ein bei Gythion im Lakonischen Golf liegendes Eiland (die Toponyme Lakonien und Sparta werden synonym gebraucht; vgl. Od. 13,412 mit 440). „Marathonisi, Felseninselchen an der lakonischen Küste, wahrscheinlich die Kranae der Alten“ (OBERHUMMER, Phönizier 15). 869 Euripid. Hel. 1674; Strab. 9,1,22; Lyhophr. 110. 870 So wurden versehentlich „die Imperatorenmünzen von Kranioi meist der Sunion gegenüberliegenden attischen Insel Kranae, welche später Helena genannt wurde, zugeteilt“ (BIEDERMANN 66,5). 871 Eust. Hom. 433,21; 278,34. 872 GOETHE, Faust II, 8510–14. 873 Helenas Vater Tyndareos (bzw. Zeus) und Penelopes Vater Ikarios waren Brüder (vgl. WEIHER 729). 874 Dies ist der dem ALKIDAMAS (4. Jh. v. Chr.) zugeschriebenen Rede ‚Odysseus‘ zu entnehmen. 875 Ilias 3,70, 91; 7,350, 363; 13,626; 22,115. 876 ENGELMANN, Helena 1939,53 ff. Angeblich erreichten Paris und Helena „nach einer Fahrt von [nur] drei Tagen“ Troja; „so erzählten nach Herodot die Kyprien. Nach dem epischen Cyclus dagegen sendete Hera einen Sturm, wodurch das Schiff bis Sidon verschlagen wurde“ (PRELLER II 291; mit Anm. 1). 877 Die Ilias (6,289 ff.) erwähnt über die Flucht von Sparta nach Troja merkwürdigerweise nur einen Aufenthalt des Paris und der Helena im phönizischen Sidon.

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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„In der zyklischen Überlieferung über die Entführung der Helena bemächtigte sich Paris ihrer in einem Augenblick, da Menelaos nach Kreta verreist ist, um seinen Oheim Katreus zu begraben“.878 Sowohl um dem aus Südosten heimkehrenden Schiff des Menelaos im trichterförmigen Lakonischen Golf nicht zu begegnen, als auch um seine Delphi-Mission zu erfüllen, ist anzunehmen, dass Paris zunächst den Peloponnes westwärts umsegelte und dabei seinen ersten Zwischenaufenthalt auf der am Seeweg liegenden Insel Kranae, also auf (Süd-) Kephallenia einlegte.879 Von der Insel Kephallenia bzw. Delphi hätte er wohl, da er mit der Verfolgung durch die Häscher der Atriden rechnen musste, sicherheitshalber die mythische Nordroute der Argonauten in Richtung Troja genommen.880 Diese historisch-geographische Annahme gewinnt an Plausibilität dadurch, dass die Süd- und Ostküste des Peloponnes und „viele [Ägäis-] Inseln“ vom Herrschergeschlecht der Atriden kontrolliert wurden.881 Somit war für Paris und Helena die Flucht durch die Ägäis nach Troja wahrscheinlich zu gefährlich.882 Bedenkt man ferner, dass Homer den Odysseus im Westen Griechenlands streckenweise im Kielwasser der Argo fahren lässt,883 dann spricht viel dafür, dass in der dichterischen Konzeption das Liebespaar Paris und Helena über die mythische Route der Argonauten entkam, nämlich durch das Kronos-Meer (Adria) und den Istros (Donau) ins Schwarze Meer und von dort nach Troja am Hellespont.884 Bei Zugrundelegung dieser Route hätte das von der lakonischen Küste kommende Schiff des Paris die Südostküste von Kephallenia und damit das Stammkönigreich des Odysseus zwangsläufig passiert. Zum geographischen Argument tritt ein politisches hinzu: Da Paris die Ehefrau des Menelaos ‚raubte‘, der mit seinem Bruder Agamemnon die führende politische Macht im griechischen Erdraum repräsentierte, konnten die Flüchtigen nur auf einer solchen Insel ungefährdet anlanden, deren Herrscher nicht zu den Gefolgsleuten der Atriden gehörte und vor allem hinreichend loyal und standhaft war, um die ungebetenen Gäste nicht auszuweisen oder gar auszuliefern. Ein solcher Zufluchtsort war im Meeresraum des Peloponnes derart rar,885 dass bei der Insel Kranae kaum an eine andere als an Kephallenia zu denken ist. Denn dort 878 HÖLSCHER, Odyssee 59. 879 Vgl. die Reise des von Kreta nach Delphi fahrenden Apollonschiffes (Hom. h. 3,428). 880 In der Vorstellung der frühen Griechen verband der als Meeresarm gedachte „Istros“ (die Donau) die nördliche Adria mit dem Schwarzen Meer (Apoll. Rhod. 4,282 ff., 325 f.). – Die antike Überlieferung (Paus. 3,19,11; 24,7. Schol. Eurip. Andr. 228) erzählt lediglich etwas von einer Beziehung zwischen Helena und Achill am westlichen Ausfluss des Istros. 881 Ilias 2,108; vgl. 2,569–587, 610 ff.; 9,291 ff. – Laut VERGIL (Aen. 1,165) floh Helena über Mykene nach Troja, wodurch der Seeraum südlich und östlich des Peloponnes umgangen wurde. 882 Den homerischen Epen ist nicht zu entnehmen, ob oder wie Paris mit der geraubten Helena die Ägäis nordwärts durchquerte. 883 Vgl. Od. 12,69 ff. So gelangte Odysseus, wie Jason mit seiner Argo (Apoll.Rhod. 4,891–995), zu den Sirenen, den Plankten, zur Skylla und Charybdis, nach Thrinakia sowie zu den Phaiaken (Od. 6,194 f.; 12,59 ff., 165–263, 327). Und auch „die Motive dieses Theiles der Apologe [10. Gesang; v. a. das Laistrygonen und Kirke-Abenteuer] verrathen eine auffällige Verwandtschaft mit denen der Argonautensage“ (KIRCHHOFF 287). 884 Vgl. Apoll. Rhod. 4,303 ff. 885 Vgl. Ilias 1,78 f.; 2,108.

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1. Die Ithaka-Antwort

herrschte der edel gesinnte Odysseus, dem das Gastrecht bedingungslos heilig war: Er gewährte vor dem trojanischen Krieg sogar ausländischen Rechtsbrechern selbst dann Schutz und Asyl, wenn mächtige Fürsten die Auslieferung verlangten, wie dem Vorwurf der Penelope gegenüber dem undankbaren Freier Antinoos zu entnehmen ist: „Hast du vergessen, wie einst dein Vater als Flüchtling hierher kam, fürchten mußte er sein Volk; denn wahrlich es herrschte Empörung. War doch auch er in der Rotte taphischer Räuber und quälte hart die Thesproter, die unsere Verbündeten waren. Den Garaus drohten sie ihm, sie wollten das liebe Herz ihm zerreißen, schmausen sein Gut, das in Fülle er hatte, das Wünsche erregte. Aber Odysseus hielt sie zurück, so sehr sie sich sträubten“.886 – Auf einen solch standhaften Odysseus hätten auch Paris und Helena bei ihrer Stippvisite auf Kranae zählen können und müssen! Welcher Inselfürst im Raum des Peloponnes hätte es wohl sonst gewagt, den mächtigen Atriden die Stirn zu bieten und der flüchtigen Helena samt ihrem Liebhaber Paris einen ungefährdeten Zwischenstopp zum notwendigen Bunkern von Trinkwasser und Nahrung zu gewähren, wenn nicht dieser Odysseus auf Kranae?! Die Atriden ihrerseits konnten den Affront nicht einfach hinnehmen und mussten, allein schon um in der archaischen Welt nicht an Autorität zu verlieren, Odysseus daraufhin zur Rechenschaft ziehen. Und tatsächlich erschien der gehörnte Menelaos in Begleitung seines mächtigen Bruders Agamemnon auf Ithaka, wie die Odyssee erzählt.887 Aber kamen die Atriden damals wirklich nur deshalb nach Ithaka, um Odysseus zur Heerfolge im Trojanischen Krieg „zu veranlassen“, wie zwei Jahrzehnte später die verstorbene Seele des Agamemnon versöhnlich suggeriert?888 Die stolzen Atriden, die es noch nicht einmal für nötig hielten, persönlich den mächtigen König Kinyras von Zypern889 zum Heerzug zu werben, sondern stellvertretend bloß ihren Herold Talthybios entsandten,890 sollten gemeinsam nach Ithaka gekommen sein, nur um den König der Kephallenen zur Heerfolge zu bitten, der mit seinen zwölf Kriegsschiffen lediglich ein Prozent der griechischen Streitmacht vor Troja stellte?!891 So konnte die Ankunft der Hochkönige Agamemnon und Menelaos auf Ithake kranae bislang nur mit der unbefriedigenden Vermutung begründet werden, die Atriden hätten schon damals geahnt, dass Troja durch den listenreichen Odysseus fallen würde.892 886 Od. 16,424 ff. 887 Od. 24,102–119; vgl. 11,446 ff. 888 Od. 24,116 ff. Uvo HÖLSCHER (Odyssee 59) meint, die Atriden seien „als die Bittenden, die inständig Beredenden“, zu Odysseus gekommen. Man beachte jedoch Od. 24,119: Das Wort παραιπέπιθων = παραπείθω, von πείθω, vgl. πείθομαι, hat zwei Bedeutungen, erstens „überreden“ und zweitens „gehorchen“, „befolgen“, „sich fügen“ (BENSELER 709). 889 Ilias 11,20. 890 Apollod. 3,9; Eust. p. 827, 34. (vgl. Ilias 1,320; 3,118; 4,192; 7,276; 19,196, 250, 267; 23,897). 891 Von den 1.145 Schiffen der Griechen, die nach Troja aufbrachen (Ilias 2,493–760), stellten die Kephallenen nur zwölf (Ilias 2,637; vgl. Od. 9,159), also ca. 1 % der Streitmacht. 892 Uvo HÖLSCHER (Odyssee 59) vermutet, „Odysseus wird gebeten und gewonnen als der, der Troja zerstört“. „Aber die Anwerbung des Odysseus als des Stadteroberers … gehört nicht erst zu den epischen Erweiterungen des Trojanischen Krieges, sondern, der Form nach, zu dem märchenhaften Grundmuster, dem die troische Sage folgt“. Unbestritten ist, dass Odysseus für die Belagerung und Eroberung Trojas unerlässlich war. So unterdrückte Odysseus den Aufruhr der Achaier (Ilias 2,155–332), er holte Achill

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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Ein solches Motiv wird zumindest vorausgesetzt, zumal die Dichter der Ilias und Odyssee angeblich „die wesentlichen Sagenfakta fixiert übernehmen; so erhält dadurch das Handeln der Personen in Ansehung der Unabänderlichkeit und Vorbestimmtheit dieser Fakta etwas Hellseherisches“.893 Tragfähiger als die notgedrungene Hypothese der Hellseherei – sowie dem tragischen Spannungsbogen würdiger – erscheint jedoch die Annahme, dass die von Paris und Helena aufgesuchte Insel Kranae auf den kephallenischen Inselrumpf zu beziehen ist und die Atriden folglich nicht als freundlich gesinnte Bittsteller in der Heimat des Odysseus erschienen sind, sondern um Rechenschaft und Genugtuung zu fordern. Ein gewichtiges Indiz für diese Annahme ist der Hinweis des Agamemnon, dass er und sein königlicher Bruder während des Ithaka-Besuchs nicht im Königspalast des Odysseus logierten, sondern bei ihrem Gastfreund Amphimedon in Ithaka-Stadt Quartier nahmen.894 Es erscheint merkwürdig, dass Homerinterpreten diese Information der Odyssee nicht hinterfragten, zumal es doch in den homerischen Epen selbstverständlich ist, dass die „gott-ensprossenen Könige“895 einander großzügig Gastfreundschaft gewähren.896 Die einzige Möglichkeit des listenreichen Odysseus, sich des Vorwurfs der Komplizenschaft mit Paris zu entledigen und dem vernichtenden Zorn der Atriden zu entgehen, bestand darin, sich entweder geisteskrank zu stellen, was andere Quellen ja berichten,897 oder die Entführung Helenas nicht nur mit Worten zu missbilligen, sondern mit Taten, d. h. den Atriden Heerfolge im trojanischen Krieg zu leisten. Und dementsprechend gestand Odysseus dem treuen Eumaios „wahrheitsgemäß“,898 dass er zur Heerfolge nicht geworben, sondern genötigt wurde: „O, wäre doch Helenas Sippe verkommen!“899 Denn „ich mußte selber unter Zwang Schiffe nach Ilion führen; es gab da gar keine Ausflucht, gar kein Verweigern; der Leumund hätte zu schwer uns belastet“.900 Aber wenn Odysseus infolge der Helena-Episode zur Kriegsteilnahme genötigt wurde, dann brauchten die anderen Könige der kephallenischen Symmachie901 keine Heerfolge leisten, und so wäre im Inselreich der Kephallenen keine Generalmobilmachung erfolgt.902

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nach Troja (Ilias 11,767), hielt Agamemnon von der Flucht ab (Ilias 14,83), und er überlistete schließlich die Trojaner mit dem hölzernen Pferd, durch das die Stadt fiel (Od. 8,492–520). MÜLDER, Phäakendichtung 43. „Aber die Anwerbung des Odysseus als des Stadteroberers … gehört nicht erst zu den epischen Erweiterungen des Trojanischen Krieges, sondern, der Form nach, zu dem märchenhaften Grundmuster, dem die troische Sage folgt“ (HÖLSCHER, Odyssee 60). Od. 20,104–108, 114 ff. Ilias 6,191; 13,449; 19,105, 124; 21,187. Od. 3,480; 4,44, 63; 7,49. U. a. Ilias 2,229 ff.; 6,215; 13,660 f.; 17,582 f. Od. 1,187 f.; 3,75 ff.; 4,26 ff.; 8,17 ff.; 10,1 ff. Ovid. met. 13,301; Schol. Od. 24,119; Kypria S. 103 Allen; Serv. Aen. 2,81; Stat. Ach. 1,94; Schol. Stat.Ach. 1,94; Lykophr. 815 ff. mit Tzetz. ad. Loc.; Hyg. fab. 95. Od. 14,192. Od. 14,68. Od. 14,237 ff. Das Thema der Werbung des Odysseus behandelte eine im Altertum populäre, inzwischen verlorene Tragödie des Sophokles. Od. 1,394 f.; 18,64 f. Die westgriechische Seemacht Dulichion stellte 52 adlige Freier der Penelope (Od. 16,247 f.) und vierzig bemannte Schiffe im trojanischen Krieg (Ilias 2,630), die Inseln der Kephallenen (Ithaka, Samos und Zakynthos) stellten insgesamt 56 Freier (Od. 16,249 ff.), aber nur zwölf Schiffe (Ilias 2,637). Wie bereits dargelegt, verfügte allein Kerkyra (das homerische Dulichion) in historischer Zeit über eine ähnlich

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1. Die Ithaka-Antwort

Odysseus, der aufgrund seiner persönlichen Verstrickung zur Kriegsteilnahme genötigt wurde, rüstete deshalb wohl ausschließlich in seinem Stammkönigreich Kranae zur Heerfahrt nach Troja,903 und deshalb trafen die Kephallenen dort mit einem relativ kleinen Kontingent ein.904 Damit erledigt sich auch das von Edzard Visser diskutierte Problem, warum beim Aufgebot des Odysseus „Homer mit 12 Schiffen eine so geringe Anzahl nennt“.905 Infolge des mutmaßlichen Aufenthalts des Paris und der Helena auf dem kephallenischen Kranae erscheint sowohl der Umfang des Truppenkontingents als auch die widerwillige und bislang ungeklärte Teilnahme des Odysseus am Trojanischen Krieg zwanglos begründet, ohne dass über außerhomerische Motive spekuliert werden muss.906 Und so nahm für den frisch verheirateten Odysseus und seine Frau Penelope, die gerade den Telemach geboren hatte, das tragische Schicksal seinen Lauf. Nicht unerwähnt sei, dass wenige Jahre zuvor der listenreiche Odysseus an der Eheschließung zwischen dem spartanischen König Menelaos und der schönen Helena maßgeblich beteiligt war, denn er hatte während seines Aufenthalts in Sparta907 dem Vater der Helena, Tyndareos, der einen Zwist unter den fürstlichen Freiern befürchtete, sobald er einem von ihnen seine Tochter zur Frau gab, klugerweise geraten, alle Freier zuvor eidlich zu verpflichten, dem erwählten Ehemann der Helena bei Feindseligkeiten, die mit der künftigen Ehe in Zusammenhang stehen, tatkräftigen Beistand zu leisten.908

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hohe Bevölkerung wie der westgriechische Inselbogen (Leukas, Kephallenia, Theaki, Zakynthos) zusammen. Folglich ist anzunehmen, dass das Inselreich der Kephallenen ein deutlich höheres Kontingent an Schiffen hätte stellen können. Analog dazu zeigt William E. GLADSTONE am Beispiel von Kreta auf, dass nicht alle Teile der Insel am Heerzug teilnahmen (305 f.); und „in verschiedenen Teilen der [homerischen] Gedichte werden Städte genannt, die nach dem Kataloge zu schliessen, keine Truppen für den Krieg gestellt hatten“ (312). Im Schiffskatalog stellt die große Insel Rhodos nur neun Schiffe (Ilias 2,654); indes wird darauf hingewiesen, dass auf der „dreigeteilten“ Insel (2,655) drei Stämme leben (2,668). Möglicherweise stammte das Kontingent nur aus einem Inselteil. Dagegen meint Edzard VISSER (629) über das „ausgesprochen kleine Kontingent“ der Rhodier, „dass hier wie so oft im Schiffskatalog die Gegebenheiten des Mythos die Darstellung der Geographie beeinflußt haben“. „So kommt es zu dem merkwürdigen Verhältnis, daß Ithaka im Schiffskatalog [der Ilias] mit dem Faktor 0.666 die geringste Anzahl von Schiffen pro Ortsnamen aufweist“ (VISSER 597). – Der häufige Hinweis, dass auch Aias von Salamis nur mit zwölf Schiffen vor Troja erschien (Ilias 2,557), greift nicht, da die Insel Salamis mit knapp 100 qkm Fläche deutlich kleiner ist als das über 1.600 qkm große Inselreich des Odysseus (allein Kephallenia weist 780 qkm auf). VISSER 597. Und er meint a. a. O., bei der „Anzahl der Schiffe“ habe sich „die Vorgabe des ärmlichen Ithaka“ durchgesetzt (mit Bezug auf Od. 13,242: τρηχεῖα, οὐ ἱππήλατος). Ludwig PRELLER (Ib 292) versucht, das Motiv für die Kriegsteilnahme des Odysseus wie folgt zu erklären: Odysseus „war viel zu klug und fühlte sich auf seinem Ithaka, an der Seite seiner jungen Frau, die eben ihr Kind an der Brust hatte, viel zu behaglich als daß er zu einer so weit aussehenden Unternehmung hätte Lust haben können. Als also Nestor [sowie Agamemnon] und Menelaos ihn zu holen kamen, stellte er sich wahnsinnig und trieb allerlei Unsinniges“, bis er durch Palamedes seines gesunden Menschenverstandes überführt wurde. Aber PRELLERs Erläuterung, welche die Hilflosigkeit bei der Motivsuche indiziert, erklärt doch gar nicht, warum Odysseus am Heerzug teilnahm: Als ob der Held, nachdem er seiner Schauspielerei überführt worden war, nun „Lust“ auf die „Unternehmung“ gehabt hätte! So bleibt die Homerforschung eine plausible Antwort auf die Frage schuldig: Was nötigte Odysseus, den Atriden Heerfolge zu leisten? Auch die Odyssee (21,13 ff.) erwähnt einen Aufenthalt des Odysseus in Sparta. Hes. frg. 94 ff. Apollod. 3,131 f. Paus. 3,20,9. – Nach Thukydides (I 9) soll die Furcht vor Agamemnon stärker zur Heerfolge gewirkt haben als der dem Tyndareos geleistete Schwur.

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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Aufgrund dieses von Odysseus ersonnenen Eides bürdeten sich viele griechische Fürsten die Teilnahme am damals noch nicht absehbaren Trojanischen Krieg auf. Einzig der listenreiche Odysseus, der ja nicht um Helena freite, war vom Eid ausgenommen und somit nicht zur Heerfolge verpflichtet. Als Dank für diese List hatte Helenas Vater Tyndareos damals bei seinem Bruder Ikarios die Werbung des Odysseus um dessen Tochter Penelope unterstützt, „dem klugen Weib mit reicher Mitgift“.909 Aber Odysseus, dessen List vielen Tod und Verderben brachte, ereilte bald darauf das Schicksal: Indem nämlich Paris und die ‚geraubte‘ Helena zunächst auf Kranae landeten und dort ihrer illegalen Liebe frönten,910 wurde auch Odysseus in Helenas Ehe-Angelegenheiten hineingerissen und zur Kriegsteilnahme genötigt. Also diese ebenso naheliegende wie einfache dichterische Konzeption, die nahtlos an Helenas Vita und die Genese des Trojanischen Heerzuges anknüpft,911 dürfte das tragische Schicksal des Odysseus evoziert haben, und so findet die bisher nur unbefriedigend beantwortete Frage von Uvo Hölscher, „Wie also geriet Odysseus in den Trojanischen Krieg?“,912 endlich eine plausible Antwort. Als der Trojanische Krieg schon länger tobte, schlich sich der als Bettler verkleidete Odysseus nachts als Späher in die feindliche Stadt, wie Helena in der Odyssee berichtet: „Nur ich erkannte ihn trotz seines Aussehens, fragte ihn auch, doch wich er mir aus; denn er wußte es besser. Alsdann ließ ich ihn waschen, mit Öl auch ließ ich ihn salben, legte ihm Kleider an und schwur ihm eidlich und kraftvoll, über Odysseus den Troern kein einziges Wort zu verraten, ehe er nicht zu den Hütten und eilenden Schiffen zurück sei“.913 Diese Aussage wird in der Homerphilologie meist ratlos übergangen, obwohl sich doch die Frage aufdrängt, welches Motiv die selbstbewusste Helena für dieses außergewöhnliche Verhalten hatte. War sie barmherzig, liebeslüstern oder den Trojanern gegenüber hinterhältig, oder bloß leichtsinnig und wankelmütig?914 Bislang erscheint es bloß als eine merkwürdige Laune der Helena, den für ihren Liebhaber Paris, dessen Familie und Heimatstadt (die ja auch Helena vor dem Zorn 909 Od. 24,294. Die Odyssee nennt auch Tyndareos (11,298, 299; 24,199) und Ikarios (1,329; 2,253, 133; 4,797, 840; 11,446; 16,435; 17,562; 18,159, 188, 245, 285; 19,375, 546; 20,388; 21,2, 321; 24;195). 910 Ilias 3,445 f. – Nach APOLLODOROS (3,132) und HYGINUS (fab. 78) folgte Helena nicht dem Paris, sondern dem Odysseus und sei von ihm verführt worden. Aufgrund dieser Sagenversion wird die Identität der in Ilias (3,445) erwähnten Insel Κρανάη noch offensichtlicher. 911 Die unmittelbare Verknüpfung der Ereignisse veranschaulicht z. B. die Gliederung des Artikels „Helena“ in ROSCHERs Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie (I 2, 1928–1978), in welchem dem Kapitel „2. Die Freier. Hochzeit mit Menelaos“ das Kapitel „3. Paris kommt nach Sparta und entführt Helena“ folgt. Vor der Hochzeit mit Menelaos hatte der listige Odysseus die Freier zum Eid verpflichtet (der ihnen alsbald die Teilnahme am Trojanischen Krieg aufbürdete), und durch die Zwischenlandung der entführten Helena auf Kranae musste nun auch Odysseus den Atriden Heerfolge leisten. 912 HÖLSCHER (Odyssee) 58. Diese Frage stellt Uvo HÖLSCHER a. a. O. zu Beginn seines Kapitels „Odysseus und der Raub der Helena“. 913 Od. 4,249 ff. 914 Letzteres könnte man vermuten, denn infolge des nächtlichen Besuchs des Odysseus bereute Helena, dem Paris nach Troja gefolgt zu sein und sehnte sich, heimzukehren (Od. 4,259–264). Indes, wenige Verse später wird erzählt, wie Helena den kriegsentscheidenden Hinterhalt mit dem Trojanischen Pferd beinahe aufgedeckt hätte (Od. 4,270–289). Diesen Widerspruch im Verhalten Helenas thematisiert Jonas GRETHLEIN im Unterkapitel „Helenas Droge: Odysseus in Troja“ (64 ff.).

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1. Die Ithaka-Antwort

der Atriden bewahrte!) gefährlichen Odysseus nicht nur nicht zu verraten, sondern ihm sogar Körperpflege im städtischen Luxus zu gewähren, die er seit Jahren im primitiven Schiffslager vor den Toren Trojas entbehrte. Wenn jedoch die Insel Kranae die Heimat des Odysseus ist, dann erscheint das Verhalten der Helena plausibel motiviert: Da ihr Odysseus als erster und wohl einziger Achaier nach der Flucht aus Sparta gastfreundliches Asyl gewährt hatte, konnte sie sich nun in Troja dafür revanchieren; und diese Situation (man stelle sich vor, ein Trojaner hätte bemerkt, dass Odysseus nachts in Helenas Badewanne sitzt!) war für sie ebenso gefährlich wie damals für Odysseus die nicht minder überraschende Ankunft Helenas in seiner Heimat – und somit die Teilnahme am Trojanischen Krieg, zu der ihn die Atriden darauf hin nötigten. Nachdem das homerische Ithaka als die Insel Kephallenia identifiziert wurde und Kranae (bzw. kranae-Ithake) als Bezeichnung des Inselrumpfes, sollen nun die beiden anderen Glieder Kephallenias bestimmt werden, nämlich die große Westhalbinsel Paliki und die unbedeutendere Nordhalbinsel Erissos. 1.3.3 Das westliche Samos und das Eiland Asteris Von den Inselkörpern, über die Odysseus als Hochkönig der Kephallenen herrschte, wird Samos am häufigsten genannt.915 Homer kennt drei Inseln unter diesem Namen, nämlich das der kleinasiatischen Küste vorgelagerte Samos,916 das thrakische Samos (Samothrake) in der Nordägäis917 sowie das nun zu identifizierende Samos im Ionischen Meer,918 das auch in der Namensvariante Same erscheint.919 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass in der klassischen Zeit des Altertums an der Ostküste Kephallenias eine Stadt lag, die den häufigen Ortsnamen Same trug,920 und so wird in der Altertumswissenschaft angenommen, dass das homerische Samos im Ionischen Meer der „Name der Insel Kephallenia“ sei.921 Wie in der vorliegenden Studie bereits dargelegt, ist jedoch „Ithaka“ der homerische Name der Insel Kephallenia, die durch das landschaftliche Relief in drei voneinander gesonderte Inselkörper zerfällt. Doch auf welchen Inselteil ist „Samos“ zu beziehen? Bevor aufgrund der ostkephallenischen Stadt Same eine vorschnelle Zuordnung des homerischen Samos erfolgt, ist darauf hinzuweisen, „dass Aenderungen und Verschiebungen von Namen in Griechenland und auch in anderen Ländern im Altertum oft vorgekommen sind, teils in Verbindung mit einer allgemeinen Völkerwanderung, teils auch 915 Da der Formelvers ‚Dulichion und Same und das waldige Zakynthos‘ „ohne Zweifel für das π gedichtet und aus diesem an den [drei] anderen Stellen entlehnt“ ist (ROBERT 632), wird in den homerischen Epen das kephallenische Samos/Same fast dreimal so oft genannt wie die Insel Zakynthos. 916 Hom. h. 3,41. 917 Ilias 13,12 f.; 24,78, 753. Hom. h. 3,34. 918 Ilias 2,634. Od. 4,671, 845; 15,29, 367. 919 Od. 1,246; 9,24; 16,123, 249; 19,131; 20,288. Hom. h. 3,429. – “Es scheint nach υ 288 und ο 367, dass mit Σάμη besonders die Stadt bezeichnet wird“ (MICHAEL 13, Anm. 1). 920 Strab. 10,2,10; 10,2,13. Sch. Thuk. 1,27,2. Liv. 37,50,5 u. 38,28,5 bis 38,30,1. 921 MEYER, Same 1532,15.

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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bei Neugründung einzelner Städte“.922 Man denke z. B. daran, dass die prächtige Stadt „Sparta“, in der Menelaos residierte,923 nicht am Ort der klassischen Stadt namens Sparta lag, sondern knapp 10 km weiter südlich beim Ort Amyklai.924 Ein eklatanteres Beispiel, das noch im Irrfahrtteil des vorliegenden Buches eingehender behandeln wird (S. 288 ff.), ist das gerenische Pylos, die berühmte Stadt des greisen Königs Nestor, die Ilias und Odyssee an der sandigen Küste Triphyliens lokalisieren.925 Jedoch nach deren Untergang identifizierte man seit der klassischen Zeit das Pylos des Nestor mit der 70 km weiter südlich liegenden Hafenstadt Pylos in Messenien, „die um 365 v. Chr. gegründet oder wiedergegründet worden war“,926 und so hat das messenische Pylos „den Ruhm an sich gezogen, die Heimat des Nestor zu sein“.927 – Aufgrund solcher Beispiele ist Vorsicht geboten, das gesuchte homerische Samos a priori auf die antike kephallenische Stadt Same zu beziehen, zumal diese auf dem Inselrumpf liegt und die antiken Autoren Mela, Plinius und Silius „Samos als eine besondere Insel neben Cephalenia aufführen“.928 Für die geographische Lage des im Ionischen Meer gelegenen Samos sind zwei Angaben der Odyssee kennzeichnend: So soll Samos einerseits vom homerischen Ithaka durch einen „Meeressund“ geschieden sein,929 und andererseits an die gebirgige Inselheimat des Odysseus unmittelbar angrenzen.930 Aufgrund dieser Informationen, die bislang widersprüchlich erschienen, ist das gesuchte Samos mit der kephallenischen Westhalbinsel Paliki zu identifizieren, die sowohl mit einem 4 km breiten Isthmos am Inselrumpf ansitzt als auch durch den insgesamt 17 km langen und etwa 2 bis 3 km breiten Livadi-Golf vom Inselrumpf geschieden ist.931 Der Archäologe Spyridon Marinatos formuliert als gebürtiger Kephallene den Sachverhalt folgendermaßen: „Die tiefe Bucht von Livadi, eine der längsten des Mittelmeeres, trennt die Halbinsel von Paliki von der eigentlichen In922 DÖRPFELD, Alt-Ithaka 136. – Vgl. OBERHUMMER, Ithaka 16 ff. 923 Ilias 2,582; 4,52. Od. 1,93, 285; 2,214, 327, 359; 13,412. 924 Vgl. GRUNAUER Amyklai 111 u. Sparta 628 f. So hat „das Sparta des Menelaos seinen Namen verloren und an die an anderer Stelle gegründete dorische Stadt Sparta abgetreten“ (DÖRPFELD, Alt-Ithaka 136). 925 Deshalb sagt STRABON (8,3,26): „For the fatherland of Nestor is in this country which we call Triphylian, or Arcadian, or Leprean, Pylus” (übersetzt von H. L. JONES IV 75). 926 MEYER, Pylos 2139,48 f. 927 MEYER, Pylos 2151,33 ff. „Erst die hellenistischen Homererklärer erkannten dann, daß die homerischen Angaben auf das messenische Pylos gar nicht paßten, sondern einen Ort weiter nördlich in Triphylien verlangten“ (ders. 2153,23 ff.), an dem damals noch der alte Name Pylos haftete (Strab. 8,3,1). – „Das homerische Pylos bei dem heutigen Kakovatos wurde von den Doriern zerstört; … vielleicht haben die von hier vertriebenen Pylier das messenische Pylos gegründet“ (PHILIPPSON/KIRSTEN III 363). 928 FORBIGER III 694, Anm. 50; mit Bezug auf Mela 2,7,10. Plin. nat. 4,54. Sil. 15,303. Vgl.a. Eustath. zu Hom. Od. 1,246 u. zu Dion. Per. v. 533. 929 Od. 4,671, 845; 15,29. „Wenn man von einem πορθμός zwischen zwei Inseln spricht, so ist also darunter eine langgestreckte, schlauchartige Meerenge zu verstehen, die sich bis zur Strombreite verengt (STEPHANOS BYZ. s.v. πορθμός)“ (LANG 38 f.). 930 Od. 9,23; μάλα χεδὸν: „in der Nähe“, „eigentlich anschließend“ (BENSELER 890). „Mit Samos liegt Ithaca μάλα σχεδὸν (Vers 9,23) zusammen, näher mit diesem zusammen, als irgend die anderen [Inseln] untereinander“ (RÜHLE 7); ebenso VÖLCKER (53). Die anderen Inseln liegen „entfernt“ nach Osten und Süden (Od. 9,26). „Abseits [liegen] die andern nach Osten und Süden“ (KÄRCHER, Geographie 843). 931 PHILIPPSON/KIRSTEN II 504.

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1. Die Ithaka-Antwort

Abb. 5: Die kephallenische Halbinsel Paliki (Ausschnitt der Karte von J. Partsch 1890)

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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sel“.932 Jedoch an ihrem Nordende ist die Paliki-Halbinsel mit dem kephallenischen Inselrumpf durch einen teils gebirgigen, teils versumpften Isthmos verbunden,933 von dem der antike Geograph Strabon irrig annahm, er würde zeitweilig vom Meere überspült.934 Die meisten Seekarten aus dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit zerlegen die Insel Kephallenia in zwei nahezu gleich große Hälften, wobei die Westhälfte die Paliki-Halbinsel darstellt und die Osthälfte den Inselrumpf.935 Zwar war die ca. 160 qkm umfassende Eparchie Paliki nächst dem Inselrumpf der flächenmäßig größte und historisch bedeutendste Teil Kephallenias, aber dennoch wurde die Fläche der Halbinsel aufgrund ihres Bevölkerungsreichtums stets überschätzt. In diesen Kontext fügt sich die Angabe der Odyssee, wonach das kephallenische Samos auffällig viele adlige Freier entsandte, nämlich mehr als die Insel Zakynthos und fast halb so viele wie das mächtige Dulichion, das als die Insel Kerkyra identifiziert werden konnte.936 Diese Zahlenrelation ist indes nicht willkürlich, denn die Halbinsel Paliki, die „das ergiebigste, wertvollste Stück des ganzen Kulturlandes von Kephallenia“ ist,937 hatte aufgrund ihrer äußerst fruchtbaren Böden stets eine hohe Bevölkerungsdichte. Der römische Historiker Polybios charakterisiert die Paliki-Halbinsel als „ein getreidereiches Land, das ein Heerlager ernähren kann“, und so landete dort im Jahr 218 v. Chr. der Makedonenkönig Philipp V., um seine Streitmacht während des Feldzuges gegen Rom zu verproviantieren. Als die Makedonen jedoch versuchten, die Hauptstadt der Halbinsel namens Pale zu erobern und bereits durch Mineure eine Bresche in die Stadtmauer gelegt hatten, wurden sie von den wehrhaften Bürgern zurückgeschlagen!938 In den gängigen Odyssee-Übersetzungen scheint beim kephallenischen Samos auf den gerühmten Getreidereichtum der Halbinsel nichts hinzuweisen: So wird das Adjektiv pai-paloeis (παι-παλόεις), das Samos dreimal führt,939 von aipys (αἰπύς) abgeleitet und als „rauh“ bzw. „felsig“ gedeutet,940 weil der Inselraum der Kephallenen als landschaft932 MARINATOS, Kephallenia 84. 933 PARTSCH, Kephallenia 90. Karl Wilhelm WIEBEL (18) spricht von der „theils sumpfigen Samoli-Ebene“ und der zeitweiligen „Ueberfluthung“ der „Tiefebene bei Samoli“. 934 Strab. 10,2,15. – Robert BITTLESTONE gründet seine Ithaka-Theorie darauf und spricht stets von „Strabo’s Channel“ (so sei Paliki noch in der Antike eine Vollinsel gewesen: das homerische Ithaka!), obwohl es den nie gab und Strabon auch nicht davon spricht! 935 Siehe z. B. die Kephallenia-Karte von ORTELIUS um 1570 (abgedruckt in GALLAS 28). Noch im frühen 19. Jh. erscheint auf der Kephallenia-Karte des britischen Inselgouverneurs DE BOSSET die Paliki-Halbinsel in auffälliger Überbreite (s. COSMETATOS 2). 936 Od. 16,246–251. 937 PARTSCH, Kephallenia 90. Der Name „des Landes, Paliki, nennt den fetten Boden (griechisch Pelós), aus dem sein Wohlstand emporwuchs“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 520). 938 Polyb. 5,3–4. 939 Od. 4,671, 845; 15,29 (παιπαλοέσσα = παιπαλόεις). 940 BENSELER (676) erklärt nur unter Vorbehalt: „παιπαλόεις, ep. angeblich rauh, unwegsam, oder zackig zerklüftet“. „Die Ableitung ist aber schwierig und der Zusammenhang mit αἰπύς, das man gew. als Stamm annimmt, unklar … Die Meinungen der alten Grammatiker u. E. M. sind sehr verschieden und unhaltbar, auch die Ableitung von πάλη, wie δυσπαλής, rauh, mühsam, schwierig, ist unhaltbar“ (PAPE II 419). Obwohl PAPE (a. a. O.) παιπαλόεις „richtiger auf πάλλω zurückführt“, stellt er fest, dass παιπαλόεις auch ein „Homerisches Beiwort von ὄρος“ ist (vgl. Ilias 15,17; Imbros: 24,78; Ithaka: Od. 4,845 u. a.); als solches bedeutet es „gewiß rauh, schroff, jäh, denn die genannten Inseln sind alle felsig“.

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1. Die Ithaka-Antwort

lich „rauh“ (τρηχύς) gilt.941 Bemerkenswert ist, dass in der Odyssee auch die Ägäisinsel Chios das Adjektiv pai-paloeis führt,942 ebenso im Homerischen Hymnos an Apollon, und zwar in den berühmten Worten, die auf Homer bezogen werden: Er „ist ein blinder Mann, er wohnt im staubigen Chios“.943 Weil aber Chios ist keineswegs karg ist, sondern sehr fruchtbar und – wie der Dichter hervorhebt – sogar „die fetteste unter den Inseln im Meere“,944 wird dasselbe Adjektiv, das in der Odyssee das kephallenische Samos führt, im Homerischen Hymnos von pai-pale (παιπάλη) abgeleitet und mit „[mehl-] staubig“ übersetzt.945 Aber nicht nur auf Chios, sondern auch auf der Paliki-Halbinsel „waltete der Getreideanbau im Altertum augenscheinlich vor“, und „namentlich auf den Münzen von Pale, dessen Feldmark die fruchtbarste war, erscheint Persephone im Ährenkranz oder eine Gerstenähre mit langen Grannen“.946 Deshalb empfiehlt es sich, auch beim kephallenischen Samos das Adjektiv pai-paloeis von pai-pale („feiner Mehlstaub“) abzuleiten,947 und somit von der „feinmehligen Samos“ zu sprechen. Ein Nachhall des homerischen pai-pale, das eine Steigerung von pale (πάλη: „Mehlstaub“) darstellt,948 ist offensichtlich der Ortsname Pale (Πάλη), den die antike Hauptstadt der Paliki-Halbinsel trug! Die außergewöhnliche Fruchtbarkeit der getreidereichen Paliki-Halbinsel führte schon in frühhistorischer Zeit zur kulturellen Blüte, wovon die spätmykenischen Grabanlagen von Kondogenada und Monopolata zeugen.949 941 So charakterisiert Odysseus das homerische Ithaka mit τρηχύς (Od. 9,27 u. 10,417; ebenso Athene: 13,242). Wenn auf Ithaka auch Wege mit dem Wort παιπαλόεσσα bezeichnet werden (Od. 17,204), ist es nicht leicht zu entscheiden, ob die Wege ‚steinig‘ oder ‚staubig‘ sind, oder eben beides (vgl.a. Od. 10,97, 148, 194). In der Ilias (17,743 f.) steht: „Wie die Maultiere stark mit beharrlichen Kräften, hoch von den Bergen herab auf steinigem (παιπαλόεσσαν) Pfade den Balken schleppen …“; hier wird die Bedeutung wohl ‚steinig‘ sein (wohl auch beim höchsten Gipfel von Samothrake: Ilias 13,17). Indes, wenn in Ilias (12,167 f.) „die Bienen am zerklüfteten (παιπαλοέσση) Weg ihr häusliches Nest sich bereiten“, ist der Weg wohl eher trocken-staubig als felsig-steinig, um dem Nestbau der ‚Sand- und Erdbiene‘ (Andrena flavipes) förderlich zu sein. 942 Od. 3,170. 943 Hom. h. 3,172. 944 Hom. h. 3,38. – In der Ilias (13,33 u. 24,78) wird auch die Ägäisinsel Imbros als παιπαλόεσσα bezeichnet; immerhin weist Strabon (14. Buch, § 3) auf „die grosse Fruchtbarkeit des Gebiets der Stadt Imbros“ hin. Jedoch ist in dem Vers Ilias 24,78 (μεσσηγὺς δὲ Σάμου τε καὶ Ἴμβρου παιπαλοέσσης) Imbros treffender als ‚felsig‘ zu verstehen, weil das ägäische Samos eher als Imbros die Bezeichnung παιπαλόεσσα verdient hätte. 945 BENSELER (676): „παιπάλη, poet. sp. feines Mehl, Mehlstaub“. „DOEDERLEIN (Hom. Gloss. § 2362) leitet dasselbe von παιπάλη (Mehl, Aristoph. Nub. 262) ab und erklärt es: ‚voll Staubes’“ (BUCHHOLZ 147, Anm. 10). 946 PARTSCH, Kephallenia 96. 947 „παιπάλη (vgl. πάλη), das feinste Mehl, Mehlstaub“ (PAPE II 419). Das Wort πάλη bedeutet in παι-πάλη „das feinste, durchgesiebte Mehl“, und „besonders der feine Staub, mit welchem sich die Ringer, nachdem sie sich mit Oel gesalbt hatten, vor dem Ringkampf bestreuten, damit die Hände nicht von den durch Oel schlüpfrig gewordenen Gliedern abglitten; Ringerstaub vgl. Xen. an. 4,8,26“ (PAPE II 424). Deshalb bedeutet πάλη auch „das Ringen, der Ringkampf “ (u. a. Od. 8,206). 948 „παιπάλη, intensivum von πάλη, Mehlstaub“ (GEMOLL 563). So ist παιπάλη „auch von πὰλλω, nach Schol. Il. 10,7“ abzuleiten (PAPE II 424). 949 MARINATOS, Kephallenia 11; die Gräber „stammen aus jener Zeit, die durch die Sage unsterblich wurde, … deren Höhepunkt der Kampf um Troja ist“ (a. a. O.).

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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Erwähnt sei, dass kein griechischer Hafen näher an der Ostküste Siziliens liegt als Pale, und so profitierte diese westkephallenische Hafenstadt vom Überseeweg, der sie mit den zu homerischer Zeit aufstrebenden Hafenstädten an der Ostküste Siziliens verband. Denn „wer von Pale abends ausfuhr und am Morgen noch die Sonne hinter dem scharfen Kamme des Aenos emporsteigen sah, konnte beim Anbruch der nächsten Nacht schon die vom Glutschein der Lava durchleuchtete Dampfsäule des Ätna am westlichen Horizont als erstes Anzeichen der Nähe Siziliens begrüßen“.950 Der Überseehandel mehrte den Wohlstand der Hafenstadt Pale beträchtlich, und aufgrund dessen hebt die Odyssee „den berückenden Reichtum“ des Freiers Ktesippos aus Samos hervor.951 Der Wohlstand und die Bevölkerungsdichte der westkephallenischen Halbinsel schlägt sich, wie bereits erwähnt, auch in den zahlreichen herrschaftlichen Freiern der Penelope nieder, die aus Samos stammten.952 In diesem Kontext sei darauf hingewiesen, dass Laertes seine Tochter Ktimene, also die einzige Schwester des Odysseus, „gegen reichlichstes Brautgeld nach Samos“ verheiratet hat,953 und so dürfte die Heirat der Ktimene in den samischen Hochadel der Grund dafür sein, warum von den immerhin 24 Freiern aus Samos keiner von königlichem Geschlecht war.954 Infolge des Bevölkerungsreichtums rangen die Bewohner von Pale und ganz Palikis in historischer Zeit ständig mit denen des Inselrumpfes um die Hegemonie im kephallenischen Inselraum: Im Altertum konkurrierten die korinthische Kolonie Pale und das von Athen dominierte Krane um die Macht auf Kephallenia,955 im Mittelalter und in der Neuzeit deren Nachfolgestädte, nämlich Lixouri einerseits und A.Georgios bzw. Argostoli andererseits. Noch während der venezianischen Herrschaft über Kephallenia hat Lixouri mit Argostoli „lange erfolgreich gewetteifert. Dann ist es durch die Verlegung der Behörden nach Argostoli immer entschiedener auf den zweiten Rang zurückgedrängt worden“.956 Diese Rivalität bestand im kephallenischen Inselraum wohl auch schon zur Zeit des Odysseus bzw. im homerischen Zeitalter, und deshalb ist anzunehmen, dass weder Laertes noch sein Sohn Odysseus ohne das Wohlwollen der Bewohner Palikis zum Hochkönig der Kephallenen avancieren konnten. Sicherlich aus diesem Grund betrieb Laertes eine kluge Heiratspolitik und verehelichte seine einzige Tochter

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PARTSCH, Kephallenia 40.

Od. 20,288; vgl.a.15,367. Od. 16,249. Od. 15,367. Od. 16,250. So wird von den vielen Freiern aus Samos nur der reiche Ktesippos namentlich genannt (Od. 20,288, 303; 22, 279, 285). 955 So landeten v. a. im 5. v. Chr. wiederholt mächtige Truppenkontigente der Korinther und Athener auf Kephallenia. Hervorzuheben ist die athenische Flottenexpedition unter Tolmides im Jahr 456 v. Chr. (mit 50 Trieren und 4.000 Hopliten) sowie im Spätsommer 431 die Landung der Korinther (mit 40 Schiffen und 1.500 Hopliten), die jedoch durch den Widerstand der Bewohner von Krane zurückgeschlagen wurden (BIEDERMANN 22 ff.). 956 PARTSCH, Kephallenia 91. – Vor gut zweihundert Jahren schrieb J. P. BELLAIRE (160): „Ungeachtet Lixuri [vom Rang her] nur die zweite Stadt der Insel ist, so ist sie doch größer und volkreicher als Argostoli“; wohl weil noch etliche Kephallenen im „Borgo“, d. h. auf dem Festungsberg wohnten, der unter venezianischer Herrschaft die Inselhauptstadt war.

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1. Die Ithaka-Antwort

Ktimene, die jüngere Schwester des Odysseus, ins kephallenische „Samos gegen reichliches Entgelt“, wie das Epos anmerkt.957 In der klassischen Zeit des Altertums wurden die Bewohner der Hafenstadt Pale in Verbindung mit den homerischen Dulichiern gebracht,958 die in der vorliegenden Studie bereits als die Bewohner der Insel Kerkyra (Corfu) identifiziert werden konnten. Kerkyra galt im Altertum fälschlicherweise, aber von den frühen Kolonisten sicherlich bewusst forciert, als das wunderbare Land der homerischen Phaiaken.959 Somit ging dem homerischen Inselnamen Dulichion sein ursprüngliches Bezugsobjekt verloren, und dies war die Voraussetzung dafür, dass den Namem schon Pherekydes (6. Jh. v. Chr.) mit der Paliki-Halbinsel in Verbindung brachte.960 Aber aus welchem Grund wurde, wie auch der antike Reiseschriftsteller Pausanias erzählt, der homerische Inselname Dulichion ausgerechnet auf Paliki bezogen? Diese Verwechslung dürfte nicht willkürlich geschehen sein, denn sowohl Kerkyra als auch Paliki sind die westlichsten Inselkörper (ausgenommen Eilande) des griechischen Erdraumes, beide waren ausgesprochen getreidereich,961 und beide wurden (wie auch die Festlandshalbinsel Leukas) von der korinthischen Kolonisation geprägt. Der westkephallenische Hafen Pale diente nämlich den von Korinth ausgesandten Kolonisten als Zwischenstation auf dem Seeweg nach Syrakus auf Sizilien,962 und so tragen einige Münzen Pales die Prägezeichen Korinths, nämlich den Pegasos und das Koppa.963 Also insbesondere die kolonisatorische Kommunität der westgriechischen Inselkörper Kerkyra und Paliki dürfte Jahrhunderte später zur Verwechslung des homerischen Inselnamens Dulichion geführt haben. Das Relief von Paliki öffnet sich binnenkephallenisch, weil der langgestreckte Livadi-Golf, der die Halbinsel vom Inselrumpf Kephallenias trennt, „ein nur 27 m unter den Meeresspiegel hinabreichendes Längsthal“ ist, das erst im Quartär überflutet wurde.964 An dem schlauchförmigen Golf lag allzeit die Hauptstadt der Halbinsel, und „der städtische Mittelpunkt für die Halbinsel Paliki musste immer im südlichen Teile des Golfes liegen, nahe der offenen See, gegenüber dem Eingang des Golfes von Argostoli“,965 in dessen Einzugsbereich stets die kephallenische Hauptstadt lag. Die einander gegenüberliegenden

957 Od. 15,363 ff. 958 Paus. 7,15,7. Strab. 10,2,14. Hesych. s.v. Δουλίχιον. 959 Erwähnt sei, „daß schon die ersten Auswanderer aus Euboia die Phaiaken für die Ureinwohner Korkyras hielten“ (EITREM, Phaiaken 1529,25 ff.), und „dies haben die griechischen Bewohner seit ältester Zeit geglaubt“ (ders. 1531,7 f.). Aber „Scheria ist keine Insel [Od. 5,34; 6,8; 7,79; 13,160]. Schon dies einzige Merkmal vernichtet die ganze Erklärung“, Kerkyra sei das Phaiakenland (WELCKER 42). 960 „Neither is Paleis called Dulichium by the poet [Homer], as Pherecydes writes“ (STRABON 10,2,14; übersetzt von Horace L. JONES V 49). 961 Dulichion wird wiederholt als „weizenreich“ bezeichnet (Od. 14,335; 19,292). 962 Unbestritten ist, „daß für diese kürzeste Verbindung zwischen Korinth und seiner blühendsten Kolonie Syrakus Kephallenias westlichster Hafen, Pale, den vorteilhaftesten Stützpunkt bot“ (PARTSCH, Kephallenia 40). 963 BIEDERMANN 19 f., 23, 25. 964 PARTSCH, Kephallenia 24. 965 PARTSCH, Kephallenia 90.

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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Siedlungsschwerpunkte Palikis und des Inselrumpfes waren immer durch eine Fähre verbunden,966 weil eine über den gebirgigen und teils versumpften Isthmos passierbare Landverbindung erst im 19. Jh. geschaffen wurde. Aber die kurvenreiche neuzeitliche Trasse kann den Verkehr nicht binden, da sie etwa fünfmal länger als der Seeweg ist. Deshalb wird der Personen- und Güterverkehr zwischen den beiden größten kephallenischen Städten, Argostoli und Lixouri, auch in der Gegenwart mittels pendelnder Fähren bewältigt.967 Auf diese von „Fährleuten“ (porthmes, πορθμῆες) bediente Fährverbindung, die den Golf (porthmos, πορθμός) zwischen dem kephallenischen Samos und Ithaka-Stadt überbrückte968 und damit die beiden wichtigsten Siedlungs- und Wirtschaftszentren der Kephallenen verband, weist bereits die Odyssee hin. Die Fähre benutzte regelmäßig auch Philoitios, „der Oberaufseher der Rinder im Volke der Kephallenen“, um Schlachtvieh und Opfertiere zum Palast des Odysseus zu bringen.969 Da also das kephallenische Samos der Odyssee mit der Paliki-Halbinsel zu identifizieren ist, ist die dichterische Darstellung geographisch plausibel, denn durch die Fährverbindung addieren sich die beiderseitigen Landwege, die mit dem Vieh zurückzulegen waren, nur auf wenige Kilometer. Aber warum führte der kephallenische Oberaufseher der Rinder sein Amt insbesondere auf Samos, also auf Paliki? Eben weil auf der Paliki-Halbinsel „sumpfige Niederungen und weite Wiesengründe“, die v. a. der intensiven Rinderzucht dienten, das langgezogene Ufer des Livadi-Golfs begleiten.970 Bei Zugrundelegung der etablierten Theaki-Ithaka-Theorie wird dagegen angenommen, die homerische Fährverbindung der Kephallenen, die auch Rinder transportierte, habe die sog. Polis-Bucht (an der Nordwestküste des heutigen Ithaka) mit der Acheloos-Ebene auf dem akarnanischen Festland verbunden.971 „So würden nach homerischen Sprachgebrauch nicht πορθμῆες, sondern ναῦται die Überfahrt besorgt haben“,972 denn die „Entfernung ist für einen regelrechten Fährbetrieb zu groß“.973 Vom Hafen der Polis-Bucht im Nordwesten Theakis, an welcher die Stadt des Odysseus meist veror-

966 „Die älteste mir bekannte urkundliche Erwähnung fällt ins Jahr 1534“ (PARTSCH, Kephallenia 91, Anm. 1). 967 Die 5 km lange Fährstrecke erspart „einen Umweg von fast 30 km“ (KANZLER/SIEBENHAAR 174). 968 Das Wort πορθμός bezeichnet in der Odyssee (4,671; 15,29) nur den Sund zwischen Ithaka und Samos, und so dürften die πορθμῆες (20,187) der Kephallenen auf diesem Sund die Fähre bedienen. „Die πορθμῆες fahren also über den oft erwähnten πορθμός“ zwischen Ithaka und Same (ROBERT 42). 969 Od.20,185 ff., 209 ff. Der die Fähre nutzende Philoitios war nämlich Oberaufseher der Rinder „im Volke der Kephallenen“ (Od. 20,210), und nicht bloß „im Volke Ithakas“ (19,399). Also, der Dichter siedelt „den Philoitios in Kephallenia an“ (SEECK 307). 970 PARTSCH, Kephallenia 90. „Das Wort [Livadi-Golf] kommt offenbar von λιβὰδιον (λείβω) her und bedeutet ‚Wiesenbucht’“ (BIEDERMANN 4, Anm. 2). Dort sind v. a. die saftigen kephallenischen Weiden, wo die „Rinder in den bessern Thaltriften grasten“ (PARTSCH, Kephallenia 95). 971 U. a. LANG 67. 972 DÖRPFELD, Alt-Ithaka 83. Deshalb kommt Oskar HENKE (III 86) als Befürworter der Theaki-IthakaTheorie auf den Gedanken: „Eine regelmäßig bediente Fähre (Od. 20,187 f.) bestand zwischen Ithake und Leukas. Die Entfernung kann also nur als eine geringe gedacht sein“. 973 HENKE 100. Denn „πορθμεῖς sind Leute, deren Gewerbe es ist, dem Nahverkehr zu dienen“ (WILAMOWITZ, Ithaka-Hypothese 381).

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1. Die Ithaka-Antwort

tet wird,974 bis zur Südküste Akarnaniens müsste das Fährschiff in jeder Richtung über 50 km auf dem Meer zurückgelegen. Und deshalb hätte Homer sicherlich nicht von porthmes (Fährleuten) gesprochen, die nur einen schmalen porthmos (Sund) mit der Fähre überqueren, sondern von nautai, nämlich von Seeleuten. In dem erwähnten porthmos zwischen dem homerischen Samos und Ithaka, also zwischen der Paliki-Halbinsel und dem kephallenischen Inselrumpf, befindet sich ein Eiland namens Asteris,975 auf dem einige Freier per Schiff dem heimkehrenden kephallenischen Kronprinzen Telemach aufgelauert hatten,976 um ihn, von den Kephallenen unbemerkt, auf dem Meer zu töten.977 Da Telemach von Pylos (an der westpeloponnesischen Küste) kommend in seine Heimat zurückkehrte, stellt sich der Dichter das Eiland im Süden des Sundes platziert vor, in Richtung auf das offene Meer.978 Wenn die vorliegende Deutung der homerischen Geographie zutrifft, dann muss das gesuchte Eiland Asteris in dem Meeressund liegen, den der kephallenische Inselrumpf (Ithaka-kranae) im Bereich des Stadtkreises Ithaka mit der Paliki-Halbinsel (Samos) bildet.979 Und tatsächlich befindet sich in dem von beiden kephallenischen Inselkörpern geformten Meerestrichter, der dem schlauchförmigen Livadi-Golf an seinem Südausgang vorgeschaltet ist, eine kleine Insel, die den Namen Vardiani trägt.980 Nun steht aber in der Odyssee, das Eiland läge einerseits „in dem Sund“ zwischen den beiden kephallenischen Inselkörpern,981 und andererseits befände es sich in deren Nähe „mitten im Meer“.982 Diese beiden Aussagen über die Lage des homerischen Asteris scheinen nicht zu harmonieren, doch der Schein trügt. Denn der Golf von Livadi besteht aus dem 13 km 974 Die „Polis“ genannte Ortschaft an der Nordwestküste Theakis „war augenscheinlich der antike Hauptort“ der Insel, der schon in frühgriechischer Zeit von Skylax als „Polis“ bezeichnet wurde (PARTSCH, Kephallenia 59; mit Bezug auf SKYLAX 34). 975 Od. 4,671; 15,29. – Anzumerken ist, dass Asteris nicht nur „zwischen Ithaka und Same liegt, sondern in dem von Ithaka und Same gebildeten πορθμός, also in einem Sunde“ (VÖLKL 66). Der in der Odyssee zweimal genannte πορθμός bezeichnet „die zwischen zwei nahe liegenden Küsten zum Ueberfahren benützten Stellen, also ‚Meerenge, Sund‘. Man bezeichnet z. B. den zwischen Euboea und Attika, zwischen Salamis und dem Festlande liegenden Sund, auch den Hellespont mit diesem Namen“ (MICHAEL 14; mit Verweis auf Soph., Antig. 1145; Hdt. 8,16; Aeschy., Pers. 69). 976 Od. 4,669–671, 842–847; 15,28–30. 977 Od. 2,332 f.; 4,667 ff.; 15,27 f.; 300; 16,400 f.; 17,251 f.; 20,241–246; 22,53. 978 „Asteris muß südlich am Sunde seyn!“ (VÖLCKER 71; mit Bezug auf Od. 4,842–847 u. 15,292–299). Dem pflichtet u. a. RÜHLE (62) bei: „Dass Asteris auf dem südlichen Endpunkte des Sundes gelegen haben müsse, ist ganz richtig“ aus der Odyssee erschlossen. 979 In den Versen Od. 4,671 u. 15,29 heißt es gleichlautend: „Im Sund zwischen Ithaka und dem feinmehligen Samos“. Da das Asteris-Szenario im südlichen Teil des Sundes spielen muss und die Paliki-Halbinsel (das homerische Samos) insbesondere im Süden getreidereich (fein-mehlig) ist, gehört die gegenüberliegende Küste des Sundes zum Stadtkreis von Ithaka (in der Antike zur kephallenischen Inselhauptstadt Krane), und deshalb bezieht sich in den beiden Versen der Name Ithaka auf Ithaka-Stadt (bzw. auf den kepallenischen Inselrumpf Ithake kranae). 980 „Seit dem 13. Jh. wird in Karten und Portulanen die Insel Bardare, Vardiani (mit Sancta Maria), Vardani, Livardani, Liverda, Livarda, Bardianoi genannt“ (SOUSTAL 121; mit Literaturangaben). Das Eiland liegt 38°08’07’‘ N und 20°25’30’‘ O. (s. GOOGLE Earth). 981 Od. 15,29. 982 Od. 4,845 (vgl. 16,367). Asteris liegt μεσσηγύς zwischen Ithaka und Samos im Meer; das heißt aber nicht, dass Asteris exakt „mitten“ in dem Sund liegt, denn μεσσηγύ bzw. μεσηγύ bedeutet entweder (absolut) „in der Mitte“ oder (relativ) „dazwischen“ (BENSELER 587); vgl. Od. 22,442.

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

143

langen, schlauchförmigen Innenteil, den einerseits die geradlinige Ostküste Palikis und andererseits der kephallenische Inselrumpf formt, sowie aus dem südlich vorgelagerten und trichterförmigen Außenbereich, in welchem sich das Eiland Vardiani befindet.983 Somit begrenzt das sich als homerisches Asteris anbietende Eiland Vardiani den „Vorhof des Livadi-Busens“, der sich zwar zum Ionischen Meer hin weit öffnet, aber topographisch und geologisch zum Livadi-Golf zählt. Der gesamte Sund besteht also aus maritimen „Vorhof “ und binnenländischem „Busen“,984 und deshalb befindet sich das Eiland Vardiani sowohl im Sund als auch im offenen Meer, wie es das Epos vom homerischen Asteris verlangt. Die Odyssee berichtet über das Eiland Asteris, „daß die Späher tagsüber ἐπ᾽ ἄκριας ἠνεμοέσσας (über die windigen Höhen hin verteilt) Ausschau hielten“, und hier liege in der Dichtung ein Fehler vor, „da ein von Homer ausdrücklich als οὐ μεγάλή [nicht groß, „also recht klein“] bezeichnetes Eiland unmöglich viele ἄκριες gehabt haben kann“.985 Dagegen entspricht das kephallenische Eiland Vardiani, das von schroffen Felsabbrüchen gesäumt ist, die bis zu 34 m hoch sind, der Aussage des Freiers Antinoos, auf dem homerischen Eiland Asteris gebe es felsige Höhen, die weiten Umblick gewähren. Vardiani liegt im „Vorhof des Livadi-Busens“ etwas nach Westen versetzt, sodass Telemach bei seiner Heimkehr vom Peloponnes die kleine Insel auf der Ostseite passiert hätte. So wussten die Freier, deren Späher tagsüber auf den Höhen von Asteris Ausschau hielten und nachts mit dem Schiff im Meeressund lauerten, auf welcher Seite der kleinen Insel sie nachts kreuzen mussten, damit ihnen Telemach nicht entwischt. Das ca. 0,5 qkm Fläche umfassende Eiland Vardiani986 weist heute die Ruinen von wenigen Häusern und zwei Klöstern auf,987 sowie den Stumpf eines von Engländern erbauten Leuchtturms,988 den ein Erdbeben fällte und dessen Funktion ein elektrisches Leuchtfeuer übernommen hat. Die Geographen Ptolemaios und Plinius erwähnen das Eiland Vardiani unter den Namen „Letoa“ bzw. „Letoia“.989 Diese antiken Inselnamen be-

983 PHILIPPSON/KIRSTEN II 504. 984 PARTSCH, Kephallenia 79. Ohnehin ist der „Livadi-Busen“ bzw. Livadi-Golf oder Sund ein Meeresarm, denn der „westliche Teil der Insel“ wird „durch das von Süden tief einschneidende Meer vom östlichen getrennt“ (MICHAEL 10). – Der Livadi-Golf beginnt „von Süden her hinter den Inselchen H. Nikolaos und Vardiani (Letoia d. A.; diese mit Leuchtturm)“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 504). 985 GRÖSCHL 27; mit Bezug auf Od. 4,846; 16,365. – Aber die „windigen Höhen“ des „felsigen“ Eilandes Asteris (Od. 4,844; 16,365) sind „nichts Besonderes, denn ἄκριες bedeutet sicher auch hier nichts Gewaltiges und windig sind bei Homer, wenn es gerade in den Vers paßt, alle Höhen“ (BELZNER 43). 986 Siehe GOOGLE EARTH. – Bei der Identifizierung des homerischen Asteris „ist zu bedenken, dass der Ausdruck οὐ μεγάλη nach griechischem Sprachgebrauch den Begriff der Kleinheit weit mehr verstärkt, als die wörtliche deutsche Übersetzung ‚nicht gross‘ dies thut“ (MICHAEL 14, Anm. 4). 987 „At the centre of the Island was a Monastery dedicated to the Annunciation whose buildings were destroyed in the 1953 earthquakes. The ruins of another monastery, those of St. Nicholas, are also evident“ (COSMETATOS 149). 988 Der im Jahr 1825 erbaute Leuchtturm „was about 85 feet high“, und sein Licht „could, in fine weather, be seen from a distance of 15 to 20 miles“ (COSMETATOS 149; mit Bild). 989 Ptol. 3,13,9; Plin. nat. 4,12,55. „Letoia (Λητωΐα), von Heinrich Kiepert mit dem heutigen Vardiani (Βαρδιάνοι) identifiziert“ (BÜRCHNER, Kephallenia 216,9 f.). Noch die venezianische Seekarte ‚Insulae Maris Ionii‘ bezeichnet Vardiani als „Lotoa quae et Letoea“.

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deuten „die Glänzende“ und sind synonym mit dem homerischen Asteris („Stern“).990 Der sprechende Name des strategisch gut platzierten Eilandes, also der strahlende ‚Stern des Meeres‘, dürfte auf ein Leuchtfeuer hinweisen, das den Seefahrern den Weg aus der Wasserwüste des Ionischen Meeres nach Kephallenia, dem „westlichen Eckpfeiler Griechenlands“,991 wies. Und so erblickte Odysseus, als er – von Westen kommend – nach tagelanger Überquerung des Ionischen Meeres992 nachts in Sichtweite seiner Heimat gelangte, zunächst „die Leute, die brennende Feuer bedienten“.993 Indes, ein derartiger „Leuchtfeuerdienst“ kann im Altertum „grundsätzlich nur dort angenommen und zugestanden werden, wo ein verhältnismäßig zahlreicher und kulturell hochentwickelter Kaufmannstand vorhanden war, dem am sicheren und regelmäßigen Schiffs- und Warenverkehr mit Übersee viel gelegen“ war.994 Solche Kaufleute waren auf dem homerischen Ithaka, d. h. auf Kephallenia, sicherlich zahlreich vertreten,995 und so gab es, wie die Odyssee hervorhebt, „auf dem meerumströmten Ithaka zahlreiche Schiffe, neue und alte“.996 Da Kephallenia einen dem Ionischen Meer zugewandten, äußerst geschützten und süßwasserreichen Naturhafen besitzt und aufgrund des hohen Aenos-Gebirges den Überseeverkehr von und nach Sizilien sowie nach Süditalien terrestrisch stützte,997 profitierten seine Bewohner wirtschaftlich enorm vom Handelsverkehr. Hinzu kommt, dass in vorhomerischen Zeiten, also zur Zeit des mutmaßlich spätmykenischen Heros Odysseus, die Insel Kephallenia – noch vor dem Emporstreben Kerkyras (Corfus) – „ein Stützpunkt des Handels gewesen“ war.998 Also wenn in (vor-) homerischer Zeit im Westen Griechenlands ein Leuchtfeuer betrieben wurde, dann ist es vor dem geschützten Livadi-Golf der Insel Kepallenia anzunehmen, die für den Seeverkehr im Ionischen Meer als westlicher Brückenkopf Griechenlands fungierte. Das „felsige“ homerische Asteris,999 also das dem kephallenischen Livadi-Golf vorgelagerte Eiland Vardiani, besitzt keinen Doppelhafen, wie mancher Interpret meint,1000 sondern zwei natürliche Hafenbuchten,1001 die – der Odyssee zufolge – ausdrücklich

990 991 992 993 994 995

996 997 998 999 1000 1001

Asteris bedeutet „Sterneiland“ (BENSELER 127). „Asteris heisst Sternchen“ (LANG 45). PARTSCH, Kephallenia 23. Od. 10,1 u. 28 ff.; Odysseus segelte von der Insel Aiolia mit Westwind heimwärts. Od. 10,30. – Es handelt sich also nicht um „die Hirtenfeuer der Heimatinsel“, die Odysseus „aus der Ferne über das Meer herüberleuchten sieht“ (BELZNER 57). HENNIG, Geschichte 131. Deshalb gibt es „auf dem meerumströmten Ithaka zahlreiche Schiffe, neue und alte“ (Od. 2,292 ff.). Infolge des Seehandels war Ithaka ein „reicher Demos“ (Od. 14,329) mit einer „geräumigen Hauptstadt“ (Od. 24,468), die „hochberühmt“ war (Od. 16,170; 24,154). Und wohl aufgrund der Bedeutung dieses Handelsplatzes hatte sogar Agamemnon einen Gastfreund in der Hafenstadt Ithaka (Od. 24,102 ff.). Od. 2,292 f. – Deshalb erübrigt sich u. a. die Frage von Richard HENNIG (Geschichte 129), „was solche Seefahrtzeichen auf der Hirteninsel Ithaka für eine Bedeutung gehabt haben sollen“?! PARTSCH, Kephallenia 40 [s. a. o. S. 88]. Vgl. WARNECKE, Lebensnerv 271 ff. PHILIPPSON/KIRSTEN II 420. Od. 4,844. DÖRPFELD, Alt-Ithaka 98 f. Od. 4,846 f. So deutet die Stelle auch STRABON (10,2,16): „In it [Asteris] are harbours safe for anchorage with entrances on either side” (übersetzt von Horace L. JONES V 51).

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„beidseits“ des Eilands liegen.1002 Dementsprechend weist das Inselchen Vardiani zwei Buchten auf, nämlich eine längliche im Westen sowie eine rundliche im Osten,1003 die noch in der Neuzeit als Häfen genutzt wurden. In der Nähe der größeren rundlichen Bucht, die „Sancta Maria“ hieß, „entspringt eine Quelle, welche die Schiffe mit Trinkwasser versorgt“.1004 Der Haupthafen auf Vardiani erscheint seit dem 13. Jh. in lateinischen Portulanen unter dem Namen „Porto Trapano“ und ist in der berühmten Seekarte des Petrus Bertius aus dem Jahr 1616 auf dem Eiland verzeichnet.1005 In der Neuzeit hieß der Hafenort „A. Jorgos, im Norden des im Süden gelegenen Inselchen Vardiani“; dieser gehörte noch Ende des 19. Jahrhunderts zu den „hauptsächlichen Häfen und Reeden“ Kephallenias.1006 Diese Hafenbucht liefen noch bis vor einem Jahrhundert die auf der Italien-Griechenland-Route verkehrenden Linienschiffe an, um nicht unnötig in den tiefen Livadi-Golf und weiter in die gegenläufig abzweigende Bucht von Argostoli hinein- und wieder hinausfahren zu müssen; eine Prozedur, die vor dem Zeitalter der Dampfschifffahrt aufgrund der wechselnden Fahrtrichtungen insbesondere für Segelschiffe zeitraubend war. Stattdessen wurden die Passagiere und Güter auf Vardiani ausgeschifft und von dort mit kleineren Schiffen zu den kephallenischen Hafenstädten Lixouri und Argostoli gebracht. Die größere der beiden Hafenbuchten von Vardiani, die noch zu Beginn des 20. Jhs. stark frequentiert war, öffnet sich nach Norden und ist somit für aus Süden kommende Seefahrer nicht einsehbar, und deshalb hätte der heimkehrende Telemach das Schiff mit den dort lauernden Freiern nicht schon von weitem erblicken können. In spätmittelalterlichen Portulanen und auf frühneuzeitlichen Seekarten erscheint das Eiland Vardiani aufgrund seiner verkehrsstrategischen Bedeutung um ein vielfaches zu groß dargestellt.1007 Denn von dieser kleinen Insel aus wurde die Zufahrt ins geographische und politische Zentrum Kephallenias kontrolliert, nämlich der Seeverkehr zu den beiden wichtigsten Hafenstädten Kephallenias, Lixouri und Argostoli (im Altertum Pale und Krane). So trägt das Eiland seit Jahrhunderten den Namen Vardiani (von 1002 Od. 4,847 (ἀμφί-δυμοι). – Also, „die Häfen von Asteris sind nicht an einer Seite der Insel zu suchen, sondern ‚an beiden Seiten’“ (LANG 39; mit Bezug auf AMEIS-HENTZE zu δ 847). 1003 Da in frühgriechischer Zeit der Meeresspiegel im westgriechischen Inselraum um ca. 4 m tiefer lag (VÖTT/BRÜCKNER 120) und in den vergangenen dreitausend Jahren v. a. die meerseitige Küste des Eilandes erodiert ist, hat sich die Küstenlinie der westlichen Bucht verändert (vgl. GOOGLE Earth; dort ist auch der Inselsockel unterhalb des heutigen Wasserspiegels zu erkennen). 1004 SAUVEUR 185. Die Bucht erhielt ihren Namen aufgrund der benachbarten Marienkapelle. 1005 SOUSTAL 272. – STRABON (10,2,16) sagt bzgl. des homerischen Asteris (das er Asterie nennt): APOLLODOR [um 150 v. Chr.] erwähnt, daß die Insel zu seiner Zeit noch ebenso war, wie der Dichter sie schildert, und er gibt ein Städtchen auf ihr an, Alalkomenai, das gerade auf der Landzunge zwischen beiden Häfen gelegen habe. Diese Angabe, die bei der Theaki-Ithaka-Theorie und bei der Leukas-Ithaka-Theorie unverständlich ist, könnte sich auf Vardiani beziehen. 1006 BÜRCHNER, Kephallenia 198,50 ff. – Der venezianische Statthalter Francesco GRIMANI (30) berichtet im Jahr 1760, im Bereich von Kephallenia gebe es (abgesehen von den Hafenstädten Argostoli und Lixuri) „due gran porti navali; l’uno alla parte d’ostro coperto dal scoglietto Guardiani, che introduce alla riva di Lixuri ed al seno d’Agostoli”. 1007 Siehe z. B. die Kephallenia-Karte von ORTELIUS, um 1570 (abgedruckt in GALLAS 28) oder die Griechenlandkarte von MERCATOR, um 1590 (abgedruckt in: SPHYROERAS/AVRAMEA/ASDRAHAS 42).

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ital. Guardiani), also „Wächterinsel“.1008 So ordnete im frühen 19. Jh. der britische Gouverneur des kephallenischen Inselraumes, Charles Napier, an, dass der hohe Leuchtturm „on the Guardian Island, at the entrance of the harbour of Argostoli [gemeint ist der Livadi-Golf],“ erbaut wird.1009 Dieselbe Funktion erfüllte das Eiland offensichtlich schon im Altertum, wie den prägnanten Worten des Plinius zu entnehmen ist: „ante Cephaleniam Letoia“.1010 Und deshalb wählten die hinterhältigen Freier gerade dieses Eiland aus, um den heimkehrenden Telemach auf der Fahrt zum Stadthafen abzufangen. Damit den Freiern während der nächtlichen Dunkelheit das Schiff des Telemach nicht entging, kreuzten sie zwischen Abenddämmerung und Morgenröte nahe dem Eiland auf dem Meer.1011 Diese Information wird vor dem Hintergrund des auf dem Eiland betriebenen Leuchtfeuers überhaupt erst verständlich, denn man fragt sich, welchen Erfolg eine solche Aktion auf einem mehrere Kilometer breiten Sund (so auch bei der Theaki-Ithaka-Theorie und der Leukas-Ithaka-Theorie) bei mangelndem Mondschein und schlechtem Wetter hat?! Da Telemach bei nächtlicher Heimkehr zur Orientierung Kurs auf das Leuchtfeuer genommen hätte (wie es sein Vater Odysseus von der noch zu untersuchenden Insel Aiolia aus getan hatte), brauchten die des nachts auf dem Meer kreuzenden Freier bloß in ausreichender Entfernung zum Eiland abzuwarten, bis zwischen ihnen und dem Leuchtfeuer das Schiff des Telemach hindurchfuhr. So wäre ihnen das auf dem offenen Meer fahrende Schiff selbst in dunkler Nacht nicht entgangen.1012 Der hinterhältige Plan der Freier scheiterte jedoch am Eingreifen der Göttin Athene, die ihren Schützling Telemach gewarnt und angewiesen hatte, er solle von der Nordwestküste des Peloponnes auf „die erste Landspitze Ithakas“ (also auf die Südostspitze Kephallenias) zuhalten und dort landen, anstatt zum Stadthafen Ithakas weiterzusegeln.1013 Der Anweisung der Athene und der weiteren Handlung ist zu entnehmen, dass „die Landspitze“ des homerischen Ithaka erstens näher am Peloponnes liegt als das Eiland Asteris,1014 und zweitens zwischen Landspitze und Eiland kein direkter Sichtkontakt besteht bzw. die Entfernung zwischen beiden so groß ist, dass das kurzzeitig an der Landspitze ankernde Schiff des Telemach nicht vom Eiland aus erblickt werden 1008 „Vardiáni“ bedeutet „Wächter“ (BÜRCHNER, Kephallenia 198,55). – „An ihrer Mündung [der „Bai“; gemeint ist der Ausgang des Livadi-Golfs] ist eine Klippe [Felsinsel; ggf. eine schlechte Übersetzung aus dem französischen Original] les Gardiens genannt, auf welcher ein Mönchskloster liegt“ (BELLAIRE 161). 1009 NAPIER, Colonies 214. Der hohe Leuchtturm auf Vardiani („Guardian Island“) ist zu unterscheiden von dem kleineren auf der Spitze der Halbinsel Lassi, am Eingang der Bucht von Argostoli (ders. 216). 1010 Plin. nat. 4,22,55. 1011 Od. 16,366 ff. 1012 Zumal sich Schiffe über 1 sm von der südwestkephallenischen Küste entfernt halten müssen, da sich dort „zwischen Land und Meer eine Übergangszone von Klippen und Inselvorposten einschaltet“, die „als Merkzeichen untiefen Wassers von den Küstenfahrern gemieden“ wird (PARTSCH, Kephallenia 79). 1013 Od. 15,27–37. – Eine signifikante πρώτη ἀκτή, die in Richtung Elis gerichtet ist, weisen weder Leukas noch das heutige Ithaka (Theaki) auf. So kann die in der Leukas-Ithaka-Theorie ausgewiesene Landspitze „nicht gut als πρώτη bezeichnet werden“, und auch bei der Theaki-Ithaka-Theorie ist fraglich, wo Telemach „im Südosten oder Süden von Ithaka landete“ (GRÖSCHL 29). 1014 Die Anweisung Athenes, Telemach soll „an der ersten Spitze Ithakas“ landen (Od. 15,36), da ihm im Sund bei Asteris die Freier auflauern (Od. 15,28 ff.), setzt diese Lagebeziehung voraus.

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konnte.1015 Auch dieser Sachverhalt trifft bei Zugrundelegung des Eilands Vardiani zu, wie die Seekarte verdeutlicht. Nach dem Morgenmahl an der Südspitze Ithakas (Kephallenias) wies Telemach, der sich allein zum Hof des Eumaios begab, seine Gefährten an, das Schiff zum Stadthafen zu rudern und keine Segel zu setzen.1016 Dadurch sollte das Schiff möglichst lange von den Freiern unbemerkt bleiben, denn die auf Asteris lauernden Freier und deren Späher waren sehr aufmerksam, damit ihnen das heimkehrende Schiff nicht entkam.1017 Der konkrete geographische Rahmen illustriert den Ablauf des Geschehens völlig plausibel, und zwar unabhängig davon, ob die Handlung fiktiv ist oder auf einer historischen Vorlage beruht: Die Freier, deren Schiff versteckt in der Hafenbucht des Eilandes Vardiani lag, erwarteten wohl, dass das Schiff des Telemach mit gesetzten Segeln auf offener See im Vorfeld des Livadi-Golfs vorbeifuhr. Da die Späher auf dem Eiland während der Morgen- und Vormittagsstunden, in denen das gesuchte Objekt den Seeraum passierte, erstens südostwärts gegen die Sonne blickten,1018 und zweitens Telemachs „schwarzes Schiff “1019 ohne Segel und mit niedergelegtem Mast im Schatten der schroffen kephallenischen Küste entlang gerudert wurde,1020 hatten die Späher das Schiff zu spät bemerkt,1021 nämlich als es schon etwa die gleiche geographische Breite erreicht hatte. Das Abfangen war nun kaum noch möglich, da die verbleibende Strecke zum Stadthafen für das Telemach-Schiff etwas kürzer als für das Schiff der Freier war. Ja, selbst wenn die Freier den geringen Vorsprung hätten aufholen können und Telemach an Bord geblieben wäre, wäre das hinterhältige Unternehmen mißlungen: Denn bei geglückter Verfolgungsjagd hätte das Telemach-Schiff bereits die Einfahrt der länglichen Bucht von Argostoli erreicht, und dort, in Sichtweite der Stadt, hätten die Freier das Schiff nicht mehr überfallen dürfen, da sie den feigen Mord heimlich durchführen wollten und mussten.1022 Deshalb kehrten die Freier zwar verärgert, aber ohne Eile in den Stadthafen zurück und trafen dort deutlich später ein als das Schiff des Telemach.1023 Die Vorgänge um das Eiland Asteris wurden hier detailliert dargelegt, um zu demonstrieren, dass die homerischen Informationen geographisch erstaunlich stimmig sind. 1015 Die frühmorgendliche Landung des Telemach-Schiffs an der Südspitze Ithakas (Od. 15,494 ff.) hatten die Freier nämlich nicht bemerkt (Od. 16,322–370). 1016 So blieben die Segel eingeholt und der Mastbaum niedergelegt (Od. 15,496 f.), und die Gefährten des Telemach „besetzten die Ruderbänke“ (Od. 15,549). Vermutlich hätte die Mannschaft, wie kurz zuvor, auch segeln können (Od. 15,291 f.), aber mit ungesetzten Segeln und niedergelegtem Mastbaum (Od. 15,496 f.) konnte das Schiff von den Spähern der Freier längere Zeit unbemerkt an der Küste entlanggerudert werden (vgl. Od. 16,365 f.). 1017 Od. 16,365 ff. 1018 Vgl. Od. 15,495, 503, 549. 1019 Od. 15,503. 1020 Od. 15,495 ff., 503, 547 ff.; 16,356 f., 471 ff. 1021 Schon LANG (43) wies darauf hin, dass die Freier „ihr Augenmerk nach der Mitte des Sundes richteten und nach einem Segelboot ausspähten und so das unscheinbare Ruderboot am Lande zu spät beachteten“. 1022 Od. 2,332 f.; 16,346 f., 371 ff., 400 ff.; bes. 10,383 u. 435 ff. 1023 Od. 16,346–357; vgl. 322 ff.

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Derartige topographische Überlegungen sind aber laut Ulrich von Wilamowitz unnötig, denn „die Insel Asteris hat doch der Mann [letzter Bearbeiter] allein einmal genannt, der die armen Freier viele Tage lang auf Lauer legen mußte … Vorher gab es Asteris weder in dieser noch in jener“ Telemachie;1024 das Eiland sei also Fiktion. Indes, sogar der antike Geograph Apollodoros berichtet, das homerische Asteris „bestehe noch jetzt so, nennt aber auf dem Eiland, wie Strabo sagt, das auf dem Isthmos selbst liegende Städtchen Alalkomenas (Ἀλαλκομενάς) oder Alkomenai (Ἀλκομεναί)“.1025 Wenn die Überlieferung stichhaltig ist, kann im kephallenischen Inselraum damit ausschließlich das heutige Eiland Vardiani gemeint sein, das – wie bereits dargelegt – noch im Mittelalter den Hafenort „Porto Trapano“ aufwies. Besonders die Suche nach dem homerischen Eiland Asteris hat allen bisherigen Ithaka-Theorien unlösbare Schwierigkeiten bereitet: Denn weder ist der Insel Theaki (das heutige Ithaka) noch der Halbinsel Leukas (das v. a. Wilhelm Dörpfeld als das homerische Ithaka betrachtete) ein Eiland derart strategisch vorgelagert, dass man es auf der Fahrt vom Peloponnes zum Stadthafen hätte passieren müssen, und das folglich den Freiern einen hervorragend geeigneten Ort für den Hinterhalt böte. So weist Wilhelm Dörpfeld in seiner Leukas-Ithaka-Theorie die zwischen Leukas und Theaki liegende Insel Arkoudi als homerisches Asteris aus.1026 Diese hätte Telemach jedoch auf dem Weg von Elis nach Leukas (Dörpfelds Ithaka) gar nicht passieren müssen, denn „die Entfernung von Arkudi nach Westen ist so groß, daß die Freier Telemachs Schiff überhaupt nicht entdecken“ konnten.1027 Und falls Telemach einen Westkurs nach Leukas gewählt und so den Seeraum der immerhin ca. 5 qkm großen Insel Arkoudi passiert hätte, konnten während der Nächte „die Freier nicht wissen, ob sie östlich oder westlich von ihr kreuzen sollten“.1028 Denn „der Plan der Freier, Telemach bei seiner Rückkehr mit dem Schiffe aufzulauern, hat nur dann einen Sinn, wenn sie ganz genau wissen, auf welchem Wege er zurückkommen muss“.1029 Vor allem aber liegt Arkoudi nicht in einem Sund (πορθμός), wie es die Odyssee vom Eiland Asteris verlangt.1030

1024 WILAMOWITZ, Ithaka-Hypothese 382. Immerhin wendet Emil HERKENRATH (1269, Anm. 10) ein: „Auch Asteris kann angesichts der historischen Asterie [Strab. 10,2,16: Asteria] nicht Erfindung sein; wäre aber Asterie aus antiquarischen Rücksichten auf das Epos so genannt, so sollte man doch meinen, die Leute hätten sich genau an Homer gehalten und Asteris gesagt.“ 1025 HOFFMANN 2073 (mit Bezug auf Strabon 10,2,16). „Apollodoros mentions (in his ships’ catalogue) a small town Alalcomenae upon ‚the island‘, on the the isthmus. Strabon [Geography 10,2. 16] does not make it clear whether Apollodoros meant the isthmus on Kephallenia, or on Ithaca itself, or on the tiny island of Asteris” (Cees GOEKOOP 37). 1026 DÖRPFELD, Alt-Ithaka 92 ff. 1027 ENGEL 39. 1028 MICHAEL 15. 1029 MICHAEL 14. 1030 Od. 15,29. „Die Anhänger Dörpfelds sehen sich deshalb genötigt, dem Worte πορθμός eine neue Bedeutung zu unterlegen“ (LANG 39). – Bemerkenswert ist der zielführende Gedanke von Josef GRÖSCHL (15), dass der „Meeresarm zwischen den beiden Teilen des heutigen Kephallenia wegen seiner geringen Breite viel mehr Wahrscheinlichkeit für sich hätte als der breite Sund, den Dörpfeld zwischen Leukas und dem Festlande voraussetzt“.

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Dagegen befindet sich das Asteris der etablierten Theaki-Ithaka-Theorie, bei dem es sich um eine flache Felsscholle namens Daskalio (von ital. da scoglio = Felsen) handelt, die der nordkephallenischen Halbinsel Erissos vorgelagert ist, tatsächlich in einem Sund. Dieser verläuft zwischen den Inseln Kephallenia und Theaki und wird als ‚Ithaka-Kanal‘ bezeichnet. Jedoch liegt Daskalio für die Aktion der Freier strategisch ungünstig, weil es sich zu weit nordwestlich befindet.1031 Deshalb positionieren namhafte Befürworter der Theaki-Ithaka-Theorie die Felsscholle auf dem Kartenbild zweckdienlicher etwas weiter südostwärts.1032 Zudem wird Daskalio, das im Altertum angeblich ein wesentlich anderes Erscheinungsbild bot,1033 groß in Szene gesetzt, denn sie ist „das einzige, auf welches man die Episode vom Hinterhalt der Freier, die dem Telemach auflauern, beziehen kann“.1034 Dennoch taugt die kleine Felsscholle nicht als Schiffsversteck der Freier, wie es der Dichter für das Eiland Asteris verlangt. Die bislang als homerisches Asteris gebotenen Eilande haben zudem ein großes Manko: Weder die Insel Arkoudi noch die Felsscholle Daskalio weisen das Hauptcharakteristikum des homerischen Asteris auf, nämlich einen „Doppelhafen“, der laut Odyssee beidseits des Eilandes liegt.1035 So monierte schon Karl Mannert bezüglich der im ‚Ithaka-Kanal‘ gelegenen Felsscholle Daskalio, dass „man bey diesem Klippen-Inselchen Asterie genannt, nicht einmal eine Stelle um den Anker zu werfen finden könne“.1036 Und Wilhelm Dörpfeld spricht anstatt vom „Doppelhafen“ von „Zwillingshäfen“, um dem Plural von Od. 4,846 (λιμένες ναύλοχοι ἀμφίδυμοι) gerecht zu werden und es auf Arkoudi beziehen zu können.1037 Denn er setzt an der Ostküste Arkoudis seinen Zwillingshafen bei einer kleinen und kaum über den Meeresspiegel ragenden Felsbune

1031 So moniert Peter GOESSLER (50): „Allein das Inselchen, falls man es überhaupt so nennen darf, entspricht nicht bloß nicht der individuellen Beschreibung des Dichters, sondern nicht einmal den Angaben des Dichters über deren Zweck der Besetzung durch die Freier: es liegt zu weit nördlich“. Alle Monita bzgl. Daskalio nennt Walter LEAF (148): „But it lies close to the shore of Kephallenia, it has nothing like a harbour, whether single or double; it has no windy outlook for the watchers; and it is quite out of the track of any vessel coming from Pylos” mit dem Ziel Theaki/Ithaka. 1032 Schon William GELL zentrierte die Felsscholle Daskalio, die der kephallenischen Küste unmittelbar vorgelagert ist, auf seiner Karte mehr zentral im Ithaka-Kanal und vertiefte zudem die gegenüberliegende Polis-Bucht auf Theaki/Ithaka (s. DÖRPFELD, Al-Ithaka 7, Abb. 1: „Die homerische Insel Ithaka-Thiaki, nach W. Gell“). Auch deshalb warf Rudolf HERCHER (263) ihm [Gell] „antiquarische Hallucinationen“ vor. 1033 Josef GRÖSCHL (25) spekuliert, dass durch Erdbeben und Meeresspiegelveränderungen sowie Kalksteinabbau „Dhaskalió früher mindestens 8–9 m hoch war und sich dann zur Warte [für die Freier] trefflich geeignet haben muß“; dennoch hätte Daskalio auch damals keinen Doppelhafen gehabt, „sondern nur unbedeutende Anlegeplätze“. 1034 PARTSCH, Kephallenia 59. Und Joseph PARTSCH (a. a. O.) nimmt an, schon Homer habe ‚aufgeschnitten‘: „… wenn auch der Dichter die kleine Felsscholle etwas [?!] vergrößert und in individueller Ausmalung sie mit zwei Buchten ausgestattet hat, die schwerlich jemals vorhanden waren“. 1035 Od. 4,846 f. 1036 MANNERT 94. – Die Felsscholle Daskalio ist laut SCHLIEMANN (Ithaka 69) fast 99 m lang und bis zu 32 m breit (vgl. GOOGLE EARTH). 1037 DÖRPFELD, Alt-Ithaka 98 f. Man kann sich nur wundern, dass Walter LEAF (152) Wilhelm DÖRPFELD bind vertraut: „Arkudhi, exactly answering to what Homer says”, so weise die Insel „a little doble harbour“ auf.

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an, auf der man an zwei Seite anlegen könne.1038 So irrt u. a. Oskar Henke, dass „Arkudi wirklich zwei Häfen hat“,1039 wie der heutige Leser schnell auf ‚Google-Earth‘ überprüfen kann. Auf die Problematik der Identifizierung des homerischen Eilandes Asteris wurde hier detailliert eingegangen, denn „als letzten und zugleich stärksten Beweis für seine Theorie führt Dörpfeld die Insel Asteris an, die überhaupt in der ganzen [Ithaka-] Frage eine wichtige Rolle spielt“.1040 Aufgrund der Probleme, die das homerische Eiland, auf dem die Freier dem Telemach auflauerten, allen bisherigen Ithaka-Theorien bereitet, ließ Heinrich Schliemann das homerische Eiland Asteris „dem Südende Ithaka’s gegenüber … in Folge eines Erdbebens“ im Meer verschwinden.1041 Und Adrian Goekoop (er war der Gönner Dörpfelds für dessen Ausgrabungen auf Leukas)1042 schuf aus Verlegenheit ein Eiland Asteris ex nihilo, das er sogar schamlos auf seiner Karte des westgriechischen Inselraumes projizierte.1043 Etliche Philologen, namentlich Edzard Visser, werden dadurch in ihrem Zweifel an der geographischen Existenz des Eilandes bestätigt: „Wahrscheinlich ist Asteris eine poetische Fiktion, die dazu dient, den Hinterhalt der Freier konkreter faßbar zu machen, weil damit ein klassisches Hinterhaltsszenario aufgebaut werden kann“.1044 Derartige Spekulationen sind jedoch überflüssig, weil das homerische Eiland durchaus in der geographischen Realität vorhanden ist, und zwar – wie dargelegt – in der vom Dichter beschriebenen Art und Weise. Und dieser Sachverhalt beantwortet die zögerliche Suggestivfrage von Ulrich von Wilamowitz, ob „nicht gar Asteris real“ sei?!1045

1038 Zwar hat Arkoudi somit „eine Art doppelten Anlegeplatz“ (BELZNER 51), aber „‘schiffebergende Häfen‘ sind diese Anlegeplätze nicht“ (ders. 46, Anm. 1). Dennoch schreibt Heinrich RÜTER (20): Arkoudi „ist 135 m hoch und hat im Südosten einen Doppelhafen, wie ihn Homer (Od. IV 846) erwähnt, gebildet durch die Halbinsel Podi“. 1039 HENKE 101. Ähnlich positiv äußerst sich Peter GOESSLER 49 ff., der (49) von dem angeblichen ‚Zwillingshafen‘ ein Foto anno ca. 1900 bietet. Aber „an eximination of the coast line, under the guidance of Dr. Dörpfeld, showed, however, no such [“double”] harbour” (GRÖSCHL 26; er zitiert MANLY). 1040 GRÖSCHL 23. 1041 SCHLIEMANN, Ithaka 70. 1042 „Veranlaßt zu dieser [Leukas-Ithaka-] Theorie wurde Dörpfeld hauptsächlich dadurch, daß die Ausgrabungen auf Thiaki, die er 1900 dank der Gönnerschaft eines reichen, für Homer Begeisterten Holländers, Dr. [Adrian] Goekoop, durchführen konnte, vollkommen ergebnislos verliefen“ (GRÖSCHL 11). 1043 So bietet die Karte „Partie Méridionale de Képhallénie“ von Adrian GOEKOOP (im Einband) ca. 4 km südöstlich von Kephallenia ein Eiland namens Asteris. Und Eduard BUCHHOLZ (139) präsentiert die ostkephallenische Landzunge Chelia, „welche früher eine Insel gewesen zu sein scheine“. 1044 VISSER 579. – Der Autor der vorliegenden Studie (Heinz WARNECKE) behauptet zwar, dass der westgriechische Handlungsraum der Odyssee detailgetreu und widerspruchslos zu identifizieren ist, nicht aber dass die epische Handlung historisch sein muss. So ist aus historisch-geographischer Sicht bedeutsam, dass dem Sund zwischen dem kephallenischen Inselrumpf und der westlichen Pakliki-Halbinsel ein Eiland vorgelagert ist, das noch in der Neuzeit die Funktion hatte, auf dem Seeweg eintreffende unliebsame Personen abzufangen (deshalb der moderne Inselname Vardiani, von Guardiani = Wächterinsel). 1045 WILAMOWITZ, Untersuchungen 25. – Auch Emil BELZNER (43) gab Homers Schilderung der Insel Asteris zu denken: „Aber daß er von einem Doppelhafen auf dem Eiland spricht (λιμένες ἀμφίδυμοι, δ 846 f.), das gibt dem ganzen … eine eigenartig individuelle Färbung, die für den poetischen Zweck durchaus nicht nötig war“.

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1.3.4 Die Insel Zakynthos und die felsigen Thoai Nächst Dulichion, Ithaka (-kranae) und Samos wird in den homerischen Epen von den westgriechischen Inseln am häufigsten „das waldige Zakynthos“ genannt.1046 Über diese Insel, die abseits der Handlung der Odyssee liegt, berichten die Epen nur, dass sie „waldig“ sei, zum Reich der Kephallenen gehörte,1047 und dass „zwanzig Söhne Achaias von Zakynthos“ um die Gunst der Penelope warben.1048 Die Anzahl der Freier zeugt von einer großen Insel, und so bleibt für das homerische Zakynthos – infolge der bisherigen Identifizierungen – nur noch die Insel übrig, welche noch heute den Namen Zakynthos trägt (ital. Zante). Dementsprechend ist von den Inseln des von Odysseus beherrschten Reiches „nur Zakynthos völlig sicher“ zu identifizieren.1049 Sie liegt knapp 20 km südlich von Kephallenia und in gleicher Entfernung westlich der peloponnesischen Landschaft Elis. Das recht genau 400 qkm große Zakynthos ist die drittgrößte und südlichste der westgriechischen Inseln, abgesehen von den beiden winzigen, insgesamt nur einen halben Quadratkilometer umfassenden Strophaden (mit verwaistem, trotzigem Kloster), die 45 km weiter südlich im offenen Ionischen Meer liegen und durch die Sage von den Boreaden bekannt sind.1050 Die Identifizierung des homerischen Zakynthos mit der heutigen Insel desselben Namens wird durch die Aussage des Telemach bestätigt, derzufolge diejenigen Freier, die dem Inselreich des Odysseus angehörten, ausschließlich von „den Inseln vor Elis“ stammten.1051 Diesem Ausdruck entsprechen vor allem das kompakte Zakynthos sowie der südostwärts orientierte Inselrumpf Kephallenias und die westkephallenische Halbinsel Paliki (also das homerische Kranae und Samos). Dagegen liegen die kephallenische Nordhalbinsel Erissos sowie Theaki (das heutige Ithaka) und die ‚Fastinsel‘ Leukas näher an der mittelgriechischen Küste Akarnaniens und sind kulturgeographisch v.a auf die Festlandsküste ausgerichtet und nicht in Richtung Peloponnes.1052 Bedenkt man zu1046 Ilias 2,634. Od. 1,246; 9,24; 16,123, 250; 19,131. 1047 Ilias 2,631 ff. – Noch in der Mitte des 5. Jhs. v. Chr. gehörte Zakynthos politisch zu Kephallenia (s. KALETSCH, Zakynthos 716). 1048 Od. 16,250. 1049 OBERHUMMER, Ithaka 11. “Scholars are agreed upon only one identification, that of the modern Zante with the Homeric Zacynthus” (JONES V 524), und „no one has ever doubted, so far as I know, that Homer’s Zakynthos is the modern Zakynthos or Zante” (LEAF 143). 1050 Die Strophaden wurden im Altertum häufig genannt (Strab. 8,4,3. Ptol. 3,14,44. Mela 2,110. Plin. nat. 4,55. Itin. marit. 523,3 f. Hierokl.synecd. 648,10). Über die Strophaden handelt ausführlich Ludwig SALVATOR, Zante 417–437 (mit Abbildungen). 1051 Od. 21,347. 1052 Dies ist noch in der Gegenwart festzustellen, wie der Fährverkehr indiziert: Das Hafenstädtchen Phiskardo auf der kephallenischen Nordhalbinsel Erissos liegt nur 10 km südlich von Leukas (eine Autofähre pendelt zwischen Phiskardo und Vasiliki auf Leukas), ebenso das antike ‚Polis‘ auf Theaki/Ithaka (von der einige Kilometer weiter südlich befindlichen Anlegestelle ‚Pisaetos‘ verkehrt eine Autofähre nach Leukas); die im 16. Jh. gegründete Hafenstadt Vathi, die weiter südlich und an der Ostküste Theakis liegt, ist auf Akarnanien ausgerichtet (von Vathi verkehrt eine Autofähre nach Astakos). – Dagegen pendeln die Autofähren vom kephallenischen Inselrumpf (nämlich von den Hafenstädten Same und Poros) zur nordwestlichen Peloponnes (nach Patras in Achaia und Kyllini in Elis), und auch die kephallenische Westhalbinsel Paliki ist (von der Hafenstadt Lixouri aus) mit Kyllini in Elis per Autofähre

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dem, dass die Insel Zakynthos als einzige der westgriechischen Inseln „ihren Namen seit den homerischen Zeiten behalten hat“, wie u. a. die Historischen Geographen Alfred Philippson und Ernst Kirsten betonen,1053 dann sind Zweifel an der Identität des homerischen Zakynthos mit der heutigen Insel Zakynthos kaum zu begründen. Im Altertum waren die Pechseen der Insel Zakynthos berühmt, die bereits im 5. Jh. v. Chr. Herodot besucht und geschildert hat: „Ich selber habe auf Zakynthos Pech aus einem See und aus Quellen hervorziehen sehen“; die Bewohner der Insel „tauchten eine Stange hinein, an die Myrthenzweige gebunden sind. Mit diesen Stangen ziehen sie Pech heraus, das wie Erdharz riecht, sonst aber besser als das pierische ist. Das Pech wird in eine Grube nahe dem See geschüttet, und wenn sie voll ist, aus der Grube geholt und im Amphoren gefüllt“.1054 Von der inzwischen längst aufgegebenen Pechgewinnung beim Dorf Keri nahe der Südspitze von Zakynthos zeugen nur noch „zwei kleine, quellenartige Tümpel, in denen ab und zu Gasblasen aufsteigen, die an der Oberfläche zerplatzen und ein schillerndes Ölhäutchen hinterlassen“.1055 Mit dem bitumenartigen Pech wurden vom Altertum bis ins vergangene Jahrhundert hinein die hölzernen Schiffsrümpfe gestrichen,1056 um sie abzudichten und vor aggressiven Organismen (v. a. Bohrmuscheln) zu schützen. So könnten die in der Odyssee ausdrücklich als „schwarz“ bezeichneten Schiffe der Kephallenen1057 mit dem auf Zakynthos gewonnenen schwarzen Erdpech gestrichen worden sein. Der Osten der Insel Zakynthos weist eine weite, fruchtbare Ebene auf, die seit je her intensiv landwirtschaftlich genutzt wird. Jedoch „der weitaus größte westliche Teil der Insel, etwa zwei Drittel, ist ein breites, fast siedlungsleeres Kalkgebirge mit hafenloser Steilküste“,1058 das heutzutage überwiegend mit Niederwald bedeckt ist. Im Altertum erstreckten sich vermutlich über den ganzen gebirgigen Norden und Westen der Insel ausgedehnte Wälder,1059 weshalb sie den benachbarten Kephallenen und den Seefahrern auf verbunden. 1053 PHILIPPSON/KIRSTEN II 528. 1054 HERODOT 4,195 (Übersetzung von Heinrich STEIN). 1055 PHILIPPSON/KIRSTEN II 533. Die beiden kleinen Pechseen sind heute mit Schilf überwuchert. – Zur Teer- bzw. Pechgewinnung und -nutzung im antiken Griechenland, s. NEUMANN/PARTSCH 373 ff. Noch am Ende des 19. Jhs. schrieb der Botaniker Stephan FELLNER (44) über den in Griechenland „durch Destillation des harzreichen Holzes der Nadelbäume“ gewonnen Teer, der „noch immer zum Kalfatern der Schiffe benützt wird“. 1056 Noch 1933 betrug die Jahresproduktion des bitumenartigen Erdöls auf Zakynthos „nach der amtlichen Bergbau-Statistik Griechenlands“ 544 t (PHILIPPSON/KIRSTEN II 534). 1057 Ilias 8,222. Od. 2,430; 3,61, 360, 365, 423; 4,646, 731, 781; 10,95, 169, 244, 272, 332, 502, 571; 11,3, 58; 12,186, 276, 418; 13,425; 15,218, 258, 269, 503; 16,325, 348, 359; 18,84; 21,307; 23,320; 24,152; auch das beste Fahrzeug der seeberühmten Phaiaken war ein „schwarzes Schiff “ (Od. 8,34, 52, 445; 15, 416), ebenso ein Überseeschiff der Phönizier (14,308), und aus 10,502 könnte man schließen, das Schiffe meist schwarz sind. Wie jedoch die Redewendungen zeigen (Od. 9,125; 11, 124; 23,271), waren Schiffe oft rot gestrichen, und das Schiff des Menelaos war dunkelblau (Od. 3, 299). – Anders der Schiffskatalog der Ilias: Dort fahren viele Heerführer auf schwarzen Schiffen, während die des Odysseus sich durch einen rötlichen Farbton auszeichnen (Ilias 2,637). 1058 MEYER, Zakynthos 1452,16 ff. – Vgl. STRABON (10,2,18) über das homerische Zakynthos: „It is indeed a woody island, but it is fertile” (übersetzt von Horace L. JONES V 55). 1059 Auch wenn „dem Norden des Berglandes im Westen der Insel“ der moderne „Dimos-Name Elatioi“ beigelegt wurde, so beruht die Notiz des Plnius (nat. 4,12,54), auf Zakynthos sei der Mons Elatus ibi nobilis, auf

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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dem offenen Meer als waldig erschien. Dies ist auch den Worten des römischen Dichters Vergil zu entnehmen, die aber wohl von der homerischen Formel „waldiges Zakynthos“ inspiriert sind: „Schon erscheint in der Meeresflut mit grünenden Hainen Zakynthos“.1060 Ob im Altertum die Wälder, zumal gegenüber den anderen westgriechischen Inseln, derart kennzeichnend für Zakynthos waren, ist zweifelhaft, zumal für die Insel lediglich die Pechgewinnung signifikant gewesen war. So könnte der Dichter das Adjektiv „waldreich“ v. a. aus metrischen Gründen in den Formelvers eingefügt haben.1061 Der in der Odyssee viermal und im Homerischen Apollonhymnos einmal auftauchende Formelvers „Dulichion, Same und das waldige Zakynthos“,1062 durch den wir vom Waldreichtum der Insel erfahren, wurde nur für den 16. Gesang der Odyssee gedichtet und an den anderen Stellen entlehnt.1063 Deshalb wird in den homerischen Gedichten vom „waldigen Zakynthos“ einzig auf dem Eumaios-Hof gesprochen,1064 der in der Südostspitze der Insel Ithaka (Kephallenia) lag. Und aus dieser Perspektive erblickt man von der Insel Zakynthos den gebirgigen und waldigen Nordteil, der noch heute kaum besiedelt ist und im Sommer durch häufige Waldbrände auffällt, die von weiten Teilen Kephallenias und der peloponnesischen Landschaft Elis aus deutlich zu sehen sind. Die Stadt Zakynthos liegt an der Ostküste der Insel, also „dem griechischen Festland [d. h. NW-Peloponnes] zugekehrt, unmittelbar am Rande der vielbefahrenen Meeresstraße, und wird beherrscht durch einen in ihrem Hintergrunde steil aufsteigenden Tafelberg“.1065 Dieser Berg trug die Akropolis der antiken Stadt, die auf eine „Psophis“ genannte Burg aus vorhomerischer Zeit zurückgeht und vermutlich von Bewohnern der gleichnamigen arkadischen Stadt (an der Grenze zu Achaia) gegründet wurde.1066 „Mykenische Gräber finden sich im S bei Vasiliko(s) und Keri(on), an der O-Küste bei Zakynthos-Stadt, an der W-Küste bei Kambi“.1067 „Von der Geschichte des alten Zakynthos, dessen erste Gründer arkadische Azanen, dessen später vorwaltende Kolonisten Achäer waren, ist wenig bekannt“.1068 Wie Thukydides berichtet, wurde Zakynthos als

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einer Verwechslung mit dem nahen Aenos auf Kephallenia (PARTSCH, Zante 172). Indes, auch „der östliche Höhenzug ist wald- oder doch hainreich und hilft uns, die alte liebgewordene homerische Vorstellung vom ‚waldreichen Zakynthos‘ beizubehalten“ (PONTEN 239). Verg. Aen. 3,270. „Die Schwierigkeit der metrischen Behandlung vieler Eigennamen einerseits und andererseits die Tatsache, dass die Vereinigung von drei Inselnamen in einem Verse wie Δουλίχιον τε Σάμη τε καὶ ὑλήεσσα Ζάκυνθος als etwas Endgültiges behandelt wird (erreicht durch Σάμη und ὑλήεσσα vor Ζάκυνθος), führt zur Verwendung dieses Verses in cas. obliqu. in der für epische Sprache und Versifikation gleich lehrreichen Form: Δουλιχίῳ τε Σάμῃ τε καὶ ὑλήεντι Ζακύνθω“ (α 246, π 123, τ 131), und diese wieder lehrt, dass dem Dichter ein metrischer Begriff wichtiger ist als geographische Genauigkeit“ (MÜLDER, Ithaka 18). Od. 1,246; 9,24; 16,123; 19,131. Hom. h. 3,429. ROBERT 632. Od. 16,123. – Vielleicht wurde Zakynthos bloß wegen des Versmaßes als ‚waldig‘ bezeichnet. SCHMIDT, Zakynthos 17. Paus. 8,24,3. – SCHMIDT (Zakynthos 3 f.) legt dar, dass Psophis von Achaiern und Arkadern gemeinsam gegründet wurde. KALETSCH, Zakynthos 716. – „Archäologisch ist die Insel sehr wenig bekannt und fast fundleer“ (MEYER, Zakynthos 1452,42 f.). PARTSCH, Zakynthos 173.

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einzige der westgriechischen Inseln von nordpeloponnesischen Achaiern besiedelt,1069 und so galt „Zakynthos speziell als Kolonie von Achaia“.1070 Aufgrund dieser ethnischen Zugehörigkeit erhob der Achäische Bund Anspruch auf Zakynthos,1071 und um 300 v. Chr. verkaufte Hierokles von Agrigent die Insel an die Achäer.1072 Vor dem dargelegten historischen Hintergrund fällt auf, dass bei der Auflistung der ausnahmslos westgriechischen Freier der Penelope ausschließlich diejenigen von Zakynthos als „Söhne Achaias“ hervorgehoben werden,1073 und so könnte das Wort Achaia hier, wie häufig in der Odyssee, auf die nordpeloponnesische Landschaft verweisen.1074 Unter „Achaia“ bzw. „Achaiern“ versteht nämlich Homer sowohl ganz Griechenland bzw. die Griechen im allgemeinen als auch die Landschaft an der Nordküste des Peloponnes und deren Bevölkerung im speziellen.1075 Wenn man die Westküste des Peloponnes entlang nordwärts segelt, wie das im Homerischen Apollonhymnos von Kreta nach Delphi segelnde Schiff1076 oder die in der Odyssee erzählte Rückreise des Telemach von Pylos nach Ithaka,1077 dann erblickt man bei normaler Witterung den bis 1.628 m hohen Aenos im Süden Kephallenias sowie das südlich benachbarte Zakynthos, dessen Nordhälfte sich bis 756 m Höhe aufwölbt.1078 Die Tatsache, dass bei der detailliert beschriebenen Rückreise des Telemach die Insel Zakynthos nicht erwähnt wird, obwohl Telemach, als er Elis passierte, linkerhand in nur etwa 15 km Entfernung an der Ostseite der Insel vorbeifuhr, ist jedoch nicht dem ‚schlafenden Homer‘ vorzuwerfen. Denn als Telemach die Küste von Elis entlangfuhr, konnte er Zakynthos kaum noch gesehen haben, da die Abenddämmerung sich schon über Land und Meer gelegt hatte. So sagt der Dichter ausdrücklich: „Sonne versank und Schatten umhüllten sämtliche Straßen. Pheai [Ort am Kap Katakolon] ging es dann zu; denn Zeus gab drängenden Fahrwind; weiter am göttlichen Elis vorbei, am Reich der

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Thuk. 2,66.

PHILIPPSON/KIRSTEN II 561. Liv. 36,32,5 f. SCHMIDT, Zakynthos 5. Od. 16,250. – In den Worten des Eurymachos sind alle Freier der Penelope „Achaier“ (Od. 22,46); ebenso die Könige der Kephallenen (Od. 1,401). Od. 2,101; 3,261; 16,250; 24,136. Achaier bzw. Achaia als Bezeichnung der Griechen bzw. für ganz Griechenland: u. a. Od. 1,286; 4,496; 11,166, 481; 13,249; 19,146; 21,107, 160; 23,68; für die nordpeloponnesische Landschaft und deren Bewohner: Od. 2,101; 3,261; 16,250; 24,136. – Auch werden die Frauen auf Ithaka Αχαιϊάδες genannt (Od. 2,101). Hom. h. 3,426 ff.: Das Schiff passierte „das göttliche Elis, wo die Epeier die Herrschaft führen. Und als es dann Pherae zuhielt, stolz und gebläht vom Winde des Zeus, da erschienen ihnen, im Nebel verschwommen, Ithakas steiles Gebirge, Dulichion, Samos und das waldige Zakynthos“. Od. 15,287 ff. Da der Dichter des Apollonhymnos den Vers „Dulichion, Samos und das waldige Zakynthos“ aus der Odyssee unkritisch übernommen hat (s. ROBERT 633), trifft die Aussage über die Sichtbarkeit der genannten Inseln nicht zu. So sind bei der Umrundung der Peloponnes von den genannten Inseln nur Zakynthos und Kephallenia gut zu sehen; bei sehr guter Sicht auch Theaki. „Wer etwa [wie die Seeleute des von Süden kommenden Apollonschiffes] zwischen Pyrgos und Patras, da wo das ionische Inselpanorama zum erstenmal so unvergeßlich schön auftaucht, in die Ferne blickt übers Meer, der sucht vergebens nach einem hohen Berg auf Thiaki [das heutige Ithaka]; ihm glänzt herüber der hochragende Ainos auf Kephallenia“ (GOESSLER 46).

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Epeier. Dort aber ließ er [Telemach] es sausen heran an die eilenden Inseln, lauernd, ob er dem Tode entkam, ob gefangen er werde“.1079 Bei Telemachs nächtlicher Fahrt wird zwischen der Landschaft Elis und „der ersten Spitze Ithakas“ (also Kephallenias)1080 verständlicherweise nicht das abseits der Route und von nächtlicher Dunkelheit umhüllte Zakynthos genannt, dafür aber andere Inseln bzw. Eilande, nämlich die mysteriösen „Thoai“,1081 die auf dem direkten Seeweg von der Nordwestspitze des Peloponnes zum homerischen Ithaka liegen. So ist nun zu fragen, worauf sich diese Eilande beziehen, zumal auf den Landkarten zwischen Elis und dem kephallenischen Inselraum keine Eilande verzeichnet sind. Der homerische Ausdruck nesoi thoai (νῆσοι θοαί) wird zuweilen von thoos (θοός: „rasch“, „schnell“) abgeleitet und als „eilende Inseln“ übersetzt,1082 und, mangels anderer Inseln westlich bzw. nordwestlich von Elis, auf Zakynthos und Kephallenia bezogen.1083 Im Gegensatz zu manchen winzigen Felseilanden erwecken aber diese beiden großen westgriechischen Inseln beim vorbeifahrenden Reisenden überhaupt nicht die Illusion, „eilende Eilande“ zu sein, die aktiv am Schiff vorüberzuziehen.1084 Deshalb, so nimmt u. a. Edzard Visser gestützt auf Strabon an, „scheinen die sog. ‚schnellen Inseln‘ in der Odyssee als geographische Markierung eher dem zu entsprechen, was sich heute mit dem Namen Echinaden verbindet“.1085 1079 Od. 15,296 ff. – „Unter Pheä versteht man allgemein das die Bucht von Kyparissia im Norden abschließende Kap (jetzt Katakolon)“ (BELZNER 27). Eugen OBERHUMMER (Phönizier 19) vermutet, dass „der Hafen Pheia oder Phea“ seinen Namen vom hebräischen Wort für „Winkel“ hat. Bzgl. „Pheia oder Pheai“ s. Albert BISCHOFF 6 f. 1080 Od. 15,36. Im Gegensatz zu Kephallenia besitzen Theaki (das heutige Ithaka) und Leukas keine singuläre Landspitze, die eindeutig auf die Landschaft Elis ausgerichtet ist. 1081 Od. 15,299. „Vielleicht hängt die Bezeichnung auch mit dem Namen Θόας zusammen; der Fluss Acheloos, dessen Mündung sie [die νῆσοι θοαί] vorgelagert sind, hiess nach Strabo X,3,1 C. 450 so“ (MICHAEL 15, Anm. 2). 1082 „Das Epitheton θοαί“ bedeutet „schnell vor dem Auge der Schiffer vorüberziehend“ (GRÖSCHL 28). Als homerische Lizenz dieser Deutung dienen die „schnellen Schiffe“ (Od. 4,173; 7,34; 9,54: νηυσὶ θοῇσι). So schreibt Emil BELZNER (27, Anm. 1): „Ich fasse θοαὶ νῆσοι nicht als ‚spitze Inseln‘ um sie dann mit den Echinaden zu identifizieren, sondern übersetze, dem üblichen Gebrauch von θοὸς folgend, ‚schnelle Inseln‘ und verstehe das von dem Eindruck, den man von einem in Fahrt befindlichen Schiff aus von jeder [?] Insel bekommt – schnell zieht sie vorüber“. Ähnlich argumentiert Peter GOESSLER (51): „θοαί ist ein einfaches Epitheton, mag es nun bedeuten ‚sich bewegend‘, ‚schwimmend‘. „Da gilt es rasch vorbeizukommen an den ‚rasch vorbeieilenden Inseln‘“. 1083 „Unter den νῆσοι θοαὶ würden dann die Inseln Kephallenia und Theaki zu verstehen sein“ (DÖRPFELD, Alt-Ithaka 94). Etwas unzutreffender Emil BELZNER (27, Anm. 1): „Unter den θοαὶ νῆσοι sind hier dann natürlich die vier gemeint [Dulichion, Ithaka, Same, Zakynthos], von denen schon immer die Rede war“. 1084 AMEIS-HENTZE (84): „… dem eilenden, hier eine sinnliche Belebung, weil den schnell Schiffenden die Gegenstände, vor denen sie vorüber kommen, mit Selbstbewegung zu fliehen scheinen“. Analog spricht Samuel BUTLER von den „flying islands“ (65), „i. e. which seemed to fly past them“ (65, Anm. 1). 1085 VISSER 587. Vgl. Strabon 8,8,26. Jedoch liegen die Echinaden, die im Norden des Golfes von Patras der Südküste Akarnaniens vorgelagert sind, abseits des Seeweges, den Telemach von der Nordwestspitze des Peloponnes nonstop übers offene Meer zur Südspitze des homerischen Ithaka wählte. Deshalb meint Emil HERKENRATH (1238, Anm. 7): Die Inseln, die Telemach auf den Rat der Athene meidet, „sind also Zakynthos, Kephallenia und Ithaka, und der springende Punkt in Athenas Rat ist die Umgehung des Hinterhaltes durch den Haken über die Echinaden“.

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1. Die Ithaka-Antwort

Andere Homerinterpreten, allen voran Ulrich von Wilamowitz, deuten die nesoi thoai nicht als „eilende Inseln“, sondern als „spitze Inseln“, denn „das Epitheton θοός ist kein Eigenname, sondern einfach ‚spitz’, wie Apollonios Rhodios es verwendet“.1086 Folglich spricht die Odyssee nicht von den „eilenden Inseln“, sondern von den „spitzen Inseln“, oder – wie Gustav Lang pointierter übersetzt – den „spitzigen Inseln“.1087 Dennoch ist auch Wilamowitz ratlos, ob „die Erscheinung der Spitzen irgendwie“ auf die Berge der Inseln Zakynthos oder Kephallenia zu beziehen sei,1088 oder ob die ‚spitzigen Eilande‘ bloß in der dichterischen Phantasie existieren. Wie jedoch schon Victor Bérard bemerkte, verweisen die nesoi thoai der Odyssee auf jene „kleinen Felseninseln, die im Altertum zwischen Kap Chelonatas [NW-Spitze von Elis und des Peloponnes] und Kephallenia lagen und unter dem Namen Montague-Rocks auf den [See-] Karten verzeichnet sind. Sie ragen jetzt nicht mehr über die Oberfläche des Meeres hervor, müssen aber im Altertum sichtbar gewesen sein, weil Strabon ein Eiland mit Felsen erwähnt (νησίον και βραχέα), die 40 Stadien vom Peloponnes und 80 Stadien von Kephallenia entfernt waren“.1089 „The Montague shoal is formed by a dangerous bed of rocks lying in the northern part of the channel between Zante [Zakynthos] and the coast of Morea [Peloponnes] … under the lee of Black Mountain (Island of Cephalonia)”.1090 Dieses gefährliche Seefahrthindernis liegt bei 37°54‘ N, 21° E und somit exakt auf dem Seeweg, den Telemach von der Westspitze von Elis zur Südostspitze Kephallenias nahm. Auf französischen Karten tragen diese im Meer zwischen Elis und Kephallenia liegenden Felsen den Namen „aiguilles des roches“,1091 also „Nähnadel-Felsen“, und diese Bezeichnung erscheint geradezu synonym mit dem homerischen Begriff „spitzige Eilande“. Die Felseilande sind drei spitze Felsgipfel eines Berges, der vom 600 m tiefen Meeresboden fast bis zum Wasserspiegel emporragt. Alle drei Gipfel umfasst die 50-m-Tiefenlinie. Aufgrund der Erosion durch die bewegte See und die Erdbeben können „die spitzigen Inseln“ zu homerischer Zeit eine andere Anzahl aufgewiesen haben.1092 Nach neuesten geologischen Forschungen wird im südgriechischen Meeresraum für die Zeit 1086 WILAMOWITZ, Heimkehr 135; mit Bezug auf Apoll.Rhod. Arg. II 79, III 1281, IV 1683. 1087 LANG 40. Vgl. die homerische „Hauptstelle ι 327, ἐθόωσα ‚ich spitzte’“ (a. a. O.). Von „spitzigen Inseln“ sprechen auch Peter GOESSLER (51) und Hans BUCHHOLZ (148). 1088 WILAMOWITZ, Heimkehr 135. Denn auch bei der etablieten Theaki-Ithaka-Theorie „hätte die gewöhnliche Fahrt [Telemachs] offenbar von der elischen Küste aus nordwestwärts vor Zakynthos vorüber zur Südwestecke von Kephallenia … geführt“ (HERKENRATH 1238). 1089 DÖRPFELD, Alt-Ithaka 95 (mit Bezug auf BÉRARD I 138 ff.). – Geologisch weisen die Bergkuppen des länglichen Aenos-Massivs im „Südosten von Kephallenia in ihrer Verlängerung auf die … Montague-Rocks und den westlichen Peloponnes“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 546). 1090 The Nautical Magazine, Vol. II, 497; Cambridge 1833. 1091 Adrian GOEKOOP 20. Also „ces Nésoi Thoai, ces Îles Pointues que les héros [Telemach und Gefährten] doit éviter entre Pylos et Ithaque, sont les Roches Montagues, disent les navigateurs aujourd’hui“ (BÉRARD II 149). 1092 Seekarte 658 (Nisos [sic.] Paxoi bis Nisoi Strophades). So steht in The Nautical Magazine (Vol. II, 497; Cambridge 1833): „The Montague shoal … consist of two distinct patches, in a N. W. and S. E. direction from each other”. Demnach erodierte in den vergangenen zwei Jahrhunderten die südöstliche Bergspitze in zwei Gipfel, die ca. eine halbe Seemeile voneinander entfernt sind.

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„um 3500 J. v. h. [3500 Jahre vor heute = 1500 v. Chr.; also in mykenischer Zeit] eine kurze Phase des Meeresspiegelabsinkens auf 4 m unter den heutigen Meeresspiegel“ angenommen.1093 Da außerdem im westgriechischen Insel- und Küstenraum „die Landstrecken über und unter dem Meere heftigen Bodenbewegungen unterworfen sind“1094 und „der Meeresboden in diesem Raum sich zunehmend senkt“,1095 sind die Montague-Rocks erst während der vergangenen Jahrhunderte unter den Meeresspiegel gelangt. Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts lag das „sehr gefährliche Montague-Riff [nur] bis zu 2 m unter dem Wasserspiegel“,1096 und somit gerieten bei Seegang, je nach Wellenbergen und Wellentälern, die gischtumschäumten Felsspitzen geringfügig über oder unter den Meeresspiegel. Besonders durch das katastrophale Erdbeben des Jahres 1953, dessen Epizentrum sich unter dem Meer südlich von Kephallenia befand, sind die Felsen weiter abgesackt, und so befinden sich die einzelnen Spitzen in der Gegenwart 5 und 6 m unter dem mittleren Meeresspiegel.1097 Besäßen die heutigen großen Schiffe nicht modernste Navigationsinstrumente, dann wären die im offenen Meere lauernden Felsen für die Seeschifffahrt immer noch sehr gefährlich, und so leitet sich der Name Montague-Rocks von der selbstredenden venezianischen Bezeichnung „Monte Acuto“ ab.1098 Als sich Telemach von der Nordwestspitze des Peloponnes entfernt hatte, um mit dem Schiff übers offene Meer Kurs auf seine Heimatinsel zu nehmen, heißt es in der Odyssee: „Dort aber ließ er es sausen heran an die spitzigen Inseln, lauernd ob er dem Tode entkam, ob gefangen er werde“.1099 Zunächst erscheint die genannte Abfolge von – erstens – Tod und – zweitens – Gefangenschaft nicht nur dichterisch miserabel gesteigert, sondern chronologisch verkehrt: Für Telemach bestand nämlich gar nicht die Alternative, von den Freiern entweder getötet oder gefangen zu werden,1100 sondern er musste befürchten, zunächst von den Freiern gefangen und anschließend getötet zu werden, nicht aber umgekehrt. Jedoch bezieht sich die in dem Odysseevers genannte Todesfurcht gar nicht auf den geplanten Überfall der Freier bei dem noch weit entfern1093 VÖTT/BRÜCKNER 120. Und so ist „für das südliche Griechenland ein Meeresspiegelmaximum um 5200 J. v. h. [3200 v. Chr.], ein darauffolgendes Absinken des Meeresspiegels bis ca. 3500 J. v. h. [1500 v. Chr.] und einen allmählichen Wiederanstieg bis zum aktuellen Stand“ anzunehmen (dies. 134). 1094 PONTEN 241. Erwähnt sei, „daß zwei kleine Inseln des Golfes [von Zakynthos] in Küstennähe auf einer alten Karte von 1633 noch als Vorgebirge gezeichnet sind“ (ders. 218 f.). 1095 PHILIPPSON/KIRSTEN II 549. 1096 PHILIPPSON/KIRSTEN III 331. – Vgl. The Nautical Magazine (Vol. II, 497, Cambridge 1833): “The least water on the Montague rocks is seven feet, and there is not more than fifteen or twenty fathoms for a quarter of a mile round them”. 1097 Seekarte 658 (Nisos [sic.] Paxoi bis Nisoi Strophades). 1098 BÉRARD I 141. – „Telemach fährt von Pylos her an den νῆσοι θοαὶ, den Montague-Rocks der englischen Seekarten“ vorbei (RÜTER 39). Im Jahr 1837 spricht Edward GIFFARD (45 f.) in Anlehnung an ‚Lady Mcbeth‘ von „Lady Montague“ und dichtet: „I survey the immortal islands, and the well-known sea, for here so oft the Muse her harp has strung, that not a mountaintop remains unsung“. 1099 Od. 15,299 f. 1100 Die Freier wollten Telemach vor Erreichen der Heimat töten (Od. 4,667 ff.; 15,27 f.; 300; 20,241–246) und seine Leiche im Meer verschwinden lassen (Od. 4,672). Deshalb kommentiert Samuel BUTLER (65) die Stelle Od. 15,259 f. über die Thoai, „whereon Telemachus wondered wether he should be taken or should escape“.

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ten Insel Asteris, sondern auf den unmittelbaren Kontext, nämlich auf die damals noch geringfügig über dem Meeresspiegel lauernden „spitzigen Inseln“, deren Begegnung für Telemach und seine Gefährten des nachts „bei sausendem Fahrtwind“ zum Schiffbruch geführt und somit wohl tödlich geendet hätte. Folglich wartete Telemach zunächst gespannt, „ob er [zu Beginn der Nacht bei den nesoi thoai] dem Tode entkam, [oder] ob er [zu Beginn des nächsten Tages von den Freiern nahe dem Eiland Asteris] gefangen werde“. Dass der Vers dementsprechend zu interpretieren ist, davon zeugt auch die Anweisung der Athene, Telemach möge das Schiff erstens „von den Inseln entfernt halten“, und zweitens solle er „nachts segeln“.1101 Man beachte, dass hier „Inseln“ im Plural steht, und deshalb wurde der Ausdruck von den Homerinterpreten auf die zuvor genannten Inseln Same und Ithaka bezogen.1102 Da aber für Telemach von diesen beiden Inseln keine konkrete Gefahr ausging, sondern nur von einer Insel, nämlich vom Eiland Asteris, das im Sund zwischen den beiden genannten Inseln liegt, ist der Plural treffender auf die nesoi thoai zu beziehen. Zumal Telemach, der Weisung Athenes entsprechend, diese spitzen Felseilande tatsächlich „nachts“ passierte, während er das weiter nördlich gelegene Eiland Asteris erst bei Tag erreicht hätte und deren Inselraum überdies meiden sollte und auch mied.1103 Somit ist die anfangs unsinnig erscheinende Reihenfolge der beiden möglichen Ereignisse im Erwartungshorizont des Telemach, nämlich zunächst der befürchtete Tod (bei den „spitzigen Inseln“!) und danach die Gefangenschaft (beim Eiland Asteris!), stimmig gedeutet, und auch die Pluralform in der Anweisung Athenes kann nicht länger ‚dem schlafenden Homer‘ zugeschrieben werden, denn das Wort nesoi („Inseln“) bezieht sich nicht auf das Eiland Asteris, sondern auf die nesoi thoai („spitzigen Inseln“). Anzumerken bleibt noch, dass selbst Wilhelm Dörpfeld, der zeitlebens seine Leukas-Ithaka-Theorie vertrat, nicht umhin konnte, die Montague-Rocks als die nesoi thoai der Odyssee zu akzeptieren: „Wenn das Schiff Telemachs nachts das Kap Chelonatas [Westkap von Elis] verließ, konnten diese Inseln ihm den Weg nach Kephallenia zeigen“.1104 Dieser Aussage ist beizupflichten, zumal Dörpfelds Worte geradezu die wegweisende Funktion der „spitzigen Inseln“ offenbaren: Hin zum homerischen Ithaka, sprich Kephallenia!1105

1101 Od. 15,33 f. „Was die letzten Worte bedeuten sollen, ist unklar und daher strittig; man fragt sich mit Recht, von welchen Inseln Telemach fern bleiben solle, da er doch zu einer Insel fahren will, und wundert sich, warum Athena ihm nicht einfach sage, dass er die Insel Asteris vermeiden müsse“ (DÖRPFELD, Alt-Ithaka 93). 1102 Od. 15,29. 1103 Od. 15,36 ff.; 495 ff.; 16,322 ff., 352 ff. 1104 DÖRPFELD, Alt-Ithaka 95. „Ich glaube, meine Theorie dadurch verbessert zu haben, dass ich neuerdings unter den νῆσοι θοαὶ (ο 299) die Montague-Rocks“ verstehe, die „zwischen dem Vorgebirge von Elis und der Insel Kephallenia liegen“ und früher „sichtbar waren“ (DÖRPFELD, Schulblätter 50). 1105 Und nicht nach Leukas: Denn „Telemachos erreicht in 14–15 Stunden schneller Fahrt Pylos, in denen er höchstens 60–65 Seemeilen zurücklegen konnte, was auf Kephallenia oder auch Theaki, nicht aber auf Leukas paßt“ (SIEBERER 156, Anm. 24; mit Bezug auf VÖLKL 66).

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1.3.5 Die Inselkörper Krokyleia und Aigilips Nach der Identifizierung der drei großen Inselkörper Ithaka (-kranae), Samos und Zakynthos sind noch die beiden kephallenischen Inselkörper Krokyleia und Aigilips zu bestimmen. Sie spielen in der Odyssee zwar keine Rolle, zählen aber im Schiffskatalog der Ilias zu den fünf Gliedern des Inselreichs der Kephallenen.1106 Das berechtigt zu der Annahme, dass es sich bei ihnen nicht um unbedeutende Eilande handelt, sondern um größere Inselkörper. Für das homerische Krokyleia und Aigilips stehen aufgrund der bisherigen Identifikationen noch zwei nennenswerte Inselkörper zur Verfügung, nämlich die nordkephallenische Halbinsel Erissos und die Insel Theaki (das heutige Ithaka), die sich beidseits des 3–5 km breiten Ithaka-Kanals erstrecken und – geologisch betrachtet – untergeordnete Vorketten des Gebirges von Kephallenia sind.1107 Gemessen am kephallenischen Inselrumpf sowie an der Halbinsel Paliki und der Insel Zakynthos erscheinen die beiden parallel zueinander verlaufenden Inselkörper Erissos und Theaki, die je ca. 100 qkm Fläche umfassen, klein sowie bevölkerungsarm und historisch unbedeutend. Aber angesichts der übrigen westgriechischen Eilande sind sie ausgesprochen groß und relativ dicht besiedelt.1108 Folglich dürfte es sich bei den benachbarten Inselkörpern Erissos und Theaki um das homerische Krokyleia und Aigilips handeln, die der homerische Schiffskatalog zusammen in einem Vers nennt1109 und die der antike Gepgraph Srtrabon sowie der byzantinische Gelehrte Stephanos in Richtung Akarnanien und Leukas ansetzen.1110 Innerhalb des kephallenischen Inselraumes waren die Inselkörper Erissos und Theaki politisch stets aufeinander bezogen: So lagen ihre Hauptorte (Phiskardo und Stavros) bis in die Neuzeit hinein einander schräg gegenüber, und zwar an kleinen Hafenbuchten im Norden des sog. Ithaka-Kanals.1111 Erst als zu Beginn der Neuzeit die Venezianer Theaki und Erissos mit Festungsbauten und Wachtürmen gegen die Angriffe der Sarazenen und Türken zu sichern versuchten, trugen sie zur kulturgeographischen Abkehr beider Inselkörper voneinander bei, indem sie die neue Hauptstadt Theakis, das heutige Vathy, 1106 Ilias 2,633. „Nach den Scholien zu Ilias 2,633 waren Krokyleia und Aigilips Städte in Samos [Kephallenia], nach Andern Theile von Ithaca“ (VÖLCKER 50). 1107 Theaki ist ein „abgelöstes Glied des Körpers der mächtigeren Nachbarinsel“ (PARTSCH, Bericht 624). Noch im Quartär bildeten Leukas, Kephallenia, Theaki und Zakynthos die Teile einer Landbrücke, die sich von Akarnanien zum Peloponnes spannte (PHILIPPSON/KIRSTEN II 549). 1108 Theaki und Erissos weisen je ein bis zwei Dutzend Ortschaften auf, und „das merkwürdigste an ihnen ist, daß sie überhaupt existieren“ (PARTSCH, Kephallenia 66). 1109 Den Vers Ilias 2,633 übersetzt u. a. KURUKLIS (699): „Nordwärts lagen die Krokyleia und die rauhe Aigilips“. Vgl. Steph. Byz. s. Αἰγίλιψ u. Plin. nat. 4,54. 1110 In Richtung auf „Akarnanien und Leukas … werden Krokyleia und Aigilips angesetzt (Strabo X 2,8. p. 451 ff. VIII 6, 17. p. 376)“ (NIESE, Schiffskatalog 38). Nach Steph.Byz. (s. Αἰγίλιψ) befand sich das homerische Aigilips nahe der Südspitze von Leukas (das Zitat nebst Kommentar bietet BURSIAN II 366, Anm. 2). 1111 „In der That ist Phiskardo der einzige Küstenplatz der Halbinsel, an welchem beträchtliche Reste byzantinischer Bauten und Spuren einer altgriechischen Ansiedlung bekannt sind“, und „die unverkennbaren Vorteile der Lage des Ortes mußten ihm auch in frühern Zeiten immer dieselbe Stellung sichern“ (PARTSCH, Kephallenia 63 f.). – Zum einstigen Ort Polis-Stavros s. PARTSCH (Kephallenia 59 f.). Vgl. SCHWARTZ 334 f.

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1. Die Ithaka-Antwort

Abb. 6: Die Inselkörper Erissos und Theaki (Ausschnitt der Karte von J. Partsch 1890)

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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an einer tiefen Bucht der Ostküste der Insel gründeten,1112 und den Verwaltungssitz der Halbinsel Erissos von Phiskardion nach Assos an die Westküste verlegten. Dort bauten sie eine riesige Festung, die „geräumig genug war, in ihrem weiten, 2 km messenden Mauerkranz außer einer starken Besatzung auch eine Volksmenge von mehreren Tausend Köpfen aufzunehmen“.1113 Infolge der Gründung der Hafenstadt Vathy und des Festungsbaus in Assos verlagerten sich die Siedlungsschwerpunkte von Theaki und Erissos nicht nur auf die jeweilige Gegenseite, sondern zudem deutlich nach Süden, während sie zuvor benachbart im Norden lagen und somit auf die Festlandshalbinsel Leukas ausgerichtet waren. Im Gegensatz zum Schiffskatalog der Ilias, der die Insel- und Festlandsglieder des Reichs der Kephallenen auflistet, finden die beiden Inselkörper Krokyleia und Aigilips in der Odyssee keine Erwähnung, weil sie als die nördlichsten Glieder des kephallenischen Inselraumes abseits der epischen Handlung liegen, die – mit Ausnahme der Irrfahrt des Odysseus – zu Wasser und zu Lande im südlichen Bereich von Kephallenia spielt: Den geographischen Rahmen der Haupthandlung bildet nämlich der südkephallenische Inselrumpf, über den sich das Stammkönigreich des Odysseus erstreckte. Auch die erwähnte Fähre der Kephallenen, die zwischen den Städten Ithaka und Samos verkehrte,1114 also zwischen dem Inselrumpf und der westlichen Halbinsel Paliki, pendelte im südwärts geöffneten Livadi-Golf. Zudem führten die Seereisen des Telemach nach und von Pylos durch den Meeresraum südlich von Kephallenia.1115 Und als Odysseus von der fernen Insel Aiolia über das Ionische Meer mit Westwind heimwärts fuhr, gelangte er nachts in den südkephallenischen Seeraum bis in unmittelbare Nähe des Leuchtfeuereilands Vardiani, bevor er angeblich durch einen Sturm wieder auf das offene Meer zurückgeworfen wurde.1116 Und am Ende der Irrfahrt setzten die Phaiaken den schlafenden Odysseus frühmorgens in der Bucht von Argostoli ab, an der sich die Hafenstadt Ithaka befand.1117 Auch der Taphier Mentes landete an der Südküste Kephallenias, nämlich in der als Rheithron bezeichneten Lourda-Bai.1118 Und somit erhielten die nordkephallenischen Inselkörper Erissos und Theaki keine Chance, in der Odyssee auch nur beiläufig erwähnt zu werden. In historischen Zeiten war Theaki oft bloß ein namenloses Anhängsel von Kephallenia und hieß deshalb in venezianischer Zeit „Cefalonia piccola“ („Klein-Kephallenia“).1119 So spielte Theaki, das „in Natur und Geschichte von der großen Nachbarinsel 1112 „Die von den Venezianern durchgeführte Neubesiedlung“ der entvölkerten Insel Theaki „legte ihren Schwerpunkt von vornherein an den Hafen von Vathy, den man gerade in den Seekämpfen jener Zeit als eine besonders sichere Schiffsstation hatte schätzen gelernt“ (PARTSCH, Kephallenia 62). 1113 PARTSCH, Kephallenia 65. 1114 Od. 20,187 f. 1115 Od. 2,388 ff.; 15,286 ff. 1116 Od. 10,25 ff. 1117 Od. 13,93 ff., 113 ff. 1118 Od. 1,185 f. 1119 PARTSCH, Kephallenia 46, Anm. 1. Die Venezianer sprachen von „l’una e l’altra Cefalonia“ (a. a. O.), und bis zur Gebietsreform im Jahr 2013 waren Kephallenia und Theaki im Verwaltungsbezirk „Nomos Kephallenias“ vereinigt.

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1. Die Ithaka-Antwort

nicht füglich zu trennen ist“,1120 politisch nie eine nennenswerte Rolle und bildete zusammen mit den drei individualisierten Gliedern Kephallenias, also dem Inselrumpf, der Westhalbinsel Paliki und der Nordhalbinsel Erissos, seit dem Altertum „die kephallenische Gruppe“.1121 Die zusammenfassende Bezeichnung für diese zentrale Inselgruppe des westgriechischen Inselbogens ist geologisch und auch anthropo-geographisch sinnvoll, da nur auf diesen Inselkörpern das Volk der Kephallenen siedelte, Kephallenia und Theaki also eine ethnische Einheit bildeten. So blieben Theaki und Erissos politisch meist von (Süd-) Kephallenia abhängig, und es gelang ihnen aufgrund mangelnder personeller und wirtschaftlicher Ressourcen im Lauf der Geschichte nie, eine dominante Rolle im kephallenischen Inselraum zu spielen.1122 Allein schon aus diesem Grund ist die alte Theorie suspekt, Theaki (das heutige Ithaka) sei das homerische Ithaka und damit die Königsinsel der Kephallenen gewesen.1123 Die Hausmacht des Adels von Erissos und Theaki war auch zu Zeiten des Odysseus nicht mächtig genug, um die kephallenische Königswürde beanspruchen zu können, und deshalb befinden sich unter den zahlreichen Freiern der Penelope keine Adligen aus Krokyleia und Aigilips.1124 Und aufgrund der wirtschaftlichen und somit politischen Bedeutungslosigkeit der Insel Theaki lehnte u. a. der bedeutende Spezialist für antike Geographie, Heinrich Kiepert, die Theaki-Ithaka-Theorie ab: „In der Geschichte Griechenlands nie auch nur erwähnt, also ohne alle Bedeutung, wird die Insel von Geographen und Archäologen des Altertums nur beschrieben zur Erläuterung der Dichtung, welche sie zum [angeblichen] Sitz eines griechischen Seereichs der Heroenzeit machte“.1125 Als nördliche Glieder des kephallenischen Inselraumes sind Erissos und Theaki der Festlandshalbinsel Leukas vorgelagert, und sie befinden sich somit deutlich näher am mittelgriechischen Festland als am Peloponnes. Dagegen liegen die drei großen Inselkörper Ithaka-kranae, Samos und Zakynthos, also der südöstlich orientierte Inselrumpf Kephallenias, die Westhalbinsel Paliki und die Insel Zakynthos, die allein die kephallenischen Freier der Penelope stellten,1126 mehr der nordwestlichen Peloponnes, also der Landschaft Elis vorgelagert. Deshalb entgegnet Odysseus’ Sohn Telemach dem kephallenischen Fürsten Eurymachos: keiner als er selbst sei befugt, den Bogenwettkampf um die Königswürde auszutragen, „sämtliche nicht, die in kranaen Ithaken [also in sei-

1120 PARTSCH, Kephallenia 2. – Ähnlich äußert sich Ulrich von WILAMOWITZ, Untersuchungen 73. 1121 PARTSCH, Kephallenia 96 u. 98. Vgl. u.a. Aristot. Rep. Ith. frg. 462: νῆσοι τῶν Κεφαλλήνων. Dionys. Calliph. f. v. 50. 1122 PARTSCH, Kephallenia 36 ff., 62 ff. – Deshalb wird man „einsehen, daß von Ithaka aus nie auch nur ein Teil von Kephallenia beherrscht sein kann“ (SCHWARTZ 334, Anm. 3). 1123 So fragt Otto SEECK (266): „Doch wie sollten diese grossen und reichen Gebiete [die Inseln „Kephallenia, Zakynthos und das gegenüberliegende Festland“] Dependenzen der kleinen Felseninsel [Theaki/ Ithaka] gewesen sein?“ Auch Eduard MEYER (Odysseusmythos 268) erschien es „völlig räthselhaft“, „wie die kleine Insel, die in den drittehalb Jahrtausenden der geschichtlichen Zeit kaum je genannt wird, dazu gekommen ist, die Heimath und das Herrschaftsgebiet einer der hervorragendsten Gestalten der griechischen Sage zu sein“. 1124 Od. 16,247 ff. 1125 Kiepert 295. – „Ithaka wird immer eine arme Schönheit bleiben“ (PARTSCH, Zante 174). 1126 Od. 16,245 ff.

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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nem Stammkönigreich] sitzen als Herren, sämtliche nicht auf den Inseln vor Elis“.1127 Wären im Palast auch Freier aus den – zum Festland orientierten – Inseln Krokyleia und Aigilips anwesend gewesen, dann würde die Aussage des Telemach nicht zutreffen, bzw. der Kronprinz Telemach hätte seinen stolzen Anspruch nicht erfüllt, der Gebieter des gesamten kephallenischen Adels zu sein. 1128 So ist das Zitat wieder ein Beleg für die geographisch differenzierte Ausdrucksweise des Dichters, der die nesoi Krokyleia und Aigilips, nämlich Erissos und Theaki, konsequenterweise nicht zu den „Inseln vor Elis“ zählt. Ungeachtet der politisch untergeordneten Bedeutung der beiden Inselkörper Krokyleia und Aigilips drängt sich die Frage auf, welcher der beiden Namen auf Erissos und welcher auf Theaki zu beziehen ist. Obwohl die beiden Glieder des Kephallenenreichs in den homerischen Epen nur einmal und ohne signifikante Zusatzinformationen genannt werden, ist eine plausible Antwort durchaus möglich. Denn der römische Historiker Plinius berichtet über eine dem heutigen Ithaka (Theaki) benachbarte Insel „Crocyle“,1129 und ein Dokument aus byzantinischer Zeit, nämlich das Praktikon Richard Orsinis aus dem Jahr 1264, das „eine Brücke zwischen der antiken und heutigen Topographie der Insel“ Kephallenia schlägt,1130 nennt als eines der wenigen Toponyme für den Norden Kephallenias den Bergnamen „Krokyla“.1131 Das orographische Toponym Krokyla bezieht sich wahrscheinlich auf das 900 m hohe Massiv des „schönen Berges“ (Kalos Oros) im Süden der Halbinsel Erissos, die „sich mit einem so scharfen, schwer zugänglichen Bergrande vom Körper der Insel“ Kephallenia abhebt.1132 Und weil der mittelalterliche Bergname Krokyla durch den antiken lateinischen Namen Crocyle tradiert wurde, der nicht nur ein Bergmassiv, sondern auch einen Inselkörper bezeichnete, kann man schlussfolgern, dass das homerische Krokyleia auf die nordkephallenische Halbinsel Erissos zu beziehen ist.1133 Folglich bleibt für die Insel Theaki nur noch der homerische Inselname Aigilips übrig, der das Beiwort „rauh“ bzw. „steinig“ führt.1134 Zudem ist Aigilips ein redender Name und beschreibt eine karge, gebirgige Insel, die „von Ziegen zu erklettern“ ist.1135 Der Name trifft den felsigen Charakter von Theaki recht gut, denn die karstigen und überwiegend steilen Gebirgslehnen der stark gegliederten Insel ernähren 1127 Od. 21,344 ff. 1128 So führt z. B. Eduard BUCHHOLZ (119 f.) unter den „zur Herrschaft des Odysseus gehörigen akarnanischen Inseln“ auch das heutige Ithaka („Ithake“) auf, das in der vorliegenden Studie als das homerische Aigilips identifiziert wurde. 1129 Plin. nat. 4, 12, 54. Vgl. Ilias 2,633: Κροκύλε; cod. Eteon.: Κροκύλη; Eustath. 307,22. Siehe auch „Steph. Byz.: Κροκύλειον, νῆσος Ἰθάκης“ (LANG 25). Und „Palmerius, in book 4. ch. 23. de Ant. Graec. offering a conjecture that Crocyleum was a promontory of Ithaca“ (GOODISSON 154). – Ein dem homerischen Krokyleia ähnliches Toponym ist der Ortsname Krokyleion im westgriechischen Aitolien (Thuk. 3,94–98). 1130 PARTSCH, Kephallenia 45; er datiert ebd. die Urkunde in das Jahr 1262 (statt 1264). 1131 SOUSTAL 245. 1132 PARTSCH, Kephallenia 63. – Denn „der Berg Krokyla“ zählt zu den drei Toponymen für „die Senke von Pylaros, die südlich an Erissos angrenzt“ (SOUSTAL 245). 1133 Angemerkt sei, dass Cees GOEKOOP (132 ff.) die relativ unbedeutende Halbinsel Erissos als das homerische Ihaka betrachtet und den kephallenischen Inselrumpf als Dulichion. 1134 Ilias 2,633. 1135 GEMOLL 16. – Dagegen scheint der Name Κροκύλεια (von κροκύς = „Wollflocke“) auf Schafe hinzudeuten.

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1. Die Ithaka-Antwort

kaum Schafherden, sondern dienen vorwiegend dem Weidegang der anspruchslosen Ziegen. Alte Statistiken zeigen, dass Theaki etwa doppelt so viele Ziegen wie Schafe aufwies, während auf der Nachbarinsel Kephallenia das Zahlenverhältnis genau umgekehrt war.1136 So trifft der Name „Ziegeninsel“ (Aigilips) auf kein Glied des kephallenischen Inselraumes besser zu als auf Theaki! Und weil die zur Ziegenhaltung geeignete Insel Theaki von Geographen kurz und bündig als „klein, rauh-felsig, unfruchtbar“ charakterisiert wird,1137 ist die seit zwei Jahrhunderten etablierte Annahme absurd, Theaki sei das homerische Ithaka gewesen, das, wie die Odyssee berichtet, „Getreide und Wein in unsagbarer Fülle“ hervorbrachte.1138 Zudem entspricht Theaki nicht den beiden wichtigsten geographischen Kriterien des homerischen Ithaka, nämlich die westlichste und höchste Insel des westgriechischen Inselbogens zu sein.1139 Im Gegenteil: Theaki liegt im Osten desselben und ist die zweitniedrigste der Inseln! Auch wurde längst bemerkt, dass die Insel als Königssitz der Kephallenen ungeeignet war, und so hat schon Ulrich von Wilamowitz „ganz richtig gesagt, daß Ithaka nie ein Herrensitz gewesen ist“.1140 Hinzu kommt, dass die im Epos vorgestellten Orte des homerischen Ithaka auf der heutigen Insel nicht widerspruchslos zu finden sind,1141 und deshalb resümiert Karl Völkl: „Soll aber Homers Schilderung der Wirklichkeit entsprechen, so müssen wir, so mißlich es ist, auf die Namensgleichheit nicht bauen zu dürfen, von einer Identifikation mit Ithaka absehen“.1142 1.3.6 Der Festlandsbesitz und die Gegenküste Die Kephallenen hatten unter der in der Odyssee besungenen Arkeisiaden-Dynastie sogar festländische Territorien erobert, auf denen andere Völker lebten. So rühmte sich der Vater des Odysseus, Laertes: „Nerikos erstürmte ich, jene wohlgebaute Stadt an der 1136 Die erste zuverlässige Zählung des Kleinviehbestandes der Inseln Kephallenia und Ithaka aus dem Jahr 1834 bietet folgende Zahlen: Für Theaki/Ithaka werden 8.206 Ziegen und 4.653 Schafe genannt, für Kephallenia 14.274 Ziegen und 26.493 Schafe (PARTSCH, Kephallenia 95). 1137 PHILIPPSON/KIRSTEN II 491. Und Christian MÜLLER (193) schrieb über Erissos und Theaki: „Beide Inseln zeigen hier nur rauhe Gebirgsrücken, fast ohne alle Cultur, besonders Ithaka [Theaki]“. 1138 Od. 13,244 f. 1139 Od. 9,21 ff. „Schon aus dieser Stelle allein ergiebt sich, daß das Homerische Ithaca eine andere Lage hatte, als die nachmalige Insel dieses Namens“ (VÖLCKER 52). 1140 WILAMOWITZ, Heimkehr 186. 1141 Schon Rudolf HERCHER (267) urteilte, dass die von ihm „aufgeführten Widersprüche [zwischen dem homerischen und heutigen Ithaka] demjenigen erklärlich, ja natürlich, der sich zu dem Glauben entschließen kann, daß Homer Ithaka nie gesehen habe“. – Dagegen ist in dem an Gymnasiasten adressierten Hilfsbuch zu Homer zu lesen: „Die ernste Forschung unbefangener Männer [?!], die an Ort und Stelle die Örtlichkeiten geprüft haben, hat ergeben, daß die großen Grundzüge der topographischen Gliederung, die Hauptschauplätze der Dichtung … mit unverkennbarer Treue der Wirklichkeit entnommen sind, daß der Naturcharakter der Insel allenthalbend so treffend“ dargestellt ist, „daß ein Zweifel, der Dichter habe die noch heute Ithake genannte Insel gemeint, nicht mehr aufkommen kann“ (HENKE III 82). 1142 VÖLKL 67. Also, „so bestechend diese Namenserhaltung wäre, so wenig will sich die homerische Schilderung mit der Lage von Thiaki in Einklang bringen lassen“ (a. a. O.).

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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Spitze des Festlandes, Kephallenen führte ich an“.1143 Über die dem Reich der Kephallenen hinzu gewonnenen festländischen Territorien berichten die homerischen Epen kaum etwas. Immerhin erfahren wir, dass Odysseus zahlreiche Viehherden „auf dem Festland“ besaß, die von „fremden und eigenen Hirten“ gehütet wurden.1144 Und der Schiffskatalog der Ilias, der die Gebiete des Inselreichs der Kephallenen auflistet, verweist auch auf den „Festlandsbesitz“ sowie auf dessen „Gegenküste“.1145 „Die ungewöhnlichen Angaben ‚Festland‘ und ‚gegenüberliegendes Küstenland‘“1146 (also die kephallenische ἤπειρος und deren ἀντι-περαῖα) gilt es nun zu enträtseln. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Odyssee zwischen den kephallenischen Festlandsbesitzungen und dem „schwarzen Festland“ differenziert.1147 So drohten die adligen Freier dem missliebigen, bettelnden Gesindel es einfach aufs „schwarze Festland“ abzuschieben, das der grausame König Echetos beherrschte.1148 Die Drohung impliziert, dass die Abschiebung nicht aufwändig ist und sich das „schwarze Festland“ deshalb nicht weit entfernt von Ithaka befindet. Das dem kephallenischen Inselraum nächstliegende Festland ist die mittelgriechische Küstenlandschaft Akarnanien. Nördlich von Akarnanien, getrennt durch den Ambrakischen Golf, erstreckt sich das festländische Thesprotien, und südlich von Akarnanien, getrennt durch den Golf von Patras, die westpeloponnesische Landschaft Elis. Da die Odyssee die westgriechischen Küstenlandschaften Thesprotien1149 und Elis1150 beim Namen nennt, nicht aber das dazwischen liegende Akarnanien, kann das „schwarze Festland“ nur Akarnanien bezeichnen, das den Inseln der Kephallenen östlich benachbart ist. Dies kommt auch in den Worten der Althistoriker Ernst Kirsten und Wilhelm Kraiker zum Ausdruck: „Akarnanien trat als Gegenküste der Ionischen Inseln in die Geschichte ein“.1151 Beim „schwarzen Festland“ der Odyssee handelt es sich also um die Landschaft Akarnanien, die dem westgriechischen Inselbogen unmittelbar gegenüber liegt. Für diese Fixierung spricht auch, dass im 21. Gesang der Odyssee einige Territorien „rundum im achaischen Land“ aufgezählt werden, so auf dem westlichen und nördlichen Peloponnes sowie das in einem Vers genannte „Ithaka“ mit „dem schwarzen Festland“.1152 Der Dichter

1143 Od. 24,377 f. 1144 Od. 14,100–102. 1145 Ilias 2,635. „Jedenfalls öffnet der letzte Vers in der Beschreibung [der Ilias über den Herrschaftsbereich des Odysseus] den Raum über die Inseln hinaus auf das Festland“ (VISSER 592). 1146 VISSER 592; „allerdings sind die beiden Begriffe nur schwer zu konkretisieren“ (ders. 594). 1147 Die Verse Od. 14,96–100 kontrapositionieren „das schwarze Festland“ und das kephallenische „Festland“. 1148 Od. 18,84–87, 115 f.; 21,109, 308 f. 1149 Od. 14,315, 316, 335; 16,65, 427; 17,526; 19,271, 287, 292. 1150 Od. 4,635; 13,275; 15,298; 21,347; 24,431. 1151 KIRSTEN/KRAIKER 716; ihnen unterlief mit dem Terminus „Ionische Inseln“ jedoch ein Fehler, denn sie meinten den gesamten westgriechischen Inselbogen. So schliesst der Terminus ‚Ionische Inseln‘ Leukas aus (s. Anm. 227); andererseits beinhaltet er die Insel Kythera vor der Südostspitze des Peloponnes (s. Anm. 122). 1152 Od. 21,107–109. Vers 107: „rundum im achaischen Land“; 108: Pylos, Argos und Mykene; 109: Ithaka und das schwarze Festland.

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1. Die Ithaka-Antwort

schließt damit einen Küstenstrich in Epirus aus.1153 Erwähnt sei noch, dass die vorwiegend gebirgige Küstenlandschaft Akarnanien aufgrund der bis zu 1.589 m hohen Küstenkette aus Sicht der Inselbewohner düster und abweisend erscheint,1154 eben als „schwarzes Festland“. Zudem waren im Altertum die Akarnanen „nach allen Schilderungen ein Naturvolk von einfachen, aber rohen Sitten“,1155 und diesen Tenor hat auch die homerische Erzählung vom grausamen König Echetos, der Menschen sogar nach Belieben verstümmelt. Manche Homerinterpreten vermuten, der kephallenische Festlandsbesitz habe sich an der Nordwestküste des Peloponnes befunden,1156 und sie verweisen auf den anscheinend auf Ithaka sesshaften Noemon, der Stuten in Elis besitzt und dort Maultiere züchtet.1157 Dabei ist es gar nicht sicher, dass Noemon, der es gegen den Willen der adligen Freier gewagt hatte, sein Schiff dem Telemach für die Reise zum Peloponnes zur Verfügung zu stellen,1158 überhaupt ein Kephallene war. So nennt die Ilias ebenfalls einen Noemon, der kein Ithakesier, sondern Pylier war: „Menelaos gab dem Noemon, Antilochos’ Freunde, die Stute, fort sie zu führen“,1159 die „ein Maultierfohlen im Schoße“ trug.1160 Da das ‚sandige Pylos‘ und Elis benachbart waren und die pylischen Eroberungszüge des Nestor nach Elis führten,1161 könnte der in der Odyssee genannte Noemon, der seine Maultiere in Elis züchtet und ins nicht weit entfernte, hochgebirgige Kephallenia exportierte, durchaus mit dem Noemon der Ilias identisch sein. Aber selbst wenn der Noemon der Odyssee ein Ithakesier war, soll seine auswärtige Maultierzucht und der damit möglicherweise verbundene Landbesitz in Elis keineswegs bestritten werden, wohl aber die sich darauf stützende Annahme, das Reich der Kephallenen habe sich über Teile des nordwestlichen Peloponnes erstreckt. Denn alle Küstengebiete und Hafenorte in und um Elis unterstanden anderen Herrschern, wie v. a. den Angaben des Schiffskatalogs der Ilias zu entnehmen ist.1162 Auch der Bericht von der Heimreise des Telemach, der immerhin zwei Orte zwischen dem „sandigen Pylos“ in Triphylien und der Nordwestspitze des Peloponnes nennt,1163 bietet keinerlei Hinweis für Festlandsbesitzungen der kephallenischen Krone in Elis, und auch nicht die

1153 Es wurde bewusst die lat. Form Epirus gewählt, denn erst seit dem 5. Jh. „wurde der Name Epeiros auf das Gebiet nördlich des Golfes von Arta, des Ambrakikos Kolpos, beschränkt und ist ihm, auch in der lateinischen Form Epirus, geblieben“ (KIRSTEN/KRAIKER 716). 1154 „Auch beim Näherkommen … erscheint das Gebirge immer als Mauer“ (KIRSTEN, Akarnanien 112). 1155 KIEPERT 294. „Die Akarnaner und Aitoler leben noch zur Zeit des Thukydides unter urgriechischen Verhältnissen“ (HELBIG 282). 1156 VÖLCKER 62. Angeblich „hat Odysseus auch Besitzungen in Elis“ (BÜRCHNER, Kepallenia 193,30 f.). „Auf dem peloponnesischen ἤπειρος also haben ithakesische Edle auswärtigen Herdenbesitz“, denn „wenn irgend ein ‚Festland‘, dann hat also das elische das erste Recht als Weideplatz der Herden des Odysseus zu gelten“ (BELZNER 16). 1157 Od. 4,635 f. 1158 Od. 4,646 ff. 1159 Ilias 23,612 f. – Es gab auch einen von Odysseus getöteten Lykier namens Noemon (Ilias 5,678). 1160 Ilias 23,265 f. 1161 Ilias 11,670–761. 1162 Ilias 2,591–624. 1163 Od. 15,295 ff. Dort werden die Hafenstädte Krunoi und Chalkis hervorgehoben.

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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detailreiche Erzählung von der Fahrt des kretischen Schiffes entlang der Westküste des Peloponnes im Homerischen Hymnos an Apollon.1164 Deshalb werden die festländischen Territorien des Odysseus meist auf Akarnanien bezogen,1165 zumal die einzige Kolonie der Kephallenen, nämlich die Hafenstadt Astakos, in klassischer Zeit an der mittelakarnanischen Küste gegründet wurde.1166 Aber die Akarnanen, die militärisch so mächtig waren, dass sie mit dem großen Volk der Aitoler um die Ebene des Stromes Acheloos rangen,1167 galten im frühen Altertum als „ein sehr kriegerisches und tapferes Volk“, das für seine zahlreichen Söldner bekannt war.1168 So dürfte es den zwar mutigen, aber nicht sonderlich bevölkerungsreichen Kephallenen1169 wohl erst gar nicht in den Sinn gekommen sein, einen Versuch zur Eroberung Akarnaniens zu unternehmen. Allein der Name des grausamen Königs Echetos, der das den Inseln gegenüberliegende „schwarze Festland“ beherrschte, galt den Kephallenen als schreckliche Drohung, wie die Odyssee zweimal betont.1170 Zudem waren die Kephallenenkönige Laertes und Odysseus besonnene Herrscher, die keine unnötigen machtpolitischen Abenteuer eingingen, wovon v. a. die schwierige Werbung des Odysseus für den Trojanischen Krieg zeugt.1171 Die Behauptung, die homerischen Kephallenen hätten sich mit ihren mächtigen Nachbarn, den Akarnanen angelegt, ist zu verwegen, um als solide Arbeitshypothese zu dienen. Der gesuchte kephallenische Festlandsbesitz dürfte sich also weder über Akarnanien und Epirus, noch über Teile von Elis erstreckt haben. Folglich bleibt nur noch ein festländisches Territorium übrig, nämlich das im wahrsten Sinne des Wortes nächstliegende: Die von der Insel Kephallenia nur 8 km entfernte Festlandshalbinsel Leukas,1172 die der Nordküste Akarnaniens vorgelagert ist. Diese Identifikation setzt natürlich voraus, dass Leukas in frühhistorischer Zeit keine vom Meer umflossene Insel war, wie Wilhelm Dörpfeld zu Beginn des 20. Jhs. in seiner viel beachteten Leukas-Ithaka-Theorie

1164 Hom. Hym. 2,425 ff.: das Schiff fuhr nordwärts an der Westküste des Peloponnes entlang: „Vorbei gings weiter an Krunoi, an Chalkis, an Dyme, am göttlichen Elis, wo die Epeier Herrschaft führen. Und als es dann Pherae zuhielt, stolz und gebläht vom Winde des Zeus, da erschien ihnen, im Nebel verschwommen, Ithakas steiles Gebirge …“. 1165 „Mit ἤπειρος kann nur Akarnanien gemeint sein und mit ἀντιπεραῖα nichts anderes als Elis“ (JACHMANN 36); also „man wußte, daß [mit ἤπειρος] das gegenüberliegende Akarnanien gemeint sei“ (ders. 37 f.). 1166 SCHEER, Astakos 139. 1167 Die Folgerung, Dulichion habe zum Herrschaftsbereich des Odysseus gehört und sei auf die fruchtbare Delta-Landschaft des Acheloos zu beziehen (LANG 28 ff.), ist v. a. auch deshalb abwegig. 1168 FORBIGER III 602. Vgl. THUKYDIDES 1,5,3; 7,31,5. So „betrug die Wehrkraft Akarnaniens (ohne Amphilochien und Leukadien) wahrscheinlich an 5000 Mann“ (OBERHUMMER, Akarnanien 5). 1169 Die Ilias weist die Kephallenen zwar als mutig (2,631), aber als militärisch unbedeutend aus (2,637), denn die Truppen des Odysseus umfassten maximal 600 Soldaten (12 Schiffe zu je 50 Mann; vgl. Ilias 2,637; Od. 8,35, 48). Hugo MICHAEL (23, Anm. 3) berechnet seine „sämtlichen Truppen auf 720 Mann“. 1170 Od. 18,83 ff.; 21,304 ff. 1171 Od. 24,115 ff. 1172 „Daß unter ἤπειρος Leucadien begriffen ist, belehrt uns Laertes Od. 24,377, wo er sich seiner Jugendthaten rühmt. Ob auch andere Theile Akarnaniens darunter zu verstehen seien, kann bezweifelt werden“ (VÖLCKER 61).

168

1. Die Ithaka-Antwort

nachdrücklich behauptete.1173 Inzwischen beweisen geologische Untersuchungen, dass Leukas im frühen Altertum in viel stärkerem Maße eine festländische Halbinsel war als heutzutage, weil der Meeresspiegel seitdem um etwa drei Meter gestiegen ist.1174 Wenn der heutige Meeresspiegel in der Lagune von Leukas um nur einen Meter tiefer läge, dann fiele zwischen der Nehrung (im Norden) und der Enge bei Drepano (im Süden) immerhin ein ca. 10 qkm großes Territorium trocken,1175 das eine erheblich breitere Verbindung zwischen der „Fastinsel“ Leukas und dem akarnanischen Festland herstellen würde.1176 Auch der archäologische Befund indiziert eindeutig, dass der Meeresspiegel im westgriechischen Insel- und Küstenraum um Meterbeträge angestiegen ist. So wurde eine Nekropole mit zahlreichen Grabsteinen aus dem klassischen Altertum „unweit der antiken Stadt Leukas in einer Tiefe von 3 m unter dem Meeresspiegel bei Baggerarbeiten gefunden“,1177 und die vom Geographen Srabon erwähnte römische Steinbrücke, die auf fünf Pfeilern ruht und den im Altertum gegrabenen Kanal und dessen Ufer überspannte, „liegt heutzutage völlig unter Wasser“.1178 Diese und andere archäologische Indizien belegen, dass Leukas in historischer Zeit stets eine festländische Halbinsel war, und zu diesem Resultat führt auch die Sichtung der antiken Quellen.1179 Denn „von Homer über Thukydides zu Livius und Arrian lässt sich eine geradlinige Entwicklung konstatieren: Leukadien [Leukas] war ursprünglich ein Vorgebirge des Festlands und durch einen festen Isthmus mit Akarnanien verbunden“.1180 So „haben die alten Geographen auf das Leukas-Problem eine Antwort gegeben, nämlich die, Leukas sei in alten Zeiten gar keine Insel gewesen und erst durch die Anlegung eines Kanals seitens der Korinther (also in nachhomerischer Zeit) Insel geworden“.1181 Und weil die Menschen des Altertums Leukas als ein maritimes Glied des Festlandes betrachteten, identifizierte namentlich Strabon die Halbinsel Leukas mit der in der Odyssee genannten „Spitze des Festlandes“, die Laertes als Hochkönig der Kephallenen erobert hat-

1173 DÖRPFELD, Alt-Ithaka 68 ff. – Paul CAUER verteidigt in seinem Werk „Grundfragen der Homerkritik“ (240–256) die Leukas-IthakaTheorie, ebenso (ders. Homer 14): DÖRPFELDs „Vermutung, daß Ithaka, die Heimat des Odysseus, nicht die heute und schon im geschichtlichen Altertum so genannte Insel sei, sondern Leukas, darf wohl als gesichert gelten“. 1174 BERTELE/WACKER 13. W. M. MURRAY 460 ff. – Walter LEAF (145) irrte sich also, als er vor einem Jahrhundert in seinem Werk ‚Homer and History‘ schrieb: „I believe, agreed that for centuries earlier Leucadia was just as much an island as it is now“, und „we have therefore a right to include Leukas as one of the four [big] islands to be identified with the Homeric quarternion“. 1175 Seekarte Nr. 1092 D (Dioryx Levkados). – Vgl. die Skizze bei LANG 10. 1176 PHILIPPSON/KIRSTEN II 9. 1177 LANG 12. 1178 LANG 13. Diese Brücke und ihren Dammweg erwähnt STRABON (1,3,18). – Auch die antiken „Molen setzen ganz augenfällig engere Ufer voraus, als wir heutzutage vor uns haben“ (LANG 11). 1179 „In agreement with other classical writers, in Homer’s time Leukas was not an island but was connected to the coast and, consequently, Homer correctly called Leukas ‚a coast or cape of the mainland” (Cees GOEKOOP 36). 1180 LANG 20. „Nach einhelliger antiker Tradition soll Leukas mit dem Festland durch den Isthmos verbunden gewesen sein“ (MEYER, Leukas 592,53 ff.). 1181 MÜLDER, Ithaka-Hypothese 153).

169

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

Ambrakischer Golf

Vulkaria-See

Flachsee (0 bis –1 m)

Palairos Halbinsel Plagia

Myrtuntisches Sumpfmeer

Halbinsel Leukas

Nerikos

Meganissi

Kalamos

Kastos

Arkoudi

Atokos Kephallenia

Theaki

Abb. 7: Die Halbinseln Leukas und Plagia

10 km

170

1. Die Ithaka-Antwort

te.1182 Also, „das älteste Zeugnis des Altertums, ein Vers im jüngsten Teile der Odyssee (24,377), behandelt Leukas noch als Glied des Festlandes“,1183 und deshalb wird Leukas nicht unter den nesoi („Inseln“) des Odysseus aufgezählt. Obwohl im frühen Altertum die Landverbindung zwischen Leukas und Akarnanien noch viel ausgeprägter als in der Neuzeit war, weil seitdem der Meeresspiegel stetig anstieg, ist nicht auszuschließen, dass die homerischen Griechen die ‚Fastinsel‘ Leukas als nesos hätten bezeichnen können,1184 obgleich nesos, im Gegensatz zum ‚Fest‘-Land, eigentlich „das schwimmende Land“ bedeutet.1185 Aber die Odyssee vermeidet diesen Terminus für Leukas, und nicht nur, um das Inselreich des Odysseus hinreichend vom Festland abzusetzen. Denn „die Tatsache, dass Inseln ganz vom Meer umgeben sind, bildete von Anfang an das wichtigste Unterscheidungsmerkmal gegenüber dem Festland“.1186 So macht es ohne moderne Verkehrstechnik (lange Brücken und untermeerische Tunnel) in der Wahrnehmung der Bevölkerung einen enormen Unterschied, ob es sich bei einem maritimen Territorium bloß um eine festländische ‚Fastinsel‘ oder um eine (Voll-) Insel bzw. um einen Teil derselben handelt (d. h. um eine Halbinsel einer Vollinsel), die ausschließlich auf dem Seeweg erreichbar sind. Dieser qualitative Unterschied, der die Zugangsmöglichkeit von Territorien klassifiziert, findet in der wiederholt gestellten, formelhaften Frage ihren Ausdruck, die in der Odyssee die Kephallenen an Fremde zu richten pflegen: „Wer bist du und woher kommst du von den Menschen? … Wie war das Schiff, mit dem du hier ankamst? … Ich meine, zu Fuß bist du schwerlich gekommen?“1187 Bevor durch den Isthmos von Leukas 1182 STRABON 10,2,8. Diese Stelle kommentiert Eugen OBRERHUMMER (Akarnanien 47, Anm. 2) mit den Worten: „Ἀκτή bedeutet ursprünglich eine vorspringende Steilküste, was auf Leucadien sehr wohl zutrifft. Man erinnere sich daran, dass vor der korinthischen Kolonisation Leukadien noch Halbinsel war, weshalb auch der Ausdruck ἀκτή ἠπείροιο gerechtfertigt ist“. 1183 PARTSCH, Leukas 3 (mit Bezug auf Plin. nat. 2,90, 205; 4,1,5. Ovid. met. 15,289. Strab. 1,3,18; 10,2,8). 1184 Darauf weist auch Ulrich von WILAMOWITZ (Ithaka-Hypothese 380) hin: „Wenn Leukas den Eindruck einer Insel machte, so konnte es so heißen trotz einem verbindenden Isthmos, wie die Pelopsinsel; und wenn keine Durchfahrt war, so war es für die Schiffahrt keine Insel“ (die von WILAMOWITZ gebotene Analogie zwischen Leukas und dem Peloponnes ist nicht schlagend, denn wie LANG 98 f. treffend bemerkt, ist „zwischen Leukas und dem Peloponnes doch ein himmelweiter Unterschied“, denn „die Insel Leukas ist klein und übersichtlich; ein Irrtum über ihre Natur kann bei ihren Bewohnern absolut nicht aufkommen“). Und Walter LEAF (143 f.) urteilt über die Inselnatur von Leukas: „But it is not an island if we take as part of the definition that an island should be circumnavigable. That Leukas is not by nature”. 1185 BENSELER 261. 1186 LÄTSCH 30. „Während der Begriff für Kontinent (ἤπειρος) im Griechischen indoeuropäischen Ursprungs, also älter ist, hat das Wort νῆσος für ‚Insel‘ eine rein griechische Provenienz und gehört in die spätere Zeit der Kolonisation“ (dies. 29). 1187 Od. 1,170 ff.; 14,187 ff.; 16,57 ff., 222 ff. – M. E. könnte die Frageformel auch darauf abzielen, ob es sich bei dem Fremden nicht vielleicht gar um einen in Menschengestalt erschienen Gott handelt (denn nur Götter erkennen einen anderen Gott: Od. 5,79), zumal nur Götter zu Fuß auch zu den Inseln gelangen. Man denke u. a.: Hermes, der sich beim Aufbruch zur fernen Insel Ogygia die goldenen Sandalen anzog und über Land und Meer stürmte (Od. 5,44, 49 ff.), oder an Hephaistos, der zur Insel Lemnos humpelt, währenddessen Ares und kurz darauf auch Poseidon, Hermes und Apollon zur Insel Kythera kommen (Od. 8,283 ff.). Athene (Od. 1,319 ff.; 2,393 ff.; 13,221 ff.; 16,157 ff.; 24,516 ff.) traf mehrmals auf der Insel Ithaka ein. Weil Menschen Götter nicht erkennen, sagte Odysseus zu Athene: „Schwer ists, Göttin, dem Sterblichen, der dir begegnet, und wäre er noch so verständig, dich gleich zu erkennen; du machst

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

171

der anthropogene Kanal führte, der übrigens im Lauf der Geschichte meist versandet und somit unbrauchbar war, konnte man Leukas zweifellos vom Festland aus ‚zu Fuß‘ erreichen, und v. a. deshalb ist Leukas weniger als nesos,1188 sondern treffender als cherso-nesos (χερσό-νησος: „Festlands-Insel“) oder akte (ἀκτή:„Vorgebirge“) zu bezeichnen. Noch auf mittelalterlichen Karten erscheint Leukas „überhaupt nicht als Insel, sondern als Vorgebirge des Festlandes“.1189 Da man also Leukas, im Gegensatz zu den anderen westgriechischen Inseln, über den Landweg und somit zu Fuß erreichen konnte, ist für Wilhelm Dörpfed die in der Odyssee mehrmals auftauchende stereotype Formel, „zu Fuß bist du schwerlich [nach Ithaka] gekommen“,1190 die womöglich die fußläufige Erreichbarkeit suggeriert, ein wichtiges Argument für seine Leukas-Ithaka-Theorie.1191 Aber während Dörpfeld die Formulierung als belastbares Indiz für die Möglichkeit wertet, dass man Leukas auch per pedes erreichte, wird die Redensart in der Homerphilologie meist nur als launige Formulierung gewertet, die „mit leiser scherzender Selbstverständlichkeit Ithaka weit vom Festlande“ abrückt.1192 Dementsprechend äußert sich u. a. Dietrich Mülder: „Wenn, wie in der Odyssee, jemand direkt gefragt wird: Wo liegt das Schiff, mit dem du gekommen bist? und zur Erläuterung dieser direkten Frage hinzufügt: zu Fuss kannst du unmöglich hierher gekommen sein, so schliesst das diese Möglichkeit ausdrücklich aus. οὐκ ὀΐομαι, sogar noch verstärkt durch τί, drückt aus, dass auf den gegenteiligen Gedanken kein Vernünftiger kommen kann“.1193 Indem Wilhelm Dörpfeld die formelhafte Redensart, ob man zu Fuß nach Ithaka gekommen sei, als Stütze der Leukas-Ithaka-Theorie nutzt, gerät er jedoch in eine argumentative Zwickmühle, weil er dadurch einerseits die Festlandsverbundenheit von Leukas betont, während er sie andererseits für das frühe Altertum (zu Unrecht) bestreitet, da Ithaka in der Odyssee ausdrücklich als „meerumgeben“ bezeichnet wird:1194 So

1188

1189 1190 1191 1192

1193 1194

ja doch selber jedem dich gleich“ (Od. 13,312 f.). Deshalb erwägt Alkinoos die Möglichkeit, dass in der Person des schiffbrüchigen Odysseus ein Gott angekommen sei (Od. 7,199 ff.; vgl. 6,280 f.). Zwar ist Leukas gekennzeichnet „durch die eigentümliche Unentschiedenheit seiner zwischen Insel und Festlandsglied schwankenden geographischen Stellung“ (PARTSCH, Kephallenia 54), aber selbst als „Fastinsel“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 9) wäre sie noch keine (Voll-) Insel, sondern ein maritimes Glied des Festlandes. BELZNER 69. Od. 1,173; 14,190; 16,59, 224. DÖRPFELD, Alt-Ithaka 83 f. BELZNER 19; er hält also die Formulierung für einen „leisen Anflug von Scherz; handelt es sich doch [bei Ithaka] um ein meerumrauschtes Eiland und noch dazu um eines, das … mehr als andere vom Festlande“ entfernt liegt (a. a. O.). Ähnlich äußert sich Hugo MICHAEL (13): „Ameis erklärt die Worte ‚denn ich kann mir nicht denken, dass du zu Fuss hierher gekommen bist‘ für einen naiven Witz im Munde der Inselbewohner, und ich stimme ihm darin bei, denn er begründet in einem scherzhaften Ton die vorausgehenden, etwa eindringlichen Fragen“. Heinrich RÜTER (38), ein Vertreter der Leukas-Ithaka-Theorie, meint dagegen, dass die formelhafte Frage „nicht als Scherz, sondern dahin aufzufassen ist, dass es möglich war, Ithaka gleichsam auf dem Landweg zu erreichen“. Auch Walter LEAF (168) meint, die formelhafte Frage in diesem Sinne zu interpretieren. MÜLDER, Ithaka 35 (mit Bezug auf Od. 1,173; 14,190; 16,59, 224). Od. 1,386, 395, 401; 2,293; 21,252. Der Ausdruck amphialos‚ der auch als „an zwei Meeren liegend“ gedeutet werden kann, ist für Wilhelm DÖRPFELD (Alt-Ithaka 104) kein schlagendes Argument, dass

172

1. Die Ithaka-Antwort

benötigte Telemach dringend ein Schiff, um von seiner Heimatinsel Ithaka zum griechischen Festland zu gelangen.1195 Aus diesen Gründen postuliert Dörpfeld schon für die homerische Zeit einen Wasserweg durch den leukadischen Isthmos, über den er die im Epos genannte ithakesischen Fähre1196 verkehren lässt. Und deshalb betont Heinrich Rüter als Fürsprecher Dörpfelds: Auch „bei der Benutzung einer Fähre war der Ausdruck ‚zu Fuss‘ … gerechtfertigt“.1197 Die Befürworter der Leukas-Ithaka-Theorie führen als Indizien für „die Beziehungen zwischen Leukas“ und dem Festland also erstens die „Fähre“ an (von der die Odyssee gar nicht sagt, dass sie das homerische Ithaka mit dem Festland verbindet), zweitens die Besitzungen der Kephallenen auf dem „Festland“ und drittens „die Vermutung“ [?], man könne „auf dem Landweg“ zu Fuß nach Ithaka gelangen.1198 Die ithakesische Fährverbindung nutzte auch der treue Philoitios, der Rinder und Ziegen zum Palast des Odysseus brachte.1199 Dieser begrüßte den heimgekehrten König der Kephallenen mit den Worten: „Odysseus, du trefflicher, gabst mir die Rinder in Pflege, als ich ein Knabe noch war im Lande der Kephallenen (Κεφαλλήνων ἐνὶ δήμῳ)“.1200 Wenn Dörpfelds Theorie zufolge Philoitios mit der Fähre vom Festland nach Leukas gelangte, also vom „Demos Kephallenia“ nach Ithaka, dann würde dies bedeuten, daß die Kephallenen „in der älteren Dichtung nur auf dem Festlande wohnen“.1201 Von dort, „dem späteren Akarnanien“, müssten sie dann zum „heutigen Kephallenia“ gezogen sein,1202 das laut Dörpfeld das homerische Dulichion sei.1203 Zu derart weitreichenden und überaus problematischen Folgerungen, die sich sogar auf die mutmaßliche Altersbestimmung der homerischen Epen auswirken, sind Wilhelm Dörpfeld und seine

1195 1196 1197 1198 1199

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1202 1203

Ithaka ringsum vom Meere umgeben ist. Denn „diese Bedeutung finden wir z. B. bei Pindar (Ol. 13,40) für Korinth, offenbar weil diese Stadt zwischen zwei verschiedenen Meeren liegt“ (a. a. O.). Od. 2,212 ff., 382 ff., 4,634 f., 646 f. Od. 20,187. Bzgl. der in der Odyssee genannten Fähre s. a. S. 141 f. RÜTER 38. – Erst in römischer Zeit konnte man, trotz des anthropogenen Kanals, der durch den Isthmos führte und Leukas formal zur Insel machte, über eine steinerne Brücke zu Fuß durchgängig von Leukas nach Akarnanien gehen (s. S. 168). CAUER, Homer 15; mit Bezug auf Od. 14,100; 20,187 f. [u. Ilias 2,635], 20,190 u. ö. Od. 20,185 ff. Odysseus verfügte über Rinderherden nicht nur auf dem Festland (14,100), denn auch auf der Insel Ithaka gab es „treffliche Weiden für Rinder“ (13,2469). So weist Otto SEECK (316) darauf hin, dass „die Rinderheerden des Odysseus auf dem Festlande und auf Kephallenia [!] weideten“. Folglich ist es nicht nötig, den Rinderhirten Philoitios auf dem Festland zu fixieren (wie Wilhelm DÖRPFELD, Alt-Ithaka 133 suggeriert), zumal die beiden Hauptteile des homerischen Ithaka (Kephallenia) stets durch eine Fähre verbunden waren. Od. 20,209 f. RÜTER 36. Nach „Od. XX 210 wohnen die Kephallenen auf dem Festland, dem späteren Akarnanien; im Schiffskatalog sind sie nach Dulichion oder Same gezogen, dem heutigen Kephallenia“ (ders. 44). – Eine Variante bietet Oskar HENKE (III 86), der ein Vertreter der Theaki-Ithaka-Theorie ist: „Auf der von Laertes eroberten Leukas hatte ja Philoitios, der Oberhirte der großen Rinderherden des Odysseus, seinen Wohnsitz. Eine regelmäßig bediente Fähre bestand (Od. 20,187 f.) zwischen Ithake und Leukas“. RÜTER 44; mit Bezug auf Od. 20,210. So ist „aber die Frage vorläufig ungelöst, welche Verschiebungen des Besitzes es waren, die den Namenswechsel veranlaßt haben“ (CAUER, Homer 17). DÖRPFELD, Alt-Ithaka 90 f. Aber schon STRABON (10,2,14) stellte fest: „But that writer is most in opposition to Homer who identifies Cephallenia with Dulichium” (übersetzt von Horace L. JONES V 49).

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

173

Anhänger genötigt, um die in der Odyssee erwähnte ithakesische Fähre zu legitimieren.1204 Dagegen stellte v. a. Ulrich von Wilamowitz fest, dass der im Zusammenhang mit dem Oberaufseher der Rinder, Philoitos, genannte ‚Demos der Kephallenen‘ „hier die Gemeinde der Kephallenen, eben [die Insel] Kephallenia ist“,1205 und sich somit nicht auf einen Teil des Festlandes bezog.1206 Wie bereits dargelegt, hat sich der in Ilias und Odyssee erwähnte kephallenische Festlandsbesitz v. a. auf die Festlandshalbinsel Leukas bezogen. Einen Eigennamen für dieses maritime Festlandsglied bieten die homerischen Epen nicht. So sei erwähnt, dass der nur einmal beiläufig erwähnte „Felsen Leukas“ (der „Weiße Felsen“) am westlichen Ozean1207 kein hinreichendes Indiz dafür ist, dass der Felsen auf die Halbinsel Leukas zu beziehen ist. Immerhin tauchen in der antiken Überlieferung drei verschiedene Männer mit dem Namen „Leukos“ auf, „die durch ihren Namen mit Λευκάς [Leukas] zusammenhängen“, und alle drei stehen „in einer persönlichen Beziehung zu Odysseus. Das stimmt aufs beste zu der Ansicht …, daß zum Reiche des Odysseus in Β [Ilias 2,635] auch Leukas gehört. Aber der Dichter nennt es nicht, während er doch Namen genug aufzählt … Fast scheint es, als habe die Landschaft [des heutigen Leukas] – Halbinsel oder Insel – zur Zeit, da der Verfasser von B [Ilias, 2. Gesang] arbeitete, den Namen Λευκάς noch nicht gehabt“.1208 Und so hindert nichts, den in den homerischen Epen noch namenlose Festlandsbesitz des Odysseus auf das westgriechische Leukas zu beziehen. Auf seinem Feldzug gegen Leukas erstürmte Laertes die „wohlgebaute Stadt Nerikos an der Spitze des Festlandes“.1209 Diese „Spitze des Festlandes“ ist allerdings nicht deckungsgleich mit dem kephallenischen Festlandsbesitz, wie oft fahrlässig angenommen wird, sondern lediglich eine Landspitze bzw. Vorgebirge des kephallenischen Festlandbesitzes (sprich: Leukas).1210 Die Differenzierung zwischen dem festländischen Leukas 1204 „Wenn der Name ‚Ithaka‘ von Leukas nach der Insel, die ihn jetzt führt [Theaki], gewandert sein soll, so muß das im Zusammenhang mit einer Veränderung der Besitzverhältnisse in jenen Gegenden geschehen sein; und diese scheint nichts anderes gewesen zu sein zu können als ein Ausläufer der Dorischen Wanderung. Träfe das zu, so würde die Odyssee in ein weit höheres Alter hinaufrücken, als ihr bisher zuerkannt wurde, und zwar nicht nur ihrem Inhalt nach, sondern doch wohl in der auf uns gekommenen Gestalt“ (CAUER, Homer 15). Aber „if such a thing is possible“, also die der Leukas-Ithaka-Theorie inhärente Veränderung der Besitzverhältnisse und damit der Volksnamen etc., so kommentiert Thomas W. ALLEN (97) knapp: „The question did not disturb Dörpfeld“. 1205 WILAMOWITZ, Wochenschrift 381. Also, der Dichter siedelt „den Philoitios in Kephallenia an“ (SEECK 307). 1206 Dennoch ist u. a. für Walter LEAF (154) die angebliche Leukas-Fähre, die „across a lagoon two feet deep in a flat punt“ das Vieh sicher transportierte, ein hervorragendes Beispiel, „how the identification of Leukas with Ithaka illuminates the Odyssey“. 1207 Od. 24,11. – Strabon (10,8) vermutet, erst die Korinther hätten die Stadt Leukas genannt, anknüpfend an den Namen des Vorgebirges Λευκάτας. Indes, „die einmalige Nennung des leukadischen Felsens in der Odyssee kann keinen Hinweis auf die Insel Leukas darstellen“ (SIEBERER 158, Anm. 30). 1208 CAUER, Grundfragen 238 f. (mit Bezug auf Ilias 4,491; Schol. zu Od. 4,797 mit Lykophr. Alex. 1218). 1209 Od. 24,377 f. – „Auf dem Festland hatte Laertes die Halbinsel, die durch die Korinther zur Insel Leukas ward, mit der Stadt Nerikos erobert“ (VOSS, Myth. Briefe III 166). 1210 Obwohl Eugen OBERHUMMER (Akarnanien 47) mit Strabo (X 2,8; 10; 24) der Auffasung ist, „dass mit ἤπειρος in B 635 [Ilias 2,635], ξ 100 [Od. 14,100] das Festland von Akarnanien und mit ἀκτή ἠπείροιο in ω 377 [Od. 24,377] Leukadien gemeint ist“, gibt er (a. a. O., Anm. 2) zu bedenken: „Ἀκτή bedeutet ursprünglich eine vorspringende Steilküste“.

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1. Die Ithaka-Antwort

und seiner gebirgigen Landspitze ist durchaus sinnvoll, wie ein Blick auf die Landkarte zeigt: Vom massigen leukadischen Rumpf strebt nämlich eine spitz zulaufende Gebirgsrippe südwärts, die im berühmten leukadischen Felsen endet.1211 Auf diese, von Geographen als „leukadisches Vorgebirge“ bezeichnete Landzunge,1212 die sich vom Rumpf der Festlandshalbinsel Leukas deutlich absetzt, dürfte der homerische Ausdruck akte epeiroio (ἀκτή ἐπείροιο) zu beziehen sein. Die relativ schmale, ca. 10 km lange und bis 631 m hohe Gebirgsrippe ist äußerst signifikant und auf die Insel Kephallenia ausgerichtet, mit der sie eine Meerenge bildet, die das ruhige Binnenmeer östlich des Inselbogens mit dem offenen Ionischen Meer verbindet. Die von Laertes eroberte Stadt Nerikos lag also „an der Festlandsspitze“, d. h. am leukadischen Vorgebirge, das der Nordspitze Kephallenias gegenüberliegt. Dieses steile Vorgebirge bildet die schützende Westflanke der tiefen Bucht von Vasiliki, an der sich die zweitgrößte Ebene der festländischen Halbinsel Leukas erstreckt.1213 Die sich der Bucht anschließenden Ebene weist einen ganzjährig fliessenden Bach auf und wird landwirtschaftlich intensiv genutzt. Laut Skylax (6. Jh. v. Chr.), der im Auftrag des Perserkönigs Dareios I. mehrere Forschungsreisen unternahm, lag dort im frühen Altertum die wichtigste Stadt der Halbinsel Leukas.1214 Sie kontrollierte die verkehrsreiche, aber aufgrund von Strömungen und Winden nicht ungefährliche Meeresstraße, die vom Doppelgolf von Patras und Korinth zwischen Leukas und Kephallenia hindurch ins offene Ionische Meer und somit nach Nordwestgriechenland und Süditalien führt.1215 In der zweiten Hälfte des 7. vorchristlichen Jahrhunderts ließen sich auf der entgegengesetzten Seite von Leukas, nämlich an der Nordostseite am leukadischen Isthmos, korinthische Auswanderer nieder und gründeten dort die Stadt Epileukadioi („Korinther auf Leukas“), die später Leukas hieß. Nachdem die Korinther den Isthmos durchstochen und den Kanal geschaffen hatten, verlor die durch Strömungen und Fallwinde gefährliche Meeresstraße am südlichen Vorgebirge1216 ihre Bedeutung, und folglich verlagerte sich das städtische Zentrum der Festlandshalbinsel Leukas an den Isthmos, wo noch heute die gleichnamige Hauptstadt von Leukas liegt. Der siedlungshistorische Befund berechtigt zu der Annahme, dass die „wohlgebaute Stadt Nerikos“, die Laertes mit seinen Kephallenen am festländischen Vorgebirge (ἀκτή ἠπείροιο) erobert hatte, die frühhistorische Hafenstadt an der Bucht von Vasiliki war.

1211 Auf diesem Felsen Λευκάτας (Skyl. 34. Strab. 10,2,9. Verg. Aen. 2,274) lag das Apollonheiligtum (Anth. Pal. 6,251). – Der in Od. 24,11 genannte Leukas-Felsen ist aber nicht auf das Kap Leukatas zu beziehen. 1212 PARTSCH, Leukas 17. Auf dem Vorgebirge lebten nur Hirten und Mönche des Klosters H. Nikolaos. 1213 Leukas hat nicht nur nahe der gleichnamigen Hauptstadt am Isthmos, sondern „auch am Golf von Vasiliki ausgedehnte, dem Gebirge vorgelagerte Ebenen“ (MICHAEL 21). 1214 Skyl. 34; der Ort hieß damals „Phara“. 1215 Das Kap war „der Schrecken der Seeleute“ (PARTSCH, Leukas 20; vgl. Cic. Att. 5,9,1; fam. 16,2–5). 1216 So ist hinzuweisen auf das von Seefahrern „gefürchtete Leukadische Vorgebirge und die schroffe Westküste, aus deren Schluchten unversehens jähe Windstöße herabschießen“ (PARTSCH, Leukas 7). „Die Umseglung dieses spitzen Vorgebirges war … auch wegen der bisweilen recht kräftig nach NW ziehenden kräftigen Strömung für die antike Schiffahrt sicher eine lästige Aufgabe“ (ders. 19).

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

175

Deren Festungsreste liegen am Westrand der Ebene,1217 unmittelbar nördlich des heutigen Küstendorfes Ponti, und damit direkt unterhalb der hohen Gebirgsrippe, die in das leukadische Vorgebirge ausläuft. Noch Thukydides berichtet von einer Hafenstadt namens Nerikos auf Leukas, die im Jahr 428 v. Chr. Kriegsschauplatz einer athenischen Flottenexpedition war.1218 „Thukydides unterscheidet Nerikos mit so zweifelloser Bestimmtheit als besondere Ortschaft von der Hauptstadt [der Stadt Leukas am Isthmos], dass sein Fortbestehen als selbständige Ansiedlung bis in lichte historische Zeiten ausreichend beglaubigt ist“. Und „Nerikos muss so weit von der Stadt Leukas entfernt gelegen haben, dass [der athenische Admiral] Asopios hoffen konnte es zu nehmen, bevor aus der Hauptstadt, die er nicht anzugreifen wagte, wirksame Hilfe zur Stelle war“.1219 Aufgrund der wenigen Informationen von Thukydides wissen wir immerhin, dass in frühgriechischer Zeit auf der Halbinsel Leukas tatsächlich ein Hafenort namens Nerikos existierte, den die Odyssee im 24. Gesang als „Stadt“ bezeichnet.1220 Somit sind die schon antiken Spekulationen hinfällig, dass die homerischen Toponyme Nerikos (Stadt!) und Neriton (Berg!) auf einer Verwechslung ein- und desselben Bergnamens beruhen.1221 Aufgrund der Nerikos-Notiz des Thukydides erscheint es evident, dass die alte Hafenstadt „weit von der Stadt Leukas entfernt gelegen haben“ muss, und dass sie sich folglich in größerer Entfernung vom Isthmos befand. Eine präzisere Lagebestimmung bietet indes die Odyssee, derzufolge Nerikos am festländischen Vorgebirge zu verorten ist, also an der signifikanten Südspitze von Leukas, die der Insel Kephallenia zugewendet ist. Und somit lag die von Laertes eroberte leukadische Stadt Nerikos diagonal entgegengesetzt der am Isthmos befindlichen jüngeren Hafenstadt Leukas. Wie der Ilias zu entnehmen ist, gehörte zum maritimen Festlandsbesitz der Kephallenen noch eine anti-peraia (ἀντι-περαῖα).1222 Unter einer (Anti-) Peraia verstand man im Altertum einen festländischen Brückenkopf, den bedeutende Inselmächte aus strategischen Gründen oder als landwirtschaftliche Ressource auf der gegenüberliegenden Festlandsküste annektierten.1223 Da eine (Anti-) Peraia einem Inselreich gegenüber liegt, erscheint der Iliasvers zunächst unverständlich, wonach Odysseus auch einen Teil 1217 Etwa 200 m nordöstlich des Dorfes Phara liegt auf einem „wohl begrenzten Felshügel der Mauerkranz eines mörtellosen Baues mit großen Quadern. Der Umfang des Mauergürtels beträgt etwa 200 m, der Flächenraum 0,24 ha“ (PARTSCH, Leukas 20). 1218 Thuk. 3,7,5; 94,2. – „Nerikos ist später [bei Thukydides] ein Ort auf Leukas, ohne Zweifel identisch mit dem Nerikos oder Neritos (dennn die Lesart ist nicht fest), das nach dem ω auf dem Festland lag: für diesen Dichter war also Leukas keine Insel“ (WILAMOWITZ, Ithaka-Hypothese 383). Zur Nerikos-Diskussion s. a. BERTELE/WACKER 19 ff. 1219 PARTSCH, Leukas 21. 1220 Od. 24,377. 1221 „Nerikos“ (Od. 24,377) ist nicht mit dem „Neriton“ (Ilias 2,632. Od. 9,22) identisch, wie zuweilen fahrlässig behauptet (vgl. WILAMOWITZ, Untersuchungen 73, Anm. 2) wurde: „However, the critic who writes Nericum [Nerikos] instead of Neritum [Neriton], or the reverse, is utterly mistaken” (Strab. 10,2,8; übersetzt von Horace L. JONES V 41). Vgl. Plin. nat. 2,205; 4,5. Steph. Byz. s. Νήρικος. 1222 Ilias 2,635. – Das Urteil von Thomas W. ALLEN (87), Homer „regarded it [Leukas] in fact as the Ithacan peraea“, trifft nur teilweise zu, da die kephallenische Peraia auch auf Akarnanien übergriff, aber eben nicht auf ganz Akarnanien, wie STRABON (10,2,8; bes. 10,2,10) irrtümlich behauptet. 1223 Vgl. KIRSTEN/KRAIKER 716.

176

1. Die Ithaka-Antwort

„des Festlandes und dessen Antiperaia“ beherrscht habe. In diesem Fall erscheint die kephallenische Antiperaia nämlich nicht, wie man erwarten würde, als festländischer Brückenkopf, sondern als Gegenküste des Festlandes, die sich nun auf den westgriechischen Inselraum beziehen würde. Das wäre paradox und rätselhaft zugleich, zumal die Inseln zuvor genannt werden.1224 Legt man jedoch den konkreten geographischen Raum und die in der vorliegenden Studie erfolgten Identifizierungen der homerischen Territorien zugrunde, dann erweist sich auch die Suche nach der Antiperaia des kephallenischen Festlandbesitzes als sinnvoll. Dazu sei zunächst ein Blick auf die Morphologie der Küstenlandschaft Akarnanien geworfen: Im Nordwesten Akarnaniens tritt aus der NW-SO verlaufenden westgriechischen Küstenlinie die ca. 10 km breite, trapezförmige Halbinsel von Plagia gegen den Isthmos von Leukas stumpf vor,1225 an welche die etwa 40 km lange und südwärts streichende Gebirgshalbinsel Leukas anschließt. Die Halbinsel Plagia bildete bis ins Quartär das nördliche Ende der Landbrücke, die in einem konvexen Bogen das mittelgriechische Akarnanien mit dem Peloponnes verband, wodurch die Golfe von Patras und Korinth noch Binnenseen waren. Infolge der Plattentektonik zerbrach die Landbrücke zunehmend und hinterließ den westgriechischen Inselbogen.1226 Diese Bewegungen der Erdkruste führten auch zum Bruch zwischen der trapezförmigen Halbinsel Plagia und dem akarnanischen Festland, der deutlich sichtbar die ca. 10 km lange Ostgrenze der Halbinsel bildet: So fällt die Halbinsel Plagia mit einer länglichen Gebirgswand schroff in Richtung Akarnanien ab. Zu Füßen der Gebirgswand erstreckt sich eine sumpfige Ebene, die in prähistorischen Zeiten die nordwestgriechische Küstenlinie markierte und seitdem den Vulkaria-See aufweist, das Myrtuntische Sumpfmeer des Altertums.1227 Die Halbinsel Plagia, die morphologisch das nordöstliche Glied des westgriechischen Inselbogens bildet,1228 hebt sich vom eigentlichen Festland sichtlich ab und ist somit ein „klar definierter und geschlossener geographischer Raum“,1229 der in historischer Zeit „auch politisch der einer Insel“ war.1230 Da sich das Relief der Halbinsel ausschließlich westwärts öffnet, war sie kulturgeographisch stets der Festlandshalbinsel Leukas zugewandt, mit der sie durch den 6 km breiten Isthmos verbunden ist. Im Gegensatz zum flachen und beidseits offenen Isthmos von Leukas,1231 ließ sich der 13 km weiter öst1224 Deshalb umgeht u. a. Samuel BUTLER (174) das Problem von Festland und Gegenküste mit den Worten: Odysseus beherrschte „the mainland also that is over against the islands“. 1225 PHILIPPSON/KIRSTEN II 381. – Von der „Halbinsel Palairos“ spricht u. a. PARTSCH (Leukas 4). 1226 PHILIPPSON/KIRSTEN II 461. Die Halbinsel Plagia gehört geologisch nicht zu Leukas, sondern zur „Dukato-Zone“, die einen im Quartär im Meer versunkenen Höhenzug aus Rudisten-Nummuliten-Kalk beschreibt, zu der auch die Inseln Paxos und Antipaxos sowie das Aenos-Gebirge gehören (dies. 546). 1227 Strab. 10,2,21. – Der noch Mitte des 20. Jhs. ca. 16 qkm große See, „der seit der Antike stark schrumpfte“, trocknet „durch unkontrollierte Wasserentnahme“ zunehmend aus (BERTELE/WACKER 13). 1228 So liegt „das Bergland von Palairos wie eine Insel im Meer“, und es ist auch kulturgeographisch „nicht mehr Akarnanien, ist Landschaft der Ionischen Inseln“ (KIRSTEN, Akarnanien 112). 1229 BERTELE/WACKER 11. 1230 KIRSTEN, Akarnanien 113. 1231 Der leukadische Isthmos besteht aus einem „seichten, im allgemeinen nur 1–2 Fuß Wasser bedeckten Lagunengrund“, der zudem im Norden und Süden durch Nehrungen fast geschlossen ist (PARTSCH,

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

177

lich streichende Isthmos von Plagia gut verteidigen, weil er aufgrund der Gebirgsmauer, auf der die antike Grenzstadt Palairos thronte,1232 und der ihr östlich vorgelagerten Sumpflandschaft nahezu unpassierbar war.1233 Die „etwa 90 qkm Fläche bedeckende Gebirgsmasse, die gegen den Sund von Levkás als stumpfe Halbinsel vorspringt“, war früher nach der bedeutenden Grenzfeste Palairos benannt, die in der Nordostecke „dieses wohlindividualisierten Gebirgsstockes liegt“.1234 Da die gebirgige Halbinsel von Plagia (bzw. Palairos) also „nach Westen gerichtet, nach Osten verschlossen“ ist,1235 lag es im Interesse derjenigen maritimen Völker, die – wie die Korinther – das knapp 300 qkm umfassende Leukas unter ihre Kontrolle brachten, ihren Machtbereich zudem über die benachbarte, ca. 90 qkm umfassende Halbinsel Plagia auszudehnen,1236 um eine verteidigungsfähige Grenze zu gewinnen, zumal der verkehrsstrategische und wirtschaftspolitische Wert von Leukas vor allem im gefährdeten Isthmos lag,1237 der folglich nicht die politische Grenze bilden durfte. Die festländische Halbinsel „Leukas besaß also eine Peraia“,1238 die – wie Leukas – ein Glied des akarnanischen Festlandes ist. Nachdem der Kephallenenkönig Laertes die Stadt Nerikos am leukadischen Vorgebirge und infolge dessen die Halbinsel Leukas erobert hatte, setzten ihn die naturräumlichen Gegebenheiten also unter Zugzwang, auch noch das gegenüberliegende Terrain von Plagia zu unterwerfen, das aufgrund seines abgeschlossenen Reliefs eine zweckmäßige (Anti-) Peraia darstellt.1239 So ist der kephallenische Festlandsbesitz samt seiner Antiperaia treffend lokalisiert, wenn man ihn „mit der Einheit Leukas und Plagia-Halbinsel gleichsetzt“,1240 die den maritimen Nordwestzipfel Akarnaniens bildet. Der konkrete geographische Sachverhalt verleiht somit dem ansonsten unglaublich erscheinenden Vers der Ilias durchaus Sinn, wonach der Inselkönig Odysseus auch einen Teil des Festlandes und dessen festländische Gegenküste beherrschte. Und der homerischen Ausdrucksweise entsprechend, zählen moderne Geographen die Halbinsel

1232 1233

1234 1235 1236 1237 1238 1239 1240

Leukas 2 f.). Er konnte von Mensch und Tier durchwatet werden; so wurde z. B. Leukas im Jahr 1467 nicht von der türkischen Flotte erobert, sondern von der Kavallerie. Palairos, „eine der wichtigsten antiken Stadtruinen Akarnaniens“, „nimmt einen zwischen dem Südufer des Vulkaria-Sees und der Ebene kapartig nach O vorspringenden Rücken von 250 m Höhe ein, der steil nach N und SO abfällt“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 381). BERTELE/WACKER 73. – Auch bei STRABON (10,2,21) erscheint die Halbinsel Plagia mit der Grenzstadt Palairos als Landschaftsbrücke zwischen Leukas und dem eigentlichen Akarnanien: „Between Leucas and the Ambracian Gulf is a salt-lake, called Myrtuntium. [Aber] Next after Leucas one comes to Palaerus“ (übersetzt von Horace L. JONES V 61). PHILIPPSON/KIRSTEN II 381. „Das wichtigste [antike „Fort“] ist das auch von NOACK 1916 erwähnte Fort über Plagia“ (dies. 382). KIRSTEN, Akarnanien 112. BERTELE/WACKER 79 f. Am Isthmos von Leukas befand sich die landwirtschaftlich größte Nutzfläche der Halbinsel, die größte Siedlung, die bedeutenden Salinen und – noch vor dem Kanalbau im 7 Jh. v. Chr. – der Diolkos, eine Schleifbahn für Schiffe (s. PARTSCH, Leukas 18 f.). BERTELE/WACKER 79. „Der Grieche des Altertums würde sie [die Halbinsel Plagia] als Peraia, Besitz auf der Gegenküste bezeichnet haben“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 562). BERTELE/WACKER 19.

178

1. Die Ithaka-Antwort

Leukas zwar zum „mittelgriechischen Festland“, weisen aber dennoch den Nordwesten Akarnaniens, nämlich das Territorium von Plagia, als festländische „Gegenküste“ des seinerseits festländischen Leukas aus.1241 Dieses Beispiel veranschaulicht eindrucksvoll, dass rein theoretische Reflexionen bei der Beurteilung und Interpretation der homerischen Geographie oft nicht greifen. Man wird der Ilias und Odyssee nicht gerecht, wenn man deren geographischen Angaben zunächst zusammenfasst und daraus eine fiktive Ideallandschaft konstruiert, und diese dann mit der geographischen Realität vergleicht, wie es schon im Jahr 1830 Karl H. W. Völcker in seinem verdienstvollen Werk ‚Über Homerische Geographie und Weltkunde‘ versuchte.1242 Denn die Wirklichkeit weist erheblich originellere und komplexere Raumbezüge auf, als der Mensch in seinem theoretischen Modell zu erfassen und zu berücksichtigen vermag. Folglich kann etwas in der geographischen Realität durchaus stimmig sein, was formallogisch unsinnig erscheint: Wie der genannte Ilias-Vers, der dem kephallenischen Inselreich einen Festlandsbesitz samt einer festländischen Gegenküste (anti-peraia) andichtet. Durch die Eroberung des Gebietes von Plagia und insbesondere des maritimen Festlandsgliedes Leukas, das noch heute „als halbinselförmige Fortsetzung Akarnaniens“ gilt,1243 erlangte die kephallenische Krone einen beträchtlichen territorialen Zugewinn, auf dem je ein Dutzend großer Herden von Rindern, Schafen, Ziegen und Schweinen weideten, die, wie die Odyssee betont, von kephallenischen „und fremden Hirten“ gehütet wurden.1244 Zwar verfügte auch die Heimatinsel des Odysseus über „treffliche Weiden für Rinder“,1245 aber von keinem anderen Teil des Kephallenenreichs wird berichtet, dass es so viele Rinderherden aufweist, wie der Festlandsbesitz. Mit diesem Sachverhalt korrespondieren die ersten zuverlässigen Viehstatistiken des westgriechischen Inselbogens, die vor 180 Jahren unter britischem Protektorat erstellt wurden. Die relativ und absolut höchste Zahl an Rindern weist tatsächlich die Halbinsel Leukas auf.1246 So besaßen die Inseln Kephallenia und Theaki, die zusammen etwa dreimal so groß wie Leukas sind, insgesamt weniger Rinder als Leukas allein. Und dass das festländische Leukas, wie schon die Odyssee hervorhebt, v. a. der Rinderzucht diente, wird besonders deutlich, wenn man die Anzahl der Tiere im Verhältnis zur Fläche berechnet: Dann weist Leukas pro Quadratkilometer sechs Rinder auf, gefolgt von

1241 PHILIPPSON/KIRSTEN II 561 f. 1242 VÖLCKER 3 f. – So scheiterte auch Emil BELZNER (6 f.): „Ferner ist, wollen wir ein ungetrübtes Bild des homerischen Ithakas und seiner Umgebung gewinnen, noch eine Bedingung bei der Arbeit zu erfüllen, gegen die fast alle neueren Untersuchungen auf diesem Gebiete verstoßen: nämlich zunächst vollständig abzusehen von dem wirklichen geographischen Bild jener Inseln“. 1243 KIEPERT 295. 1244 Od. 14,100 ff. 1245 Od. 13,246. Folglich trifft die Behauptung der Befürworter der Leukas-Ithaka-Theorie und auch die von Otto SEECK (307) über das Vieh des Odysseus nicht zu: Angeblich befinden sich „auf Ithaka selbst nur die Ziegen und Schweine, Schafe und Rinder werden auf dem Festlande gehütet“. 1246 DAVY I 328: Die Tabelle weist für das Jahr 1835 folgende Stückzahlen an Rindern auf: Leukas (Santa Maura) 1.855, Kephallenia (Cephalonia) 1.348, Zakynthos (Zante) 1.160, Theaki (Ithaca) 111.

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

179

Zakynthos mit drei Rindern, Kephallenia mit knapp zwei Rindern und Theaki mit einem Rind. Ein präziser Vergleich zwischen den zahlreichen Viehherden, die Odysseus auf seiner Heimatinsel besaß,1247 mit denen des Festlandbesitzes ist kaum möglich, da die Gesamtzahl der auf dem homerischen Ithaka vorhandenen Rinder- und Schafherden nicht genannt wird. Bei den Schweinen, die auf dem homerischen Ithaka gemästet wurden, wird zwar die Anzahl der Tiere genannt,1248 jedoch wissen wir nicht, wie viele Schweine auf dem Festland zu einer Herde gehörten. Immerhin ist ein exakter Vergleich bei den Ziegen möglich und umso aufschlussreicher, da Kephallenia und Leukas einen ähnlich gebirgigen Landschaftscharakter aufweisen. So weideten im Stammkönigreich des Odysseus, das sich über den kephallenischen Inselrumpf erstreckte und knapp 400 qkm umfasst, „elf offene Herden von Ziegen“,1249 während es auf dem kephallenischen Festlandsbesitz (Leukas: 300 qkm) einschließlich der Gegenküste (Plagia: 90 qkm)1250 „zwölf Herden von Ziegen“ waren.1251 Dies ergibt für die Heimat des Odysseus und für den Festlandsbesitz einen erstaunlich einheitlichen Proporz, nämlich eine „offene Herde“ pro 36 bzw. 33 qkm Fläche. Und das ist wiederum ein Indiz für die Richtigkeit der in der vorliegenden Studie erfolgten Identifikation der von Homer genannten Inselkörper. Zwischen der Halbinsel Leukas und Akarnanien liegt eine Gruppe von Eilanden, die seit dem Altertum als Taphische Inseln bezeichnet wird.1252 Die Eilande seien hier der Vollständigkeit halber erwähnt, zumal die Odyssee mehrfach auf die „Taphier“ hinweist1253 und auch deren Hauptinsel „Taphos“ nennt.1254 In frühgriechischer Zeit lebten die Taphier zusammen mit den ebenfalls seefahrenden Teleboern im Inselraum zwischen Kephallenia und Akarnanien.1255 Die taphische Inselgruppe besteht aus den beiden größeren Eilanden Kalamos (25 qkm) und Meganissi (20 qkm), sowie aus Kastos (6 qkm), Arkoudi und Atokos (je knapp 5 qkm); hinzu kommen einige Felseilande im Meer. Ständig bewohnt sind die Inseln Kalamos und Meganissi, die mehrere Dörfer aufweisen, sowie Kastos mit einer Siedlung. Während das länglich-ovale Kalamos imposante 745 m hoch aus dem Meer ragt und über abbaufähige Erzlager verfügt,1256 ist

1247 1248 1249 1250 1251 1252 1253 1254 1255 1256

Od. 14,13 ff., 103 ff.; 20,185 f. Od. 14,13 ff., 103 ff. Od. 14,103. Leukas umfasst 293 qkm Fläche und die Halbinsel Plagia ist ca. „90 qkm groß“ (BERTELE/WACKER 12). Od. 14,100 f. Skyl. 34. Strab. 10,2,14; 10,2,20; 10,2,24. Plin. nat. 4,53; 36,150. Schol. Apoll. Rhod. 1,747. Od. 1,105, 181, 419; 14,452; 15,427; 16,426. – OBERHUMMER (Akarnanien 52 ff.) sieht in den Taphiern „phönizische Einwanderer“, aber „die meisten sehen in ihnen einen Zweig des Leleger-Volkes“ (PARTSCH, Kephallenia 38). Od. 1,417. – Auf Taphos ist von den „antiken Bewohnern „keine andere Spur geblieben, als eine Menge von Gräbern in einem gegen den Golf von Vathy gerichteten Thälchen“ (PARTSCH, Leukas 22). PARTSCH, Kephallenia 37 ff. „Die Macht der Teléboer in Akarnanien und auf den tafischen Inseln war einst so bedeutend, daß sie weite Raubzüge wagten (Schol. Apollon. I 747), ja, wie es heißt, in Kapreä [Capri] sich ansiedelten (Tac. Ann. IV 67)“ (VOSS, Myth. Briefe III 168). Die Eisen- und Manganerzlager wurden noch im 20. Jh. abgebaut (DÖRPFELD, Alt-Ithaka 135).

180

1. Die Ithaka-Antwort

Meganissi stark gegliedert und besitzt zahlreiche Buchten, die noch neuzeitlichen Piraten vorzügliche Schlupfwinkel boten.1257 Diese naturräumlichen Ressourcen nutzend, betätigte sich schon der in der Odyssee genannte Taphierfürst Mentes als Erzhändler und Seeräuber.1258 Das homerische Taphos ist vermutlich die Insel Meganissi, die in historischer Zeit diesen Namen trug.1259 Die Taphischen Inseln, die auch zur Zeit des Odysseus nur eine unbedeutende Rolle spielten,1260 gehörten zwar nicht zum Inselreich der Kephallenen,1261 standen aber unter kephallenischer Schutzherrschaft, wie den Worten der Penelope zu entnehmen ist,1262 und das dürfte wohl erklären, warum kein Taphier als Freier der Penelope auftrat. Hinzu kommt, dass der Taphierfürst Mentes und sein Vater Anchialos seit alters her Gastfreunde des Laertes und Odysseus waren.1263 – Da also zum Reich der Kephallenen auch die Festlandshalbinsel Leukas und die vorgelagerte Halbinsel Plagia gehörten, zudem die Taphischen Inseln unter kephallenischer Schutzherrschaft standen, erstreckte sich die Herrschaft des Odysseus über den gesamten westgriechischen Inselbogen. 1.3.7 Die Genese des Kephallenenreichs In der vorliegenden Studie konnten sämtliche Glieder des westgriechischen Inselbogens, einschließlich der nennenswerten Eilande, mit homerischen Toponymen belegt werden, nämlich die dreigliedrige Insel Kephallenia mit dem Eiland Vardiani und den Montague-Klippen, die benachbarten Inseln Theaki und Zakynthos, die festländischen Halbinseln Leukas und Plagia sowie die kleinen Taphischen Inseln; und wie dargelegt, unterstanden alle Glieder des westgriechischen Inselbogens dem Hochkönig der Kephallenen. Da nun sämtliche Teile des Inselreichs des Odysseus stimmig identifiziert 1257 „Es dürfte schwer sein, in ganz Europa einen Küstenstreifen von gleicher Ausdehnung nachzuweisen, der so viele vortreffliche Buchten für Seefaher bietet“, wie Meganissi, die bis ins 19. Jh. von den taphischen Seeräubern genutzt wurden (PARTSCH, Leukas 21); s. a. ANSTED 289. 1258 Od. 1,105, 180–184: Der Taphierfürst Mentes fuhr zur See, um Eisenerz gegen Kupfer einzuhandeln. Als Seeräuber und Sklavenhändler erscheinen die Taphier in Od. 14,451 f.; 15,427 ff.; 16,426 f. 1259 Während PARTSCH (Kephallenia 38) und OBERHUMMER (Akarnanien 21) für Meganissi votieren (vgl. Strab. 10,2,20), entscheidet sich DÖRPFELD (Alt-Ithaka 134 f.) für Kalamos (vgl. Anth. Pal. 9,684). Vgl.a. BUSIAN, Bd. 2, 365 f. 1260 Die Taphier waren militärisch zu schwach, um sich allein gegen die Rachezüge der Thesproter zu wehren (Od. 16,424–430). Und im Gegensatz zu den Dulichiern (Od. 16,247 ff.) bewarben sich die Taphier, die keine hinreichende Lobby hatten, nicht um die kephallenische Königswürde. 1261 Der Schiffskatalog der Ilias (2,631 ff.) zählt Taphos nicht zum Kephallenenreich. In diesem Kontext sei erwähnt, dass STRABON (10,2,14) sagt: „Some, however, have not hesitated to identify Cephallenia with Dulichium, and others with Taphos, calling the Cephallenians Taphians … But this is not in accordance with Homer”, denn bei ihm “Taphos was subject to Mentes” (übersetzt von Horace L. JONES V 47). 1262 Od. 16,426 ff. – Noch im 20. Jh. unterstanden zwei der drei größten Taphischen Inseln der Präfektur Kephallenia (Nomos Kephalonia & Ithaka). 1263 Od. 1,180 f. mit 188 f.; vgl. 16,426 ff. – Hinzuweisen ist auch darauf, dass der Taphierfürst Mentes bei den Kephallenen ein „fremder“ Gastfreund (ξεῖνος) war (Od. 1,105, 417), weil die Taphier vermutlich ethnisch phönizisch waren (vgl. OBERHUMMER, Akarnanien 52 ff.).

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

181

sind, und zwar unter Einbeziehung sämtlicher Angaben der Ilias und Odyssee über den westgriechischen Inselraum (!), sei abschließend ein Blick auf die entsprechenden Verse im Schiffskatalog der Ilias geworfen, der die einzelnen Herrschaftsgebiete der griechischen Helden komplett und prägnant aufzählt. Dort heißt es [in Klammern erscheinen die heutigen Namen der Inselkörper]: Odysseus führte die mutigen Kephallenen, die Ithaka und den bewaldeten Neriton bewohnten [den keph. Inselrumpf mit dem Aenos], die Krokyleia [Erissos] bewohnten und das rauhe Aigilips [Theaki], die Zakynthos [Zakynthos] und Samos [Paliki] bewohnten, die das Festland [Leukas] und deren Antiperaia [Plagia] besaßen; diesen gebot Odysseus, dem Zeus zu vergleichen an Einsicht.1264

Die Aufzählung des Herrschaftsbereichs der Kephallenen beginnt also mit dem im Zentrum des Inselreichs gelegenen Stammkönigreich des Odysseus, das sich über den kephallenischen Inselrumpf erstreckte, für den das hohe und waldreiche Aenos-Massiv kennzeichnend ist. Sodann werden die übrigen Inselkörper von Nord über Ost nach Süd und West genannt, und zum Schluss die eroberten festländischen Gebiete. Die dargelegte geographische Systematik der Verse, die erst durch die in der vorliegenden Studie erfolgte Identifizierung der Glieder des westgriechischen Inselbogens hervortritt, ist wieder ein untrügliches Indiz dafür, dass der Dichter von diesem Erdraum konkrete Kenntnisse besaß, was in der Homerforschung meist bezweifelt wird, zumal man zu keiner widerspruchsfreien Lösung der Ithaka-Frage fand. Die vorgelegte historisch-geographische Analyse erweist darüber hinaus, wie präzise die Wortwahl bei der Vorstellung des Kephallenen-Reichs im Schiffskatalog der Ilias ist. Nach dem einleiten Satz, „Aber Odysseus führte die mutigen Kephallenen“ (Vers 2,631), werden sieben Insel- und Festlandsglieder aufgezählt, nämlich Ithaka mit dem Neriton (Vers 632), Krokyleia und Aigilips (Vers 633), Zakynthos und Samos (Vers 634), sowie die beiden festländischen Territorien, von denen aus homerischer Zeit keine Eigennamen überliefert sind (Vers 635). In diesen prägnanten Versen zeigen zwei verschiedene Verben an, ob es sich um Besitzungen des Odysseus handelt oder um andere Glieder des Kephallenenreichs, über die er als Hochkönig herrscht. Denjenigen Inseln und aufs Festland übergreifenden Teilen des Inselreichs, denen eine Form des Wortes echo (ἔχω) folgt, das „im Besitz haben“ bedeutet,1265 unterstehen dem Odysseus als Hausmacht; die anderen, die stattdessen das Wort nemo (νέμω) führen und bei Orten, Landschaften und Inseln das eigentumsrechtliche „bewohnen“ anzeigen,1266 gebietet Odysseus lediglich als Hochkönig der Kephallenen. 1264 Ilias 2,631–636. Der folgende Vers 637 über die zwölf roten Schiffe des Odysseus dürfte interpoliert sein (zumal laut Odyssee die Schiffe der Kephallenen „schwarz“ waren; s. Anm. 1057 in der vorliegenden Studie); vgl. JACHMANN 43 f. 1265 FRISK 602: ἔχω, auch „erobern, in Besitz nehmen. Und „im Besitz haben als Herrscher“, „eine Stadt oder ein Land innehaben“ (PAPE I 1017). 1266 PAPE II 226: νέμω bedeutet, „daß man seinen rechtmäßigen Anteil besitzt“, und so „diese Orte innehaben, bewohnen“ kann. Vgl. BENSELER 617: auch „innehaben, bebauen, benutzen, bewohnen“. – In der

182

1. Die Ithaka-Antwort

(Die zum Reich des Odysseus gehörenden Inselkörper sind dunkler und umrandet; die heutigen Inselnamen sind in Klammern gesetzt)

N

Dulichion

(Korfu/Kerkyra)

Antiperaia (Palairos)

Akte Epeiros

(Leukas)

Taphos

(Kalamos)

Krokyleia

(Erissos)

Ithaka (Kephallenia) (Kephallenia)

Agilipis (Theaki)

Samos

(Paliki)

Echinen

(Echinaden)

Asteris

(Vardiani)

Kranae

(Süd-Kephallenia)

Thoai

(Montague-Klippen)

Zakynthos

(Zakynthos)

Abb. 8: Der westgriechische Inselraum in den Homerischen Epen

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

183

Wie in der vorliegenden Studie bereits dargelegt, bedeutet Ithaka, wenn es mit anderen Gliedern des Kephallenenreichs aufgezählt wird, nicht die gesamte dreiteilige Insel Kephallenia, sondern nur den Inselrumpf mit dem hohen Aenosmassiv (dem homerischen Neriton), so auch im Ilias-Vers 2,632, der Ithaka explizit mit dem Neriton nennt. Bei diesem Territorium handelt es sich um das ererbte Stammkönigreich des Odysseus, es ist also sein Besitz (deshalb Ἰθάκην εἶχον). Zu seinem Besitz gehört zudem das festländische Vorgebirge (also Leukas), das sein Vater Laertes erobert hatte (deshalb ἤπειρον ἔχον).1267 Aber auch die Insel Zakynthos war, wie das Verb echo anzeigt (Ζάκυνθον ἔχον), zumindest dem jeweiligen Hochkönig der Kephallenen untertan. Also die Territorien, die dem Odysseus unmittelbar unterstehen, d. h. über die er als Herrscher verfügt, beziehen sich einerseits auf sein Stammkönigreich (Kranae) und andererseits auf die Gebiete, die unter seinen Vorfahren dem Reich hinzu gewonnen waren (Leukas und Zakynthos). Dementsprechend ist auf die anthropo-geographische Tatsache hinzuweisen, dass die dem Kephallenenreich hinzu gewonnenen Gebiete nicht von Kephallenen besiedelt waren. So wies die Halbinsel Leukas eine akarnanische Bevölkerung auf,1268 während Zakynthos von Achaiern aus dem elisch-arkadischen Raum besiedelt war.1269 Dagegen umfasste der Siedlungsraum der Kephallenen stets die dreigeteilte Insel Kephallenia und das benachbarte Theaki,1270 und so führen die anderen im Schiffskatalog genannten Inselkörper der Kephallenen, nämlich Samos (Paliki-Halbinsel) sowie Krokyleia (Habinsel Erissos) und das benachbarte Aigilips (Theaki), nicht das Wort echo (ἔχω, „in Besitz haben“), sondern nemo (νέμω, d. h. hier „bewohnen“), weil sie eben nicht zum Besitz des Odysseus gehörten bzw. nicht dem jeweiligen Hochkönig der Kephallenen unmittelbar untertan waren. Zudem verweist der Dichter bei den von Kephallenen bewohnten Inselgliedern auf einen bemerkenswerten Unterschied: Während die beiden unbedeutenderen Inselkörper Krokyleia und Aigilips lediglich von Kephallenen „bewohnt“ sind (ἐνέμοντο), ist das kephallenische Samos „dicht bevölkert“ (ἀμφ-ενέμοντο).1271 Und tatsächlich wies im Altertum die Paliki-Halbinsel aufgrund ihrer Fruchtbarkeit eine enorm hohe Population auf.

1267 1268

1269 1270 1271

Bedeutung „innehaben“ weisen ἔχω und νέμω zwar eine ähnliche Konnotation auf, aber ἔχω zielt mehr auf ‚besitzen‘ und den ‚Besitz‘ ab, während νέμω stärker das ‚bewohnen‘ betont [FRISK 302: „Wohnsitz (Pindar, Herodot, Sophokles)“]. Das wird z. B. im Vers Od. 2,167 deutlich (οἳ νεμόμεσθ᾽ Ἰθάκην εὐδειελον); hier sind sicherlich die Bewohner Ithakas gemeint und nicht die Besitzer. Vgl.a. Ilias 20,8. Od. 24,378. Die a. a. O. genannte ἀκτή ἤπειρος bezeichnet auch laut Strabon (10,2,8) ganz Leukas, im Schiffskatalog aufgrund des Versmaßes wohl verkürzt als ἤπειρος. So weist u. a. Albert BISCHOFF (13) auf die „ziemlich sichre Identität von ἤπειρος mit Leukas“ hin. „Ein wichtiges Zeugnis des Aristoteles (Str. VII 7, 2 p. 321)“ weist darauf hin, „dass die Teleboer Leukadien und das westliche Akarnanien bewohnten“ sowie „den Lelegern verwandt waren. Zum ersten Punkt liegt noch ein weiteres Zeugnis Strabos (X 2, 24 p. 461) vor, sowie die Notiz des Steph. Byz. s.v., wonach ein Teil von Akarnanien Τηλεβοις genannt wurde“ (OBERHUMMER, Akarnanien 54). KALETSCH, Zakynthos 716. PARTSCH, Kephallenia 37. PHILIPPSON/KIRSTEN II 523 ff. – Die Ansicht von Johann Heinrich VOSS (Myth. Briefe III 166), „Kefallener sind bei Homer die sämtlichen Unterthanen des Odysseus, nicht nur auf den Inseln“, ist unzutreffend. Ilias 2,634; so übersetzt Karl KÄRCHER (Geographie 840) diese Stelle als „die weitbevölkerte Samos“. Das Wort ἀμφενέμοντο kommt auch in Ilias 2,649 vor, wo von „den reich bevölkerten Städten im hundertburgigen Kreta“ gesprochen wird.

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1. Die Ithaka-Antwort

Von den vier genannten Inselkörpern, auf denen seit historischer Zeit die Kephallenen leben, waren zwei stets dünn besiedelt, nämlich Erissos (Krokyleia) und Theaki (Aigilips), und zwei stark bevölkert, nämlich die Paliki-Halbinsel (Samos) und der südliche Inselrumpf (Ithake kranae), der als Heimat des Odysseus fungiert. So hätte, abgesehen vom kephallenischen Samos, im Schiffskatalog der Ilias auch dieses Territorium das Wort amphenemonto (ἀμφενέμοντο) verdient, zumal immerhin die Odyssee das Stammkönigreich des Odysseus als amphinemonto (ἀμφινέμοντο) bezeichnet.1272 Dass der Dichter im Ilias-Vers 2,632 jedoch stattdessen das kurze Wort eichon (εἶχον) bevorzugt, liegt wohl weniger am Versmaß (denn er hätte die zweite Hälfte des Verses 2,632 ändern können), sondern wie gesagt daran, dass er hier die Hausmacht des Odysseus betonen will: das Gebiet von Ithaka, auf dem sich der bewaldete Neriton erhebt, ist sein herrschaftlicher Besitz. Im Unterschied zum festländischen Vorgebirge (Leukas) gibt der Dichter der kephallenischen Gegenküste (anti-peraia), die sich – wie dargelegt – auf die den Inseln gegenüberliegende akarnanische Halbinsel Plagia bezieht, das Verb enemonto (ἐνέμοντο, „bewohnen“). Indes, bei konsequenter Deutung der Worte echo und nemo (die ihren Informationsgehalt in den Ilias-Übersetzungen bisher mangels plausibler Ithaka-Theorie nicht entfalten),1273 müsste dieser Festlandsteil auch von Kephallenen bewohnt gewesen sein, obwohl er, wie Leukas, von den Kephallenen militärisch in Besitz genommen wurde. Wie jedoch bereits dargelegt, wurde die kephallenische Antiperaia (Halbinsel Plagia) dem Inselreich hinzugewonnen, um mit der nach Akarnanien hin steil abfallenden Halbinsel und dem vorgelagerten Myrtuntischem Sumpfmeer eine naturräumlich günstige Grenze zu haben, die sich im Gegensatz zum Isthmos von Leukas gut zu verteidigen ließ. So lebten auf der festländischen Antiperaia sicherlich Einheimische, die keine Kephallenen waren, und folglich stellt sich die Frage, weshalb die Antiperaia auch von Kephallenen „bewohnt“ gewesen sein sollte? Die Antwort lautet, dass die in der Ilias erwähnte Antiperaia als Grenzmark des Kephallenenreichs fungierte, und so wurde sie wohl, wie zahllose historische Analogien lehren, aus sicherheitspolitischen Gründen mit Grenzbauern aus dem eigenen Land bevölkert, die im Verteidigungsfall als Soldaten die gefährdete Grenze sichern mussten. Obwohl der Fokus der Handlung der Odyssee auf dem Stammkönigreich des Odysseus liegt, das sich über die Südosthalbinsel von Kephallenia erstreckte, und daher dem homerischen Epos kaum etwas über die nördlichen Territorien des Inselreichs der Kephallenen zu entnehmen ist, gibt es ein Indiz, das für die postulierte Besiedlung der akarnanischen Grenzmark mit Kephallenen spricht: So wird im 14. Gesang der Odyssee 1272 Od. 19,132 (οἱ᾽ τ᾽ αὐτὴν Ἰθάκην εὐδείελον ἀμφινέμονται). Aus dem Kontext (19,130 ff.) geht hervor, dass es sich um denjenigen Inselteil handelt, der in der vorliegenden Studie als der Siedlungsschwerpunkt von Kephallenia identifiziert wurde. 1273 So übersetzt z. B. Roland HAMPE (Reclam-Ausgabe) immerhin „echo“ stets mit „hatten“, und bei den Formen von nemo wird immerhin „die Same umwohnten“ hervorgehoben. Deutlich abwechslungsreicher, aber unpräziser übersetzt Hans RUPÉ (Artemis-Ausgabe), der zwischen echo und nemo nicht unterscheidet (Zakynthos, das Festland und die Gegenküste erhalten das Verb „besaßen“, Ithaka „hausten“, Samos „bewohnten“, Krokyleia und Aigilips „bestellten“).

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

185

beiläufig erwähnt, dass die zahlreichen Viehherden auf dem kephallenischen Festlandsteil „fremde und eigene Hirten“ hüteten;1274 d. h. auch Hirten, die Kephallenen sind, gingen dort ihrer Tätigkeit nach. In diesem Kontext sei erwähnt, dass im frühen 5. Jh. v. Chr. die Kephallenen an der akarnaischen Küste sogar eine Kolonie gegründet hatten, die den Namen Astakos trug.1275 Unabhängig von der Frage, welcher Dichter den Schiffkatalog der Ilias und welche/r die Odyssee verfasste/n, illustriert gerade die vorgelegte Analyse, wie komplex und stimmig die Darstellungen der homerischen Epen über das Inselreich des Odysseus sind. Hervorzuheben ist überdies, dass die geo- und topographischen Angaben der Ilias und Odyssee keineswegs einander widersprechen, wie in der Homerphilologie meist behauptet wird,1276 sondern dass sie erstaunlich korrelieren und wie ein präzises System von Zahnrädern passend ineinandergreifen. Zudem fügen sich die Angaben beider Epen bestens in den historischen Kontext,1277 denn der westgriechische Inselbogen galt stets als geographischer Rahmen des Odysseusreiches, worauf v. a. der Geograph Alfred Philippson und der Althistoriker Ernst Kirsten hinwiesen: „Am Anfang der Geschichte bilden die Inseln vor der Küste des westlichen Mittelgriechenlands eine politische Einheit im Reich des Odysseus, wie es der homerische Schiffskatalog der Ilias darstellt und die Odyssee voraussetzt“.1278 Die Unterwerfung des gesamten westgriechischen Inselbogens war jedoch eine heroische Leistung, denn „die Inselnatur seiner Glieder besagt auch zentrifugale Tendenzen, die sich bei der Schwächung des Oberkönigtums geltend machen konnten. Ihr Ergebnis musste die Verselbständigung der einzelnen Inseln sein“.1279 Und in diesem Zustand, einem kephallenischen Partikularismus, tritt der westgriechische Inselbogen ins Licht der Geschichte, weshalb wohl der Name Ithaka für die stark gegliederte Insel Kephallenia abhanden kam. Die gerade beim Historiker Thukydides [5. Jh. v. Chr.] „wiederholt hervortretende Selbständigkeit der Entschließungen der einzelnen Städte, die Zuneigung Pales zu Korinth, die Kranes zum athenischen Bündnis machen es durchaus unwahrscheinlich, dass zwischen den vier Städten ein politischer Zusammenhang bestand. Im Münzwesen stehen alle vier durchaus selbständig einander gegenüber, und die Befestigungen, mit welchen sie ihre Gebiete schützten, beweisen unverkennbar, dass sie gegen

1274 Od. 14,102. 1275 Scyl. 34; Strab. 10,2,21; Ptol. III 14,10; Herodian I 149 L. Nach Steph. Byz. wurde Ἄστακος als Gründung der Kephallenen bezeichnet (οἴ δέ Κεφαλληνίας ἄποικοι). 1276 Hans BÜRCHNER (Ithake 2292,31) verweist auf vermeintlich „schwere Widersprüche“ bei den geound topographischen Angaben; ebenso Rudolf MENGE (60). Deshalb resümiert Samuel BUTLER (163), „that the Ionian islands as described in the Odyssey cannot have been drawn from the actual Ionian islands”. 1277 Man vergleiche dies mit Wilhelm DÖRPFELDs Leukas-Ithaka-Theorie, die zu absurden Folgerungen nötigt: Die Insel Kephallenia unterstand zwar dem Odysseus, aber auf ihr wohnten die Dulicher (die laut Ilias 2,625 ff. ein eigenständiges Inselreich besaßen), während die Heimatinsel der Kephallenen hauptsächlich (die eigentlich von Akarnanen bewohnte) Festlandshalbinsel Leukas war (laut Dörpfeld das homerische Ithaka). 1278 PHILIPPSON/KIRSTEN II 565. 1279 PHILIPPSON/KIRSTEN II 565.

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1. Die Ithaka-Antwort

einander nicht minder argwöhnisch auf der Hut waren, als gegen auswärtige Feinde“.1280 Und so kam es im Altertum „zu keiner dauernden Einigung zwischen den doch demselben Stamm angehörenden Städten der größten Insel an Griechenlands Westküste“.1281 Angesichts der naturräumlich bedingten politischen Zersplitterung Kephallenias drängt sich die Frage auf, wie es der in den homerischen Epen besungenen Arkeisiadendynastie überhaupt gelungen war, ihre Herrschaft über den westgriechischen Inselbogen auszudehnen, der sich über 150 km lang von Akarnanien bis Elis spannt. Am Anfang der Dynastie stand wohl der mythische Ahnherr „Ithakos“, den die Odyssee als Gründer bzw. einen der Erbauer der Hafenstadt Ithaka präsentiert.1282 Wie bereits dargelegt, befand sich die homerische Stadt Ithaka an der Bucht von Argostoli auf Kephallenia, an der sich seit mykenischer Zeit das politische Zentrum des Inselvolks der Kephallenen befand. Von der Bucht und der angrenzenden Ebene von Krane, die als kephallenisches Krongut fungierte, weitete sich der Machtbereich der Arkeisiaden über den südlichen Inselrumpf Kephallenias aus, dessen Zentrum das hohe Aenos-Massiv bildet. Dieser geographische Raum, den vermutlich der „göttergleiche Arkeisios“1283 in Besitz genommen und befriedet hatte, bildete die erbliche Hausmacht der Dynastie und wurde kranae Ithake bzw. kurz Kranae genannt.1284 Als Hochkönig aller Kephallenen ist im Epos erst der Sohn des Arkeisios greifbar, nämlich der tatkräftige Laertes,1285 der als „Führer der Männer“1286 eine dynamische Herrscherpersönlichkeit darstellte. Er vergrößerte ständig seinen Besitz, und nicht nur durch Krieg, sondern auch durch die landwirtschaftliche Erschließung mancher Wildnis auf seiner Heimatinsel.1287 Zudem sicherte Laertes den stets nach Autonomie strebenden Südostzipfel Kephallenias, das Gebiet des späteren antiken Landstädtchens Pronnoi, indem er dort einen treuen Vasallen bestallte, nämlich den unfreien auswärtigen Königssohn Eumaios.1288 Da dieser keiner einheimischen Familie entstammte und folglich im kephallenischen Adel keinen Rückhalt fand, blieb er vom Wohlwollen des Laertes und seiner Nachfahren Odysseus und Telemach zeitlebens abhängig.1289 Eumaios erkannte seinerseits, dass er nur durch unbedingte Loyalität zum regierenden Königshaus 1280 PARTSCH, Kephallenia 41 (mit Bezug auf Thuk. 2,30,2). „Die auf der Gliederung des Reliefs beruhende landschaftliche Einteilung wird im wesentlichen eine Erbschaft des Altertums sein“ (ders. 45). 1281 BÜRCHNER, Kephallenia 203,55 ff. 1282 „Ithakos, Nerikos und auch Polyktor waren die Bauherren“ des Stadtbrunnens (Od. 17, 207). 1283 Od. 14,182. 1284 Od. 1,247; 15,510; 16,124; 21,346. Ilias 3,201, 445. 1285 Od. 16,118; vgl. 14,182. – Auch William GLADSTONE (313) meint, es sei „wahrscheinlich, dass Laertes der erste seines Geschlechts war“, der über die Kephallenen herrschte. 1286 Od. 24,368. Den Titel führt auch Odysseus (Od.10,538; 18,70), aber noch nicht Arkeisios. 1287 Od. 24,205 ff. 1288 Od. 15,413 f., 482 f., 363 ff. – So wies schon Johann Heinrich VOSS (Myth. Briefe III 230) darauf hin, „daß Eumaios ein Ungrieche, aus einer Gegend, wohin die Griechen selten kamen, war“, denn „einen griechischen Prinzen hätten die Föniker [Phönizier] wol schwerlich einem griechischen Könige zum Verkauf anzubieten gewagt“. 1289 Das verdeutlichen einerseits die energischen Worte, mit denen Telemach und Penelope dem Eumaios Anweisungen erteilen (Od. 17,393, 508 f., 529, 544, 576; 21,80, 362 ff., 369 ff.), und andererseits das Verhalten der Kephallenen gegenüber Eumaios (Od. 17,217, 246 f., 371 ff.; 21,85 ff., 359 ff.).

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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den erreichten Status wahren konnte,1290 auch und gerade während der langen Abwesenheit des Odysseus. Als tatkräftiger Vasall sicherte Eumaios v. a. durch den Festungsbau die gefährdete Peripherie des Stammkönigreichs der Arkeisiadendynastie.1291 Die uneingeschränkte Herrschaft über den kephallenischen Inselrumpf verlieh dem Laertes den nötigen Rückhalt, um seinen Machtanspruch über den gesamten westgriechischen Inselbogen zu erheben, wodurch er der erste Hochkönig aller Kephallenen wurde.1292 Nachdem Laertes den kephallenischen Inselrumpf unter seine Kontrolle gebracht hatte, musste er bestrebt sein, das Wohlwollen derjenigen Kephallenen zu erwerben, die auf dem zweitwichtigsten Inselteil, nämlich auf der westlichen Paliki-Halbinsel lebten.1293 Die Hauptstadt dieser Halbinsel und die Hauptstadt des Inselrumpfes waren stets die beiden bedeutendsten Städte im kephallenischen Inselraum, und sie standen durch eine Fährverbindung in ständigem Kontakt miteinander.1294 Denn beide Städte lagen am handelspolitisch und strategisch wichtigen Livadi-Golf einander gegenüber,1295 weshalb sie in Zeiten friedlicher Koexistenz am meisten profitierten. Die Unterstützung der Westkephallenen auf Paliki erhielt Laertes durch eine kluge Heiratspolitik, indem er seine einzige Tochter, Odysseus’ Schwester Ktimene, dorthin verehelichte.1296 Dieser politische Schachzug sicherte ihm das Wohlwollen der kephallenischen Machthaber von Paliki, und folglich mussten sich die wenigen Adligen der beiden kleineren und stets unbedeutenden Glieder des kephallenischen Inselraumes, also die der Nordhalbinsel Erissos und die der Insel Theaki,1297 dem Machtanspruch des Laertes fügen und ihn als Hochkönig der Kephallenen akzeptieren. Somit avancierte Laertes „zum Führer der Männer“, d. h. zum Heerführer aller Kephallenen. Wie aber gelangte die relativ große und bevölkerungsreiche Insel Zakynthos, die dem Schiffskatalog zufolge zum Reich des Odysseus gehörte,1298 unter kephallenische Vorherrschaft? In der Odyssee deutet nichts auf einen Kriegszug der Kephallenen gegen Zakynthos hin. Dass adlige Achaier aus Zakynthos um Penelope freiten,1299 spricht auch gegen eine Eroberung der Insel, denn die kephallenischen Fürsten hätten sicherlich nicht geduldet, dass der autochthone Adel einer unterworfenen Insel um Penelope wirbt und somit nach der kephallenischen Königswürde greift.1300 Folglich dürfte die 1290 Od. 21,212 ff. 1291 Od. 14,10 ff. Der Hof des Eumaios lag peripher (Od. 14,105) im Südosten (Od. 15,36, 495 ff.; 16,1 ff.). 1292 Über das frühgriechische „Volk breitet sich eine Herrenschicht, an deren Spitze der König steht, der Oberbefehlshaber im Kriege, im übrigen aber nur ein Primus inter pares“ (IRMSCHER 27). 1293 Das kephallenische Samos (Ilias 2,634) stellte nächst Dulichion die meisten Freier (Od. 16,249). 1294 Auf diese Fährverbindung weist bereits die Odyssee (20,187; vgl. 4,671; 15,29) hin. 1295 Schon STRABON (10,2,15) weist darauf hin: „Both Paleis [Παλεῖς] and Cranii [Κράνιοι] are on the gulf near the narrows“ (übersetzt von Horace L. JONES V 51; der Bedeutung der Städte entsprechend, nennt STRABON zuerst Krane, dann Pale). 1296 Od.15,363 ff. 1297 Es sind die homerischen Inselkörper Krokyleia und Aigilips (Ilias 2,633). 1298 Ilias 2,634. 1299 Od. 16,250. Alle Inseln, die Freier stellten, besaßen Rädelsführer, mit Ausnahme der Freier von Zakynthos. Sie verhielten sich unauffällig und deshalb erwähnt das Epos keinen einzigen namentlich. 1300 Die Werbung galt weniger der Penelope, als vielmehr der mit der Heirat verbundenen Königswürde, wie die Aussagen der Penelope (Od. 21,70 ff.) und des Eurymachos (22,49–53) belegen.

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1. Die Ithaka-Antwort

Insel Zakynthos eher gewaltlos und womöglich freiwillig unter kephallenische Oberhoheit gelangt sein, und dafür gab es ein triftiges Motiv: Ein autonomes Zakynthos, das schon früh von nordpeloponnesischen Achäern kolonisiert worden war,1301 hätte nämlich – wie die antike Geschichte der Insel lehrt – den Expansionsdrang bzw. die Repression der benachbarten Achäer und Epeier hervorgerufen. So erschien es den Zakynthern wohl vorteilhafter, sich dem Hochkönig der Kephallenen zu unterstellen, zumal Laertes und sein Sohn Odysseus, wie das Epos wiederholt betont, ebenso durchsetzungsfähige wie gütige und weitsichtige Herrscher waren.1302 Nachdem das Zentrum und der Süden des westgriechischen Inselbogens zum Reich der Kephallenen zählten, d. h. alle Glieder von Kephallenia sowie die Inseln Theaki und Zakynthos, wandte sich Laertes dem Norden des Inselbogens zu, nämlich den von Nordwestgriechen bevölkerten Festlandshalbinseln Leukas und Plagia, die hintereinander gestaffelt dem akarnanischen Festland vorgelagert sind.1303 Zunächst eroberte Laertes mit der Streitmacht der Kephallenen die leukadische Hauptstadt Nerikos,1304 die, gegenüber der Nordspitze Kephallenias, am leukadischen Vorgebirge lag. Nach dem Fall der Stadt konnten die Kephallenen nordwärts vordringen und die ganze Halbinsel Leukas unterwerfen (zumal die Stadt Leukas am Isthmos damals noch nicht von den Korinthern gegründet war) sowie die angrenzende Halbinsel Plagia, deren Ostflanke eine militärisch günstige Grenze gegen Akarnanien bot. Dieser annektierte Festlandsbesitz unterstand fortan der kephallenischen Krone und trug somit maßgeblich zum Reichtum der Arkeisiadendynastie bei.1305 Die von Laertes eroberten Festlandsterritorien waren aber auch von strategischem Wert, weil die Kephallenen dadurch eine Landbrücke zu ihren Verbündeten, den Thesprotern,1306 gewannen, die zwischen Leukas und Kerkyra (Corfu) die Küste von Epirus bewohnten. Indem die Kephallenen unter der Führung des Laertes den ganzen westgriechischen Inselbogen beherrschten, der den Doppelgolf von Patras und Korinth gegen das offene Ionische Meer abschirmt, konnten sie auch den Seeverkehr von Mittelgriechenland nach Kerkyra (Corfu), Süditalien und Sizilien kontrollieren. Das schränkte in dem Inselraum vor allem die Bewegungsfreiheit des kleinen Volkes der Taphier ein, das die Eilande zwischen Leukas und Akarnanien bewohnte und vom Fernhandel und Seeraub lebte.1307 Ihnen blieb fortan nichts anderes übrig, als sich mit den Kephallenen servil zu arrangieren. So war der Taphierfürst Mentes und dessen Vater Anchialos ein guter Gastfreund des Laertes,1308 und sie erfüllten dem Odysseus alle Wünsche, selbst einen, der gegen göttliche Normen verstieß.1309 1301 1302 1303 1304 1305 1306 1307 1308 1309

Thuk. 2,66; vgl. Od. 16,250. Od. 2,233 f.; 16,428 ff., 442 f. Ilias 2,635. Od. 4,688 ff., 24,377 f. Od. 14,96 ff. Od. 16,427 (vgl. Od. 14,315 ff.). Od. 1,183 f.; 15,425 ff. Od. 1,417 f. So hatte Ilos dem Odysseus „tödliche Gifte“ verweigert, „denn er scheute sich doch vor den ewigen Göttern. Aber mein Vater hat sie ihm gegeben“, berichtet der Taphierfürst Mentes (Od. 1,259 ff.).

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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Das kleine Inselvolk der Taphier, das in frühhistorischer Zeit teils auch auf Kephallenia ansässig war,1310 ging mit dem Reich der Kephallenen eine Symbiose ein, die beiden Völkern nutzte: Einerseits konnten es die taphischen Seeräuber nicht wagen, den kephallenischen Seehandel zu beeinträchtigen, und andererseits wurde das Seeräubervolk vor dem Zugriff anderer seefahrender Nationen, denen sie Schaden zugefügt hatten, vom mächtigen König der Kephallenen tatkräftig geschützt, wie die Odyssee berichtet.1311 Ein weiterer Grund für diese Symbiose lag für die Kephallenen wohl darin, dass sie alle seefahrenden Volksstämme in ihrem Inselraum bündeln mussten, um den übermächtigen westgriechischen Dulichiern (Kerkyräern) trotzen zu können, die die mächtigste Seemacht im Westen Griechenlands repräsentierten.1312 Die vom machtbewussten Laertes forcierte politische Hegemonie über den westgriechischen Inselbogen drohte jedoch schon eine Generation später zu zerbrechen, weil sein Sohn, der amtierende Kephallenenkönig Odysseus, nach dem siegreichen Trojanischen Krieg als verschollen bzw. tot galt. Die dadurch aufkeimende Anarchie im Reich der Kephallenen1313 wurde für keinen Volksstamm gefährlicher als für die Taphier. Denn infolge der langen Abwesenheit des Odysseus gewannen die Dulichier zunehmend an Einfluss,1314 und diesen waren die Taphier ein Dorn im Auge. Nicht nur, weil die Taphier auch vor der thesprotischen Küste und damit im unmittelbaren Bereich der Seemacht Dulichion (Kerkyra) ihr seeräuberisches Unwesen trieben, wie die Odyssee überliefert,1315 sondern insbesondere deshalb, weil der Seeweg von Dulichion zu den Echinaden, die im Besitz der mächtigen Dulichier waren,1316 unmittelbar an den Inseln der seeräuberischen Taphier vorbei führte. Diese Seeroute war ein Teilstück des Haupthandelsweges der Dulichier, der vom Golf von Korinth über Dulichion nach Süditalien verlief. Also, je schwächer das von zunehmender Anarchie gekennzeichnete Kephallenenreich wurde, desto mehr bestand für das kleine Seeräubervolk der Taphier die Gefahr, von den mächtigen Dulichiern und Thesprotern vernichtet zu werden. Somit ist es wohl kein Zufall, dass in der Odyssee ausgerechnet der Taphierfürst Mentes über die politische Instabilität des Kephallenenreichs besorgt ist und die epische Handlung vorantreibt, indem er im kephallenischen Königspalast erscheint und den 1310 PARTSCH, Kephallenia 38. 1311 Od. 16,426 ff. – Ein ähnliches Zweckbündnis unterhielten die Osmanen mit den Seeräubern im westgriechischen Inselraum. Walter LEAF (175) behauptet jedoch bzgl. der homerischen Taphier: „No community of pirates and merchants could maintain its independance on such a petty realm, surrounded on every side by the large and powerful Four Islands [Kephallenia, Leukas, Theaki, Zakynthos]; nor could Odysseus have endured, in the heart of his kingdom, such a nest of trouble-some and active freebooters“. Deshalb folgert LEAF (176): „We may be quite sure that Taphos was outside the Greek world altogether”, und er (182) kommt zu dem Schluss: „Corfu“, Kerkyra, sei die Insel „Taphos, the kingdom of Mentes“. Schon Thomas W. ALLEN „suggests Paxos“, das Eiland südlich Kerkyra, als das homerische Taphos (LEAF 182, Anm. 1). 1312 Ilias 2,630, 637. 1313 Laertes fühlte sich zu alt, um nochmals zu regieren (Od. 11,187 ff.; 15,352 ff.), und der Kronprinz Telemach war noch zu jung, um der zunehmenden Willkür des Adels entgegenzuwirken (Od. 2,40–81). 1314 Unter den Freiern im Odysseus-Palast hatten die Dulichier die größte Lobby (Od. 16,247 f.). 1315 Od. 16,426 ff. 1316 Ilias 2,625.

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1. Die Ithaka-Antwort

zum Manne gereiften Telemach auffordert, sich endlich seiner Pflichten als Thronfolger zu besinnen und nach seinem Vater Odysseus zu forschen.1317 Der Taphierfürst erteilt Telemach aber nicht nur den nötigen Denkanstoß, sondern er entfaltet ihm „abseits der Freier“1318 ein detailliertes Aktionsprogramm: Telemach solle gleich „morgen“ eine Volksversammlung einberufen, ein Schiff nach Pylos ausrüsten und nach dem Vater forschen. Falls Odysseus verschollen bleibt, möge Telemach seine Mutter mit einem anderen Mann verheiraten und seine Konkurrenten um die kephallenische Königswürde, teils heimtückisch, teils offen ermorden, damit er die legitime Nachfolge seines Vaters Odysseus antreten kann. Alles hat sich der bedrängte Taphierfürst gründlich überlegt, z. B. was Telemach auf der Volksversammlung sagen soll, wie das Schiff bemannt sein möge etc. Die daraufhin von Telemach ergriffene Initiative widerstrebte jedoch den Absichten der Freier, und deshalb planten sie, den einzigen Sohn des Odysseus zu töten und somit „den Stamm des göttergleichen Arkeisios“ auszulöschen.1319 Aber Telemach entging dem Attentat und dürfte, wie zumindest der Seher Theoklymenos prognostizierte, die väterliche Nachfolge im Reich der Kephallenen angetreten haben.1320 Telemach, der zumindest in seinem südkephallenischen Stammkönigreich den Anspruch auf die Königswürde geerbt hatte,1321 würde, wie er schon vor der Heimkehr seines Vaters bekannte, gern Hochkönig aller Kephallenen werden, „wenn Zeus es gewährte“.1322 Aber ohne die Hilfe seines Vaters hätte er sich, wie seine Vorfahren Arkeisios und Laertes, erst gegen die kephallenische Elite durchsetzen müssen, denn „viele und andere achaiische Könige gibt es, junge und alte, die auf dem meerumströmten Ithaka herrschen“.1323 Bei dieser Aussage ist anzumerken, dass auch „Thronerben der Titel βασιλεύς verliehen“ ist,1324 aufgrund dessen zu den „vielen“ Königen nicht nur die amtie1317 Od.1,269–297; 320 ff. – Die Aussagen des Taphierfüsten Mentes, der in die politischen Verhältnisse des Kephallenenreichs involviert war, sind unter Berücksichtigung der konkreten historisch-geographische Situation zu deuten. Es war der Taphierfürst, und nicht ‚bloß‘ die Göttin Athene (die und deren Wirken indes im Taphierfürst Mentes erscheint), und deshalb greift die Kritik am Auftreten des Mentes bzw. der Göttin Athene (v. a. bei KIRCHHOFF 244 ff.; bes. 249 f.) nur bedingt. Denn „die Entwicklung der Handlung [in der Odyssee] wird weder von dem Zwang des Schicksals noch von dem Eigensinn autarker Gottheiten bestimmt, sondern allein von der freien Entscheidung freier Menschen, die ihre Taten auf eigene, persönliche Motive zurückzuführen wissen“ (Sarischoulis 268). 1318 Od. 1,132. Mentes scheute wohl v. a. die dulichischen Adligen im Odysseus-Palast (vgl. Od. 16,424 ff.) 1319 Od. 14,182. 1320 „Andere Geschlechter in Ithakas Volk sind an Königswürde niemals dem euren vergleichbar; nur ihr seid die Starken für immer“ (Od. 15,533 f.). „Wenn Telemachos in der Versammlung auf dem Sitze seines Vaters Platz nimmt, gehen ihm die γέροντες freiwillig aus dem Wege (Od. II 82)“, und „die Freier gestanden ihm zu, dass ihm die Regierung seines Vaters von Rechtswegen zukomme (Od. 1,387)“, aber nur in seinem Stammkönigreich (GLADSTONE 303). 1321 Od. 1,386 f.; vgl. 4,62 ff. So trug der jugendliche Telemach auf der von ihm einberufenen Volksversammlung das königliche Zepter (Od. 2,80). 1322 Od. 1,390. – „Der Ausdruck Kephallenisches Reich wird von Homer nicht gebraucht. Dagegen kommt Ithaca’s Reich an mehreren Orten [Stellen] vor“ (RÜHLE 26), nämlich Ilias 3,482 ff., Odyssee 103 u. 24,482 ff. Dieser Ausdruck bezieht sich indes nur auf den Inselrumpf Kephallenias (vgl. Kranae). 1323 Od. 1,394 f. In Anbetracht der kleinen Insel Theaki (die bislang als homerisches Ithaka galt) wurde die Angabe, „dass wir in dem kleinen und verhältnismäßig armen Reiche des Odysseus viele Könige finden“ (GLADSTONE 310), oft bezweifelt. 1324 GLADSTONE 87.

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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renden Herrscher zu zählen sind. Abgesehen vom Altkönig Laertes, dem amtierenden Herrscher Odysseus und dem Kronprinzen Telemach, werden indes nur zwei weitere kephallenische Könige genannt, nämlich Eurymachos und Antinoos.1325 Und das sind nicht viele. Dennoch herrschten im Reich der Kephallenen, dem Odysseus als Hochkönig vorstand, „viele Könige“, und nicht nur die genannten fünf. Denn ein weiterer, namentlich nicht genannter König ist zudem auf der kephallenischen Westhalbinsel Paliki (Samos) anzunehmen. Dieser war vielleicht der Gatte der Ktimene, der Schwester des Hochkönigs Odysseus, die Laertes „gegen reichlichstes Brautgeld nach Samos“ verheiratet hat.1326 Auch die nordkephallenische Halbinsel Erissos (Krokyleia) wird ein Herrschergeschlecht besessen haben. Berücksichtigt man die nicht namentlich genannten ‚Könige‘ der kephallenischen West- und Nordhalbinsel samt Vätern und Kronprinzen, ferner die beiden jungen kephallenischen Könige Eurymachos und Antinoos1327 samt deren Väter und womöglich noch lebenden Großväter , sowie ggf. auch deren Brüder, zudem den Kronprinzen Telemach, den König Odysseus und Altkönig Laertes, dann trifft die Aussage der Odyssee durchaus zu, „dass viele und andere achaiische Könige, junge und alte, im meerumströmten Ithaka herrschen.“ Die Odyssee spricht einmal sogar vom „Demos der Kephallenen“ (Κεφαλλήνων ἐνὶ δήμῳ), und so folgert u. a. Dietrich Mülder, „dass der Dichter Kephallenia und die Kephallenen kennt, ist über jeden Zweifel erhaben“.1328 Ebenso kommentiert Ulrich von Wilamowitz die Odysseestellle: „ich habe auch gesagt, daß hier die Gemeinde der Kephallenen eben Kephallenia ist“.1329 Das altgriechische Wort demos bezeichnet „die Wohnsitze eines Volkes“,1330 und die Wohnsitze der Kephallenen lagen zu allen Zeiten v. a. auf der dreigliedrigen Insel Kephallenia und dem benachbarten Theaki (das heutige

1325 Od. 18,64 f. 1326 Od. 15,367. – „Die Schol. hier [Od. 10,440 f.] und zu XV 363 sagen mit mehr oder minder Bestimmtheit, Eurylochos [Od. 10,205, 207, 232, 244, 271, 429, 447; 11,23; 12,195, 278, 294, 297, 339, 352] habe des Odysseus Schwester Ktimene zur Frau gehabt“ (NITZSCH III 143). 1327 Eurymachos war ein Kleinkind, als Odysseus nach Troja zog (Od. 16,442 f.); der etwas jüngere Antinoos lebte damals auch schon, konnte aber noch nicht sprechen (21,94 f.). 1328 MÜLDER, Ithaka 18. „Das Fehlen von Kephallenie in der Odyssee hat seinen Grund also nicht in irgendwelchen realen Verhältnissen, sondern geschieht durch Entschluss des Dichters zugunsten des dichterischen Gestaltens“, denn „so unmöglich wie Kephallenie metrisch ist, so handlich ist auf der anderen Seite Ithake“ (ders. 16). Also der Dichter „weiß, daß Kephallenia die bedeutendste der Jonischen Inseln ist, und so macht er den Odysseus zum Herrscher von Kephallenen, nicht von Kephallenia, weil dies nicht in den Vers geht“ (MÜLDER, Ithaka-Hypothese 158). Abgesehen davon, dass Kephallenia zwar die größte, aber nicht „die bedeutendste der Jonischen Inseln ist“ (das war stets das bevölkerungsreichere Kerkyra/Corfu), liegt es weniger am Versmaß, dass der Dichter den Odysseus nicht als „Herrscher von Kephallenia“ präsentiert. Denn einerseits herrschte Odysseus als Hoch-König der Kephallenen über weitere Inseln und Territorien, und andererseits war er nicht König von ganz Kephallenia, sondern nur in seinem Stammkönigreich Ithake kranae, dem kephallenischen Inselrumpf (z.Vgl.: Friedrich I. war offiziell „König in Preußen“ und nicht „König von Preußen“, weil ihm nicht alle Teile Preußens unterstanden. Analog dazu war Odysseus König ‚in Kephallenia‘, aber nicht ‚von Kephallenia‘). 1329 WILAMOWITZ (Wochenschrift 381) mit Bezug auf Od. 20,210. 1330 BENSELER 187.

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1. Die Ithaka-Antwort

Ithaka).1331 Diesen Sachverhalt beschreibt schon Wilamowitz: „Es ist ganz begreiflich, daß die winzige Insel Ithaka in historischer Zeit eine Dependenz von der Nachbarinsel Kephallenia war, und daß beide Inseln achaeische Bewohner hatten, stimmt dazu“.1332 Zwar waren auch die Bewohner der Insel Zakynthos vorwiegend Achaier,1333 aber deren frühste Siedler waren Azanen, die aus Arkadien stammen.1334 Seit historischer Zeit bewohnt das Volk der Kephallenen vier größere Inselkörper, nämlich den kephallenischen Inselrumpf, die Westhalbinsel Paliki, die Nordhalbinsel Erissos und das heutige Ithaka; hinzukommen noch drei einst bewohnte Eilande, so Vardiani, Atokos und Dia.1335 Diese kompakte Inselflur, die das Zentrum des westgriechischen Inselbogens bildet, dürfte Aristoteles unter den „Inseln der Kephallenen“ (νῇσοι τῶν Κεφαλλήνων) verstanden haben.1336 So gibt es keinen Anlass anzunehmen, dass dem in Ilias und Odyssee genannten Volksnamen „Kephallenen“ ein anderes Verständnis über die Wohnsitze der Kephallenen zugrunde liegt, obwohl das infolge unzutreffender Spekulationen oft behauptet wird1337 und seinen Niederschlag somit auch in den modernen Ausgaben der homerischen Epen findet.1338 1331 „Wann die Kephallenen sich von dieser festländischen Völkerfamilie [v. a. „den Akarnanen“ und „Eurytanen Aetoliens“] getrennt und die Inseln südlich von Leukadien [mit Ausnahme von Zakynthos] eingenommen haben, welche seither als ihre Sitze gelten, ist nicht leicht zu bestimmen“ (PARTSCH, Kephallenia 37). 1332 WILAMOWITZ, Untersuchungen 73. 1333 Vgl. Od. 16,250. 1334 „Von der Geschichte des alten Zakynthos, dessen erste Gründer arkadische Azanen, dessen später vorwaltende Kolonisten Achäer waren, ist wenig bekannt“ (PARTSCH, Zakynthos 173). „Psophis [Name der alten Burgstadt von Zakynthos] ward diese nach dem Muster einer arkadischen Feste von den ersrten Ansiedlern genannt“ (a. a. O. mit Bezug auf Paus. VIII 24,2). 1335 Zu den „13 kleinen [?] Eilanden [und größeren Inseln! Kephallenia ist die die elft größte Insel des Mittelmeeres], die jetzt [vor einem Jahrhundert] den νομὸς Κεφαλληνίας ausmachten“ (BÜRCHNER, Kephallenia 216,6 ff.), gehörten auch einige der akarnanischen Küste vorgelagerte Taphische Inseln und Echinaden, die aber weder von Kephallenen besiedelt waren noch zum Reich des Odysseus gehörten (vgl. Ilias 2,625 f.; Od. 9,19 ff.). 1336 Arist. frg. 462, 1554 a 9,20 B. Dionys. Calliph. f. v. 50. Georg. Aerop. chr. syng. 184 B. Noch Carl SCHREIBER (1; mit Bezug auf „Dicaearch stat. Graec. vera 50–53. Beymni Chii orb. Descrpt. 456. Scylax peripl. ed. Oxon. p. 13. Strab. X, p. 452. 453. Casaub.“) operiert mit diesem Terminus, so sei „die Insel Ithaca, Ἰθάκη, eine der Cephallenischen Inseln“. Laut STRABON (10,2,10) wohnen „die Kephallenen“ auf Kephallenia und (dem heutigen) Ithaka. 1337 U. a. ALLEN (88): „The name Cephallenes is applied to the people of all the islands“. “The Kephallenian name is found on the mainland as well as in the islands” (LEAF 142). 1338 So steht z. B. im Namenregister der Odyssee-Übersetzung von Anton WEIHER (Artemis-Ausgabe; S. 720) unter dem Stichwort „Kephallenen, Untertanen des Odysseus auf dem Festland XX 210; XXIV 355, 378, 429“. Und im Namenregister der Ilias-Übersetzung von Hans RUPÉ (Artemis-Ausgabe; S. 945) steht: „Kephallener Κεφαλλῆνες, Untertanen des Odysseus, Bewohner von Same, Ithaka, Zakynthos, Dulichion und einem Teil des Festlandes II 631, IV 330“. Dass im Register der Ilias-Ausgabe die Kephallenen auch als Bewohner von „Dulichion“ genannt werden, widerspricht Ilias 2,625 ff.! Entgegen den Zitaten ist den homerischen Epen nicht zu entnehmen, dass die Kephallenen entweder ausschließlich „auf dem Festland“ (Odyssee-Register) oder einen „Teil des Festlandes“ (Ilias-Register) bewohnten. Beim Vers Od. 20,210 folgte man blind der Deutung von Wilhelm DÖRPFELD, der die Leukas-Ithaka-Theorie vertrat. Die Stelle Od. 24,355 besagt nicht, dass sich eine von Kephallenen bewohnte Stadt auf dem Festland befand. Und die Stelle Od. 24,377 f., derzufolge Laertes mit seinem Inselvolk der Kephallenen die Festlandsspitze eroberte, zeugt doch davon, dass gerade das Festland nicht von Kephallenen bewohnt war! In Od. 24,429 wird gesagt, dass Odysseus beim Freiermord „die weitaus besten unter

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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Aufgrund verschiedener Ithaka-Theorien und auch infolge unzutreffender Schlüsse von Homerphilologen, die der Fiktionsthese anhängen, ist zudem eine Konfusion über die Bedeutung des homerischen Wortes „Ithakesier“ entstanden. So behauptete schon Dietrich Mülder, der Volksname „Ἰθακήσιοι dient aber als Bezeichnung der ganzen Reichsbevölkerung, nicht etwa bloss der Bewohner der Einzelinsel Ithaka; β 25, 161, 229, ω 354, 443, 454, 531, ο 520 lassen daran keinen Zweifel“.1339 Dem ist jedoch, wie auch der vorliegenden geographischen Untersuchung zu entnehmen ist, entschieden zu widersprechen.1340 So ergibt eine Überprüfung aller von Mülder als Belege angeführten Odysseestellen, dass das Wort „Ithakesier“ keineswegs alle Bewohner des vom Kephallenenkönig Odysseus beherrschten westgriechischen Inselbogens umfasst, sondern ausschließlich die Bewohner der homerischen Insel Ithaka im allgemeinen und deren Hauptstadt im speziellen.1341 Auch der von Mülder nicht genannten Odysseestelle 14,102 ist zu entnehmen, dass der Volksname Ithakesier nicht die „ganze Reichsbevölkerung“ bezeichnet, weil zum Reich des Odysseus ausdrücklich Festlandsbesitzungen gehörten, auf der überwiegend „Fremde“ (ξεῖνοί) lebten.1342 Und weil das Stammkönigreich des Odysseus, das den südöstlich orientierten Inselrumpf des homerischen Ithaka (bzw. des heutigen Kephallenia) umfasst, als epischer Handlungsraum fungiert, verstehen Ilias1343 und Odyssee unter den Ithakesiern v. a. die Bewohner von Ithake kranae und der dort befindlichen Inselhauptstadt Ithaka. Die-

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den Kephallenen geötet hat“. Aber unter den Freiern der Penelope befand sich kein einziger, der vom festländischen Teil des Reiches stammte (s. Od. 16,122 ff.), das erst von Laertes erobert worden war. In Ilias 2,631 (ἔχον !) bewohnen die Kephallenen auch nicht einen Teil des Festlandes, sondern sie haben es – übereinstimmend mit Od. 24,377 f. – gewaltsam „eingenommen, besetzt, in Besitz genommen“ (BENSELER 380); immerhin könnte nach Ilias 2,635 die Antiperaia auch von Kephallenen bewohnt sein (vgl. Od. 14,100 ff.). Und die Ilias-Stelle 4,330 sagt nichts über die Wohnsitze der Kephallenen aus. – Im Register der Odyssee-Übersetzung von Hans RUPÉ (Reclam-Ausgabe S. 437) heißt es treffend: „Kephallenen – Bewohner von Kephallenia und allgemeiner der Inseln im Umkreis von Ithaka (20,210; 24,355. 378. 429)“. MÜLDER, Ithaka 9. „Die Bewohner von Ithaka Ἰθακήσιοι“ sind „in dem Namen der Kephallener eingeschlossen“ (GLADSTONE 18). Die Stellen Od. 2,25, 161, 229 bezeichnen als Ithakesier die auf der Agora von Ithaka-Stadt versammelten Bürger; darauf beziehen sich auch die Verse 24,443 und 454. In Vers 15,520 heißt es: „Polybios glänzender Sohn [Eurymachos], den die Leute in Ithaka ansehn als wäre er ein Gott“. Mit den Leuten sind v. a. die Bewohner von Ithaka-Stadt und wohl auch die der ganzen Insel gemeint. Der Vers 24,354 lautet: „Kommen werden die Ithaker alle um hier [auf dem Landgut des Odysseus] uns zu greifen“. Diese Befürchtung des Odysseus (24,353) bezieht sich auf den möglichen Beschluss der auf der Agora in Ithaka-Stadt tagenden Bevölkerung, Rache an ihm und seinen Gefährten für den Freiermord zu nehmen (24,413 ff., 463 ff.); indes, Odysseus konnte nicht ahnen (24,439 ff.), dass infolge der beherzten Ansprachen von Medon (24,442 ff.) und Halitherses (24,451 ff.) nicht – wie befürchtet – „alle“ Versammlungsteilnehmer zu den Waffen griffen, sondern nur knapp die Hälfte (24,463 ff.). Aufgrund der gebotenen Eile (vgl. 24,430 ff.) nahmen an der Volksversammlung nicht auch Verwandte der getöteten Freier aus anderen Städten der Kephallenen teil (vgl. 24,420 ff.), sondern ausschließlich aus Ithaka-Stadt (explizit: Versbeginn 24,420). Der Vers 24,531 bezeichnet als Ithakesier diejenigen, die zur Schlacht angetreten waren, nämlich Odysseus und seine Gefährten sowie deren Gegner unter der Führung von Eupeithes (vgl. 24,465 ff.). – In der Ilias (2,184) wird als „Ithakesier“ der Herold des Odysseus, Eurybates, genannt, der sicherlich auf Ithaka und nicht auf einer anderen Insel der Kephallenen heimisch war. Od. 14,102; vgl. 24,377 f. Ilias 2,184 bezeichnet den Herold des Odysseus, Eurybates, als Ithakesier.

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1. Die Ithaka-Antwort

sen Sachverhalt bestätigt auch die Analyse von Emil Belzner: „Ἰθακήσιοι ist im ganzen Homer ohne Unterschied ein Teilbegriff gegenüber den Gesamtnamen Κεφαλλῆνες; letzteres bezeichnet alle Untertanen der Arkeisiaden, ersterer die Leute von der Insel, bzw. Stadt Ithaka. So stehen die beiden Begriffe [Kephallenen und Ithakesier] ganz klar nebeneinander in ω 353–55“.1344 Dem ist nichts hinzufügen, es sei denn der Hinweis, dass aufgrund der hier vorgelegten historisch-geographischen Lösung der Ithaka-Frage sämtliche Angaben über die Kephallenen und Ithakesier in Ilias und Odyssee miteinander harmonieren.1345 1.3.8 Die Freier der Penelope Wie der Schiffskatalog der Ilias unmissverständlich darlegt, standen im Westen von Griechenland zwei mächtige Inselreiche einander gegenüber, nämlich das der Dulichier (Kerkyräer) einerseits und das der Kephallenen andererseits,1346 und dementsprechend wurden die westgriechischen Inseln politisch oft vom Dualismus der Inseln Kerkyra und Kephallenia geprägt.1347 Zwar deutet in den homerischen Epen nichts darauf hin, dass die Dulichier und Kephallenen zur Zeit des Odysseus eine gemeinsame Thalassokratie ausübten, aber die Tatsache, dass ausschließlich Adlige aus dem Reich der Kephallenen und dem Seereich der Dulichier als Freier der Penelope auftraten und somit die kephallenische Königswürde beanspruchten,1348 deutet immerhin auf eine achäische Föderation hin. Auch noch in nachhomerischer Zeit existierten zwischen Kerkyräern und Kephallenen mehr oder minder feste politische Bande: So basieren die bereits „um 500 v. Chr.“ geprägten Münzen der kephallenischen Hauptstadt Krane, der Nachfolgerin der

1344 BELZNER 17, Anm. 1. Die Odysseeverse 24,353–355, auf die das Zitat verweist, geben die Befürchtung des Odysseus wieder, als er nach dem Freiermord mit seinen Gefährten auf das Landgut seines Vaters geflüchtet war: „Kommen werden die Ithakesier alle um uns hier zu greifen, allseits eilig es [den Mord an den Freiern] melden den Städten der Kephallenen“. „Denn dass dieser [Dichter] unter den Kephallenen ausschließlich die Bewohner der nach ihnen benannten Insel versteht, zeigt der Ausdruck Κεφαλλήνων δῆμος, der sich unmöglich auf ein ausgedehntes Ländergebiet bezieht“ (SEECK 316). 1345 Auch Dietrich MÜLDERs (Ithaka 15) Einwand, im Schiffskatalog der Ilias stünden bei der Vorstellung des Inselreichs des Odysseus die „Kephallenen im Vordergrunde“ (Ilias 2,631: „Odysseus führte die mutigen Kephallenen“), während es zu Beginn der Apologe der Odysse „ganz anders“ sei, denn „von den Kephallenen und Kephallenie ist hier überhaupt nicht die Rede“, ist nicht schlagend. Denn erstens ist dazu festzustellen, dass die Verse der Ilias und Odyssee nicht einander widersprechen, und zweitens, dass Odysseus auch in der Odyssee mit den einleitenden Worten „Ich bin Odysseus, der Sohn des Laertes …“ (Od. 9,19) sich als Herrscher der Kephallenen vorstellt. Denn schon in der Ilias (2,173 [noch vor 2,631!] sowie 3,200 u. 10,144) wird der Kephallenenkönig Odysseus als „Sohn des Laertes“ gerühmt, der somit ebenfalls als Herrscher der Kephallenen bekannt war (vgl.a. Od. 24,375–378). 1346 Ilias 2,625–637. 1347 „Eben darum gehört die Zusammenfassung unter einen Begriff der Jonischen Inseln oder des Heptanes erst der Venzianer-Herrschaft und ihrer Folgezeit an“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 564). Die „Rivalität mit Korfu“ führte zum antiken Bündnis mit Korinth (BRADFORD 59). 1348 Od. 16,245–251.

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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Stadt des Odysseus, auf dem Korkyräischen Münzfuß, und „das läßt wenigstens auf ein näheres Verhältnis zu den Kerkyraiern schließen“.1349 Während Kephallenia aufgrund seiner morphologischen Gestalt in mehrere Inselkörper zerfällt und deshalb in der Odyssee als eine Symmachie mit verschiedenen Königen erscheint,1350 an deren Spitze der Hochkönig Laertes bzw. sein Sohn Odysseus stand,1351 bildete das geringfügig gegliederte Kerkyra stets eine politische Einheit unter einer Herrschaft und besaß, „trotz seiner Größe“, „im Altertum nur eine einzige Stadt“.1352 Dementsprechend nennt die Odyssee bloß einen einzigen König von Dulichion (Kerkyra), der den Namen Akastos trug.1353 Kerkyra liegt zwar recht peripher und ist nach Kephallenia lediglich die zweitgrößte der westgriechischen Inseln, sie war aber aufgrund der günstigeren naturräumlichen Bedingungen stets erheblich bevölkerungsreicher als Kephallenia. Deshalb waren die Kerkyräer im westgriechischen Inselraum meist dominant und strebten bis in die Moderne hinein die Hegemonie auch über den kephallenischen Inselbogen an.1354 Auf diese machtpolitischen Ambitionen weist bereits die Odyssee hin: Nahezu die Hälfte aller Bewerber um die kephallenische Königswürde kam aus Dulichion,1355 und überdies war der mächtigste aller Freier ein Dulichier.1356 Wie der Blick in die Historie lehrt, bestand der politische Dualismus zwischen den Kerkyräern und Kephallenen nur dann, wenn es den Kephallenen gelungen war, auch Zakynthos und Leukas zu beherrschen, wodurch überhaupt erst ein hinreichendes Kontergewicht gegen das übermächtige Kerkyra entstand. Das gelang erstmals dem Kephallenenkönig Laertes, dessen Inselreich auch die Insel Zakynthos umfasste,1357 und der sich rühmte, die Festlandshalbinsel Leukas erobert zu haben.1358 Indem die Kephallenen ihren Machtbereich derart vergrößert und über den gesamten westgriechischen Inselbogen gespannt hatten, trieben sie einen Keil in das aufstrebende Seereich der Dulichier, das sich über Kerkyra einerseits und die Echinaden andererseits erstreckte.1359 1349 BÜRCHNER, Kephallenia 212,62 f. – Noch im 10. Jh. (im Verzeichnis des Kaisers Konstantin VII.) „bilden die Inseln Kephallenien, Zakynthos, Leukas, Korkyra (ἡ τῶν Φαιάκων πόλις), nebst den übrigen Inseln einen besonderen Kreis [‚Thema‘]“ (HOFFMANN 2085). 1350 Od. 1,394 f.; 18,64 f. 1351 Ilias 2,631. Od. 24,378; vgl. 10,538; 18, 70. 1352 MEYER, Korkyra 305,42 f. 1353 Od. 14,336. – Der Heerführer der Dulichier im Trojanischen Krieg heißt Meges (Ilias 2,627). 1354 Signifikant ist, dass der britische Lord-Hochkommissar der westgriechischen Inseln auf Korfu residierte, ebenso die nachfolgende Regierung des Staates der Jonischen Inseln. Infolge der Verwaltungsreform im Jahr 2013 wurde die selbständige Nomarchie „Kefalonia und Ithaka“ aufgelöst und mit der Nomarchie Korfu vereinigt, sodass der Nomarch, der über das Inselvolk der Kephallenen herrscht, nun in Korfu residiert. 1355 Od. 16,246 ff. 1356 So setzte sich der noch unerkannte Odysseus schutzflehend „hin zu Amphinomos, griff des Dulichiers Kniee, richtig aus Furcht vor Eurymachos“ (Od. 18,394 ff.; vgl. 16,394 ff.), der, wie der Freier Antinoos, einer der beiden jungen kephallenischen Könige war (18,64 f.). 1357 Ilias 2,634. – Der junge Odysseus hat vor der Trojafahrt keine Territorien hinzugewonnen. 1358 Od. 24,377 f. 1359 Ilias 2,625. – So sagt Joseph PARTSCH (38) über das frühgriechische Inselreich des aus dem akarnanischen Festlandsraum eingewanderte Volk der Kephallenen: „Wie ein in einen ältern Besitzstand hineingetriebener Keil trennt ihr Herrschaftsbereich zwei ursprünglich gewiß besser zusammenhängende

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1. Die Ithaka-Antwort

Wie bereits dargelegt, dienten die im Golf von Patras liegenden Echinaden den Dulichiern – wie später den Euboiern und nachfolgend den Korinthern auf Kerkyra – zur Absicherung ihres Seeweges nach Mittelgriechenland und zum Isthmos von Korinth. Und wohl aufgrund dieser strategischen Erwägungen bemühten sich insbesondere die Dulichier, im westgriechischen Inselbogen an Einfluss zu gewinnen, und so boten sie für die vakante kephallenische Königswürde die weitaus größte Lobby auf. Die unter der Herrschaft des Laertes betriebene kephallenische Expansionspolitik widersprach also v. a. den Interessen der mächtigen Dulichier, und zwar derart, dass sogar eine militärische Antwort zu befürchten war. Deshalb hatten die Kephallenen ausgerechnet mit den Thesprotern, die an der nordwestgriechischen Festlandsküste gegenüber der Insel Kerkyra (Dulichion) siedelten, das in der Odyssee erwähnte Schutz- und Trutzbündnis geschlossen.1360 Und durch die festländischen Eroberungen des Laertes gelang es den Kephallenen, den geographischen Schulterschluss mit dem verbündeten Reich der Thesproter zu vollziehen. Dem Volk der Thesproter seinerseits war an dem Bündnis gelegen, da es ebenfalls mit Sorge den Expansionsdrang der Dulichier (Kerkyräer) verfolgte, die auf dem Festland unmittelbar nördlich von Thesprotien eine Peraia schufen, die sich im frühen Altertum zunehmend ausdehnte.1361 Dennoch durften die Kephallenen die mächtigen Dulichier, die schon in der Ilias über eine der größten Kriegsflotten Griechenlands verfügten,1362 nicht unnötig provozieren, und wohl v. a. aus diesem Grund hatte Odysseus unter den Freiern einzig den mächtigsten der dulichischen Freier, Amphinomos, eindringlich vor der bevorstehenden Vernichtung gewarnt und ihn und seinen Anhang aufgefordert, in die Heimat zurückzukehren.1363 Diese für den heimgekehrten Odysseus nicht ungefährliche Vorwarnung dürfte also v. a. aus machtpolitischen Rücksichtnahmen erfolgt sein. Denn allein das gemäßigtere Verhalten der dulichischen Freier1364 schütze sie nicht vor Strafe, da auch sie den mehrjährigen Gastrechtsfrevel begangen1365 und zudem Penelope entehrt hatten.1366 Vor allem im Hinblick auf die 108 adligen Freier der Penelope seufzte namentlich Moses Finley in seinem Buch ‚Die Welt des Odysseus‘: „Wieder hat man seine Not mit den Zahlen“.1367 Denn Telemach berichtet dem heimgekehrten Odysseus: „Die Freier sind nicht nur zehn oder zwanzig, nein, es sind doch viel mehr; ihre Zahl sollst du nun

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Gebietsteile eines andern Reiches: Dulichion und die gegenüber von Elis dem akarnanischen Festland vorgelagerten Echinaden“. Die Situation wurde für die Dulichier bedrohlicher, nachdem Laertes mit den Thesproten ein Schutzbündnis geschlossen (Od. 16,426) und die Festlandshalbinsel Leukas erobert hatte (Od. 24,376 ff.). Od. 16,426. Thuk. 3,85. Vgl. PHILIPPSON/KIRSTEN II 202 f. Ilias 2,630. Die Dulichier besaßen also vierzig Kriegsschiffe, die Kephallenen nur zwölf (Od. 2,637). Od. 18,143–150. Also, nur „einen, den Amphinomos, warnt Odysseus, aber umsonst“ (BURCKHARDT, Epos 82). Wäre Amphinomos als mächtigster Freier der Dulichier mit seinem Personal heimgekehrt, wären ihm wohl auch die anderen Dulichier (seine Lobby) gefolgt. Od. 16,394 ff.; 18,119 ff. Od. 1,374 ff. Od. 1,245 ff., 368 ff.; bes. 2,48 ff.; 4,318 ff.; 16,121 ff.; 19,130 ff. FINLEY, Odysseus 51.

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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erfahren: Zweiundfünfzig erlesene Jünglinge samt einem halben Dutzend dienenden Helfern schickt uns Dulichion; weiter kommen aus Samos vierundzwanzig Männer; es stammen zwanzig Söhne Achaias dort von Zakynthos und selbst hier von Ithaka kommen ein ganzes Dutzend der Besten“.1368 Sowohl die relativ geringe Anzahl der ithakesischen Freier als vor allem auch die große Gesamtzahl der von Homer genannten Freier gab seit je her Anstoß zur Kritik.1369 Wie nachfolgende Überlegungen demonstrieren, erscheinen die auf den ersten Blick unglaublich hohen Zahlen und merkwürdig anmutenden Zahlenverhältnisse aufgrund der hier vorgelegten historisch-geographischen Interpretation der Odyssee jedoch plausibel. So wies in geschichtlicher Zeit die ausgesprochen dicht besiedelte Insel Kerkyra allein stets eine fast gleich hohe Bevölkerungszahl auf wie der westgriechische Inselbogen zusammen, der sich von der Nordwestküste Akarnaniens über Leukas, Theaki, Kephallenia und Zakynthos spannt.1370 Und dieser signifikante Bevölkerungsproporz schlägt sich bereits in den Worten des Telemach nieder, in denen den 56 Freiern aus dem gesamten Reich der Kephallenen immerhin 52 aus Dulichion (Kerkyra) gegenüber stehen.1371 Schon der renommierte Sprach- und Literaturwissenschaftler Eduard Engel gab vor einem Jahrhundert zu bedenken: Bei „den Zahlen der Freier“ handelt es sich „nicht um eine beliebige Zahlenspielerei; sondern von einem Dichter, der auch nur die oberflächlichste Anschauung von den Größenverhältnissen und der Bodenkultur der Inseln des Ionischen Meeres hatte, müssen wir erwarten, daß er nichts sage, was jeder Hörer sogleich als sinnlos erkennen müßte. Seine Freierzahlen entsprechen denn auch den wirklichen Verhältnissen“.1372 So gilt es nun, die für die einzelnen Inseln angegebenen Freierzahlen genauer zu analysieren und festzustellen, ob sie tatsächlich „den wirklichen Verhältnissen“ entsprechen. 1368 Od. 16,245 ff. – Ähnlich ist die Stelle Od. 16,121–125: „So gibt es im Hause jetzt Feinde; zahllos sind sie; denn alle Gewaltigen, Besten der Inseln Same, Dulichion und dem waldigen Zakynthos, weiter auch hier von κραναὴν Ἰθάκην alle die Herren; meine Mutter wollen sie freien und plündern das Hausgut“. Dieselben Verse bietet auch Od. 1,245–248. Ähnlich sind die zu athetierenden Verse Od. 19,130–133 (s. Anm. 627). 1369 Aus der geringen Anzahl der ithakesischen Freier „müßte man doch wenigstens schließen, daß Ithaka die kleinste der Inseln sei“ (GRÖSCHL 31). – „Die übertriebene Vorstellung von der Zahl der Freier, welche in diesen Versen zu Tage tritt, scheint der alexandrinischen Kritik Veranlassung gegeben zu haben, ihre Aechtheit zu beanstanden; darauf deutet wenigstens der Umstand hin, dass in der Handschrift M den Versen 247 und 249–251 der Obelos beigesetzt ist“ (KIRCHHOFF 510). 1370 „Die Gesamtbevölkerung der ionischen Inseln beträgt rund 213.000 Einwohner, wobei knapp die Hälfte auf Kerkyra (Korfu) entfällt“ (POLYGLOTT, Inseln 5). Die gegenwärtigen Einwohnerzahlen betragen gerundet: Kerkyra (Corfu) 130.000; die vier Glieder des Inselbogens (Leukas: 30.000, Theaki 10.000, Kephallenia: 60.000, Zakynthos 45.000) zusammen 145.000 (POLYGLOTT, Griechenland 253–261). – Die Schätzungen der antiken Bevölkerungszahlen, die auf Angaben antiker Autoren und archäologischen Zeugnissen basieren, kommen absolut und relativ zu ähnlichen Zahlen (PARTSCH, Korfu 92. PARTSCH, Kephallenia 41; vgl.a. 46 f. u. 52 f.). 1371 Od. 16,247–251. 1372 ENGEL 35. – „Einen ziemlich sicheren Anhalt für die Bestimmung der relativen Größe der Inseln gibt das Freierverzeichnis π 247 ff. Wenn man auch die Frage der Fruchtbarkeit und Nährkraft des Bodens nicht ausser acht lassen darf, so wird doch im allgemeinen diejenige Insel, welche mehr Freier entsendet, in der Vorstellung des Dichters auch als die größere zu gelten haben“ (BELZNER 28).

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1. Die Ithaka-Antwort

Die Bewerbung um die Königswürde über das Inselreich des Odysseus war nur denjenigen fürstlichen Freiern vorbehalten, die eine starke Lobby hatten, und dieser Sachverhalt führte zu der hohen Anzahl der Freier, so der bereits erwähnten 52 Dulichier, die sogar mit Personal angereist waren.1373 Wie Telemach berichtet, kamen die kephallenischen Freier, darunter die Könige Antinoos und Eurymachos,1374 ausschließlich von „den Inseln vor Elis“,1375 nämlich – wie bereits dargelegt – vom kephallenischen Inselrumpf (Ithake kranae), der Halbinsel Paliki (Samos) und von Zakynthos (Zakynthos).1376 Und dementsprechend umwarben Penelope, wie Telemach betont, nur „alle Gewaltigen, Besten der Inseln Dulichion und Same und vom waldigen Zakynthos, weiter auch die, die in kranaen Ithaken den Herren spielen“.1377 Die wenigen Adligen der nördlichen kephallenischen Territorien, die nicht der Küste von Elis, sondern der von Akarnanien vorgelagert sind, also das bevölkerungsarme Erissos (Krokyleia) und das raue Theaki (Aigilips), besaßen keine hinreichende Hausmacht bzw. Unterstützung, um die kephallenische Königswürde beanspruchen zu können. Auch hätten die je ein bis zwei führenden Adligen dieser kleinen und reativ kargen Inselglieder1378 wohl nicht, wie die wenigen anderen kephallenischen Fürsten, der Penelope derart teure Geschenke überreichen können.1379 Da also die Adligen von Krokyleia und Aigilips überhaupt nicht mit den Rädelsführern der kephallenischen sowie dulichischen Freier und deren Lobby konkurrieren konnten, waren sie also erst gar nicht zur aussichtslosen Werbung erschienen. Anders liegt der Fall bei den festländischen Gliedern des Inselreichs, nämlich bei Leukas und der Halbinsel Plagia, die ebenfalls keine Freier entsandten. Diese Gebiete waren erst unter Laertes erobert worden1380 und gehörten „zum Domanialbesitz des Königs“, und „darum kann auch das Festland keine Freier senden“. Also, die vornehmen Personen dieser unterworfenen festländischen Territorien, die „nicht zu den Vollbürgern des Landes zählten“,1381 durften es erst gar nicht wagen, als Freier der Penelope im Palast des Odysseus zu erscheinen und damit dem kephallenischen Hochadel die Herrschaft streitig zu machen. 1373 1374 1375 1376 1377 1378

1379 1380 1381

Od. 16,247 f. Od. 18,64 f. Od. 21,347. Od. 16,249 ff.; vgl. 21,343 ff. Diese drei Inselkörper waren im kephallenischen Inselraum stets am bevölkerungsreichsten und politisch am bedeutendsten, und so konnte nur ein Fürst aus diesen Inseln zum König der Kephallenen avancieren. Königswürdig war jedoch auch ein Führer der Dulichier (vgl. Ilias 625–630). Od. 16,122 ff. Wie noch dargelegt wird, wies das ‚Rittergut‘ eines Freiers der Penelope ca. 7 qkm landwirtschaftliche Nutzfläche auf. Auf Erissos bietet eine derartige Gutsherrschaft nur „das Hochland von Ano-Erissos“ im Süden der Halbinsel (PARTSCH, Kephallenia 11 f.; vgl. 67); ein zweiter Freier könnte sich auf den Raum der Hafenbucht von Phiskardo (im Altertum Panormos) gestützt haben (vgl. PARTSCH, Kephallenia 64). Beide Inselteile von Theaki hätten aufgrund ihrer landwirtschaftlichen Ressourcen je einen Freier stellen können (Vgl. PHILIPPSON/KIRSTEN II 603: „Nur an der Bucht von Vathy könnte theoretisch ein Rivale des Odysseus auf seiner Heimatinsel angenommen werden“; den Verfassern zufolge stützte Odysseus seine Herrschaft auf die landwirtschaftlichen Flächen im Norden Theakis). Die Odyssee (18,291 ff.) nennt nur vier Fürsten namentlich, die teure Geschenke brachten, v. a. Schmuck aus Gold und Bernstein. Od. 24,375 ff. MÜLDER, Ithaka 9 u. 13.

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

199

Auf dem kephallenischen Inselrumpf, also im Stammkönigreich der Arkeisiadendynastie, herrschten überwiegend Angehörige und Gefolgsleute des Odysseus, wie der „göttliche“ Viehverwalter Eumaios, 1382 der Bewirtschafter der königlichen Gärten Dolios und seine Söhne,1383 oder der herrschaftliche Mentor, der als „Führer der Männer“ bezeichnet wird.1384 Unter den Vasallen dürften es nur wenige gewagt haben, um Penelope zu freien.1385 Denn das hätte bei der Heimkehr des lediglich verschollenen Odysseus sowie bei der möglichen Machtübernahme seines volljährigen Sohnes Telemach zumindest den Verlust des Lehens und der Besitztümer bedeutet, und womöglich auch den Verlust des Lebens: Immerhin richtete der heimgekehrte Odysseus die untreuen Bediensteten gnadenlos hin.1386 Aus den genannten Gründen dürfte die überwiegende Zahl der zwölf ithakesischen Freier nicht aus der Provinz gekommen sein, die mehrheitlich eine königstreue Landbevölkerung aufwies,1387 sondern aus der prosperierenden Hafenstadt Ithaka.1388 Und darauf weisen auch die Worte des Odysseus nach dem Kampf gegen die Freier hin: „Wir erschlugen nämlich von Ithakas Söhnen weitaus die besten, tragende Stützen der Stadt.“1389 Während den Adligen der umliegenden Inselkörper die Werbung um Penelope wohl als ein unterhaltsames und gewinnträchtiges Gesellschaftsspiel erschienen war, bei dem es anscheinend kaum etwas zu verlieren gab, riskierten die Freier aus kranae Ithake,1390 also aus dem Stammkönigreich des Odysseus, ‚Kopf und Kragen’. Deshalb wagten aus diesem Gebiet die Werbung nur zwölf Adlige und somit ist deren Anzahl, bezogen auf die Fläche des Inselraumes, deutlich unterrepräsentiert. Und aufgrund dieser ‚Wettbewerbsverzerrungen‘ innerhalb der kephallenischen Inselflur werden für die nachfolgende Untersuchung des Freierproporzes zunächst nur die Zahlen von Dulichion (52 Freier), Samos (24 Freier) und Zakynthos (20 Freier) berücksichtigt.1391 1382 Od. 16,1; 17,508; 21,234; 22,157 u. a. 1383 Od. 4,735; 18,322; 24,222, 387 f., 397, 409, 411, 492, 497, 498. Dolios bewirtschaftete sowohl beim Palast den Garten der Penelope (4,735 ff.) als auch den Obstgarten auf dem Landgut des Laertes (2,220 ff.). 1384 Zitat: Od. 24,456. Vgl. a. 2,225, 243, 253, 268, 401; 3, 22,240; 4,654, 655; 17,68; 22,206, 208, 213, 235, 249; 24,446, 503, 548. 1385 Die Bogenprobe, die über Penelopes Ehe entschied, versuchte indes auch der Opferbeschauer und „Sohn des Oinops, Leiodes“ (Od. 21,144 ff.), der zum Oikos des Odysseus gehörte. 1386 Der Opferbeschauer Leiodes sowie der Oberhirt Melanthios und über ein Dutzend Mägde wurden grausam hingerichtet (Od. 22,326 ff., 424, 465 ff., 474 ff.). 1387 Vgl. Od. 2,22 f.; 20,235 ff.; 23,138 f.; 24,386 ff. – „Man hat darauf hingewiesen, daß aus Ithaka nur deswegen so wenige Freier kommen, weil dort die ausgedehnten Besitztümer des Königs selbst liegen, neben denen nicht mehr für allzu viele Adlige Platz übrig sei” (BELZNER 28). 1388 Die Frage von Josef GRÖSCHL (10), „wenn Kephallenia mit dem homerischen Ithaka gleichzusetzen wäre, wie wollte man dann die geringe Zahl der Freier von dieser großen Insel erklären?“, geht am Sachverhalt vorbei, da Ithaka in Od. 16,251 (ἐκ δ᾽ αὐτῆς Ἰθάκης …) nicht als Name der Gesamtinsel fungiert, sondern als Name der Stadt bzw. des Stadtkreises. 1389 Od. 23,121 f. (vgl. Od. 24,108). Deshalb ermahnte Odysseus seine Gefährten, es dürfe „nicht breites Geschrei in der Stadt entstehen, die Freier seien ermordet,“ bevor sie die Provinz erreichen (Od. 23,137 f.). 1390 Od. 1,247; 16,124. Der Dichter spricht hier bewusst nicht von „Ithaka“ (ganz Kephallenia), und der treue Freund des Königshauses „Halitherses drohet auch Vs. 166 f. nur denen aus Ithaka“ (NITZSCH I 91). 1391 Od. 16,246–250.

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1. Die Ithaka-Antwort

Es sei nun die verwegene Frage gestattet, ob die Anzahl der Freier, die von den meisten Homerinterpreten als viel zu hoch und somit als unglaubwürdig verworfen wird, zutreffen könnte. Um das zu ermitteln, sind zunächst die Zahlen der Freier in Relation zur Gesamtfläche der Inseln zu setzen: So entfällt bei Samos (Paliki 158 qkm) ein Freier auf 6 qkm, bei Dulichion (Kerkyra 590 qkm) einer auf 11 qkm und bei Zakynthos (Zakynthos 400 qkm) einer auf 20 qkm. Aussagekräftiger gestaltet sich der Proporz jedoch, wenn man die Freierzahlen im Verhältnis zur landwirtschaftlichen Nutzfläche der genannten Inseln setzt, die bei Kerkyra ca. 460 qkm beträgt,1392 bei Paliki ca. 120 qkm1393 und bei Zakynthos knapp 150 qkm.1394 Teilt man die jeweiligen Freierzahlen nun durch die entsprechenden Nutzflächen, dann weist die Statistik homogenere Werte auf: Beim homerischen Samos (Paliki) entfällt ein Freier auf 5 qkm, bei Zakynthos ein Freier auf 7 qkm und bei Dulichion (Kerkyra) ein Freier auf 9 qkm. Die Berechnung des Proporzes der Freier im Verhältnis zur landwirtschaftlichen Nutzfläche der Herkunftsinseln ergibt also im Durchschnitt einen Freier auf gut 7 qkm Fläche.1395 Dieses Ergebnis ist über die Interpretation der Odyssee hinaus beachtenswert, denn es dürfte die Größe einer Adelsherrschaft (eine Art Rittergut) in archaischer Zeit repräsentieren.1396 Auffällig ist, dass die Werte für die Herkunftsinseln der Freier etwas differieren, und das liegt keineswegs an der unterschiedlichen Ertragslage der Landstriche, sondern hat einen anderen Grund: Je weiter eine Insel vom kephallenischen Inselrumpf und somit vom Palast des Odysseus entfernt liegt, desto relativ weniger Adlige erschienen von ihr als Freier der Penelope. Aus dem ca. 170 km entfernten Kerkyra (Dulichion) kamen also relativ weniger Freier zum Palast des Odysseus als vom ca. 50 km entfernten Zakynthos (Zakynthos), und von diesem wiederum relativ weniger als von der nur 4 km entfernten Paliki-Halbinsel (Samos).1397 So konnte ein adliger Freier vom kephallenischen Samos, das der Odyssee zufolge mit der Hafenstadt Ithaka durch eine Fähre verbunden war,1398 1392 Kerkyra besitzt „einen größeren Anteil ihrer Fläche an Kulturland als irgendein anderer Teil des griechischen Landes, die großen Ebenen ausgenommen. Und fast aller anbaufähige Boden wird auch seit alters her genutzt“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 447). Von der 585 qkm großen Insel wuren in den Jahren 1834/35 auf Kerkyra lediglich 134 qkm bzw. 124 qkm landwirtschaftlich nicht genutzt (PARTSCH, Korfu 91). 1393 Von der 160 qkm umfassenden Eparchie Paliki (sie ist die fruchtbarste Kephallenias) ist nur das nördliche Gebiet namens Atheras eine „öde, wenig bebaute Landschaft“ (PARTSCH, Kephallenia 90). 1394 „Der weitaus größte westliche Teil der Insel, etwa zwei Drittel, ist ein breites, fast siedlungsleeres Kalkgebirge mit hafenloser Steilküste“ (MEYER, Zakynthos 1452,16 ff.). So verbleibt der Landwirtschaft die knapp 150 qkm große und „dicht besiedelte Ebene“ (a. a. O. 29) einschließlich ihrer Gebirgsränder, die „etwa ein Drittel“ der Inselfläche einnimmt (PHILIPPSON/KIRSTEN II 538). 1395 Auf Theaki (dem homerischen Aigilips) kann deshalb nur im Bereich der Bucht von Polis und „an der Bucht von Vathy theoretisch ein Rivale des Odysseus angenommen werden“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 603), und mehr als zwei adlige Freier hätte auch die Halbinsel Erissos (das homerische Krokyleia) kaum aufbieten können. Folglich wäre ein Freier dieser Inselkörper – mangels Lobby – chancenlos gewesen. 1396 Penelopes Freier sind also „vornehme Herren aus einem größeren Bereich, nicht die Söhne von benachbarten Gutshöfen [des heutigen] Ithakas“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 565). 1397 Die Entfernungsangaben bezeichnen die Luftlinien zwischen dem kephallenischen Königspalast einerseits und Kerkyra-Stadt, Zakynthos-Stadt und Pale/Lixouri (Hauptstadt Palikis) andererseits. 1398 Od. 20,187.

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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sowohl tagsüber seinen Geschäften nachgehen als auch nach Belieben sich spätnachmittags und abends zu den Freiern im Palast gesellen, was einem Freier aus Dulichion, dessen Heimat eine Tagesreise entfernt lag, nicht möglich war. Ein dulichischer Freier war also ein Vollzeitfreier mit allen durch die vorwiegende Abwesenheit verbundenen materiellen und sonstigen Risiken. Und deshalb erschienen, bezogen auf die landwirtschaftliche Nutzfläche, vom nahen Samos deutlich mehr Freier als vom weit entfernten Dulichion. Dass die Insel Dulichion sehr viel weiter entfernt vom Palast des Odysseus liegt als die Territorien der Kephallenen, davon zeugt auch folgende Szene der Odyssee: Nachdem der kephallenische Freier Antinoos spontan vorgeschlagen hatte, der Penelope teure Präsente zu schenken, brachen die jeweiligen Diener der fürstlichsten Freier unverzüglich auf, um v. a. teuren Schmuck zu holen. Nach deren Rückkehr werden namentlich nur die wertvollen Geschenke des Antinoos, Eurymachos, Eurydamas und Peisandros genannt.1399 Von den vier genannten Freiern gehörten Eurymachos, Antinoos und Peisandros zum kephallenischen Hochadel;1400 der ansonsten kaum in Erscheinung tretende Eurydamas dürfte einer der anderen Achaier gewesen sein, die um Penelope freiten.1401 Auffällig ist jedoch, dass der bedeutendste Freier der Dulichier (die Dulichier stellten das Hauptkontingent an Freiern!), nämlich Amphinomos, der neben den kephallenischen Fürsten Antinoos und Eurymachos zu den Rädelsführern gehörte,1402 bis zum Abend keine Preziosen darbrachte, weil er eben nicht, wie die genannten anderen Freier, seine Diener über Tag schnell nach Hause schicken konnte.1403 Bemerkenswert ist ferner das Angebot des kephallenischen Königs Eurymachos, dem Odysseus für den jahrelangen Gastrechtsfrevel pro Freier „zwanzig Rinder“ als Schadensersatz zu leisten.1404 Da Rinder ein kostbarer Besitz waren, stellte das Friedensangebot für die Freier eine empfindliche Buße dar, zumal es dazu dienen sollte, sich vom bevorstehenden lebensgefährlichen Kampf im Palast freizukaufen. Andererseits hatte Eurymachos nicht angeboten, die Freier würden dem Odysseus alle ihre Rinder schenken. So ist anzunehmen, dass der eilig ersonnene Vorschlag des Eurymachos ein ‚fifty-fifty‘ Angebot war, das heißt, dass jeder Freier wohl die Hälfte seiner Rinder abgeben und die andere Hälfte behalten sollte. Demnach hätte ein Freier durchschnittlich 40 Rinder besessen. Eurymachos konnte nur für die 56 Freier des Kephallenenreichs sprechen, die – wie dargelegt –von den Inseln Kephallenia (kranae Ithake und Samos) 1399 Od. 18,290–301. 1400 Antinoos: Od. 16,417 ff.; 17,414 ff. Eurymachos: 1,399 ff.; 15,519 ff.; Antinoos und Eurymachos 18,64 f. Peisandros war Sohn des Polyktor (22,243); sein Urahn, der ebenfalls Polyktor hieß, gehört zu den Gründern von Ithaka-Stadt (17,207). 1401 Eurydamas wird ansonsten nur noch im Vers Od. 22,283 genannt (einen weiteren Eurydamas nennt die Ilias 5,159. Dieser war jedoch schon während des Trojanischen Krieges ein Greis und kann nicht mit seinem Namensvetter der Odyssee identisch sein). Die nordwestgriechischen Dulichier, die auf Kerkyra siedelten, waren keine Achaier (vgl.Od. 16,250). 1402 Od. 16,394 ff. 1403 Vgl. Od. 18,291–306. 1404 Od. 22,57. Und die beiden kephallenischen Könige legen noch „Erz und Gold“ dazu (Od. 22,58). – Übrigens: „Eurymachos nennt χ 54 [Od. 22,54] sich und alle übrigen Freier λαοὶ des Odysseus“ (BELZNER 61, Anm. 3).

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1. Die Ithaka-Antwort

und Zakynthos stammten. Wenn nun einerseits die Lokalisierungen zutreffen und andererseits die Folgerungen stimmen (56 Freier à 40 Rinder), dann müssten die beiden genannten Inseln naturräumliche Lebensbedingungen für etwa 2.240 Rinder bieten; und dementsprechend weist die erste zuverlässige Viehstatistik aus dem Jahr 1835 für Kephallenia und Zakynthos erstaunlicherweise eine ähnliche Anzahl an Rindern auf, nämlich insgesamt 2.508.1405 Diese Zahlen, wie auch die folgende Überlegung, lassen die hohe Anzahl der Freier durchaus als realistisch erscheinen.1406 In dem eilfertigen Angebot des jungen kephallenischen Königs Eurymachos, der einer der beiden Rädelsführer der Freier war, wird dem heimgekehrten Odysseus beiläufig versichert, dass „alle demoi“ (d. h. alle Dorfgemeinden) für die jahrelange Schlemmerei der Freier Buße leisten würden.1407 Demnach hätte jeder Demos einen Freier gestellt, was wiederum bedeuten würde, dass das kephallenische Samos (Paliki) 24 und Zakynthos (Zakynthos) 20 Demoi besaßen. Erstaunlicherweise stimmen diese Zahlen recht genau mit der Anzahl der Dörfer überein, die die entsprechenden Inselkörper noch bis in die Neuzeit hinein aufwiesen: So besaß Zakynthos, das 20 Freier aufbot, „20 Dörfer“,1408 und die Paliki-Halbinsel, „die das ergiebigste, wertvollste Stück des ganzen Kulturlandes von Kephallenia“ ist1409 und 24 Freier stellte, wies zwei Dutzend Dörfer auf.1410 Aber während auf Paliki kleine Dörfer vorherrschten, handelte es sich bei Zakynthos meist um „Großdörfer“,1411 die auch eine größere Feldmark besaßen. Folglich hätte Zakynthos, bezogen auf die landwirtschaftliche Nutzfläche, noch einige Gutsherren mehr als Freier entsenden können als Paliki (Samos). Dass von Samos dennoch relativ mehr Freier als von Zakynthos erschienen sind, liegt an der bereits erwähnten räumlichen Nähe Palikis zum Palast des Odysseus. Aus den ländlichen Gebieten des Stammlandes des Odysseus, das sich über den kephallenischen Inselrumpf erstreckte, kamen deutlich weniger Freier, weil die Gutsherren und Vasallen – wie bereits dargelegt – bei der möglichen Restauration der Herrschaft des verschollenen Odysseus bzw. beim nicht auszuschließenden Herrschaftsantritt des Kronprinzen Telemach den Verlust von Land und Leben riskierten.1412 Dennoch 1405 DAVY I 328: Kephallenia (Cephalonia) 1.348, Zakynthos (Zante) 1.160, Theaki (Ithaca) 111. – Bedenkt man ferner, dass die kephallenische Nordhalbinsel Erissos, die ca. 120 Rinder aufwies, keine Freier entsandte, ist das Zahlenverhältnis von 2.240 zu ca. 2.390 Rindern noch treffender. 1406 „Es besteht auch im übrigen durchaus kein Grund an den Zahlen zu deuteln“ (BELZNER 28). 1407 Od. 22,55 ff. Unter den „δῆμοι (dor. δᾶμοι)“ verstand man „ursprünglich zusammen angesiedelte Sippen (ai. dam = Sippe), dann die Dorfgemeinden als kleinste Verwaltungseinheiten unter einer Polis“ (VOLKMANN, Demoi 1474,56 f.). 1408 PHILIPPSON/KIRSTEN II 540. Dieselben (II 535) korrigieren Joseph PARTSCH, der von „18 Dörfern“ spricht, indem sie „(20!)“ hinzusetzen. 1409 PARTSCH, Kephallenia 90. 1410 Siehe die Kephallenia-Karte von PARTSCH, die für Paliki (von Nord nach Süd) folgende Dörfer ausweist: Atheras, Zola, Vovikes, Kontogenata, Villatoria, H.Thekla, Kalata, Damulianata, Skineas, Vlichata, Kuvalata, Riphi, Lukerata, Parisata, Monopolata, Dellaportata, Kantinarata, Mantukata, Favatata, Chavdata, Chavriata, Hilari, Mantzavinata, Vuni, Michalitsata. 1411 PHILIPPSON/KIRSTEN II 540. Diese Dörfer hatten im Durchschnitt etwa 600 Einwohner. 1412 Davon zeugt auch die Reaktion der bewaffneten Familienmitglieder der getöteten Freier aus Ithaka-Stadt, als sie rächend gegen Odysseus und seinen Clan marschierten, jedoch die Göttin Athene zugunsten ihres Schützlings Odysseus eingriff: „Alles floh in die Stadt aus Liebe zu Leben und Habe“ (Od. 24,536).

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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ist die hypothetische Frage zu stellen, wie viele Freier aus dem Stammland (kranae Ithake) wohl erschienen wären, wenn Penelope nicht die Gattin des verschollenen Herrschers dieses Territoriums gewesen wäre und die Werbung folglich kaum Risiken barg. Der ca. 400 qkm umfassende kephallenische Inselrumpf besteht weitgehend aus schroffen Gebirgen, die zwar für den Weidegang der anspruchslosen Ziegen taugen, aber nur ca. 160 qkm landwirtschaftliche Nutzfläche bieten.1413 Dividiert man diese durch 7 qkm pro Gutsherrschaft, dann ergibt das 23 Gutsherrenschaften. Folglich hätte das Stammkönigreich des Odysseus bis zu 23 Freier stellen können. Aber diese 23 Großgrundbesitzer waren nicht unabhängige Freiherren, sondern belehnte Dienstmänner,1414 die die Domänen des Königs verwalteten, und so trifft – gewissermaßen als Gegenprobe zu der Berechnung – die Aussage des Eumaios zu, dass hinsichtlich Land und Vieh „zwanzig Herren nicht so reichlich begütert sind, wie Odysseus“.1415 Eine weitere aufschlussreiche Zahlenangabe soll nicht unerwähnt bleiben: Wie der Dichter erzählt, verhielt sich etwas „mehr als die Hälfte“ der Volksversammlung im Herrschaftsgebiet des Odysseus loyal gegenüber der Arkeisiadendynastie, auch nach dem Freiermord, als die Empörung über das ungeheuerliche Blutbad groß war. Die anderen, also knapp die Hälfte der Bevölkerung, lehnte sich gegen das Herrscherhaus auf und wollte den Mord an den Freiern rächen.1416 Daraus kann man folgern, dass die „zwölf Freier“ aus dem Herrschaftsgebiet des Odysseus knapp die Hälfte der theoretisch anzunehmenden Freierzahl repräsentierten. Das heißt, unter anderen Bedingungen, bei dem sich das Gros des Adels nicht hätte loyal verhalten müssen oder sollen, wären aus dem Stammkönigreich des Odysseus etwa doppelt so viele Freiern erschienen, d. h. ca. 24 Personen. Diese Zahl bestätigt einerseits die aufgrund der landwirtschaftlichen Nutzfläche gewonnene Berechnung, derzufolge das Stammkönigreich des Odysseus unter günstigeren Umständen etwa 23 Freier aufgeboten hätte. Und andererseits zeigen diese Zahlen, die ja sämtlich auf den Angaben der Odyssee beruhen (!), dass die für Ithaka 1413 Nach den Tabellen von John DAVY (I 327–328) für die Jahre 1834/35 eigneten sich etwa 80 % der Fläche der 770 qkm großen Insel Kephallenia („Cephalonia“) nicht für den landwirtschaftlichen Anbau („Total in Crop: 32,934 Acres; Total Uncultivated: 189,786“. Das Verhältnis von „Corfu“ war entgegengesetzt: „Total in Crop: 112,008 Acres; Total Uncultivated: 33,272“). Joseph PARTSCH (Kephallenia 95, Anm. 1) kommentiert die Zahlen von DAVY: „Auch sonst scheinen die Ziffern der Anbauflächen für Kephallenia hinter der Wahrheit zurückzubleiben“. John DAVY weist nicht die forstwirtschaftliche Nutzfläche auf, die v. a. den tannenbewaldeten Aenos umfasst und z. B. „Ende des 16. Jahrhundert“ etwa 110 qkm betrug (PARTSCH, Kephallenia 93). Der ca. 150 qkm umfassende Nordteil des Inselrumpfs besteht aus einer nahezu unbesiedelten Kalkgebirgswüste (PARTSCH, Kephallenia 13 f.). Auf dem südlichen Hauptteil des Inselrumpfes war inklusive Weide und Waldungen ca. 60 % der Gesamtfläche land- bzw. forstwirtschaftlich nutzbar (vgl. PARTSCH, Kephallenia 96). „Der fruchtbare Boden ist also in einzelne kleinere Bereiche verteilt um die Kalkwildnisse herum“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 521), und das entspricht dem rauhen Landschaftscharakter der Heimat des Odysseus (Od. 10,417, 463; 13,242). 1414 Dieser Sachverhalt tritt deutlich bei Eumaios hervor, der sowohl Dienstmann des Herrschers war (Od. 14,3 ff.; 21,368) als auch über herrschaftliche Freiheiten und Eigentum verfügte (14,8 f., 62 ff., 449 ff.; 17,594; 21,213 ff.). – Vgl. FINLEY (Odysseus 50 ff.) u. LOTZE 45 f. 1415 Od. 14,98 f. 1416 Od. 24,463 ff. – Also „die Versammlung theilt sich; die keinere Hälfte bewaffnet sich und zieht mit Eupeithes nach dem Gute des Laertes“ (SEECK 242), und Odysseus mobilisierte auf dem Land eine ebenbürtige Truppe (Od. 24,526 ff.).

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1. Die Ithaka-Antwort

(-kranae) genannte Anzahl der Freier weder viel zu niedrig noch frei erfunden ist, wie es anfangs erschien. Bei Würdigung der vom Dichter überlieferten Umstände fügt sich also auch die Anzahl der ithakesischen Freier überzeugend in den Kontext der Freierzahlen der anderen Inseln. Derartige Überlegungen und Berechnungen bestätigen eindrucksvoll, dass der Odysseedichter über den westgriechischen Inselraum erstaunlich detaillierte Kenntnisse verfügte, wodurch auch das Urteil etlicher Homerphilologen widerlegt ist, die Anzahl der Freier der Penelope sei viel zu hoch und damit unglaubwürdig. So ist die Untersuchung über die Freier der Penelope ein überzeugendes Indiz für die Richtigkeit der vorgelegten Interpretation der homerischen Geographie. – Dagegen führt sowohl bei der etablierten Theaki-Ithaka-Theorie (derzufolge die heutige Insel Ithaka das homerische Ithaka sei)1417 als auch bei der Leukas-Ithaka-Theorie1418 die Berechnung des Freierproporzes zu absurden Werten, und aus diesem Grund bezeichnete Wilhelm Dörpfeld die Anzahl der Freier als „eine der schwächlichsten Interpolationen der Odyssee“.1419 Abschließend sei kurz erörtert, ob die in der vorliegenden Studie unterbreiteten Ausführungen über das Inselreich des Odysseus zutreffend sind und somit die Ithaka-Frage endgültig geographisch gelöst ist. Als Gegenprobe sei sowohl auf die etablierte Theaki-Ithaka-Theorie als auch auf die Leukas-Ithaka-Theorie hingewiesen, die beide in den Altertumswissenschaften intensiv diskutiert wurden. Bei beiden ist festzustellen, „daß hier und da eine [homerische] Angabe besser auf Leukas, eine andere besser auf [Theaki, das heutige] Ithaka, eine dritte auf keine von beiden, eine vierte auf beide paßt“.1420 Und selbst bei den wenigen Angaben, die auf eine der beiden Theorien passen, musste teils zuvor der altgriechische Text in unerträglicher Weise gebeugt und Unpas1417 Nach der etablierten Ithaka-Theorie ist Kephallenia das homerische Samos und „nach Strabon (10,458) gehörte zu den Echinaden die Insel Dolicha, die von vielen mit dem homerischen Dulichion gleichgesetzt wurde“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 406,2). Folglich entsandte das 770 qkm große Kephallenia einen Freier pro 31 qkm, das ca. 3 qkm kleine Doliche einen Freier pro 0,06 qkm. Auch die Varianten der Ithaka-Theaki-Theorie, wonach entweder die nordkephallenische Halbinsel Erissos oder die westkephallenische Halbinsel Paliki das homerische Dulichion sei (und das übrige Kephallenia das homerische Samos) ergeben merkwürdige Zahlenverhältnisse von 1:27 zu 1:2, bzw. 1:24 zu 1:3. 1418 Der Leukas-Ithaka-Theorie zufolge ist Kephallenia das homerische Dulichion und Theaki das homerische Samos. Demnach entsandte Kephallenia einen Freier pro 14 qkm, Theaki dagegen einen pro 4 qkm. Dabei forderte gerade DÖRPFELD (Odyssee 201), dass „die Zahl der Freier von jeder Insel ungefähr der Größe dieser Insel und ihrer Bedeutung entsprechen muß“. – Eine Berechnung des Freierproporzes zur Theaki-Ithaka-Theorie und zur Leukas-Ithaka-Theorie bietet auch Josef GRÖSCHL (31). 1419 DÖRPFELD (Odyssee 190; ders. 204, vgl.a. dessen Vorwort IX, zitiert den Terminus von Eduard KAMMER 605 u. 695 und setzt die „Freierzahl von 108 auf 20“ herab). – Dabei rühmte sich gerade DÖRPFELD (Alt-Ithaka 216) „überall volle Übereinstimmung zwischen Dichtung und Wirklichkeit“ festgestellt zu haben. Und Peter GOESSLER (80) stimmt zu, dass bei der Leukas-Ithaka-Theorie „Dichtung und Wahrheit so wunderbar verwoben sind“. 1420 MÜLDER, Ithaka-Hypothese 156. – So fehlt z. B. dem Urteil von Josef GRÖSCHL (31) jeglicher Realitätssinn: „Nur mit dem heutigen Ithaka lassen sich nach meiner besten Überzeugung die erwähnten Angaben des Dichters vereinbaren“. Ist etwa das heutige Ithaka die westlichste, weithin sichtbare und höchste Insel im westgriechischen Inselbogen? Weist es die in der Odyssee beschriebene Topographie mit dem Palast des Odysseus etc. auf? Gibt es in der Nähe des heutigen Ithaka ein geeignetes Eiland für den Hinterhalt der Freier? – Und die in der Odyssee „neben Ithaka genannten drei grossen Inseln sind nicht unterzubringen, wenn wir das homerische Ithaka und das heutige Thiaki gleichsetzen“ (RÜTER 36).

1.3 Das Inselreich der Kephallenen

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sendes ausgeblendet werden; auch wurden Worte und Verse athetiert, damit manche Angabe mit der jeweiligen Theorie harmoniert.1421 Dagegen wurden bei der nun vorgelegten Kephallenia-Ithaka-Theorie sämtliche in Ilias und Odyssee genannten Hinweise über die Heimat des Odysseus widerspruchsfrei vereinigt. Von der meist unterstellten „Homer’s in-accuracy“1422 kann also keine Rede sein! Hervoruheben ist, dass selbst die homerischen Details zutreffend sind, und so „ist schon von Erathosthenes hervorgehoben worden, dass Homer seine guten geographischen Kenntnisse gerade in der Wahl der Beiworte bekunde und niemals ein solches ‚leer hinwerfe‘“.1423 Übereinstimmend damit ergab die Durchmusterung aller auf die westgriechischen Inseln angewandten Epitheta, dass diese in der Regel für die jeweilige Insel signifikant sind. Und dies gilt nicht nur für Ithaka, sondern auch für Dulichion, das kephallenische Samos sowie für die Eilande Asteris und die Thoai. Die einzige Ausnahme bildet die mehrfach auftauchende Formel „waldiges Zakynthos“,1424 die nicht sonderlich kennzeichnend ist. Desto beruhigender ist es, dass die Identität des homerischen Zakynthos mit der heutigen Insel Zakynthos stets außer Frage stand.1425 Angesichts der geo- und topographischen Realitäten im westgriechischen Inselund Küstenraum erwiesen sich also die seit über einem Jahrhundert in der philologischen Fachliteratur gebetsmühlenartig angeführten (angeblichen) Ungereimtheiten im Landschaftsbild Ithakas als unzutreffend, ebenso die vermeintlich widersprüchliche Lagebeziehung der Inseln untereinander. Und auch die schon von Rudolf Hercher vorgetragene Forderung, „daß man endlich den Maßen und gewissen Zahlen bei Homer nur poetische Bedeutung beilegt“,1426 wird der Odyssee nicht gerecht, denn alle auf den westgriechischen Insel- und Küstenraum bezogenen Entfernungsangaben und Zahlen (sei es die Anzahl der Freier, der Viehbestände und der Schiffe) sind historisch-geographisch stimmig.

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Siehe im Anhang das Kapitel ‚Der deutsche Krieg um Ithaka‘. ALLEN 96. MICHAEL 18; mit Bezug auf Strab. I 2,3 C. 16. Od.1,246; 9,24; 16,123; 19,131. – „Zákynthos erscheint bei Homer als eine der vier [?] Inseln des Odysseus, mit dem Beinamen der ‚holzreichen‘. Man kann im Zweifel sein, ob dieser Beiname sich auf einen Reichtum an Wald – keinesfalls Tannenwald – oder auf einen Reichtum an Baumpflanzungen sich bezieht. Jetzt [Mitte des 20. Jhs.] fehlt jedenfalls der Wald so gut wie ganz“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 538). 1425 „Nur Name und Lage der Insel Zakynthos scheinen Alte und Neue [von den homerischen Inselnamen Westgriechenlands] unangetastet zu lassen“ (RÜHLE 5). „Die südlichste der größeren Inseln der westgriechischen Reihe ist Zákynthos. Sie hat ihren Namen seit homerischer Zeiten behalten“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 528). 1426 HERCHER 274, Anm. 1.

2. Die Irrfahrtgeschichte 2.1 Abdrift ins Ungewisse 2.1.1 Die Küste der berauschten Lotophagen Zu den grundlegenden Fragen homerischer Geographie, „die immer wieder zu erneuter Prüfung reizen, gehört vor allem die: Wo hat sich der Dichter die Irrfahrten des Odysseus vorgestellt?“1 Es geht also nicht um den abwegigen Versuch, die ‚wirkliche Irrfahrt‘ einer möglicherweise historischen Person namens Odysseus zu rekonstruieren, sondern einzig um die Frage, ob der Dichter bei seiner fiktiven Irrfahrterzählung an konkrete geographische Orte dachte, und wenn ja, ob diese sich zu einem plausiblen Itinerar fügen. Weil die Völker und Orte der Irrfahrtgeschichte bislang nicht hinreichend greifbar waren, „haben schon die Alten allegorische Auslegungen versucht, freilich mit dem unglücklichsten Erfolge“.2 Auch heutzutage ist die Mehrzahl der Homerphilologen überzeugt, dass der Titelheld der Odyssee nur in einer Märchenwelt herumirrte.3 Denn, so schreibt u. a. Alfred Heubeck, „in dem Augenblick, wo Odysseus vom Kap Malea … durch einen Sturm hinausverschlagen wird ins offene Meer, gerät er in eine Welt, die nicht mehr der Realität, sondern der irrationalen Phantasie angehört: in eine Welt des Imaginären, des Märchens“.4 Aber ungeachtet dieses philologischen Diktums, dass „die Abenteuer in der Welt des Irrealen“ spielen,5 soll nachfolgend die Irrfahrtroute des Helden erneut und unvoreingenommen analysiert werden. Die dargelegte historisch-geographische Identifizierung der Heimat des Odysseus, die ein Zwischenglied6 und v. a. den Endpunkt der 1 2 3

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MEULI, Odyssee 52. KLAUSEN 1.

Auch in der jüngst erschienenen Odyssee-Analyse von Jonas GRETHLEIN (178) irrt „Odysseus in der Märchenwelt“ herum; dieses Urteil beruht, ohne historisch-geographische Auseinandersetzung, auf dem bloßen Diktum: „Die Reiseroute des Odysseus durch das Mittelmeer zu bestimmen ist ein müßiges Unterfangen – zumal mythische Topographie nicht mit geographischer Topographie verwechselt werden darf “ (ders. 139). HEUBECK, Odyssee 697. Anderer Ansicht ist u. a. Gregor Wilhelm NITZSCH (III 21): „Die Lotophagen geben den letzten historischen Punkt, zu dem Homer den Odysseus kommen lässt“. HEUBECK, Odyssee 689. Vgl. HÖLSCHER, Odyssee 141. HENKE 89 f. NITZSCH III 25. Nach der ersten Abreise von Aiolia gelangte Odysseus in Sichtweite Ithakas (Od. 10,29 f.).

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2. Die Irrfahrtgeschichte

angeblichen Irrfahrt bildet, und die bislang ebenfalls weitgehend als literarische Fiktion galt,7 darf wohl als hinreichende Lizenz für die hier gestellte Aufgabe gelten. Immerhin liegt auch der Ausgangspunkt der Irrfahrterzählung nicht in der Märchenwelt, sondern im ägäischen Erdraum.8 So gerät Odysseus auf Irrfahrt, als er mit seinen Kephallenen nach der Eroberung Trojas heimwärts fuhr.9 Jedoch überquerte er mit seinen zwölf Schiffen10 die offene Ägäis zunächst nicht südwärts, sondern er segelte mit dem herrschenden Wind nordwestwärts zur Stadt Ismaros an der thrakischen Küste,11 deren Bewohner, die Kikonen, Verbündete der Trojaner waren.12 „Die Kikonen sind ein historisches Volk, das in Thrakien über [d. h. nördlich der Insel] Thasos am Hebros wohnte. Bei den Spätern wird die Gegend gewöhnlich durch die Stadt Maroneia bezeichnet“.13 Der Odyssee zufolge drangen die kephallenischen Truppen in die feindliche Stadt ein und ermordeten die Männer, mit Ausnahme des Apollon-Priesters Maron.14 Dieser übergab daraufhin dem Odysseus seine Schätze sowie ein Dutzend Amphoren mit außergewöhnlich kräftigem Wein, mit dem einige Tage später der gigantische Kyklop Polyphem trunken gemacht und eingeschläfert wurde.15 Während die Kephallenen in Ismaros die Frauen sowie die übrige Beute untereinander aufteilten und sich anschließend betranken, bewaffneten sich die umwohnenden Kikonen und rückten am frühen Morgen mit Streitwagen an, um die zerstörte Stadt zu entsetzen.16 Nur unter großen Verlusten konnten sich die Kephallenen kämpfend auf ihre Schiffe retten, sodass Odysseus

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So schrieb Walter LEAF (140) in seinem Werk ‚Homer and History‘: „The position of Ithaka as described by Homer is the final touchstone by which we can discern whether he is recording reality or inventing a topography with the full licence of the poet’s imagination”. „Die Handlung beginnt und endet auf Ithaka, Odysseus’ Irrfahrten sind damit geographisch gerahmt“ (GRETHLEIN 50). „Zudem gibt die Telemachie der Odyssee einen geographischen Rahmen: Die Handlung beginnt und endet auf Ithaka“ (ders. 43). Indes, Jonas GRETHLEIN argumentiert nicht stringent, denn für ihn ist auch das homerische Ithaka fiktiv (ders. 131 mit Anm. 15; vgl. 290, Anm. 15: die beiden Literaturangaben beziehen sich ausschließlich auf Studien über das homerische Ithaka). Od. 9,37 f. Ilias 2,637. Od. 9,159. – Indes, „nach τ [Od. 19. Gesang] 259 ist Odysseus mit einem Schiffe nach Troia gefahren. Dazu stimmt τ 274“ (BETHE 100, Anm. 6). Od. 9,39 f. – „Für die Nosten bezeugt Proklos’ Nacherzählung, daß Odysseus sich eine Zeitlang in Maroneia, der Kikonenstadt, aufhielt“ (SCHWARTZ 169). Ilias 2,846; 17,73. NITZSCH III 14; mit Bezug auf Ilias II 846, Herod. VII 59. 108–10. Mela II 2, 8 und Demosth. g. Polykl. S. 1213. Od. 9,163 ff. „Dieser Priester des Apollon Maron mit seinem herrlichen Weine erhält in der spätern Sage, wo Dionysos hervortritt, den Homer noch so wenig kennt oder beachtet, eine andere Verwandtschaft und Bedeutung … Ich sehe in dem Allen Nichts weiter als muthmassliche Versuche der Spätern, den Maron, den Inhaber eines so köstlichen Gewächses, mit dem Weingotte in Verbindung zu bringen“ (NITZSCH III 41 f.). Od. 9,196 ff. Od. 9,47 ff. Odysseus besteht bei den Kikonen „auf der Heimfahrt sein erstes Abenteuer (ι 49 ff.). Nun scheint man die Gewaltthat des Laertiaden dadurch begründet zu haben, dass man die Kikonen als Bundesgenossen des Priamos sein ließ, wodurch der Ueberfall als eine Fortsetzung des Kampfes vor Ilion eine Art Berechtigung erhielt“ (NIESE, Schiffskatalog 52).

2.1 Abdrift ins Ungewisse

209

betrübt erzählt: „Weiter ging nun die Fahrt, wir waren traurig im Herzen, froh daß dem Tod wir entronnen; doch fehlten uns liebe Gefährten“.17 Kurz nachdem Odysseus von Ismaros abgesegelt war, schickte Zeus einen Nordwind, der zum Orkan anschwoll, die Orientierung nahm und die Segel der Schiffe zerfetzte. Immerhin gelang es den Kephallenen, unbeschadet an einer Küste zu landen, an der sie zwei Tage ausharrten, bis sich der Sturm gelegt hatte.18 Den Namen des Küstenlandes nennt das Epos nicht, auch bietet es kaum Anhaltspunkte, die eine Lokalisierung ermöglichen.19 Von dem rettenden Land, das irgendwo in der Ägäis anzusetzen ist (und infolge der stoffgeschichtlichen Untersuchung der Odyssee noch entdeckt wird), segelten die Kephallenen bei schönem Wetter südwärts und erreichten das Kap Malea an der Südostspitze des Peloponnes und die vorgelagerte Insel Kythera.20 Von hier aus wollte Odysseus einen Nordwestkurs in Richtung Heimat, zum westgriechischen Inselbogen einschlagen. Aber seine Schiffe gerieten, wie schon auf der Hinfahrt nach Troja,21 dort wieder in einen Sturm, und so wurde das Kap in ganz anderer Hinsicht zum Wendepunkt der Reise: Denn „die Wogen, die Strömung, der Nordwind warfen mich abseits, als um Maleia ich bog, und drängten mich weg von Kythera“.22 Der Ausgangspunkt der Irrfahrt ist also „die unbezweifelte Lage von Kap Malea und der vorgelagerten Insel Kythera“.23 Von dort aus drifteten die Schiffe, wie Odysseus erzählt, „mit schrecklichen Winden neun volle Tage übers fischreiche Meer“ und gelangten am zehnten Tag zum Land der Lotophagen, deren gastfreundliche Bevölkerung sich vom „Lotos“ ernährte.24 Zunächst „spricht alles dafür, daß auch der Hörer der Odyssee bei dem Namen der Lotophagen an einen vagen Süden denken musste, exotisch zwar, aber von Menschen, nur fremder Art, bewohnt“.25 An einen Ort der Märchenwelt zu denken, nötigt die Odyssee also nicht, auch wenn das homerische Lotophagenland in der Geographie unbekannt ist. Oft wird behauptet, es sei im Bereich der Kleinen Syrte zu lokalisieren,26 entweder auf der Insel Djerba27 oder an den Küsten Südtunesiens28 und Tripolitaniens.29 Da der Scheitel der Kleinen Syrte immerhin 1.300 km westsüdwestlich vom Kap Malea liegt, spricht gegen diese denkbar weiteste Abdrift übers offene Meer

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Od. 9,62 f. Die Verluste der Kephallenen betrugen 72 Mann (6 Mann pro Schiff: Od.9,60). Od. 9,67 ff. Die Odyssee (9,73) nennt ausschließlich das Wort „Festland“. Od. 9,76 ff. – Die 270 qkm große Insel Kythera gilt als südlichste der Ionischen Inseln. Od. 19,186 f. Od. 9,80 f. Stürmischer Nordwind herrschte schon Tage zuvor in der Südägäis (Od. 9,67 ff.). Auch Menelaos geriet bei Malea in einen Nordsturm und rettete seine Flotte nach Kreta (3,286 ff.). WOLF, Reise 33. – Zum Kap Malea und dessen Gefahren s. NEUMANN/PARTSCH 142 f. Od. 9,82 ff. HÖLSCHER, Odyssee 142 f. Diese wurde deshalb als Lotophagitis bezeichnet (Strab. 17,3,17; Eust. bei Dion. Per. 198). Eratosth. bei Plin. nat. 5,41. Polyb. 1,39,2; 34,3,12. Strab. 1,25; 17,3,17. U. a. WOLF, Reise 33 f. HERODOT (4,177 f., 183) und SKYLAX (110) nennen, ohne Bezug auf die Odyssee zu nehmen, ein Volk namens „Lotophagen“, das im Bereich von Leptis Minor (an der Kleinen Syrte) anzusetzen ist.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

sowohl die hohe Driftgeschwindigkeit (ein Etmal30 von über 70 sm) als auch die in der Odyssee ausdrücklich vermerkte Windrichtungsangabe (βορέας).31 Vor allem aber widerspricht der mutmaßlichen starken Westabdrift vom südgriechischen Meeresraum bis nach Tunesien die Oberflächenströmung im zentralen Mittelmeer, die von West nach Ost streicht. Diese ganzjährige Hauptströmung des Mittelmeeres, die bei Gibraltar beginnt und sich erst in der Levante verliert,32 war schon in homerischer Zeit bekannt. So berichtet die Odyssee, dass ein Zusammenwirken von normalem (nicht stürmischen) „Nordwind und Strömung“ die Schiffe von Kreta aus südostwärts nach Ägypten führt.33 Und durch diese ostwärts streichende Meeresströmung gelangten z. B. die Argonauten, die eine Generation vor Odysseus das Meer befuhren und von der Cyrenaica aus mit dem Südwind in Richtung Kreta und Peloponnes zu segeln glaubten, zur Insel Karpathos, die östlich von Kreta liegt.34 Manche Forscher, die den geophysikalischen Sachverhalt ignorieren, argumentieren indes, Odysseus sei durch den stürmischen Nordwind und die Meeresströmung weit nach Westen gelangt, weil die Schiffe beim Kap Malea mittels der starken Westströmung abgedriftet sind.35 Zwar existiert eine je nach Jahreszeit unterschiedlich stark ausgeprägte Westströmung vor dem Kap Malea tatsächlich, doch handelt es sich dabei lediglich um eine küstennahe Meeresströmung, die an den Südspitzen des Peloponnes entlangstreicht, den westgriechischen Inselraum durchzieht und sich in der Adria verliert.36 Für die in der Odyssee geschilderte südliche Abdrift übers offene Meer konnte diese Küstenströmung aber nicht maßgebend sein. Da auf der Nordhalbkugel der Erde die Winde ausnahmslos zyklonal in ein Tiefdruckgebiet einfließen, treten kräftige und über längere Strecken hinweg wehende Ostwinde nur an den Nordflanken der stets ostwärts ziehenden Tiefdruckwirbel auf. Im zentralen Mittelmeerraum sind jedoch keine lang anhaltenden stürmischen Ostwinde zu registrieren,37 die ein Schiff weit westwärts abdriften lassen, da dies nur ein über der Sahara verweilender Tiefdruckkern bewirken könnte. Dagegen gibt es im Mittelmeerraum aber zeitweilig anhaltende, stürmische Nordwinde, die allerdings nicht Bestandteil zyklonaler Unwetter sind.38 Die Schiffe des Odysseus konnten also weder durch Meeresströmungen noch durch Stürme vom Kap Malea aus bis in die Kleine Syrte und somit

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Ein Etmal bezeichnet die Tagesstrecke eines Schiffes, die von mittag bis mittag gemessen wird. Auch in der Ilias (15,26 mit 14,255) verschlägt der stürmische Boreas die Schiffe südwärts, so gelangt Herakles durch den Boreas von Troja zur Insel Kos. Vgl. MORTON, Fig. 21 (Surface currents in the Mediterranean). Den Libyschen Meeresraum durchzieht diese Strömung mit einer Geschwindigkeit von 0,5 bis 2 Knoten (WESTERMANN, Mittelmeer 361). Od. 14,252 ff. Apoll.Rhod. 4,1622 ff. Die Argo überquerte das Meer „mit auffrischendem Südwind“ (ders. 4,1628). Z. B. WOLF, Reise 29, 33. Bereits POLYBIOS (34,4) bemerkte, dass die Abdrift des Odysseus (Od. 9,82 ff.) nicht weit nach Westen geführt haben kann. MORTON 82; vgl. Fig. 22. MORTON, Fig. 23 (Prevailing winter and summer winds in the eastern Mediterranean). Im griechischen Erdraum „blasen die sommerlichen Nordwinde mit solcher Macht, daß sie auf den Höhen einiger Eilande den Baumwuchs unmöglich machen. Nur daß die Richtung dieser Sommerstürme stets dieselbe ist, nicht umlaufend, wie bei unsern Unwettern“ (PHILIPPSON, Mittelmeergebiet 94).

2.1 Abdrift ins Ungewisse

211

bis an die tunesische Küste verschlagen worden sein, wie manche Forscher behaupten, um den dichterischen Horizont gleich zu Beginn der Irrfahrterzählung möglichst weit nach Westen zu öffnen. Und weil eine solche enorme Westabdrift aufgrund der genannten geophysikalischen Fakten unmöglich ist, gibt es keinen stichhaltigen antiken, mittelalterlichen oder neuzeitlichen Beleg, dass jemals ein Schiff vom griechischen Meeresraum bis in den tunesischen Meeresraum abgetrieben wurde. Bei den wenigen Belegen, die manche Autoren bieten, handelt es sich entweder um Seemannsgarn39 oder um historisch-geographische Fehlinterpretationen.40 Die nautische Rekonstruktion der in der Odyssee erzählten Abdrift zum Lotophagenland hat zunächst die küstennahe Meeresströmung beim Kap Malea zu berücksichtigen, infolge derer die Schiffe der Kephallenen erfasst und ein wenig westwärts versetzt wurden. Das deutet auch die Erzählung des Odysseus an: „Die Wogen und die Strömung warfen mich abseits von Maleia“, bevor der aufbrausende Nordwind die Schiffe ins ferne Land der Lotophagen verschlug.41 Bei einem direkten Südkurs von Kap Malea aus hätte Odysseus die Westküste Kretas in Sichtweite passiert, und so hat die beim Kap ausdrücklich genannte Strömung im Epos die Funktion, zunächst die Schiffe vor den Südspitzen des Peloponnes etliche Kilometer westwärts zu versetzen, damit es Odysseus nicht gelingt, seine Schiffe noch zur Insel Kreta zu retten. Dies war ihm nämlich auf der Hinfahrt nach Troja gelungen, als er das Kap Malea in Gegenrichtung, also ostwärts umsegeln wollte und sodann vom stürmischen Nordwind überrascht wurde: „Denn auch ihn verschlugen kräftige Winde, trieben ihn ab von Maleia; als Ziel aber hatte er Troja“.42 Und auf Kreta, wo er damals seine vom Sturm beschädigten Schiffe ausbessern musste,43 hielt ihn „der gewaltige Nordwind“ angeblich fast zwei Wochen lang von der Weiterfahrt ab.44 Diesmal, auf der Rückfahrt von Troja, sollte ihm das nicht gelingen, und dafür sorgte die erwähnte küstennahe (West-) Strömung beim Kap Malea, die ihn von der Westküste Kretas hinreichend fernhielt. Und so konnte die vom Dichter bzw. den Göttern beabsichtigte Irrfahrt des Odysseus ihren Lauf nehmen, die ihn in ferne, weitgehend unbekannte Gefilde führen sollte. Die von der Meeresströmung und insbesondere vom stürmischen Wind erfassten Schiffe gelangten nach zehntägiger Abdrift an den Rand der damaligen Welt, zum Land der 39

Das gilt besonders für die Stelle bei HERODOT (4,152), die von einem Handelsschiff aus Samos berichtet, das sich auf der Fahrt nach Ägypten befand: „Aber der Ostwind trieb sie ab und ließ nicht nach, bis sie über die Säulen des Herakles [Gibraltar] hinaus nach Tartessos kamen“. Bei der postulierten, ca. 3.000 km weiten Westabdrift handelt es sich zweifellos um Seemannsgarn. 40 Als Analogie für die vermeintliche Westabdrift des Odysseus wird oft auf die Romfahrt des Apostels Paulus verwiesen (u. a. WOLF, Reise 102), dessen Schiff durch einen Sturm vom kretischen Meeresraum bis nach Malta abgedriftet sei (vgl. Acta 27 f.). Dabei handelt es sich jedoch um eine Fehlinterpretation, die auf einer Verwechslung des Toponyms „Melite“ (Acta 28,1) beruht (WARNECKE, Paulus 30 f.). – Und der antike Kunstfrachter, der vor der tunesischen Hafenstadt Mahdia gesunken ist, driftete nicht während der Fahrt von Athen nach Mittelitalien dorthin ab, sondern sank kurz nach der Abfahrt von der afrikanischen Hafenstadt Thapsos (WARNECKE, Zwischenbilanz 49 ff.). 41 Od. 9,80 ff. 42 Od. 19,186 f. 43 Od. 14,382 f. 44 Od. 19,200.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

Lotophagen. Aufgrund der durch den Nordwind bestimmten Fahrtrichtung und der langen Dauer der Abdrift, müsste Odysseus mit seinen Gefährten weit über das offene Meer nach Süden gelangt sein, d. h. bis zur nordafrikanischen Landschaft Cyrenaica, die sich in ca. 400 km Entfernung südlich des Peloponnes dem griechischen Erdraum entgegenwölbt. Während Homer und auch noch die späteren Griechen das gesamte nördliche Afrika westlich von Ägypten undifferenziert als Libyen bezeichneten,45 leitet sich der Name Cyrenaica von der griechischen Kolonie Kyrene ab, die im 7. Jh. v. Chr. zur Hauptstadt dieser Küstenlandschaft emporwuchs.46 Erwähnt sei, dass schon die antiken Gelehrten Artemidor und Eustathios die homerischen Lotophagen bei Kyrene ansetzten.47 Da Homer nur die vier Kardinalwinde (Nord, Süd, Ost, West) nennt, könnte Odysseus durch den Nordwind vom Kap Malea aus theoretisch auch südostwärts oder südwestwärts abgedriftet sein.48 Aber für die Abdrift zu den Lotophagen sind diese Himmelsrichtungen auszuschließen, denn südöstlich vom Kap Malea liegen Kreta und Ägypten,49 das den frühen Griechen ‚bekannt‘ war, und südwestlich erstreckt sich die Große Syrte mit ihren „öden, wüstenhaften Küstenstreifen“,50 die den von Odysseus besuchten „fetten Gefilden der Lotophagen“ nicht entsprechen.51 Folglich ist das Land der homerischen Lotophagen, sollte es je existiert haben, an der fruchtbaren Küste der Cyrenaica zu lokalisieren, die von steppen- und wüstenartigen Küstenlandschaften flankiert wird und sich genau südlich von Griechenland erstreckt. Und dementsprechend resümierte schon vor knapp zwei Jahrhunderten Samuel Christoph Schirlitz in seinem ‚Handbuch der alten Geographie‘: „Ueber den Sitz der Lotophagen waren die Alten viel einstimmiger als neuere Gelehrte“, die das homerische Lotophagenland nicht südlich von Griechenland, also im Raum der Großen Syrte bzw. der Cyrenaica ansezten, sondern „in den Westen der Homerischen Welttafel“ verschoben.52 Und für die Lokalisierung im Raum der Cyrenaica sprechen auch antike Analogien: So kam Jason mit seiner berühmten Argo, in deren Kielwasser Odysseus zuweilen fährt,53 beim Kap Malea ebenfalls durch den stürmischen Nordwind vom Kurs ab und gelangte zu einer Meereslagune an der Küste der Cyrenaica.54 Zwei weitere Beispiele für 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54

Od. 4,85; 14,295. – HERODOT (4,41): „Gleich nach Ägypten folgt Libyen“. Die homerische Lotophagengeschichte ist älter „als die Gründung von Kyrene, die ins Jahr 631 v. Chr. fällt“ (NIESE, Schiffskatalog 58). Bzgl. ARTEMIDOR s. Strab. 3,157; 17,829; Eustath. Od. p. 1616, 40. PLINIUS (nat. 5,28) und SOLINUS (27,43) verorten die Lotophagen an der Großen Syrte, welche die Cyrenaica formt. Vgl. WOLF, Reise 25. Od. 3,287–300; 6,83 f.; 14,252–258; 17,448; 19,186 f. TREIDLER, Syrtis 1798,32 f. (vgl. 1817,5 f., 22 ff.). So ist es „bezeichnend, daß Herodot zwar manche Volksstämme, aber außer der Gegend am Kinyps nicht einen Küstenplatz innerhalb des eigentlichen Syrten-Gebietes namhaft macht“ (a. a. O. 1802, 35 ff.). Od. 23,311. SCHIRLITZ 50, Anm. 31. Diese, sich über die Seiten 50 u. 51 erstreckende Fußnote listet die antiken Lokalisierungen des Lotophagenlandes auf. Od. 12,59 ff.; Argo (12,70) und Jason (12,72) erscheinen namentlich. Vgl. HÖLSCHER, Odyssee 178. Apoll.Rhod. 4,1231 ff. – Der nordafrikanische „Tritonsee“, zu dem Jason laut HERODOT (4,179) gelangt, bezeichnet nicht den Salzsee Chott Djerid in Südtunesien, sondern eine Meereslagune in der Cyrenai-

2.1 Abdrift ins Ungewisse

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eine entsprechende Abdrift bietet Herodot. So sei der kretische Purpurfischer Korobios „vom Sturme verschlagen nach Libyen zur Insel Platea“ gelangt,55 bei der sich kurz darauf „die Kyrenaier angesiedelt hatten“.56 Das Eiland Platea heißt heute Bomba und ist der nordafrikanischen Cyrenaica unmittelbar vorgelagert.57 Ähnlich erging es dem Kaufmann Kolaios von der Ägäisinsel Samos, der „auf der Fahrt nach Ägypten ebenfalls zur Insel Platea verschlagen wurde“.58 Die genannten Beispiele aus dem frühen Altertum belegen also, dass eine durch anhaltend stürmische Nordwinde bewirkte Abdrift ein Schiff aus dem südlichen griechischen Erdraum zur Cyrenaica versetzt. Auch Odysseus wurde angeblich beim Kap Malea derart südwärts verschlagen, und infolge dessen besteht zwischen ihm und dem Königshaus der Battiaden in Kyrene eine enge mythologische Verbindung.59 Über die fruchtbare Cyrenaica wussten die frühen Griechen kaum etwas Konkretes, wie der Bericht Herodots über den König Grinnos illustriert, der über die Insel Thera in der Südägäis herrschte. Dieser hatte nämlich in Delphi „von der Pythia den Spruch erhalten, er solle eine Stadt in Libyen gründen“. Aber Grinnos und die Bewohner Theras „ließen den Spruch auf sich beruhen, weil sie nicht wußten, wo Libyen liegt“. Und als ihnen später „die Pythia wiederum die Ansiedlung in Libyen gebot, da sandten sie, weil sie in der Not keinen anderen Rat wußten, Boten nach Kreta, um nachzufragen, ob dort jemand Libyen kenne“.60 Mit derart geringen geographischen Kenntnissen starteten die Bewohner Theras ihre erfolgreiche Landnahme der Cyrenaica. Zu Beginn der griechischen Kolonisationsphase – sprich zur Zeit Homers – war also kaum etwas über die Cyrenaica bekannt, und so bietet die lediglich 23 Hexameter umfassende Lotophagengeschichte der Odyssee nur wenige landeskundliche Informationen. Immerhin hören wir, dass die Küste des Lotophagenlandes frisches Trinkwasser61 und fettes Ackerland62 zu bieten hat. Und diese beiden naturräumlichen Ressourcen kennzeichnen südlich von Griechenland eindeutig die fruchtbare Küstenlandschaft der Cyrenaica, die von der Libyschen Wüste umgürtet wird.

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ca (LE GLAY, Triton 969,53–970,22). Und der Held Euphemos des libyschen Argonautenabenteuers „gehört als mykenischer Ahn der Kyrenäer so deutlich in die kyrenische Gründungsgeschichte“ (HÖLSCHER, Odyssee 179). Hdt. 4,151. Hdt. 4,169. Bomba liegt vor dem gleichnamigen Golf an der Grenze zwischen Marmarike und Kyrene. Hdt. 4,152. „Kyrene, dessen Athenabild ebenfalls dem ilischen [aus Ilios/Troja] gleichgesetzt worden zu sein scheint, hat dasselbe wohl auch durch Odysseus, den die Battiaden als Verwandten ihres Hauses betrachteten, überbringen lassen“. Und „durch Odysseus gerettet, gelangten Antenors Söhne nach Kyrene. Es ist doch wohl kein Zufall, dass die einzige sichere geographische Bezeichnung im Nostos unserer Odyssee südlich von Malea nach der Syrte weist“ (GRUPPE 630). Hdt. 4,150 f. Od. 9,85. – Die Cyrenaica zeichnet sich durch „starke Quellen“ aus (VOLKMANN, Kyrene, 411,26). Die Stadt Kyrene entstand 631 v. Chr. um die dem Apollon geweihte Quelle Kyrene (Kall. h. 2,88). Od. 23,311. – Die Cyrenaica exportierte 330 v. Chr. 800.000 Medimnoi Getreide (SEG IX 2)!

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2. Die Irrfahrtgeschichte

Die Odyssee hebt im nordafrikanischen Lotophagenland eine Pflanze hervor, nämlich den Lotos,63 der für das Küstenland derart signifikant ist, dass die Einheimischen nach dieser Pflanze als Lotophagen („Lotos-Esser“) bezeichnet werden.64 So begegneten Odysseus und seine Gefährten an der fremden Küste den „Lotophagen, Männer, die nicht daran dachten, uns Verderben zu bringen; nur vom Lotos zu essen boten sie an den Gefährten. Doch wer von diesem honigsüßen Lotos kostete, wollte … nicht mehr zurück in die Heimat, nein dort, bei den Lotophagischen Männern, wollten sie bleiben und Lotos raufend die Heimat vergessen“.65 Mehr Informationen über die Bevölkerung des Lotophagenlandes bietet das Epos nicht. Aber „weder bei den Kikonen“ an der Küste der Nordägäis, bei denen der heimfahrende Odysseus zuerst landet und sich seine Mannen derart betrinken, dass sie ihm nicht mehr gehorchen,66 „noch bei den Lotophagen geschieht etwas im strengen Sinne Wunderbares; die süße Blumenspeise der Lotosesser verzaubert, genau genommen, die Griechen nicht, wie es in den verwandten Märchen zu sein pflegt: sie wollten dort bleiben und die Heimfahrt vergessen, heißt es“.67 Es gibt also keinen triftigen Grund, die homerischen Lotophagen als ein fiktives Volk zu betrachten, auch wenn sie als Vegetarier vorgestellt werden,68 die vom mysteriösen Lotos leben, der eine berauschende Wirkung hervorruft. Besonders infolge unzutreffender Lokalisierungen des homerischen Lotophagenlandes ist strittig, an welche Droge des nordafrikanischen Raumes der Dichter beim Lotos gedacht hat. Für zahlreiche Homerinterpreten ist der „honigsüße Lotos“ die nordafrikanische Dattel, die als „das Brot der Wüste“ gilt.69 So schrieb schon Herodot, allerdings ohne Bezug auf die Lotophagen der Odyssee: „Diese Frucht ist etwa so groß wie die des Mastixbaumes, an Süße aber kann man sie der Frucht des Palmbaumes vergleichen. Die Lotosesser bereiten sich daraus auch einen Wein“.70 Auch wenn der Dattelwein ein berauschendes Getränk ist, so ist doch die homerische Lotospflanze eine Droge, die ausdrücklich „gegessen“ wurde.71 Etliche Forscher favorisierten anstatt der Dattel den Judendorn oder Brustbeerenstrauch, „der deshalb im botanischen Systeme den Namen ‚Zizyphus lotus‘ erhalten hat“ und schon im Altertum v. a. mit dem Zürgelbaum verwechselt wurde.72 Die genannten Gewächse liefern aber kein Rauschgift, im 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72

Od. 9,93, 94, 97, 102. Od. 9,84, 91, 92, 96; 23,311. – Analog dazu gab es in der Cyrenaica die „Hylophagoi“ (Diod. 3,24; vgl. Agath. mar. Erythr. 51), also die „Holz-Esser“, und die „Moschophagoi“ (peripl. mar. Erythr. 2; vgl. Geogr. gr. min. 1,258), also diejenigen, die sich von jungen „Schößlingen und Sträuchern“ ernähren. Od. 9,91–98. Erinnert sei an das ägyptische Rauschgift der Helena, das „sämtliche Übel vergessen ließ“ (4,220 ff.). Od. 9,43 ff. MEULI, Odyssee 80. Der Ausdruck ἄνθινων εἶδαρ (Od. 9,84) bedeutet „pflanzliche Nahrung“; „ἀνθινός (ἄνθη, die Blüte) ep. u. sp. von Blumen, vegetabilisch, εῖδαρ Pflanzenkost“ (BENSELER 71). BREUSING, Irrfahrten 55. Vgl. WOLF, Reise 34. Hdt. 4,177. Od. 9,84. BREUSING, Irrfahrten 55. – „Dieser Lotosbaum ist der sogeannte Judendorn Afrikas (Ziziphus lotus) aus der Familie der Faulbäume“ (FELLNER 66). Bzgl. der als Lotos bezeichneten Pflanzen und Bäume s. ZIEGLER, Lotos 743,27 ff. mit antiken Belegen.

2.1 Abdrift ins Ungewisse

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Gegensatz zur sogenannten Lotosblume, die allerdings „von Homer nicht gemeint gewesen sein kann, denn diese Wasserpflanze Nymphaea ist nicht eßbar und bringt keine Früchte hervor, die man pflücken und verzehren kann“.73 Aufgrund der unbefriedigenden Deutungen gelangt mancher altertumswissenschaftliche Kompendienschreiber zu dem Urteil, „daß der homerische Lotos nie existiert hat“.74 Falls der Odysseedichter beim Lotophagenland jedoch an einen Ort dachte, der nicht der Märchenwelt angehört, dann muss der charakteristische Lotos, der das ganze Lotophagenabenteuer evoziert und bestimmt, in der botanischen Wirklichkeit existiert haben! Mit dem mysteriösen Lotos steht und fällt also die Fiktionsthese für die erste außerhalb des griechischen Erdraumes liegende Station der angeblichen Irrfahrt des Odysseus, und deshalb gilt es, die Pflanze nochmals zu untersuchen: Der homerische Lotos, der auch als Nahrungsmittel diente,75 ist vor allem eine pflanzliche Droge.76 – Wenn man als das homerische Lotophagenland, wie in der vorliegenden Studie aufgrund der geophysikalischen Angaben geschehen, jedoch die Cyrenaica favorisiert, dann ist klar, welches Gewächs der homerische Lotos bezeichnet: Es ist das Silphion!77 Dies ist der „Name einer [ausschließlich] in der Cyrenaica wachsenden Pflanze und besonders des aus deren Stengel und Wurzel gewonnenen harzigen Milchsaftes, der vom 6. Jh. v. Chr. an eine hochgeschätzte Droge war und als Ausfuhrartikel die Grundlage des Reichtums von Kyrene bildete“.78 Laut Herodot fand man das Silphion „von der Insel Platea [ehem. Kyrene vorgelagert] bis zur Mündung der Syrte“,79 also auf dem größten Teil der Cyrenaica, während gut ein Jahrhundert später Theophrast schrieb, das Silphium wachse auf einer Fläche, die mehr als 4000 Stadien lang sein soll, das meiste bei der Syrte von den Euhesperiden an“,80 also insbesondere im Westen der Cyrenaica. Und weitere zwei Jahunderte später berichtet Strabon: Hinter der Cyrenaica „liegt gegen Süden der Strich Landes, welcher das Silphion liefert; er ist gegen Osten etwa 1000 Stadien lang, dabei etwa 300 breit“.81 Die Fläche auf der das wild wachsende Silphion gedieh, das laut Theophrast „die Eigenschaft hat, dass es jeden angebauten Boden meidet“,82 wurde also in den vorchristlichen Jahrhunderten drastisch dezimiert. Infolge des übermäßigen Raubbaus der begehrten 73

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81 82

HENNIG, Geographie 10. Also „mit der ägyptischen Wasserpflanze hat diese Frucht [der homerische Lotos] nichts gemein“ (KLOTZ 292). Dennoch behauptet u. a. Sibylle IHM, der homerische Lotos sei „die

blaue und weiße Wasserlilie (Nymphaea lotos) aus Ägypten“, die eine opiumähnliche, „lusttötende oder luststeigernde“ Wirkung habe (Sagenhafter Rausch, in: Die Zeit, Nr. 9, 2004, S. 37). LAMER, Lotophagen 1511,23. Die Lotophagen (Od. 9,84, 91, 92, 96; 23,311) sind geradezu die „Lotos-Esser“ (BENSELER 567). Aber „gewiss war“ der Lotos „nicht gerade die Hauptnahrung, sondern nur eine auffallende“ (NITZSCH III 21). Od. 9,95 ff. Das Silphion erwähnt zuerst HERODOT 4,169 u. 192. Siehe a. Soph.frg. 945. Aristoph. Equ. 892; Av. 534. ZIEGLER, Silphion 197,11 ff. Hdt. 4,169. Theophr. H. pl. 6,3,1. Die dorische Kolonie Euhesperides lag an der Westecke der Cyrenaica. THEOPRAST (a. a. O.) sagt zudem: „Das Silphium (σίλφιον) hat viele dicke Wurzeln; der Stamm ist dem der Ferula (νάρθηξ) [das sind hochgewachsene Streckenkräuter], das Blatt, welches Maspeton heißt, dem des Sellerie’s (σέλιον) ähnlich“ (LENZ 569). Strab. 17,3. Theophr. H. pl. 6,3,1.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

Pflanze, die sich nicht kultivieren ließ, wurde es in der römischen Kaiserzeit ausgerottet, und deshalb ist es botanisch nicht mehr zu bestimmen.83 Der schriftlichen und bildlichen Überlieferung zufolge handelte es sich nicht um ein strauch- oder baumartiges Gewächs, sondern um eine wild wachsende Staudenpflanze, die, wie der Lotos der Odyssee, beim Erntevorgang „zusammengerafft“ wurde.84 Der hochgewachsene Stengel des Silphions hatte „einen gipfelständigen, kugeligen Blütentrieb“ mit gelben Blüten,85 die „typische Umbelliferenfrüchte“ hervorbrachten,86 und dementsprechend wies der homerische Lotos auch Blüten und Früchte auf.87 Zwar findet sich häufig „die Darstellung der Silphion-Früchte auf den kyrenäischen Münzen“,88 aber der Geschmack der Früchte und der anderen Pflanzenteile, die als edles Gemüse geschätzt und teuer gehandelt wurden,89 ist nicht bekannt. Wir wissen nur, dass das Silphion wohlschmeckend war90 und sein „harziger Milchsaft“, der die eigentliche Droge war,91 oft „honigsüß“ verzehrt wurde, da er in der pharmazeutischen Verarbeitung mit Bienenwachs vermischt oder „mit Honig verkocht“ wurde.92 Darauf scheint auch die Odyssee hinzudeuten, die von den „honigsüßen Früchten“ des Lotos spricht.93 Es bleibt zudem festzuhalten, dass das Silphion, ebenso wie der homerische Lotos, sowohl als Nahrungsmittel als auch als Droge diente. An einer anderen Stelle der Odyssee sowie in der Ilias und im homerischen Hermeshymnos bezeichnet „Lotos“ auch ein krautartiges Viehfutter.94 Dementsprechend galt „das kyrenäische Silphion als ein sehr gutes Mastviehfutter“,95 das v. a. bei Schafund Rindfleisch einen feineren Geschmack bewirkte.96 Jedoch als Viehfutter nahm man lediglich die Außenblätter der wertvollen Silphionpflanze,97 die sogar exportiert wur83

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„Trotz erhaltener Beschreibung bei Theοphr. u.a. (s. bes. Plin.nat. 19,38–46) und Abbildungen auf Münzen von Kyrene und auf der Pariser Arkesilaos-Schale … und vieler Bemühungen von Historikern und Botanikern (eine ganze Literatur!), ist die sichere Bestimmung des Silphion nicht gelungen; doch scheint es sich um eine mit Scorodosma foetidum, welches Asa foetida liefert, nahe verwandte Pflanze zu handeln“ (ZIEGLER, Silphion 197,22–32). Das Verb „ἐρέπτομαι“, das den Vorgang der Lotos-Ernte beschreibt (Od.9,97; ebenso Ilias 2, 776), ist verwandt mit dem lateinischen rapio und bedeutet „raufen, abrupfen, fressen, verzehren“ (BENSELER 345). „Alle Darstellungen zeigen … einen gipfelständigen, kugeligen Blütentrieb sowie je einen langgestielten Blütentrieb in den Blattachseln“ (STEIER, Silphion 107,7–13). STEIER, Silphion 107,1 f. Lotosblüten: Od. 9,84. Lotosfrüchte: Od. 9,94. STEIER, Silphion 106,7 f. „Die Stengel [wurden] als Gemüse bzw. als Kompott gegessen“ (STEIER, Silphion 113,15 f.). „Auch die Stengelsprosse wurden exportiert und galten als teuere, feine Speise“ (113,7 f.). Deshalb galt das geriebene Silphion als „feines Gewürz“ (STEIER, Silphion 113,18 f.) STEIER, Silphion 103,33. Vgl.a. 109,29 ff. STEIER, Silphion 114,13 f. (mit Bezug auf Cels. IV 6 u. 10). „Als Arzneimittel kennt das Silphion schon Hippokr. II 91. Galen. vict. att. III 13; vict. acut. 576“ (a. a. O. 113,40 ff.). Od. 9,94. Od. 4,603. Ilias 2,776. Sowie im Homerischen Hermes-Hymnos (4,107). STEIER, Silphion 112,9 f. „Bei Theophrast h.pl. IV 4,12 aber ist Silphion ausdrücklich als ausgezeichnetes Futter bezeichnet, und nach Plinius n. h. XIX 39 ernährten die römischen Pächter, die die Silphion-Gegend von Kyrene inne hatten, mit Silphion große Herden“ (a. a. O. 112,33 ff.). STEIER, Silphion 109,15 ff. (mit Bezug auf Plin. nat. 19,43). STEIER, Silphion 109,15 f.

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den.98 So ist es durchaus denkbar, dass der Gott Hermes auf dem Peloponnes dieses teure Viehfutter aus der Cyrenaica, nämlich den „kyrenäischen Lotos“,99 an die von ihm gestohlenen Rinder des Apollon verfüttern ließ.100 Weil das echte Silphion ausschließlich in der Cyrenaica gedieh, und man im griechischen Altertum vergeblich versucht hatte, „die wertvolle Pflanze im Peloponnes und in Ionien zu kultivieren“,101 muss der in Ilias und Odyssee erwähnte Lotos, der an den wasserreichen Niederungen bei Troja und in Sparta wuchs und v. a. als Viehfutter diente,102 eine andere, bzw. verwandte Pflanze gewesen sein. Es wird sich dabei aber wohl nicht, wie meist behauptet, um eine Art Klee gehandelt haben,103 sondern um eine dem Silphion ähnelnde Pflanze, d. h. um eine einjährige und hochgewachsene Staudenpflanze.104 Und dementsprechend vereinigt die Ilias in einem Vers die langhalmigen Pflanzen „Lotos und Binsen und Zyperngras“, die am Fluss Skamander in Brand gerieten, weil sie ausgetrocknet waren.105 Zu diesem Pflanzenterzett gehört in der Vorstellung des Dichters offensichtlich nicht der relativ flache und sprichwörtlich feuchte Klee, zumal in der genannten Ilias-Stelle das Bild eines verheerenden ‚Strohfeuers‘ gezeichnet wird!106 Festzuhalten bleibt, dass die homerischen Epen unter dem Lotos wohl zwei verschiedene Staudenpflanzen ähnlicher Gattungen verstehen,107 und nicht extrem unterschiedlich geartete Gewächse (v. a. Zürgelbaum und Klee), wie bislang angenommen wird.108

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STAMMLER 734, Anm. 151.

Vom „kyrenäischen Lotos der Lotophagen“ spricht um das Jahr 1840 Wilhelm PAPE (II Lotos, 73). Hom. h. 4,103 ff. STEIER, Silphion 108,13 ff. Ilias 2,776; (12,283; 14,348); 21,351. Od. 4,603; 9,93, 94, 97, 102. – In Ilias 2,776 wird Lotos von Pferden gefressen; dies scheint auch Odyssee 4,601–603 anzudeuten (im Homerischen Hymnos 4,107 wird es als Futter für Rinder genannt). Später wurde „die Futterpflanze Lotos, nach Dioskur. mat.med. 4,110 synonym mit τρίφυλλον, also Klee, als Viehfutter seit Homer … oft genannt“ (ZIEGLER, Lotos 743,34 ff.). So „hat man vorzugsweise den Erdbeerklee, Trifolium fragiferum, L., zu nennen, welcher an feuchtesten Stellen in Kleinasien und Griechenland äußerst häufig wächst“ (LENZ 720). Das Silphion gehört zu den hochgewachsenen, staudenförmigen Umbelliferen (= Doldenblüter) und wurde deshalb im Altertum „zur Versendung in längliche Säcke verpackt“ (STEIER, Silphion 104,3). So trifft das für die wasserreiche lakonische Ebene kennzeichnende Pflanzenduo „Lotos und Zyperngras“ (Od. 4,603) erheblich besser auf langhalmige „Umbelliferien und Zyperngras“ zu als auf „Klee und Zyperngras“, zumal in Analogie auf das im folgenden Vers (Od. 4,604) genannte Nutzpflanzenduo „Weizen und Gerste“. Ilias 21,351. – Die Ilias (14,348) erzählt, Kronos und Hera hätten sich auf „Lotos, Hyazinthen und Krokos“ gebettet. Dieses „dichte, üppige und weiche“ Liebeslager (Ilias 14,349) wird wohl mit dem kostbaren und wohlriechenden Silphionstauden gepolstert gewesen sein, die mit den duftenden Hyazinthen und Krokos korrespondieren, und nicht mit saftigem Klee. Ilias 21,333–356. – Der auch an Nutztiere verfütterte „Lotos“ in Kleinasien und Griechenland gedieh v. a. in Feuchtgebieten (Ilias 2,776) und stand in Gesellschaft mit den ebenfalls hochhalmigen Binsen und Zyperngras (Ilias 21,351; Od. 4,603; hom hym. 4,107). Der Lotos des Ägäisraumes könnte Scorodosma foetidum sein, mit dem das Silphion „nahe verwandt“ gewesen zu sein scheint (vgl. ZIEGLER, Silphion 197, 30 ff.). – Zu den in den homerischen Epen erwähnten hochhalmigen „Gräserformationen“ (Pfeilrohr, Schilfrohr, Binsen und Seggen, Zyperngras, Schachtelhalm) s. FELLNER 46–49. Unter dem homerischen „Lotos“ wird einerseits eine Baumart verstanden (meist Zürgel- und Faulbaum oder Dattelpalme) und anderseits eine der vielen Klee-Arten (ZIEGLER, Lotos 743,26–41).

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2. Die Irrfahrtgeschichte

Da die Cyrenaica bzw. deren Hauptstadt Kyrene „dem Handel mit Silphion seinen blühenden Wohlstand und Reichtum verdankte, der geradezu sprichwörtlich war“,109 findet sich die Pflanze in „zahlreichen Darstellungen auf Münzen von Kyrene“.110 Und „die bekannte Arkesilaos-Schale, auf dem das Silphion vor den Augen des Königs verwogen und zur Versendung in längliche Stücke verpackt im Schiffe verstaut wird, ist ein Beweis für den schwunghaften Silphion-Handel der Kyrenäer im 6. Jhdt.“ v. Chr.111 Doch der intensive Raubbau an der wild wachsenden Pflanze, besonders in hellenistischer Zeit, führte zu deren Ausrottung.112 So wurde seit Beginn der römischen Herrschaft über die Cyrenaica (74 v. Chr.) das selten gewordene Silphion sogar mit Silberdenaren aufgewogen113 und gehörte, zusammen mit Gold und Silber, zum römischen Staatsschatz.114 „Schon zur Zeit Neros war kyrenäisches Silphion eine große Rarität; nur ein einziger Silphion-Stengel wurde damals noch gefunden und dem Kaiser übersandt. Zu Plinius’ Zeit gab es kein Silphion mehr“.115 – Somit ist es eine folgenschwere Unbedachtheit vieler Odyssee-Forscher, den homerischen Lotos stets unter den vorhandenen Pflanzen gesucht und nicht die Möglichkeit erwogen zu haben, dass er zu einer bereits ausgerotteten Art gehören könnte! Das einst ausschließlich in der Cyrenaica vorhandene Silphion,116 das schon vor der Gründung der Stadt Kyrene (631 v. Chr.) bekannt war und dementsprechend genutzt wurde,117 und sodann den Reichtum der griechischen Kolonie Kyrene begründete, war im frühen Altertum für die Cyrenaica derart wichtig und signifikant, wie der Lotos für das homerische Land der Lotophagen.118 Hätte man, ohne auf die Odyssee hinzuweisen, die Altertumskunde befragt, welche blühende Pflanze Nordafrikas, zumal im Bereich südlich von Griechenland, seit homerischer Zeit zugleich als berühmte Droge und Nahrungsmittel diente, hieße die Antwort selbstverständlich: das Silphion. Die Frage stellte sich jedoch nicht, weil für die meisten Altertumswissenschaftler das homerische Lotophagenland ohnehin nur der Märchenwelt angehörte. So zeig109 STEIER, Silphion 103,58 ff. (vgl. Hesych. s. Βάττου σίλφιον. Aristot. Plut. 925. Catull. 7,4). 110 STEIER, Silphion 103,56 f. 111 STEIER, Silphion 104,1 ff. – Den Namen Arkesilaos trugem mehrere Könige von Kyrene sowie in der Telegonie auch ein Sohn des Odysseus (GEISAU, Telegonie 565,53 f.). 112 „Von der Kaiserzeit an war das echte Silphion vom Markt verschwunden und wohl in der Cyrenaica ausgerottet“ (ZIEGLER, Silphion 197,11–21). 113 STEIER, Silphion 103,62 ff. (mit Bezug auf Plin. nat. 19,38). 114 „Daß Caesar zu Beginn des Bürgerkrieges dem Staatsschatze außer Gold und Silber auch 1500 Pfund laserpicium [Silphion] entnahm“, indiziert, dass es damals „einen bedeutenden Wert gehabt haben muß“ (STEIER, Silphion 104,18 ff.). Vgl. Plin. nat. 19,3,15. Schol. Aristoph. Av. 534. Nik. Alex. 309. 115 STEIER, Silphion 104,25 ff. 116 VOLKMANN, Kyrene 411,30 f. – Das „Silphion wächst von der [kyrenischen] Insel Platea bis zur Mündung der Syrte“ (HERODOT 4,169; er nennt das Silphion auch in 4,192). 117 STEIER, Silphion 110,16 ff. 118 Armin WOLF (Homers Reise 302) diskreditiert meine Deutung des homerischen Lotos, indem er bloß auf „das seltene Silphion“ hinweist, „das erst ‚mit Honig verkocht‘ süß schmeckte“. Dem Leser wird damit suggeriert, Silphion sei ein unbedeutendes Gewächs, das nicht süß schmeckt. Ob das Silphion einen süßen Geschmack hatte oder nicht, wird nicht überliefert, aber es war wohlschmeckend (womöglich süß). V. a. aber entgeht dem Leser der Wolf ‘schen Kritik, dass das Silphion in vorchristlicher Zeit die bedeutendste Droge im nordafrikanischen Raum war, in großen Mengen exportiert wurde und auch als Nahrungsmittel diente.

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ten gesteigertes Interesse an der botanischen Bestimmung des homerischen Lotos v. a. diejenigen Homerinterpreten, die das Lotophagenland geographisch zu identifizieren suchten. Aber gerade für diese Forscher lag die Cyrenaica außerhalb ihres Horizontes, weil sie das Lotophagenland von vornherein erheblich weiter westlich ansetzten, um für die Irrfahrtrekonstruktionen hinreichend Raum westlich von Griechenland zu gewinnen.119 Schließlich sollte Odysseus auf seiner Irrfahrt bis ins Tyrrhenische Meer westlich Italien gelangen, oder sogar noch weiter nach Westen, bis in den Atlantik.120 Und indem die bisherigen Irrfahrts-Theoriker den Helden deshalb gleich auf der ersten Etappe weit westwärts abdriften ließen, gerieten sie – und nicht Odysseus – auf Abwege, wie nachfolgend dargelegt wird. 2.1.2 Im Dunstkreis der gewaltigen Kyklopen Odysseus hatte diejenigen seiner Gefährten, die der Lotosdroge verfallen waren und den Wunsch nach Heimkehr nicht mehr verspürten, gewaltsam auf die Schiffe bringen lassen121 und reiste sodann neuen Abenteuern entgegen: „Weiter fuhren wir jetzt betrübten Herzens und kamen hin zum Land der Kyklopen, die halt- und gesetzlos leben“.122 Über kaum eine andere Station seiner angeblichen Irrfahrt berichtet Odysseus ausschweifender als über „das Land der wilden und gesetzlosen Kyklopen“,123 die zunächst rätselhaft erscheinen. Denn die homerischen Kyklopen sind „das erste phantastische Volk, zu dem Odysseus geräth“,124 weil es zwei unterschiedliche Wesenszüge aufweist, die in der Realität miteinander unvereinbar sind: Einerseits erscheinen sie als ein unzivilisiertes Hirtenvolk,125 andererseits als bergähnliche und vernichtende Naturgewalten.126 Aufgrund der hybriden Natur der Kyklopen bietet die spannende Erzählung des Odysseus über seinen Besuch beim gigantischen Polyphem manche Ungereimtheit und märchenhafte Szene,127 von denen die im Altertum häufig dargestellte Blendung des gewalttätigen Riesen am bekanntesten ist,128 sowie die anschließende Flucht des Odys119 U. a. WOLF, Reise 30: „Schema: Homers Weg des Odysseus“. – „Die Schiffe sind also vor der Nordküste von Afrika weit nach Westen getragen worden“ (KLOTZ 292). 120 Eine Übersicht der mutmaßlichen Irrfahrtrouten des Odysseus (von der Antike bis in die Gegenwart) bietet Armin WOLF, Reise 225–309. 121 Od. 9,95 ff. 122 Od. 9,105 f.; vgl. 215. – Und „der Dichter schildert sie demnach als so gewaltig, daß sie sich um die Satzungen der Götter nicht kümmern“ (KLAUSEN 5). 123 Od. 9,106. Die Kyklopenerzählung umfasst nahezu den ganzen neunten Gesang (9,105–566). 124 KLAUSEN 2. Während „die beiden ersten Abentheuer [Kikonen u. Lotophagen] noch auf historischem Boden“ stattfinden (NITZSCH III 19), hat sich Odysseus’ Fahrt bei den Kyklopen „schon ganz in die Mährchenwelt verliert, wo geographische Bestimmungen nicht mehr möglich sind“ (PRELLER II 323). 125 Od. 9,183–188, 216–250. 126 Od. 9,113, 121,155, 191 f., 278, 287–293. 127 „Die Widersprüche“ und „Ungereimtheiten“ der Kyklopenerzählung „fielen schon den antiken Interpreten auf “ (EITREM, Kyklopen 2334,44–60). So sei z. B. Antiphos, der lebend im Palast des Odysseus sitzt (Od. 17,68), vom Kyklopen erschlagen worden (Od. 2,19). 128 GRETHLEIN, 141 ff. Zudem „ist die Blendung des Kyklopen das früheste in der Vasenmalerei belegte Motiv aus der Odyssee“ (141).

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2. Die Irrfahrtgeschichte

seus und seiner Gefährten aus der Kyklopenhöhle unter den Bäuchen von Widdern.129 Derartige Szenen sind ein deutlicher Beleg dafür, dass es sich bei der Irrfahrterzählung des Odysseus nicht um den Erlebnisbericht eines Seefahrers handelt, sondern bloß um eine erfundene Geschichte, die der Dichter seinem Helden in den Mund legt. Auch dem Dichter ist bewusst, dass der Polyphem in Wirklichkeit kein hühnenhafter Ziegenhirt ist, denn laut Odyssee „glich er nicht Menschen, die Speise verzehren“.130 Also, der homerische Polyphem „war kein Mensch und hatte keine Menschenähnlichkeit“, wie u. a. Dietrich Mülder betont.131 Und deshalb wählt schon Johann Heinrich Voss den Terminus „einäugige Berg-Kyklopen“.132 „Nun bildet das Polyphemabenteuer nicht einfach die Erfahrungen der griechischen Siedler ab. So bizarr die Begegnungen bisweilen auch gewesen sein mögen, auf einäugige Riesen stießen griechische Siedler nicht“.133 Bei der Frage, ob die Kyklopengeschichte einen konkreten naturräumlichen Hintergrund besitzt, darf zwar der Wesenszug der höhlenbewohnenden Hirten, den die homerischen Berg-Kyklopen auch aufweisen,134 nicht ausgeblendet werden, aber er ist für die geographische Analyse wenig ergiebig, da im prähistorischen Mittelmeerraum primitiv lebende Troglodyten vielerorts hausten.135 Zudem ist für die vorliegende Untersuchung bedeutsam, dass „die Κύκλωπες als Volk ja überhaupt eine Erfindung des Bearbeiters [der Odyssee] sind, eine umgestaltete Verallgemeinerung des höhlenbewohnenden Unholds“.136 Denn das Kyklopengedicht hatte zuvor eine andere Fassung als die uns vorliegende,137 und so beruht die hybride 129 Od. 9,423 ff. – Dass Odysseus und seine Gefährten dem tödlichen Wutausbruch des Kyklopen Polyphem (Vulkan Ätna) mittels der zuvor hinausgelaufenen Schafe in Richtung Meer entkamen, könnte einen naturwissenschaftlichen Hintergrund besitzen, denn vor Eruptionen des Ätna verlassen Ziegen und Schafe rechtzeitig ihre Plätze und ziehen den Hang hinunter; „möglicherweise nehmen sie den Geruch der aufsteigenden Magma wahr, die dem Boden entweicht“ (MAIER 62). Dieses Ergebnis der „Max-PlanckForschung“ ist m. E. der altphilologischen Deutung des herausstürmenden Kleinviehs des Polyphem vorzuziehen: „Die Ziegen aber sind das bekannte [?] Bild der zwischen den Klippen und Felsen anprallenden und aufschiessenden Wogen und Fluthen des Meeres“, wo „einsame Felsen aus der schäumenden Masse emporragen, wilde Ziegen auf den Gipfeln der Wogen [?] hin- und herklettern, und diese Wogen selbst wie Riesen und Ungethüme sind“ (PRELLER I 389). 130 Od. 9,191 f. – Also, „im alten Gedicht ist alles ins Gigantische, Grausige, Düstere, Unheimliche gearbeitet“ (MÜLDER, Kyklopengedicht 420). 131 MÜLDER, Kyklopengedicht 445. „Κρατερὸς Πολύφημος heisst der Riese der [vom Redaktor eingefügten] Οὖτις-Episode. Das Epitheton drückt ihn noch mehr auf das Niveau des Menschenthums, wenn auch des heroischen, herab“ (421). 132 VOSS, Myth. Briefe III 142. 133 GRETHLEIN 134. 134 Od. 9,216–251, 307 ff., 336 ff. – „Polyphem ist ein seßhafter Hirte”, und seine „Höhle selbst beherbergt eine komplette Molkerei (9.219–23)“ (GRETHLEIN 129). 135 Indes basiert manche Odyssee-Theorie auf diesem unspezifischen Zug der Kyklopen (s. WOLF, Reise 40 ff.). 136 MÜLDER, Phäakendichtung 14. So erscheint der Polyphem als Troglodyt, der seine Ziegen melkt und Käse herstellt (Od. 9,216–251, 307 ff., 336 ff.). Aber „dass der Redactor … der Schafe und Lämmer bedurfte, dass er sie erfinden, ihr Dasein in der Höhle begründen musste, das hat doch wohl zur Erfindung jener grossen Musterwirthschaft des Kyklops geführt“ (MÜLDER, Kyklopengedicht 445). 137 Den Text der (angeblich) ursprünglichen Fassung bietet Dietrich MÜLDER (Kyklopengedicht 450 ff.). Das „ursprünglichere Gedicht“ erscheint durch Ausscheidung der Verse Od. 9,306–317, 329–374 und „der Οὖτις-Episode“ v. 399–414 (ders. 417).

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Erscheinung der Kyklopen, infolge derer Odysseus „in die Welt der Wunder“ gelangt zu sein scheint,138 lediglich auf stoffgeschichtlichen Gründen. Aufschlussreich für eine geographische Lokalisierung der homerischen Kyklopen ist v. a. die Frage, welches imposante Naturphänomen sie verkörpern. Charakteristisch für alle Kyklopen sind ihre „Rundaugen“,139 die laut Odyssee „auf den Häuptern hoher Gebirge“140 platziert sind und nach denen die Ungeheuer den Namen Kyklopen erhielten. Der einzige Kyklop (Κύκλωψ), den Odysseus aus nächster Nähe gesehen haben will und den er als „Polyphem“ bezeichnet, wird folgendermaßen beschrieben: „Er war ganz wie ein riesiges Wunder geschaffen“ und „glich einem waldigen Gipfel hoher Kettengebirge, der einsam vor allen emporsteigt“.141 Sein Rundauge war zeitweilig erfüllt von rotem „Blut“, „Glutdampf “ und „Feuer“,142 wodurch der von Odysseus und seinen Gefährten hineingetriebene Baumstamm samt Wurzeln sofort entflammte.143 Manche Kyklopen verrieten sich schon von Ferne durch eine Rauchfahne,144 und sie konnten unter fürchterlichem Gebrüll145 riesige Felsbrocken, ja sogar ihren ganzen Berggipfel weithin schleudern.146 Wie gewaltig die Kyklopen sind und von welcher Hybris sie befallen waren, ist vor allem der Prahlerei des Polyphem zu entnehmen: „Wir Kyklopen kümmern uns nicht um die seligen Götter, denn wir sind ja weitaus mächtiger. Ich vermeide schon gar nicht mit Zeus eine Feindschaft“.147 Die gigantischen und „gesetzlosen“ homerischen Kyklopen, die als hohe und rauchende Bergkuppen in Erscheinung treten, sowie teils rotglühende Rundaugen aufweisen und mit Donnergebrüll mächtige Felsbrocken schleudern, finden in der geographischen Realität ihre Entsprechung in den unberechenbaren Vulkanen. Diese zählen zu den faszinierendsten Phänomenen, die die Erdoberfläche bietet.148 Die außergewöhnliche und meist beeindruckende Physiognomie der Vulkanberge war den frühen Griechen nicht völlig unbekannt, da auch der Ägäisraum vereinzelt Vulkanruinen aufweist,149 138 NITZSCH III 24. 139 Oft wird von den „einäugigen“ Kyklopen gesprochen; jedoch bedeutet das Wort Kyklop „Rundauge“ (GEISAU, Kyklopen 393,23) bzw. „Kreisauge“ (KLAUSEN 2). Die alternative Deutung „von rundem Aussehen“ (EITREM, Kyklopen 2328,33 ff.) würde die kegelartigen Vulkanberge ebenfalls treffend charakterisieren. „Einäugig hießen die Kyklopen bei Euripides ausdrücklich (Cycl. 21. 174)“, und es läßt sich nicht bezweifeln, daß Homer unter dem Namen Kyklopen einäugige Riesen verstand, … schon weil dem Polyphem nur ein Auge ausgebohrt wird“ und er dadurch erblindete (KLAUSEN 7). 140 Od. 10,113; vgl. 400. – So sind „die Kyklopen in Felsenhäuptern“ (KLAUSEN 6). 141 Od. 9,190–192. 142 Od. 9,388 ff. – „Feurige Augen haben besonders chthonische Wesen“ (EITREM, Kyklopen 2344,9 f.). 143 Od. 9,387–390. 144 Od. 9,167. 145 Od. 9,395 f. 146 Od. 9,481 f., 499, 537 ff. 147 Od. 9,275 ff. – Alle Naturgewalten, so auch die Stürme, „kümmern sich nicht um die herrschenden Götter“ (Od. 12,289). 148 Nicht nur als feuerspeiende Berge, allein schon „in landschaftlicher Hinsicht zeichnen sich die Vulkane mit ihrer isolierten … Kegelgestalt, mit ihrer harmonisch-ruhigen und doch so überaus eindrucksvollen Form, mit ihren dunklen drohenden Farben über dem üppigen Grün, dem blauen Meere, vor allen anderen Berggestalten aus“ (PHILIPPSON, Mittelmeergebiet 28). 149 „Vulkanische Formen und aktiver Vulkanismus bestimmen allerdings nur an wenigen Stellen das Landschaftsbild. Entlang des Abfalls der ägäischen Flachsee gegen das südägäische Becken angeordnet, gehö-

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2. Die Irrfahrtgeschichte

wohl aber das Naturphänomen Vulkanismus. Denn von mykenischer bis zur klassischen Zeit gab es im griechischen Erdraum keine Vulkanausbrüche. So ereignete sich die große Explosion des Vulkans Santorin im Süden der Ägäis, dessen Reste die Inseln Thera und Therasia bilden, bereits zu minoischer Zeit, nämlich in der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr.150 Der mythisch überhöhte Hügel Mosychlos auf der Insel Lemnos in der Nordägäis, die Homer dem Schmiedegott Hephaistos zuweist,151 trat lediglich als Erdfeuer in Erscheinung,152 und vom Vulkan der Halbinsel Methana im Nordosten des Peloponnes ist nur aus dem Jahr 375 v.Chr eine Eruption bekannt.153 Also, „in Griechenland war kein Vulkan tätig bis zum 4. Jh. v. Chr., in Italien schwieg der Vesuv bis zum Jahre 79 n. Chr. Nur der Ätna auf Sizilien und der Stromboli im Tyrrhenischen Meer waren aktiv, so weit die historische Überlieferung zurückreicht“.154 Daher lernten die Griechen erst zu homerischer Zeit aktive Vulkane kennen, nämlich als sie die trennende Schranke des offenen Ionischen Meeres überwanden und den süditalienisch-sizilischen Raum entdeckten.155 Die griechischen Seefahrer erblickten zuerst den kolossalen Ätna, der an der Ostküste Siziliens steil dem Meere entsteigt und „der größte Vulkan Europas“ ist.156 Dass dieser stets aktive Vulkan den frühen Griechen als unheimlicher Gigant erschien, der die Phantasie beflügelte, braucht nicht betont zu werden, und die Zeitgenossen Homers, die das gewaltige Naturphänomen nicht aus eigener Anschauung kannten, dürften die unglaubliche Kunde von den rauchenden und Steine werfenden Kegelbergen sicherlich ebenso unglaublich und märchenhaft empfunden haben, wie wir die Kyklopengeschichte der Odyssee. Und weil sich das homerische Publikum im Zeitalter der beginnenden Kolonisation wohl besonders für Neuigkeiten aus der ‚Neuen Welt‘ im fernen Westen interessierte, durfte das faszinierende Naturphänomen in der Irrfahrterzählung des Odysseus nicht fehlen.157 „Der ungeheure vulkanische Kegel des Ätna mit seinen 140 km Umfang“, „dessen Flanken von unzähligen parasitischen Kraterbergen bedeckt sind“,158 wurde von zahl-

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ren zu den vulkanischen Bildungen Ägina, Poros und Methana am Ausgang des Saronischen Golfes, die Kykladeninsel Santorin und die Dodekanes-Inseln Nisyros, Gyali und Teile der Inseln Patmos, Kalymnos, Kos und Tilos“ (LIENAU 100). Seit dem frühen 20. Jh. wird behauptet, der Vulkan Santorin sei um 1520 v. Chr. explodiert (z. B. HENNIG, Erdfeuer 244). Wie jedoch jüngste Untersuchungen beweisen, ereignete sich der Ausbruch bereits „zwischen 1660 und 1613“ v. Chr. (SCHMITT 1). Ilias 1,593; Od. 8,283. „So schwindet der angebliche Vulkan, der auf Lemnos bis zu Alexander’s Zeiten thätig gewesen sein sollte, zu einer weit minder gewaltthätigen Erscheinung zusammen, die allerdings auch überraschend und bemerkenswerth genug war, um Gegenstand der Mythenbildung zu werden“ (NEUMANN/PARTSCH 316). Strab. 1,3,18. Ovid. met. 15,296–306. Paus. 2,34,1. PHILIPPSON, Mittelmeergebiet 27. „Das weite, inselfreie Ionische Meer im Westen Griechenlands war im frühen Altertum ein Hindernis für die Schiffahrt“ (PHILIPPSON, Mittelmeergebiet 82). „Ob die alte Odyssee Italien kannte, ist zweifelhaft, in den jüngeren Partien ist ein ziemlich lebhafter Verkehr zwischen dem westlichen Griechenland und Unteritalien, sowie Sicilien zu bemerken“ (BERGK 789). PHILIPPSON, Mittelmeergebiet 26. „Die Menschen hören immer am liebsten das neueste Lied, das just im Schwang ist“ (Od. 1,351). PHILIPSON, Mittelmeergebiet 26.

2.1 Abdrift ins Ungewisse

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reichen antiken Autoren mit den Kyklopen im allgemeinen und dem homerischen Polyphem im speziellen identifiziert, angefangen bei Euripides über Thukydides und Diodor bis Vergil und Ovid u. a.159 Angemerkt sei ferner, dass den Ätna „zuerst die chalkidischen Seefahrer kennen lernten, in deren Heimat die Kyklopensage altheimisch war“, und dass sodann „die chalkidischen Kolonien Siciliens, Naxos und Leontinoi [sie lagen nördlich und südlich des Ätna] als eigentliche Heimat der sicilischen Kyklopen galten“.160 Der Ätna bildete also die naturräumliche Vorlage für den gesetzlosen Kyklopen Polyphem, und „im Altertum wurden die engen Beziehungen zwischen den vulkanischen Spuren am Ätna und der Kyklopenfabel genau erkannt und bei jeder Gelegenheit betont“.161 Da Odysseus vor Erreichen des im fernen Westen positionierten Polyphem keine Meerenge durchfuhr, und auch danach bis in unmittelbare Nähe seiner Heimatinsel gelangte, ohne eine Meerenge zu passsieren (Skylla und Charybdis musste er erst später durchleiden!),162 ist der grausame Polyphem, den das Epos als alleinstehend163 und mächtigsten aller Kyklopen164 charakterisiert, im Westen des Ionischen Meeres zu suchen – vorausgestzt, es gilt weiterhin die Devise , die fiktive Irrfahrt spiele im geographischen und nicht mythischen Raum. So trifft die Schilderung eindeutig auf den „gewaltigen Ätna“ zu,165 der ca. 3.340 m hoch und unter den italienischen Vulkanen ebenso peripher wie singulär ist. Dagegen treten die anderen Vulkane in Gruppen auf, so im Bereich der Liparen166 und am Golf von Neapel.167 Der seit Menschengedenken tätige Vulkan Ätna, der höher und steiler dem Meere entsteigt als der griechische Olymp, war das erste Anzeichen, das die frühen Griechen bei ihren Fahrten übers offene Ionische Meer vom sizilianisch-süditalienischen Raum erblickten. Folglich konnte die Irrfahrtgeschichte ihn nicht unerwähnt lassen, zumal „den antiken Lesern“ die Irrfahrt „des Odysseus historische Ereignisse waren, die Homer mit dichterischer Freiheit nacherzählt“. „So sind in das Polyphemabenteuer die Erfahrungen der ‚großen griechischen Kolonisation‘ eingeflossen“.168

159 Die Kyklopen hausen, „mindestens seit Epicharm [spätes 6. Jh.], auf Sizilien. Vielleicht setzte sie schon der Hesiod zugeschriebene Katalogos dorthin“ (SCHERLING, Polyphemos 1811,21 ff.). Eur. Kykl. 297. Thuk. 6,2. Diod. 5,6,3. Verg. georg. 4,170 ff. Ovid. met. 14,160. 13,770. ex. P. 2,2,115. Ovid. fast. 4,287 ff. Cic. Verr. 2,5,146. Cic. Att. 2,13. Tib. 4,1,56. Kallim. h. 141 ff. 160 ROSCHER, Kyklopen 1689,46 ff. u. 59 ff. mit antiken Belegen. 161 HENNIG, Geographie 20 f. 162 Siehe (Hinfahrt von Troja zum Polyphem) Od. 9,39 f., 61–84, 100–106, 177 ff. sowie (Abfahrt vom Polyphem bis Ithaka) 471 ff. 543 f., 562 ff.; 10,1 u. 10,28 ff. (die Meerenge von Skylla und Charybdis durchfährt Odysseus erst im 12. Gesang). 163 Od. 9,192. – „So steht Polyphem unter den Kyklopen als ein Besonderer da: wie ein ungeheurer hagestolzer Bergstock sondert er sich von der Kette seiner Brüder“ (MEULI, Odyssee 79). 164 Od. 1,70. 165 PHILIPPSON, Mittelmeergebiet 26. 166 Die Vulkane im Raum der Liparen sind Stromboli, Vulcano, Vulcanello, Lipari und Fossa. 167 Nämlich der Vesuv und die bis 459 m hohen phlegräischen Felder mit den Vulkanen Roccamonfina, Monte Nuovo, Astroni und 30 weiteren Explosionskratern, sowie auf Ischia der Epomeo. 168 GRETHLEIN 130 u. 132. „Bereits im sogenannten Dunklen Zeitalter operierten griechische Händler in der weiten Welt des Mittelmeeres“ (ders. 132).

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2. Die Irrfahrtgeschichte

Aber ist die Deutung des rundäugigen homerischen Polyphem, der im gesamten Klassischen Altertum als „die Personifikation des Ätnakraters“ galt,169 mit dem Itinerar des Odysseus vereinbar? Im Gegensatz zur ersten Etappe der Irrfahrt, nämlich vom griechischen Kap Malea zum Land der Lotophagen, gibt der Vers über die Fahrt vom Lotophagenland zu den Kyklopen weder die Fahrtrichtung noch die Fahrtdauer an.170 Falls dem fiktiven Reisebericht des Odysseus ein geographisch stimmiges Itinerar zugrunde liegt, was ja seit seiner Abfahrt von Troja der Fall ist, dann besteht kein Zweifel über den gewählten Kurs: Schließlich wusste Odysseus, der im Epos die Geschichte seiner Irrfahrt ‚selbst‘ erzählt, dass ihn der Nordwind zu den Lotophagen verschlagen hatte und er sich folglich südlich von Griechenland befand. Deshalb hätte sich der Held nicht noch weiter von seiner Heimat entfernt, d. h. er wäre vom Land der Lotophagen171 weder nach Osten in Richtung Ägypten gefahren, noch nach Westen in die im Altertum wegen ihrer unberechenbaren Strömungen und Sandbänke gefürchteten Syrte,172 sondern nordwärts, zurück zum griechischen Erdraum. Indes, die direkte Heimfahrt von der Cyrenaica zum westgriechischen Inselbogen erforderte eine über 600 km lange Etappe übers weite Meer, auf der ein nordnordwestlicher Kurs gehalten werden musste. Mit den damaligen technischen Möglichkeiten hätte Odysseus vom unbekannten Lotophagenland aus gar nicht wünschenswert exakt über das offene Libysche Meer navigieren können,173 zumal die Orientierung am Sternenhimmel zumindest während des letzten Teils der Seereise nicht möglich war.174 Und so landete er auch nicht in heimatlichen Gewässern, sondern bei den primitiven Kyklopen. Der erforderliche Nordnordwestkurs in Richtung Heimat war dem Odysseus also nicht geglückt. Allerdings hatte er auch keinen Nordkurs gesteuert, denn dieser hätte seine Schiffe zum Peloponnes oder Kreta geführt, also in griechische Gefilde, die ihm bekannt waren.175 Wenn ein Seefahrer wie Odysseus während der langen Meeresüberquerung von der Cyrenaica aus versehentlich nur um einige Grade westlicher navigiert hätte, d. h. anstatt des zielgerichteten Nordnordwestkurses einen Nordwestkurs realisierte, dann wäre er wohl in den Westen des Ionischen Meeres gelangt, das von der süditalienischen Küste und der Insel Sizilien begrenzt wird.176 Und in dieser Weltgegend westlich von Grie169 SCHERLING, Polyphemos 1811,39. 170 Od. 9,103 f. erzählt nur, dass die Schiffe über „die schäumende Salzflut gerudert“ wurden. 171 Von welchem Küstenabschnitt der Cyrenaica der Dichter seinen Helden starteten ließ, ist nicht zu ermitteln, und so darf man spekulieren, dass Odysseus seine Fahrt vom Strand der späteren Hafenstadt Apollonia antrat, die in der Antike als Hafenstadt von Kyrene diente. 172 GÄRTNER, Syrtis 475,8 ff. (mit Bezug auf Hor. c. 1,22,5; 2,6,3 f. Lucan. 9,303 ff.). Vgl.a. Acta 27,17. 173 Man vergleiche z. B., wie orientierungslos sich selbst die Argonauten fühlten, nachdem sie in die Syrte verschlagen worden waren (Apoll.Rhod. 4,1250 ff.; 1568–1578). 174 Od. 9,143 ff. 175 Odysseus kannte Kreta (Od. 13,256 f. 14,252 f., 299 ff., 382 f.; 19,164 mit 172, 186 ff. mit 203, 338) und die Peloponnes, der sein Inselkönigreich vorgelagert war (v. a. Od. 21,343–347. S. a. Od. 4,634 ff.; 13,272–279; 15,297 ff.; 24,430 f.). 176 Wenn Odysseus bei der weiten Fahrt übers offene Meer nur ca. 20–35 Grad vom idealen Kurs abgekommen wäre und somit anstatt des NNW-Kurses einen NW-Kurs realisiert hätte, dann wäre er an der süditalienischen Halbinsel Kalabrien gelandet.

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chenland verortete der Dichter tatsächlich das Kyklopenland, denn das Eiland Aiolia, zu dem Odysseus unmittelbar nach den Kyklopen gelangt, liegt ausdrücklich westlich der westgriechischen Inselheimat des Helden.177 Folglich befindet sich auch das Land der Kyklopen in der dichterischen Vorstellung westlich von Ithaka und somit jenseits des Ionischen Meeres. Zu homerischer Zeit hätte „niemand eine Karte von Sizilien oder vom italienischen Festland zeichnen können“,178 zumal den frühgriechischen Kolonisten das riesige Sizilien als Festland erschien und der schmale Südzipfel Italiens, nämlich das vom Jonischen und Tyrrhenischen Meer umspülte Kalabrien, eher als Insel, wie es z. B. die ‚Homerische Erdkarte‘ von Albert Forbiger darstellt.179 Bei der Rekonstruktion des Itinerars der Irrfahrt ist also dieses homerische Weltbild zugrunde zu legen. Der Dichter lässt Odysseus mit seinen zwölf Schiffen180 vom Lotophagenland (Cyrenaica) kommend, nicht sogleich beim Polyphem eintreffen, der einsam die Ostküste Siziliens beherrscht, sondern zunächst auf einer fruchtbaren und gebirgigen „Insel (νῆσος)“ landen,181 von der aus er mit seinem Flaggschiff zum Polyphem übersetzt. Indes, im Westen des Ionischen Meeres, nahe Sizilien, gibt es keine hinreichend große Insel, die der Beschreibung des Odysseus entspricht.182 Da aber zu homerischer Zeit, wie u. a. Gregor Wilhelm Nitzsch betont, „alle Kunde von Italien immer nur auf einzelne Punkte lautete, die man [damals noch] in kein Ganzes zu fassen vermochte“, konnte man v. a. die Südhalbinsel Italiens als „ein von Meer umströmtes Land [νῆσος] und ebenso gut eine Halbinsel bezeichnen“.183 Somit kann die von Odysseus besuchte Insel durchaus (das heutige) Kalabrien gewesen sein,184 dessen Südzipfel in der vorklassischen Zeit des Altertums den Namen „Italia“ trug, der mit zunehmender griechischer Kolonisation zunächst ganz Kalabrien und schließlich die ganze Apenninenhalbinsel umfasste.185 Auch die geomorphologischen Indizien der Irrfahrterzählung weisen nach Kalabrien: Die damals noch namenlose (Halb-) Insel, auf der Odysseus zunächst eintraf, bietet

177 Odysseus benötigte neun Tage, um mit Westwind (Od. 10,25) von Aiolia aus übers offene Meer bis kurz vor Ithaka zu gelangen (10,28 ff.). 178 FINLEY, Sizilien 37. – „Diese ganze westliche Gegend scheint aber diesen Sängern [der Odyssee] nur durch ein dunkles Gerücht bekannt gewesen zu seyn, so daß man nicht angeben kann, ob sie das, nachher Italien genannte, Land als Halbinsel oder Insel sich dachten“ (UKERT, Homer 29). 179 FORBIGER, Bd. I, Tafel 1. Und GROTEFEND (276) urteilt über „Italien“ zu homerischer Zeit: „Niemand ahnete daselbst festes Land, sondern jedes Küstenland, das man befuhr, wurde so lange für eine Insel gehalten, bis man ihren Zusammenhang mit dem übrigen Continente entdeckte“. 180 Od. 9,159. Ebenso Ilias 2,637. 181 Od. 9,116, 543. – Diese „Ziegeninsel“ ist selbst für Gregor Wilhelm NITZSCH (I 267) nicht minder real wie das ägyptische Eiland „Pharos“ (Od. 4,53), das Homer ebenfalls „nur aus Schiffersagen“ kennt. 182 Vgl. Od. 9,116–148. 183 NITZSCH II 76. 184 Wer „in der historischen Topographie vertraut ist, weiß, daß Calabria im Altertum die südöstliche, jetzt Terra d’Otranto genannte Halbinsel, heute die südwestliche Halbinsel, das alte Bruttium, bezeichnet“ (OBERHUMMER, Ithaka 18). 185 Hekat. FGrH 1 F 80–85. Seit HERODOT (1,24; 3,136. 138; 4,15) erstreckt sich der Name „Italia“ bis Metapont bzw. bis Tarent, und noch für THEOPHRASTOS (h. plant. 5,8,1) lag Latium außerhalb Italiens.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

zwar bewaldete Gebirge,186 aber keine Kyklopen; dennoch ist sie „nicht grade weit vom Land der Kyklopen entfernt und doch auch nicht nahe“.187 Dementsprechend ist Kalabrien von waldreichen Gebirgen geprägt,188 und im Gegensatz zu den umliegenden Landstrichen und Inseln (Campanien, Liparen, Sizilien) weist Kalabrien tatsächlich keine aktiven Vulkane auf. Immerhin hätte Odysseus, wie er behauptet, von dieser (Halb-) Insel aus die Kyklopen erblicken können,189 denn von Kalabrien aus sind im Westen die Feuerberge der Liparischen Inseln und im Südwesten der monströse Ätna sichtbar.190 Der „Rauch des Kyklopenlandes“,191 den Odysseus schon von seinem Ankunftsort bemerkte, stießen die auch damals tätigen Vulkanen Stromboli192 und Ätna193 aus, die in westlicher und südwestlicher Richtung beide jeweils ca. 60 km von der kalabrischen Südküste entfernt liegen. Den Erdraum der Kyklopen, der für das homerische Publikum im fernen Westen lag, preist Odysseus als ein sehr fruchtbares und somit für Kolonisten hervorragend geeignetes Land: „Wiesen finden sich dort an den Rändern des schäumenden Meeres, gut bewässert und weich, und der Weinstock trüge unendlich. Ebener Boden ist da zum Ackern, tief wurzelt die Feldfrucht, immer könnten sie schneiden zur Zeit, so fett sind die Gründe“.194 Diese überschwängliche Darstellung des gebirgigen Kyklopenlandes kennzeichnet vortrefflich den süditalienisch-sizilischen Erdraum, schließlich ist „Italien nebst Sizilien das fruchtbarste aller Mittelmeerländer“.195 Die erhöhte Fertilität resultiert besonders aus dem Vulkanismus, denn „es gibt kaum einen fruchtbareren Boden, als denjenigen, der aus Verwitterung der vulkanischen Gesteine entsteht, und selbst die nur wenig von der Zersetzung betroffenen vulkanischen Aschen bieten der Kultur, besonders dem Wein- und Ölbau, die denkbar besten Bedingungen“.196 Deshalb bevorzugten die griechischen Kolonisten des homerischen Zeitalters die damals noch dünn besiedelten Küsten Siziliens und Unteritaliens, und infolge dieser Landnahme wurde die auf einer primitiveren Kulturstufe stehende einheimische Bevölkerung verdrängt.197 In der Kyklopenerzählung findet die von den frühen griechi186 Od. 9,118 ff. 187 Od. 9,117; vgl. 166. 188 Der Süden Kalabriens besteht aus dem Sila-Gebirge (von lat. silva, „Wald“), das in der Gegenwart das „Gebirge mit dem größten Waldgebiet Italiens außerhalb der Alpen“ ist (WOLF, Homer/Karte 40). 189 „Nun waren nah die Kyklopen, wir schauten hinein in die Landschaft. Rauch verriet sie selbst“ (Od. 9,166 f.). 190 Vgl. WOLF, Homer/Karte 45; mit Abb. 20. 191 Od. 9,167. 192 „Während die anderen Vulkane“ der Liparen „erloschen sind, Lipara erst in der [römischen] Kaiserzeit, ist Stromboli tätig geblieben, indem der Kegel (926 m) in regelmäßigen Pausen von 5–10 Minuten Dampf, Asche und Steine ausstößt“ (PHILIPP, Strongyle 372,13 ff. mit antiken Belegen). 193 Der Krater des Ätna spie auch während der nicht eruptiven Phasen im Altertum ständig „Dampf und Asche aus“ (HÜLSEN, Aitne 1111,62). Auch im 5 Jh. n. Chr. „war der Berg fast ruhig und erinnerte nur durch seinen Rauch an seine vulcanische Natur (Oros. II 14)“ (a. a. O. 1112,45 ff.). 194 Od. 9,132 ff.; vgl. 9,108 ff., λάχεια (9,116). 195 PHILIPPSON, Mittelmeergebiet 36. 196 PHILIPPSON, Mittelmeergebiet 28. – Vgl. Od. 9,130–135, 358 f. 197 Die von den Griechen auf Sizilien verdrängten Sikaner „lebten auf einer niedrigen Kulturstufe, trieben Ackerbau und lebten in offenen Dörfern“ (ABEL, Sicilia 165,51 ff.).

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schen Seefahrern und Kolonisten angetroffene autochthone Landbevölkerung ihren Niederschlag v. a. in der Gestalt des Polyphem, der auch als ein höhlenbewohnender grobschlächtiger Ziegenhirt dargestellt wird, der keine Landwirtschaft betreibt.198 Die Doppelnatur des von Odysseus besuchten Kyklopen Polyphem, der einerseits wie ein primitiver hühnenhafter Hirt erscheint und andererseits vulkanische Wesenszüge verkörpert, machte die Geschichte noch aufregender und ist mythengeschichtlich nicht einzigartig, wie ähnliche Legenden z. B. von der Vulkaninsel Island belegen.199 Doch warum nahm sich Homer die dichterische Freiheit, den vom Lotophagenland kommenden Odysseus zunächst an der Südspitze der Halbinsel Kalabrien anzulanden, und ihn erst danach zum Polyphem, also zum Ätna übersetzen zu lassen?200 Das Itinerar wäre doch glaubwürdiger gewesen, wenn Odysseus nach der Durchquerung der Wasserwüste des Libyschen Meeres sogleich auf Sizilien mit dem weithin sichtbaren Ätna zugehalten hätte. Dessen war sich wohl auch der Dichter bewusst, und deshalb sorgte er vor der Ankunft für schlechte Sicht, d. h. einen wolkenverhangenen, dunstigen Himmel; zudem ließ er Odysseus nachts bei völliger Dunkelheit im Kyklopenland eintreffen,201 was auch Johann Heinrich Voss bemerkte: „Allein in der sternenlosen Nacht verirrte er nordwärts, und kam an die Ziegeninsel vor dem Kyklopenlande“.202 Dieses Szenario war also der gewünschten Dramaturgie geschuldet,203 denn Odysseus sollte ausschließlich mit seinem Flaggschiff beim Polyphem in Gefahr geraten, während die anderen elf Schiffe im sicheren Abstand vom Vulkan blieben.204 Außerdem sollte sich die Mannschaft vor dem Polyphem-Abenteuer ersteinmal ausruhen und mit Nahrung 198 Dabei handelt es sich um die Passagen, in denen der Kyklop seine Herde hütet und in seiner Höhle Ziegen melkt und Käse herstellt (Od. 9,216–251, 307 ff., 336 ff.). Die Kyklopen betreiben keine Landwirtschaft (Od. 9,107 ff.; 130 ff.). 199 Verwiesen sei v. a. auf die Legende vom Heiligen Brendan im 6. Jh. (KRÜGER 15). 200 Zwar hat Dietrich MÜLDER (Kyklopengedicht 434) analysiert, „dass das anschließende Gedicht von der Ziegeninsel (v. 116–162) [von mir als Kalabrien gedeutet] … aus einem ganz anderen Zusammenhange stammt“ (man beachte v. a. „das jetzt ganz beziehungslose ἔπειτα in v. 116“), aber dennoch gilt es zu prüfen, ob der Dichter das alte Versatzstück zu einem hinreichend stimmigen Itinerar zusammengeflickt hat. – Von den zwei topographischen Details, die Armin WOLF (Homers Reise 302) an meiner Odyssee-Theorie zu monieren vermag (anstatt die Fülle an Fehlern und Ungereimtheiten in seiner Interpretation der Irrfahrt zu überdenken), ist der Vers Od. 9,116, demzufolge die Ziegeninsel sich „flach“ gegenüber der Hafenbucht erstreckt (die Halbinsel Kalabrien ist durch hohe Gebirge gekennzeichnet). Hier muss ich auf den stoffgeschichtlichen Befund verweisen, zumal das beanstandete λάχεια ausgerechnet in der Verszeile steht, in der auch „das jetzt ganz beziehungslose ἔπειτα“ auftaucht. 201 „Finster war es und Nacht, nichts leuchtete, nichts war zu sehen, tiefer Dunst umhüllte die Schiffe; kein einziger Mondstrahl drang vom Himmel herab; das Gewoge der Wolken behielt ihn. Keinem gelang es, ein Blick in das Innre der Insel zu dringen; ja, daß die langen Wogen bereits ans Trockene rollten. Merkten wir erst bei der Landung der Schiffe“ (Od. 9,142 ff.). 202 VOSS, Blätter II 116. Also „hierher, in den Hafen der nahen Insel, führt sie in der Dunkelheit ein Gott: [Od.] X 141“ (NITZSCH III 35). 203 „Vielmehr hat der Dichter mit beachtenswerther Absichtlichkeit dem Odysseus die zwar naheliegende, aber von Kyklopen unberührte Insel zum Landungspunkte gegeben“ (NITZSCH III 30). „Homer beschreibt diese Insel sehr weitläufig“, „neben Sizilien“, „und nur durch eine kleine Enge von derselben getrennt“ (HERMANN 314, Anm. 1). 204 Od. 9,172 ff., 543 f. – Später, im Hafen Telepylos, variiert der Dichter das Thema, indem dort die Flotte des Odysseus bedroht wird, während das Flaggschiff außerhalb des Gefahrenbereichs ankert (Od. 10,95 f., 126 ff.).

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stärken, während der Dichter diese Verschnaufpause nutzte, um den nun erreichten Erdraum mit den Kyklopen vorzustellen. Nach zweitägigem Aufenthalt auf der damals noch namenlosen (Halb-) Insel Kalabrien, die dem mächtigen Kyklopen Polyphem gegenüber liegt, setzte Odysseus mit seiner mental gestärkten Kernmannschaft von Kalabrien nach Sizilien über und hielt direkt auf den riesigen Kegel des Ätna zu, um an dessen steiler Küste zu landen und sich zum Höhlenkrater des Polyphem zu begeben.205 Die Südspitze Kalabriens bildet mit der Ostküste Siziliens, die von Messina bis Syrakus konvex geschwungen ist, eine weit geöffnete Bucht, die vom alles überragenden Ätna beherrscht wird. In der Vorstellung des Dichters ruderte der neugierige Odysseus mit seinen Gefährten wohl über diese Bai,206 um dem alleinstehenden „Polyphem, dem göttlichen, stärksten von allen Kyklopen“,207 einen Besuch abzustatten.208 Dort eingetroffen, zeigte sich der Riese ungastlich und hielt Odysseus samt Gefährten in seiner Höhle gefangen; überdies erschlug er vier der Gefährten und verschlang sie roh.209 Nachdem der Polyphem eingeschlafen war, nahmen der listenreiche Odysseus und die übrigen Gefährten einen angespitzten Baumstamm und stießen ihn dem Ungeheuer ins blutrote Auge, wodurch das Holz sogleich zu brennen begann.210 Infolge der Blendung des Polyphem konnten Odysseus und seine Leute entfliehen, ihr Schiff besteigen und eilig fortrudern.211 Aber die Gefahr war nicht gebannt, weil Odysseus dem tobenden Kyklopen verhöhnende Worte nachrief, sodass dieser zwei riesige Felsbrocken ins Meer warf, die das Schiff nur knapp verfehlten.212 Selbstverständlich ist die Erzählung fiktiv, sie entbehrt aber nicht des Realitätsbezuges: So kann beim Ausbruch des Ätna das Lavagestein tatsächlich bis ins nahe gelegene Meer fliegen, zuweilen gar bis in die Straße von Messina.213 Schon im Altertum wurden die heute „Isole dei Ciclopi“ genannten Basaltklippen,214 die ca. 8 km nördlich der Hafenstadt Catania pittoresk aus dem Meer schauen, „Kyklopenfelsen“ genannt,215 da man in ihnen die mächtigen Felswürfe des Polyphem wiederzuerkennen glaubte, die der wütende Unhold dem Schiff des Odysseus nachgeworfen hatte. Wenn man den homerischen Polyphem als den Vulkan Ätna deutet, dann erhalten die Worte, die der Wüterich aufgrund seiner geblendeten Augenhöhle (sprich: wegen des erloschenen Lichts im Krater) ausrief, eine nahezu orakelhafte Bedeutung: „Keiner

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Od. 9,154 ff. Od. 9,116, 140. Od. 1,70. Od. 9,177–542. Od. 9,288 ff., 311, 344. Od. 9,389. – „Flammenerscheinungen ergeben sich auch, wenn die meist 800 bis 1000 °C heißen Lavaströme mit Pflanzen und Holz in Berührung kommen“ (KOENIG 111). Od. 9,461 ff. „Die Blendung ist der Brennpunkt der [Kyklopen-] Sage, die Erzählung derselben bei Homer voller Anschaulichkeit und ihr hohes Alter nicht zu verkennen“ (MÜLDER, Kyklopengedicht 415). Od. 9,481 ff., 537 ff. Beim Ätnakrater ist hinzuweisen auf das „gelegentliche Ausstoßen vulkanischer Bomben, die bis in die Meerenge von Messina fliegen können“ (HENNIG, Geographie 21). BAEDEKER, Sizilien 81; und der gegenüberliegende Strand heißt Riviera dei Ciclopi. Plin. nat. 3,89: „scopuli tres Cyclopum“; vgl. Stat. silv. 5,3,49. Verg. Aen. 1,201. Sil. 14,514.

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mordete mich mit List oder Stärke“.216 Und der tobende Polyphem, der auch weiterhin „auf gesetzlose Taten sinnt“,217 fügte hinzu: Mein Vater, der Erderschütterer Poseidon, „wird mich heilen, sobald er nur will“.218 Dem Dichter der Odyssee dürfte also bewusst gewesen sein, dass das Licht des mächtigen Kyklopen nur vorübergehend erloschen ist. Eines Tages würde das tote Auge des Ungeheuers wiederbelebt werden, wie auch die Antwort des Odysseus andeutet: „Könnte ich die Seele, die Tage des Lebens so dir entziehen, könnte ich dich doch in das Haus des Hades so sicher befördern, als dir das Auge nicht heilt auch er nicht, der Erderschütterer!“219 Der Erderschütterer Poseidon, der nach altgriechischer Vorstellung sowohl die Naturerscheinung Erdbeben als auch Vulkanismus bewirkt,220 aktivierte alsbald wieder das Rundauge seines Sohnes Polyphem: Ätna-Ausbrüche sind ab dem 6. Jh. v. Chr. überliefert, und in der vorchristlichen Zeit für die Jahre 480, 475, 425 und 396 bezeugt, sowie für die Jahre 135, 126, 121 und um 50 sowie nach 44 v. Chr.221 Insgesamt bleibt festzuhalten, dass „die schon im Altertum am häufigsten vertretende Lokalisierung der Kyklopen Homers in der Umgebung des Ätna“222 den der Kyklopengeschichte zugrunde liegenden geographischen Sachverhalt trifft. Vom gewaltigen Ätna, sprich dem homerischen Kyklopen Polyphem, fuhr das unbeschädigte Schiff des Odysseus zu der nicht weit entfernten Küste zurück, an dem die anderen elf Schiffe und deren Besatzungen ausharrten.223 Als das Flaggschiff eingetroffen war, opferte Odysseus dem Zeus, der jedoch das Opfer missachtete.224 Am nächsten Morgen verließ der Held mit all seinen Schiffen die Küste des inselartigen Landes, das als das heutige Kalabrien anzusprechen ist. Von dort gelangte er zügig zur Insel des Windwarts Aiolos, auf der es, im Gegensatz zum Polyphem, „im Ganzen doch durchaus menschlich zugeht“.225 Zudem wird die gastfreundliche und hochzivilisierte Hafenstadt des Aiolos den primitiven und märchenhaft verklärten Kyklopen, die weder Ackerbau noch Schifffahrt betrieben,226 kontrapositioniert.

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Od. 9,408. Od. 9,189; vgl. 215. Od. 9,520. Denn „ich bin doch sein Sohn und rühmend nennt er sich Vater“ (Od. 9,519). Od. 9,523 ff. Ilias 20,57 ff. – Siehe WARNECKE, Erdbeben 15–29. HENNIG, Erdfeuer 241; Thuk. 3, 116. Pind. Pyth. 1,30 ff. Aischyl. Prom. 366 ff. Plat. Phaid. 111e. Diod. 14,59,3. Obseq. 26. 29. 32. Petron. 122. Lucan. 1,545 ff. Verg. georg. 1,471 ff.; Aen. 3,570 ff. HENNIG, Erdfeuer 241. – So „waren im klassischen Altertum die Vorstellungen von den Kyklopen als früheren Bewohnern der Insel [Sizilien] oder im besonderen als Schmiedegesellen des Hephaistos im Vulkane Ätna sehr lebhaft und weit verbreitet“ (EITREM, Kyklopen 2330,63 ff.). Od. 9,543 f. – So erscheint Odysseus als Städtegründer in Kalabrien (WOLF, Reise 138 ff.). Od. 9,551 ff. MEULI, Odyssee 58. Od. 9,125–141.

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2.1.3 Das schwimmende Eiland des Aiolos Nach der im neunten Gesang der Odyssee ausführlich erzählten Kyklopengeschichte beginnt der zehnte Gesang mit den Worten: „Nun aber ging es zur Insel Aiolia. Aiolos hatte dort seinen Sitz, der Sohn des Hippot(ad)es, des Lieblings der Götter“.227 Diesen mythischen Inselherrscher hatte Zeus zum „Windwart“ ernannt,228 und so drückt schon der Name des „Aeolos Hippotades … das flüchtige Wesen der Winde und das galoppierende Wogen des Meeres aus“, wie Ludwig Preller treffend bemerkte.229 Als göttlich lizensierter Windwart konnte Aiolos die Winde nicht nur „hemmen und jagen, welchen er wollte“, sondern sie auch in Säcke verstauen, um sie zu fesseln oder bei Bedarf zu lösen.230 Jedoch ist der homerische Aiolos nur ein „ferner Windmeister“, „keineswegs aber ein Gott, den die Menschen anzurufen hätten, wenn sie günstiger Winde bedürften“.231 Die „schwimmende“ Insel Aiolia, deren Namen offensichtlich vom Windwart Aiolos abgeleitet wurde, gilt als unausweichlicher Stolperstein bei der geographischen Rekonstruktion der Fahrt des Odysseus, und darauf wies bereits der alexandrinische Bibliothekar Eratosthenes (3. Jh. v. Chr.) mit spöttischen Worten hin: „Man werde die Stationen der Irrfahrt des Odysseus erst finden, wenn man den Sattler fände, der den Windsack des Aiolos angefertigt habe“.232 Aber abgesehen davon, dass die Verknüpfung von Windsack und geographischer Lokalisation in die Irre zielt, weil innerhalb der Erzählung des listenreichen Odysseus die geschilderte Handlung und der geographische Handlungsraum nicht gleichermaßen glaubwürdig sein müssen,233 wird das Zitat meist missverstanden, weil der Kontext unberücksichtigt bleibt: „Dort argumentiert nämlich mit der gleichen Autorität der Antike Strabon gerade gegen Eratosthenes, daß die Kenntnis der Orte zur Vollkommenheit eines Dichters beitrage“.234 Auch ist der Windsack, den Aiolos dem Odysseus mit auf die Reise gibt und der die ungünstigen Winde gefangen hielt,235 keine verklärende Erfindung des Dichters. Denn bei den frühen Seefahrern, auch bei den griechischen, wurde ein aus Ziegenhäuten gefertigter Sack, der dem Aberglaube zufolge die unheilvollen Winde bannte, als eine Art Talisman mit auf die Seereise genommen.236 Ja, „der Glaube, daß die Winde in Säcke ge227 228 229 230 231 232 233

Od. 10,1 f. Den Ausdruck „Aiolos-Insel“ bietet auch Vers Od. 10,55. Od. 10,21 f. PRELLER I 395. – Bzgl. der Metapher der „galoppierenden Wogen“ vgl. Od. 13,81 ff. Od. 10,22 ff., 47 f. – Auch Athene vermag die Winde zu bändigen (Od. 5,383). NITZSCH III 94 u. 86. Strab. 1,2,15. – Der Odyssee (10,19 f.) zufolge stellt Aiolos den Windsack selbst her! Eine gewisse Analogie bieten einige unglaubliche Erzählungen des Freiherrn Hieronymus von Münchhausen, die im geographischen Raum spielen (z. B. die Abenteuer im „Kapitel 1: Reise nach Rußland und St. Petersburg“, oder die Kapitel 4 u. 5: „Abenteuer im Kriege gegen die Türken“. Erwähnt sei auch das „Kapitel 17: Reise durch die Welt“, das u. a. die Geschichten „Im Vulkan Ätna!“ und „Bei den Zyklopen!“ enthält. Und in der Geschichte „Die Kanone“ rettet der Baron Münchhausen sogar Gibraltar; etc. 234 WOLF, Reise 17 (mit Bezug auf Strab. 1,2,9–20). 235 Od. 10,19 ff. 236 „Sein mitgegebener Schlauch war ein Talisman“ (VOSS, Blätter II 301); d. h. „ein Talisman, der die schädlichen Winde durch Zauber fesselte“ (NITZSCH III 93).

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tan werden können, bestand noch im 19. Jahrhundert“.237 So ist der Windsack des Aiolos nicht zwangsläufig, wie in der Homerphilologie oft behauptet, „eine poetische Fiktion des Dichters, sondern derselbe hat nur eine alte, auch griechische Tradition vom Windzauber“ in seine Erzählung eingeflochten, worauf bereits Eduard Schwartz hinwies.238 Folglich sind die Windsäcke und das flüchtig-windige Wesen des Aiolos kein Hindernis, die unterhaltsame Irrfahrterzählung des Odysseus historisch-geographisch zu deuten, sondern einzig die problematische Aussage, das Eiland Aiolia würde „schwimmen“. Das darauf beruhende Mantra der fiktiven Insel wird auch nicht dadurch relativiert oder entkräftet, dass sogar schon viele antike Odyssee-Interpreten das Eiland geographisch lokalisierten, und zwar nördlich von Sizilien im Tyrrhenischen Meer, im Bereich der Liparischen Inseln, die deshalb noch heute auch „Äolische Inseln“ heißen.239 Merkwürdig ist jedoch, dass Antiochos von Syrakus (5. Jh. v. Chr.), der als einer der ersten die Insel Aiolia auf die vulkanischen Liparen bezog, „zugleich an der Ansetzung der Kyklopen am Aitna“ festhielt.240 Zwar ist der Odyssee zu entnehmen, dass sich der Dichter das Eiland Aiolia westlich der westgriechischen Inseln denkt,241 aber wenn weiterhin die Arbeitshypothese gelten soll, dass der Irrfahrtroute des Odysseus ein geographisch plausibles Itinerar zugrunde liegt, dann ist das homerische Eiland nicht unter den Liparen zu suchen: Von dort aus hätte Odysseus nämlich nicht mit anhaltendem Westwind übers offene Meer bis kurz vor seine westgriechische Heimatinsel Ithaka gelangen können, wie es das Epos erzählt.242 Denn zwischen den Liparen und Ithaka liegt – wie ein Sperrriegel – die gebirgige Halbinsel Kalabrien; überdies ist die Achse der Meerenge von Messina, die das Tyrrhenische mit dem Ionischen Meer verbindet, gegenläufig gerichtet, nämlich von Nordosten nach Südwesten.243 Daher erscheint v. a. die Vorstellung des Dichters, wonach die Flotte des Odysseus vom westgriechischen Inselraum durch Stürme postwendend bis Aiolia zurückverschlagen wird, mit der geographischen Lage der Liparen unvereinbar.244 Unabhängig von der Frage, ob das homerische Aiolia näher am liparischen Vulcano zu suchen ist, oder am sizilischen Ätna, von dem aus Odysseus die im Epos vorausge237 SAMSTER 14. – Über den antiken Philosophen Empedokles wird berichtet, dass er Säcke aus Eselshäuten anfertigen ließ, um die Winde zu fangen (Diog. Laert. 8,60). 238 SCHWARTZ 449. 239 Thuk. 3,88. Diod. 5,7. Plin. nat. 3.93. Strab. 2,123 u. a. 240 TÜMPEL, Aiolie 1032,66 f. 241 Od. 10,25 ff. 242 Od. 10,25–30. – „Dann hätte aber den Odysseus der Westwind, den ihm Äolos nachsendete, unverletzt durch die Irrfelsen, oder wenigstens durch Skylla und Charybdis, nach Ithaka hin, und unverletzt durch die selbigen zurück der Sturm ihn geführt. Und nach zwei glücklichen Durchfahrten müßte der arme Dulder zum drittenmale hindurch“ (VOSS, Blätter II 301 f.). 243 Seekarte Nr. 440 (Plan E, Straße von Messina). – Auch drängt sich bei der Liparen-Hypothese die Frage auf, warum der Dichter keine Meerenge nennt und der auf Heimkehr bedachte Held durch die unnötige Fahrt ins Tyrrhenischen Meer sich noch weiter von seiner Heimat entfernt haben sollte. 244 Od. 10,46 ff. – Darüber, wie andere namhafte Altertumswissenschaftler das Problem umschifften, mokierte sich schon Johann Heinrich VOSS (Myth. Briefe I 59): „Mit diesem Zefyr [Zephyros: Westwind] nun, nöthigt Herr Herrmann (S. 341) den Ulysses [lat. Name für Odysseus] von der liparischen Insel Strongyle oder Hiera, der Residenz des Aeolus, wie Herr Hofrath Heyne im gedachten Exkurs ihn gelehrt hat, südlich um Sizilien herumzufahren“.

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setzte freie Fahrt übers offene Ionische Meer in Richtung Heimat gehabt hätte,245 gilt es zunächst die bereits angeschnittene Kardinalfrage zu klären, ob sich das „schwimmende“ Eiland Aiolia a priori der geographischen Lokalisierung entzieht, zumal bedeutende Altphilologen überzeugt sind, „der schwimmende Zustand von Aiolia sei ein Kunstgriff des Dichters, um der Frage nach der geographischen Lage vorzubeugen“.246 Denn, so lautet das diesbezügliche Axiom in der Homerphilologie: Eine schwimmende Insel „fügt sich in keine Erdkunde“.247 Indes, schwimmende Inseln gehören nicht zwangsläufig der Märchenwelt an, weil es in der geographischen Wirklichkeit sogar ganz unterschiedliche Arten schwimmender Inseln gibt: Treibeisfelder und Eisberge, sowie auf dem Meer treibende großflächige Bimssteinbänke248 infolge von Vulkanausbrüchen. Es gibt sogar schwimmende Eilande samt Baumwuchs, die durch Strömungen vom unterspülten Festland oder von Inseln großflächig losgelöst werden.249 Hingewiesen sei zudem auf solche Inseln, die zu schwimmen scheinen, weil sie infolge der Plattentektonik nur zeitweilig auf dem Meer zu sehen sind.250 Auch generieren meteorologische Phänomene251 sowie Luftspiegelungen252 vermeintliche Inseln, die ihren Meeresort wechseln. So war „die Erscheinung von Geisterinseln“ noch im 19. Jahrhundert „in der Seefahrt an der Tagesordnung“, und die daraus resultierenden „Zu- und Abgänge von Inselchen auf den Seekarten“ gehören erst seit dem Zeitalter der Luft- und Raumfahrt der Vergangenheit an.253

245 Od. 10,25 ff. 246 GEISAU, Aiolia 179,57 ff.; so schon ERATOSTHENES (bei Strab. 1,24) und u. a. WILAMOWITZ (Untersuchungen 164). 247 KLAUSEN 9. 248 „Vom Jahre 138 (oder 126) v. Chr. ist gemeldet, daß von mehreren Schiffen, die nach Lipara fahren wollten, nur ein einziges … das Ziel erreichte, da in der Meeresstraße … gewaltige Bimssteinmassen – also ‚schwimmende Inseln‘ – sich ausbreiteten“ (HENNIG, Geographie 18; mit Bezug auf Strab. 4,275 f.). Auch in späteren Epochen trieben bei den Liparen langlebige Bimssteininseln (ders. 17). 249 HENNIG, Paradies 245; mit Datierung, Beschreibung und Abdrift solcher Eilande. 250 „Die durch vulkanische Ausbrüche herbeigeführten Veränderungen auf der Erdoberfläche erstrecken sich besonders auf das Verschwinden älterer oder das Erscheinen neuer Inseln“, und „auf diesen vulkanischen Ursprung vieler Inseln beziehen sich unstreitig auch die alten Mythen“ (FORBIGER I 643, mit Anm. 7; ebd. mit antiken Belegen). Rund um Sizilien gab es seit je her (u. a. Plin. nat. 2,88) „wiederholt submarine Eruptionen“, durch die z. B. im Jahr „1831 zwischen Pantelleria und Sizilien die bald wieder verschwundene Insel Ferdinandea“ auftauchte, deren „höchster Hügel 50 m hoch war“ (PHILIPPSON, Mittelmeergebiet 26). 251 „Oft täuschen niedrige Wolkenbänke dem Seemann ferne Inseln vor, die dann früher nicht selten auf den Karten Eingang fanden und Namen erhielten“, später aber verständlicherweise nicht mehr aufgefunden wurden“ (HENNIG, Paradies 245). 252 „Weitaus am häufigsten sind die Fälle, in denen Luftspiegelungen nahe Inseln vor die Augen zaubern, die nachher nicht wiedergefunden werden können. Hier haben wir die ergiebigste Quelle vor uns, die wieder und immer wieder neue Inseln auf die mittelalterlichen Karten brachte“ und „dem Glauben an Spuk- und Zauberinseln reiche Nahrung“ lieferte (HENNIG, Paradies 246). So sei erwähnt, dass die für das Phänomen namengebende Zauberfee „Fata Morgana“ der mittelalterlichen Artussage „zwischen dem italienischen Festland und Sizilien“ spukte (GRIMVALL 64 f.). 253 HENNIG, Paradies 243 u. 245. Ders. bietet (a. a. O. 241 ff.) eine Liste von Eilanden, die auf optischen Täuschungen beruhten.

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So wurde noch vor einem Jahrhundert auf die „auch in der Erdkunde noch immer schwimmenden Inseln“ hingewiesen,254 weil die geographische Position vieler Eilande nicht hinreichend exakt ermittelt war. Aber trotz inzwischen präziser Fixierung dürfen selbst moderne Geographen in einem wissenschaftlichen Werk von den „auf blauen Meeresfluten schwimmenden Inselfluren“ sprechen.255 Und auch der bedeutende Geograph Alfred Philippson erblickte gegen Mitte des 20. Jhs. von einem Berggipfel des Peloponnes „auf dem Meere schwimmend Ithaka, Kephallenia und Zante [Zakynthos]“.256 Die diversen Beispiele zeigen, dass der poetisch wirkende Ausdruck „schwimmende Insel“ nicht zwangsläufig ein fiktives Gebilde bezeichnen muss, und schon gar nicht bei einem Dichter des 8. Jhs. v. Chr.! Denn in „der Antike ist die Vorstellung von schwimmenden Inseln ganz geläufig“;257 und sogar etliche Seen und Ströme wiesen nach antiker Vorstellung schwimmende Inseln auf.258 Auch Homer verweist auf real existierende Inseln, die angeblich schwimmen, namentlich Ortygia bzw. Delos.259 Bedenkt man zudem, dass das griechische Wort für Insel (νῆσος) „eigentlich das schwimmende Land“ bedeutet,260 dann hätte der Verfasser der Odyssee, auch ohne seine dichterischen Freiheiten wahrzunehmen, nahezu jede Insel als schwimmend bezeichnen können. Aufgrund der geläufigen antiken Vorstellung von schwimmenden Inseln ist es also an der Zeit – trotz der spöttischen Bemerkung des Eratosthenes über den Sattler des Aiolos –, endlich den altertumswissenschaftlichen Tabubruch zu begehen und die seriöse Frage zu stellen, ob das homerische Eiland Aiolia geographisch zu bestimmen ist? Für die Suche nach der Insel Aiolia ist zunächst die Aussage des Odysseus zu beachten, er sei von Aiolia aus mit tagelang anhaltendem „Westwind“ nonstop über das Meer gesegelt und dadurch bis in Sichtweite seiner Heimatinsel Ithaka (Kephallenia) gelangt.261 Da Aiolia in der Vorstellung des Dichters also westlich der Heimat des Odysseus liegt, von der sie nur durch ein offenes Meer getrennt ist, muss Aiolia im Westen des Ionischen Meeres platziert sein. Zudem darf das Eiland nicht westlich der Ostküsten Kalabriens und Siziliens gesucht werden, weil Odysseus ja wusste, dass er auf der Überseefahrt vom Land der Lotophagen (Cyrenaica) in Richtung Heimat zu weit nach Nordwesten vom Kurs abgekommen und deshalb zu den Kyklopen gelangt ist. Auch wenn seine Orientierung am Rande der damaligen Oikumene zu wünschen übrig ließ, so war ihm sicherlich bewusst, dass seine Heimat irgendwo östlich vom Polyphem (Ätna) lag, und das wurde ihm durch den Westwind, mit dem er von Aiolia 254 255 256 257

PONTEN 227. PHILIPPSON/KIRSTEN II 547. Ähnlich PONTEN 234. PHILIPPSON/KIRSTEN III 207. RADERMACHER, Odyssee 19; man denke v. a. an Delos (Hom. h. 3,72 ff.) und an die Strophaden (Apoll.

Rhod. II 285). 258 Hdt. 2,156. Theophr. h.plant. 2,4,4,13. Sen. N.Qu. 3,25. Plin. nat. 2,95,96; 3,12,17. Plin. epist. 8,20. Mart. Cap. 9,1. Varro l. l. 4 p. 20. Macr. Sat. 1,7. Dion. Hal. 1,15 u. 19. 259 Hom. h. 3,72 ff. 260 BENSELER 621; vgl.a. Aesch. Pers. 299: θαλασσόπληκτος. 261 Od. 10,25–29. – Dieses Szenario bestätigt, dass das homerische Ithaka die große Insel Kephallenia ist und nicht das kleine Theaki (das sog. Ithaka), das östlich hinter Kephallenia liegt.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

bis in Sichtweite seiner Heimat gelangte,262 zur Gewissheit. Setzt man voraus, dass der Irrfahrterzählung ein plausibles Itinerar zugrunde liegt, dann darf sich Odysseus vom Kyklopenland aus nicht noch weiter von seiner Heimat entfernt haben. Also, das homerische Aiaia liegt „östlich vom Kyklopenlande“.263 Ein nennenswertes Eiland, das im Westen des Ionischen Meeres nahe Kalabrien oder Sizilen liegt und somit die geographischen Bedingungen der Insel Aiolia erfüllt, findet man beim Blick auf die Seekarte jedoch nicht, und deshalb ist man schnell geneigt, das homerische Aiolia aufgrund heutiger geographischer Realitäten in der dichterischen Phantasie zu verorten. Aber im frühen Altertum gab es ein solches Eiland: Es hieß Ortygia,264 war der Ostküste Siziliens unmittelbar vorgelagert und bildete die Keimzelle der aufblühenden Hafenstadt,265 „die zuerst Syrako hieß und seit Archias [2. Hälfte 8. Jh. v. Chr.] zur großstädtischen Syrakusai sich erweiterte“.266 Die Insel wurde sodann durch eine Brücke mit der gegenüberliegenden sizilianischen Küste verbunden, auf der sich die Stadt schon kurz nach ihrer Gründung ausdehnte. Der Brücke folgte ein Damm, der die Altstadt mit der festländischen Neustadt von Syrakus verband, wodurch Insel- und Festlandsteil der antiken Großstadt zusammenwuchsen.267 Trotzdem spricht noch Thukydides hinsichtlich Ortygia im geographischen Sinne von nesos (νῆσος: „Insel“), „auf der heute [im 5. Jh. v. Chr.], nicht mehr vom Wasser umflossen, die Innenstadt liegt“.268 Andere antike Autoren gebrauchen das Wort Νῆσος (bzw. dor. Νᾶσος, Νᾶσσος) gar als Ortsnamen für die Innen- bzw. Altstadt von Syrakus.269 Indes, auch ohne die geographische Analyse des Itinerars der Odyssee hätte man folgern können, dass „Aiolia“ ein von Odysseus erfundenes Pseudonym für das alte Eiland Ortygia ist. Denn der homerische Apollonhymnos nennt ebenfalls eine „schwimmende“ Insel, nämlich die Ägäisinsel Delos,270 die schon früh den zweifelhaften Anspruch erhob, das göttliche Ortygia – und somit ursprünglich schwimmend – gewesen zu sein.271 Aber, so mahnte schon Johann Heinrich Voss: „Die Geschichte kennt nur Eine Ortygia, 262 Od. 10,25–30. 263 VOSS, Blätter II 302. 264 In der Odyssee wird das westliche „Ortygia, wo die Sonne sich wendet“ (Od. 15,404) wiederholt genannt (u. Od. 5,123) – Dagegen bezeichnet das Ortygia im Homerischen Hymnos an Apollon (3,16) das Eiland nahe Delos (ebenso Pind. pae. 7 c [frg. 19,26]. Kallim. h. 1,59. Apoll.Rhod. 1,537). 265 „Aus Thukydides VI 3,2 resultiert die Annahme, die Gründungssiedlung sei ausschließlich auf Ortygia angelegt gewesen“ (DRÖGEMÜLLER, Syrakusai RE 818,62 ff.). 266 VOSS, Myth. Briefe III 148. 267 „Nach archäologischem Befund … wurde Syrakusai von vornherein als Doppel- oder Brückenkopfsiedlung angelegt, d. h. zugleich auf der 40 ha großen Insel … und auf der gegenüberliegenden Festlandszunge“ (DRÖGEMÜLLER, Syrakusai KP 460,35–46). 268 Thuk. 6,3,2. 269 DRÖGEMÜLLER (Syrakusai RE 816,53 ff.) mit Verweis auf Hes. POxy 1358 F 2. Pind. Olymp. 6,92, P. 2,6. Strab. 1,23; Diod. 5,3. 270 Hom. Hym. 3,71 ff. Eine „Streitfrage ist die, ob Delos bei Homer [Od. 6,162] auch Ortygia [Od. 5,123; 15,404] heisse“. Auch gilt es zu bedenken: „Einen Beinamen hat Apollon bei Homer weder von Delos noch von Pytho“ (NITZSCH II 110). 271 Hom. Hym. 3,16, 102; s. a. 70 ff. – Hinzuweisen ist, „daß der Dichter bzw. Zusetzer von Vers [Hom. Hym. 3,] 16 mit Ortygia nicht Rheneia meinte, da diese ja selbst Vers 44 genannt ist“ (SCHMIDT, Ortygia 1525,3 ff.).

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nämlich die kleine Insel, hinter welcher in der 11. Olympiade die Korinther Syrakusa erbaueten; obgleich spätere Priestersage den Namen nach Delos und Efesos zog“.272 Und Voss fährt fort: „Ohne Zweifel also ist auch bei Homer die sicilische gemeint, sowohl hier [Od. 15,404], als Odyssee V 123, wo Artemis den Orion in Ortygia erlegt haben soll; denn nach Sicilien erstreckten sich Orions Großthaten noch bei Hesiodus“.273 Beim homerischen Terminus „schwimmende Insel“ ist also nicht nur an Delos zu denken, sondern v. a. auch an Ortygia, das einst weit westlich von Griechenland lag und sich im frühen Altertum auf die Insel Syrakus bezog.274 Und deshalb wählte Odysseus in seiner Irrfahrtgeschichte, die ausschließlich Pseudonyme nutzt, für das Eiland nicht den damals üblichen Namen Ortygia, sondern Aiolia. Bevor dargelegt wird, weshalb der vom mythischen Aiolos abgeleitete Inselname auch auf Syrakus verweist, ist zunächst zu prüfen, ob das syrakusische Eiland Ortygia der prägnanten Beschreibung der Insel Aiolia zu Beginn des 10. Gesangs der Odyssee entspricht: „Nun aber ging es zur Insel Aiolia. Aiolos hatte dort seinen Sitz, der Sohn des Hippotes, des Lieblings der Götter. Diese Insel schwimmt; eine eherne Mauer umkreist sie ohne Lücke und Riß, ein Fels schießt glatt in die Höhe“.275 Zudem erfahren wir, dass sich innerhalb des Mauerrings276 eine „Stadt mit herrlichen Häusern“ befindet277 sowie der „Palast“ des Herrschers Aiolos.278 Syrakus wies schon seit homerischer Zeit ein ansehnliches Stadtbild279 mit parallelen Straßenzügen und regelmäßigen Häuserblocks auf, und es war damit eine der ersten griechischen Städte, denen eine zukunftsweisende Stadtplanung zugrunde lag.280 Schon bald nach der Gründung der schnell wachsenden Stadt bedeckten die Häuser das ganze 40 Hektar große Eiland, und so präsentierte sich das Syrakus der vorklassischen Zeit als eine ausgesprochene „Inselstadt“,281 die, wie – die Odyssee und später – Thukydides berichtet, bereits in frühester Zeit von einem geschlossenen Mauerring umgeben war.282 Auch den enormen Wohlstand der Einwohner von Syrakus spiegelt das Epos wider, das Aiolos und seine Sippe schlemmend vorstellt: „So speisen sie allzeit miteinander und 272 VOSS, Blätter II 295. 273 VOSS, Blätter II 296; mit Bezug auf Diod. IV 87. 274 Angemerkt sei, dass „Ortygia [bereits] durch Odyssee V 123 und XV 404 als ein ‚im äußersten Westen‘ gelegenes“ Eiland gekennzeichnet ist (SCHMIDT, Ortygia 1523,26 f.), und so wurde „diese Homerstelle [Od. 15,404] auch auf das syrakusische Ortygia bezogen“ (dies. 1524,24 f.; mit antiken Belegen). 275 Od. 10,1–4. 276 Od. 10,3 f. Das Wort χάλκεος (Od. 10,4) bedeutet „von Erz gemacht“ und ebenso „wie Erz, hart, unverwüstlich, stark“ (BENSELER 981); vgl. Od. 3,2, wo der Himmel πολύχαλκος ist. – Dennoch wird die „eherne Mauer“ Aiolias oft als „unzugängliche, steile, glatte Felsenküste“ gedeutet (GEISAU, Aiolia 184,27 ff.). Dabei ist Aiolia keineswegs „unzugänglich“, denn Odysseus landet dort mit seinen zwölf Schiffen zweimal unproblematisch an und gelangt zügig in die Inselstadt (Od. 10,13, 56 ff.). 277 Od. 10,13. Als Ausdruck des Wohlstandes wird betont, dass die Bewohner nachts „fest in Decken gehüllt in Betten mit Löchern für Gurte“ schliefen (Od. 10,12). 278 Od. 10,5. 279 „Mit Recht konnte [bereits] Hekataios FGrH 1 F 74 eine Stadt innerhalb solcher Grenzen als πόλις Σικελίας μεγίστη bezeichnen“ (DRÖGEMÜLLER, Syrakusai KP 463,49 ff.). 280 RANDSBORG II 292. DI VITA 269 ff. 281 LEHMANN-HARTLEBEN 60. 282 Thuk. 6,3,2; ebd.: „In späterer Zeit wurde auch die Vorstadt in die Mauer einbezogen“.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

Essen ist da in üppiger Fülle. Überall duftet im Hause das Fett und Gesänge ertönen den ganzen Tag“.283 Dieses schwelgerische Wohlleben wurde im griechischen Altertum für die Sizilianer sprichwörtlich.284 Bei der Darstellung der Inselstadt Aiolia hebt Odysseus ein landschaftliches Charakteristikum hervor, nämlich „den Felsen, der glatt in die Höhe schießt“.285 Damit ist offensichtlich das über 60 m hohe, schroff abfallende Küstenmassiv Epipolai gemeint,286 das „eine die ganze Stadt beherrschende Höhe nordwestlich neben derselben ist, welche, mit in den Bereich der Befestigungen gezogen, besonders dazu beitrug, Syrakus zu einer der stärksten Festungen der alten Welt zu machen“.287 Namentlich Thukydides verweist bei seiner Schilderung der Flottenexpedition Athens gegen Syrakus mehrfach auf das Massiv „Epipolai, eine steile Anhöhe hart über der Stadt“.288 Das Felsmassiv barg die seit dem Altertum ebenso berühmten wie berüchtigten Steinbrüche von Syrakus, in denen „insgesamt 2,4 Millionen m3 Steine gebrochen wurden“;289 das entspricht ungefähr dem Volumen der Cheopspyramide!290 Der Name des Felsmassivs, Epipolai, ist doppeldeutig: Er wird meist als „über die Umgebung hervorragend“ gedeutet,291 bedeutet aber eigentlich „obenauf schwimmend“.292 Weil das etwa 1,6 km lange und 650 m breite Ortygia eine überschaubare Insel war, brauchte Odysseus nach seiner Ankunft auf Aiolia nicht, wie sonst üblich, Kundschafter auszusenden.293 Unmittelbar an der Inselküste, wo die Schiffe lagen, schöpften Odysseus und seine Gefährten nach ihrer Ankunft zunächst Trinkwasser.294 Möglicherweise ist dies der älteste literarische Hinweis auf die vielgerühmte Arethusa-Quelle von Syrakus, die auf „der Nordseite der Insel Ortygia als starke Quelle hervorbricht und in den großen Hafen mündet“.295 Und „diese Insel mit ihrem vortrefflichen Hafen mußte den Seefahrern so frühe, als die Sikanen [Sizilianer], bekannt sein“.296 Das für die Seefahrt verkehrsstrategisch günstig platzierte Eiland Ortygia avancierte spätestens seit dem Zeitalter Homers zum „eigenständigen Umschlagplatz des griechischen Welthandels“.297 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297

Od. 10,9 f. U. a. Plat. rep. 3,404d. Athen. 1,25e. Od. 10,4. Das an drei Seiten vom Meer umgebene Felsmassiv misst „in seiner größten Nordsüdausdehnung 3,6 km, in seiner Ostwestausdehnung über 7 km“ (DRÖGEMÜLLER, Syrakusai RE 817,17 f.). FORBIGER III 530, Anm. 1. Thuk. 6,96,2. Vom „Steilabhang von Epipolai“ spricht THUKYDIDES zudem in 6,97; 6,101,1; 6,103. DRÖGEMÜLLER, Latomiai 515,12 f. Die Cheopspyramide hat ein Volumen von 2.592.968,4 m3 (GOYON 234). Thuk. 6,96,2: διὰ τὸ ἐπιπολῆς τοῦ ἄλλου εἶναι („über die Umgebung hervorragend“). BENSELER 329. – Da es jedoch grotesk erscheint, sich das mächtige Felsmassiv auf dem Meere schwimmend vorzustellen, war der antike Name vielleicht eine scherzhafte Reminiszenz an die Odyssee, die das Eiland Aiolia doppeldeutig als πλωτός („schwimmend“ oder „schiffbar“) bezeichnet. Vgl. Od. 9,87 ff., 172 ff.; 10,100 ff., 203 ff. Od. 10,56. ZIEGLER, Arethusa 531,42 ff.; die früheste Erwähnung bei Pindar Nem. 1,1. – Der Quellenname „Arethusa“ taucht auch im homerischen Ithaka auf (Od. 13,408). Vgl. GEYER 35. VOSS, Blätter II 296. Homer versteht unter „Sikanen“ (Od. 24,307) Sizilien. DRÖGEMÜLLER, Syrakusai KP 463,9 f. Bereits „für die Zeit des mykenischen Handels bezeugt eine Nekropole mit 53 Gräbern“ einen Hafenort auf Ortygia (DRÖGEMÜLLER, Plemmyrion 926,31 ff.). Und

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Folglich charakterisiert der listige Odysseus das Eiland, das er unter dem Pseudonym Aiolia nennt, möglicherweise nicht als eine „schwimmende“ Insel, wie mit Blick auf die vermeintlich märchenhaften Elemente der Odyssee meist übersetzt wird, sondern als eine „schiffbare Insel“, die sich für Seefahrt und Seehandel besonders gut eignet.298 Denn das ionische Adjektiv plôtos (πλωτός),299 mit dem der Dichter das Eiland Aiolia kennzeichnet, bedeutet sowohl „schwimmend“ als auch „schiffbar“,300 worauf u. a. schon Georg Friedrich Grotefend und Friedrich August Ukert hinwiesen.301 Somit ist plôtos auch „das Schiffbare, Beschiffbare“.302 Sicherlich spielte Odysseus in der unterhaltsamen Irrfahrterzählung mit der Doppeldeutigkeit des Adjektivs, denn einerseits galt das alte Syrakus (Ortygia) aufgrund seiner mythischen Insellage als „schwimmend“ und andererseits als bedeutendste griechische Handelsmetropole im Westen als „gut schiffbar“. Während andere berühmte antike Häfen, wie z. B. die der kleinasiatischen Städte Milet und Ephesos, zunehmend verschlammten und verlandeten, konnte der gut schiffbare Naturhafen von Syrakus während des gesamten Altertums sogar die „Overzise Freighters“ aufnehmen, die nicht ‚nur‘ mehrere hundert Tonnen Fracht trugen, sondern vereinzelt gar über tausend Tonnen. So war „the largest merchantman built in antiquity“ der 4.000-Tonnen-Frachter „Syrakusia“, den in der Mitte des 3. Jhs. v. Chr. Hiero II. von Syrakus mit ca. 2.400 Tonnen Getreide beladen ließ.303 Als stichhaltiger Beleg dafür, dass einzelne antike Frachter derart unglaubliche Tonnagen aufwiesen, die erst wieder die Clipper im 19. Jh. erreichten, sei der Frachter genannt, der unter Kaiser Caligula den ‚vatikanischen‘ Obelisken von Ägypten nach Rom transportierte.304 Odysseus, der ja im Epos die Geschichte seiner angeblichen Irrfahrt den Fürsten der Phaiaken ‚selbst‘ erzählt,305 nennt ausschließlich Toponyme, die in der Geographie unbekannt sind. Aber die Homerforschung bemerkte nicht, dass der sprichwörtlich

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„seit dem Beginne des altgriechischen Welthandels war Ortygia [„mit der Hafengöttin Artemis“] ein gefeierter Gnadenort“ (VOSS, Myth. Briefe III 178). Ebenso WOLF, Reise 35; beachte auch auf a. a. O. 242 die ausführliche Anm. 12. Od. 10,3 charakterisiert Aiolia als πλωτη ενι νησω (das Adjektiv taucht nur einmal in der Odyssee auf). „πλωτός, 1) ep. ion. poet. ar. sp. schwimmend, 2) ion. u. sp. schiffbar“ (BENSELER 743). „Doch scheint die Erklärung welche Ukert [Theil 1, S. 24]“ mit Bezug auf Diodor (V 10) „giebt, annehmbarer: πλωτός durch εὔπλωτος zu erklären: eine Insel, zu welcher man leicht zu Schiffe kommen kann“ (SCHIRLITZ 52, Anm. 33). Schon GROTEFEND (272) stellte bzgl. Aiolia fest: „Sie wird Od. X,3 πλωτή νῆσος genannt, welches man gewöhnlich durch ‚schwimmende Insel‘ übersetzt; aber schon Damm hat mit Recht vor einer solchen Übersetzung gewarnt. Πλωτός steht für εὔπλωτος, wie πλεκτός für εὔπλεκτός u. dgl. mehr, und bezeichnet eine Insel, zu welcher man leicht zu Schiffe kommt“. NITZSCH III 87; mit Verweis auf „Herod. II, 102 u. A.“. CASSON, Ships185. „In the subsequent history of shipping, vessels capable of carrying this amount were not designed until the end of the nineteenth century, and then only after the use of iron elements or steel hulls and had been introduced” (a. a. O.). Der auf dem Petersplatz in Rom stehende Obelisk wiegt 322 Tonnen. Da der sperrige Monolith nur auf Deck liegend transportiert werden konnte, lag der Systemschwerpunkt des Schiffes zu hoch. Um ein Kentern des Schiffes auf See zu verhindern, wurden (zusätzlich zum schiffseigenen Steinballast im Kielraum) ca. 850 Tonnen Linsen im Schiffsrumpf verstaut, wodurch das Schiff ausreichend Tiefgang hatte (vgl. CASSON, Ships 188 f.). Od. 9,1 ff.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

listenreiche Odysseus alle Länder und Inseln seiner Irrfahrterzählung mit durchsichtigen Pseudonymen belegt. Das deutete sich bereits bei den rauschgiftsüchtigen Lotophagen an (die Droge „Lotos“ ist das einst berühmte kyrenäische Silphion) sowie bei den bergähnlichen „Kyklopen“ (die „Rundäugigen“ Berge sind Vulkane), und nun auch bei der Insel Aiolia, deren Name vom mythischen Aiolos abgeleitet ist. Denn auch die Aiolos-Insel führt einen leicht zu durchschauenden Decknamen, v. a. weil sie, wie das syrakusische Ortygia, „schwimmend“ genannt wird und das Amt des Aiolos einen konkreten geographischen Raumbezug aufweist. So ist der auf Aiolia lebende Herrscher Aiolos derjenige, dem Zeus das Privileg verliehen hat, die für die Seefahrt günstigen Winde zu bändigen.306 Das märchenhaft erscheinende Amt des Windwartes konnte Aiolos ausüben, weil in Sichtweite nordnordwestlich seines Eilandes der hohe Vulkan Ätna liegt, der im Altertum eine Rauchwolke trug,307 worauf übrigens auch die Kyklopenerzählung hinweist.308 Diese weithin sichtbare Rauchfahne zeigte die Witterung an, vor allem die Windrichtung und Windgeschwindigkeit sowie den Wechsel der Winde oder eine Windstille.309 Auch konnte aus der „stets über der Insel stehenden Rauchfahne … eine Prognose über das in den nächsten Tagen zu erwartende Wetter gezogen werden“, und so war „für die Seefahrer jener Zeit die sonst nicht erhältliche Wetterprognose von besonderer Bedeutung“.310 Natürlich hätte kein Herrscher die Winde „zu hemmen oder zu jagen vermocht“, wie dieses Odysseus dem Aiolos andichtet,311 und wohl deshalb bewirtete Aiolos seinen Gast Odysseus und dessen Gefährten einen Monat lang,312 um günstige Winde für dessen Weiterfahrt abzuwarten! Aber Aiolos hätte z. B. prognostizieren können, ob ein auffrischender Westwind hinreichend stark und dauerhaft für die Überseefahrt nach Westgriechenland war. Zu Beginn der griechischen Westkolonisation, von der die Odyssee ein faszinierendes Zeugnis ablegt, befindet sich in der dichterischen Vorstellung unweit westlich von Syrakus bzw. Ortygia „der Ort, an dem die Sonne sich wendet“,313 um allabendlich unter der scheibenförmigen Erde hindurch in den Osten zu gelangen. An diesem Westrand der Erde verortet Homer auch das mythische Elysion, wo auserwählte Heroen nach dem Tod ein unsterbliches Leben in körperlicher Frische und paradiesischen Verhält306 Od. 10,21 f. – „Die sechs Söhne bedeuten die stärkeren Winde, die sechs Töchter die sanfteren Lüfte, beide sind paarweise vereingt“ (PRELLER I 396; mit Bezug auf Od. 10,5 f.). 307 HÜLSEN, Aitne 1111,62 f.; 1112,45 ff. Vgl.a. PARTSCH, Kephallenia 40. 308 Od. 9,166 f. 309 Schon in der Antike nahm man an, „der Mythos habe ihn [Aiolos] zum Gebieter der Winde gemacht, weil er die Schiffer den Gebrauch der Segel gelehrt und aus den Vorzeichen des vulkanischen Feuers den Wechsel der Winde vorhergesagt habe“ (GEISAU, Aiolia 184,40 ff.). 310 KOENIG 86. – Im römischen Altertum wurden anhand der Vulkane der Liparischen Inseln (auch Äolische Inseln genannt) Windprognosen gestellt. So stieg von der Insel Hiera „Tag und Nacht ein Gluthauch empor … Bei zu erwartendem Süd ziehe sich ein dunkler Rauch über die ganze Insel; bei Nordwind erhebe sich reine Gluth; bei West sei die Ausströmung gemischt. Aus diesen wechselnden Erscheinungen nun könne man das Wetter auf drei Tage vorhersagen“ (NITZSCH III 94; mit Bezug auf Polyb. bei Strab. VI 276 oder 39 f. und I 36). 311 Od. 10,22. 312 Od. 10,14. 313 Od. 15,404. Dass dies „das Syracusische sei, kann kein Zweifel mehr seyn“ (VÖLCKER 57).

2.1 Abdrift ins Ungewisse

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nissen führen.314 Folglich lautet die Botschaft des ionischen Dichters an seine Zeitgenossen, dass auch der mythische Heros Aiolos, der als Stammvater der Aioler gilt, im fernen Westen ein wahrhaft elysisches Dasein führt.315 Wichtiger für das Verständnis der homerischen Aiolos-Geschichte ist aber der genealogische Kontext. So berichtet Thukydides, dass „die Stadt Syrakus durch den Herakliden Archaias aus Korinth besiedelt wurde, nachdem er die [autochthonen] Sikeler von jener Insel [Ortygia] verjagt hatte“.316 Wenn also Odysseus in seiner erfundenen Irrfahrterzählung behauptet, er habe ausgerechnet dort den mythischen Heros Aiolos angetroffen, so ist das genealogisch durchaus begründet, denn Aiolos war der Stammvater der Aioler, die als Vorbewohner des „Peloponnes, besonders von Korinth,“ galten.317 Syrakus war die bedeutendste Gründung Korinths, und dessen hat man sich zu vergegenwärtigen, weil sich erst dann die nun zu erläuternde mythengeschichtliche Bedeutung der odysseeischen Aiolos-Episode erschließt. Nachdem Odysseus mit dem günstigen Westwind des Aiolos das offene Ionische Meer überquert hatte und seine westgriechische Heimatinsel angeblich schon zum Greifen nahe war,318 geschah etwas Unglaubliches: Die misstrauischen Gefährten öffneten den Windsack, infolge dessen die entfesselten Winde die Schiffe wieder zurück zur Aiolos-Insel verschlugen.319 Für die Schilderung der mehrtägigen Fahrt des Odysseus von Aiolia bis in Sichtweite Ithakas und den Sturm, der das Schiff zurückverschlägt, sowie für die erneute Ankunft auf Aiolia und die abermalige Abreise, benötigt der Dichter dreimal so viele Hexameter wie für die Beschreibung der ersten Ankunft und den angenehmen Aufenthalt auf Aiolia.320 Aber warum ist in der Aiolos-Episode das vergebliche hin und her auf dem Meere von derart zentraler Bedeutung? Der Schlüssel für das Verständnis liegt beim mythischen Heros Aiolos, der einen noch berühmteren Sohn hatte, nämlich den tragischen Helden Sisyphos, der in der Ilias der „Aiolide“ heißt321 und als „Gründer oder König von Korinth“ galt.322 Über diesen tragischen Helden erzählt Odysseus den Phaiaken: „Ja, auch Sisyphos sah ich, der leidend sich plagte; schob er doch einen riesigen Block mit beiden Händen. Wahrlich, er stieß ihn hinauf bis zum Gipfel und stemmte dagegen, brauchte Füße und Hände; doch 314 Od. 4,561 ff. „Die Stelle vom Elysion ist unvereinbar mit der ganzen Nekyia, und namentlich auch mit der interpolierten Parthie [Od. 11,568 ff.], wo Minos, der Bruder des Rhadamanthys [der nach antiker Vorstellung im Elysion weilt] und Vertraute des Zeus, in so viel unglücklicherem Loose erscheint“ (NITZSCH III 316 f.). 315 Od. 10,5 ff. – Folglich ist es nicht mehr erforderlich, zwischen dem homerischen Aiolos und dem Aiolos der Sage (dem Stammvater der Aioler) zu differenzieren; vgl. Thuk. 3,102. 316 Thuk. 6,3,2. 317 GEISAU, Aioleis 178,1 ff. (mit Bezug auf Paus. 10,8. 9,22,3). Thuk. 4,42. Strab. 8,1,2. 318 Od. 10,29 f. 319 Od. 10,34 ff. 320 Od. 10,1–16 (erste Ankunft auf Aiolia und Aufenthalt) u. 17–76 (Abfahrt, Ankunft, Abfahrt). 321 Ilias 6,154.– „Die ältesten Aeoliden, die uns als solche genannt werden, sind Sisyphos (Il. VI 154) und Kretheus (Od. XI 237). Ob sie Söhne des Aeolos oder entfernte Abkömmlinge waren, ist aus dem Patronymikon nicht zu ersehen“ (GLADSTONE 83). 322 NITZSCH III 327. Sisyphos kommt aus „Ephyra“ (Ilias 6,152, 210), das bei Homer „der ältere Name für Korinth“ ist (PRELLER II 52).

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2. Die Irrfahrtgeschichte

war es so weit, daß die Höhe endlich er hatte, da drängte der Überschwere ihn abwärts. Wieder rollte der schamlose Stein in die Felder hinunter“.323 Die bekannte Plage des Sisyphos, die für eine sich wiederholende, nicht zum Ziel führende Anstrengung sprichwörtlich geworden ist, dürfte also das Aiolos-Abenteuer in der Irrfahrterzählung des Odysseus evoziert haben: Odysseus trifft auf der Insel Aiolia ein und wird angeblich mit günstigem Fahrtwind in Richtung Heimat gesandt, und so „tauchten am zehnten Tage schon die Gefilde der Heimat auf “ – „und doch sollte es zum Ziele nicht kommen“.324 Denn, so fabelt Odysseus, als er bereits der Heimat derart nahe war, dass er sogar die Menschen erblicken konnte, die das kephallenische Leuchtfeuer bedienten, sei er vor Erschöpfung in tiefen Schlaf gefallen.325 Das nutzten seine misstrauischen Gefährten, um den Sack mit den gefesselten Winden zu öffnen, weil sie darin materielle Schätze vermuteten. Infolge der dem Sack enteilenden Stürme wurde das Schiff zurück nach Aiolia verschlagen,326 von wo aus Odysseus sogleich wieder dieselbe Seefahrt in Richtung Heimat antreten musste und wiederum scheiterte.327 Dabei hatte Odysseus sich redlich bemüht, das Ziel zu erreichen: Tage- und nächtelang hielt er das Segeltau, „keinem anderen Gefährten gab ich es je“;328 jedoch als das Ziel in greifbarer Nähe war, fiel er in sprichwörtlich letzter Minute in tiefen Schlaf, wodurch er zum Ausgangspunkt der Fahrt zurück gelangte. Der verzweifelte Odysseus, der daraufhin erwog, Selbstmord zu begehen, aber „das Dulden und Bleiben wählte“,329 war, wie Aiolos nach der wiederholten Ankunft des tragischen Helden sagte, „den Göttern verhaßt“.330 Dieser Satz unterstreicht die wohl vom Dichter beabsichtigte Analogie zum tragischen Sisyphos, der stets unmittelbar vor Erreichen des Zieles scheitert. So ist darauf hinzuweisen, dass v. a. in der antiken Tragödie Odysseus sogar als leiblicher Sohn des Sisyphos erscheint,331 und so erkannte auch Gregor Wilhelm Nitzsch, dass „uns der kühne Schiffer im Sisyphos erscheinen darf “.332 323 Od. 11,592 ff. „In dem Bilde der Strafe liegt nur die Pein des immerwährenden und vergeblichen Anstrebens“ (NITZSCH III 332). 324 Od. 10,26 f., 29. – „Weinen mußten sie, denn es schwanden die Fluren der Heimat“ (Od. 10,49). 325 Od. 10,29 ff. Somit ist Gregor Wilhelm NITZSCH (III 93) zuzustimmen, „dass der Schlauch eine blosse poetische Maschine ist“: 326 Od. 10,34–55. 327 Od. 10,72 ff. – Mit der vorgelegten Deutung erübrigt sich die leidige Diskussion, „wie Odysseus die schwimmende [Insel Aiolia] zum zweiten Male habe finden können“ (NITZSCH III 87), und auch folgendes Monitum: „Das Wundersamste ist das Zurücktreiben der entfesselten Winde“ (NITZSCH III, Vorwort XXVIII). 328 Od. 10,32 f. 329 Od. 10,53. – Vgl. Verg. Aen. 6,529 (Aeolides). 330 Od. 10,75. – So bemerken Wilhelm SCHMID und Otto STÄHLIN (120), dass im Epos von Odysseus die „Sisyphosnatur dann und wann“ durchscheint. „Sein Name selbst bedeutet den Klugen“ (NITZSCH III 327). 331 Aischyl. frg. 175. Soph. Phil. 417, 1311. Aischyl. Eur. Iph. A. frg. 169. Vgl.a. Plut. qu. gr.43; Hyg. fab. 201. – „Odysseus ist nach einer [genealogischen] Version der Sohn des Laertes, d. h. des Steinhebers, nach einer anderen des Sisyphos, der gleichfalls einen Stein ewig wälzen muss“ (SEECK 271). So ist anzunehmen, „dass Laertes nur ein anderer Name für Sisyphos ist und folglich beide als Väter des Odysseus ganz gleich alt sind“ (ders. 416, Anm. 1). „Die Sage von der Vaterschaft des Sisyphos [bei Odysseus] muß schon früh erzählt worden sein“ (WÜST, Odysseus 1919,13 f.). „Odysseus, der göttliche Dulder des ionischen Epos, war für die Dorer der verlogene Sisyphide“ (WILAMOWITZ, Tragödie 113). 332 NITZSCH III 332.

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Doch vom mythologischen Hintergrund des odysseeischen Aiolos-Abenteuers zurück zur historisch-geographischen Deutung: Wenn der gigantische Polyphem den Ätna verkörpert, dann „paßt dazu gut der Umstand, daß die Insel des Windgotts und der Sitz des Polyphem nahe beieinander gedacht sind, denn Odysseus gelangt aus dem Kyklopenlande in offensichtlich nur sehr kurzer Fahrt nach Aeolia“.333 Die kurze Distanz, die Odysseus zwischen dem gigantischen Kyklopen Polyphem und der Inselstadt des Aiolos zurückgelegt, veranlasste antike Autoren, beide Irrfahrtstationen im Bereich der Ostküste Siziliens anzusetzen. Schon der homerische Zeitgenosse Hesiod habe, wie Eratosthenes vermutet und Strabon überliefert, bei der Erörterung dieser Sationen des Odysseus „nicht nur der von Homer erwähnten Orte, sondern auch des Aetna und der Insel Ortygia vor Syrakus“ gedacht.334 Diesen Sachverhalt hob auch der berühmte Odysee-Übersetzer Johann Heinrich Voss hervor: „Hesiodus nannte unter den Örtern, die Odysseus umirrt habe“, „auch den Ätna“ und „die Insel Ortygia vor Syrakus“.335 Legt man die bisher erfolgten Lokalisierungen der angeblichen Irrfahrtstationen zugrunde, so bleibt jedoch zu fragen, warum Odysseus und seine Mannen von der Südspitze Kalabriens kommend, an der die Besatzungen der übrigen Schiffe des Odysseus während des Kyklopen-Abenteuers ausgeharrt hatten,336 erst noch einen ca. 50 sm langen Abstecher südwärts bis Syrakus gemacht haben sollten, bevor sie das offene Ionische Meer ostwärts in Richtung Heimat überquerten. Die Frage mag kleinlich erscheinen, aber wie die Untersuchung der homerischen Geographie des westgriechischen Inselraumes ergab, folgt der Dichter in der Schilderung raumzeitlicher Vorgänge einem genauen Plan und überlässt beim Itinerar nichts der dichterischen Willkür. Die Routenführung der Fahrt des Odysseus von der Südspitze Kalabriens in Richtung des kephallenischen Inselraums beruht auf dem geographischen Weltbild des Dichters, das im Raum Sizilien nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprach und Syrakus östlicher verortete als die Meerenge von Messina. Denn im gesamten griechischen und römischen Altertum stellte man sich die Lage der dreieckigen Insel Sizilien um nahezu 90° verdreht vor: „Man dachte sich die tatsächliche Ostseite als Nordostoder gar Nordnordostseite, die tatsächliche Nordseite als Nordwestseite, die tatsächliche Südwestseite als Südostseite;“ man „verdrehte also die ganze Insel fast um einen ganzen rechten Winkel“.337 Aufgrund dieser seltsamen Fehlorientierung wurde das Kap Pachynos, das die sizilianische Ostküste im Süden begrenzt und zugleich die Südspitze Siziliens bildet, selbst 333 HENNIG, Geographie 20; vgl. Od. 9,560 ff. u. 10,1. 334 Strab. 1,2,14; übersetzt von Karl KÄRCHER 61. Die Übersetzung von Horace L. JONES (I 85) setzt „(the little island next to Syrakus)“ in Klammern und erweckt damit den Eindruck, der Übersetzer habe dies kommentierend hinzugefügt, zumal es mehrere Inseln namens Ortygia gab. Auch sei kritisch angemerkt, dass JONES auf derselben Seite πορθμός („Meerenge“) mit „the Strait of Messina“ übersetzt (auch wenn diese wohl gemeint ist). 335 VOSS, Blätter II 295. 336 Od. 9,543 ff. 337 ZIEGLER, Sikelia 2468,48 ff. Also „von der genaueren Lage der Insel im Verhältnis zu den umgebenden Ländern und von der Richtung der drei Seiten hatten die Alten keine richtige Vorstellung“ (2468,34 ff.). – Vgl. die Skizze von PRONTERA 206.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

von Strabon, Plinius und anderen Gelehrten „gewöhnlich als Ostkap bezeichnet“,338 das in der Vorstellung der antiken Menschen in Richtung Griechenland wies. Deshalb liess der Dichter den auf Heimkehr bedachten Odysseus zunächst an der geschwungenen Ostküste Siziliens entlangfahren, wodurch er zur Inselstadt Aiolia (Ortygia/Syrakus) gelangte, die in der dichterischen Vorstellung näher an Griechenland lag als der Ätna und die Südspitze Kalabriens. Von Syrakus, der Hafenstadt des Aiolos aus, die immerhin etwas östlicher liegt als das etwas weiter südlich gelegene Kap Pachynos,339 überquerte Odysseus das offene Ionische Meer ostwärts zu seiner Heimatinsel Kephallenia, die antiken Autoren zufolge „in Richtung auf das Sizilische Meer liegt“340 und somit den östlichen Brückenkopf des auf terrestrischer Navigation beruhenden antiken Seeweges zwischen Sizilien und Westgriechenland bildete.341 Für die Meeresüberquerung benötigte Odysseus mit seiner aus zwölf Schiffen bestehenden Flottille angeblich neun volle Tage.342 Diese Zeitspanne erscheint für die West-Ost-Ausdehnung des Ionischen Meeres viel zu lang. Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass „die Alten die Entfernung Siziliens nach Griechenland für größer hielten, als sie tatsächlich ist“.343 Bei der Dauer der Meeresüberquerung ist zudem zu bedenken, dass die homerischen Helden noch mit plumpen Ruderseglern unterwegs waren, weil die Differenzierung zwischen bauchigem Frachtschiff und schlankem Kriegsschiff erst im 6. Jh. v. Chr. erfolgte.344 Hinzu kommt, dass antike Flottenverbände erheblich geringere Durchschnittsgeschwindigkeiten realisierten als einzeln fahrende Schiffe.345 Übrigens dauerte noch im frühen 19. Jahrhundert eine Segelschiffpassage mit den vorherrschenden Westwinden auf einem Frachtkahn von Sizilien bis zum kephallenischen Inselraum immerhin vier bis sechs Tage.346 Infolge der Meeresüberquerung gelangte Odysseus angeblich bis in unmittelbare Nähe seiner Heimatinsel, und damit endet der erste Teil der Irrfahrt, der in der vorliegenden Studie mit den Worten „Abdrift ins Ungewisse“ betitelt wurde. Denn der Dichter ließ Odysseus drei große, seinerzeit weitgehend unbekannte Meere überqueren, nämlich erstens das Kretische Meer zwischen dem südgriechischen Kap Malea und der als Lotophagenland identifizierten Cyrenaica, zweitens das Libysche Meer zwischen der Cyrenaica und dem als Polyphem demaskierten Ätna auf Sizilien, und drittens das

338 ZIEGLER, Pachynos 2075,20 f. Vgl. u.a. Strab. 6,265 f. Plin. nat. 3,87. Mela 2,116. Dion. Per. 467. Eine bessere Orientierung bieten POLYBIOS (1,42,4) und OVID (met. 13,725). 339 Laut LYKOPHRON (Alexandra 1030) landete Odysseus beim Kap Pachynos; auch sei „die ‚Odysseia akra‘ bei Ptolem. III 4,7 und der portus Odysseae bei Cic. Verr. V 87“ an der Ostküste Siziliens genannt (ZIEGLER, Pachynos 2077,4–13). 340 Pol. V 3 (vgl. XXI 26). 341 WARNECKE, Seeweg 271 ff. S.a. PARTSCH, Kephallenia 40. 342 Od. 10,28 ff. Aiolos ließ wohl einen sicheren, lauen Westwind für Odysseus wehen (vgl. 10,19 ff.). – „Liest man die Episode für sich allein, wird man nie auf den Gedanken kommen, dass Odysseus mehr als ein Schiff hat“ (MEYER, Odysseusmythos 271, Anm. 2). 343 DÖRPFELD, Odyssee 243. 344 Also, zur Zeit Homers gab es noch keine schmalen Galeeren (CASSON, Ships 53 ff.). 345 CASSON, Speed 147 f. Zumal „a fleet’s speed is determined by its slowest members“ (ders. 148). 346 HOLLAND 14 f. Vgl. Chr. MÜLLER 15.

2.2 Die Grenze zum Jenseits

243

Ionische Meer zwischen der als Syrakus entlarvten Inselstadt des Aiolos und dem westgriechischen Ithaka. Der Auftakt der angeblichen Irrfahrt des Odysseus hat eine sagengeschichtliche Parallele, denn sie erinnert an die Flucht der Phoker, die, wie Thukydides berichtet, ebenfalls „von Troja gekommen und durch einen Sturm zuerst nach Libyen, dann weiter nach Sizilien verschlagen wurden“.347 Dieser mutmaßlichen historisch-geographischen Vorlage entsprechend, bilden in der Vorstellung des Odysseedichters „Libyen, Sicilien und das südliche Italien einen Halbkreis, der nach Westen dem Dichter die bekannte Erde schließt, und welcher der Hintergrund ist, wo sein Gesichtskreis endet“.348 So hat Odysseus bei den Lotophagen den südlichen sowie bei den Kyklopen und Aiolos den westlichen Horizont des neuen Weltbildes erreicht.349 Dagegen kennt der Dichter der Ilias Sizilien und Süditalien noch nicht.350 2.2 Die Grenze zum Jenseits 2.2.1 Der tödliche Hafen der Laistrygonen Nachdem Odysseus durch die entfesselten Winde mit seinen Schiffen wieder zur Insel des Aiolos zurückverschlagen worden war, empfing ihn Aiolos nicht mehr gastfreundlich, sondern schickte ihn ohne windiges Geleit fort: „Weiter ging nun die Fahrt. Wir waren recht traurig im Herzen. Schmerzliches Rudern zerrieb das Gemüt meiner Männer; die eigene Torheit war daran Schuld: es war kein Geleit mehr zu spüren. Sechsmal wurde es Nacht und Tag und nach stetigem Segeln war es der siebente Tag, daß Telepylos wir endlich erreichten, des Lamos’ ragende Stadt im Land der Laistrygonen“.351 Ohne den günstigen Westwind des Aiolos war es Odysseus nach der erneuten tagelangen Überquerung des Meeres nicht gelungen, seine Heimat auf dem direkten Seeweg zu erreichen; stattdessen traf er in der Hafenstadt Telepylos ein. Unter der Prämisse, dasss die Inselstadt des Aiolos das alte Syrakus war und der Irrfahrterzählung auch weiterhin ein plausibles Itinerar zugrunde liegt, soll nun nach der Stadt Telepylos geforscht werden, deren Hafen „hochberühmt“ war.352 Der erste Versuch, das heimatliche Ithaka von Aiolia aus zu erreichen, erfolgte mit günstigem West347 Thuk. 6,2,3. – Darauf weisen auch die Worte des Odysseus beim Polyphem hin: „Männer Achaias sind wir, wir kommen von Troja, verschlagen hat uns allerlei Wind über große Schlünde des Meeres“ (Od. 9,259 f.). 348 VÖLCKER 108. 349 Dementsprechend erscheinen erst in den letzten Gesängen der Odyssee die Namen Σικανίη (Sizilien; 24,307) und Σικελοί (Sizilianer; 20,383; 24,211, 366, 389). 350 Dass die Odyssee, abgesehen von der Deutung der Kyklopen und dem Eiland des Aiolos, im Gegensatz zur Ilias bereits Sizilien kennt, ist dem Epos explizit zu entnehmen (Od. 20,383; 24,211, 307, 366, 389). 351 Od. 10,78 ff. „In Lamos sahen die Einen den Namen der Stadt, die Anderen den des Herrschers oder Gründers. Nun scheint freilich schon durch [Od.] XXIII 318 die Sache für letztere Meinung entschieden zu werden, da dort die Lästrygonische Telepylos als Stadtname gesetzt ist“ (NITZSCH III 100). 352 Od. 10,87.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

wind, wie der Dichter seinen Helden selbst sagen lässt.353 Deshalb wäre Odysseus bei seinem zweiten Versuch, in die Heimat zurückzukehren, nicht im sizilisch-süditalienischen Erdraum herumgeirrt, sondern er hätte von der Inselstadt des Aiolos wieder den Kurs nach Osten in Richtung Griechenland eingeschlagen. Davon zeugt die erneute tagelange Überquerung des Meeres und der Hinweis, dass die Kephallenen nach dem unverzüglichen Aufbruch noch einen längeren Zeitraum „schmerzlich rudern“ mussten,354 nämlich solange, bis die stürmischen Ostwinde, die angeblich die Schiffe nach Aiolia zurückgetrieben hatten, abgeflaut waren. So gelangten Odysseus und seine Gefährten nach sechstägigem Rudern und zeitweiligem Segeln nach Telepylos.355 In der bisherigen Analyse der Irrfahrterzählung zeichnet sich zunehmend ab, dass der der listenreiche Odysseus seinem Publikum eine fiktive Reise durch konkrete geographische Räume vorträgt, der zudem ein stringentes Itinerar zugrunde liegt. Dabei werden die einzelnen Personen und Völker sowie Länder und Inseln unter erfundenen Pseudonymen genannt, deren Bedeutung jedoch mit dem jeweiligen geographischen Ort korrespondiert. Dies wird sich auch beim Abenteuer in Telepylos zeigen. Und so stellt sich nun die Frage, wo diese „hochberühmte“ Hafenstadt liegt? – Wenn man, wie Odysseus erzählt, von Syrakus aus übers Ionische Meer ostwärts fährt, dann trifft man auf die Westküste des Peloponnes. Dort existierten schon zu homerischer Zeit zwei Städte namens Pylos, nämlich das triphylische Pylos, das ca. 20 km südlich von Olympia lag, sowie das vom triphylischen Pylos 60 km südlich liegende messenische Pylos. Das gesuchte Telepylos zeichnet sich durch einen besonders geschützten Hafen aus.356 Über einen solchen verfügte die Küstenstadt Pylos in Triphylien nicht, denn dort landeten, wie auch aus der Telemachie hervorgeht, die Schiffe am langgestreckten Sandstrand der offenen Meeresküste.357 Dagegen wies das Pylos in West-Messenien einen ausgezeichneten Naturhafen auf, der zudem „hochberühmt“ war, wie es die Odyssee für Telepylos voraussetzt.358 Die Bucht des messenischen Pylos, die in die Südwestküste des Peloponnes tief eingreift, war der einzige sichere Naturhafen an der gesamten Süd- und Westküste des Peloponnes und somit stets von verkehrsstrategischer Bedeutung,359 sowohl handelspolitisch als auch militärisch. So errangen in der Bucht im Jahr 425 v. Chr. die Athener den entscheidenden Seesieg über die Spartaner.360 Im Mittelalter und noch in der Neuzeit diente die Bucht von Pylos den Seemächten als unentbehrlicher Schutz-

353 354 355 356 357

Od. 10,25. Od. 10,78. Od. 10,80 ff. Od. 10,87 ff. Beim sprichwörtlich „sandigen Pylos“ (u. a. Od. 1,93; 11,257; 24,152), das keinen Hafen besaß (Od. 3,4–11, 29 ff., 343–387; 15, 193–216), lagen die Schiffe am Strand (Od. 3,5 mit 10 f.; 15,205 f.). 358 Od. 10,87. 359 Die Bai von Pylos „ist die größte von Land umgebene Bucht der Westseite der Peloponnes, als Sammelund Ruheplatz für große Flotten sehr geeignet und wegen der Lage nahe der stürmischen Südwestecke der Halbinsel von seestrategischer Wichtigkeit“ (PHILIPPSON/KIRSTEN III 386). Zur handelspolitischen Bedeutung von Pylos s. a. Od. 13,272 ff. u. Hom. h. 3,396 ff., 470. 360 Thuk. 4,3–40.

2.2 Die Grenze zum Jenseits

245

und Winterhafen zwischen Italien und der Levante.361 Und dort vernichteten im Jahre 1827 die alliierten europäischen Kriegsflotten die türkisch-ägyptische Armada – es war das Ereignis, das die Unabhängigkeit Griechenlands entschied“.362 Schon die „prähistorischen Verbindungen … zur See auf der Linie Kreta-Apulien“ stützten sich auf die Bucht von Pylos, ebenso „die alten Bahnen kretisch-mykenischer Kultur zur See“.363 Für das homerische Telepylos bietet sich also das „hochberühmte“ messenische Pylos geradezu an, und dafür spricht auch der leicht zu dechiffrierende Name „Tele-Pylos“, der „das ferne Pylos“ bedeutet.364 Denn aus der Perspektive der Kephallenen und – wie noch darzulegen ist – auch aus der Sicht der Phaiaken, denen Odysseus die Geschichte seiner angeblichen Irrfahrt erzählt, ist „das ferne Pylos“ eindeutig das messenische Pylos. Dieses befindet sich von Ithaka (Kephallenia) immerhin ca. 150 km weit entfernt, während das hafenlose triphylische Pylos mit nur ca. 105 km Entfernung deutlich näher liegt. Das messenische (Tele-) Pylos liegt übrigens nahezu exakt östlich von Syrakus,365 von wo aus die kephallenische Flottille die angebliche Meeresüberquerung angetreten hatte. In Telepylos erlebt Odysseus sein größtes Fiasko, denn er verliert in dem „hochberühmten“ Hafen, mit Ausnahme seines Flaggschiffs, seine ganze Flotte samt Besatzungen.366 Um die in der Odyssee geschilderte Handlung angemessen verstehen zu können, sei zunächst ein Blick auf die Bucht von (Tele-) Pylos geworfen: Die Bucht von Pylos greift nahezu halbkreisförmig in die Südwestküste Messeniens ein und ist von Nord nach Süd etwa 5 km lang, von West nach Ost ca. 3,5 km breit. Im Westen wird sie vom offenen Ionischen Meer durch die langgestreckte Insel Sphagia (im Altertum: Sphakteria) abgeschirmt, die zwei Einfahrten in die Bucht offenlässt: Erstens den nur ca. 100 m breiten Sikia-Kanal im Nordwesten und zweitens eine große Öffnung im Südwesten, die eine stattliche Breite von ca. 1.200 m aufweist. Während die neuzeitliche Hafenstadt Pylos nahe der großen Einfahrt im Süden der Bucht liegt, befand sich das antike Pylos im nördlichen Bereich der Bucht,367 der deshalb genauer vorzustellen ist: Die kanalartige Nordwest-Einfahrt wird gebildet durch das südwärts vorspringende Felskap Koryphasion und das Nordende der Insel Sphakteria. Nordöstlich des Felskaps erstreckt sich ein ca. 2 km langer und 1,2 km breiter Binnensee,368 der einst ein Haff bildete, das am Fuß des Kaps Koryphasion mit der großen Bucht in Verbindung stand.

361 „Seit byzantinischer Zeit wurde der Ort Navarino genannt. Die Franken bauten dort 1296 eine mächtige Burg“, die 1417 die Venezianer und 1500 die Türken eroberten (PHILIPPSON/KIRSTEN III 388). 362 PHILIPPSON/KIRSTEN III 386. Die Engländer, Franzosen und Russen waren alliiert. 363 PHILIPPSON/KIRSTEN III 410. Indes „meidet der Seeverkehr der archaischen geschichtlichen Zeit die Umfahrung des Peloponnes und zieht den Weg über Korinth vor“ (a. a. O.). 364 Vgl. Armin WOLF (Reise 48): „Der von Homer genannte Name der Stadt ‚Telepylos‘ kann hier bedeutsam werden: Da der Ort Pylos an der Südwestspitze Griechenlands liegt, soll Tele-Pylos, d. h. Fern-Pylos, vielleicht die ähnliche Lage einer Stadt an einer Landspitze im fernen Westen bezeichnen?“ An das ‚Original‘ im Westen des Peloponnes denkt WOLF leider nicht. 365 Syrakus und das messenische Pylos liegen unmittelbar am 37. Breitengrad. 366 Od. 10,119 ff. 367 PHILIPPSON/KIRSTEN III 387 f. 368 Seekarte 2404 A (Órmos Navarínou).

246

2. Die Irrfahrtgeschichte

antike Hafenbucht

Kap Koryphasion

139 m 100 m

Nehrung

50 m

Sikia-Kanal 50 m

150 m 10 0 m

Bucht von Navarino

50 m

Marathonisi

Insel Sphakteria

Ionisches Meer

1 km

Abb. 9: Der Norden der Bucht von Navarino (Pylos)

2.2 Die Grenze zum Jenseits

247

Die Nehrung, die das Haff im Süden begrenzte, schob sich erst in den vergangenen Jahrhunderten bis zum Kap Koryphasion westwärts vor, und so entstand eine binnenseeartige Lagune, die besonders in ihrem nördlichen Bereich zunehmend verlandet.369 Vom Vorbau der Nehrung, die nun die Lagune von der großen Bucht von Pylos durchgehend abschottet, ist auch die schmale Nordwest-Einfahrt in die Bucht von Pylos betroffen, die zunehmend zugeschwemmt wird. So ist der natürliche Sikia-Kanal, den noch in der Neuzeit die großen Segelschiffe befuhren, heutzutage lediglich für flache Boote passierbar.370 Im Altertum bestand also die Lagune „in der heutigen Form noch nicht, sondern war noch ein Teil der Bucht von Pylos, des ‚Hafens‘ bei Thukydides, worunter die Bucht im ganzen einschließlich der heutigen Lagune zu verstehen ist. Dass als Hafen [sprich: Anlegestelle] im eigentlichen Sinne die sandigen Flachufer der heutigen Lagune benutzt wurden, ist nach den gegebenen Verhältnissen selbstverständlich. Wie weit die Bildung der Nehrung im Süden der Lagune fortgeschritten war, lässt sich nicht näher angeben“, aber sie war schon damals vorhanden.371 Indes, „die Wasserverbindung zwischen Bucht und innerem Hafen, der heutigen Lagune, war noch so breit offen, daß die Athener mit ihren Trieren in genügend breiter Front einfahren konnten, um den Angriff auf die hier liegende spartanische Flotte zu wagen“.372 Auch die zahlreichen schriftlichen Belege aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit belegen, dass „der eigentliche Hafen immer noch die Lagune im Norden [der Bucht von Pylos] war wie im Altertum“.373 So diente die vor Seegang außerordentlich geschützte Lagune, die innerhalb der großen Bucht ein weitgehend geschlossenes Becken bildete, im Altertum als Hafen der Stadt Pylos. In prähistorischer Zeit lag die ‚Stadt‘ etwas landeinwärts nordöstlich der Lagune und verlagerte sich in frühgriechischer Zeit westwärts auf das Koryphasion genannte Kap Navarino,374 das die Lagune vom offenen Meer abriegelt und sowohl die Zufahrt in die große Bucht als auch in die Lagune beherrschte. Um vom offenen Ionischen Meer in die binnenseeartige Lagune zu gelangen, mussten die Schiffe zunächst den knapp 500 m langen und ca. 100 m breiten, beidseits von Steilküsten flankierten Sikia-Kanal (zwischen Kap Koryphasion/Navarino und der Insel Sphakteria/Sphagia) ostwärts passieren und unmittelbar danach, am Südostfuß des Kaps, nordwärts in die Lagune hineinfahren. Denn die Lagune diente der antiken Hafenstadt Pylos als Handelshafen sowie dem Überseeverkehr bei ungünstiger Witterung 369 MEYER, Pylos 2115,65 ff.; im Altertum war die Nehrung nicht geschlossen: „Mit dem Festland hing Pylos [Koryphasion] nur im Norden über den Abschluß der Bucht von Voidokilia zusammen“. 370 PHILIPPSON/KIRSTEN III 387; der Kanal ist inzwischen „durch eine Sandbarre von 0,5 m Tiefe geschlossen“. Noch Ernst MEYER (Pylos 2115, 32 f.) verwies vor einem Jahrhundert auf „den heute noch offenen Sikia-Kanal“. 371 MEYER, Pylos 2115,65 ff. Dass in der Antike die Nehrung „bestand, wird dadurch bewiesen, daß Thukydides [4,13,3] vom eigentlichen ‚Hafen’, die εὐρύχωρια, die offene Bucht, unterscheidet“ (a. a. O.). 372 MEYER, Pylos 2115,65 ff. 373 MEYER, Pylos 2127,1 ff.; mit Belegen. 374 „Strabo berichtet (VIII 4,2 p. 359), das alte Pylos habe nicht an der Stelle des späteren [Pylos-Koryphasion] gelegen, sondern etwas landeinwärts unter dem Aigaleongebirge, das 7 Stadien vom Meer entfernt sei (4,1 Ende)“ (MEYER, Pylos 2122,67 ff.). Vgl. Ptol. 3,14,31.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

als bedeutendster Schutzhafen zwischen dem Ionischen Meer und der Ägäis.375 Dieser Funktion und Topographie entsprechend stellt Odysseus den Hafen von Telepylos vor: „Hochberühmt war der Hafen, in den wir kamen: Schroffe Felsen umgeben ihn links und rechts ohne Lücke; die Ufer springen vor, einander entgegen und werden am Zugang höher; wie eine Rinne so schmal ist die Einfahrt. Dorthin steuerten alle die Schiffe, die doppelt geschweiften, nah aneinander band man sie im geräumigen Hafen; niemals nämlich erhob sich darin eine Welle zur Woge, klein oder groß: es herrschte dort blendende Meeresstille“.376 Die Schilderung der kanalartigen Zufahrt, die von hohen Felsen eingefasst ist, passt ausgezeichnet zum „schmalen Sikia-Kanal“ von Pylos, der von Steilküsten flankiert wird,377 die beidseits bis 140 m Höhe aufsteigen.378 Hinzu kommt, dass die Lagune von Alt-Pylos, die sich hinter der kanalartigen Zufahrt verbirgt und namhafte Geographen als „seichten See“ bzw. „guten Hafen“ beschreiben, tatsächlich ein derart ruhiges Binnengewässer ist, wie die Odyssee rühmt.379 Zudem ist die ca. 2 qkm große Lagune sehr geräumig, wie es vom Hafen der Stadt Telepylos ausdrücklich berichtet wird,380 der sich auch deshalb hervorragend eignet, „Schiffe zu bergen“.381 Außerdem konnten die relativ kleinen Schiffe der frühen Griechen in der Lagune von Alt-Pylos auf die sanft ansteigende sandige Nehrung gezogen werden, und so ließ der Naturhafen für die Seefahrer des Altertums nichts zu wünschen übrig. Die Odysseeverse über den signifikanten Hafen Telepylos, die einen wirklich exzellenten Schutzhafen mit von Felswänden flankierter Einfahrt beschreiben, beflügelten manche Forscher, das homerische Telepylos in fjordartigen Buchten des Schwarzmeerraumes oder gar in Norwegen zu suchen, sodass diese Irrfahrtstation zum geographischen Dreh- und Angelpunkt diverser Rekonstruktionen der Odysseeroute wurde.382 Zwar weisen viele Fjorde von Felswänden flankierte, kanalartige Einfahrten auf, aber in ihnen herrscht keineswegs stets „blendende Meeresstille“, in der sich „niemals eine Welle zur Woge“ erhebt, wie es die Odyssee vom Hafen in Telepylos verlangt.383 Das homerische Telepylos mit seinem „hochberühmten Hafen“ wird als eine „Stadt, mit Agora, König und Königspalast“ beschrieben.384 Bereits in archaischer Zeit erhob 375 Schon „im nördlichen Teil der [Haupt-] Bucht von Navarino [Pylos] verlieren die bei Südsturm eindringenden Wogen ihre Kraft“, weshalb die Schiffe im Winter in letzterem zu ankern pflegen“ (PHILIPPSON/KIRSTEN III 387). 376 Od. 10,87 ff. 377 PIESKE, Koryphasion 1463,17 f. Vom „Felsufer des Sikia-Kanals“ spricht MEYER (Pylos 2118,53 f.). 378 Dem 157 m hohen Nordende der Insel Sphakteria liegt das 139 m hohe Kap Koryphasion unmittelbar gegenüber (vgl. PHILIPPSON/KIRSTEN III 388; Seekarte Nr. 2404 A: Órmos Navaríno). 379 PHILIPPSON/KIRSTEN III 386. 380 Od. 10,92 (κοῖλος). Auch ist der Hafen in horziontaler Ausdehnung „sehr tief “ (Od. 10,125). 381 Od. 10,141. 382 Man denke v. a. an die Odyssee-Theorie von Karl Ernst von BAER (48), für den „das 10., 11. und 12. Buch [der Odyssee] der Schauplatz im Schwarzen Meere ist, weil die Bucht der Lästrygonen so gezeichnet wird, daß ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit von Balaklava [auf der Krim] so in die Augen springt“. In Norwegen lokalisierte die Laistrygonen zuletzt (im Jahr 1983) Christine PELLECH. 383 Od. 10,92 ff. 384 MEULI, Laistrygonen 538,51 f. (mit Bezug auf Od. 10,81, 105–114).

2.2 Die Grenze zum Jenseits

249

sich die befestigte Stadt Pylos auf dem Gipfel des steilen Kaps Koryphasion,385 das die schmale Nordwest-Zufahrt in die Bucht von Pylos beherrscht. Das von Norden nach Süden gerichtete, 1.400 m lange und bis 480 m breite Kap ist nahezu allseits vom Wasser umgeben und war auch in frühhistorischer Zeit lediglich durch eine Nehrung im Nordwesten mit dem messenischen Festland verbunden.386 Die Spartaner, die Messenien jahrhundertelang beherrschten, gaben sowohl dem hochaufragenden Kap als auch der auf ihm liegenden Stadt Pylos den Namen „Koryphasion“.387 Die Vorgängerin dieser hochgelegenen Stadt, die das Vorbild der homerischen Hafenstadt Telepylos war, wird in der Odyssee als „die Steile“ bzw. „die schroffe Höhe“ bezeichnet.388 Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt kommt hinzu: Der Dichter lässt den verängstigten Kundschafter des Odysseus behaupten, in Telepylos als auffälligstes Merkmal neben dem Altkönig Lamos die Königin der Laistrygonen gesehen zu haben, die „groß und hoch wie ein Berg“ sei.389 Dieses Monstrum dürfte das isolierte, 137 m hohe Kap Koryphasion verkörpern, zumal der Dichter eine ebenso verräterische wie einzigartige Formulierung wählt, indem er die Worte oros (ὄρος, „Berg“) und koryphe (κορυφή; dorisch: κορυφά; „Gipfel“) kombiniert: Die mythische Königin von Telepylos erschien also wie der Berg Koryphasion! – Der „Lamos“390 genannte Altkönig führt ebenfalls einen sprechenden Namen, der „Schlund“ bedeutet.391 Der Name bezeichnet offensichtlich den tief eingeschnittenen natürlichen Kanal,392 der zusammen mit dem steilen Berg Korphasion die beiden landschaftlichen Charakteristika der Hafenstadt bildet. In seiner erfundenen, aber geographisch stimmigen Irrfahrterzählung verrät Odysseus seinen mitdenkenden Zuschauern also mittels der Aussagen über den mythischen Altkönig und die amtierende Königin von Telepylos, dass es sich dabei um das ‚ferne Pylos‘ nahe der Südwestspitze des Peloponnes handelt.393

385 „Eine Besiedlung von Koryphasion ist schon in vorgeschichtlicher Zeit erfolgt; dafür sprechen Reste von Steinwällen, deren Blöcke nach Art der kyklopischen Mauern geschichtet sind“, sowie „prähistorische Topfscherben des sog. mykenischen Typus“ (PIESKE, Koryphasion 1463,49–56 f.). 386 PHILIPPSON/KIRSTEN III 386. 387 „Auch die alte Siedlung auf seinem Gipfel, gewöhnlich Pylos genannt, soll bei den Lakedaimoniern Koryphasion geheißen haben“ (PIESKE, Koryphasion 1462,52 f.). Vgl. Thuk. 4,3,2; 5,18,7. Xen. hell. 1,2,18. Strab. 8,339, 351, 353, 359. Paus. 4,36,1. Ptol. 3,16,7 u. a. 388 Od. 10,81. „αἰπύ, das gar nicht einmal hoch bedeutet, sondern steil, jäh“ (KLAUSEN 17). 389 Od. 10,113. – Eine Analogie bietet die Geschichte vom Kyklopenland: „Polyphem ist einem Berg ähnlicher als einem Mann“ (GRETHLEIN 128). 390 Od. 10,81. 391 MEULI, Odyssee 21 (mit Bezug auf Od. 10,81). „Λάμος, λάμιον, τὰ λάμια ist eigentlich der Schlund“ (PRELLER Ib 484). Odysseus ist also zur „Stadt des Schlundes, Lamos, zum lästrygonischen Fernthor Telepylos“ gelangt (KLAUSEN 16); und „nahe am Fernthor, der Stadt des Schlundes, liegt die Insel Aeäa“ (ders. 26). 392 Da der „Schlund“ mehr die Vertikale betont, denken andere Philologen eher an die horizontale Dimension der Wasserstraße (‚Mund‘). So spricht Gregor Wilhelm NITZSCH (III 100) von der „langen Strasse“, und er gibt „dieser Lästrygonenstadt das Prädikat der weithin mündenden“. Und Roland HAMPE (156) übersetzt die Verse Od. 10,88 ff.: „Steile ragende Küsten, einander grad gegenüber, reichen tief in die Mündung hinein und eng ist die Einfahrt“. 393 Sogar der kritische Gregor Wilhelm NITZSCH (III 100) gibt bzgl. der zur Laistrygonenstadt gehörigen Namen zu bedenken, dass „Homer seinen Erzählern immer etwas von Charakteristika beifügen lässt“.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

Im Hafen von Telepylos hat Odysseus, mit Ausnahme seines Flaggschiffes, angeblich seine ganze Flotte inklusive Besatzung (ca. 440 Mann) verloren.394 Denn nachdem die elf Schiffe der Kephallenen in den geschützten Hafen von Telepylos gefahren waren, wurden sie von den Einwohnern der hochaufragenden Stadt mit schweren Steinbrocken bombardiert und vernichtet. Odysseus erzählt, er habe auf seinem außerhalb des Hafens liegenden Flaggschiff nur hilflos zusehen können, wie die Schiffe und ihre Besatzungen „im Innern des ausgedehnten Hafens der Vernichtung“ verfielen,395 weil es ihnen nicht mehr gelungen war, „den überragenden Felsen“ zu entkommen, von denen aus die Steine werfenden Städter die Schiffe zertrümmerten.396 Zwar dürfte die Erzählung des Odysseus fiktiv sein, aber der topographische Rahmen der Handlung ist durchaus realistisch, denn die beinahe geradlinige Ostseite des Stadtberges von Pylos-Koryphasion fällt auf knapp 1 km Länge „in nahezu oder ganz senkrechten Felswänden“ zur Hafenlagune ab.397 So wäre von der Abbruchkante dieser durchgehend 50–100 m hohen Felswände, die ohne vorgelagerten Uferstreifen senkrecht zur Lagune abstürzen,398 das in der Odyssee beschriebene Desaster durchaus möglich gewesen.399 Auch hätte, der Schilderung des Odysseus entsprechend, kaum ein Schiff der Vernichtung entgehen können, weil sich die Ausfahrt der Hafenlagune unmittelbar am Fuß der Felswand befand. Während des Blutbades im geschützten Naturhafen von Telepylos wurden die zahlreichen kephallenischen Krieger angeblich „wie Fische zu ekliger Mahlzeit aufgespießt“.400 Dieser Metapher wird, wie die Erzählung über die Dolionen in der Argonautensage lehrt, die dem homerischen Laistrygonen-Abenteuer auffällig ähnelt,401 eine „besonders stark betriebene Art des Fischfangs“ zugrunde liegen, nämlich der seit prähistorischen Zeiten betriebenen „Lagunen-Fischerei: Viele Fischarten suchen als junge Brut die zahlreichen Strandseen auf, um sich dort zu mästen und erwachsen in das Meer zurückzukehren. Man fängt sie bei dieser Rückkehr in ungeheuren Massen, indem man

394 Od. 10,131 f.; 23,318 f. „Jedenfalls nun lässt der Dichter den Odysseus nicht mit entvölkerten Schiffen heimkehren. Die Zahl von 50 [Mann pro Schiff] schwebte ihm wohl vor“ (NITZSCH III 117). Elf Schiffe (Od. 9,159) zu je 50 Mann (vgl. Od. 8,35, 48), minus je 6 Mann Verlust pro Schiff bei den Kikonen (Od. 9,60), ergibt 484 Mann. Die vier vom Polyphem getöteten Männer (Od. 9,289 f., 311) zählten zur Besatzung des Flaggschiffes, ebenso der vom Laistrygonenherrscher Antiphates vernichtete Kundschafter (Od. 10,116). So entging das Flaggschiff mit ca. 45 Mann der Vernichtung in Telepylos. – THUKYDIDES (I 10) gibt an, dass die Schiffe, mit denen die Griechen nach Troja fuhren (speziell die Boioter und Philoktet) Besatzungen zwischen 50 und 120 Mann aufwiesen. 395 Od. 10,126. 396 Od. 10,131 (Zitat); 121 f. „Es sind auch nicht Steine, wie sie nur Giganten fassen und schleudern können, sondern wie sie Jeder zum Wurf aufrafft“ (NITZSCH III 107; mit Verweis auf Od. 21,371). 397 MEYER, Pylos 2116,48 f. 398 „An der Ostseite von Pylos [Koryphasion] reichte das Wasser noch bis an den Fuß der Felswände, eine begehbare Verbindung unter den Felsen entlang bestand noch nicht“ (MEYER, Pylos 2115,65 ff.). 399 Sogar RADERMACHER (Odyssee 17) urteilt über die Vernichtung der Schiffe im Hafen von Telepylos: „Hier trägt der Bericht ganz offensichtlich den Charakter einer Sage“. 400 Od. 10,124. 401 Apoll.Rhod. 1,954 ff., 989 ff.

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die Öffnungen der Strandseen mit Dämmen, Zäunen, Reusen und Netzen verschiedenster Art absperrt“.402 Besonders gut eignete sich zur Lagunenfischerei die flache und ca. 2 qkm große Lagune von Pylos-Koryphasion mit ihrem schmalen Ausgang zwischen der Nehrung und dem Kap Koryphasion. Auch den in der Lagune befindlichen Kephallenen wurde, wie den Fischen, die Sperrung der Ausfahrt durch die Steine werfenden Bewohner zum tödlichen Verhängnis. Falls der Telepylos-Geschichte ein historisches Ereignis zugrunde liegen sollte, sei darauf hingewiesen, dass Odysseus und seine Trojakämpfer nicht die einzigen geblieben sind, die in der geostrategisch wichtigen Bucht ein verlustreiches Desaster erlitten. So trat der Naturhafen von Pylos-Koryphasion erstmals im 5. Jh. v. Chr. ins Rampenlicht der Geschichte, als dort die Flotte der Spartaner von den Athenern vernichtet und dadurch die erste Phase des Peloponnesischen Krieges entschieden wurde.403 So stimmig die Topographie des homerischen Telepylos auf das messenische Pylos zutrifft, so wenig glaubwürdig erscheint jedoch die von Odysseus erzählte Handlung motiviert:404 Die Schiffe der Kephallenen kamen angeblich übers offene Meer und fuhren in den ausgezeichneten Naturhafen der Stadt, während Odysseus mit seinem Flaggschiff außerhalb der Hafenbucht landete und drei Kundschafter in die hochgelegene Stadt entsandte. Als jene im Palast eintrafen, rief die Königin ihren Gatten Antiphates, der sofort einen der Kundschafter tötete. Die beiden anderen konnten entkommen und zu Odysseus flüchten, der sofort sein Schiff zur Abfahrt rüstete.405 Währenddessen erscholl der Kriegsruf in der Stadt, und von nah und fern eilten unzählige bzw. zehntausend (μύριοι) von Laistrygonen herbei, um die im Hafen liegenden Schiffe der Kephallenen zu zerstören und die Besatzungen gnadenlos zu massakrieren.406 „Die Laistrygonen kamen von überall her und zu Tausenden, sie glichen Giganten, nicht Männern“,407 erzählt der listige Odysseus, was Konrad Schwenck wie folgt kommentiert: „Da man die Menschen der Vorzeit gewaltiger und grösser sich vorstellte, so ist zu vermuthen, dass die Giganten ursprünglich nur die Autochthonen“ bedeuteten.408 Auch die große Anzahl der Laistrygonen ist nicht unbedingt der dichterischen Phantasie zuzuschreiben, da „in mykenischer Zeit vor allem West-Messenien eine der dichtest besiedelten und reichsten Landschaften Griechenlands“ war,409 und so hätten dort 402 PHILIPPSON, Mittelmeergebiet 59. 403 Thuk. 4,3–40. Strab. 8,4,2. 404 „Die Möglichkeit eines Ueberfalls aber bleibt unbegreiflich, wenn die Bedrohten vorher gewarnt wurden, wie dies doch geschehen musste, wenn die flüchtigen Kundschafter vor den Angreifern die Schiffe erreichten“ (KIRCHHOFF 308 mit Bezug auf Od. 10,117 f.). Diese Kritik greift jedoch nicht: einerseits aufgrund der speziellen Topographie des Hafens, in der die Flotille zudem vertäut war (Od. 10,91 f.), andererseits weil das Flaggschiff des Odysseus mit den Kundschaftern ausdrücklich vor der Hafeneinfahrt festgemacht hatte (Od. 10,96). 405 Od. 10,100–132. 406 Od. 10,118 ff. „Auf den Ruf des Antiphates kommen 10.000 Laistrygonen zusammen“ (KLOTZ 295). 407 Od. 10,119 f. 408 SCHWENCK 363; und er fügt hinzu: „Indem die Erdichtung nach und nach wuchs und ausgeschmückt ward, [gelangten die Laistrygonen] zu dem Charakter und Wesen“. 409 MEYER, Messenien 1251,44 ff.

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tatsächlich Tausende von Kriegern mobilisiert werden können. Wie Odysseus zudem berichtet, sei der Heerführer der Laistrygonen der „berühmte Antiphates“ gewesen.410 Denselben Namen führt in der Odyssee der Sohn des pylischen Sehers Melampus,411 den die Homerforschung als einen anderen Antiphates ausweist.412 Wenn man aber das homerische Telepylos in West-Messenien ansetzt, dann könnte der Heerführer Antiphates jedoch durchaus der Sohn des berühmten pylischen Sehers Melampus gewesen sein. Doch warum bescherte Antiphates den Kephallenen, die in friedlicher Absicht gekommen waren und den Laistrygonen nichts Unredliches getan hatten, einen derart feindlichen Empfang? Odysseus selbst dürfte zumindest misstrauisch gewesen sein, sonst hätte er nicht sein Flaggschiff außerhalb des Hafens von Telepylos vertäut und wäre nicht vorsichtshalber in dessen Nähe geblieben. Gewiss, schon vor dem Trojanischen Krieg ließ das Verhältnis zwischen Kephallenen und Messeniern zu wünschen übrig, denn damals suchte Odysseus dort „Sühne beim ganzen Volke, das ihm verschuldet war. Denn Männer aus Messenien hatten aus Ithaka Schafe gestohlen, dreihundert auf Schiffen mit vielen Ruderbänken samt ihren Hirten“.413 Deshalb hatte der Kephallenenkönig Laertes „den jungen Odysseus als Gesandten“ nach Messenien gesandt,414 um Rückgabe oder Entschädigung zu fordern. Die messenischen Schafräuber kamen mit ihren Schiffen sicherlich nicht von den Häfen des Messenischen Golfes, die auf dem Seeweg von Ithaka recht weit entfernt liegen, sondern wohl geradewegs von der Westküste Messeniens, deren Hauptort das von Ithaka 150 km entfernte Pylos-Koryphasion war. So dürfte Odysseus schon als junger Mann im messenischen Pylos gewesen sein, also in jener Stadt, die er in seiner angeblichen Irrfahrtgeschichte mit dem durchsichtigen Pseudonym Telepylos belegt. Wie der redegewandte Odysseus damals den Viehraub mit den Messeniern geregelt hat, erzählt das Epos nicht. Aber selbst wenn er im Streit geschieden wäre, ließe sich nicht erklären, warum das spannungsgeladene Verhältnis nach dem Trojanischen Krieg in unerbittliche Feindschaft umgeschlagen sein sollte, die zur Vernichtung der kephallenischen Trojakämpfer führte. Und doch gibt es, wie aus den homerischen Epen zu erschließen ist, einen triftigen Grund für das Blutbad. Dazu muss jedoch zunächst das homerische Volk der Laistrygonen, das in Telepylos und Umgebung wohnte, identifiziert werden. Da der Volksname ansonsten unbekannt ist,415 drängt sich der Verdacht auf, dass es sich bei den Laistrygonen bloß um ein von Odysseus für seine Irrfahrterzählung erfundenes Pseudonym handelt. Und so bedeutet das Wort „Laistrygonen“ nichts anderes als „Räubersöhne“.416 Odysseus bezeichnet die Bewohner West-Messeniens, die er nach dem Trojanischen Krieg dort antraf, also folgerichtig als „Räubersöhne“, weil es 410 Od. 10,114; vgl. 106, 199. 411 15,242, 243. 412 Vgl. z.B. das Namenregister in der Odyssee-Ausgabe von Anton WEIHER (714): „Antiphates, 1. König der Laistrygonen X 106, 114, 199; 2. Sohn des Sehers Melampus XV 242, 243“. 413 Od. 21,15 ff. 414 Od. 21,20 f. 415 Zudem erscheint „die Deutung des Namens unsicher“ (MEULI, Laistrygonen 538,9). 416 DOEDERLEIN, Nr. 2262 (ληιστηρογονοι = „Räubersöhne“); ähnlich GROTEFEND 273.

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die Söhne der Viehdiebe waren, die ein Vierteljahrhundert zuvor Hunderte von Schafen in Ithaka gestohlen hatten! Den tatsächlichen Namen des Volkes, das damals die Westküste Messeniens besiedelte, erwähnt Homer in der Telemachie. Dort wird berichtet, dass Telemach in Begleitung des Mentor von Ithaka ins „sandige Pylos“ fuhr, das 60 km nördlich des messenischen Pylos an der triphylischen Küste lag. Die Tage, die Telemach bei Nestor im triphylischen Pylos und anschließend bei Menelaos in Sparta weilte, nutzte Mentor dazu, um mit dem Schiff vom triphylischen Pylos aus weiterzufahren und „die hochgemuten Kaukonen“ aufzusuchen, die ihm seit langem „nicht wenig verschuldet sind“.417 Die Kaukonen waren also dasjenige Küstenvolk, das sich aus Sicht der Kephallenen auf dem Seeweg noch hinter dem triphylischen Pylos befand, und folglich sind die Kaukonen an der messenischen Westküste anzusetzen, deren Haupthafen – aus kephallenischer Sicht – das ferne Pylos (Telepylos) war. Die Kaukonen waren „eine früh verschollene Völkerschaft im westlichen Peloponnes“,418 und so basieren sämtliche Lokalisierungen dieses Volkes ausschließlich auf der genannten Odyssee-Stelle.419 Schon im Altertum wurden die Kaukonen als ein vorzeitlicher Volksstamm betrachtet, der „südlich von Triphylien“ an der Westküste Messeniens beheimatet war.420 Es gab aber auch antike Stimmen, die die homerischen Kaukonen weiter nördlich ansetzten, nämlich an der Küste Triphyliens421 oder gar in Elis.422 Derartige Lokalisierungen konnten indes nur erfolgen, weil das triphylische Pylos im klassischen Altertum längst untergegangen war und deshalb das messenische Pylos als das „sandige Pylos“ des Nestor galt (eine irrige Ansicht, die erst die alexandrinischen Gelehrten korrigierten).423 Zudem stellt sich in diesem Fall die kaum zu beantwortende Frage, warum Mentor – von Pylos an der Südwestspitze des Peloponnes – wieder nordwestwärts zurückgefahren wäre, wo er doch auf der Hin- und Rückfahrt nach und von Pylos ohnehin bei den angeblich an der West- bzw. Nordwestküste des Peloponnes vermuteten Kaukonen vorbeigekommen ist?!424 Auch nennt der Fahrtbericht zwischen 417 Od. 3,366 ff. Mentor fuhr mit dem Schiff weiter und nächtigte deshalb am Strand (a. a. O.). 418 BÖLTE, Kaukones 1,65 f. – „The Caucones, since now they are nowhere to be found, although in earlier times they were settled in several places“ (Strab. 7,7,2; übersetzt von H. L. JONES III 291). 419 So „ist alle sonstige Überlieferung über die Kaukonen aus dieser Stelle [Od. 3,366 ff.] herausgesponnen“, auch die des HEKATEIOS über die Kikonen (BÖLTE, Kaukones 65,9 ff.). 420 BÖLTE, Kaukones 65,45 ff.; mit Bezug auf APOLLODOR, der die Kaukonen zum Reich des Nestor zählt, und ARTEMIDOR, der die Kaukonen „Lepreon und das südlich anschließende Gebiet von Kyparisseeis bewohnen läßt“, d. i. der nördliche Teil der Westküste Messeniens. 421 HERODOT (4,148) bezeichnet Paroreaten und Kaukonen als Bewohner Triphyliens. Siehe auch ZENODOT bei Athen. 10,412 A. Ail. var. 1,24 (der Kaukon zum Vater des Lepreus macht; vgl. die Stadt Lepreon in Triphylien). Vgl. Kall. h. 1,39. 422 APOLLODOR bei Strab. 8,345; 342. ANTIMACHOS (frg. 24 K) hat die Stadt Dyme kaukonisch genannt. 423 MEYER, Pylos 2153,23 ff. 424 Wenn das messenische Pylos das von Telemach besuchte Pylos des Nestors gewesen wäre, dann hätte Mentor also von diesem Pylos aus wieder zurückfahren müssen, um die Kaukonen zu besuchen, und dann wieder in Gegenrichtung zum messenischen Pylos, um Telemach wieder in Pylos abzuholen, um dann nocheinmal bei den Kaukonen vorbeizukommen. Jedoch bietet das Epos für dieses hin- und her keinen Anhaltspunkt, und auch bei der Rückfahrt des Telemach von Pylos nach Ithaka, bei der die passierten Küstenorte des Peloponnes genannt werden, hören wir nichts von den Kaukonen (Od. 15,292 ff.).

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Ithaka und dem triphylischen Pylos des Nestor nicht das Volk der Kaukonen, sondern nur die Epeier (sowie die Städte Chalkis und Pheai).425 Die Kaukonen der Odyssee siedelten also südlich von Triphylien, an der Westküste Messeniens. Bemerkenswert ist nun, dass ein Teil der Kaukonen schon früh in den Nordwesten Kleinasiens, in den bithynisch-paphlagonischen Küstenraum ausgewandert ist426 und dort zu den Verbündeten der Troer zählten, wie der Ilias wiederholt zu entnehmen ist.427 Vor allem aus diesem Grund dürften auch die in West-Messenien verbliebenen Kaukonen den Kephallenen feindlich gesinnt gewesen sein. Ein Beispiel dafür, wie vergiftet die Atmosphäre zwischen den Kriegsgegnern auch nach dem Fall von Troja war, bietet Odysseus selbst, der auf der Rückfahrt von Troja zunächst die thrakische Küste ansteuerte, um die Kikonen in Ismaros zu überfallen,428 die Verbündete der Trojaner waren.429 Die Kephallenen wüteten dort gnadenlos, indem sie die Stadt zerstörten, die männliche Bevölkerung ermordeten und die Frauen versklavten. Es gibt übrigens Anlass anzunehmen, dass die thrakischen Kikonen zum Volksstamm der Kaukonen zählten.430 Unabhängig von der Frage, ob auch die Kikonen mit den Kaukonen verwandt waren, ist folgendes augenscheinlich: Als Odysseus mit seiner Flotte später im Hafen der messenischen Kaukonen (Tele-Pylos) eintrifft, wird das grausame Thema der barbarischen Vernichtung lediglich variiert, indem nun die Täter die Opfer sind. Da die Kaukonen, die teils im Westen Messeniens und teils im Nordwesten Kleinasiens siedelten,431 also Kriegsgegner der Kephallenen waren, mussten die Kephallenen im Hafen von Telepylos das Schlimmste befürchten. Deshalb hätte Odysseus, von Troja kommend, bei der Umrundung des südlichen Peloponnes in Richtung Heimat, den Hafen der feindlichen Kaukonen sicherlich gemieden. Aber infolge der Irrfahrt erblickten die Kephallenen nach tagelanger Überquerung des Ionischen Meeres die messenische Küste aus einer ungewohnten Perspektive (zudem wussten sie ja nicht, welche ‚fremde‘ Küste am Horizont auftaucht) und segelten, von Westen kommend, geradewegs in die Hafenbucht des Feindes hinein, die danach wie eine Falle zuschnappte. Nur Odysseus, der wohl schon während seiner Messenien-Mission als junger Mann die signifikante 425 Od. 15,292 ff.; vgl. 2,434. 426 Ein „Volk im nördlichen Kleinasien am Parthenios. Tieion, nach Steph. Byz. auch Pessinus, lagen in seinem Gebiet; zu Strabons Zeiten war es schon verschwunden“ (RUGE, Kaukones 66,51 ff.). 427 Ilias 10,429; 20,329. 428 Od. 9,39 ff. 429 Ilias 2,846; 17,73. – HOMER berichtet, dass die Kaukonen „auch den Trojanern zu Hilfe gekommen sind; von wo, sagt er nicht, vermutlich aber aus Paphlagonien“ (Strab. 8,17,9). 430 So waren die Kaukonen mit den thrakischen Kikonen verwandt, denn „von Strabon 12,542 und anderen wird die Gründung von Tios auf die thrakischen (oder phrygischen?) Kaukonen zurückgeführt“ (DANOFF, Tios 858,60 f.); und Uvo HÖLSCHER (Odyssee 146; vgl. 173) meint, dass die „nichtgriechischen“ Namen „Laistrygones und Artakie … auf thrakische Herkunft“ hinweisen. – Obwohl die Kaukonen in der Ilias (10,429; 20,329) wiederholt genannt werden, fehlen sie im Schiffskatalog, während der Schiffskatalog die Kikonen nennt (2,846; auch 17,73). „Es bleibt unerklärt, warum nicht die … Kaukonen [im Katalog] aufgenommen sind, die doch auch sonst in der Ilias vorkommen“ (NIESE, Schiffskatalog 51). 431 So „dürfte Demetrios [von Skepsis] anläßlich der Kaukonen, die sowohl als Bundesgenossen der Troer (Ilias 10,429; 20,329) wie bei Pylos genannt werden (Od. 3,366), zu seiner langen Auseinandersetzung über das homerische Pylos gelangt sein“ (MEYER, Pylos 2153,60 ff.).

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Hafeneinfahrt passiert hatte, dürfte sich bei der Anfahrt daran erinnert haben und ließ sein Flaggschiff gerade noch rechtzeitig außerhalb der Hafenbucht festmachen, während vor ihm die anderen elf Schiffe, zu denen auf dem offenen Meer wohl kaum Kommunikationsmöglichkeiten bestanden, arglos in die Bucht von (Tele-) Pylos einliefen. Die Erzählung ist somit plausibel motiviert, unabhängig davon, ob sie fiktiv ist oder nicht. Nachdem Odysseus sein Schiff an der Felswand vor der Hafeneinfahrt vertäut hatte, unternahm er nicht selbst die Erkundung, sondern sandte vorsichtshalber drei Kundschafter zur hochgelegenen Stadt. Diesen begegnete am Stadtrand zunächst ein Mädchen, das den Weg aus der Stadt „herunter“ gekommen war, um an der Hauptquelle der Stadt Trinkwasser zu holen.432 Die Schilderung trifft auf Pylos-Koryphasion ausgezeichnet zu, denn die Hauptquelle der Stadt lag nahe der Einfahrt in die Hafenlagune, an der Südostecke des steilen Kaps Koryphasion, und von dort führte tatsächlich der Weg zur Stadt hinauf.433 Der Odyssee zufolge trug die Quelle der Hafenstadt Telepylos den Namen „Artakie“,434 der unter den Homeinterpreten für Verwirrung sorgte. Denn „Artakie“ hieß auch eine in der Argonautensage genannte Quelle nahe der Hafenstadt Kyzikos,435 die an der Propontis (Marmarameer) im Nordwesten Kleinasiens lag. Deshalb nehmen etliche Forscher an, dass die Laistrygonen-Sage in Kyzikos altheimisch war.436 Jedoch ist die damit unterstellte Abhängigkeit der Odyssee-Episode von der Argonautensage keineswegs gesichert,437 zumal es wahrscheinlicher ist, dass dieses Abenteuer in der Argonautensage des Apollonios Rhodios von der Odyssee kontaminiert wurde. Denn „es ist gar nicht zu bezweifeln, dass die Argonautensage sich erst nach der Besiedlung des Gebietes von Kyzikos durch Hellenen auf demselben localisierte und folglich das Local der Quelle Artakia erst nach der Gründung von Kyzikos in diesen Sagenkreis gekommen sein kann“.438 432 Od. 10,102 ff. 433 Der Zugang zur Stadt erfolgte „vor allem von der Südostecke von der Lagune aus, wo ein kleines Stück weniger steiler Abfall vorgelagert ist und ein Weg um die Südkante herumführt. Hier liegt auch ein Brunnen mit gutem Wasser an einer Stelle, wo schon die Athener 425 v. Chr. nach Trinkwasser gruben (Thuk. IV 26)“ (MEYER, Pylos 2116,47 ff.). 434 Od. 10,108. 435 Apoll.Rhod. 1,957. – „Von diesen Gedichten sich eine Vorstellung zu machen ist schwer, wenn nicht unmöglich, da die Argonautenerzählungen nur in späten, gelehrt kompilierenden Fassungen erhalten sind“ (SCHWARTZ 263). 436 U. a. verweist MEULI (Laistrygonen 539,15 ff.) auf „die Quelle Artakie, die nur auf der Arktonesos bei Kyzikos, und nur dort, zu finden ist … Wohl aber wird durch diese Lokalisation die Herkunft des Abenteuers aus der Argonautengeschichte noch wahrscheinlicher“. 437 „Homer könnte ja den Namen der Quelle aus der Argonautensage entlehnt haben, ohne sie in dieselbe Gegend zu versetzen. Man kann darüber aber auch die umgekehrte Meinung haben“, denn „die Geschichte der Argonauten ist doch viel zu wenig untersucht, als dass sich hierüber entscheiden liesse“ (NITZSCH III 106). 438 KIRCHHOFF 289. „Zufällig wissen wir, welches Werk Apollonios für seine Kyzikosepisode benutzt hat, es war die Lokalchronik des Kyzikeners Deiochos. Sicher hat die im frühen siebenten Jahrhundert gegründete Stadt die Argonautenfahrt, sobald sie einmal in die Propontis gelenkt war, mit Interesse an sich gezogen und in ihre eigenen Legenden verwoben. Aber ob diese Legenden überhaupt in eine Argonautendichtung vor Apollonios aufgenommen waren, ist mehr als zweifelhaft; von einem vorhomerischen Epos zu schweigen“ (HÖLSCHER, Odyssee 173).

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Indes, seltsam ist es durchaus, dass die Argonautensage eine Quelle namens Artakie im Nordwesten Kleinasiens kennt, während die Odyssee die gleichnamige Quelle im Westen Griechenlands ansetzt,439 und zwar unabhängig von der vorgelegten Identifizierung von Telepylos mit dem messenischen Pylos. Obwohl eine Erklärung des Sachverhalts nicht unbedingt erforderlich ist, weil gleichnamige Toponyme zuweilen für verschiedene Gegenden belegt sind,440 kann das vieldiskutierte Artakie-Problem nun einer Lösung zugeführt werden: Wie dargelegt, wurde das messenische (Tele-) Pylos in frühgriechischer Zeit vom Volksstamm der Kaukonen beherrscht, der zumindest teilweise in den Nordwesten Kleinasiens, in den bithynisch-paphlagonischen Küstenraum ausgewandert ist. Die kleinasiatischen Kaukonen, die von antiken Autoren bezeugt sind441 und bereits in der Ilias zu den Verbündeten der Trojaner zählen,442 hatten sich früh assimiliert, weshalb das Siedlungsgebiet des Volkes und dessen ethnische Zugehörigkeit in historischer Zeit schwer zu fassen sind. Immerhin ist aufgrund der hier erfolgten Lokalisierung der Hafenstadt Tele-Pylos denkbar, dass der Quellenname Artakie durch die frühzeitliche Wanderung der Kaukonen von der Westküste des Peloponnes in den Nordwesten Kleinasiens gelangte. Diese Annahme wird gestützt durch die Argonautensage, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Quelle Artakie die „ionischen Neleíden“ nennt, worunter – wie Herodot berichtet – „Kaukonen aus Pylos“ zu verstehen sind, die in manchen ionischen Städten Kleinasiens die Könige stellten.443 Da diese kaukonischen Auswanderer von der Westküste Messeniens stammten, an der noch gegen Ende des Trojanischen Krieges der Stamm der Kaukonen saß,444 erscheint nun nicht nur das verlustreiche Abenteuer des Odysseus in der Hafenstadt Telepylos hinreichend motiviert, sondern auch die hier entfaltete These begründet, dass der Quellenname „Artakie“ in der Argonautensage entweder der Odyssee entnommen445 oder mit den messenischen Kaukonen ins kleinasiatische Kyzikos gewandert ist. Zumindest aber darf der Quellenname Artakie nicht länger als Beleg dafür gelten, dass das homerische Telepylos bei Kyzikos in der

439 Denn Odysseus erreicht Telepylos vom Meer im Westen Griechenlands kommend (vgl. Od. 10,25). 440 So besitzt die westgriechische Insel Ithaka eine Quelle namens „Arethusa“ (Od. 13,408), und denselben Namen trägt seit ältester Zeit auch die Hauptquelle von Syrakus (Pind. Nem. 1,1). Indes, die kephallenische Arethusa war die Quelle beim Berghof des Eumaios, der seine Kindheit im Raum Ortygia (Syrakus) verbrachte, bevor ihn Menschenhändler verschleppt und dem Kephallenenkönig Laertes verkauft hatten (Od. 15,403–484). 441 Strab. 8,17; 12,54 f.; 14,678. Das Volk war schon zu Strabons Zeiten verschwunden. 442 Ilias 10,429; 20,329. 443 Hdt. 1,147; ebd. werden die „Kaukonen aus Pylos“ als „Nachkommen des Kodros“ bezeichnet. Dieser Kodros „wurde durch die Herakliden aus dem messenischen Pylos vertrieben“ (GEISAU, Kodros 264,46 f.). Auch „die Kolophonier z. B. rühmten sich, aus dem neleischen Pylos nach Asien gekommen zu sein (Mimnermos bei Strab. 14,634)“ (SCHWARTZ 261). 444 Mentor besucht nach dem Trojanischen Krieg die Kaukonen an der Westküste des Peloponnes (Od. 3,366). 445 „Was Apollonios [in den Argonautika] erzählt … ist Erfindung und setzt die Odyssee voraus“ WILAMOWITZ, Heimkehr 169, Anm. 3.

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Propontis (Marmarameer) anzusetzen sei und die Irrfahrt des Odysseus folglich auch im Schwarzmeerraum spiele.446 Abschließend muss noch die Hirtenmetapher behandelt werden, über die sich Generationen von Homerinterpreten den Kopf zerbrachen.447 So erzählt Odysseus, im Land der Laistrygonen sei folgendes bemerkenswert: „Hirten treiben dort ein und aus zu derselben Stunde, einer ruft und der andere hört es. Ein Schlafloser fände Doppelverdienst als Hirte bei blinkenden Schafen und Rindern. So berühren sich dort die Triften der Nacht und des Tages“.448 Diese orakelhaften Verse verweisen auf zwei Anomalien, nämlich auf den tageszeitlich wechselnden Viehtrieb von Schafen und Rindern einerseits und auf eine seltsame Tag-Nacht-Scheide andererseits. Über beide Phänomene wurde viel spekuliert. So sieht mancher Altphilologe in dem Vers über die Grenze der Nacht und des Tages „eindeutig eine Kunde von Mittsommernächten im hohen Norden“,449 wo es zumindest im Hochsommer aufgrund ganztägiger Helligkeit möglich wäre, die Schafe und Rinder alternierend halbtägig zur Weide zu treiben. Obwohl schon im Altertum ein Zusammenhang mit den hellen Sommernächte im Norden hergestellt wurde,450 dürften Homer und seine Zeitgenossen aber kaum Kunde von der im Sommer stets taghellen Polarregion gehabt haben.451 Und so stellte schon Karl H. W. Völcker in seinem im Jahr 1830 erschienenen Werk ‚Über Homerische Geographie und Weltkunde‘ treffend fest, dass der Dichter von den astronomischen Verhältnissen der „kälteren Gegenden nach Norden … nichts weiß“; „nur Osten und Westen scheidet bei ihm Auf- und Untergang des Helios“.452 Deshalb müssen wir „eine andere Grundlage der Sage vermuthen“,453 die möglichst einen signifikanten Bezug zur geographischen Lage des homerischen Laistrygonenlandes im Westen Griechenlands aufweisen sollte. Die frühen Griechen dachten nämlich, dass die im Westen lebenden Menschen „die untergehende Sonne am längsten sehen müssen“, „denn sie waren ja der westlichsten Sonne am nächsten. Kaum ist auch bei ihnen dieselbe untergegangen, so sehen sie Eos [die Morgenröte] schon wieder im Osten.

446 Vgl. WILAMOWITZ, Untersuchungen 166 f. Bemerkenswert ist sein Zusatz (167): „Es liegt mir aber sehr ferne, in dieser pontischen Localisation das ursprüngliche ermittelt haben zu wollen, wie das freilich wohl auch geschehen ist“. 447 „Diese ganze Stelle, und namentlich der 86ste Vers [des 9. Gesangs] ist von alten und neuen Auslegern falsch, ja ich muss bekennen ungeschickt behandelt und erklärt worden“ (NITZSCH III 101). 448 Od. 10,82–86. – So sind nach Ilias 9,153 f. an der Westküste Messeniens die „Männer begütert an Schafen und Rindern“. 449 Schon Hugo MICHAEL (1) wertet die Hirtenmetapher als „Beweis“ dafür, „dass die Kunde von den Beleuchtungsverhältnissen am Polarkreise schon sehr früh nach Griechenland gedrungen war“. Armin WOLF (Reise 243, Anm. 32) nennt Vertreter dieser Theorie; s. a. HÖLSCHER (Odyssee 145). 450 „Daß die Verse wirkliche Kunde von den kurzen Sommernächten des Nordens wiedergeben, ist seit Krates immer wieder gesagt worden (Schol. HQ zu Od. 10,86; vgl. Schol. Arat. Phaen. 62. Gemin. Elem. astron. 6,10 …)“ (MEULI, Laistrygonen 538,54 ff.). 451 HENNIG, Geographie 74. 452 VÖLCKER 43 f. 453 VÖLCKER 116.

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‚So nahe sind bei ihnen die Wege der Nacht und des Tages’“.454 Diese Interpretation der homerischen Metapher durch Karl H. W. Völcker dürfte den Sachverhalt treffen, obwohl sie den modernen Menschen aufgrund des heliozentrischen Weltbildes befremdlich erscheint. Die von Völcker gebotene Deutung wird durch einen Vers des homerischen Dichterkollegen Hesiod gestützt, der über den fernen Westen sagt, dass sich dort „Nacht und Tag begegnen und einander grüßen“.455 Also aufgrund des kosmologischen Weltbildes war im Westen Griechenlands der Grat zwischen Tag und Nacht, d. h. zwischen Helligkeit und Dunkelheit, derart schmal und schneidend, dass man dort, bis auf eine kurze Dämmerung, fast keine nächtliche Dunkelheit annahm. Und folglich begegnen in der homerischen Metapher die eintreibenden den austreibenden Hirten nicht „gelegentlich“, wie mancher Homerinterpret meint,456 sondern zwangsläufig, eben weil aufgrund der nahezu ganztägigen Helligkeit die Rinderhirten zur selben Zeit ihre Tätigkeit aufnehmen, wenn die der Schafhirten endet.457 Und deshalb könnte ein schlafloser Hirte doppelt verdienen. Nachdem die Metapher der „Triften des Tages und der Nacht“ kosmologisch geklärt ist, stellt sich nun die bedeutendere Frage nach dem alternierenden Viehtrieb, der wohl die Hirtenmetapher evozierte: So ist zu klären, warum im Land der Laistrygonen die Schafe und Rinder zu unterschiedlichen Tageszeiten ein- und ausgetrieben werden. „Schon antike Scholien geben für unsere Stelle die nüchterne Erklärung, daß bei den Laistrygonen die Rinder tagsüber so sehr von Insekten belästigt werden, daß man sie in der Nacht weidete, während die Schafe, durch ihr Fell geschützt, tags weiden konnten“.458 Aber dieses Argument wies für die Interpretation der problematischen Stelle der Odyssee u. a. schon Rudolf Heinrich Klausen zurück: „Mit Recht ist dagegen erinnert, daß in dem Fall ein schlafloser Mann nicht blos in Telepylos, sondern überall zwiefachen Lohn verdienen könnte, da doch Homer dies offenbar als Eigenthümlichkeit des Ortes angibt“.459 Außerdem ist die Erklärung der antiken Scholien unbefriedigend, weil auch die dickwolligen Schafe unter der sommerlichen Mittagshitze leiden, wie z. B. Apollonios in der Argonautensage hervorhebt: „Wie der Sirios aus dem Okeanos hoch empor steigt, der wahrhaft schön und sehr deutlich zu sehen aufgeht, den Schafen aber unermeßliche Drangsal sendet“.460 Aufgrund dessen müssen diejenigen Interpreten der homerischen 454 VÖLCKER 116 f. Vgl. NITZSCH III 101–105. BUCHHOLZ 264. – „Abends und Morgens grenzen Tag und Nacht, die sonst durchaus geschieden sind, an einander … Diese Annäherung aber kann nur am Ende der Welt geschehn, an den Grenzen der Erde, im äußersten Westen, wo die Nacht wohnt. Dort also sind die sonst überall ewig geschiedenen Pfade von Tag und Nacht einander nahe“ (KLAUSEN 17). 455 „Wo die Nacht und Hemera, nahe sich wandelnd, eine die andere begrüßt, um die mächtige Schwelle des Erzes schwingend den Lauf. Wann die eine hinabsteigt, gehet die andere schon aus der Pforte …“ (Hes. theog. 741 ff.). Deshalb spricht KLAUSEN (17) von der „nächtlichen Heimath des Tages“. 456 HENNIG (Geographie 82), der die homerische Metapher lediglich als Wechselweide deutet. 457 Also „dort grüsst der eintreibende Hirt den austreibenden. Denn kaum ist es dunkel geworden, so wird es uch schon wieder hell“ (NITSCH III 102). 458 WOLF, Reise 43; mit Bezug auf Verg. georg. 3,155 f. 459 KLAUSEN 16. 460 Apoll.Rhod. 3,957 f.

2.2 Die Grenze zum Jenseits

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Metapher, die den Rindern die kühlere Nachtweide gönnen, sich fragen lassen, warum die dickwolligen Schafe den teils hohen Tagestemperaturen ausgesetzt blieben? Wer also mit der sommerlichen Hitze und den damit verbundenen Plagen für die Tiere argumentiert, müsste eher annehmen, dass im Land der Laistrygonen sowohl Rinder als auch Schafe nachts zur Weide getrieben und tagsüber in ihren schattigen Ställen bzw. Verschlägen belassen wurden. Keine der üblichen Deutungen der Hirtenmetapher kann bislang die beiden Fragen überzeugend beantworten, warum ausschließlich die Schafe tagsüber gehütet wurden und weshalb der Dichter die Rinder im Land der Laistrygonen ausgerechnet zur Abendstunde austreiben lässt. Die Lokalisierung der Laistrygonen in Messenien bietet nun eine ebenso sinnvolle wie überraschende Erklärung: In der fiktiven Erzählung des Odysseus handelt es sich nämlich bloß um eine scherzhafte Reminiszenz an die griechische Mythologie, die den westlichen Peloponnes als bevorzugtes Terrain der Rinderdiebe ausweist. So hebt in der Ilias der Pylier Nestor rühmend hervor, wie er „wegen des Rinderraubs“ in kraftvoller Jugend den elischen Helden Itymoneus tötete, denn „Beute trieb ich mir ein, und er, die Rinder beschirmend, ward im Vordergewühl von meiner Lanze getroffen“.461 Zum pylischen Sagenkreis gehört auch der in der Odyssee hervorgehobene Rinderraub durch Melampus: So versprach der Gründer von Pylos und Vater des Nestor, König Neleus, seine Tochter „einzig dem, der ihm glänzende Rinder mit breiten Stirnen wieder aus Phylake brächte und Iphiklos’ Macht sie entrisse“.462 Man denke ferner an den tödlichen Streit zwischen den Dioskuren und den Apharetiden in Messenien, der um die Verteilung der Rinderherden ging, die sie im benachbarten Arkadien gemeinsam geraubt hatten.463 Vor allem ist jedoch auf den berühmtesten Rinderraub der griechischen Mythologie hinzuweisen, der im homerischen Hymnos an Hermes ausführlich besungen wird:464 Als eines Abends der Sonnengott „Helios die Erde hinab zu Okeanos’ Fluten fuhr“, stahl der neugeborene Hermes unbemerkt die Rinder des Apollon und trieb sie durch „die göttliche Nacht, seine finstere Helferin“.465 Und „während der Nacht, es strahlte der Mond in leuchtender Schönheit“, kam Hermes mit den Rindern zügig voran; „auf dem langen Weg war ihm niemand begegnet, keiner der seligen Götter und keiner der sterblichen Menschen, nirgends bellte ein Hund“.466 Und „als die Sonne aufs neue emporstieg, gab es keine Zeugen“.467 Als Apollon den Rinderraub am nächsten Morgen bemerkte, wunderte er sich, dass „die Kühe gestern bei sinkender Sonne der Weide entliefen“,468 und, um „die Rinder mit 461 462 463 464 465 466 467 468

Ilias 11,670 ff. Od. 11,288 ff.; vgl. 15,235 f. Vgl.a. Ilias 2,704 ff.; 13,698. Apollod. 3,135 f. Pind. Nem. 10,60 ff. Lykophr. 559. Hom. h. 4,68–438. Hom. h. 4,68 u. 97. Hom. h. 4,141 ff. Hom. h. 371 f. Hom. h. 4,196 f. Diese Stelle indiziert übrigens, dass Rinder gewöhnlich tagsüber weideten und wohl nur beim Viehraub nachts weggetrieben wurden.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

schleppenden Füßen zu suchen, stürmte zum heiligen Pylos der Herrscher Apollon“.469 Hermes hatte jedoch vor Tagesbeginn die Rinder in einer felsigen Grotte versteckt,470 die – laut Hesiod – in Pylos-Koryphasion lag und meerwärts in Richtung Sizilien geöffnet war.471 Die ebenso ausschweifende wie erheiternde Erzählung im homerischen Hermeshymnos über den Rinderraub hat jedoch einen weniger erfreulichen Hintergrund, denn wie Robert von Ranke-Graves treffend hervorhebt, zeugt „der Mythos von der Kindheit des Hermes“ von der Unsitte der „Viehdiebstähle, die die listigen Messener an ihren Nachbarn begingen“.472 Der mythischen Überlieferung zufolge wurden also im südwestlichen Peloponnes im allgemeinen und im messenischen Pylos-Koryphasion im speziellen anscheinend ständig gestohlene Rinder hinein- und teils auch wieder hinausgetrieben,473 meist im Schutze der nächtlichen Dunkelheit.474 Dieser mythische Sachverhalt liegt der Erzählung des Odysseus zugrunde, wonach die Hirten der Laistrygonen in Telepylos und Umgebung die Rinder nachts aus- und eintreiben würden! Die oft diskutierte Hirtenmetapher hat also nichts mit der Polarregion oder den Tropen zu tun,475 und auch nichts mit Sommerhitze, Wechselweide und Insektenplage, wie zahlreiche Homerinterpreten ideenreich spekulierten. Die Metapher ist lediglich ein amüsanter Reflex auf die Mythologie, v. a. auf den Schwank vom nächtlichen Viehtrieb des Hermes an die Westküste Messeniens, der den homerischen Zeitgenossen wohlbekannt war und im homerischen Hymnos ein Exempel dafür ist, „wie das Diebesvolk planvoll zur Tat schreitet in der Nächte schwärzester Stunde“.476 Wohl deshalb, so scherzt Odysseus, fände im Land der Laistrygonen „ein Schlafloser doppelten Verdienst“, nämlich tagsüber als friedlicher Schafhirte und nachts als räuberischer Rinderhirte. Und weil zu homerischer Zeit die Bevölkerung im Westen Messeniens als Viehdiebe galten, bezeichnet sie Odysseus – wie schon erwähnt – als „Laistrygonen“, nämlich als „Räubersöhne“.477

469 470 471 472 473 474 475 476 477

Hom. h. 4,215 f. Hom. h. 4,401 f. Hes. theog. 16. Vgl. Paus. 4,36,2. RANKE-GRAVES I 56,1. – Zudem sei der Viehdiebstahl erwähnt, durch den die Messenier dem Odysseus „verschuldet“ waren (Od. 21,16 ff.), und später vielleicht auch dem Mentor (3,366 ff.). „Im triphylischen Pylos ist ursprünglich der Mythos vom Rinderraub des Hermes lokalisiert worden, der später auf das messenische übertragen wurde“ (MEYER, Pylos 2160,43 ff.). So sagt Apollon, als er den Rinderdieb Hermes erwischt: „Du Genosse der schwärzesten Nacht!“ (Hom. h. 4,290). – Auch Nestor trieb die gestohlenen Rinder „nachts“ in Pylos ein, sodass die Herolde der beraubten Eleier „beim Morgengrauen“ die Geschädigten herbeiriefen (Ilias 11,682 ff.). KLOTZ (295) verweist auf die Wechselweide westafrikanischer Äquatorialvölker, und das „zwingt uns, die Laistrygonen in eine tropische oder wenigstens subtropische Gegend zu versetzen“. Hom. h. 4,66 . „Von ληιστηϛ, dor. Λαιστηϛ, stammt der Name ληιστηρογονοι, oder, wie καταιγων neben κραταιογονοϛ, dichotomisch Λαιστρυγονεϛ, d. h. die Räubersöhne“) (DOEDERLEIN I 207, § 2262); ähnlich GROTEFEND 273. – Auch für Odysseus waren die Viehräuber West-Messeniens, die nach dem Trojanischen Krieg dort antraf, die „Räubersöhne“ (vgl. Od. 21,15 ff.)!

2.2 Die Grenze zum Jenseits

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2.2.2 Die Insel der zauberhaften Kirke Dem Desaster im geschützten Hafen von Telepylos, das als das messenische Pylos-Koryphasion identifiziert werden konnte, entkam angeblich einzig das Flaggschiff des Odysseus. „Weiter ging nun die Fahrt. Wir waren recht traurig im Herzen, aber froh, weil wir dem Tode entronnen, doch fehlten uns die lieben Gefährten. Und wir gelangten zur Insel Aiaia“.478 So knapp die Schilderung der Weiterreise ist, so ausgiebig spricht Odysseus über Aiaia, das unter den geographischen Orten seiner Irrfahrterzählung die meisten Verse beansprucht479 und für viele Homerinterpreten „der interessanteste Punkt der ganzen Fahrt“ ist.480 Die Insel Aiaia scheint also eine bedeutende Station zu sein, zumal sie von Odysseus zweimal besucht wird481 und inmitten des Itinerars der Irrfahrt platziert ist (Troja, Ismaros, Maleia, Lotophagen, Kyklopen, Aiolia, Telepylos, Aiaia, Unterwelt, Aiaia, Sirenen, Skylla, Thrinakia, Charybdis, Ogygia, Scheria, Ithaka). Und tatsächlich wird sich herausstellen, dass die Insel Aiaia ein Dreh- und Angelpunkt für das Verständnis der Odyssee im allgemeinen und der Irrfahrt im speziellen ist. Wie bei den anderen Stationen der erfundenen Irrfahrtgeschichte auch, ist der Inselname Aiaia ein von Odysseus erfundenes Pseudonym, das in der antiken Geographie unbekannt ist.482 Und so ist nun die Frage zu stellen, ob sich unter dem Decknamen Aiaia eine real existierende Insel verbirgt? Bei der Etappe von Telepylos nach Aiaia werden zwar weder Fahrtrichtung und Fahrtdauer noch die Fahrtumstände genannt, aber das ist keineswegs nichtssagend: Es bedeutet immerhin, dass die Fahrt von Telepylos nach Aiaia problemlos verlief und das Schiff des auf Heimkehr bedachten Odysseus weder durch feindliche Fabelwesen oder zürnende Götter behindert wurde, noch durch widrige Winde und ungünstige Meeresströmungen vom Kurs abgekommen ist. Um willkürlichen Spekulationen über die gesuchte Insel vorzubeugen, ist deshalb folgende zielführende Frage zu stellen: Wenn weiterhin die Prämisse gelten soll, dass das Itinerar der Irrfahrtgeschichte geographisch plausibel ist und Telepylos das messenische Pylos bezeichnet, welche Insel hätte Odysseus dann angesteuert? Natürlich seine „weithin sichtbare“ westgriechische Heimatinsel Ithaka (Kephallenia),483 die nur 150 km vom messenischen Pylos entfernt liegt und auch bei ungünstigen Sichtverhältnissen aufgrund des Gängelbandes der peloponnesischen Westküste gar nicht zu verfehlen war! Trifft diese Folgerung zu, dann wird das Pseudonym Aiaia verständlich, das u. a. Albin Lesky als ein „Lallwort für die als mütterlich empfundene 478 Od. 10,133 ff. Als „Insel“ wird Aiaia auch in Od. 10,195, 308; 11,70; 12,3 bezeichnet. 479 Das Land der Phaiaken gehört zur Rahmenhandlung. Auf Aiaia entfallen 604 Verse (Od. 10,134–574; 12,1–164), gefolgt vom Erebos mit 584 Versen (Od. 11,1–329; 385–640) und den Kyklopen mit 461 Versen (Od. 9,105–566). Alle anderen Stationen der Irrfahrt umfassen deutlich weniger Verse (zwischen 22 und 142). 480 LESKY, Homeros 797,38 f. 481 Od. 10,133 u. 12,1 ff. 482 Die Argonautensage kennt das Sonnenland „Aia“ (Apoll.Rhod. 4,131. Hdt. 1,2; 7,193, 197). 483 Od. 2,167; 9,21; 13,212, 325; 14,344; 19,132.

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Heimaterde“ deutet.484 Nicht minder verräterisch sind die Worte, mit denen Odysseus in seiner fiktiven Irrfahrterzählung die freudige Reaktion seiner Gefährten während der Ankunft auf Aiaia schildert: „Es war ihnen gradso zumute, als ob sie Ithakas rauhes Land, ihre Heimat, die Stadt auch gefunden, wo sie zur Reife wuchsen und wo sie das Licht einst erblickten“. Und Odysseus freute sich angeblich mit ihnen, und zwar so, „als seien wir nach Ithaka, ins Land unserer Heimat, gekommen.“485 Diese deutlichen Worte und die folgenden Analogien belegen, dass der listenreiche Odysseus bei seiner Erzählung über die Insel Aiaia offensichtlich an seine Heimatinsel dachte. Auffallend ist zunächst, dass in der Odyssee ausschließlich die Inseln Aiaia und Ithaka das problematische Adjektiv chthamalos führen, zumal in derselben Redewendung.486 Das Wort bereitete schon den antiken Homerinterpreten große Schwierigkeiten und bedeutet offensichtlich „erdverbunden“, wie im Ithaka-Teil der vorliegenden Studie dargelegt wurde. Der Dichter will mit dem seltenen Adjektiv wohl zum Ausdruck bringen, dass die Insel Aiaia nicht auf dem Meere schwimmt, sondern fest am Meeresboden wurzelt, obwohl sie „von einem endlosen Meer umgeben ist“.487 Auf den ersten Blick könnte dieses Zitat der Odyssee der geographischen Lagebeziehung des homerischen Ithaka – und damit der postulierten Identität mit Aiaia – widersprechen, weil die westgriechische Heimatinsel des Odysseus nicht sehr tief im Meer zu liegen scheint.488 Indes, vor der angeblichen Irrfahrt des Odysseus befand sich die Insel Kephallenia (das homerische Ithaka), „die am weitesten vom Festlande entfernt in das offene Ionische Meer vorspringt“,489 für die frühen Griechen – laut Odyssee –„am weitesten westlich im Meer“,490 und somit lag über dem homerischen Ithaka „der poetische Zauber eines Eilandes, das als äußerster Posten der Zivilisation vorgeschoben ist und an dessen Küste das weite Weltmeer brandet“.491

484 „Der Name der Kirke-Insel war Gegenstand verschiedener etymologischer Versuche … In Wahrheit ist von αἶα als einem Lallwort für die als mütterlich empfundene Erde auszugehen, das im Falle des Landes der Argonauten als Eigenname gebraucht wurde, nicht anders als das Lallwort μαῖα im Falle der Mutter des Hermes als Personenname auftritt“ (LESKY, Homeros 797,61 ff.). – Der Einwand von Armin WOLF (Homers Reise 302) gegen die Identifizierung von Aiaia mit dem homerischen Ithaka, weil „Homer doch sonst von Ithaka als ‚väterlichem Land‘ spricht“ (und nicht von der „als mütterlich empfundene[n] Heimaterde“), erscheint nicht triftig, zumal Odysseus die angebliche Irrfahrt ‚selbst‘ erzählt. Überdies bemerkt WOLF a. a.O auch nicht, dass es der listige Odysseus ist, der der Kirke die Worte in den Mund legt (vgl. den Kommentar der Athene Od. 13,294 f.: „Wolltest gar in der eigenen Heimat das Täuschen nicht lassen, nicht deine Sucht nach Schwindelberichten“). 485 Od. 10, 415 ff., 419 f. – Aus Unverständnis urteilt u. a. Adolf KIRCHHOFF (220): „Auch diese Verse kann ich nicht umhin für interpoliert zu erklären. Sie lassen sich mit dem Vorhergehenden durch keine mögliche, im Sprachgebrauche begründete Construction verbinden“. 486 Vgl. die Verse Od. 9,25 und 10,196. – Zur Bedeutung von χθαμαλός s. o. Kapitel 1.1.4. 487 Od. 10,195. 488 VÖLCKER (105) urteilt über die Inseln, die ‚mitten im Meer‘ liegen, es darf „wie auch in vielen anderen Redensarten die Bezeichnung durch mitten, Mitte u. a. nicht streng wörtlich verstanden werden“. 489 PHILIPPSON/KIRSTEN II 504. 490 Od. 9,25 f. Vgl. die ähnlich lautenden Worte über die Lage von Ithaka (Od. 9,25) und Aiaia (Od. 10,196). Noch die Ilias kennt keine Inseln die westlicher liegen als die westgriechischen Inseln, unter denen Kephallenia eindeutig am tiefsten im Meer liegt. 491 BELZNER 57.

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Odysseus hätte von seiner Heimatinsel also durchaus sagen können, sie liege, wie die Insel Aiaia, „in einem endlosen Meer“,492 zumal auch Aiaia – im Gegensatz zu der noch zu identifizierenden Insel Ogygia – nicht „im Nabel des Meeres“ platziert ist.493 Somit liegt in der Vorstellung des Dichters auch die Insel der Kirke nicht völlig einsam im Meer und daher nicht allzuweit vom Festland entfernt, wie auch dem Epos zu entnehmen ist. Denn nach der morgendlichen Abfahrt von Aiaia passierte Odysseus die Insel der Sirenen, er durchfuhr die Meerenge von Skylla und Charybdis und gelangte innerhalb der Tagesetappe noch bis nach Thrinakia.494 Und „so überzeugt man sich, dass eine mitten im unermesslichen Meer isolierte Lage in Homers Seele nicht die vorwaltende Idee gewesen sein könne, die er mit dem Kirkeischen Fernlande verband“, wie schon Otto August Rühle von Lilienstern zu bedenken gab.495 Unter der Prämisse, dass Aiaia eine reale Insel bezeichnet, kann es auch garnicht in zu großer Entfernung vom Festland liegen, weil Odysseus in den Wäldern der Insel einen mächtigen Hirsch erlegte.496 Der wildlebende Hirsch indiziert nämlich zwingend, dass die Insel Aiaia ein Teil einer Festlandsbrücke war, die erst in jüngster erdgeschichtlicher Zeit zerbrach. Dies trifft für die Glieder des westgriechischen Inselbogens zu,497 und so jagte Odysseus auch in seiner Heimat Hirsche,498 also ein Großwild, das die Odyssee übrigens nur auf den Inseln Aiaia und Ithaka explizit erwähnt.499 Da Aiaia als Pseudonym für das homerische Ithaka fungiert, ähneln die Landschaftsbilder von Aiaia und Ithaka (Kephallenia) einander auffallend: Beide Inseln sind felsig500 und weisen ein hohes Gebirge auf, von dem aus die jeweilige Insel zu überblicken ist.501 Deshalb handelt es sich bei Aiaia um keine sehr große Mittelmeerinsel, und dies korreliert mit den räumlichen Dimensionen der Heimatinsel des Odysseus (Kephallenia). Andererseits besitzen beide Inseln wasserreiche, tiefe Bergwälder,502 und solche Biotope bildeten auch im Altertum für überschaubare, d. h. kleinere Mittelmeerinseln eher die Ausnahme.503 492 Od. 10,195. – Ithaka wird als einzige homerische Insel mehrmals mit dem Adjektiv „meerumgeben“ (ἀμφίαλος) ausgezeichnet (Od. 1,50; vgl. 5,55, 100 f.) 493 Od. 1,50. 494 Od. 12,140–285. 495 RÜHLE 53 f. 496 Od. 10,158–171, 180. 497 Der Bestand der „höheren Tierwelt“ der westgriechischen Inseln, „die eine verarmte Fauna des Festlandes ist, setzt eine Landverbindung in der Quartärzeit voraus“ (PHILIPPSON/KIRSTEN III 549). 498 Odysseus jagte auf Ithaka Hirsche (Od. 13,436), „Rehe, Hasen und wilde Ziegen“ (17,295). 499 In den homerischen Epen erscheinen Hirsche sonst nur in Gleichnissen (Ilias 11,475. Od. 6,104; 17,126). 500 Aiaia: Od. 10,148, 194, 281. Ithaka: 10,417; 14,1 f.; 17,204. 501 Odysseus überblickte vom Berggipfel aus die Insel Aiaia (Od. 10,194 f.). 502 Aiaia: Od. 10,308; sowie 150, 159, 197, 210, 252. Ithaka: 1,186; 9,21; 13,351. – Der „schwarze Rauch“, der auf Aiaia „über Wälder und Dickicht hinwegzog“ (Od. 10,149 ff.; 196 f.), könnte auf die Harzkocherei und Teerschwelerei hinweisen, aus denen medizinische Öle gewonnen wurden (vgl. NEUMANN/PARTSCH 374 ff.). Denn das seit dem frühen Altertum zur medizinischen Ölherstellung besonders begehrte, harzreiche Tannenholz (Theophr. h. plant. 9,2) war auf Kephallenia in großen Beständen vorhanden. Vielleicht ist dies der angenehm duftende „Rauch der Heimat“, nach dem sich Odysseus sehnte (Od. 1,57)?! 503 Erwähnt sei auch der Zwist der Botaniker, ob mit φηγός die (Eß-) Kastanie gemeint ist, die auf Kephallenia vorhanden war und ist, oder eine Eichenart mit essbaren Früchten, die Kephallenia ebenfalls zu bieten hat. Stephan FELLNER (38) schreibt: Diese Baumart „wird vor dem Skäischen Tor [von Troja] erwähnt [Ilias 6,237], und sie war reichlich auf Ithaka und der Insel der Kirke vertreten“.

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Auf der Insel Aiaia fällt das Wort pharmakon (φάρμακον) auffallend häufig, nämlich elf Mal,504 und so gehören auf Kephallenia „nicht wenige gesuchte Heilpflanzen zur ursprünglichen Flora der Insel und wachsen dort in großen Beständen spontan“.505 – Wie für das Land der Lotophagen der homerische ‚Lotos‘ (die im griechischen Altertum bedeutende kyrenäische Rauschgiftpflanze Silphion) das Alleinstellungsmerkmal jener Irrfahrtstation war, so ist es für die Insel Aiaia die Arzneipflanze ‚Moly‘, die angeblich vor dem Zauber der Kirke schützte. Diese Pflanze, die wie folgt beschrieben wird, pflückte auf Aiaia angeblich der Götterbote Hermes dem Odysseus: „Schwarz war die Wurzel, weiß wie Milch war die Blüte, die Götter nennen es Moly. Es ist sehr schwierig für sterbliche Menschen danach zu graben“.506 In der Homerphilologie gilt das Wunderkraut als ein Auswuchs der dichterischen Phantasie, und so betrachtet es u. a. Adolf Kirchhoff als eine fiktive „Zauberwurzel“.507 Diese Behauptung schien schon vor drei Jahrhunderten evident, denn „wenn also Alles [in der Irrfahrterzählung] fabelhaft ist und Circe [Kirke] und Ulysses [Odysseus] und Merkur [Hermes], so muß auch die Pflanze Moly fabelhaft sein, und es ist Zeit und Mühe verloren, eine Pflanze zu finden, mit welcher man sie vergleichen könne“.508 Trotzdem versuchten Botaniker, das homerische Moly zu bestimmen. Jedoch anstatt die entsprechenden Angaben der Odyssee zu analysieren, folgten sie den Spekulationen antiker Autoren, namentlich Theophrast, Dioskurides und Plinius, deren Beschreibung des Moly „aber unzweifelbar sehr verschieden von jener in Homer“ war.509 So hielten etliche Botaniker das homerische Moly für eine Zwiebelart (Allium nigrum L.),510 obwohl „die Angabe, daß die Blüte des Moly ähnlich der Milch sei, nicht im Einklang mit dem Aussehen der Blüten der genannten Alliumarten steht“.511 So resümiert Anton Senoner bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts: „Nach allen diesen Streitigkeiten weiß man doch nicht, welche Pflanze als Homer’s Moly zu bezeichnen wäre“.512 Indes, „gerade diese so räthselhafte Pflanze, welche Hermes dem Odysseus als Mittel gegen den Zauber 504 Od. 10,213, 236, 287, 290, 292, 302, 317, 326, 327, 392, 394. 505 KNAPP 168. 506 Od. 10,304 f. – Der homerische Hinweis, für Menschen sei es schwierig die Pflanze auszugraben, bezieht sich angeblich auf die abergläubischen Bräuche, die man beim Extrahieren beachten müsse, da diese Arzneipflanze ansonsten ihre Heilkraft versagt; vgl. Diosk. 4,108. Plin. nat. 1,13; 13,14. 507 KIRCHHOFF 305. 508 SENONER 44. 509 SENONER 37. „Viele Botaniker wandten ale Kräfte an, um diese Pflanze zu erkennen; die ältesten Schriftsteller des 16. Jahrh. schrieben sehr viel darüber“, brachten aber „sehr wenig Licht“ in die Angelegenheit (a. a. O.). 510 Die meisten Botaniker folgten blind THEOPHRAST (h. plant. 9,15,7), der eine der Zwiebel ähnliche Wurzel für das homerische Moly hielt. Und J. L. S. BARTHOLDY (240) schreibt über seinen Besuch im hochgebirgigen Arkadien im Jahr 1804: Der Boden brachte „das Kräutlein Moly hervor, dessen Blätter wie von einer Meerzwiebel, die Wurzel rund und schwarz in der Größe einer Cypolle: ganz so sagt Plinius, B. 25, wie es Homer beschreibt“. 511 SCHMIEDEBERG 26. „Die Gelehrten erkennen aber jene [Allium-Arten] nicht für den Moly Homer’s“ (SENONER 43), und so „müssen wir uns daher statt einer Zwiebelart nach einer anderen Pflanze für das Moly umsehen“ (SCHMIEDEBERG 27). 512 SENONER 44. Ders. 37 f. u. 42 ff. bietet einen Forschungsüberblick der Identifizierungsversuche des Moly bis in die Mitte des 19. Jhs.

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der Kirke gibt (Od. X 287), wird bei Homer ausführlicher beschrieben als man sonst gewohnt ist“,513 und das reizte im Jahr 1918 den „Father of Modern Pharmacology“, Oswald Schmiedeberg,514 einen fachwissenschaftlichen Aufsatz über das homerische Moly zu verfassen, der jedoch in der Altphilologie unbeachtet blieb. Oswald Schmiedeberg, der zusammen mit Rudolf Buchheim die moderne Pharmakologie als selbständiges medizinisch-biologisches Fach etablierte, schrieb über die in der Odyssee genannte Arzneipflanze Moly: „Die Giftigkeit, die schwarze Wurzel, die weiße Blüte, die Schwierigkeit beim Ausgraben, alle diese für das Moly geforderten Merkmale finden sich bei der Christrose, dem Helleborus niger L., dessen Kelchblätter auf der oberen Seite weiß, aber nicht durchscheinend sind und sich mit der Milch vergleichen lassen“.515 Bemerkenswert ist auch Schmiedebergs Ausführung über die Angabe Homers, für Menschen sei es schwierig, die Planze Moly auszugraben: „Der Wurzelstock von Helleborus niger L. ist zwar kurz, hat aber lange Nebenwurzeln, die beim Ausgraben leicht abreißen und in der Erde zurückbleiben“. Und weil „im früheren griechischen Altertum fast nur die Wurzeln der Pflanzen für arzneiliche Zwecke dienten, so hatte Homer Veranlassung, das Ausgraben, wenn es, wie beim Helleborus, mit Schwierigkeiten verbunden ist, besonders zu erwähnen“, zumal noch Jahrhunderte später „Theophrast berichtet, daß man vom Helleboros [nur] die unteren dünnen Wurzeln nimmt,“ um daraus Medizin zu gewinnen.516 Also, bei der homerischen Pflanze Moly, welche die Odyssee ausdrücklich als Arzneipflanze (φάρμακον) ausweist,517 handelt es sich um das Nachtschattengewächs Schwarze Nieswurz (Helleborus niger), auch Schnee- oder Christrose genannt. Sie ist bis zu 30 cm hoch, hat weißfarbige, bis ca. 7 cm breite Blüten und einen schwarzbraunen bis schwarzen Wurzelstock, der 3 bis 6 cm lang und etwa 1 cm dick ist.518 Sie ist im Mittelmeerraum nur selten anzutreffen und wächst bevorzugt auf den Kalksteinböden „in den Bergwäldern Europas“,519 „besonders in Höhenlagen von 800–1400 m“.520 „Helleboros niger ist in Griechenland so selten“, dass Botaniker lange glaubten, die Pflanze sei dort nicht vorhanden. Jedoch entdeckte man die Schwarze Nieswurz in einigen Hochlagen des „Oeta, Parnas, Korax, Tymphrestos, Dallaporta auf Kephalonia und Sibthorp 513 FELLNER 82. 514 Siehe in WIKIPEDIA: „Oswald Schmiedeberg“. 515 SCHMIEDEBERG 27. Angemerkt sei, dass SCHMIEDEBERG (25) in seiner Studie „Über die Pharmaka in Ilias und Odyssee“ bei manchen giftigen Kräutern (u. a. Od. 10,213, 236, 392) meint, dass „der Dichter dabei sicher nicht an bestimmte Kräuter oder Kräuterzubereitungen gedacht hat und deshalb keinerlei Andeutungen über ihre äußere Beschaffenheit macht. Anders [aber] liegt die Sache bei dem Kraut Moly“. 516 SCHMIEDEBERG 27 (mit Bezug auf THEOPHRAST, Hist. Plant. 9,8,4.). „Das Ausgraben, das Sachkenntnis erforderte, haben zu seiner [Homers] Zeit vermutlich die kräuterkundigen Ärzte (ἰητροὶ πολυφάρμακοι. Ilias XVI 28), später die Wurzelgräber oder Wurzelschneider (Rhizotomen) ausgeführt“ (a. a. O.). 517 Od. 10,287, 292, 302. 518 WICK 230. – Hier sei erwähnt, dass bereits Daniel Wilhelm TRILLER (s. Lit.-Verz.) das homerische Moly mit Helleborus niger identifizierte! 519 BROCKHAUS, Nieswurz 284. 520 WICK 230.

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in Lakonien“.521 Die hochgebirgige Insel Kephallenia weist also als einzige Insel Griechenlands die äußerst seltene Schwarze Nieswurz (Helleborus niger) auf!522 Und diese Singularität spricht ihrerseits dafür, dass die homerische Insel Aiaia lediglich ein Abbild der Heimatinsel des Odysseus ist. Oswald Schmiedeberg, der zeitweilig zusammen mit seinem weltberühmten Schüler, dem Arzt Albert Schweitzer über den pharamzeutischen Nutzen der Digitalisgewächse geforscht hat,523 weist auch darauf hin, dass insbesondere „das seltene Vorkommen dieser weißblühenden Helleborusart in Griechenland“ geeignet war, „des Dichters Aufmerksamkeit auf diese Pflanze zu lenken und sie den Göttern zuzuweisen“. Zudem fügt sie sich in den jahreszeitlichen Kontext der Heimkehr des Odysseus, die im Winter erfolgte,524 denn es ist „die Eigenthümlichkeit“ des Helleborus niger, dass er „mitten im Winter blüht, was ihm bei uns den Namen Schneerose oder Christrose eingetragen hat“.525 Hervorzuheben ist ferner, dass die Schwarze Nieswurz zu den wenigen Arzneipflanzen gehört, die nachweislich schon in frühgriechischer Zeit genutzt wurden.526 „Mit schwarzem Helleborus soll Herakles in Phokis vom Wahnsinn geheilt worden sein“,527 und „Homer hat vielleicht schon von dem auf Melampus zurückgeführten Gebrauch des Helleborus als Heilmittel gewußt“.528 Obwohl Oswald Schmiedeberg die pharmakologische Wirkung der Schwarzen Nieswurz erforscht und sie treffend als die homerische Pflanze Moly identifiziert hat, ahnte er aufgrund mangelnder historisch-geographischer Deutung der Insel Aiaia nicht, warum Odysseus ausgerechnet dort die schützende Arzneipflanze benötigte. Der zu medizinischen Zwecken extrahierte Giftstoff der Schwarzen Nieswurz gehört pharmakologisch zu den Herzglykosiden bzw. Digitalissubstanzen. Besonders die Wurzeln der Pflanze enthalten den pharmazeutischen Wirkstoff Hellebrin, der aufgrund der systolischen und pulsverlangsamenden Wirkung noch heute als Herzmittel eingesetzt wird.529 Oysseus hatte das schützende Herzmittel auf Aiaia durchaus nötig, denn als er zum Palast der zauberhaften Kirke ging, „tobte sein Herz schrecklich“, wie das Epos ausdrücklich vermerkt.530 Doch weshalb war Odysseus so erregt und sein Puls derart beschleunigt? Und wer verbirgt sich unter dem Pseudonym Kirke? Ob Kirke „eine Göttin oder ein Weib ist“,531 bleibt in der fiktiven Erzählung des Odysseus offen, aber immerhin erscheint sie in menschlicher Gestalt und redet „mit mensch-

521 SCHMIEDEBERG 28. Aber Helleborus niger gibt es selbst „an den genannten Standorten nur vereinzelt, nicht in dichten Beständen … und wurde daher nicht von allen Botanikern gefunden“ (a. a. O.). 522 „Helleborus niger … in insula Cephallenia“ (HELDREICH 20). 523 Siehe WIKIPEDIA: Oswald Schmiedeberg. 524 Od. 5,465 ff., 485 ff.; 14,487 f. 525 SCHMIEDEBERG 28. 526 KUDLIEN, Gifte 795,49. 527 GAMS, Helleborus 1008,46 ff. 528 SCHMIEDEBERG 27. 529 BROCKHAUS, Nieswurz 284. 530 Od. 10,309. 531 Od. 10,228, 255; vgl. 10,571 ff. Kirke erscheint im Mythos stets in menschlicher Gestalt.

2.2 Die Grenze zum Jenseits

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licher Stimme“.532 Auch bewohnt Kirke einen weltlichen Palast,533 „der aus glänzenden Steinen gebaut war“,534 und dort ging sie „hin und her an dem großen Webstuhl“.535 Die außergewöhnliche Erregung des ansonsten für seinen kühlen Kopf bekannten Odysseus stand offensichtlich im Zusammenhang mit der Kirke, in deren Palast er sich begab. Wenn nun Aiaia als Deckname für die Heimatinsel des „listenreichen Odysseus“ fungiert, dann ist die kongeniale „listige Kirke“,536 die im Palast auf Aiaia lebte, selbstverständlich Penelope!537 Und so sagte Kirke, die ihren Gatten trotz langjähriger Abwesenheit sogleich erkannte: „Sicherlich bist du Odysseus, der wendige Mann, dessen Ankunft oft mir der Schimmernde [Hermes] … kündend verheißen, kehrte er heim von Troja auf hurtigem, schwarzem Schiffe“; und sie fügte hinzu: Nun „wollen wir beide das Lager besteigen, das unseres ist, und wir wollen innigst im Lager der Liebe einander vertrauen“.538 Also, auch wenn es heutzutage ironisch klingen mag: Odysseus ließ sich einzig von seiner Gattin ‚be-circen’!539 In der Homerphilologie wurde Kirkes Verweis auf die gemeinsame Bettstatt gar nicht verstanden,540 aber immerhin beachtet, wie z. B. die Überlegung von Rudolf Heinrich Klausen indiziert: „Offenbar liegt in diesem Beilager eine Bedeutung“, aber welche?541 Es ist ein Verweis auf das von Odysseus selbst gebaute und unverrückbare 532 Od. 10,136; 11,8; 12,150. So ist „αὐδὴ die Menschenstimme in Rede und Gesang“ (NITZSCH III 110). 533 Den Terminus δώματα Κίρκης (Od. 10,210; vgl. 10,252, 348, 449, 546) übersetzen manche als „Kirkes Palast“ (u. a. WEIHER 267), „der Kirke Häuser“ (HAMPE 160) oder bloss als „Haus der Kirke“ (u. a. NITZSCH III 142 u. öfter). Die Odyssee bietet Indizien, dass der Wohnsitz der Kirke ein Palast war, mit Vorbau, großem gepflasterten Männersaal etc. (Od. 10,210 f., 220, 227, 230, 252 f., 348, 352 ff.). Vgl. NITZSCH III 119 f. 534 Od. 10,211, 253. Kirkes Palast lag – wie der kephallenische Königspalast – „inmitten“ der Insel (Od. 10,150 mit 196) und war ein steinernes Gebäude (Od. 10,210, 252, 276, 278, 308, 449, 454, 546; 12,9). Odysseus spricht vom „heiligen Haus der Kirke“ (Od. 10,426, 445, 554), obwohl im Epos sonst nur die Paläste der Götter „heilig“ sind. 535 Od. 10,222, 227, 254 f. – Vgl. Penelope am Webstuhl: 1,356 f.; 15,516 f.; 21,350 f. 536 Od. 9,32; 23,321. In der Odyssee führt Odysseus das Attribut „listenreich“ immerhin 67 mal (vgl.a. Ilias 3,202; 11,430). 537 Der Beiname der Kirke (Od. 12,268, 273), Αἰαίη („αἶ, oft verdoppelt αἶ αἶ oder αἀαῖ, Ausruf des Schmerzes“; BENSELER 17), passt treffend auf Penelope. Auf einen weiteren Konnex zwischen Penelope und Kirke verweist Jonas GRETHLEIN (53): „Penelope bezeichnet Lieder als ‚Bezauberungen‘ (thelkteria). Wörtlich bezeichnen das griechische Verbum thelgein und die von ihm abgeleiteten Nomina das Verzaubern, mit dem vor allem Götter Menschen eine neue Gestalt geben. Thelgein kommt zum Beispiel zum Einsatz, wenn Kirke die Gefährten des Odysseus in Schweine, Wölfe und Löwen verwandelt“ (10.213; 291; 318). 538 Od. 10,330 ff.; vgl. 347, 480. 539 Das Verb „becircen“ ist von der homerischen Kirke (lat. Circe) hergeleitet. – Bei der noch zu untersuchenden Kalypso, mit der Odysseus jahrelang Tisch und Bett teilte (Od. 5,118 ff.; 227; 7,248; 12,450), handelt es sich um eine Dublette der Kirke (HUMISCH, Kalypso 940,58 f. Vgl.a. Od. 9,29 ff.). Also, Odysseus ging weder mit Kalypso noch mit Kirke ‚fremd‘. 540 „Erst durch das sich Gesellen wird das Bett zum gemeinsamen“ (NIETZSCH III 136). Und weil Kirke keine Göttin, sondern ein Pseudonym für Penelope ist, erledigt sich folgender Einwand: „Nichts auch erinnert hier an den Neid der Götter, welcher der Liebe von Göttinnen gegen Sterbliche missgünstig ist“ (ders. III 116). 541 KLAUSEN 34. Selbiger (34 f.) wagte diese Erklärung: „Das Beilager nun gründet sich auf eins der wesentlichsten und eigenthümlichsten Dogmen der griechischen Theologie“, derzufolge der Mensch sich „in körperlicher Vereinigung“ mit der Götterwelt „in Verbindung wissen will“ [Aber Kirke wies doch auf das Bettlager hin, nicht Odysseus!].

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2. Die Irrfahrtgeschichte

Ehebett, das nur Penelope und ihrem Gatten vertraut war und somit im Epos als Wiedererkennungsmerkmal fungiert.542 Zudem fragten Homerphilologen ratlos, warum der stets auf Heimkehr sinnende Odysseus auf der Insel Aiaia freiwillig verweilte, sodass ihn nach einem Jahr seine Gefährten zu weiteren Taten drängten und den Aufbruch forderten.543 Das Verhalten des Odysseus schien mit dem Nostos, d. h. mit der Heimkehrergeschichte unvereinbar, und so war Odysseus angeblich „zum Liebhaber einer Kirke aus reiner Lust geworden, Penelope ist vergessen“.544 Eine solche Aussage ist wieder ein schlagender Beleg dafür, wie unangemessen das Epos interpretiert wird, wenn man die Frage nach der geographischen Relevanz des Erzählten ausklammert bzw. gar negiert, wie in der Homerphilologie geschehen.545 Wie der schlitzohrige Odysseus seinen Zuhörern erzählt, umlagerten den Palast der Kirke – man höre und staune – „Löwen und Wölfe, wie aus dem Bergland“.546 Diese Bestien sind also die in der Odyssee erwähnten, scharf abgerichteten kephallenischen Wach- und Jagdhunde, die ausdrücklich „den Tieren der Wildnis glichen“,547 und so „stürzten sie [die Bestien beim Kirke-Palast] nicht auf die Männer [des Odysseus], standen nur auf und umwedelten sie mit langen Schwänzen, so wie die Hunde den Herrn, der vom Mahl kommt, freundlich umwedeln“.548 Auch diese verräterische Metapher indiziert, dass Aiaia bloß ein Deckname der Heimatinsel des Odysseus ist. Dagegen wundern sich Homerphilologen über „die wunderbare Zahmheit“ der Bestien.549 Zwar sind in der fiktiven Geschichte des Odysseus über die Insel Aiaia und deren Herrin Kirke märchenhafte Züge eingewoben, aber diese besitzen, wie die Fikta der anderen Irrfahrtstationen auch, einen konkreten Bezug zum geographischen Raum und der sich in ihm vollziehenden Handlung. So steht im Mittelpunkt der Erzählung über das homerische Aiaia die listige Kirke, die – wie Penelope – in ihrem Palast am Web-

542 Od. 23,181–204, 226. Vgl. 16,75; 19,527 543 Od. 10,467 ff. Diese Verse müssen ursprünglich in einem anderen Kontext gestanden haben, denn „die göttliche Kunde“ der Heimkehr erfolgte erst durch die Weissagung des Teiresias (Od. 11,100 ff.). – Über das Problem, dass Odysseus freiwillig und dauerhaft mit Kirke Tisch und Bett teilt, handelt u. a. Gregor Wilhelm NITZSCH (III 145 ff.). 544 MÜHLL, Odyssee 723,2 f.; ebd. wird zuvor die Frage gestellt: „Warum bleibt Odysseus ein Jahr?“ Dagegen meint Adolf KIRCHHOFF (220 f.): „Der ursprüngliche Text liess vor der Ueberarbeitung den Odysseus wohl länger als nur ein Jahr bei der Kirke weilen“. 545 U. a. Alfred HEUBECK, Odyssee 697: „Der Weg des Odysseus ist nun eben auf keine Landkarte zu übertragen“. Wenn Homerforscher „die Irrfahrten des Odysseus als ein zusammenhängendes System von Wegen und Landungspunkten nachzeichnen, so halte ich jedes solches System für unzulässig“ (NITZSCH III 25). 546 Od. 10,212. Die Tiere erschienen wie „Löwe und Wölfe mit kräftigen Krallen“, und „sie fürchteten sich bei Blick auf die schrecklichen Tiere“ (Od. 10,218 f.). Vgl. Anm. 1603. 547 Od. 14,22. Die Hunde können fremde Menschen schnell in Stücke reißen (Od. 14,29 ff.) und sie empfangen ihre Herren, namentlich Telemach (Od. 16,9 f.) freundlich. 548 Od. 10,214 ff. (beim Hafenort Skala im Süden Kephallenias zeigt ein prächtiges Fußbodenmosaik einer römischen Villa eine solche Szene mit vier Bestien). – Vgl.a. die Begrüßung des Odysseus durch seinen alten Hund Argos (Od. 7,301 f.). 549 NITZSCH III 119. Mit Bezug auf Od. 10,433 mutmaßt ders. (III 118),dass die Bestien verzauberte Menschen sind, wie die Schweine der Kirke: „So ist es vermuthlich auch mit den Wölfen und Löwen, welche sich eben deshalb sanft wie Haushunde erweisen“.

2.2 Die Grenze zum Jenseits

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stuhl arbeitet und die kephallenischen Männer in „Mastvieh“ verwandelt,550 indem sie Eicheln verfüttert.551 Diese humorvolle Metapher dürfte auf die dekadenten Freier abzielen, die jahrelang im Odysseus-Palast schlemmten552 und folglich, um im Bilde der Kirke-Geschichte zu bleiben, zu ‚fetten Schweinen‘ mutieren,553 aber trotz „veränderter Gestalt ihr menschliches Bewußtsein behalten“.554 Zudem sei angemerkt, dass Kirkes Eichelmast, mit der sie die ‚schweinischen Männer‘ füttert, doppeldeutig ist, weil Eicheln sowohl als Nahrung für Schweine als auch für Männer dienten. So ist darauf hinzuweisen, dass „Griechenland mehrere [Eichenbaum-] Arten mit essbaren Eicheln besitzt“ und somit „das Eichelessen der alten Pelasger und Arkader nicht schlechthin als ein Zeichen von Uncultur aufzufassen ist“.555 Odysseus fabuliert, auch die Männer, die als Vorhut zur Kirke gingen, erlagen ihrem Charme: Nachdem die Männer den Wein und die betörenden Speisen gekostet hatten, „wurden sie Schweine an Kopf, an Stimme und Haaren, der ganzen Gestalt nach. Freilich blieb der Verstand so klar, wie er früher gewesen. Weinend lagen sie so im Pferch, und verschiedene Eicheln, Früchte des wilden Kirschbaums gab ihnen Kirke zu fressen, tägliches Futter für Schweine, die gern auf der Erde sich lagern“.556 Der letzte Satz enthält ein Wortspiel, denn bei den Früchten der Kornelkirsche (καρπόν τε κρανείης) kann es sich auch um „Früchte der Kraneia“ handeln,557 d. h. um Naturalien aus dem ithakesischen Stammkönigreich des Odysseus, das – und dessen Temenos – den Na-

550 Od. 10,390; vgl. 10,237 ff., 282 f., 318 ff., 337 f., 389 ff., 432 f. „Mastschweine“ befinden sich auch im kephallenischen Königspalast auf Ithaka (Od. 2,300; vgl. 14,19, 41, 81; 17,181; 20,163, 251). 551 Od. 10,241 ff., 338, 389 ff. Auch auf Ithaka wurden die Schweine mit Eicheln gemästet (13,407 ff.; 14,12 ff., 101 ff.); denn es sind „in der natürlichen Vegetation auf Kephallinia nur zwei Baum-Arten ganz entschieden vorherrschend, Quercus coccifera [Pinari-Eichen] und Abies cefalonica [Weißtanne]“ (KNAPP 153). 552 Od. 1,245 ff.; 2,55 ff. u.a. – Ähnlich erscheint die Situation im Palast auf Aiaia (Od. 10,426 f., 452, 468). 553 Mit Verweis auf Od. 10,210 ff., wo die von Kirke verzauberten Löwen und Wölfe genannt werden [dies ist jedoch eine Metapher für die scharf abgerichteten Wachhunde des Odysseus: Od. 14,22, 29 ff.], die deren Palast umlagern, tadelt Eduard MEYER (272, Anm. 2) seinen Kollegen Ulrich von Wilamowitz, denn der habe „übersehen, dass die Odyssee ausdrücklich von Kirke in Wölfe und Löwen verwandelte Menschen erwähnt“. Indes, in Od. 10,237 ff. verwandelt Kirke die Männer ausdrücklich in Schweine und steckt sie in Schweineställe. Auch sind die Eicheln und Kornelkirschen, die Kirke an die Tiere verfüttert, nur zur Schweinemast geeignet und nicht als Nahrung für Löwen und Wölfe. 554 PRELLER II 323. 555 NEUMANN/PARTSCH 381. – „Von welchen Eichen die Früchte stammten, womit Kirke die in Schweine verwandelten Menschen fütterte, … geht aus der Odyssee nicht hervor … Es bringen mehrere südeuropäische Eichen, die Vallona-Eiche, die Zerr- und Ilexeiche Früchte hervor, die für den Menschen ziemlich genießbar sind“, während die Eicheln der anderen Eichenarten „nur zur Eichelmast der Schweine werden“ können (FELLNER 42 f.). Auf Kephallenia gab es von den drei genannten Eichen-Arten mit genießbaren Früchten mindestens zwei, nämlich die Ilex- bzw. Steineiche (Quercus ilex. L.) und die Wallonen-Eiche (auch: Arkadische Eiche oder Knoppern-Eiche/Quercus macrolepis); noch zu Beginn der Neuzeit waren Knoppern (bzw. Wallonen) der Hauptexportartikel von Kephallenia (s. PARTSCH, Kephallenia 93); bzgl. der genannten kephallenischen Eichen s. HELDREICH 66 u. KNAPP 20. 556 Od. 10,239 ff.; vgl. 282 f., 432 f. 557 Od. 10,242. Vgl. Ilias 16,764. – „Kornelle (Korneliuskirsche), Cornus mascula. In Griechenland jetzt nur an einzelnen Stellen und selten, κρανία genannt … Homerus, Il. 16,767; Odyss. 10,242 (Κρανεία)“. Die Kornelle „ist ein fester Baum, der längliche Früchte von Olivengestalt trägt; sie sind eßbar“ und „können auch eingemacht werden“ (LENZ 596).

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men Kranaia bzw. Kranae trug,558 wie im Ithaka-Teil der vorliegenden Studie dargelegt wurde. Bemerkenswert ist zudem, dass die Früchte der Kornelkirsche, die Dürlitzen genannt werden, „essbar sind“.559 Und wie sich die Schweineställe unmittelbar am bzw. im Palast der Kirke befanden,560 so auch ausdrücklich beim Palast des Odysseus,561 was Ulrich von Wilamowitz bloß mit den mokanten Worten kommentierte: „Da bekommen wir einmal ein anderes Bild vom ‚Palaste‘ des Odysseus“.562 Als Odysseus angeblich mit den übrigen Kephallenen im Palast eintraf, empfing sie Kirke mit den freundlichen Worten: „Kommt jetzt, eßt von den Speisen und trinkt von den Weinen, bis wieder Regung ihr fühlt in der Brust so stark wie einst, als die Heimat, Ithakas rauhen Boden, ihr damals verließet“.563 Dies ist wieder ein expliziter Verweis auf die Heimatinsel Ithaka! Der genannte Wein, den Kirke den ‚Heimkehrern‘ kredenzte, war ein vorzüglicher „Pramneios“,564 wobei es sich möglicherweise um den Wein vom Hang des kephallenischen Gebirgsstocks Neion handelt.565 Infolge der Ankunft des Odysseus trieb Kirke die auf ihrem Anwesen zu Schweinen verwandelten Kephallenen hinaus „und Männer wurden sie wieder“.566 Betont sei stets, dass wir diese märchenhafte Erzählung aus dem Mund des listenreichen Odysseus hören, der damit seine Zuhörer, die Fürsten der Phaiaken betörte.567 Dennoch ist zu vermuten, dass es sich bei der Handlung des Kirke-Abenteuers weitgehend um eine andere bzw. ältere Variante der Heimkehr des Odysseus handelte, die der Dichter der uns vorliegenden Odyssee in die Aiaia-Geschichte einband. Dafür spricht auch folgendes:

558 Den Terminus κρανάη (Od. 1,247; 15,510; 16,124; 21,346. Ilias 3,201, 445) benutzt der Dichter ausschließlich in Bezug auf Ithaka. – Bezüglich der Namensformen Krane, Krana, Krania, Kranaia und Kranioi für die antike kephallenische Stadt und ihr Territorium s. SOUSTAL (187 f.). 559 Kornelkirschen „sind essbar“; zudem werden sie „eingemacht und zu verschiedenen Confituren verarbeitet“ (NEUMANN/PARTSCH 392). Zur von Homer genannten Kornelkirsche (Cornus mas) s. a. Stephan FELLNER 43. 560 Od. 10,238, 241, 320. – Eine weitere Analogie zwischen den Palästen des Odysseus und der Kirke: „Man hat aus περισκέπτῳ ἐνὶ χώρῳ [Od. 1,] α 426 geschlossen, daß der Palast des Odysseus auf einer Höhe gelegen habe. Allein jene Phrase beweist nichts; denn der Dichter braucht sie auch da, wo er den Palast der Kirke placiert“ (HERCHER 265, Anm. 2). 561 Od. 20,164 (ἕρκεα). Während das andere Vieh (Rinder und Ziegen), das als Schlacht- und Opfertiere dient und zum Palast getrieben wird, in dem Hof des festungsartigen Palastes angebunden wird (Od. 10,176), gibt es dort eigens Schweineställe (vgl. die ἕρκεα des Eumaios: Od. 16,341; 17,604). 562 WILAMWOWITZ, Heimkehr 92, Anm. 1. – Im Odysseus-Palast „werden die ungeberdigen Eber in einen Pferch (ἕρκεα) getrieben´, in dem sie sich zunächst tummeln mögen“ (a. a. O.). 563 Od. 10,460 ff. 564 Od. 10,235. – „Nach Eust. von dem Berge Πράμνη benannt“; „bei Ath. I, 30, c Πράμνος“ (PAPE III 326). Im klassischen Altertum bezog man den ‚Weinberg‘ auf Smyrna, Ephesus oder die Ägäisinsel Ikaria. Abgesehen von Kirke, offerierte in den homerischen Epen nur noch der greise Nestor den Wein vom Pramneios (Ilias 11,639). Zu Nestor, der an der Westküste des Peloponnes heimisch war, sagte Telemach: „Wir sind aus Ithaka her; der Neios ragt dort zum Himmel“ (Od. 3,81; Ὑπονήϊος). 565 Od. 3,81. ; vgl. 1,186. 566 Od. 10,395. – Da Aiaia ein Abbild des heimatlichen Ithaka ist, erledigt sich der Einwand zu Vers 10,240: „Behielten die Verwandelten bei der Thiergestalt doch ihr menschliches Bewusstsein, nun so behielten sie auch die Gedanken an ihre Heimath. Die weitere Erzählung verlangt also eine andere Auslegung jener Worte“ (NITZSCH III 123). 567 Man beachte die kommentierenden Worte des Phaiakenkönigs Alkinoos (Od. 11,362 ff.)!

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In seiner erfundenen Irrfahrterzählung behauptet Odysseus, der mykenische König Agamemnon, der nach dem trojanischen Krieg vom Liebhaber seiner Frau Klytaimnestra hinterhältig ermordet worden war, habe ihn als Stimme aus dem Jenseits folgendermaßen gewarnt: „Heimlich lande dein Schiff im lieben Land deiner Heimat, laß es die andern nicht sehen! Denn den Weibern ist nicht mehr zu trauen“.568 Und dementsprechend behutsam lief die fiktive Ankunft des Odysseus auf Aiaia ab: „Schweigend trieben wir dort unser Schiff an der Landspitze zur Landung“.569 – Wenn Odysseus, wie in der vorliegenden Rekonstruktion der Fahrtroute dargelegt, tatsächlich von (Tele-) Pylos aus gekommen wäre, hätte er zunächst die Südostspitze von Kephallenia (Ithaka/Aiaia) angelaufen, die dem Peloponnes zugewandt ist. Dabei handelt es sich um dieselbe signifikante akte (ἀκτή: „Landspitze“), an der auch Telemach nach der Heimkehr von Pylos zunächst gelandet war.570 Der Dichter ließ also sowohl Odysseus als auch Telemach an derselben Landspitze ihrer Heimatinsel ankommen und die Lage erkunden,571 und beide hatten für ihre Vorsichtsmaßnahme ähnliche Motive, nämlich die berechtigte Furcht vor der Gesinnung der Penelope bzw. vor den Freiern der Penelope, die ihnen nach dem Leben trachteten.572 Von der Landspitze aus fuhr das Schiff des Odysseus – wie das des Telemach – angeblich in den „schiffebergenden Hafen“ der Insel,573 womit wohl der Stadthafen des homerischen Ithaka gemeint ist, nämlich der tiefe Naturhafen von Argostoli. Vom Hafen stieg Odysseus zunächst auf das bewaldete Gebirgsmassiv der Insel, um einen Rundblick über die Insel Aiaia zu gewinnen.574 Der Dichter denkt dabei an das über 1.600 m hohe kephallenische Aenos-Massiv, das einen umfassenden Ausblick über die Heimatinsel des Odysseus ermöglicht.575 In dem Bergwald erlegte Odysseus sodann einen mächtigen Hirsch, den er zum Hafen hinabtransportierte. Während das Fleisch des erlegten Tieres mit den Gefährten verzehrt wurde, blieb das Hirschfell am Ufer des Naturhafens zurück.576 Einige Zeit später, als die zur Rahmenhandlung gehörenden Phaiaken den Odysseus ‚tatsächlich‘ in seine Heimat bringen und im morgendlichem Nebel heimlich beim Stadthafen absetzen, hängt der Dichter dieses, dann bereits „schäbige Fell eines eilenden Hirsches“ dem Odysseus um, damit er wie ein Bettler aussieht und nicht zu erkennen ist.577 Außerdem wird die körperliche Gestalt des heimkehrenden Odysseus verändert, und dazu berührt Athene ihn mit einem Zauberstaub,578 wie es auch Kirke zu tun pflegt, wenn sie Menschen verwandelt.579 Und wie Athene den Odysseus berät, den 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579

Od. 11,455 f. Od. 10,140. Od. 15,36; 495 ff. Od. 15,550 ff.; 16,31 ff. Indes, Telemach lief zu Fuß und Odysseus fuhr angeblich im Schiff zur Stadt. Vgl. Od. 14,180 ff.; 11,455 f. Od. 10,141; vgl. 15,503; 16,472 ff. Od. 10,145 ff. GOODISSON 136 f. Od. 10,172 ff.; 13,436. Od. 13,436. Od. 13,429. Der Zauberstab wird auch bei der Rückverwandlung benötigt (Od. 16,172). Od. 10,237 f.

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Phaiaken-Schatz in einer Höhle in Hafennähe zu verstecken,580 so weist ihn auch Kirke an, seinen Troja-Schatz in einer hafennahen Grotte zu verbergen.581 Die Doppelung der Motive ist noch stoffgeschichtlich zu klären. Odysseus erzählt in seiner fiktiven Geschichte zudem, er sei auf Aiaia sodann von der Hafenbucht zum Palast aufgebrochen und habe dabei „die heiligen Gründe“ durchschritten,582 womit vermutlich das Temenos mit dem heiligen Hain gemeint ist,583 das sich zwischen der Hafenbucht und dem kephallenischen Königspalast erstreckte. Auf dem Weg584 begegnete ihm der Götterbote Hermes, der ihn ausgiebig über „die Pläne und Tücken der Kirke“ informierte.585 Dieser „glich einem Manne in frühesten Jahren im ersten Bartschmuck, gerade im reizendsten Alter“, und er „drückte mir kräftig die Hand“.586 Vermutlich fabelt Odysseus von seinem Sohn Telemach, „den er als Neugeborenen daheim ließ“, als er nach Troja zog.587 Indes, auch bei der späteren Ankunft des Odysseus auf Ithaka wird Telemach seinem Vater begegnen, noch bevor er im Palast seine Frau Penelope wiedersehen wird.588 Bei dieser, im epischen Kontext ‚wirklichen‘ Heimkehr des Odysseus, die zur Rahmenhandlung gehört, erwähnt sein Vasall Eumaios einen Hermeshügel, den er kurz nach Verlassen des kephallenischen Palastes passierte: „Oberhalb der Stadt schon ging ich, am Hermeshügel; da sah ich eben ein eilendes Schiff, wie es in unseren Hafen einlief “.589 Der Hermeshügel spielt zwar in dem Kontext der ‚wirklichen‘ Heimkehr des Odysseus keine Rolle, indes ist er in der Aiaia-Episode von Bedeutung, obwohl er dort namentlich nicht genannt wird. Denn wenn Aiaia ein Synonym für Ithaka ist, dann dürfte der Treffpunkt von Hermes und Odysseus an dem von Eumaios genannten Hermeshügel anzusetzen sein, der im Stadtkreis von Ithaka liegt. Allein aufgrund der Angabe des Eumaios war es im Ithaka-Kapitel nicht möglich gewesen, den Hermeshügel topographisch exakt zu fixieren; doch nun – auf Aiaia – erfahren wir, dass sich die angebliche Begegnung des Odysseus mit Hermes zwischen dem „schiffebergenden Hafen“590 und dem Palast ereignete. Folglich dürfte der Hermeshügel die signifikante Anhöhe sein, die den inneren Teil der Bucht von Argostoli auf Kephallenia (dem homerischen Itha580 581 582 583 584 585 586 587

588 589 590

Od. 13,361 ff. Od. 10,403 f., 423 f. Od. 10,275. Temenos des Odysseus: Od. 17,299. Apollonhain: Od. 20,278; vgl. 17,208. Erwähnt sei, dass es auf Kirkes Insel Aiaia „breite Straßen“ gab (Od. 10,149); „εὐρυόδεια, ep. weitstraßig, Beiwort der Erde, insofern sie nach allen Richtungen durchwandert werden kann“ (BENSELER 369; vgl. Od. 9,52). Od. 10,281–308 (Zitat: 10,289). Od. 10,277 ff.; vgl. 15,319. Od. 4,112, 144. – Wenn Odysseus in der erfundenen Irrfahrterzählung mit Hermes seinen zum jungen Mann gereiften Sohn meint, dann erledigt sich auch das Monitum der Interpreten: „Odysseus erkennt hier [Od. 10,275 ff.] den Hermes ohne Weiteres“ (NITZSCH III 129), obwohl er sonst die Götter nicht erkennt (s. v. a. Od. 13,311 ff.). Od. 16,172 ff. Od. 16,471 f. – „Hermes ging dann über die Höhe der waldigen Insel weg zum langen Olympos“ (Od. 10,307). Mit der „Höhe der waldigen Insel“ ist wohl nicht der Hermeshügel gemeint, sondern der waldige Neriton (Aenos), der eine würdige Stufe zum Olymp darstellt. Od. 10,141.

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ka) begrenzt und deren 110 m hohes Gipfelplateau die Akropolis der antiken Hafenstadt Krane krönte.591 Zu dieser Lokalisierung des kephallenischen Hermeshügels passt gut, dass der Götterbote Hermes, der die Insel Aiaia des Öfteren besuchte,592 im Altertum als Hauptgottheit von Krane fungierte.593 Mythengeschichtlich bedeutsam ist der Hinweis, Odysseus habe während der Morgenröte (Eos) auf Aiaia zunächst das Gebirge bestiegen, in dessen Wäldern er einen großen Hirsch erlegte.594 Abgesehen davon, dass die Verbform (ἀνήϊον) des Bergsteigens (die in der Odyssee zweimal und ausschließlich beim Aufenthalt auf Aiaia auftaucht)595 sowohl lautmalerisch mit dem Namen des bestiegenen Gebirges (Neion) als auch mit der morgens aufsteigenden Sonne und somit der Morgenröte spielt,596 erinnert die Szene auffällig an den Eponym der Insel Kephallenia, den mythischen Heros Kephalos,597 der allmorgendlich im Gebirge jagte, weil sich Eos, die Göttin der Morgenröte, in ihn verliebt hatte.598 Abschließend ist noch das Hauptproblem jeglicher geographischen Bestimmung der homerischen Insel Aiaia zu thematisieren. Obwohl in der Vorstellung des Dichters die Irrfahrt des Odysseus westlich von Griechenland im Ionischen Meer spielt,599 verlegen manche Homerinterpreten zumindest einen Teil der Route in den Osten, so die Hafenstadt Telepylos600 und vor allem die Insel Aiaia. Diese irrige geographische Zuweisung stützt sich auf folgende Aussage des Odysseus: „Als wir wieder Aiaia betraten, wo Eos’, der Göttin der Frühe Haus und Tanzplatz liegen, die Insel, wo Helios aufsteigt, schoben wir das Schiff hinauf auf den Sandstrand sogleich nach der Ankunft“.601 Den zitierten Versen zufolge scheint Aiaia im äußersten Osten des Weltbildes zu liegen, und so kennt auch die Argonautensage eine östliche Insel namens „Aia“, die mit zunehmender geographischer Kenntnis im Osten des Schwarzen Meeres bei Kolchis fixiert wurde.602 Zudem wird das Aia der Argonautensage, wie das homerische Aiaia, von einer Zauberin bewohnt, die ebenfalls Kirke heißt.603 591 PARTSCH, Kephallenia 80. 592 Kirke erzählt, Hermes habe ihr „oft“ die Heimkehr des Odysseus verkündet (Od. 10,330 ff.). 593 „In fact, the four Kephallenian poleis seem to have had different main deities. Thus Pale Demeter, Krane Hermes, Same perhaps Athena, Pronnoi Zeus“ (RANDSBORG II 311). 594 Od. 10,144 (Eos); 146, 446 (ἀνήϊον), 158 ff. (Erlegung des Hirsches). 595 Od. 10,146, 247. 596 Die Grundform des Verbs lautet „ἄνειμι aufgehen, von der Sonne; hinaufsteigen“ (BENSELER 67); vgl. Ilias 18,136. Od. 1,24. 597 Aristoteles in Etym. M. 144,26 u. Heraclid Polit. fr. 72. Antike Münzen der kephallenischen Stadt Pale tragen das Bild des Kephalos (BIEDERMANN 67 f.). 598 „Nicht homerisch, aber schon von Hesiod, Theog. 986 erwähnt ist ist die Verbindung der Eos mit Kephalos“ (RAPP, Eos 1268,30 ff.). Erst später wurde „der Hymettos, über welchem für Athen die Morgenröte erschien, zum Jagdgebiet des Kephalos und zum Schauplatz sowohl der Eos- als der Prokrissage“ (RAPP, Kephalos 1090, 30 ff.). 599 Das Gros „der Abenteuer des Odysseus weist nach Westen, so dass man vermuten darf, dieser stehe in Zusammenhang mit dem Vordringen der Griechen nach Italien und Sizilien“ (SCHMID/STÄHLIN 113). 600 Aufgrund des Quellnamens Ἀρτακίη (Od. 10,108), der für Kyzikos belegt ist (Apoll.Rhod. 1,957). 601 Od. 12,3 ff. 602 Aber „das Kirkäische Feld bei Kolchis (Apoll. Rh. II 400 mit Schol.) kann nicht als Zeugnis gelten, dass je die Kirke im Osten gewohnt, zumal für die ältere Sage“ (NITZSCH III 363). 603 Apoll.Rhod. 3,311 u. a.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

Da jedoch das ursprüngliche Verhältnis von Odyssee und Argonautensage nicht hinreichend geklärt ist,604 ist ungewiss, ob das homerische Aiaia eine Dublette von Aia ist, oder ob – umgekehrt – das Aiaia der Odyssee als Vorbild für das Aia der Argonautensage diente. Immerhin ist bekannt, dass die ursprüngliche Fassung der Argonautensage, wie auch die angebliche Irrfahrt des Odysseus, in westlichen Gefilden spielte,605 und so fuhr der frühgriechische Jason „auf der Argo durch die Meere des Westens einem ‚westlichen Aia‘ entgegen“.606 Also, „Homer kennt nur ein westliches Aiaie, wo Kirke wohnt“, und erst „später taucht ein östliches Aiaie auf, wo Aietes haust, so dass zwei von den Kindern des Helios bewohnte Sonneneilande – ein östliches und ein westliches – gedacht wurden“.607 Deshalb ist davon auszugehen, dass die Insel Aiaia samt der homerischen Kirke in der Vorstellung des Dichters nicht im fernen Osten, sondern westlich von Griechenland lag. Als Beleg sei besonders die Auffassung des homerischen Zeitgenossen Hesiod hervorgehoben, der zwar den Inselnamen „Aiaia“ vermeidet, aber die „Insel der Kirke“ als „die Abendliche“ bezeichnet, weil sie in Richtung Sonnenuntergang liegt.608 Die entgegengesetzte und zuweilen apodiktisch vertretene Annahme, Kirke gehöre als Tochter des Helios zum Ort des Sonnenaufgangs, ist also keineswegs zwingend, worauf z. B. Ulrich von Wilamowitz ausdrücklich hinweist: „Wer da weiß, daß Medeia nach Korinth gehört …, der wird eine Heliostochter nicht notwendig am Tanzplatze der Eos“ und damit im Schwarzmeerraum suchen.609 Diese zutreffende Feststellung beantwortet aber nicht die hinsichtlich des homerischen Aiaia schon von Wilhelm Heinrich Völcker gestellte Frage: „Warum der Aufgang des Helios in dem Abendland?“610 Denn selbst wenn die homerische Kirke-Insel Aiaia aus den genannten Gründen im Westen von Griechenland anzusetzen ist, so charakterisiert die Angabe der Odyssee, auf Aiaia würden „das Haus und der Tanzplatz“ der Göttin der Morgenröte liegen und somit der Ort des Sonnenaufgang sein, eindeutig eine im Osten platzierte Insel. Indes, würde Odysseus definitiv wissen, dass er auf Aiaia im äußersten Osten der Erdscheibe angelangt ist, beim ‚absoluten‘ Ort der Morgenröte, dann hätte er sicherlich nicht gesagt: „Freunde, wir wissen nicht mehr, wo Westen und Osten ist“.611 Der Dichter scheint sich aber nur deshalb selbst zu widersprechen, weil wir unser astronomisches und geographisches Weltbild voraussetzen und nicht das der homerischen Zeit. Denn „während 604 Vgl. HÖLSCHER, Odyssee 173 ff. Bereits die Odyssee (12,69 ff.) nennt Jason samt „Argo, von der sie noch alle singen und sagen“. Den Argonauten Jason kennt auch schon die Ilias (7,469; 21,41; 23,747). 605 „In der Sage“ hat sich „schon sehr früh die später allgemein herrschende Ansicht durchgesetzt, daß Kirke im Westen wohne“ (MEULI, Odyssee 54). Siehe auch APOLLONIOS RHODIOS (3,304 ff.): Helios habe zunächst „Kirke auf westliche Erde gebracht“, sie sei aber später ins östliche Aia umgezogen. 606 HÖLSCHER, Odyssee 175. Die Fahrt der Argo wurde erst „nach der milesischen Kolonisation des Pontos (im siebenten Jahrhundert)“ nach Kolchis gelenkt (a. a. O.). 607 BUCHHOLZ 275, Anm. 7; mit Bezug auf Ludwig PRELLER (I 294): So „ist die allgemeine Dichtung, daß das westliche Aea von der Kirke, das östliche von Aeetes bewohnt sei“. 608 HESIOD, Frauenkatalog 46. 609 WILAMOWITZ, Untersuchungen 167. 610 VÖLCKER 131. 611 Od. 10,190.

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wir die Erdoberfläche in die nördliche und südliche Halbkugel teilen, kennt Homer nur eine Licht bringende und eine Dunkel bringende, eine Tag- und Nachtseite, eine Ostund Westhälfte der Erde“.612 So liegt diese Vorstellung z. B. der Aussage des Schafhirten in der Heimat des Odysseus zugrunde, wenn er sagt: Ithaka sei vielen Menschen bekannt, „mögen sie wohnen, wo Morgen es wird und sonniger Mittag, oder auch dort, wo sie hinter uns hausen im düsteren Westen“.613 Vor dem Hintergrund dieses Weltbildes erzählt Odysseus über Aiaia folgendes: „Als dann die Sonne versank und Dämmerung nieder sich senkte, legten wir endlich uns hin zum Schlafen am Rande des Meeres. Als dann die Frühe sich zeigte, Eos mit rosigen Fingern, rief ich auf zur Beratung und sagte: … Freunde, wir wissen nicht mehr, wo Westen (ζόφος) und Osten (ἕως) ist, nicht wo die Sonne, die Sterblichen leuchtet, sich unter die Erde senkt und nicht, wo sie aufsteigt“.614 Der letzte Satz zeugt von einer Orientierungslosigkeit, die dem zuvor Gesagten zu widersprechen scheint, denn Odysseus hat ja an jenem Morgen die Morgenröte gesehen und am Abend zuvor den Sonnenuntergang!615 Also hätte er auf Aiaia wissen müssen, in welchen Himmelsrichtungen Westen und Osten liegen, denn „ueber Auf- und Untergang der Sonne im buchstäblichen Sinne konnten die Kephallenen nach dreitägigem Verweilen auf der Insel wohl eben wenig im Zweifel sein“.616 Dennoch zeugt die Verwirrung, die in den Worten des Odysseus ihren Ausdruck findet, nicht von dichterischer Unachtsamkeit, wie man zunächst vermuten könnte, sondern in ihr manifestiert sich das durch die beginnende Westkolonisation aus den Fugen geratene frühgriechische Weltbild: Als Odysseus von Troja abfuhr, schien seine Heimatinsel am Westrand der Erde platziert zu sein,617 da Ithaka beim „Felsen Leukas“ und den westlichen „Toren des Helios“ lag, hinter denen sich nur noch ein insellos erscheinender Ozean erstreckte.618 So ist der westgriechische Inselraum noch in der Ilias der westlichste Teil der Oikumene619 und dahinter erstreckte sich, mit Ausnahme des paradiesischen Elysions,620 nur noch das dunkle Totenreich, das Erebos.621 Aufgrund 612 BREUSING, Nautik 24. – „Die der Morgenseite der Erde entgegengesetzte Nachthälfte heißt περάτῃ Od. 23,243“ (VÖLCKER 87). 613 Od. 13,240 f. – Aufgrund der vorgelegten Deutung, derzufolge das homerische Aiaia die westgriechische Insel Kephallenia bezeichnet, ist nun verständlich, „dass bei Homer so nahe an den Gegenden der ewigen Nacht und des Todes die Sonnentochter Kirke wohnt“ (NITZSCH III 386). 614 Od. 10,185 ff. Diese Stelle behandelt u. a. Gregor Wilhelm NITZSCH (III 114–117). 615 Odysseus landet auf Aiaia (Od. 10,133 ff.), erlebt dort viermal die Morgenröte (144, 187) und mindestens einen Sonnenuntergang (183, 185), bevor er orientierungslos ist (190 ff.). 616 RÜHLE 57 f. 617 Der Odyssee (9,25 f.) zufolge liegt Ithaka „am weitesten westlich“. 618 Od. 24,11 f. Vor den „Toren des Helios“ lag der homerische Leukas-Felsen, der als „Symbol des Tageslichtes vor dem westlichen Nachtreiche“ galt (VÖLCKER 154). 619 Die Ilias kennt im Westen weder das Elysion (Od. 4,563) noch den Heros Atlas (Od. 1,52; 7,245), geschweige denn Sizilien und die Sizilianer (Od. 20,383; 24,211, 307, 366, 389). 620 Od. 4,562 ff. Das Elysion liegt im Westen, denn „Zephyros läßt allzeit seine hellen Winde dort wehen, die ihm der Ozean schickt zur Erfrischung der Menschen“ (4,567 f.). 621 Od. 10,528 f.; 12,81. – Über die Lage des Totenreichs „bekennen wir uns hier nur kurz völlig einstimmig mit [ Johann Heinrich] Voss, der in seinen Schriften jeher lehrte, das Homerische Todtenreich sei eigentlich unterirdisch, habe aber seinen Eingang im sonnenlosen Westen“ (Nitzschg III 187).

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dieser mythologischen Vorstellung „muss der fragliche Satz [Od. 12,3 f.: „… und als wir wieder Aia die Insel Aiaia betraten, wo Eos’, der Göttin der Frühe Haus und Tanzplatz liegen und wo Helios aufsteigt“] ganz nothwendig und weigerlich so verstanden werden, wie ihn die Grammatiker und Gelehrten erklärten: wo man sich wieder im Gebiete des Tageslichtes befindet“.622 Odysseus wurde während der Heimfahrt von Troja nach Ithaka vom Kap Malea aus zunächst übers Libysche Meer geworfen und weit nach Süden und Westen verschlagen, wo er auf fremde Länder und Inseln traf. Von diesen, den Griechen bislang unbekannten Gefilden, kehrte Odysseus schließlich zu seiner Heimatinsel zurück, indem er ostwärts fahrend (!) die „trennende Schranke des Ionischen Meeres“ überwand.623 So tauchte nach der langen Meeresüberquerung die gebirgige Insel Aiaia, also der „westliche Eckpfeiler Griechenlands“, nämlich Kephallenia,624 eindrucksvoll am östlichen Horizont auf, und deshalb erschien dem Odysseus die Insel geradezu als Ort der Morgenröte mit dem Haus und Tanzplatz der Eos.625 Dieser Sachverhalt führte verständlicherweise zu der zitierten Orientierungslosigkeit, obwohl Odysseus und seine Gefährten auf Aiaia auch Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge erlebten. Fazit: Nur vor dem dargelegten geographischen bzw. kosmologischen Hintergrund sind die problematischen Worte, „Freunde, wir wissen nicht mehr, wo Westen und Osten ist“, überhaupt erst verständlich. Außerdem ist zu beachten, dass der Dichter die Worte über die geographische Lage der Insel Aiaia dem Odysseus lediglich in dem Mund legt. Nicht der Dichter ist orientierungslos, sondern ausschließlich sein Titelheld Odysseus, der während der Irrfahrt seine westgriechische Heimatinsel überraschenderweise im fernen Osten auftauchen sah.626 Aufgrund dieser neuen Perspektive erschien Ithaka bzw. Aiaia als Insel der Morgenröte und des Sonnenaufgangs, und deshalb ist der vielgereiste Odysseus zunächst ratlos, wo Westen und Osten ist. Und daraus folgt, dass für den Odysseedichter keineswegs ein Aiaia im Osten und ein zweites Aiaia im Westen existiert, wie mancher Homerinterpret bislang ratlos annahm,627 sondern nur ein einziges Aiaia, das, je nach 622 NITZSCH III 362. „Für diese relative Deutung [derzufolge die Eos und der Sonnenaufgang im Osten, sondern im Westen erscheint] nach der Situation in die lichte Welt und das Gebiet des Tages zurück, haben auch die meisten neuern Erklärer gestimmt“ (ders. III 360). „Den Plural ἀντολαὶ [Od. 12,4] beziehe ich mit Nitzsch darauf, dass jeder Ort der lichten Welt täglich die Sonne aufgehen sieht“ (BUCHHOLZ 276). 623 ZIEGLER, Sikelia 2462,27 f. 624 PARTSCH, Kephallenia 23. 625 Den Seefahrern des Ionischen Meeres erscheint die Insel Kephallenia am Morgen besonders eindrucksvoll, wenn hinter dem 1600 m hohen, länglichen Grat des Aenos die Sonne aufgeht und die ersten Lichtstrahlen „der rosenfingrigen Eos“ (Od. 12,9) sich zwischen den über 1.500 m hohen Gipfelkuppen hindurchtasten. 626 Vgl. Od, 10,21–50: Odysseus überquerte von Aiolia (Ortygia/Syrakus) aus das offene Meer ostwärts direkt in Richtung Ithaka. Aber als er von Aiolia seinen heimischen Inselraum erreichte, konnte er sich der Problematik noch nicht bewusst werden, denn er traf dort nachts ein, und ihm entschwand die Heimat infolge des plötzlichen Sturms noch vor der Morgenröte (Od. 10,28 ff.). – Gelangte Odysseus ursprünglich direkt von Aiolia nach Ithaka/Aiaia? 627 U. a. VÖLCKER 130 f.

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Perspektive, ein westliches (für die Griechen des Mutterlandes) oder ein östliches (für die Griechen der Magna Graecia) war. Und so kommentiert Horace Leonard Jones eine entsprechende Stelle bei Strabon: „Odysseus was at the isle of Circe when … the celestial phenomena had changed“.628 Also, aufgrund der zuvor erfolgten langen Überquerung des offenen Ionischen Meeres ostwärts erschien dem Odysseus die Insel Aiaia (Kephallenia) als die östliche Insel der Eos, und das führte zu der geäußerten Orientierungslosigkeit. Somit manifestiert sich in der fiktiven Irrfahrterzählung des Odysseus die enorme Öffnung des geographischen Horizontes nach Westen und der damit verbundene Zusammenbruch des alten kosmologischen Weltbildes, das jahrhundertelang beim westgriechischen Inselraum das westliche Ende der Erde fixierte. Odysseus sagt also, im Westen des Ionischen Meeres herrscht keineswegs ewige Düsternis, sondern dort gibt es fruchtbare, zur Kolonisation geeignete Länder und Inseln,629 die ebenfalls den Tageszeiten unterliegen. Und diese unglaubliche Erweiterung des Welt- und Erfahrungshorizontes während des homerischen Zeitalters, die zur griechischen Kolonisation Siziliens und Süditaliens führte,630 ist die eigentliche und wahrlich ‚märchenhaft‘ klingende Botschaft, die der Dichter in der Aiaia-Geschichte seinem staunenden Publikum mitzuteilen beabsichtigt. 2.2.3 Die unheimliche Stadt der Kimmerier Odysseus sann angeblich nicht auf neue Taten, denn er wollte Aiaia, das als Pseudonym für seine Heimatinsel Ithaka fungiert, gar nicht mehr verlassen. Dennoch behauptet Odysseus, seine Gefährten hätten ihn nach einjährigem Aufenthalt auf Aiaia zum Aufbruch genötigt.631 „Freilich ist es ein Widerspruch, daß Odysseus bei Kirke ruhig ein Jahr verweilt, bis seine Gefährten zur Abfahrt drängen“, zumal wenn man bedenkt, dass er im weiteren Verlauf der Irrfahrt auf der Insel Ogygia „aus Heimweh der Kalypso nicht froh wird“.632 Die vermeintliche Ungereimtheit, derzufolge Odysseus bei der schönen Göttin Kalypso, die ihn liebte und Unsterblichkeit bot,633 stets Tränen vergoss und auf Heimkehr sann,634 während er bei Kirke gern verweilte, wird verständlich, wenn 628 JONES V 45, Anm. 2 (bzgl. Strab. 10,2,12). 629 Od. 9,116–141. 630 „Erst während des Zeitalters der großen griechischen Kolonisation im 8. Jh. v. Chr. richtete sich der Blick von Hellas auch nach dem Westen, dem geheimnisvollen weiten Meer, unbekannt und voller Gefahren, das den Griechen stets ‚Barbarisch‘ und fremdartig erschien“ (GALLAS 9). 631 Od. 10,467 ff. Im Widerspruch zu dieser Darstellung steht die Stelle Od. 9,29 ff., die aufgrund diverser Anhaltspunkte als Interpoaltion gilt (BLASS 110 f.): „Wahrlich, es hielt mich zurück eine hehre Göttin Kalypso, wünschte ich würde ihr Gatte in ihrer geräumigen Grotte. Gradso wollte die listige Kirke, ich sollte Aiaia, sollte ihr Haus nicht verlassen, und wünschte, ich würde ihr Gatte. Doch mein Gemüt in der Brust ist keiner hörig geworden. Läßt sich doch nichts an Süße mit Eltern vergleichen und Heimat“. 632 BETHE 113. – Als Erklärung, weshalb Odysseus auf Aiaia gern verweilte, wird gemutmaßt, Kirke habe „ihn ein Jahr lang mit den Seinigen bewirthet, so daß ihnen die volle Kraft wiederkehrt, wie sie da auszogen von Ithaka“ (KLAUSEN 36). 633 Od. 7,257; 23,333 ff. 634 Od. 5,151 ff.; 7,260.

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Odysseus in seiner fiktiven Irrfahrterzählung Kirke (die einzige, die ihn ‚becircte‘) als Deckname für Penelope fungiert. Odysseus erzählt, Kirke habe ihn beauftragt, zunächst zum Eingang des Reiches der Toten im Land der Kimmerier zu segeln.635 Dort solle er den verstorbenen Seher Teiresias befragen, wie der Gott Poseidon, der ihm endlos zürnte,636 zu versöhnen sei.637 Aber, so könnte man nun einwenden, wenn Aiaia mit dem homerischen Ithaka zu identifizieren ist, weshalb sollte der standhafte Odysseus von Kirke und seinen kephallenischen Gefährten gedrängt worden sein, die endlich erreichte Inselheimat abermals zu verlassen, zumal für ihn „kein Übel vergleichbar dem [schrecklichen] Meere ist“.638 Und warum musste sich Odysseus mit Poseidon versöhnen, zumal dieser Gott des Meeres die – in der fiktiven Geschichte – bereits erfolgte Heimkehr nicht mehr durchkreuzen kann? Diese Problematik scheint stoffgeschichtlich bedingt zu sein, denn der Dichter dürfte zwei verschiedene Reisen des Odysseus aneinander geknüpft haben, wobei die eine ihren Endpunkt in Ithaka (Aiaia) hatte und die andere dort ihren Anfang nahm. Bei der Fahrt zum Tor der Unterwelt ging es in der mythischen Vorlage wohl gar nicht um Heimfahrt, sondern um Aufbruch, wie die folgende Analyse zeigt. Die ursprüngliche Abreise des Odysseus von Ithaka bzw. von Aiaia, das innerhalb der Irrfahrterzählung als Pseudonym für die Heimatinsel des Helden dient, ist dadurch motiviert, dass der aufbrausende Gott Poseidon in der Odyssee (obwohl er die See kräftig aufzuwühlen vermag)639 weniger als Meergott in Erscheinung tritt, sondern vielmehr als „Erderschütterer“,640 und als solcher „zürnte er dem Odysseus endlos“, wie das Epos gleich zu Beginn feststellt.641 Wie bereits im Ithaka-Teil der vorliegenden Studie dargelegt, gibt es keinen bewohnten Bereich des griechischen Erdraumes, der häufiger und heftiger von Erdbeben erschüttert wird als der westgriechische Inselbogen, über den sich der Herrschaftsbereich des Odysseus erstreckte. Die Kephallenen der homerischen Zeit hatten für die Erdbeben noch keine naturwissenschaftliche Erklärung und glaubten womöglich tatsächlich, dass „dem Erdbeweger Poseidon die Galle unentwegt kocht, weil Odysseus das Auge des Kyklopen [Polyphem] geblendet“ habe.642 Schließlich galt der Erderschütterer als „Vater“ der Kyklopen.643 Und da die Augen der Kyklopen schon im Altertum als Vulkankrater gedeutet wurden,644 ist es bemerkenswert, dass bereits 635 636 637 638 639 640 641 642 643 644

Od. 10,490 ff. Od. 1,20 f., 67 ff.; 13,341 ff. Od. 10,490 ff., 562 ff. Od. 8,138. – Die antike Seefahrt war deshalb so schrecklich, da bei einer Havarie der Tote nicht bestattet werden konnte und somit die Seele keine Ruhe fand. Bestattung ist also notwendig (vgl. Od. 11,72 ff.). Od. 5,291 ff., 366 ff. Od. 1,68, 74; 3,6, 55; 5,282, 339, 366, 375, 423; 6,326; 7,35, 56, 271; 8,322, 350, 354; 9,283, 518, 525, 528; 11,102, 241, 252; 12,107; 13,125, 140, 146, 159. Od. 1,20 f. – Und Leukothea fragt den Odysseus: „Warum zürnt dir so schrecklich Poseidon? Warum schickt dir der Erderschütterer Unheil auf Unheil?“ (Od. 5,339 f.). Od. 1,68 f.; vgl. 13,341 ff. Od. 9,528 f. Wie bereits im Kyklopen-Kapitel (2.1.2.) dargelegt, ist „das von Odysseus ausgebrannte glühende Stirnauge des schon von den Alten mit einem ῥίον ὑλήν (Od. 9,191) … verglichenen Kyklopen auf die vulkanischen Krateröffnungen des Ätna zu beziehen“ (ROSCHER, Kyklopen 1689,59 ff.).

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Homer die Naturphänomene Vulkanismus und Seismizität verknüpft, die beide meist infolge der Plattentektonik auftreten.645 Nachdem Odysseus den Kyklopen Polyphem, den Sohn des Erderschütterers Poseidon, geblendet hatte, flehte jener seinen göttlichen Vater an, er möge den Odysseus hart strafen.646 Um den Fluch abzuwenden, brachte Odysseus dem Zeus ein Opfer dar, aber dieser hat es missachtet,647 und folglich musste der nach Ithaka zurückgekehrte Held sich mit dem Erderschütterer Poseidon demütig arrangieren, damit ihm die Götter des Olymp den heimatlichen Frieden und die damit gesicherte Königsherrschaft gewährten.648 Auch deshalb spricht der Dichter nicht bloß von Rückkehr, sondern wiederholt von „angenehmer Heimkehr“ bzw. „erfreulicher Heimkehr“.649 Die für die Königsherrschaft erforderliche gottbegnadete Heimkehr konnte Odysseus nur erwirken, wenn er zunächst im Totenreich die Seele des verstorbenen Sehers Teiresias befragte, wie Poseidon zu besänftigen sei. Ja, selbst ein unwilliger Odysseus wäre von seinem unter Erdbeben leidenden Volk gedrängt worden, seine Heimat zu verlassen, um sich mit dem Erderschütterer zu versöhnen. Und so nötigten ihn seine Gefährten zum Aufbruch vom heimatlichen Aiaia;650 allerdings waren auch sie entsetzt zu hören, dass der Weg zunächst zum Eingang der Totenwelt führen sollte.651 – Jedoch ist stets daran zu denken, dass die Irrfahrtgeschichte fiktiv ist und Homer sie dem sprichwörtlich listenreichen Odysseus bloß in den Mund legt. Obwohl angeblich „in der ganzen umfangreichen Erzählung sich nicht die geringste Spur findet, welche ein Urtheil darüber zu bilden verstattet, wo im Sinne des Verfassers das Local des Hadeseinganges gelegen zu denken ist“,652 stellt sich nun die Frage, an welchem Ort in der Vorstellung des Dichters das Tor zum Totenreich lag, das der unerbittliche Hades beherrschte.653 Im Volksglauben der alten Griechen führten die Seelen der Verstorbenen im fernen Westen unter der Erde ein schattenhaftes Dasein, das sich die Lebenden als einen unangenehmen Dämmerzustand vorstellten.654 Nur ganz wenigen Menschen von göttlicher Abstammung, die zudem besondere Verdienste in ihrem irdischen Leben erworben hatten, war es vergönnt, nach dem Tode im fernen

645 646 647 648 649 650 651 652 653 654

WARNECKE, Erdbeben 18 ff.

Od. 9,528 ff. Od. 9,551 ff. So sagte der heimgekehrte Odysseus: „Liebes Weib, wir stehen ja noch nicht am Ende der Plagen; unermeßliche Mühen wird es noch kosten; ich muß sie alle zu Ende noch bringen, so viel und so schwer sie auch seien; denn meine Zukunft hat mir Teiresias’ Seele geweissagt“ (Od. 23,248 ff.). Erwähnt sei, dass „Homer oft ἡδύς und γλυκερὸς νόστος verbindet“ (PAPE II, Nostos 249). Odysseus: „Trotzig war mein Gemüt bei den Worten“, die zur Abfahrt mahnten (Od. 10,475). Bemerkenswert sind die Worte, mit denen ihn seine Gefährten zur Räson bringen: „Du Daimon! So gedenke jetzt endlich des väterlichen Bodens“ (Od. 10,472 f.). Od. 10,567 ff. KIRCHHOFF 225. Der verhasste Hades (Ilias 9,158 f.) ist Herr und „Torschließer“ des Totenreichs (Od. 11,277). Bei der Aufteilung der Welt unter den Kronos-Söhnen hatte Hades die Unterwelt erhalten (Ilias 15,187 ff.). Od. 11,42 f., 205 ff., 217 ff. Darum wäre Achill lieber Knecht als Herrscher im Totenreich (Od. 11,488 ff.).

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2. Die Irrfahrtgeschichte

westlichen Elysion ein paradiesisches Leben in voller Körperlichkeit und ewiger Jugend zu führen.655 Das unterirdische westliche Totenreich, in das dagegen alle anderen Sterblichen gelangten, besaß in der Vorstellung der Griechen ein für Menschen zugängliches Tor, das jedoch an unterschiedlichen geographischen Orten fixiert wurde. Immerhin nahm man bis zur klassischen Antike an, dass die Unterweltszugänge „alle im Westen des Peloponnes liegen“,656 und zwar der abendlichen Sonne zugewandt, die dort im offenen Ionischen Meer versinkt. Wie bereits im Kapitel über die Insel Aiaia dargelegt, endete das frühgriechische Weltbild hinter den Westgriechischen Inseln. Auf die Frage, wo für Homer der Eingang zum Totenreich lag, gibt die Ilias eine eindeutige Antwort: Bei „Pylos“ an der Westküste des Peloponnes!657 Im vorletzten Kapitel über die homerischen Laistrygonen und deren Stadt Telepylos wurde schon erwähnt, dass es an der Westküste des Peloponnes zwei Städte namens Pylos gab, nämlich die berühmte Hafenstadt an der Südwestspitze Messeniens (die Odysseus als Telepylos bezeichnet) und das noch zu behandelnde gerenische Pylos,658 also der Stadt des weisen Königs Nestor in Triphylien, in deren Nähe die Ilias den Eingang zur Unterwelt verortet. So erscheint es seltsam, dass bereits im Altertum v. a. das messenische Pylos als die Stadt des Nestor betrachtet wurde.659 Die irrige Lokalisation resultierte daraus, dass einerseits die triphylische Stadt des Nestor infolge der dorischen Wanderung untergegangen war, und andererseits in der klassischen Zeit des Altertums zwei größere Orte den Namen Pylos trugen, nämlich eine Stadt mitten in Elis, die jedoch schon wegen ihrer binnenländischen Lage nicht das Pylos des Nestor gewesen sein konnte, und „die bekannte Stadt Pylos in Messenien, die um 365 v. Chr. gegründet oder wiedergegründet worden war“.660 So hat, wie schon Eduard Meyer hervorhob, das messenische Pylos „den Ruhm an sich gezogen, die Heimat des Nestor zu sein“.661 Erst „die hellenistischen Homererklärer erkannten dann, daß die homerischen Angaben auf das messenische Pylos gar nicht paßten, sondern einen Ort weiter nördlich in Triphylien verlangten“,662 und so fanden 655 Od. 4,563 ff. 656 MEYER, Pylos 2136,22 f. „Die sonst so seltenen Hadeskultstätten gab es an der Westküste des Peloponnes mehrfach, so beim elischen Pylos (Paus. VI 25,2) und beim triphylischen (Strab. VIII 3,14. 15 p. 344)“ (ders. 2136,65 ff.). 657 Ilias 5,395 ff. Also, Pylos ist „bei Homer in Ilias 5,397 der Eingang in die Unterwelt. Auf Erden ist Pylos bei Homer vor allem Landschaftsname“, „Stadt erst in der Odyssee“ (MEYER, Pylos 1250,28 ff.). 658 „Gerenios“ (Od. 3,68, 102, 210, 253, 386, 397, 405, 411, 417, 474; 4,161) ist der Beiname des in Pylos herrschenden Nestor. Dessen Stadt wird in den homerischen Epen oft genannt (Ilias 1,269. 252; 2,77, 591; 9,153, 295; 11,682, 689, 716, 760. Od. 1,93, 284; 2,214, 308, 326, 359; 3,317; 3,4, 31, 59, 182, 485; 4,599, 633, 634, 639, 656, 702, 713; 5,20; 11,257, 285, 459; 13,274; 14,180; 15,42, 193, 216,226, 227, 236, 541; 16,24, 131, 142, 323, 337; 17,42, 109; 21,108; 24,152, 430). 659 Siehe v. a. Pind. Pyth. 4,223, 309; 5,94; 6,34 f. Pherekydes FGrH3 frg. 117 in Schol. Od. 11,281. Hellanikos FGrH 4 frg. 124 in Schol. Od. 13,4. Eustath. 1454,30 ff. 660 MEYER, Pylos 2139,48 f. 661 MEYER, Pylos 2151,33 ff. „Das scheint schon in der bekannten Stelle der Ilias 9,149 ff. = 291 ff. vorzuliegen,“ wo Agamemnon dem Achill … „die äußersten [Orte] im sandigen Pylos“ anbietet (a. a. O.). 662 MEYER, Pylos 2153,23 ff.

2.2 Die Grenze zum Jenseits

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die Gelehrten ein triphylisches Küstendorf, an dem noch der alte Name Pylos haftete.663 Aber „für die nachhellenistische Handbuchliteratur war eine Wissenschaft, die das berühmte homerische Pylos in einem kleinen obskuren Dorf wiederfand, zu hoch. Sie geriet wieder gänzlich in Vergessenheit“, und so wurde das homerische Pylos wieder als die bekannte messenische Stadt betrachtet.664 Als Wilhelm Dörpfeld im Jahr 1907 nahe der triphylischen Küste beim Dorf Kakovatos die Reste eines mykenischen Palastes entdeckte und als die Burg des Nestor deklarierte,665 „schien er das Problem für Triphylien sicher entschieden zu haben“.666 Doch trotz der topographischen und archäologischen Evidenz wurde in der Mitte des 20. Jhs. das triphylische Pylos erneut zur Disposition gestellt: Denn amerikanische und griechische Archäologen haben seit dem Jahr 1939 im Westen Messeniens „in der Flur Ano-Englianos einen mykenischen Palast ausgegraben und behaupten, dort das wahre Pylos des Nestor gefunden zu haben, obwohl die Lage zu den Angaben Homers nicht im geringsten paßt“;667 und der Ausgräber „Mac Donald kann diesen Ansatz nur retten, indem er dauernd mit der Begründung operiert, daß bei Homer nicht stehe, was nun einmal dasteht“.668 „Daß die glücklichen Ausgräber“ den Palast von Ano-Englianos „sofort für den Palast Nestors erklärten, ist verständlich“, unverständlich hingegen bleibt, „daß diese Behauptung bisher fast allgemein unwidersprochen einfach hingenommen worden ist“.669 Und so wird der messenische Palast von Ano-Englianos seit über einem halben Jahrhundert in der Literatur als Nestor-Palast vorgestellt und als solcher touristisch vermarktet. Immerhin trug der Ort schon in spätmykenischer Zeit den Namen „Pylos“,670 wie aus den in Ano-Englianos entdeckten Tontafelfunden hervorgeht, die „in kretischer Linearschrift B“ abgefasst sind.671 Aber der Name allein ist kein zwingendes Indiz für die von manchen postulierte Identität mit dem „sandigen Pylos“ Homers, sondern er zeugt lediglich davon, dass der westmessenische Herrschersitz von Ano-Englianos schon in spätmykenischer Zeit den Namen Pylos trug, wie auch im Altertum das wenige Kilometer weiter westlich platzierte Pylos-Koryphasion. Der alte homerische Name Pylos soll also für die Flur Ano-Englianos und das Kap Koryphasion gar nicht bezweifelt werden, im Gegenteil: Er ist sogar ein schlagender Beleg für die in der vorliegenden Studie ent663 Strab. 8,3,1; 3,14 ff. – „Das homerische Pylos bei dem heutigen Kakovatos wurde von den Doriern zerstört; … vielleicht haben die von hier vertriebenen Pylier das messenische Pylos gegründet“ (PHILIPPSON/KIRSTEN III 363). 664 MEYER, Pylos 2154,63 ff. 665 PHILIPPSON/KIRSTEN III 363. – Er liegt auf einem 73 m hohen Hügel etwa 2 km vom Meer entfernt. 666 MEYER, Pylos 2156,13 f. 667 PHILIPPSON/KIRSTEN III 387. – Der Ort liegt in 185 m Meereshöhe, etwa 10 km vom Meer entfernt. 668 MEYER, Pylos 2157,34 ff.; mit diskreditierenden Belegen. „Ganz schlimm aber ist, daß Mac Donald die geographischen Verhältnisse in gröbster Weise verzerrt“, „um damit Homers Bericht als unwahrscheinlich zu erweisen“ (ders. 2157,53 f.; 2158,5 ff.). 669 MEYER, Pylos 2157,13 ff. Dass aber „Ano-Englianos nicht das homerische Pylos gewesen sein kann, wird neuerdings [im Jahr 1955] sogar von einem der Ausgräber selber zugegeben“ (ders. 2518, 64 ff.; mit Bezug auf Spyridon Marinatos, Das Altertum 162 f.). 670 „In den Tontafeln von Ano-Englianos kommt der Name Pylos (pu-ro) häufig vor“ (MEYER, Pylos 2520,14 f.). Der Palast datiert aus spätmykenischer Zeit (um 1200 v. Chr.). 671 MEYER, Pylos 2142,57 ff. Dort wurden über 600 Tontafeln in kretischer Linearschrift B entdeckt.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

faltete These, dass bereits der Kephallenenkönig Odysseus die Gegend um das messenische Koryphasion als „das ferne Pylos“ (Telepylos) bezeichnete, um es vom weniger weit entfernten „sandigen Pylos“, dem Sitz des Nestor, zu unterscheiden. Und weil schon der Dichter der Odyssee an der Westküste des Peloponnes zwei Orte namens Pylos kannte,672 stellt sich gar nicht die viel diskutierte Frage, ob zu homerischer Zeit der Ortsname Pylos entweder das triphylische oder das messenische bezeichnete. Denn unter dem Namen „Pylos“ verstehen die homerischen Epen die Stadt und den Herrschaftsbereich des weisen Königs Nestor,673 der noch als rüstiger Greis am Trojanischen Krieg teilnahm,674 und dessen „sandiges Pylos“ bezieht sich eindeutig auf Triphylien.675 Diese Auffassung stünde nicht infrage, wenn nicht beim messenischen Pylos der bereits erwähnte minoische (!) Palast entdeckt worden wäre, der wohl kaum als Sitz des spätmykenischen Königs Nestor anzusprechen ist. Das „kennzeichnende Beiwort ‚sandig’“,676 das die Stadt und das Reich des Nestor in Ilias und Odyssee exklusiv führt, lässt sich durchaus einer bestimmten Landschaft zuweisen: Die Westseite des Peloponnes wird insbesondere vom Golf von Arkadia geformt, der sich geschwungen zwischen dem Kap Katakolon im Norden und dem messenischen Küstengebirge im Süden erstreckt. Die gesamte Küste des Golfes besteht aus einem durchgehenden, ca. 50 km langen Sandstrand, der dem Seegang des Ionischen Meeres ungeschützt ausgesetzt ist und keine Hafenbucht aufweist. Dieser für griechische Verhältnisse einzigartige „Strandwall“, der die triphylische Küste mit teils 1 km breiten Dünen säumt,677 evozierte offensichtlich den homerischen Ausdruck „sandiges Pylos“.678 Geleitet von der epischen Überlieferung und den Gedanken Victor Bérards,679 entdeckte Wilhelm Dörpfeld beim triphylischen Dorf Kakovatos auf einem „sehr steilen Hügel von 73 m Höhe“, der nur 2 km vom Meer entfernt liegt, fürstliche Kuppelgräber und die Reste eines mykenischen Herrschersitzes, den er teilweise ausgrub.680 672 In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die Odyssee sowohl das „sandige Pylos“ des Nestor als αἰπύ („Steilburg“) bezeichnet (Od. 3,485; 15,193) als auch die Hafenstadt Telepylos (Od. 10,81), zumal mit derselben Formulierung: Πύλου αἰπὺ πτολίεθρον; Λάμου αἰπὺ πτολίεθρον. 673 Pylos erscheint 22 mal in der Ilias, 33 mal in der Odyssee und 7 mal in den Hom. Hymnen. 674 Siehe u. a. Ilias 1,247–252; Od. 3,102 ff. 675 Dies hatte schon vor Wilhelm DÖRPFELD Victor BÉRARD festgestellt (Revue archéologique III. Tom. 36, pp. 346 ff.). – DÖRPFELD könnte bei der Lokalisierung des ‚sandigen Pylos‘ in Triphylien befangen sein, weil er für seine Leukas-Ithaka-Theorie ein deutlich nördlicheres Pylos benötigte. Aber auch bei dieser Lokalisierung ist es mit den Zeitangaben der Fahrt des Telemach „nicht vereinbar, Leukas als Ausgangspunkt der Reise zu betrachten“ (MICHAEL 16). 676 „Das gewöhnliche und eigentlich kennzeichnende Beiwort zu Pylos ist ἠμαθόεις“, das in Ilias und Odyssee „ausschließlich für das Pylos Nestors gebraucht wird“ (MEYER, Pylos 2137,44 f.; 2146, 64 f.). 677 PHILIPPSON/KIRSTEN III 319 f. 678 Ilias 2,77; 9,153, 295; 11,712. Od. 1,93; 2,214, 326, 359; 4,633; 11,257, 459; 24,152. Hom. h. 3,398, 424; 4,398. „Als Hinweis auf eine spezifische geographische Besonderheit paßt es [das Wort „sandig“] nur auf Triphylien“ (MEYER, Pylos 2147,3 ff.), „wie schon Apollodor sah“ (ders. 2146,65). 679 „Viktor Bérard hat mit äußerst glücklichem Scharfsinn und schwerwiegenden Gründen … die Meinung vertreten, daß hier das von den alten Homererklärern unsicher hin und her geschobene Pylos des Nestor zu suchen sei“ (PARTSCH, Pelops 123). 680 „Der kleine Ort Pylos der historischen Zeit, der die Namenstradition fortführt und den die hellenistischen Homererklärer als das Pylos Nestors entdeckten, lag nur etwa 5 km nördlich des Palastes von Kakovatos“ (MEYER, Pylos 2161,7 ff.).

2.2 Die Grenze zum Jenseits

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Das von Dörpfeld entdeckte Pylos entspricht vollauf den topographischen Angaben der Ilias und Odyssee: So liegt es in Meernähe681 auf einem Bergsporn,682 nur ca. 20 Kilometer vom Fluss Alpheios entfernt,683 von dessen Furt aus der pylische König Neleus und sein Sohn Nestor die in Elis erbeuteten Rinder- und Schafherden innerhalb eines Tages und der darauffolgenden Nacht nach Pylos treiben konnten.684 Zudem sei darauf hingewiesen, dass die Pylier „beim nächtlichen Eintreffen der Botschaft von dem elischen Angriff auf [die pylische Grenzstadt] Thryoessa noch in der gleichen Nacht ausfahren, um sofort die wichtige Enge von Klidi [zwischen dem Sporn des Küstengebirges und dem Strand] vorsorglich zu besetzen“,685 was von Pylos-Kakovatos aus gut möglich war. Ohne hier auf alle Details des homerischen Pylos einzugehen, die der ausführliche RE-Artikel von Ernst Meyer vortrefflich abhandelt,686 bleibt festzustellen, dass „die friedlichen oder feindlichen nachbarlichen Beziehungen, von denen Nestor aus seiner Jugendzeit spricht, sich nur auf Elis und Arkadien richten, für Triphylien bestens verständlich, für einen Ort beim messenischen Pylos gar nicht“.687 Und „mit der Vorstellung des triphylischen Pylos steht schließlich der Schiffskatalog [der Ilias] in bestem Einklang“.688 Dieser Befund lässt sich übrigens nicht mit dem Hinweis falsifizieren, dass der Hochkönig Agamemnon von Mykene dem zürnenden Achill als Geschenk sieben messenische Städte anbot, die „alle nah am Meer liegen, begrenzt vom sandigen Pylos“.689 Dazu ist anzumerken, dass diese Ilias-Stelle „nur jung sein kann“,690 weil Agamemnon und sein Bruder Menelaos lediglich das peloponnesische Achaia und Mykene sowie Lakonien (Sparta) beherrschten, aber nicht das benachbarte Messenien, das die Spartaner erst nach dem Ersten Messenischen Krieg um 720 v. Chr. unterwarfen. Messenien wird als einzige Großlandschaft des Peloponnes im Schiffskatalog der Ilias nicht genannt, weil deren Fürsten nicht am Trojanischen Krieg teilnahmen. Die Menschen, die im Zeitalter Agamemnons in Messenien lebten, waren 681 Die Stadt lag landeinwärts (Od. 3,4, 31, 423 f.; 15,205 ff., 215 f.), im Hügelland (Od. 3,431, 485, πεδίον im Gegensatz zur Stadt), in nur geringer Entfernung zum Strand (Od. 15,208 ff.). „Die Schilderung der Vorgänge bei Pylos zeigt, daß der Dichter sich die Stadt in nur geringer Entfernung von der Küste vorstellt, so daß nicht nur eine Bote zur Stadt in kurzer Zeit wieder am Strand zurück sein konnte, sondern sogar der alte Nestor schnell von der Stadt zum Schiff hätte kommen können“ (MEYER, Pylos 2143,54 ff.). 682 Darauf verweist das Beiwort ἀιπύ (Od. 3,485; 15,193), das „Steilburg“ bedeutet (BENSELER 21). 683 „Die Entfernung von der Akropolis von Kakovatos zum südlichen Ausgang der Enge von Klidi beträgt 8 km, von dort zum Alpheios 13–16 km, je nachdem, wo man den Alpheiosübergang annehmen will“ (MEYER, Pylos 2143,17 ff.). 684 MEYER, Pylos 2138,27 ff. (mit Bezug auf Ilias 11,670–685); vgl.a. 11,714 ff.; 735 ff. 685 MEYER, Pylos 2143,39 ff. (mit Bezug auf Ilias 11,711 ff.). 686 MEYER, Pylos 2113–2161, 2517–2520. 687 MEYER, Pylos 2146,50 ff.; mit Bezug auf die Ilias 11,670 ff.; 23,630 ff. (Elis) und 7,133 ff. (Arkadien). 688 MEYER, Pylos 2149,13 ff. „Das Reich Nestors im Schiffskatalog ist eine geschlossene geographische Einheit, die triphylische Küste mit der geographisch eng dazugehörenden Fortsetzung des nördlichen Alpheiosufers und eines Küstenstreifens südlich der Neda“ (ders. 2150,34 ff.). Vgl. JACHMANN 48 ff. 689 Ilias 9,149 ff. u. 291 ff. – Das homerische „Kyparisseeis, triphylische Stadt an der Grenze Messeniens“ (FÄRBER 947), gehörte zum Herrschaftsbereich des Nestor (Ilias 2,593). 690 MEYER, Pylos 2151,52 ff. Denn „daß Agamemnon messenische Städte verschenkt, ist wirklich nur zu erklären aus den Verhältnissen der historischen Zeit nach der Eroberung mindestens der unteren messenischen Ebene durch die Spartaner“ (a. a. O.).

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Kaukonen,691 wie in der vorliegenden Studie (S. 253 ff.) bei der Irrfahrtstation „Telepylos“ dargelegt wurde. Obwohl bzw. weil diejenigen Kaukonen, die von Messenien nach Kleinasien ausgewandert sind, Verbündete der Trojaner waren,692 verhielten sich die Kaukonen Messeniens aufgrund ihrer geopolitischen Grenzlage zum Königreich des gehörnten Menelaos verständlicherweise neutral. Auch spricht gegen die Lokalisierung von Pylos in Triphylien keineswegs „die zweitägige Wagenfahrt Telemachs von Pylos nach Sparta mit Nachtquartier in Pherai“.693 Denn das in der Odyssee genannte Pherai lag nicht in Messenien,694 sondern am Alpheios,695 dessen Flusslauf die „wichtigste natürliche Verkehrsdiagonale“ des Peloponnes war.696 Deshalb reiste Telemach mit dem Pferdegespann des Nestor nicht von Messenien über das hohe und unwegsame Taygetos-Gebirge nach Sparta,697 wie u. a. Ulrich von Wilamowitz unnötig moniert ,698 sondern von Triphylien aus entlang des Alpheios durch Arkadien.699 So stellte schon Paul Cauer in seinem Werk ‚Grundfragen der Ho691 Od. 3,366 f.; vgl. 21,18 ff. Die Kaukonen wohnten an der Westküste des Peloponnes, von Ithaka aus noch hinter dem triphylischen Pylos (vgl. Od. 2,410 ff., 3,4 f.). 692 Ilias 10,429; 20,329. 693 MEYER, Pylos 2143,67 ff. (mit Bezug auf Od. 3,477 ff.; 4,145, 150; 15,182 ff.). „Der eigentlich einzige Grund, weshalb sich in der Neuzeit die Identifizierung des homerischen Pylos mit dem messenischen so hartnäckig behauptet, ist die zweitägige Wagenfahrt Telemachs von Pylos nach Sparta mit Nachtquartier in Pherai“ (a. a. O.). 694 Pherai war ein häufiger antiker Ortsname. Φεραί bzw. Φηραί in Messenien: Ilias 5,543; 9,151, 293; Strab. 8,359 f. u. a.; Schol. Od. 3,488; 4,1; Polyb. 16,16,2; 33,17,2 nennt es Φαραί. Φεραί bzw. Φειά an der Küste von Elis: Hom. h. 3,427; die Odyssee (15,297) nennt es Φεαί. Weitere Orte namens Pherai bzw. Pharai gab es in Lakonien, Arkadien, Boiotien und in der Pelasgiotis (vgl. Od. 4,798). 695 „Daß der berühmte Satz der Ilias, daß der Alpheios durch das Land der Pylier fließe, für das triphylische Pylos sehr viel besser paßt als auf das weit entfernte messenische, kann nicht bestritten werden“ (MEYER, Pylos 2146,56 ff.; mit Bezug auf Ilias 11,711 ff.; vgl.a. Hom. h. 4,398), und so spricht „gegen Pherai-Kalamata“ auch: „Sein Herrscher ist nach zwei Stellen der Odyssee und schon in der Ilias Diokles, der Sohn des Ortilochos, des Sohnes des Alpheios, der durch das Land der Pylier fließt. Wie das Herrscherhaus des messenischen Pherai sich vom Alpheios ableiten soll, ist nicht gut einzusehen; dieses Pherai muß [folglich] irgendwo am Alpheios gelegen haben“ (MEYER, Pylos 2144,42 ff., mit Bezug auf Od. 3,488 f.; 15,186 f. und Ilias 5,542 ff.). 696 PARTSCH, Pelops 112. 697 Von Messenien aus hätte Telemach den steilen, bis 2.409 m hohen Grat des Taygetos bewältigen müssen, obwohl bis ins 20. Jh. hinein „eine Überquerung des Taygetos zu Wagen auf allen Wegen unmöglich“ war (MEYER, Pylos 2144,11 f.). Dennoch fragt Rudolf HERCHER (265, Anm. 1), der die Odysseestelle gerade deshalb für unglaubwürdig und fiktiv hält, weil der Taygetos nicht genannt wird: „Wo bleibt der Taygetos?“ Ähnlich Otto SEECK (155 f.): „Die Telemachie kennt den Taygetos nicht, da sie, wie man oft angemerkt hat, ihren Helden zu Wagen von Pherae nach Sparta fahren lässt“. 698 Auch Ulrich von WILAMOWITZ (Heimkehr 111 f.), der ebenfalls irrtümlich an das messenische Pherai denkt, übt Kritik: „Die Fahrt macht der Dichter ganz kurz ab, um das Geographische und Lokalschilderung gänzlich unbekümmert …“. Ebenso moniert u. a. Otto SEECK (323): Der Dichter lässt Telemach „von Pherae nach Sparta zu Wagen gelangen, als ob dazwischen kein Taygetos läge“. – Dieser Kritik über die Reise des Telemach entgegnete aber schon Paul Cauer in seinen „Grundfragen der Homerkritik“ (235 f.): „Den Taygetos schien er [der Dichter] zu ignorieren, aber auch diese Schwierigkeit verschwindet, wenn wir annehmen, daß er mit ‚Pylos‘ nicht das messenische, sondern die gleichnamige Stadt in Triphylien, südlich von der Alpheiosmündung, gemeint hat, von der man recht wohl in zweitägiger Wagenfahrt nach Sparta gelangen konnte“. 699 Für diese Route spricht auch die Rückreise des Telemach: Obwohl er bei der Fahrt von Pherai nach Pylos morgens aufbricht, bleibt „noch so viel Zeit, daß das [beim triphylischen Pylos liegende!] Schiff Telemachs am Abend noch bis zum Kap Phea (Katakolo) gelangt“ (MEYER, Pylos 2139,12 f.).

2.2 Die Grenze zum Jenseits

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merkritik‘ fest: „Telemachs zweitägige Wagenfahrt von Pylos nach Sparta verwandelt sich aus einem negativen in ein positives Argument [der homerischen Geographie], sobald man unter Pylos nicht das bei Sphakteria versteht [Pylos-Navarino], sondern ein weiter nördlich gelegenes, der Alpheiosmündung zu“.700 Nicht nur in der langen Nestor-Erzählung der Ilias,701 auch in der Odyssee wird über das „sandige Pylos“ ausführlich berichtet, weil Telemach den greisen Nestor in dessen Heimat besuchte, um Kunde über seinen verschollenen Vater Odysseus zu erhalten.702 Telemach und seine Gefährten, die heimlich und unbemerkt von ihrer Heimatinsel aufgebrochen waren,703 hatten während der Abenddämmerung das Schiff startklar gemacht704 und noch abgewartet, bis die Freier ihre Zecherei im Palast beendet hatten und schlafen gegangen waren.705 Erst danach wurde der Proviant vom Palast zum Schiff gebracht und sodann von Ithaka (Kephallenia) aus mit gutem „Westwind“ nach Pylos gesegelt,706 wo Telemach bei Sonnenaufgang eintraf.707 Nicht unerwähnt sei, dass Telemach seine Reise nach Pylos im kühlen Winterhalbjahr unternahm, als die Nächte relativ lang waren.708 So ist nun, gewissermaßen als Gegenprobe zur geographischen Lokalisation der Nestorstadt Pylos in Triphylien, die aufgrund der Angaben der Ilias erfolgte, folgende Frage zu stellen: Wie weit konnte Telemach unter realistischen Bedingungen mit dem ausgesprochen günstigen Wind in der Winternacht gesegelt sein? Die Durchschnittsgeschwindigkeit für antike Segelschiffe betrug laut Lionel Casson „under favorable wind conditions between 4 and 6 knots over open water, and slightly less while working through islands or along coasts“.709 Folglich hätte Telemach mit seiner Crew, die aus den besten Jünglingen der Kephallenen bestand,710 den 70 sm langen Seeweg vom Stadthafen seiner Heimatinsel bis zum triphylischen Pylos in einer langen Winternacht bewältigen können. Das viel weiter südlich gelegene messenische Pylos, das in der vorliegenden Studie bereits als das homerische Telepylos (das ‚ferne Pylos‘) identifiziert wurde, befindet sich immerhin 90–110 sm von den Häfen des kephallenischen Inselraumes entfernt, und somit war es innerhalb des in der Odyssee genannten Zeitraums nicht zu erreichen. Die homerische Zeitangabe über die Dauer der Fahrt bestätigt also die Lage des „sandigen Pylos“ an der Küste Triphyliens.711 700 701 702 703 704 705 706 707 708

CAUER, Homer 16.

Ilias 11,655–761. Od. 3,1–485; vgl. 1,284. Od. 2,393 ff., 411 f.; 4,638 ff. Nach Sonnenuntergang wurde das Schiff ausgerüstet und am Hafenende verankert (Od. 2,388). Athene ließ die Freier an dem Abend relativ früh müde werden und schlafen gehen (Od. 2,393). Od. 2,410 ff., 421. Od. 3,1 ff. Die Pylos-Reise des Telemach erfolgte, als Odysseus zu den Phaiaken und nach Ithaka gelangte, und in diesem Zeitraum herrschte winterliche Kälte (Od. 5,465 ff., 485 ff.; 14,487 f.). 709 CASSON, Ships 288. 710 Od. 4,652. 711 „Die etwa 120 km von Ithaka [dem heutigen Ithaka] zum Strand bei Kakovatos lassen sich bei guten Verhältnissen in einem kleinen Schiff wohl in einer Nachtfahrt bewältigen, die 170–180 km bis in die Bucht von Navarino sind viel zu viel“ (MEYER, Pylos 2146,18 ff.); das gilt v. a. für die Rückreise gegen die vorherrschenden Nordwestwinde.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

Wenn Odysseus in seiner erfundenen Irrfahrtgeschichte die Insel Aiaia als ein Pseudonym für seine Heimatinsel benutzt, und er von dort angeblich zum Eingang des Totenreichs gefahren war, der laut Ilias beim sandigen Pylos lag, dann hätte Odysseus dieselbe Strecke bewältigt wie sein Sohn Telemach; und zwar inklusive des Rückweges, weil Odysseus vom Unterweltseingang wieder direkt nach Aiaia (Kephallenia) zurückfuhr.712 Bemerkenswert ist nun, dass Odysseus, ebenso wie Telemach, für die Strecke mit „günstigem Fahrwind“713 einen halben Tag benötigte. Jedoch nutzte er, im Gegensatz zu seinem Sohn, für die Fahrt das Tageslicht. So startete Odysseus kurz nach der Erscheinen der Morgenröte und erreichte sein Ziel bei Sonnenuntergang.714 Die Dauer der Rückfahrt, die „anfangs mit der Kraft der Ruder und dann mit dem herrlichsten Fahrwind“ erfolgte,715 lässt sich im Epos nicht genau bestimmen, wird aber wohl ebenfalls einen halben Tag in Anspruch genommen haben.716 Vom kephallenischen Heimathafen, der Bucht von Argostoli aus, liegt das triphylische Pylos genau im Südosten, und „da Homer nur die vier Hauptwindrichtungen nennt“,717 konnte Telemach mit „Westwind“ nach Pylos segeln und Odysseus mit „Nordwind“.718 Selbst die beiden genannten Windrichtungen sind vom Dichter bewusst alternierend gewählt, denn im westgriechischen Insel- und Küstenraum herrschen im Winter Winde aus westlichen Richtungen vor und im Sommer aus nördlichen Richtungen.719 So ließ der Dichter den Telemach im Winter720 mit Westwind nach Pylos segeln,721 und den Odysseus, der die Strecke im Hochsommer absolvierte, nämlich als im Jahreskreislauf „die langen Tage vollendet waren“,722 mit Nordwind. Während Odysseus also an einem ausgesprochen hellen, d. h. langen Tag fuhr, nutzte Telemach eine überdurchschnittlich lange Nacht. Aber trotz dieser tageszeitlichen Maxima hätten Odysseus und Telemach innerhalb des genannten Zeitrahmens nur bis zum triphylischen 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721

722

Od. 11,636 ff.; 12,1 ff. Od. 11,7. Od. 10,541 ff.; 11,12 ff. Od. 11,640. Wie lange Odysseus im Totenreich verweilte, wo er viele Erscheinungen hatte (s. den gesamten 11. Gesang), ist fraglich. Die Rückkehr erfolgte noch in der Nacht, denn nach der Ankunft auf Aiaia erwartete Odysseus, „eingenickt in Schlaf, die göttliche Eos“ (Od. 12,6 f.). WOLF, Reise 25. Od. 2,421 u. 10,507. – Beim heutigen Ithaka sind die Angaben problematisch (s. VÖLCKER 55, 75). NEUMANN/PARTSCH 95 f., 119. Der „Sommerwind“ weht in Griechenland meist „aus Norden“, im westgriechischen Inselraum wegen „des als Windkanal dienenden adriatischen Meeres“ meist „etwas aus Nordwesten“ (PONTEN 237); ebenso MORTON 119. Telemach unternahm seine fünftägige Kurzreise nach Pylos und Sparta in jenen Tagen, als sein Vater Odysseus heimkehrte, und damals war es winterlich kalt (Od. 5,465 ff., 485 ff.; 14,487 f.). Dass hier angeblich eine „falsche Orientierung vorliegt, geht aus der Tatsache hervor, dass Telemach mit dem Westwind nach Pylos fährt (Od. III 240)“, moniert Heinrich RÜTER (3), der Leukas als das homerische Ithaka betrachtet, das weit nördlich von Pylos liegt. Von Theaki (dem heutigen Ithaka) aus führt der Kurs schon stärker südöstlich nach Pylos, und vom Ausgang des kephallenischen Livadi-Golfs bis zum triphylischen Pylos ist die Fahrtrichtung eher ostsüdöstlich, und für diese Richtung ist der Westwind bestens geeignet, zumal Homer nur die vier Kardinalwindrichtungen nennt (und Segelschiffe mit sog. ‚halbem Wind‘ gut laufen). Od. 10,469 f. Dass Hochsommer war, geht auch daraus hervor, dass auf Aiaia die „heiße Sonne“ schien (Od. 10,160) und Elpenor nachts auf dem Dach des Palastes „Kühlung“ suchte (Od. 10,556; 552 ff.).

2.2 Die Grenze zum Jenseits

287

Pylos gelangen können.723 Für die Fahrt von ihrer Heimatinsel bis zum messenischen Pylos wäre selbst unter günstigen Bedingungen eine Fahrzeit von etwa 18 Stunden erforderlich gewesen.724 Wie bereits erwähnt, verortet die Ilias die Unterwelt beim triphylischen Pylos, wo König Nestor herrschte.725 Odysseus, der in seiner fiktiven Irrfahrtgeschichte nur Pseudonyme nennt, erzählt, der Eingang zum Totenreich läge im Land der Kimmerier,726 womit, wenn die bisherige geographische Analyse zutrifft, die Bewohner Triphyliens gemeint sind. Das von Odysseus gewählte Pseudonym Kimmerier bedeutet die „Dunkelmänner“,727 weil deren Land angeblich von „dunstigen Nebeln völlig eingehüllt sei, das Volk und die Stadt. Denn niemals dringen des Helios leuchtende Blicke herunter zu ihnen“, und „allzeit traurige Finsternis überwölbt jene elenden Menschen“.728 Abgesehen davon, dass der düster fabulierende Odysseus angeblich nur während ein paar dunkler Nachtstunden im Küstenland der Kimmerier weilte,729 gibt es auf der ganzen Erde keinen Ort, an dem es ständig dunkel ist,730 auch nicht im hohen Norden, wo manche Homerforscher die Kimmerier verorten.731 Zum Verständnis der seltsamen Metapher muss auf das frühgriechische Weltbild verwiesen werden, das die Erdscheibe in zwei Hemisphären einteilt, und zwar in eine östliche Taghälfte und in eine westliche Nachthälfte: „Wo nämlich die Sonne aufgeht, da ist Licht und Glanz, wo sie untergeht, Dunkelheit und Nacht. Der Westen ist daher vorzugsweise dem Homerischen Griechen Sitz der Nacht und der Finsternis“, und „dort im Westen ist also der Sitz des Todes und der Erstarrung; und wie daselbst die Sonne niedersinkt, wird auch dort des Menschen Leben untersinken, wenn sein Tag vergangen ist“732. Die frühen Griechen lokalisierten den Ort des Sonnenuntergangs und die dort beginnende düstere Sphäre aber nicht in mythischer Ferne, sondern hinter dem west-

723 Aufgrund der Fahrtzeit stellte auch Gregor Wilhelm NITZSCH (III 147) fest: „Kirke, deren Insel dem Eingang in das Todtenreich naheliegt“. So gehört das homerische Ithaka, dessen Dublette Aiaia ist, zu den „Inseln vor Elis“ (Od. 21,346 f.); und unmittelbar südlich von Elis erstreckt sich die Landschaft Triphylien mit dem Herrschersitz des Nestor. 724 Denn vom Stadthafen auf Kephallenia (wie auch von der Hafenbucht auf dem heutigen Ithaka) liegt das messenische Pylos auf dem kürzesten Seeweg etwa 180 km entfernt. 725 Ilias 5,397. „Daß Pylos ursprünglich der Eingang in die Unterwelt ist, erst später als Ortsbezeichnung im Westen des Peloponnes lokalisiert, leidet keinen Zweifel“ (MEYER, Pylos 2135,1 ff.). 726 Die Kimmerier Homers (Od. 11,14) „und die historischen Kimmerier [in Norden des Schwarzen Meeres; Hdt. 4,11 ff.] werden keine von den anderen abzuleiten seyn“, denn „das Wort kommt nicht von dem Phönizischen Kamar, Kimmer, sondern von χειμέριος mit der Aspirata χ statt der Tenius κ … Daher sogar eine alte Lesart bei Homer Χειμέριων hat, s. Eustath. 1671“ (VÖLCKER 154). 727 HÖLSCHER, Odyssee 114. 728 Od. 11,14–19. 729 Od. 11,12 ff.; 12,1 ff. 730 „Nach Eustathios wurde Krates getadelt, dass er völlige Nacht angenommen“ (NITZSCH III 193). 731 „Abgesehen davon, daß es auf der ganzen Erde, auch nicht nördlich des Polarkreises, ein Land gibt, an dem niemals die Sonne scheint, würde Homer ein ziemlich unsinniges Bild gebrauchen, wenn er Odysseus von einem ‚Nordwind‘ (Od. 10,507) ausgerechnet in den hohen Norden bringen ließe“ (WOLF, Reise 60). 732 VÖLCKER 141 f. „Daher legten die Jonier ihre Todten gen Westen“ (a. a. O.).

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2. Die Irrfahrtgeschichte

griechischen Insel- und Küstenraum, wo sich auch der noch zu identifizierende homerische „Felsen Leukas“ mit den mythischen „Toren des Helios“ befand.733 Also „während wir die Erdoberfläche in die nördliche und südliche Halbkugel teilen, kennt Homer nur eine Licht bringende und eine Dunkel bringende, eine Tag- und Nachtseite, eine Ost- und Westhälfte der Erde“.734 Dieses Weltbild liegt auch der Aussage des Schafhirten in der Heimat des Odysseus zugrunde, wenn er sagt: Ithaka sei vielen Menschen bekannt, „mögen sie wohnen, wo Morgen es wird und sonniger Mittag, oder auch dort, wo sie hinter uns hausen im düsteren Westen“.735 In der Vorstellung des kephallenischen Schafhirten herrschte westlich seiner Heimat stete Dunkelheit. Die schmale Übergangszone zwischen der lichten Oikumene im Osten und dem dunklen Totenreich im Westen, die mit den bereits erörterten „Triften der Tag und der Nacht“ bei den Laistrygonen im messenischen Telepylos korrespondiert,736 ist in der Odyssee durch eine dämmrige Nebel- bzw. Wolkenhülle gekennzeichnet, die über dem westgriechischen Insel- und Küstenraum liegt. So zeugen die Ausführungen des Odysseus über die in Pylos lebenden Kimmerier, wie auch die Metapher über die Tag-Nacht-Scheide bei Telepylos (Pylos-Koryphasion), vom frühgriechischen Weltbild, das vor der Entdeckung Süditaliens und Siziliens im Ionischen Meeresraum endete. Die dichterische Vorstellung, dass der westgriechische Insel- und Küstenraum eine dämmrig-düstere Sphäre bildete, klingt in der homerischen Komposition immer wieder an: So erscheint in der Odyssee und im homerischen Apollonhymnos auch am Tage „Ithakas steiles Gebirge im dunstigen Gewölk verschwommen“,737 und ebenso sind die Stadt der Kimmerier (an der Westküste des Peloponnes) – wie auch die Schiffe samt der Stadt der Phaiaken (die der Dichter eine halbe Tagesreise nordwestlich von Ithaka ansetzt)738 – „in dunstiges Gewölk eingehüllt“.739 Es dürfte also kein Zufall sein, dass in der Odyssee lediglich die westgriechischen Landschaften der Kephallenen und Kimmerier sowie der noch zu lokalisierenden Phaiaken in dunstiges Gewölk bzw. Nebel gehüllt erscheinen.740 Die Nebel- und Wolkenhülle an der Westküste Griechenlands ist aber nicht ausschließlich eine Fiktion des frühzeitlichen Weltbildes, die westlich von Griechenland ewige Dunkelheit voraussetzt, sondern besitzt auch einen meteorologischen Hintergrund. Denn im Gegensatz zum Ägäisraum ist die Wetterlage an der Ionischen Mee733 Od. 24,11 f. – Also sagt Nestor: „Da ich ferne von Pylos kam, aus entlegenen Land“ (Ilias 1,269 f.). 734 BREUSING, Nautik 24. – „Die der Morgenseite der Erde entgegengesetzte Nachthälfte heißt περάτη Od. 23,243“ (VÖLCKER 87). 735 Od. 13,240 f. 736 Od. 10,86. 737 Hom. h. 3,428. – Auch als Odysseus Ithaka erreicht, ist es in Nebel gehüllt (Od. 13,189 ff., 351 f.). 738 Von den Phaiaken wird Odysseus innerhalb einer Nacht per Schiff nach Ithaka zurückgebracht (Od. 13,35, 93 ff.). – Die „zu äußerst, ganz am Ende wohnenden“ Phaiaken (6,204 f.) erscheinen manchem Homerphilologen (v. a. WELCKER 14 f.) als Fährleute zum westlichen Totenreich. 739 Phaiaken: Od. 8,562. Kimmerier: Od. 11,15. – So ist das Schlachtfeld am Unterlauf des Alpheios „In dichte Nebel gehüllt“ (Ilias 11,751 f.), und Apollon erscheint in Pylos in dunkles Gewölk gehüllt (Hom. h. 4,217). 740 Heimat des Odysseus: Od. 134,134,189, 241, 352 (vgl. 103, 347, 366). Land der Kimmerier: Od. 11,15 (vgl. 57, 155). Phaiakenland: Od. 7,15, 140; 13,176 (vgl. 5,291, 293, 303; 8,374, 562).

2.2 Die Grenze zum Jenseits

289

resküste – also an der Westküste Griechenands und des Peloponnes – relativ oft von dunklen Regenwolken und dichtem Scirocco-Nebel geprägt.741 Das Landschaftsbild der triphylischen Küste, das eher der nordischen „Ostseeküste ähnelt“ und häufig Nebel und dunkles Gewölk aufweist, kehrt „im übrigen Griechenland nicht wieder“,742 und so stimmte der Anblick dieser Küstenlandschaft die frühen Griechen vermutlich melancholisch. Bei den homerischen Kimmeriern, die am irdischen Tor zum düsteren Totenreich siedelten, steigert Odysseus in seiner erfundenen Irrfahrterzählung die Trübung des Himmels jedoch derart, dass er über deren Stadt und Land, sprich Pylos, behauptet: „Niemals dringen des Helios leuchtende Blicke herunter zu ihnen, nicht, wenn zum Himmel mit allen Gestirnen hinauf er den Weg nimmt, nicht, wenn vom Himmel zur Erde er wieder sich wendet zur Rückkehr: allzeit traurige Finsternis überwölbt jene elenden Menschen“.743 Zwar verweisen diese Verse auf das düstere Totenreich, aber die Verse bezeichnen nicht, wie oft behauptet wird, ein Land, „in dem die Sonne stets unter dem Horizont bleibt, sondern nur eines, in dem wegen dichter Wolkenbildung die Sonne nicht zu sehen ist. Es handelt sich um eine Finsternis nicht aus astronomischen, sondern aus meteorologischen Gründen“.744 Die Metapher von den Kimmeriern der Odyssee zeugt also keineswegs von ewiger Nacht, wodurch deren Land zu einem Utopia entrückt würde. „Die verbreitete Vorstellung von der ‚ewigen Nacht‘ im Kimmerierlande ist erst durch eine ungenaue Übersetzung des alten Johann Heinrich Voß verschuldet worden“.745 Aufgrund der vorgelegten historisch-geographischen Analyse ist das Land und die Stadt der homerischen Kimmerier zu fixieren, und dieser Ort war nicht nur das Ziel des Odysseus, sondern auch das des Telemach. So bot der Freier Antinoos, der Telemach nach dem Leben trachtete,746 ein Schiff für Telemachs Reise mit den doppeldeutigen Worten an: „Du sollst ja das heilige Pylos schneller erreichen, um Kunde vom edlen Vater zu hören“,747 den man für tot hielt748 und somit – nicht zu Unrecht – bei Pylos im Totenreich vermutete. Ähnlich tiefsinnig und dunkel erscheinen die Worte der Penelope, mit der sie ihren heimgekehrten Sohn Telemach begrüßte: „… und ich meinte, nimmer dich wiederzusehen, da du abreistest, um nach Pylos zu fahren“.749

741 PHILIPPSON/KIRSTEN III 322 f. 742 PONTEN 216. So kann man dort „glauben, im Hochsommer an der Ostsee statt zu Frühlingsanfang in Griechenland zu sein“ (ders. 13). 743 Od. 11,15 ff. Denn dort beginnt das dunkle Jenseits, das Erebos (10,528; 11,37, 564; 12,81). So sagt HESIOD (theog. 759 f.) über das Haus der Nacht: „Die strahlende Sonne blickt dort niemals herab“. 744 HENNIG, Geographie 74. 745 HENNIG, Geschichte 22. „Im Original [der Odyssee] steht kein Wort von beständiger Nacht, vielmehr heißt es nur, die Kimmerier seien ‚von Wolken und Nebeln eingehüllt‘ und Helios bescheine sie nie“ (ebd.). 746 Od. 4,667 ff., 842 f.; 15,28 ff., 300; 16,400 f.; 17,251 ff.; 20,241 ff.; 22,53. 747 Od. 2,307 f.; vgl. 22,49 ff. 748 Od. 14,67 f.; 17,253. 749 Od. 16,23 f.; ebenso 17, 41 f.

290

2. Die Irrfahrtgeschichte

2.2.4 Der düstere Erebos und der Leukas-Felsen Das Tor zum unterirdischen Totenreich, das Odysseus angeblich besuchte750 und der Dichter als „Erebos“ 751 oder als das „Haus des Hades“752 bezeichnet, liegt bei einer „Stadt“,753 die die Ilias als das triphylische „Pylos“ des Nestor ausweist.754 Nun gilt es zu untersuchen, ob auch der in der Odyssee geschilderte Zugang zum Totenreich an der triphylischen Küste zu fixieren ist. Dabei verdient zunächst Beachtung, „daß der Hadeskult gerade für die Umgebung des triphylischen Pylos gut bezeugt ist, … für das messenische aber nicht“.755 Während in grauer Vorzeit – wie die Odyssee erzählt – bereits Herakles zum Tor der Totenwelt gelangt war, um sich mit Hades und dessen Wachhund anzulegen,756 hatte Odysseus ein weniger heroisches Anliegen. Er wollte bloß den verstorbenen Seher Teiresias befragen, wie der Erderschütterer Poseidon zu besänftigen sei, dem übrigens auch die homerischen Pylier opferten: So lässt der Dichter den Telemach ausgerechnet dann im triphylischen Pylos eintreffen, als Nestor mit seinem Volk in Strandnähe „dem Erderschütterer“ eine Hekatombe „von schwärzesten Stieren“ darbrachte.757 Nach Strabons Angaben lag das antike Dorf namens Pylos, das sich nahe der zerstörten Stadt des Nestor befand, beim Poseidonheiligtum in Triphylien,758 und folglich ist der „Ausgangspunkt für die Lokalisierung von [dem in der Ilias genannten Unterweltstor] Pylos das Heiligtum des samischen Poseidon an der Küste, das nach den näheren Angaben Apollodors unter dem Kaiaphagebirge am Südabhang des Passes von Klidi gelegen haben muß“.759 „Klidi (d. h. Schlüssel)“ ist „ein schmaler Engpaß,“ nämlich ein „vor Bildung der Lagunen von Sümpfen beengter Küstenweg“ zwischen Bergsporn und Meer beim heutigen Ort Samikon.760 „Der Vorsprung des Kaiapha-Gebirges bewirkt eine wichtige Zweiteilung des [triphylischen] Küstenlandes. Zwar zieht die Dünennehrung und die Seenzone an ihm vorbei, aber die Küstenebene wird vollkommen unterbrochen und so ein für den Verkehr wichtiger Engpaß geschaffen“.761 Infolge geotektonischer Prozesse erstreckt sich dort seit dem Mittelalter parallel zur Küste der strandnahe Kaiapha-See. Er ist „2,5 km lang und bis 800 m breit. Mit einer 150 m hohen, steilen Felswand stürzt das Kalkgebirge 750 Od. 10,509–515; 11,14–22. 751 Od. 10,528; 11,37, 564; 12,81; 20,356. Vgl. Ilias 16,327. 752 Od. 9,524; 11,150, 627; 23,252. – Die Homerischen Unterwelt behandelt u. a. Gregor Wilhelm NITZSCH (III, S. XXXV ff.). 753 Od. 11,14. 754 Ilias 5,397. 755 MEYER, Pylos 2150,48 ff. 756 Od. 11,601–627 (vgl. Ilias 5,395 ff.; 8,366 ff.). – Die Szene „nun erklärt völlig, warum Homer, der doch in Ilias und Odyssee den Kerberos erwähnt, diesen nirgends dem Odysseus wirklich entgegenstellt“ (KLAUSEN 52). 757 Od. 3,4 ff. Die Opfer-Hekatombe, an der 450 Pylier teilnahmen, bestand aus 81 Stieren. 758 „Nach Strabos Angaben [3,13 f., 17, 26] lag Pylos südöstlich von diesem Heiligtum, und zwar in einer Entfernung von 30 oder etwas mehr Stadien vom Meer“ (MEYER, Pylos 2129,32 ff.). 759 MEYER, Pylos 2129,3 ff. 760 PARTSCH, Pelops 123. Bei Klidi endet das Tiefland der Nordwestseite des Peloponnes. 761 PHILIPPSON/KIRSTEN III 361. Der Engpass lässt Raum für „nur einen schmalen Pfad“ (PONTEN 13).

291

2.2 Die Grenze zum Jenseits

Pisatis Pheai Lagune

Olympia Alpheios

Kap Katakolon Lagune

250

50 0 m

Landenge von Klidi Kaiapha-See Höhle der Angriaden

m

745 m

Pylos des Nestor

Ionisches Meer

Kyparissia

10 km

Abb. 10: Die Westküste des Peloponnes

292

2. Die Irrfahrtgeschichte

unmittelbar in die Fluten des Sees an dessen NO-Seite hinab (Achaeische Felsen des Altertums)“.762 Im Altertum gab es den versumpften Kaiapha-See noch nicht, und „vor der Felswand – wohl einem Meereskliff der Vorzeit – dehnte sich eine [schmale] von Flüssen durchzogene Ebene aus“.763 Das signifikante steile Meereskliff an der Küste Triphyliens, nämlich der Achaeische Felsen des Altertums, diente dem Odysseedichter wohl als Kulisse für die Unterweltsszene: Es ist der meeresnahe „Felsen, an dem die rauschenden Gewässer sich vereinen“ und bei dem angeblich Odysseus den Toten geopfert hat.764 Am Fuß der 150 m hohen Felswand, mit der das Kaiapha-Gebirge gegen das Meer vortritt, „öffnet sich eine breite, flach gewölbte Höhle, die Grotte der Anigriaden des Alterums; an ihrem Boden auf der Südseite sprudeln aus dem Felsen warme Schwefelquellen (32 °C)“.765 Der beim homerischen Unterweltfelsen genannte teichähnliche „Feuerstrom“766 könnte also eine Anspielung auf die Schwefelquellen sein, deren übel riechendes Wasser weite Teile des Höhlenbodens bedeckt, zumal „die Tiefen der Unterwelt“ nach altgriechischer Vorstellung „mit pestilentialischen Ausdünstungen“ in Verbindung gebracht wurden.767 Die in der Höhle der Anigriaden sprudelnden warmen Gewässer wurden „schon im Altertum als Heilquellen benutzt“, und im 20. Jh. wurde in die geräumige Höhle ein Heilbad hineingebaut.768 Die dort befindliche Küstenebene evozierte wohl die homerische Vorstellung von der trostlosen „Asphodeloswiese“, die sich vor dem Tor zur Unterwelt erstreckt.769 So erzählt Heinrich Rüter über seine Fahrt entlang der Küste von Olympia nach Pylos: „Hier sah ich zuerst Asphodelos, eine hohe Staude mit rötlicher Blüte, die auf dem unfruchtbaren Boden gedieh und so zur Blume der Unterwelt geworden ist“.770 Oft wird angenommen, Odysseus sei in das Totenreich (Erebos) hinabgestiegen, jedoch erhielt Odysseus von Kirke bloß die Anweisung: „Opfere daselbst ein Schaf, ein männliches, und ein weibliches schwarzes, zum Erebos sie wendend, du selber aber kehre dich ab nach den Strömungen des Flusses hin“; und schließlich hören wir: „Da versammelten sich von unten aus dem Erebos die Seelen der dahingeschiedenen Toten“.771 Demnach hätte Odysseus während des Opfers nach Westen auf die Flussniederung und das nahe Meer geblickt, während die Seelen der Verstorbenen aus dem unterirdischen „Erebos“,772 wo die Toten hausten, zu ihm herauf schwebten. 762 PHILIPPSON/KIRSTEN III 362. Die Strandseen und Haffe an den Küsten von Elis und Triphylien sind erst durch das Absinken des Landes im Mittelalter entstanden (III 321, 362). 763 PHILIPPSON/KIRSTEN III 362. „Die Küstenebene war in homerischer Zeit wie heute durch einen Sandgürtel gegen das Meer abgeschlossen, wie der Beiname das ‚sandige‘ Pylos beweist“ (a. a. O.). 764 Od. 10,515. 765 PHILIPPSON/KIRSTEN III 362. – Dem Eigennamen Anigriaden liegt das Wort ἀνία zugrunde, und das bedeutet „alles, was unangenehm ist“ (PAPE I 197); vgl. Od. 2,190; 7,192; 15,394; 20,52. 766 Od. 10,513. Der Pyriphlegeton ist „der Feuerstrom der Unterwelt, der einen großen See, siedend von Wasser und Schlamm bildet“ (BENSELER 809; mit Bezug auf Plat. Phaid. 111 ff.). 767 NITZSCH III 157. 768 PHILIPPSON/KIRSTEN III 362 (mit Bezug auf Paus. 5,5,11, vgl. 5,1,7 u. 5,5,5 f.). 769 Od. 10,508 ff.; 11,20 ff.; 24,13. Hom. h. 4,216–221, 342–344. 770 RÜTER 6. 771 Od. 10,527 ff. u. 11,36 f. 772 Ilias 8,368; 16,327. Od. 10,528; 11,37; 564; 12,81; 20,356. Hom. h. 2,335, 349, 409.

2.2 Die Grenze zum Jenseits

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Aber ganz so eindeutig scheint der Sachverhalt doch nicht zu sein, denn der Anweisung der Kirke zufolge musste Odysseus zumindest „zum Haus des Hades“ bzw. gar „in das Haus des Hades“ gegangen sein,773 worunter sicherlich der unterirdische Bereich des Totenreichs zu verstehen ist. Demnach wäre Odysseus im Totenreich gewesen, und dafür sprechen auch die Worte des verstorbenen Gefährten Elpenor, der um die ordentliche Bestattung seines Leichnams bat und deshalb dem Odysseus entgegnete: „Wenn du des Hades Haus verläßt …“.774 In Anbetracht der unterschiedlichen Angaben monierte schon Karl H. W. Völcker, dass der Besuch des Odysseus bei den Verstorbenen räumlich nicht eindeutig sei, denn es scheint, als ob er sich „einmal unter der Erde, und dann wiederum auf der Oberfläche des [Erd-] Bodens“ befände.775 Aus topographischer Sicht ist das Problem über den angeblichen Aufenthalt des Odysseus an der Schwelle zum Totenreich jedoch widerspruchsfrei zu deuten: wenn sich Odysseus in der Vorstellung des Dichters lediglich im Bereich „der breiten Tore des Hades“ aufhielt,776 d. h. unter dem weit geöffneten Felsdach der Anigriaden-Höhle stand und dort den Toten opferte, dann ist er einerseits nicht in das Totenreich hinabgestiegen, und andererseits befand er sich nicht mehr unter freiem Himmel.777 Die widersprüchlich erscheinenden Angaben über den Standort des Odysseus während des Totenopfers harmonieren also, wenn man das homerische Tor zur Unterwelt mit dem hohen und breitgewölbten Eingang der Anigriaden-Höhle identifiziert, zumal „Odysseus nicht in die Unterwelt hinabzusteigen gebraucht hätte“, um „ein Totenorakel zu befragen“.778 Der Platz, an dem Odysseus angeblich die Grube vor dem Hadestor aushub, um in ihr die beiden Schafe zu opfern,779 ist jedoch nicht zu finden. Denn „die Ebene ist seit dem Ende des Altertums durch eine Senkung des Landes, nicht bloß des Schwemmlandes, sondern auch der Felswand mit der Höhle, in ein 2–3 m tiefes Haff verwandelt worden“.780 Schon der antike Geograph Strabon berichtet, dass sich zwischen der hohen 773 Od. 10,512. So sagt Kirke nach der Rückkehr des Odysseus und seiner Gefährten: „Unentwegte! Lebend seid ihr ins Haus des Hades gegangen, zweimal erfuhrt ihr das Sterben“ (12,21 f.). Laut Ilias (8,366–369) „ist Erebos der Hades selbst“ (VÖLCKER 42). 774 Od. 11,69. 775 VÖLCKER 138. Über das Problem, ob Odysseus im Totenreich über oder unter der Erde war, handelt u. a. Gregor Wilhelm NITSCH (III 171 ff.). 776 Od. 11,571 (dort richtete Minos die Verstorbenen: 11,568 ff.). Der Plural „Hadestore“ ist angesichts der Felswand bei Samikon treffend, denn „an ihrem Fuß gibt es an der Küste zwei Höhlen: die eine ist die Grotte der Anigriadischen Nymphen, die andere ist die, in der die Geschichte von den Atlastöchtern und der Geburt des Dardanos spielen“ (Strab. 8,19,15). 777 So ist „Odysseus nie vor, sondern immer im Hades 10,491, 502, 564; 11,69, 163, 210, 484 f., 570; 12,17; 23,322 ff.“, aber „Odysseus ist nicht unter die Erde gegangen, in keinen Schlund“ (VÖLCKER 149 f.). 778 NILSON 169. 779 Od. 10,516 ff., 527 f.; 11,24 ff., 34 ff. 780 PHILIPPSON/KIRSTEN III 362. Eine gute Beschreibung der Ebene bietet auch BURSIAN I 278–283. Und Heinrich RÜTER (9) berichtet, als er mit Wilhelm DÖRPFELD dort ankam: „Als wir am [„Kaiapha“-] Gebirge, das wir links liegen liessen, vorbeifuhren, sahen wir rechts die Stelle des uralten Arene, bei dem sich das Bundesheiligtum der triphylischen Städte, der Tempel des samischen Poseidon, befunden haben soll. Der Weg von Agulenitza fand seine Fortsetzung im übel riechenden See von Kaiapha, der im Altertum noch nicht vorhanden war, während heute wie vor Jahrtausenden aus den Spalten einer Höhle des Kaiaphagebirges heisses Schwefelwasser quillt“.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

Felswand und dem Sandstrand bzw. der Nehrung ein schmaler Küstensaum erstreckt, der „feucht und sumpfig ist“, weil sich dort das Wasser der Schwefelquellen mit dem des Flüßchens „Anigros“ vereinigt,781 bevor sie gemeinsam ins Meer münden. Vielleicht dachte der Odysseedichter bei den Flüssen Pyriphlegeton und Kokytos, die sich am Felsen des Unterwelt-Tores vereinen und dort in den Acheron fließen,782 an diese Gewässer. Strabon berichtet weiter, dass der Schwefel „in einem Umkreis von zwanzig Stadien [ca. 4 km] einen üblen Geruch verbreitet und die Fische ungenießbar macht“.783 Damit entspricht der lebensfeindliche Küstensaum weitgehend der Schilderung des Odysseus über „die niedrige Küste beim Hain der [Totengöttin] Persephoneia“ und „des Hades modriger Stätte“, die unmittelbar am offenen Meer (Okeanos) liegen.784 Der lebensfeindliche Ort musste dem Odysseus noch unheimlicher erschienen sein, weil er dort erst nach Sonnenuntergang eintraf und ihn bereits nach wenigen Stunden, also mitten in der Nacht, in panischer Angst verließ.785 Der Schwefeldampf hatte ihm wohl die Sinne benebelt, und so sah er ‚in der Geisterstunde‘ zahlreiche Verstorbene, die teils sogar mit ihm gesprochen haben.786 Da sich das homerische Tor zur Unterwelt an der triphylischen Küste beim heutigen Ort Samikon topographisch exakt fixieren lässt,787 ist nun auch der in der Odyssee genannte „Leukas-Felsen“ in der geographischen Realität zu suchen, den die Seelen der von Odysseus auf Ithaka getöteten Freier auf ihrem Weg zur Unterwelt passierten.788 Die antike Tradition bezog diesen ‚weißen Felsen‘ auf die Südspitze des fingerförmigen Vorgebirges der Festlandshalbinsel Leukas,789 die nördlich von Kephallenia liegt und im Mittelalter sowie in der Neuzeit den Namen Santa Maura trug.790 Indes, der traditionelle Leukas-Felsen, auf dem sich im Altertum ein Apollon-Heiligtum befand791 und in dessen Nähe im frühen 6. Jh. v. Chr. die lesbische Dichterin Sappho sich der Legende

781 „Bei der Grotte der Anigriadischen Nymphen ist eine [Schwefel-] Quelle, durch die das unterhalb gelegene Gelände feucht und sumpfig wird; das meiste Wasser nimmt der Anigros auf [Strab. 8,19, 23: „der früher Minyeios hieß“; vgl. Ilias 11,722 f.], der tief und langsam strömt, so daß er einen See bildet; da der Ort schwefelhaltig ist, verbreitet er … einen üblen Geruch“ (Strab. 8,19,27). 782 Od. 10,513 ff. – Nahe Samikon „fliesst ein aus mehreren Armen sich bildender Bach (wahrscheinlich der Acheron der Alten)“ (BURSIAN I 285). 783 Strab. 8,19,30. 784 Od. 10,508 ff.; 11,13, 21 f. – Noch Mitte des 19. Jhs. schrieb BURSIAN (I 280) über diesen Küstensaum: „In den schroff abfallenden Felsen an der Südseite des Berges finden sich unmittelbar über dem Wasserspiegel des Sees zwei nur vermittels eines Bootes zugängliche Höhlen, deren Inneres mit mephistischen Dünsten erfüllt ist“. 785 Od. 11,12 ff.; 632 ff. 786 Od. 11,36 ff. 787 Dagegen urteilte Adolf KIRCHHOFF (225): „In der ganzen umfangreichen Erzählung findet sich nicht die geringste Spur, welche ein Urtheil darüber zu bilden verstattete, wo im Sinne des Verfassers das Local des Hadeseinganges gelegen zu denken ist“. 788 Od. 24,1 ff., 99 ff., 120–190. 789 Strab. 10,2,8. 790 PARTSCH, Leukas 18. 791 Athen. 6,251. – Vgl. Od. 24,376 ff.: Laertes beschwört Zeus, Athene „und Apollon“, als er auf seine Eroberung der Stadt Nerikos „an der Felsspitze des Festlandes“ hinweist.

2.2 Die Grenze zum Jenseits

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nach zu Tode stürzte,792 erscheint in der westgriechischen Inselflur jedoch nur als ein unbedeutender weißer Zwerg.793 Und deshalb urteilte schon Joseph Partsch: „Es bedarf keines Wortes, daß der Dichter hier nicht von Santa Maura [Leukas] spricht“.794 Im Ithaka-Teil der vorliegenden Studie (Kapitel 1.3.6.) konnte die Halbinsel Leukas – in Übereinstimmung mit Strabon – als die zum Reich des Odysseus gehörende „Festlandsspitze“795 identifiziert werden. Das allein schliesst jedoch nicht aus, dass der homerische Leukas-Felsen in der Vorstellung des Dichters den Abschluss des leukadischen Vorgebirges bildete. Gewichtiger ist, dass das leukadische Vorgebirge, das im heutigen Leukas-Felsen endet, nördlich von Ithaka bzw. Kephallenia liegt, während der homerische Zugang zum Totenreich sich in der Gegenrichtung befindet, nämlich in südöstlicher Richtung beim „sandigen Pylos“ an der Westküste des Peloponnes. So berichtet die Odyssee über die topographische Lage des Leukas-Felsens folgendes: „Hermes von Kyllene holte der freienden Männer Seelen“ aus Ithaka (Kephallenia), und „sie gingen vorbei an Okeanos’ Strömung, am Felsen Leukas, gingen vorüber an Helios’ Toren, am Ort, wo die Träume wohnen, und kamen schnell an ihr Ziel, zur Asphodeloswiese“,796 die sich vor „den breiten Toren des Hades“ erstreckt.797 Da anzunehmen ist, dass „Hermes von Kyllene“ die Seelen der verstorbenen Freier von der Heimat des Odysseus auf direktem Wege ins Totenreich geleitete, ist der Leukas-Felsen in der dichterischen Vorstellung zwischen dem kephallenischen Inselraum und dem triphylischen Pylos zu suchen. Auf halbem Wege zwischen Kephallenia und Triphylien befindet sich das Vorgebirge Chlemutsi, das das Westkap des Peloponnes bildet: „Die isolierte Erhebung von Chlemutsi, im Altertum Chelonatas, d. h. Schildkrötenschale genannt, springt nach W vor in das Meer, von dem sie auf drei Seiten umspült wird … Es ist eine einheitliche Masse, 11 km von N nach S lang, 5–6 km breit; sie erhebt sich allseitig ziemlich steil zu einem flach gewölbtem Rücken, so dass der antike Name die Gestalt des Ganzen sehr gut wiedergibt“. Das Massiv besteht aus gelblich-weißem Kalkstein und Gipsen, „und in der Mitte ragt ein Kalkfelsen darüber auf (226 m), der die gewaltige fränkische Burg Castel Tornese trägt“.798 Das Nordende des Kalkmassivs bildet das Kap Glarentza, an dem die schon in der Ilias erwähnte Hafenstadt „Kyllene“ lag.799

792 U. a. Phot. bibl. cod. 191 p. 153; Plut. mor. 236; Verg. Aen. 3,274 f. „Die Spuren des Altertums lassen keinen Zweifel, daß die denkwürdige, von Dichtung und Schwärmerei verklärte Stätte auf dem letzten, nicht ganz 50 m hohen Kliff in unmittelbarer Nähe des Vorgebirges lag“ (PARTSCH, Leukas 17). 793 Der Leukas-Felsen ist nur „etwa 40 m hoch“, die Westküste von Leukas gar bis 500 m (PARTSCH, Leukas 19). 794 PARTSCH, Leukas 18. – „Die einmalige Nennung des leukadischen Felsens in der Odyssee (24,11) kann keinen Hinweis auf die Insel Leukas darstellen“ (SIEBERER 158, Anm. 30). 795 Od. 24,378; vgl. Ilias 2,635. 796 Od. 24,1 ff. Dort stehen „lange Schwarzpappeln und niemals samende Weiden“ (Od. 10,510). An den Wasserläufen des Peloponnes gibt es beide Baumarten (NEUMANN/PARTSCH 394). 797 Od. 11,571, 572 f. 798 PHILIPPSON/KIRSTEN III 329 f. 799 Kyllene hieß der „Hafenort an der elischen Küste an der N. O.-Seite des heutigen Kaps Glarentza mit vielen Funden von mittelhelladischer bis römischer Zeit, Hafen für die Stadt Elis, schon bei Homer Ilias 15,518 genannt“ (MEYER, Kyllene 396,8 ff.).

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2. Die Irrfahrtgeschichte

Der weiße Tafelberg Chlemutsi mit dem krönenden Kalkfelsen dürfte also der homerische Leukas-Felsen sein, an dem „Hermes von Kyllene“800 die Seelen der verstorbenen Freier vorbeiführte. Antiken Autoren zufolge ist der Felsen nach dem Odysseus-Gefährten Leukos benannt, der von der Insel Zakynthos stammte,801 die dem Vorgebirge unmittelbar gegenüberliegt. Schon im frühen Altertum war das Vorgebirge Chlemutsi von seestrategischer Bedeutung, denn an ihm kreuzten sich die wichtigen Überseewege Korinth-Syrakus und Kreta-Apulien. Das Vorgebirge trägt heute die weitläufigen Ruinen der mittelalterlichen Festung Castel Tornese, die den in die Levante führenden Seeweg sichern und somit „die Verbindung mit dem Abendlande beschützen sollte“.802 Der mächtige weiße Tafelberg, der die kantige Westecke des Peloponnes bildet, ist eine imposante Landmarke, die dem von Norden, Süden und Westen kommenden Seefahrer schon von Ferne entgegenleuchtet, v. a. bei Sonnenuntergang.803 Bis ins homerische Zeitalter hinein markierte das augenfällige Vorgebirge, das in das damals ebenso weite wie geheimnisvolle westliche Meer vortritt, den Beginn des Jenseits, und so lokalisierte der Mythos vor der griechischen Westkolonisation dort, beim Leukas-Felsen, die „Tore des Sonnengottes Helios“.804 Diese kosmologische Anschauung wob der Dichter in die Reisen des Odysseus und seines Sohnes Telemachs kunstfertig ein, wie die geographische Dechiffrierung der Odyssee enthüllt: Als Odysseus auf der Fahrt von der Insel Aiaia (Kephallenia) zum Unterweltseingang beim triphylischen Pylos die Westspitze des Peloponnes – und somit den homerischen Leukas-Felsen – passierte, ließ der Dichter dort die Sonne versinken.805 Und als Telemach in Gegenrichtung vom triphylischen Pylos nach Ithaka heimkehrte, „versank die Sonne und Schatten umhüllten sämtliche Straßen“; und zwar ausgerechnet zu der Stunde, da er die Mündung des Alpheios passiert hatte und das Vorgebirge Chlemutsi erreichte.806 Wie die Odyssee erzählt, liegt der Leukas-Felsen an der Strömung des sagenumwobenen „Okeanos“.807 Nach homerischer Vorstellung wird die gesamte Erdscheibe von

800 Od. 24,1. Den Beinamen trägt Hermes aufgrund seiner Geburtsstätte, dem arkadischen Gebirgsstock Kyllene (Ilias 2,603; vgl. Hom. h. 4,2 u. a.). Da in der Odyssee der häufig genannte Hermes den Zusatz „von Kyllene“ ausschließlich im Zusammenhang mit dem Leukas-Felsen führt, könnte Odysseus hier auf die am Leukas-Felsen gelegene Hafenstadt Kyllene (Ilias 15, 518) anspielen. Zumindest weist der Name „Kyllene“ (sei es das Gebirge oder die Hafenstadt) in Richtung Peloponnes, zu dem Hermes die verstorbenen Seele führte, und dementsprechend ist darauf hinzuweisen, dass die Unterweltzugänge der frühen Griechen „alle im Westen des Peloponnes liegen“ lagen (MEYER, Pylos 2136,22 f.). 801 Ptol. Hephaest 7; Mythogr. Gr. 198,4. Leukos wurde von Antiphos getötet (Ilias 4,491). 802 PHILIPPSON/KIRSTEN III 331. 803 So zeigte sich Josef PONTEN (242) beeindruckt über „das gelbe terziäre Vorgebirge Chlemutzi mit der weißen Frankenburg, dessen andere Seite wir schon über dem elischen Lande leuchten sahen“. 804 Od. 24,12. 805 Od. 11,12. 806 Od. 15,292 ff. Zitat: 296. 807 Od. 24,11. – Die Verse 11,157–159, wonach zwischen der Heimat des Odysseus und dem Totenreich außer dem Okeanos auch „riesige Ströme und schreckliche Fluten dazwischen liegen“, sind „unecht, wie auch die Alten gesehen haben“ (WILAMOWITZ, Untersuchungen 158, 20). So ist „die Interpolation unleugbar“ (NITZSCH 213 f.).

2.2 Die Grenze zum Jenseits

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dem in Ilias und Odyssee häufig genannten Okeanos umgürtet.808 Allerdings war sich der Dichter über das mysteriöse Gewässer nicht hinreichend im Klaren, denn im Epos erscheint der Okeanos einerseits als ein unüberwindliches Meer809 und andererseits als ein strömender „Fluss“.810 Selbst für den weitgereisten Herodot blieb der homerische Okeanos ein rätselhaftes Gewässer, das geographisch schwer zu fassen ist und angeblich der Phantasie des Dichters entsprang: „Ich weiß nichts vom Okeanos als einem wirklichen Fluss, sondern erachte, daß Homer oder sonst einer der alten Dichter den Namen erfunden und in die Dichtung eingeführt hat“.811 Dagegen gab im 19. Jh. Karl H. W. Völcker zu bedenken, er möchte „die Entstehungsgeschichte des Glaubens an einen Ocean aus den Örtlichkeiten Griechenlands selbst ableiten. Die Lage dieses Landes ist der Art, daß seinen [frühen] Bewohnern … ihr Land noch als Ganzes der Erde galt, dasselbe als eine Insel erscheinen mußte“, die von Meeren umgürtet ist.812 Demnach dürfte der Okeanos im frühen 1. Jahrtausend v. Chr. den Meeresgürtel bezeichnet haben, von dem Griechenland zumindest auf drei Seiten umgeben ist.813 Erst infolge der Entdeckungsfahrten, die das Zeitalter Homers prägten, rückte der Okeanos mit zunehmender Verlagerung des Horizonts in größere Ferne, bis seine Westhälfte schließlich auf den Atlantischen Ozean bezogen wurde.814 So war für die vorhomerischen Griechen der westliche Okeanos, in den der Felsen Leukas hineinragte, sicherlich identisch mit dem weiten Ionisch-Libyschen Meer, das Griechenland im Westen und Süden begrenzt und lange eine „trennende Schranke“ bildete, die erst „im 8. Jhdt. endgültig von den Griechen überwunden wurde“.815 Und dementsprechend bietet noch die Ilias unter den Hunderten von Toponymen keinen einzigen Orts-, Insel-, Länder- oder Volksnamen, der sich auf Territorien westlich des Ionischen Meeres bezieht.816 Erst die etwas jüngere Odyssee öffnet den westlichen Horizont und nennt Gefilde, die jenseits

808 Ilias 3,2–7; 7,442; 8,485; 14,200, 201, 205,245, 246, 302; 18,487, 607, 609; 19,1; 20,7; 21,195, 198. Od. 4,568; 5,275; 10,139, 508, 511; 11,13, 21, 158, 639; 19,434; 20,65; 22,197; 23,244, 347; 24,11. 809 Od. 11,158; 23,244 u. a. 810 Od. 11,639 (ποταμός), ebenso Ilias 18,607; 20,7. 811 Hdt. 2,23. 812 VÖLCKER 99. – Über den homerischen Okeanos, der jedoch nicht konkret zu fassen sei, handelt ausführlich auch Friedrich August UKERT (Homer 12–16). 813 Im frühen Altertum vermutete man zudem eine flussartige Verbindung zwischen dem Schwarzen Meer und der Adria. Diese Wasserstraße, die wohl auf der dunklen Kunde von der Donau basiert, nutzte der vorhomerische Held Jason während seiner Flucht vor den Kolchern (vgl. Apoll.Rhod. 4,303–307). 814 „Der zunächst Griechenland anfänglich umgebene Ocean, aus dem den Hellenen sichtbarlich die Gestirne auf- und untergingen, mußte sich mit fortrückender Länderkunde hinter Sicilien, hinter Libyen und über Europa ausdehnen. Der alte Ocean war es doch immer! Soweit gerade die Geographie reichte, so weit auch jedesmal dehnte er sich aus“ (VÖLCKER 99). 815 ZIEGLER, Sikelia 2462,29 ff. – „Vor der Anlage der chalkidischen Colonien findet an den Küsten Italiens und Siciliens ein unstäter Verkehr von griechischen Schiffern verschiedener Abstammung statt. An diesem Verkehr betheiligten sich auch die Bewohner der an dem Eingange des korinthischen Golfes gelegenen Inseln Ithaka, Kephallenia und Zakynthos, bei denen der Mythos vom Westfahrer Odysseus local war“ (HELBIG 281). 816 In der Ilias sind die westgriechischen Inseln (2,625–635) und das Zeusheiligtum Dodona in Epiros (2,750; 16, 234) die westlichsten Orte, die genannt werden.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

des Ionischen Meeres liegen, nämlich Sizilien817 mit dem vorgelagerten Eiland Ortygia818 sowie die noch zu identifizierende Insel Ogygia, die sich weit westlich von Ithaka „im Nabel des Meeres“ befindet.819 2.3 Der längste Tag 2.3.1 Das Eiland der lockenden Sirenen Vom Tor zur Unterwelt, das laut Ilias bei Pylos an der Westküste des Peloponnes liegt, fuhr Odysseus in seiner fiktiven Irrfahrterzählung zunächst zur Insel Aiaia zurück,820 die als die westgriechische Heimatinsel des Helden identifiziert werden konnte. Die Rückkehr nach Aiaia (sprich Kephallenia) wird damit motiviert, dass Odysseus vergessen hatte, seinen Gefährten Elpenor „am Strande des schäumenden Meeres“ zu bestatten.821 So begrub Odysseus Elpenors Leichnam mit allen Ehren und errichtete auf dem Grabmal als sichtbares Denkmal ein Ruder.822 Anzumerken ist, dass auch die nun folgende Etappe des Odysseus unter dem Zeichen des Ruders steht. Denn der verstorbene Seher Teiresias, dem Odysseus angeblich am Tor zur Unterwelt begegnet war, hatte ihm befohlen, er möge, um Frieden mit dem Erderschütterer Poseidon zu schließen, „ein handliches Ruder“ auf die Schulter nehmen und bis zu jenen Menschen wandern, die „gar nichts wissen von Schiffen mit rot gestrichenen Seiten, nichts von handlichen Rudern, die Flügel den Schiffen verleihen“. Dort angekommen, soll Odysseus – wie beim Grab des Elpenor – „das handliche Ruder fest im Erdboden verstauen“ und „schöne Opfer dem Herrscher Poseidon bringen“. Dann, so weissagte Teiresias, würde der Erderschütterer Poseidon mit Odysseus Frieden schließen, und sein Volk würde ihn „umringen und glücklich werden sie alle sein“.823 Damit Odysseus seine Mission erfüllen konnte, hatte er von Aiaia aus eine ausgesprochen ereignisreiche Tagesetappe zur See zu bewältigen, die ihn an der Insel der Sirenen vorbei und durch die Meerenge von Skylla und Charybdis hindurch zur Insel Thrinakia führte.824 Hier „ist unheimlich viel in einen Fahrttag gepreßt“,825 und weil Odysseus zu den genannten Stationen zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang ge817 Die Odyssee (20,383; 24,211, 307, 366, 380) nennt die Insel Sizilien unter ihren alten Namen Σικανίη und Σικελός. 818 Od. 5,123; 15,404. – Und von Ithaka aus betrachtet, liegt die Insel „Syria“ (Sizilien, Malta?) sogar noch „über Ortygia hinaus, wo die Sonne sich wendet“ (Od. 15,403 f.); von dieser Insel stammte der von Phöniziern geraubte Vasall Eumaios (Od. 15,403–483). Bzgl. Συρίη vgl. WACKERNAGEL 245 ff. 819 Od. 1,50. Vgl. 5,99 f.; 6,170 ff. 820 Od. 11,638 f.; 12,1 f. 821 Od. 11,51–78. 822 Od. 11,79 f. (mit Bezug auf 11,77; 12,1–15). 823 Od. 11,121–137. 824 Od. 12,36–311. 825 LESKY, Homeros 798,46 f.; so heißt das „Stichwort“ dieses Fahrttages αὐτίκα („sogleich, alsbald“): Od. 12,151, 166, 261.

2.3 Der längste Tag

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langte,826 können sie in der Vorstellung des Dichters nicht sehr weit voneinander entfernt liegen. Die Fahrtrichtung, die Odysseus von Aiaia aus in Richtung Meerenge nahm, wird zwar nicht explizit erwähnt, aber sie kann aus dem Epos erschlossen werden. Denn wie Odysseus erzählt, wurde am darauffolgenden Tag die Weiterreise durch südliche und östliche Winde verhindert,827 und deshalb hatte er nicht die Absicht, nach Norden oder Westen zu fahren. Auch führte der Kurs wahrscheinlich nicht nach Süden, denn aus dieser Richtung war Odysseus ja zuvor vom Tor der Unterwelt (bei Pylos) nach Aiaia gelangt, wie dem Epos zu entnehmen ist.828 Folglich müsste Odysseus von Aiaia aus nach Osten gesegelt sein. Das nun zu lokalisierende Eiland der Sirenen, das in der dichterischen Vorstellung also östlich von Aiaia platziert sein dürfte, ist einer signifikanten Meerenge vorgelagert, die von den Ungeheuern Skylla und Charybdis beherrscht wird.829 Tatsächlich befindet sich knapp 100 km östlich der Insel Kephallenia, die als das homerische Aiaia identifiziert wurde, eine bedeutende Meerenge, nämlich die Enge von Rhion, die das Ionische Meer mit dem Golf von Korinth verbindet. Obwohl diese Meeresstraße, wie keine andere Meerenge im Mittelmeerraum, den homerischen Angaben über die Meerenge von Skylla und Charybdis entspricht, blieb sie unter den Homerforschern bislang unberücksichtigt, weil man gar nicht an eine Meerenge im westgriechischen Raum dachte. Schließlich wurde nicht bemerkt, dass in der Irrfahrterzählung des Odysseus der Inselname Aiaia bloß als Pseudonym für dessen Heimatinsel fungiert. In der Vorstellung des Dichters lag das Eiland der Sirenen am direkten Seeweg von Aiaia zur Meerenge von Skylla und Charybdis, und folglich war das Eiland für Odysseus kein Etappenziel, sondern ein am Seeweg liegendes Hindernis, das er zwangsläufig passieren musste. Wenn nun, wie dargelegt, Aiaia die Insel Kephallenia ist und die Ungeheuer Skylla und Charybdis an der Meerenge von Rhion lauern (wie im nächsten Kapitel darzulegen ist), dann ist das Eiland der Sirenen unter den Echinaden zu suchen. Diese, der akarnanischen Küste vorgelagerten Eilande liegen im Golf von Patras, der sich zwischen dem westgriechischen Inselbogen und der Meerenge von Rhion erstreckt. Auch die heutige Fährverbindung zwischen Kephallenia und dem Festland, nämlich von der kephallenischen Hafenstadt Same zur peloponnesischen Metropole Patras, die nahe der Meerenge von Rhion liegt, führt unmittelbar an den Echinaden vorbei. Die grössten und höchsten Eilande der Echinaden sind dem Delta des nordwestgriechischen Flusses Acheloos vorgelagert,830 der genau zwischen der Insel Kephallenia (Aiaia) und der Meerenge von Rhion (Skylla und Charybdis) ins Meer mündet und dem 826 Während der Morgenröte verließ Odysseus Aiaia (Od. 12,142 ff.), passierte dann die Sirenen sowie die Meerenge von Skylla und Charybdis und landete am Abend auf der Insel Thrinakia (12,291 ff.). 827 „Aber der Südwind hörte nicht auf; einen ganzen Monat wehten der Ost und der Süd; nur daher kamen die Winde“ (Od. 12,325 f.). 828 Od. 10,507. „Auf dem Rückwege fährt er zugleich mit der rollenden Fluth des Weltstromes, von Süden nach Norden, 11,638. So erklärt es sich, warum er den Rückweg in kürzerer Zeit zurücklegt, als den Hinweg!“ (VÖLCKER 144). – Tatsächlich streicht die Meeresströmung entlang der Westküste des Peloponnes in Richtung Kephallenia nordwestwärts (s. Mediterranean Pilot, Vol. IV, Fig. A-D). 829 Od. 12,201 ff. 830 Vgl. Seekarte Nr. 658 (Nisos Paxos bis Nisoi Strophades).

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2. Die Irrfahrtgeschichte

Dichter Homer als bedeutendster Fluss Griechenlands galt.831 Hervorzuheben ist nun, dass in der antiken Mythologie die Sirenen die Töchter des Stromgottes Acheloos sind, und „die Erzählung von ihrer Geburt aus dem Blutstropfen des Acheloos bietet trotz der jungen Gewährsmänner die altertümlichste Version“.832 „Von diesen Acheloiden hatte [schon] Hesiod gesungen, der ihre Insel Ἀνθεμόεσσα genannt“ hatte,833 während das homerische Eiland der Sirenen namenlos ist. Und weil die Sirenen auf den Echinaden besonders verehrt wurden,834 urteilte v. a. Robert von Ranke-Graves über die homerischen Sirenen: „Da sie auch Töchter des Acheloos genannt werden, könnte ihre Insel ursprünglich eine der Echinaden an der Mündung des Flusses Acheloos gewesen sein“.835 Schon im Schiffskatalog der Ilias tauchen die weithin sichtbaren Echinaden als „Eilande jenseits des Meeres, im Angesichte von Elis“ auf, und sie werden dort sogar als „heilig“ bezeichnet.836 Diese Auszeichnung verdanken die kleinen Echinaden dem Eiland Artemita, das der Göttin Artemis geweiht war und von antiken Autoren genannt wird.837 Welches der Eilande den Namen Artemita trug, ist aber ohne archäologische Forschungen kaum festzustellen, zumal einige der Echinaden schon im Altertum durch die Anschwemmungen des Acheloos landfest geworden sind. Bereits Thukydides (5. Jh. v. Chr.) hatte prognostiziert, dass alle Eilande, die dem Delta des Acheloos vorgelagert sind, im Laufe der Zeit landfest würden,838 doch wie schon Pausanias (2. Jh. v. Chr.) bemerkte, verlangsamte sich der Vorbau des Acheloos zunehmend.839 So ist erst in der römischen Kaiserzeit und im Mittelalter ein Teil der Echinaden durch Anschwemmungen des Acheloos verlandet, insbesondere das 434 m hohe Eiland Kutzolaros.840 Immerhin ist den antiken Angaben zu entnehmen, dass das heilige Artemita zu denjenigen Eilanden gehörte, die der Mündungsspitze des Acheloos vorgelagert waren bzw. sind und als Oxeiai bezeichnet werden.841 Dabei handelt es sich um die geographisch exponiertesten und höchsten Echinaden, die nahe beim 425 m 831 „Als bedeutendsten Strom Griechenlands bezeichnet ihn Homer durch das Epitheton κρείων (Herrscher)“ (BUCHHOLZ 151; mit Bezug auf Ilias 21,194); vgl. Paus. 8,38,10. 832 WEICKER, Seirenen 604,41 ff. (diesbezügliche antike Quellen s. a. 604,9 ff.).– In ihrer Jugend „hatten die Sirenen mit dem Demeterkinde auf den Wiesen des Acheloos gespielt“ (PRELLER Ib 482). 833 PRELLER Ib 482, Anm. 2 (mit Bezug auf das Schol. Apoll. Rhod. 4,892). 834 Apoll.Rhod. 4,895. „Auf den Teleboerinseln [Echinaden] wurden die Sirenen besonders verehrt und galten für Töchter des Acheloos“ (DONDORFF 42,2 mit Bezug auf Serv. Aen. 5,864). 835 RANKE-GRAVES II 358. – Ohnehin nimmt „der Fluss Acheloos, als der grösste unter den griechischen Flüssen, in Mythologie und Kultus eine hervorragende Stellung ein“ (OBERHUMMER, Akarnanien 231). 836 Ilias 2,625 f. 837 Strab. 1,3,18. Plin. nat. 4,5. Rhianos u. Artemidor bei Steph.Byz., s. Ἀρτεμίτα. 838 Thuk. 2,102,3 ff. Vgl. Hdt. 2,10. Skylax 34 839 Paus. 8,24,11. Vgl. Strab. 1,3,18; 10,2,19. Plin. nat. 2,201; 4,53. 840 PHILIPPSON/KIRSTEN II 601; s. a. 409. „Oxeíai hießen nur die heutige Insel Oxyá und der, wohl noch im höheren Altertum insulare, Kutsiláris“ (dies. 406). 841 Plin. nat 4,1,2: „amnis Achelous Artemitam insulam assiduo terrae invectu continenti adnectens“. „Stephanus von Byzanz bezeichnet sie, vermutlich nach Artemidor’s Angabe (ca. 100 v. Chr.), noch als Halbinsel und zitiert einen Vers aus Rhianos Thessalica (3. Jahrh. v. Chr.), wo sie noch als Insel erscheint. Die auffallende Neubildung hat sich also zwischen dem 3. und 4. Jahrh. v. Chr. vollzogen“ (LANG 31). Zur Insel Artemita s. a. OBERHUMMER (Akarnanien 15, 23, 242) und PHILIPPSON/KIRSTEN (II 408).

2.3 Der längste Tag

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hohen Eiland Oxia liegen, das als markante Landmarke den Seefahrern stets den Weg in den Doppelgolf von Patras und Korinth wies.842 Vor Oxia, das an der Nordwestküste des Golfes von Patras liegt, und nicht vor Naupaktos (ital. Lepanto) im Golf von Korinth, fand übrigens im Jahr 1571 die berühmte ‚Seeschlacht von Lepanto‘ statt,843 in der die vereinigten Flotten der Christen die Armada der Türken und Mauren vernichtend schlugen. Odysseus, der in seiner Irrfahrterzählung nur Pseudonyme nennt, hätte auf der Fahrt von Kephallenia zur Meerenge von Rhion das Eiland Artemita zwangsläufig passiert, und so drängt sich die Vermutung auf, dass er mit der Insel der Sirenen das der Artemis heilige Artemita bezeichnete, das bereits Strabon als eine landfest gewordene Echinade anführt.844 Als Geburtsort der Artemis gilt die Insel Ortygia („Wachtelinsel“),845 worunter man in der Antike v. a. die Ägäisinsel Delos verstand, aber auch Syrakus auf Sizilien oder Ephesos in Kleinasien. Indes, „gleich die ältesten Erwähnungen Ortygias lassen erkennen, daß sich eine Identifikation mit Delos, Syrakus, Ephesos nicht ohne weiteres rechtfertigen läßt“.846 Und schon Johann Heinrich Voss legte dar, „wie spät Delos die Ehren Ortygia’s zu erschleichen gesucht“,847 und er stellte treffend fest: „Falsch ist, daß Ortygia schon in der Heroenzeit für älteren Namen von Delos galt“.848 Zwar ist die Lage von (Ur-) Ortygia „ungewiß“,849 aber das mythische Eiland wurde ursprünglich im Westen von Griechenland angesetzt, denn Ortygia gilt als „Geburtsland des nächtlichen Lichtes“, und so war Ortygia der Beiname „der Artemis, unter welchem sie auf dem ätolischen Berge Chalkis verehrt wurde“.850 Vor dem Hintergrund der in der vorliegenden Studie lokalisierten Insel der Sirenen, die der Artemis geweiht war, erscheinen auf einmal diejenigen alten Überlieferungen in einem helleren Licht, denen zufolge von einem „aitolischen Ortygia die Benennung

842 „An der Ecke von Nordgriechenland, am Eingang des Korinthischen Golfes gelegen, ist sie ein Markstein für die Schiffahrt“ (OBERHUMMER, Akarnanien 21). Den Sachverhalt stellt umfassend PUTMAN-CRAMER (265 ff.; mit zwei Fotos von Oxia) dar. 843 PHILIPPSON/KIRSTEN II 406, Anm. 1; 321. 844 So „hebt Strabo [1,3,18] unter den landfest gewordenen Inseln eine des Namens Artemita besonders hervor“ (Oberhummer, Akarnanien 15), die BURSIAN (I 127 f.) als den nun festländischen Berg Kurtzolari identifiziert. Aber Artemita „ist schwerlich der Kurtzolarihügel, da wir diesen zun den Ὀξεῖα νῆσοι rechnen müssen und Rhianos beide unterscheidet (νήσοις Ὀξείῃσι καὶ Ἀρτεμίτῃ ἐπέβαλλον)“ (Oberhummer, Akarnanien 23). So sei als Insel Artemita „am wahrscheinlichsten Dióni, deren Landverbindung noch heute sehr schmal ist“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 408). 845 „Ortygia gilt ausgesprochen als Stätte der Artemis und ist ihr ebenso heilig und für sie sozusagen symbolisch wie es der Frühlingsvogel ὄρτυξ [Wachtel] sein mag“ (SCHMIDT, Ortygia, 1522,4 ff.). 846 SCHMIDT, Ortygia 1522,51 ff. (mit Bezug auf Od. 5,123; 15,404. Hym. h. 3,16). 847 VOSS, Myth. Briefe III 137. Indes, für VOSS ist das „ächte Ortygia bei Syrakus“ (III 134). 848 VOSS, Myth. Briefe III 138. „Sowohl der Homerid‘ als auch der Orfiker unterscheiden Ortygia von Delos“ (III 146). Siehe bei VOSS auch das Kapitel „Dälos und Ortygia“ (Myth. Briefe III 215–234). 849 SCHMIDT, Ortygia 1523,39 f. So wurde von einigen antiken Autoren „Ortygia noch weiter westlich unter die Inseln der Seligen verlegt“ (ders. 1524,27 f.). 850 BENSELER 661. Bzgl. des aitolischen Ortygia s. Schol. Π 9,557; schol. Apoll. Rhod. 1,419; Nik. Fr. 5 Schm. – Erwähnt sei, dass namentlich „das Heiligtum der Strophaia in Erythrai“ und in Ephesos anscheinend den Namen „Ortygia“ trugen (GRUPPE 273), also der Inselname Ortygia eng mit der Artemis-Epiklese „Strophaia“ verbunden ist.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

der übrigen Stätten ausgegangen sei“.851 Die einzigen Inseln vor der aitolischen Küste sind die Echinaden, und so könnte das antike Eiland Artemita die ursprüngliche Insel der „Wachtelherrin“ Artemis gewesen sein!852 Daher galt im frühen Altertum „Delos verschieden von Ortygia; dort war Apollon allein geboren, und hier Artemis“.853 „Erst in den persischen Kriegen begann Delos, auch der Artemis Geburt sich öffentlich anzueignen“,854 und „wenigstens sechzig Olympiaden verflossen“, bis die Lehre allgemein akzeptiert wurde, „Delos sei zugleich Ortygia, mithin auch der Artemis verehrungswürdige Geburtsinsel“.855 Bei den von Mittel-Euboia stammenden Ioniern (aus Chalkis, Eretria, Kyme), die – wie schon im Dulichion-Kapitel dargelegt – die frühesten Kolonisten der kerkyräischen Thalassokratie waren, zu der auch die Echinaden am Golf von Patras gehörten (weil diese den Seehandelsweg nach Mittelgriechenland sicherten),856 führte die Göttin Artemis auch den Beinamen „Strophaia“ (das Wort bedeutet „Strick“),857 weil das Binden und Fesseln mancherorts zum Artemiskult gehörte.858 Darauf dürfte Odysseus, der die Route seiner Irrfahrtserzählung mit Pseudonymen kaschiert, anspielen, wenn er von den „Sirenen“ spricht, denn dem Namen liegt das altgriechische Wort für „Seil“ bzw. „Strick“ zugrunde.859 „Artemis Strophaia … bind their victims ‚in the presence of the heroes‘,

851 SCHMIDT, Ortygia 1520,65 ff.; mit Bezug auf Schol. Apoll.Rhod. 1,419; Schol. Hom. Ilias 9,557; Klearch b. Athen. XV 701c (= FHG II 318). – Es ist wohl folgender Sachverhalt anzunehmen, „daß Leto, da sie der eifersüchtigen Here über Land und Gewässer entfloh, in Delos den Apollon, und in der fernen Ortygia die Artemis gebar. Weil aber ein Geburtsort so mächtiger Gottheiten Ehre und Gut eintrug, so ward die herrschende Religionssage durch Deutungen versetzt“, und so zeigten die Priester „in Efesos [Ephesos] einen Hain Ortygia mit allen Wahrzeichen der heiligen Geschichte“; aber auch „die Delier, welche beide Zwillinge sich zueigneten, fanden Beifall schon vor Herodot (VI 97); wiewohl noch Kallimachus, sogar in seinem Lobliede auf Delos (v. 255), ihnen nur Apollon zugesteht“ (VOSS, Blätter II 297). 852 Während der klassischen Antike galt Delos als „Insel der Wachtelherrin“ (FAUTH, Artemis 623,44). 853 VOSS, Myth. Briefe III 130; aber er fügt bzgl. Artemis hinzu: Aber „in welcher Ortygia? Als die Fabel des Homeriden [XXXV 3] entstand, wußte die Welt nur [noch] von Einer Ortygia, der berühmten Insel vor der neuen, durch Seehandel aufblühenden Pflanstadt Syrakus“. 854 VOSS, Myth. Briefe III 130 f. „Zur neuen Lehre, in Delos gebar Leto den Apollon und die Artemis, bekennt sich ein Skolion bei Athenäos (XV. p. 694)“ (ders. III 131). 855 VOSS, Myth. Briefe III 137. Aber „noch manches artemistsche Heiligthum erhub Anspruch, als der Göttin wahrer Geburtsort, als ursprüngliche Ortygia, geehrt zu werden“ (a. a. O.). 856 Dieser Sachverhalt scheint zudem mythengeschichtlich auf: „Auch des Acheloos’ Töchter, der Seirenen oder Seiredonen, stammen sehr wahrscheinlich aus der Legende eines Heiligtums des ostboiotisch-euboiischen Reiches, da man von ihnen auch in den chalkidischen Niederlassungen“ erzählte (GRUPPE 344). „Die Angaben über den ursprünglichen Sitz der homerischen Seirenen schwanken, doch beziehen sie sich, wie die Nachrichten über den Kult, sämtlich auf chalkidisch-euböisches Siedlungsgebiet“ (WEICKER, Seirenen 607,40 ff.). 857 GEBHARD, Strophaia 376,6 (mit Belegen). 858 So heißt es z. B. in „Schol. Pind. Olymp. VII 95 (Dr. I 221 = Polem. FHG III 146), bei den Chiern sei Dionysos gefesselt und bei den Erythräern das Götterbild der Artemis“ (GEBHARD, Strophaia 376,8 ff.). 859 BENSELER 821 („σειρά, ion. σειρή, Seil, Strick, Schnur, Kette, Schlinge, Lasso“). „So weist auch die etymologische Herkunft der Σειρῆνες auf ihren Ursprung hin: der Name gehört nach meiner Überzeugung zu σειρά, ion. Σειρή ‚Seil, Lasso‘“ und weist auf „eine ‚zusammenschnürende, würgende‘ Todesdämonin“ hin (GÜNTERT 174). „[O.] Gruppe [Myth. 344] übersetzt Σειρῆνες ganz richtig mit die ‚Umstrickerinnen‘“ (ders. 175).

2.3 Der längste Tag

303

which presumably are references to the recipients of hero cult. This last citation leads us neatly into consideration of the role of the dead on these curses”.860 Von der Artemis-Epiklese Strophaia leitet sich übrigens der Inselname Strophaden ab. Die Strophaden, die in der antiken Mythologie auch auf die Echinaden bezogen wurden,861 sind zwei ganz flache und winzige Eilande 50 km südlich der westgriechischen Insel Zakynthos.862 Auf ihnen lebten die – auch in der Odyssee genannten – Harpyien,863 bei denen es sich um weibliche, geflügelte und unheilbringende Winddämonen handelt,864 die mit den Sirenen „wesensverwandt“ sind.865 Wohl als scherzhafte Reminiszenz an den Artemis-Kult, bei dem, wie die Epiklese Strophaia verdeutlicht, v. a. Gottheiten bzw. deren Bildnisse gefesselt wurden,866 ließ sich Odysseus auf Weisung der Kirke von seinen Gefährten am Schiffsmast fesseln, als er die Insel der Sirenen passierte,867 nämlich das heilige Echinaden-Eiland Artemita. „Doch bittest du oder befiehlst du, daß die Gefährten dich lösen, dann sollen sie stärker noch fesseln“,868 ermahnte Kirke den Odysseus, und sie fügte als Begründung hinzu: „Wer diesen Sirenen unberaten sich nähert und anhört, was sie ihm singen, der kehrt nimmer nach Hause“. Denn „die Sirenen sitzen auf grasigen Auen und wollen mit tönenden Liedern Zauber verbreiten; doch liegen daneben in Menge auf Haufen modernder Männer, Knochen und schrumpfende Häute an ihnen. Also treibe da eilig vorbei!“869 Jedoch sind das „nicht blosse Haufen von Leichnamen“, sondern es handelt sich um „die hochaufgeworfenen Todtenhügel, Gräber u. s. w.“.870 – Aber wie sind diese Gräberhügel sowie die Warnung der Kirke vor den Sirenen zu deuten? Die im Bereich des Golfs von Patras sowie „am adriatischen Meer (Strab. V 215)“ verehrte Artemis war in früher Zeit insbesondere die „Lafria kefallenischer Herkunft“,871 deren Kult auf dem Echinadeneiland Artemita vermutlich von der proto-euboischen Strophaia kontaminiert wurde, da euboische Seefahrer die Echinaden schon seit dem 8. Jh. v. Chr. vereinnahmt hatten.872 Und weil die Laphria eine „archaisch-grausame“ Göttin war,

860 EIDINOW 148. „It has been argued that curse tablets are directed at the dead – and that they were the entities intended to carry out the binding requested by a curse” (a. a. O.). Das Fest der Artemis-Strophaia erwähnt Athen. 6 p. 259 B. 861 Apollod. 1,18 f. 862 PHILIPPSON/KIRSTEN II 541. Bzgl. der Strophaden s. o. S. 150 f. 863 Od. 1,241; 14,371; 20,77. 864 SITTIG, Harpyien 2418,68 ff. 865 WEICKER, Seirenen 602,48 f. – Wie die Sirenen erscheinen auch die Harpyien als geflügelte Mädchen. 866 „Die Fesselung sollte den Besitz des segenspendenden Götterbildes für die Stadt sichern“ (GEBHARD, Strophaia 376,33 ff.; mit Bezug auf POLEMON bei Schol. Pind. Ol. VII 95). 867 Od. 12,178 f. 868 Od. 12,53 ff.; vgl. Od. 12,160 ff., 193 ff. 869 Od. 12,39–47. 870 NITZSCH III 369; mit Bezug auf Aesch. Pers. 804. 871 VOSS, Myth. Briefe III 171. – Die Artemis-Laphria wurde in früher Zeit auch auf Kephallenia verehrt (Anton. Lib. met. 40). 872 So sei auf „den Stamm der Kureten“ hingewiesen, der sich in frühster Zeit „im südlichen Aetolien niederliess“, namentlich in den Hafenstädten Kalydon und Pleuron, denen die Echinaden vorgelagert sind. „Nach einer durchaus wahrscheinlichen Ansicht galten die Kureten schon im Altertum als ein von

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2. Die Irrfahrtgeschichte

die „bei Griechen und Barbaren Menschenopfer empfing“,873 erscheint die Warnung vor den tödlichen homerischen Sirenen durchaus berechtigt. Die Verehrung der Artemis-Laphria ist schon „für das mykenische Hellas bezeugt“, und ihr Kult lebte noch bis zur klassischen Zeit des Altertums an den Küsten des Golfs von Patras fort, wo ihr Männer und Jünglinge geopfert wurden.874 „Was wir vom Festbrauch der Laphria wissen, ist bei Pausanias für Patras überliefert“, und „Pausanias’ Angabe hat sich im archäologischen Befund bewahrheitet“.875 Also, damit Odysseus und seine Gefährten nicht im Golf von Patras der „vernichtenden Gier der jungfräulichen Göttin“ Artemis-Laphria876 zum Opfer fielen, gab Odysseus seinen Gefährten den strikten Befehl, unbedingt an dem Eiland vorbeizufahren. Die Odyssee berichtet weder etwas über die Anzahl noch über die Gestalt der Sirenen.877 Immerhin dürfte der Dichter „sich die Sirenen ‚noch‘ menschlich gedacht haben, wie die Alexandriner“.878 Und weil für Homer die Sirenen „von rein menschlicher Gestalt“ waren,879 bleibt kaum eine andere Deutungsvariante, als sie – in der Erzählung des listigen Odysseus – als Priesterinnen der Artemis-Laphria zu interpretieren, die Menschenopfer forderte. Die spätere „rituelle Geißelung der Knaben an ihrem Altar“ erscheint als „Substitut eines ehemaligen Menschenopfers aus den Reihen ihrer jugendlichen Schützlinge“.880 Vor allem in Kalydon, der schon von Homer genannten Hafenstadt im Norden des Golfs von Patras,881 „und nach dem kalydonischen Vorbild dann in Patras jenseits des Golfes, hat Artemis Laphria größere Bedeutung gehabt, ist sie Polisgottheit geworden, ja in Kalydon geradezu Herrin der gesamten Küstenlandschaft“ und somit der vorgelagerten Echinaden.882 Man hat „in der [Artemis-] Laphria von Kalydon und Patrai die ‚Hirschgöttin‘ der ersten griechischen Einwanderer erkennen wollen“,883 und in den beiden Städten fuhr die als Artemis personifizierte Priesterin auf einem von Hirschen gezogenen Wagen ein.884 So wurden der Artemis-Laphria insbesondere Rehe und Hirsche geopfert,885 und

873 874 875 876 877 878 879 880 881 882 883 884 885

Euboia eingewanderter Stamm“ (OBERHUMMER, Akarnanien 60 f.; mit Bezug auf Archemachos b. Str. X 3, 2 p. 463; Eustath. Hom. p. 282. P. 771 ss.; Bursian Quaest. Euboicae p. 14 s.). FAUTH, Artemis 618,55 ff. Über Menschenopfer berichtet noch PAUSANIAS (7,19,1 ff.; 9,22 ff.). FAUTH, Artemis 618,26 u. 622,48 ff.; vgl. Paus. 4,31,7; 7,18,8–19,1; 7,20,2; 9,22 f. Strab. 10,2,21. – In Naupaktos gab es sogar den „Monat Laphriaios“ (OLDFATHER, Naupaktos 1999,27). KIRSTEN/KRAIKER 773. FAUTH, Artemis 622,20 f. Auch für HOMER ist die Artemis unnahbar (Od. 6,109; Hom. h. 9,2; 27,2). Es handelt sich vermutlich um „zwei Sirenen wegen des Duals in der Odyssee 12,52 und 167“ (DRÄGER 539, Anm. 895). „Außerhalb des Mythos erscheinen die Seirenen in unbegrenzter Anzahl“ (WEICKER, Seirenen 604,3 f.). MEULI, Odyssee 83, Anm. 1 (mit Bezug auf Schol. H. μ 39). Man denke auch an den Sirenennamen Parthenope („Jungfrau, Mädchen“): Schol.Od. 12,39 u. Aristot. mir. 103. WEICKER, Seirenen 614,49 (mit Bezug auf schol. Q. V. Od. 12,39, H. Od. 12,47; Eustath. 1709,46). FAUTH, Artemis 623,31 ff. (mit Bezug auf Paus. 2,16,10. Serv. Aen. 2,116). Ilias 2,640; 9,531; 13,217; 14,116. KIRSTEN/KRAIKER 767. FAUTH, Artemis 622,60 ff. Paus. 7,18,12. KIRSTEN/KRAIKER 766. – Und „zu Elis und Olympia führte Artemis den Beinamen ἐλαφία der ἐλαφιαία, was darauf hinweist, dass die orientalische Sitte des Hirschopfers sich dort besonders ausgeprägt erhalten hat“ (OBERHUMMER, Phönizier 20).

2.3 Der längste Tag

305

deshalb dürfte es in der epischen Handlung kein Zufall sein, dass Odysseus zuvor auf der Insel Aiaia (Kephallenia), „einen mächtigen Hirsch erlegt“ hatte, der „von seltener Größe war“.886 Möglicherweise war dieser signifikante Nexus dem letzten Bearbeiter der uns vorliegenden Fassung der Odyssee nicht mehr bewusst, sonst hätte er die über zwanzig Hexameter umfassende Hirsch-Episode wohl nicht mit einem profanen Abendessen am Strand von Aiaia enden lassen,887 sondern mit einem Opfer für Artemis-Laphria, um sie für die anstehende Vorbeifahrt an der Sireneninsel zu besänftigen. Die homerischen Sirenen repräsentieren offensichtlich einen religiösen Kult. Deshalb „hat der Dichter entschieden nicht gedacht, die lockenden Sängerinnen wären gewaltthätige Unholdinnen“,888 und so „giebt ihnen Homer auch das Beiwort ἀδιναί, das sonst nur von Trauergesängen“ zeugt; zudem war im Altertum „das Sirenenbild auf Gräbern ein Symbol des Todes“.889 Die blutrünstige Artemis wurde „nicht selten geflügelt, z. T. mit Gorgonenantlitz“ dargestellt,890 und dementsprechend erscheinen die Sirenen in der antiken Kunst meist als geflügelte Mädchen,891 obwohl der Odyssee über die Gestalt der Sirenen nichts zu entnehmen ist. „Die müssige Ausmalung der Seirenen als oben Jungfrau unten Vögel gefiel erst viel Späteren“.892 Jedoch hängt die vogelgestaltige Darstellung der Artemis mit der ihr heiligen „Wachtel“ zusammen, und deshalb wurde Artemis auch als „Wachtelgöttin“ verehrt.893 Ihre Geburtsinsel „Ortygia heißt ja Wachtelland“.894 Obwohl die Wachteln zur Familie der Feldhühner gehören und sich, wie die homerischen Sirenen, meist „auf grasigen Auen“ bewegen,895 sind sie dennoch Zugvögel, die im Herbst übers Mittelmeer fliegen, teils sogar bis Äquatorial-Afrika.896 Und als Zugvögel, die weit durch die Welt kommen, erscheinen sie dem Dichter besonders geeignet, das Lied vom Ruhm des Odysseus zu singen, wie es die homerischen Sirenen taten: „Hierher, Odysseus, Ruhm aller Welt, du Stolz der Achaier! … Alles wissen wir, was im breiten Troja die Troer, was die Argeier dort litten nach göttlicher Fügung. Und allzeit wissen wir, was auf der Erde geschieht, die so vieles hervorbringt“.897 – Da Odysseus den 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897

Od. 10,158; 180. – Artemis „freut sich, Eber und hurtige Hirsche zu erlegen“ (Od. 6,104). Od. 10,176 ff. NITSCH III 370. KLAUSEN 47 f. FAUTH, Artemis 620,3 f. „Seit dem 8. Jh. wurden die Seirenen, auch die homerischen, unter ägäisch-vorderasiatischem Einfluß als Vögel mit Menschenkopf dargestellt, und erst allmählich erhielten sie Arme und Brüste“ (GEISAU, Seirenes 79,38 ff.). Die Darstellungen deutet ANDREAE 288 ff. (beachte a. a. O. bes. die Abb. 114, 115, 116). NITZSCH III 370. Aristoph. Av. 870. VOSS, Myth. Briefe III 133. Und „daß Ortygia die verwandelte Asteria sei, blieb von nun [Lykophrons Zeitalter] herrschende Vorstellung; Asteria ward genannt, und Wachtelinsel Ortygia hinzugedacht, als der Artemis Geburtsland“ (a. a. O.). Od. 12,45. BROCKHAUS, Feldhühner, Bd. 6, 378. – Die Wachteln „ziehn vor den Kranichen im Frühling nordwärts“ (VOSS, Myth. Briefe III 134). Die westgriechische Insel Zakynthos gilt „als Hauptstation des Vogelzuges. Im Herbst werden hier Unmengen an Wachteln gefangen“ (PARTSCH, Zante 166). Od. 12,184–191. – Die für den lieblichen Sirenengesang (Od. 12,187) erforderliche Naturkulisse, nämlich einen „mit Röhricht bewachsenen, großen Meersumpf “ (BREUSING, Irrfahrten 66), bieten die Echi-

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2. Die Irrfahrtgeschichte

lockenden Gesang der Sirenen unbedingt hören, aber ihm keinesfalls erliegen wollte, verstopfte er die Ohren seiner Gefährten mit Wachs und ließ sich dann an den Schiffsmast fesseln,898 und so gelangten er und seine Gefährten mit günstigem Wind in die Nähe der mysteriösen Insel der Sirenen899. Als Odysseus den Meeresraum der Sirenen befuhr, da „ruhten die Winde. Kein Hauch mehr bewegte die Wogen, Meeresstille entstand, denn ein Gott ließ die Wellen entschlafen. Da nun erhob sich die Mannschaft, rollte die Segel des Fahrzeugs, legte sie hin im geräumigen Schiff und ging an die Ruder, setzte sich hin und das Wasser schäumte vom Schlag ihrer glatten Riemen“.900 So fungierten die Sirenen nicht nur als „ins Verderben lockende Sängerinnen“, sondern man fürchtete zudem „ihr verderbliches Walten in der Windstille, wie sie namentlich in sommerlicher Mittagszeit auf den südlichen Meeren einzutreten pflegt“.901 Indes, die bei den homerischen Sirenen einsetzende Flaute mit völliger Meeresstille, die bis zur nahen Meerenge von Skylla und Charybdis anhielt,902 dürfte weder ein fiktiver Zug sein, noch ein dichterisches Stilmittel, um den Sirenengesang hervorzuheben oder damit die Kephallenen genug Zeit hatten, sich die Ohren mit Wachs zu verstopfen und Odysseus am Schiffsmast festzubinden.903 Meines Erachtens kommen wohl eher nautisch-geographische Kenntnisse vom inneren Becken des Golfs von Patras zur Geltung, das wie „ein ungeheurer Landsee erscheint“904 und im Sommer häufig Flauten und schwache Winde aufweist.905 2.3.2 Die Meerenge der Skylla und Charybdis Kurz nachdem das Schiff des Odysseus die Insel der Sirenen unbeschadet passiert hatte, fuhr es in die Meerenge, an der die unsterblichen Ungeheuer Skylla und Charybdis lauern.906 Die Odyssee erlaubt einige Rückschlüsse auf die Beschaffenheit der Meerenge, wobei zunächst die Ausrichtung der Verkehrsachse zu untersuchen ist. Da Odysseus gewappnet am Bug seines Schiffes stand und gebannt geradeaus – in Fahrtrichtung blickend – zur Höhle der Skylla schaute, die sich ausdrücklich „nach Westen“ öffnet,907

898 899 900 901 902 903 904 905 906 907

naden, denn dort „sind auch heute die Grenzen zwischen Festland, Sumpf und Wasser schwankend und unbestimmt“ (OBERHUMMER, Akarnanien 20). Od. 12,154–200. Od. 12,166 f. Od. 12,168 ff. GRUPPE 344 f. Die Sirenen gehören somit auch zu den „Mittagsgespenstern“ (WEICKER, Seirenen 608,6). Od. 12,214 f., 203, 276. „Die Windstille ist also hier heilsam und dienlich, damit die schützenden Massregeln noch zu rechter Zeit getroffen werden“ (NITZSCH III 391). PÜCKLER-MUSKAU 21; ebenso sprechen auch MURE (I 83 f.) und HOLLAND (16) vom „great lake“. RADSPIELER 134. Od. 12,59–110. – In der antiken Mythologie war Skylla „ein so furchtbares Ungeheuer, daß sie selbst vor der [Totengöttin] Persephone keine Scheu hatte“ (PRELLER Ib 484). Od. 12,81, vgl. 229 f. Die Höhle der Skylla ist „mit ihrer Öffnung nach Westen gewendet“ (VÖLCKER 44); desgleichen betont SCHREIBER 11 (mit Verweis auf Eust. ad. h.). Die homerische Formulierung πρὸς

2.3 Der längste Tag

307

durchfuhr er die Meerenge offenbar in östlicher Richtung. Dafür spricht auch die Argonautensage, in der Jason mit „Westwind“ von der Insel der Sirenen in die nahegelegene Meerenge von Skylla und Charybdis fuhr.908 Folglich stellt sich der Dichter die Verkehrsachse der Meerenge West-Ost-gerichtet vor,909 und nicht von Norden nach Süden, wie es bei der Meerenge von Messina (zwischen Sizilien und Kalabrien) der Fall ist, die meist als die Meerenge von Skylla und Charybdis betrachtet wird.910 Der Odyssee ist weiterhin zu entnehmen, dass die von West nach Ost gerichtete Wasserstraße der Meerenge von Skylla und Charybdis beidseits, also im Norden und Süden, von ausgesprochen hohen Gebirgsmassiven eingerahmt ist.911 Auch diese Angabe verweist auf die eindrucksvolle westgriechische Meerenge, die den Golf von Patras mit dem Golf von Korinth verbindet und seit dem Altertum als Meerenge von Rhion bezeichnet wird.912 Der Name Rhion bedeutet „das Felsenhaupt, das in einsame Höhe emporragt“,913 und dementsprechend behauptet Odysseus, an der Meerenge der Skylla und Charybdis würde das Felsgebirge „bis in den Himmel (Uranos) ragen“.914 So wird die Meerenge auf der Südseite vom peloponnesischen Gebirgsmassiv Voidias, der ein gigantischer, knapp 2.000 m hoher „Gebirgswall“ ist,915 und im Norden von den Ketten der „Ätolischen Kalkalpen“ eingefasst.916 Die dazwischen liegende, lediglich 1.800 m breite Meerenge917 erscheint noch schmaler als sie ist, da sie von den ausgesprochen hohen und steilen Gebirgsflanken wie in ein Korsett gezwängt wird.918 Und weil die Meerenge so schmal erscheint, bezeichnen Geographen die Meerenge von Rhion als eine „schmale Enge“,919 und mancher charakterisiert sie als „blauen Kanal“ oder gar als „Gasse“,920 um nicht von einer Meeres-„Straße“ zu sprechen. Trotzdem

908 909 910

911 912 913 914 915 916 917 918 919 920

ζόφον εἰς Ἔρεβος (Od. 12,81) weist darauf hin, dass der Berg der Skylla, wie der Eingang zur Unterwelt, an der Westküste der Peloponnes zu verorten ist. Apoll.Rhod. 4,910. Dennoch trifft mit Verweis auf Od. 12,427 die Folgerung zu, dass sich der Schiffbruch „südwestlich“ hinter der Enge ereignete (WOLF, Reise 27), und dementsprechend erstreckt sich der westliche Teil des Golfs von Korinth, in den Odysseus hineinfuhr, südwestlich der Meerenge von Rhion. Die antiken Autoren hielten die Meerenge von Skylla und Charybdis überwiegend „für ein Phantasiegebilde; sonst lokalisierte man sie im Altertum in der Straße von Messina … Auch moderne Odyssee-Topographen suchen Skylla und Charybdis meist dort“ (GEISAU, Skylla 239,3 ff.; mit Belegen). Schon Gregor Wilhelm NITZSCH (III 383) meinte, „dass die Beziehung der Skylla und Charybdis auf die Sicilische Meerenge eitel ist und nur auf der Sucht zu finden beruhet“. Od. 12,73 ff. – Vgl. PHILIPPSON/KIRSTEN III 191. U. a. Thuk. 2,86,2 ff. Strab. 8,2,3. Plin.nat. 4,6.13. Ptol. 3,14,29. BENSELER 814. – Vgl. Ilias 8,25; 19,114. Od. 12,73 f. PHILIPPSON/KIRSTEN III 156. PHILIPPSON/KIRSTEN III 70. – Die Ätolischen Kalkalpen bilden an der Meerenge von Rhion ein „Vorgebirge des großen Bergmassivs Rhigani (vielleicht im Altertum Origanon), das direkt ans Meer herantritt“ (OLDFATHER, Naupaktos 1981,64 ff.). KIRSTEN/KRAIKER 715. Vgl. Thuk. 2,86,3: 7 Stadien. Ps.Skyl. 35: 10 Stadien. Strab. 8,2,3: 5 Stadien. Agath. 5,24: 7 Stadien. Plin. nat. 4,6: weniger als 1 Meile. Sogar der gesamte „korinthische Golf erscheint als eine schmale Spalte, ja viel schmäler als er wirklich ist, da hohe Bergwände von jeder Seite zur anderen winken“ (NEUMANN/PARTSCH 134). PHILIPPSON/KIRSTEN III 65; man erblickt einen „schmalen Eingang zum Korinthischen Golf “ (dies. III 70). PONTEN 3 u. 2.

5 km

Golf von Patras

Varassova 913 m

1926 m

1806 m

Voidias

Naupaktos

Abb. 11: Die Meerenge von Rhion

Meerenge von Rhion

Patras

1039 m

Klokova Fluss Mornos

Golf von Korinth

Aegion

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handelt es sich bloß um eine Übertreibung, wenn Kirke dem heldenhaften Bogenschützen Odysseus zutraut, sein Pfeil könne die Meerenge überqueren.921 Kirke beabsichtigte nämlich mit dieser Schmeichelei, Odysseus möge ihren Rat beherzigen, sich der Meerenge ungerüstet zu nähern, damit die Bestie Skylla, „die in keiner Art zu bekämpfen ist“, nicht unnötig provoziert wird.922 Sicherlich breiter als eine heldenhafte Pfeilschussweite hat sich auch der Dichter die Meerenge vorgestellt, denn die Enge muss eine hinreichende Breite aufweisen, um für die Aktivitäten der einander gegenüber lauernden Ungeheuer Skylla und Charybdis ausreichende Aktionsräume zu lassen, die sich nicht überschneiden.923 Das indiziert auch die Überlegung des Odysseus, ob er die Durchfahrt näher an der einen oder der anderen Küste der Meerenge wagen sollte.924 Es bleibt also festzuhalten, dass es sich bei der homerischen Enge von Skylla und Charybdis um eine nicht allzubreite, von West nach Ost gerichtete Meerenge handelt, die von hohen Gebirgen eingefasst ist und somit die beeindruckende Kulisse für das schauerliche Abenteuer des Odysseus bietet. Alle genannten Kriterien erfüllt im Mittelmeerraum einzig die Meerenge von Rhion. Zudem weist sie, wie noch dargelegt wird, bis heute das fürchterliche Bedrohungspotential der Skylla und Charybdis auf, wobei es sich, wie die Odyssee hervorhebt, um „unsterbliches Unheil“ handelt.925 Die beiden Gebirgsmassive, die die Meerenge von Skylla und Charybdis bilden, sind laut Odyssee von unterschiedlicher Gestalt und Höhe: Eines „gipfelt spitz in den breiten Himmel“, und Menschen können es angeblich „niemals betreten, geschweige denn besteigen“, denn „so glatt ist der Felsen. Sieht er doch aus, als wäre er rundum geschabt und geglättet … Dort haust Skylla, ein schauerlich bellendes Wesen“.926 „Aber das zweite Felsmassiv ist flacher und nahe dem andern“; dort lauert die unheilbringende Charybdis.927 Bevor in der vorliegenden Studie versucht wird, die Ungeheuer zu deuten, gilt es, die beiden Berge im geographischen Raum zu identifizieren. Zwar tritt auch im Norden der Meerenge von Rhion das „mittelgriechische Ufer steil an den Busen heran“,928 aber dennoch wird die Meerenge „beherrscht von dem mächtigen, langgezogenen, bis Ende April meist schneebedeckten Voidias“,929 der auf peloponnesischer Seite sich steil aus den Fluten erhebt.930 Dieser 1.927 m hohe Gebirgsklotz, dessen Fuß die Meerenge maß921 Od. 12,101. „καί κεν διοϊστεύσειας du könntest (einen Pfeil) hinüberschießen von einem Felsen zum anderen, also einen Pfeilschuß entfernt davon“ (BENSELER 214). Rudolf Heinrich KLAUSEN (50) irrig: die Höhle der Skylla „ist so hoch, daß kein Pfeilschuß aus dem Schiff sie erreichen könnte“. 922 Od. 12,116 ff. Aber Odysseus „vergaß Kirkes Warnung“ (Od. 12,226). – „Nirgends tritt die Nutzlosigkeit iliadischen Heldentums stärker hervor, als wenn Odysseus sich rüstet und vergeblich darauf wartet, daß Skylla sich ihm zeigt“ (GRETHLEIN 105). 923 Vgl. Od. 12,245 ff., 441 ff. 924 Od. 12,57 f., 108 f., 217 ff.; vgl.a. 445 f. 925 Od. 12,118. 926 Od. 12,73–85. 927 Od. 12,101 ff. 928 PONTEN 3. Nahe Antirhion entsteigt der 1.039 m hohe Klokova mit einer Steilwand dem Meer, und wenige Kilometer nördlich von Antirhion erreichen die Berggipfel 1.700 m Höhe. 929 PHILIPPSON/KIRSTEN III 191. Es ist der Panachaikon des Altertums (dies. III 156). 930 Der Voidias bildet einen „steilen Gebirgshang“ mit „Steilküste“, die lediglich einen schmalen Kiesstrand aufweist“ (PHILIPPSON/KIRSTEN III 189).

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geblich einengt, „zieht zuerst den Blick auf sich“. Zwei scharf eingeschnittene Flusstäler schließen „den wuchtigen Voidias kräftig, stilistisch rein ab“, und „wüstenhaft, voll von Steinäckern und Schneefeldern, fast ohne Wälder, ragt das Gebirge trotzig auf “.931 Von diesem wuchtigen Bergmassiv, dessen kahle Gipfelpartie klimatisch zur „alpin-subarktischen Zone“ gehört,932 hat sich wohl der Dichter der Odyssee inspirieren lassen, als er das in „den breiten Himmel gipfelnde“ Felsmassiv der Skylla besang. Die Odyssee dichtet dem himmelwärts ragenden Gipfel zudem „eine dunkle Wolke“ an, die „niemals weicht, und niemals treffen im Sommer, niemals im Spätherbst sonnige Strahlen den Gipfel“.933 Dieser unglaubliche Hinweis wird meist als mythische Ausschmückung des Skylla-Gebirges interpretiert und sei „nicht wörtlich zu fassen“, sondern „nur hyperbolisch“,934 da es „bei keinem normalen Berg einen spitzen Gipfel gibt, der ständig von einer solch merkwürdigen Wolke umgeben ist“.935 Mancher Interpret denkt bei der Wolke gar an die Rauchfahne eines Vulkans, die der Dichter über die Meerenge setzte.936 Aber die Meerenge von Rhion besitzt als meteorologisches Wahrzeichen tatsächlich eine nahezu ortsfeste Wolke, wie u. a. der Kunsthistoriker und Reiseschriftsteller Josef Ponten berichtet: „Zwischen den Bergen steht unbeweglich eine kleine feste Haufenwolke“.937 Ebenso stellt der Historische Geograph Ernst Kirsten über die Berge dieser Meerenge verblüfft fest: „Ja hier ziehen [sogar] am strahlendblauen griechischen Himmel alltäglich zur Mittagszeit Wolken auf, ballen sich zusammen am Kamm des Gebirges“.938 Dennoch sei darauf hingewiesen, dass gerade die Ausnahme die Regel bestätigt.939 Mit der eigentümlichen Wolke am hohen Bergmassiv der Skylla, das Odysseus im dichterischen Zeitplan nachmittags erreichte,940 nennt Homer also ein weiteres Charakteristikum der Meerenge von Rhion. Dagegen ist „der traditionelle Skylla-Felsen an der Meerenge von Messina weder spitz noch reicht er bis zum Himmel, noch ist seine Spitze ständig von einer dunklen Wolke umgeben“.941

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PONTEN 4. Das Gebirge war fast unbewohnt: Ende des 19. Jhs. nur 25 Einwohner pro qkm. PHILIPPSON/KIRSTEN III 65.

Od. 12,73 ff.

VÖLCKER 17 f. WOLF, Reise 123.

Die „beim Skylla-Felsen unzutreffende Stelle [Od. 12,405: „dunkle Wolke“] würde also gut zu der unmittelbar voraufgehenden Partie über die Plankten passen, wo gewiß ein feuerspeiender Berg gemeint ist (12,59–68)“ (WOLF, Reise 123). PONTEN 3. – [Servatius] Josef PONTEN (1883–1940), ein langjähriger Freund von Thomas MANN, wird auch als Geograph bezeichnet (s. u. a. Josef Ponten in WIKIPEDIA). KIRSTEN, Akarnanien 105. So hat der Verfasser die Meerenge von Rhion in den vergangenen vierzig Jahren weit über hundert Mal zu verschiedenen Jahres- und Tageszeiten gesehen, und nur wenige Male bemerkt, dass kein Wölkchen vorhanden war. Das Schiff des Odysseus verließ nach der Morgenröte die Insel Aiaia (Od. 12,142 ff.), segelte bis zur Insel der Sirenen, wurde von dort zur Meerenge gerudert und landete kurz hinter der Enge an der Küste von Thrinakia, wo gleich nach der Ankunft das Abendessen bereitet wurde (Od. 12,281 ff., 305 ff.). WOLF, Reise 123. – „Die Straße von Messina kommt also für das Abenteuer von Skylla und Charybdis nicht in Betracht“ (KLOTZ 298).

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Allerdings scheint die Odyssee über das Ungeheuer Skylla wahrlich märchenhaftes zu berichten: Es sei „ein böse geartetes Ungeheuer“ mit verkümmerten Füßen und „einem halben Dutzend Hälsen von mächtiger Länge; auf jedem ein Schädel, schrecklich und furchtbar. Dreifach geordnete Reihen von Zähnen sitzen fest und eng, voll schwarzen getöteten Aases“. Der Körper der Skylla ist jedoch nicht zu sehen, denn das Ungeheuer „liegt bis zur Mitte im tiefsten Loch ihrer Höhle, aber die Hälse mit den Schädeln streckt sie heraus“ und tastet mit ihnen die Meeresoberfläche ab,942 um Fische aus dem Wasser zu holen und sogar Seeleute aus den Schiffen: „Wie wenn ein Fischer hoch auf der Klippe mit langer Rute angelt“.943 Da der Dichter die Höhle der Skylla in den himmelwärts ragenden Berggipfel setzt, der stets von einer dunklen Wolke eingehüllt ist, konnte Odysseus, trotz eifrigen Spähens, die Höhle und das dort lauernde Ungeheuer jedoch gar nicht erblicken.944 Das einzige, was er und seine Gefährten von der göttlichen Skylla zu sehen bekamen, waren die langen Hälse mit den todbringenden Köpfen, die sich aus der Wolke herab zum Meer senkten.945 Zudem wird berichtet, dass die wilde Skylla „in keiner Art zu bekämpfen ist. Abwehr gibt es da nicht, zu fliehen ist die einzige Rettung“.946 Und „Skylla ist nicht sterblich, sie ist ein unsterbliches Unheil“,947 und „keinen erfreute der Anblick, ja käme ein Gott selbst gegangen“.948 – Nimmt man den Dichter beim Wort, dann müsste die gefährliche Skylla noch heute existieren. Deshalb ist nun unvoreingenommen zu prüfen, ob die gefährliche Skylla, wie sie Odysseus in seinem Irrfahrtbericht schildert,949 lediglich ein Fabelwesen darstellt, oder ob sie als ein reales Phänomen zu interpretieren ist. Sicherlich ist Skylla nicht zoologisch zu deuten. Skylla kann allenfalls eine „unbezwingbare“ Naturerscheinung sein,950 die übrigens nur temporär auftritt: Als nämlich Odysseus einen Monat später die Meerenge passiert, war Skylla nicht präsent.951 Die nur zeitweilig sichtbaren langen Hälse der ansonsten unsichtbaren Skylla,952 die vom bewölkten Himmel unversehens herunterkommen, sind folglich als Tromben zu deuten. Tromben (ital. „Rüssel“) sind heftige lokale Wirbelwinde, wobei jeder der länglichen Luftwirbel „als rüsselartiger Wolkenschlauch“ 942 Od. 12,87–94. 943 Od. 12,25 f.; vgl. 94 ff. 944 Od. 12,232 f. Die Höhle, in der Skylla lebte, war aufgrund der stationären Wolke weder zu sehen, noch für Menschen erreichbar, denn den Gebirgsgipfel „können sterbliche Männer niemals betreten, und nicht besteigen, hätten sie zwanzig Hände und Füße; so [hoch und] glatt ist der Felsen“ (Od. 12,77 f.). 945 Also, „der Leib steckt in der finsteren Höhle, [nur] die Köpfe ragen hervor mit dem schrecklichen Schlunde“ (PRELLER Ib 483). 946 Od. 12,119 f. 947 Od. 12,118. 948 Od. 12,88. 949 Alles, was über Skylla und Charybdis geschildert wird (auch die angeblichen Aussagen der Kirke über die Ungeheuer: Od. 12,35 f., 73–100), erzählt der listige Odysseus den Phaiaken (9,36 ff.). 950 Od. 12,223. – „Skylla und Charybdis sind wirkliche Gegenstände in der Natur, nur ins Wunderbare gearbeitet“, schrieb schon vor einem Vierteljahrtausend Martin Gottfried Hermann (374, Anm. 1). 951 Od. 12,445; vgl. 124 ff. – Das „unregelmäßige Auftreten Skyllas“ bemerkte auch Armin WOLF (Reise 74). 952 „Daß Odysseus … die Skylla nicht bemerkt“ liegt daran, „daß die Spitze des Felsens zu jeder Jahreszeit von dunklem Gewölk umgeben ist und die Luft niemals klar ist. Die Schilderung der stets in Wolken gehüllten Felsenspitze will begründen, daß die Skylla unsichtbar war“ (MAAß 29).

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erscheint, der über Land als „Windhose“ und über dem Meer als „Wasserhose“ bezeichnet wird. „In Bodennähe bilden sich“ meist „Kleintromben, die bei Durchmessern von einigen Metern bis zu 100 m hoch werden“.953 Dort, wo die rüsselartige Trombe auf Land oder Meer trifft, erscheint sie wie der Messerkopf einer Fräse,954 der das Meerwasser in spritzige Unruhe versetzt. In der faszinierenden Beschreibung des Odysseus sind es die zähnestrotzenden Schädel der Skylla, die am Ende der langen Hälse sitzen und für Mensch und Tier lebensgefährlich sind. Ja, selbst die homerische Angabe, die Köpfe der Skylla könnten sogar Delphine und Seeleute ergreifen, sie in die Höhe schleudern und fortschleppen,955 findet ihre Entsprechung in der Wirklichkeit. Denn „der Sog im Innern der Trombe kann selbst schwere Gegenstände vom Boden anheben und kilometerweit forttragen“.956 Schon antike Autoren berichten, wie Tromben „auf dem Lande Erde, Steine, Holz usw., selbst Tiere, auf der See aber das Wasser und die Schiffe mit sich emporheben“, und dass dieses Phänomen „auf der See häufiger als zu Lande“ zu beobachten sei.957 Daher wurde im Altertum insbesondere die über dem Meer agierende Trombe, nämlich die Wasserhose beschrieben,958 also „jene Erscheinung, wo eine sich herabsenkende Wolke das Wasser wie in einer langen Röhre in die Höhe zieht“.959 Noch treffender und detailreicher als diese Worte des Altphilologen Albert Forbiger in der Mitte des 19. Jhs. erscheint allerdings die Beschreibung der Odyssee, wonach aus der Wolke sich mehrere schlauchförmige Hälse mit fräsenartigen Köpfen auf Meereshöhe heruntersenken, Seegetier bzw. einige Gefährten des Odysseus aus dem offenen Schiff ergreifen und diese dann in die Höhe ziehen und forttragen.960 Auch sei auf die homerische Angabe hingewiesen, dass „Skylla ein schauerlich bellendes Wesen ist“,961 was keineswegs der dichterischen Phantasie entspringt. Denn Wasserhosen begleitet ein „eigenthümliches Brausen“, das die Bewohner der einst zu Venedig gehörenden westgriechischen Inseln als „entsetzliches Gebrüll“ („spaventoso mugghito“) bezeichneten.962 Aufgrund gewisser meteorologischer Bedingungen treten Wasserhosen im westgriechischen Insel- und Küstenraum gehäuft auf,963 und bemer953 BROCKHAUS, Trombe 174. Eine Großtrombe nennt man Tornado. 954 Siehe z. B. BROCKHAUS, Trombe 179 (mit dem Farbfoto „Trombe“). 955 Od. 12,96 ff., 246 ff. „Was ich auch sah und was ich erlitt auf den Bahnen der Salzflut: dies war ein Schauspiel – keines glich ihm an Jammer und Elend“ (Od. 12,258 ff.). 956 BROCKHAUS, Trombe 174. 957 FORBIGER I 607 (mit Bezug auf Theophr. de ventis p. 413. Gell. 19,1; Stob. 1. p. 596, 604). „Uebrigens berichten die Alten vom Wirbelwinde, dass er Alles, was ihm in den Weg komme, mit sich fortreisse, und sogar beladene Schiffe aus dem Meere in die Höhe hebe (Aristot. 1.1. Stob. 1. p. 606. Plin. nat. 2,48,49. Lukian. 1,9. Tac. ann. 16,13)“ (a. a. O.). 958 „Die Wasserhose (ὁ σίφων: Olympiod. in Meteor. Aristot. p. 417; Schol. Arati Dios. v. 785. T. I. p. 174 ed. Buhl. columna: Plin. 2,49,50., auch sipho: Iul. Obs. c. 122. Lucan. 8,516 u. prester: Lucr. 6,423)“ (FORBIGER I 607). 959 FORBIGER I 607. Zu dieser ‚Wolkenröhre‘ gibt „Lucr. 6,422 ff. die ausführlichste Schilderung“ (a. a. O.). 960 Od. 12,95 ff., 245 ff. 961 Od. 12,85. „Es klingt ihre Stimme, als käme sie her von saugenden Hündchen“ (Od. 12,86). 962 WIEBEL 57, 2. Der Begriff stammt aus der Zeit der Herrschaft Venedigs über die Inseln. 963 „Wasserhosen sind in den dortigen Gewässern nicht selten“ (SALVATOR, Zante 16). Besonders während des Äquinoktiums wird der kephallenische Inselraum „oft von heftigen Wirbelstürmen heimgesucht“

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kenswert ist dort zudem „die große Zahl der Wasserhosen, welche sich oft auf kleinem Raume zusammenfinden“964 – wie das halbe Dutzend langer Skylla-Hälse, die Odysseus und seine Gefährten nahe der Meerenge von Rhion überraschten. Da insbesondere die homerische Skylla sich einer pragmatischen Deutung zu entziehen schien965 und somit als ein schlagendes Beispiel für die Behauptung diente, die Irrfahrt des Odysseus sei nicht im geographischen Raum nachvollziehbar,966 sondern zeuge von einer Reise im Märchenland, sei für die hier gebotene naturwissenschaftliche Interpretation der Skylla der anschauliche Bericht des im 19. Jh. berühmten Physikers Albert Mousson967 über seine Rückreise von Westgriechenland zitiert, die „durch das Schauspiel einer Trombe oder Wasserhose“ bereichert wurde und der Skylla-Erzählung des Odysseus ähnelt: Zunächst erblickte Mousson „eine dunkle Wolkenbank, aus welcher, wie die Klarheit des Himmels unter derselben bewies, kein Regen herabfiel. An dieser schwarzen Bank bildeten sich unterhalb unregelmässige Auswüchse, deren einer sich erst zu einem schräg in der Richtung der Regensäulen herabhängenden Zapfen verlängerte, dann in wenigen Augenblicken eine schlankgebogene feine Spitze zum Meere herabsandte, mit der ein schäumender Conus gehobenen Wassers sich vereinigte. Alles stand staunend auf dem Deck“ des Schiffes.968 Ähnlich wie im zitierten Reisebericht, den immerhin der erste Professor für experimentelle Physik an der ETH Zürich verfasste, berichtet auch Odysseus, dass die langen Hälse der Skylla sich überraschend schnell aus einer dunklen Wolke auf den Meeresspiegel herabsenkten. Wie ungezwungen sich die homerische Skylla als Personifikation von Tromben deuten lässt, lehrt auch die Beschreibung des Phänomens in der hydrologischen Studie von Professor Karl Wilhelm Wiebel über den kephallenischen Inselraum: „Der Horizont war ringsherum wie im Zwielichte, und schweres Gewölk, an seinem Umfange mit scharfem Rande wie abgeschnitten, senkte sich immer tiefer und schien wie aufgehangen über uns zu schweben. Es war gegen Mittag und doch ungemein finster, als auf einmal sich aus der Wolke eine Spitze nach der anderen, wie ein herabhängender Dolch, zu bilden anfing und alle von verschiedener Grösse, Dicke, Länge, mehr oder weniger tiefer herabreichend, wohl 20 an der Zahl, auf dem Meere selbst eine sonderbare Erscheinung verursachten. Wo die scharfen Wolkenspitzen tiefer herabreichten, da … schäumte und

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(ANSTED 367; vgl. WIEBEL 26). Schon Giovanni di BOCCACCIO (119 f.) lässt seinen Helden auf der Seefahrt nach Italien ausgerechnet „bei der Insel Kephallenia“ in gefährliche „Wirbelwinde“ geraten. WIEBEL 57. – Der im Vorwort genannte Physiker Dr. Klaus KRAMP (Bonn) erblickte am 12. September 2002 zwischen den Inseln Othoni und Erikoussa vom Segelboot aus sechs Windhosen, davon vier gleichzeitig, und hielt sie fotographisch fest. Der Verfasser sah am 7. Oktober 2015 (um ca. 16.45 Uhr) über dem Meer südlich Kephallenia eine mächtige Trombe, die nördlich von Zakynthos über dem Meeresspiegel ostwärts zog. Schon „Plato, Eratosthenes, Cicero, Ovid u. a. erklärten Skylla für ein Phantasiegebilde“ (GEISAU, Skylla 239,2 ff.). Sogar Armin WOLF (Reise 74), der die Irrfahrt geographisch deutet und die Meerenge von Messina favorisiert, äußert sich bezüglich der Deutung der Skylla skeptisch: „Falls man auch in ‚Skylla‘ eine reale Gefahr … sehen möchte, so ist wohl am ehesten an die See- und Erdbeben … zu denken“. Siehe o. Anm. 493 (in Teil I, S. 83). MOUSSON 54. – Die „Regensäule“ ist der durch Kondensation sichtbare Luftrüssel der Trombe.

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kochte das Wasser auf der Oberfläche“.969 Und dementsprechend erzählt Odysseus über das Meerwasser in der Enge von Skylla und Charybdis: „Alles brodelte und wallte, als wäre es Wasser im tüchtig gefeuerten Kessel“.970 Die beiden angeführten Augenzeugenberichte, die renommierte Naturwissenschaftler im 19. Jh. über Wasserhosen im westgriechischen Insel- und Küstenraum verfassten, variieren zwar etwas und weisen beträchtliche Fehlinterpretationen auf, weil das Phänomen der Tromben damals physikalisch noch nicht geklärt war.971 Und so erinnern die zitierten Berichte, die mit Metaphern den Sachverhalt zu beschreiben versuchen, in Art und Wortwahl durchaus an die Skylla-Erzählung der Odyssee, so z. B., wenn Professor Wiebel die Spitzen der Wolkenrüssel, die Odysseus als tödliche „Zähne“ deutet, als „herabhängende Dolche“ beschreibt, oder wenn Professor Mousson sagt, dass die Wolke „in wenigen Augenblicken eine schlank-gebogene feine Spitze zum Meere hinabsandte“, die sich wie die gefährlichen Hälsen der homerischen Skylla schnell aus der Wolke herab zum Meer senken. Wenn man zudem bedenkt, dass Professor Wiebel seinem Erlebnisbericht aus dem Jahr 1816 noch die Worte hinzufügt, dass „unser Schiff also mitten unter so vielen Wasserhosen stand, deren Name schon den Seefahrern ein Gräuel ist“,972 weil die relativ schnell aus den dunklen Wolken hervorstoßenden Wasserhosen tatsächlich ausgesprochen gefährlich sind, ist es verständlich, dass schon die Gefährten des Odysseus beim Anblick der Skylla-Hälse „bleiches Entsetzten packte“.973 Sogar die Stummelbeine der Skylla974 dürften einen Realitätsbezug haben, der auch in Wiebels Bericht aufscheint: Es sind diejenigen „Wasserhosen, die sich noch nicht vollständig gebildet hatten“,975 als atmosphärische Veränderungen dem kurzen Naturschauspiel ein Ende bereiteten. Odysseus erzählt, dass er während der kurzen Fahrt vom Eiland der Sirenen bis zur Meerenge, nahe welcher aus der dunklen Wolke die Hälse der Skylla auftauchten, eine Windstille eintrat und deshalb die Segel eingeholt wurden.976 Dementsprechend schreibt Karl Wilhelm Wiebel, „dass die Segel des Schiffes erschlafften“, und das verbleibende Lüftchen „verlor sich bis zur Windstille“, bevor unter der Wolkendecke sich die Windhosen zu bilden begannen; und „die Windstille blieb, die Wasserhosen rückten heran und schlossen im enger den Kreis“ um das Schiff.977 Der einzig märchenhafte Zug der homerischen Skylla, der keinen Bezug zur Realität besitzt, ist die dichterische Behauptung, das vielhalsige Ungeheuer hause in einer für 969 WIEBEL 57, Anm. 2. „Die Windstille blieb, die Wasserhosen rückten heran und schlossen immer enger und enger den Kreis“ (a. a. O.). 970 Od. 12,237 f.; vgl. 201 f., 219. 971 MOUSSON (54) im Jahr 1859: „Die Trombe gehört noch immer zu den räthselhaftesten, weil unzugänglichsten Erscheinungen im Grossen der Natur“. 972 WIEBEL 57, Anm. 2. – Er beobachtete die Tromben am 26. Dezember 1816 bei Antivari. 973 Od. 12,243. 974 Od. 12,89. 975 WIEBEL 57, Anm. 2. 976 Od. 12,166 ff. Odysseus berichtet also, dass kurz vor dem Erscheinen der langen Hälse der Skylla „wegen eintretender Windstille gerudert werden mußte“ (VÖLCKER 118; mit Bezug auf Od. 12,167 ff., 200 ff.). 977 WIEBEL 57, Anm. 2.

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Menschen nicht sichtbaren und unerreichbaren Gebirgshöhle über den Wolken.978 Aber dieser mythische Zug spricht keineswegs gegen die Deutung der Skylla als Personifikation der gefürchteten Tromben (bes. der Wasserhosen), denn nach antiker Vorstellung operierten alle Winde und Winddämonen von Höhlen aus, die in hohen Bergen verborgen und für Menschen nicht zugänglich sind.979 Anzumerken zum Skylla-Mythos bleibt noch, „daß das Homerische Epos eine ganz andere Vorstellung von dem Untier hat als fast alle bildlichen Darstellungen“ der Antike.980 Vor allem hat das homerische Ungeheuer mit den Seeschlangen-Darstellungen der Scylla aus römischer Zeit nichts gemein.981 Nachdem die homerische Skylla phänomenologisch geklärt werden konnte,982 ist nun zu fragen, ob das andere Ungeheuer im Bereich der Meerenge, nämlich die grauenvolle Charybdis, sich ebenfalls geophysikalisch deuten lässt. Ermutigend für diesen Versuch ist zudem die visionäre Annahme des Altphilologen und Märchenforschers Ludwig Radermacher, dass „Skylla und Charybdis wahrscheinlich nicht aus dem Märchen, sondern aus ätiologischer Ortssage stammen“.983 Während die homerische Skylla vom dunkel bewölkten Himmel aus frei operiert, ist die homerische Charybdis ein ortsgebundenes Wesen im Salzwasser der Meerenge, die das Wasser „dreimal täglich ausspeit, um es dreimal wieder zu schlucken. Dies ist ihr Schrecken!“984 Und „wenn sie das salzige Wasser des Meeres schlürft, dann scheint es, als wallte sie wirbelnd hinein in sich selber“.985 Die „göttliche“ Charybdis,986 an deren Felsküste Odysseus ein lautes Getöse hörte,987 ist also ein körperloses Phänomen, das den Wasserstand verändert und durch den damit verbundenen Sog die Seefahrer gefährdet. Aufgrund dessen wurde die homerische Charybdis seit der Antike als Personifikation der Gezeiten gedeutet,988 wie z. B. den Worten des Geographen Strabon zu entnehmen ist: „Aus Ebbe und Flut ist bei Homer die Charybdis hervorgegangen“.989 978 Die stets von einer Wolke umhüllte Gipfelregion mit der Höhle (Od. 12,74 ff., 83 f.) ist nie zu sehen, und den Gipfel kann man nicht erklimmen, da er zu hoch und zu glatt ist (12,77 f.). 979 FORBIGER I 604 f. 980 ANDREAE 303 (mit vielen Abbildungen: 303–320). 981 Man denke auch an VERGILs Beschreibung der Skylla (Aeneis 3,427 f.): „Vorn von Menschengestalt, und schön von Busen die Jungfrau bis an den Schoß; doch hinten ein grauenvoll ringelndes Meertier, welches Delphinschwänze an den Bauch der Wölfe gefügt“. Und es gab Sirenen-Darstellungen „mit Fischschwänzen erst im ausgehenden Altertum und im Mittelalter“ (GRUPPE 709, Anm. 6). 982 Trotz der vorgelegten konkreten Skylla-Deutung vermag ich u. a. Dietrich MÜLDER (Skylla 1438) teils zuzustimmen: „Dies Meerungeheuer als Individuum, seine Vielköpfigkeit, seine Dimensionen, sein Domizil, seine Qualität als ἀθάνατος κᾱκόν, seine Genealogie ist eine Schöpfung des Dichters der Odyssee“. Indes, die Dimension und Unsterblichkeit des Ungeheuers beruht nicht auf dichterischer Fiktion, auch nicht dessen Vielköpfigkeit bzw. Vielhalsigkeit. 983 RADERMACHER, Odyssee 23. 984 Od. 12,104 ff. – POLYBIOS „bei Strabon I. p. 25, vgl. p. 43. 44“ war „der Ansicht, dass τρίς in [Od. 12,] 105 ein γραφικὸν ἤ ὶστορικον ἁμάρτημα für δίς sei“ (KIRCHHOFF 235). 985 Od. 12,240 f. Charybdis ist schrecklich (Od. 12,430; 23,327) und grausig (Od. 12,113, 428). 986 Od. 12,104, 235. 987 Od. 12,201 f. – POSEIDONIOS (1. Jh. v. Chr.) berichtet, das Geräusch der einsetzenden Flut sei „dem von fern her vernommenen Getöse eines Heeres ähnlich“ (zitiert nach KÖSTER 194). 988 Vgl. UKERT, Geographie II 74 f. 989 Strab. 1,43. Vgl. Poseid. 1 p. 5.

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Die Gezeiten-Interpretation stößt jedoch auf zwei Vorbehalte: Zum einen wird moniert, Ebbe und Flut seien „überall im Mittelmeer … sehr schwach und an den steilen Ufern um so schwerer zu bemerken, als ihre an sich geringe Wirkung durch den Einfluss der Winde oft ganz verwischt wird“.990 Folglich könnte nur enorme dichterische Phantasie die Gezeiten zur gefährlichen Charybdis aufgebläht haben. Zum anderen wirft die Deutung der Charybdis als Personifikation der Gezeiten ein grundsätzliches Problem auf, denn „Ebbe und Flut kommen und gehen bekanntlich zweimal am Tage; warum sagt Homer dreimal?“991 Eine bemerkenswerte Antwort bietet Armin Wolf, wonach „hier eine altertümliche Zählweise vorliegt, die nicht die Dauer einer periodischen Erscheinung zählt, sondern deren Anfänge“.992 Aber auch diese Deutung wird der homerischen Charybdis nicht gerecht, denn für den Dichter lag das Abschreckende der Charybdis ja gerade darin, dass der von ihr bewirkte Strömungswechsel häufiger und unberechenbarer ist als der bekannte Wechsel der Gezeiten.993 So warnt die Kirke den Odysseus eindringlich: Charybdis schluckt und speit das Meerwasser „dreimal täglich … Dies ist ihr Schrecken!“994 Ein ausgesprochen auffallendes Gezeitenphänomen, das einen beträchtlichen Tidenhub sowie einen ungewöhnlichen Strömungswechsel aufweist und somit der Beschreibung der Charybdis entspricht, muss aber keineswegs fiktiv sein,995 selbst nicht im griechischen Erdraum, wie das Beispiel des Euripos lehrt. Der Euripos ist die schmale Meerenge zwischen dem mittelgriechischen Festland und der Insel Euboia, nahe der Inselhauptstadt Chalkis.996 „Gewöhnlich durchzieht eine rasche Strömung die Enge bei Chalkis, die viermal binnen 24 Stunden umschlägt (‘kentert’), also zweimal in der einen, zweimal in der anderen Richtung verläuft. Dagegen während 5–6 Tagen des Mondmonates um die Zeit der Quadraturen (Halbmond, Nipptiden) wird die Strömung schwach, ihr Wechsel häufiger und unregelmäßiger“.997

990 NEUMANN/PARTSCH 149. – „Eine Ausnahme stellt Patras an der Einfahrt in den korinthischen Meerbusen dar, wo … eine Fluthöhe von 2,5 Fuß“ auftritt (WIEBEL 100). 991 WOLF, Reise 62. 992 WOLF, Reise 62; „ebenso zählte Caesar zwei Fluten in 12 Stunden“ (a. a. O.). – Anders beurteilt den Sachverhalt Heinrich DÜNTZER (453): „Wenn Charybdis dreimal an Tage einschlürft und dreimal das Wasser von sich gibt, so können wir dies doch nur periodisch verstehen, so dass alle acht Stunden beides erfolgt, jedes davon die Hälfte der Zeit in Anspruch nimmt“. 993 „Aus der späteren Erzählung [Od. 12,] Vss. 234 ff. … geht auf das unzweideutigste hervor, dass dem Dichter die Vorstellung von einer periodischen in grösseren Zeitabständen erfolgenden Wiederholung der Erscheinung, welche Vs. 105 zum Ausdruck kommt, gänzlich fremd war“ (KIRCHHOFF 235). 994 Od. 12,105 f. 995 „Wenn Homer aus dem tatsächlichen zweimal täglich auftretenden Strömungswechsel ein dreimaliges Einsaugen und Ausspeien machte, so sei das nur τραγῳδία und φόβος, womit Kirke ihre Vorhersage und Warnung noch wirksamer machen wolle, und übrigens ist die Zahl drei poetisch“ (ZIEGLER, Sikelia 2475,31 ff.). 996 PHILIPPSON/KIRSTEN I 554 f. „Der Euripos ist eine Reihe von drei Engen“; die engste war vor der Sprengung von Felsen nur 33 m breit (a. a. O.). 997 PHILIPPSON/KIRSTEN II 557. Im Euripos „erreicht die Strömung bei Springtide 6–7 Seemeilen Stundengeschwindigkeit, bei Sturm sogar 8,5 Seemeilen“ (a. a. O.).

2.3 Der längste Tag

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So registrierte man schon im Altertum, dass der Euripos sogar zuweilen „seinen Lauf siebenmal in der Nacht ändert“,998 ein Phänomen, das die antiken Gelehrten nicht erklären konnten und deshalb manchen nachdenklichen Zeitgenossen zur Verzweiflung trieb: „Die Unerklärlichkeit dieser Erscheinung soll bekanntlich nach einigen Kirchenvätern und nach Eustathios den Tod des Aristoteles herbeigeführt haben, von dem sie erzählen, dass er entweder aus Gram darüber gestorben sei, oder sich gar mit den Worten: ‚Fasse mich, weil ich dich nicht fasse!‘ in den Euripos gestürzt habe“.999 Erst moderne Forscher konnten „das Rätsel des Euripos“ naturwissenschaftlich erklären. Es handelt sich dabei „unzweideutig“ um eine komplexe „Gezeitenströmung“.1000 Der Euripos bietet also das „allgemeine Phaenomen der Ebbe und Fluth, aber ebenso die Besonderheit des bisweilen unregelmäßigen Strömungswechsels“.1001 Dementsprechend weist die Odyssee für die Meerenge, in der Charybdis das Wasser einsaugt und wieder ausstößt, einen unregelmäßigen Strömungswechsel auf. Denn als Odysseus das erste Mal die Meerenge durchfuhr, wechselten die Gezeiten dort „dreimal täglich“, während gut einen Monat später,1002 als Odysseus dieselbe Meerenge zum zweiten Mal passierte, der morgens einsetzenden Ebbe die nächste Flut erst gegen Abend folgte.1003 Tatsächlich sind bei der Meerenge von Rhion, in der die homerische Charybdis ihr Unwesen treibt, „die umschlagenden Gezeitenströme auch hier, zwischen den Golfen von Korinth und Patras“ vorhanden, weil hier, „ähnlich wie beim Euripos … die Meerenge doppelt ist, mit Zwischenschaltung eines Beckens (desjenigen von Naupaktos)“.1004 Hinzu kommt in der Meerenge von Rhion „eine andere, von Ebbe und Flut ganz unabhängige, regelmäßig wechselnde Bewegung des Meeres“, die die Anzahl bzw. Dauer der Strömungswechsel verändert und deren Kenntnis „beim Ein- und Auslaufen für den Schiffer von grosser Wichtigkeit“ war.1005 Der für das Charybdis-Phänomen kennzeichnende Frequenzwechsel der Gezeiten und Strömungen ist in der Meerenge von Rhion ein geophysikalisches Faktum, das insbesondere zu Zeiten der Segelschifffahrt die Aufmerksamkeit der Seeleute erforderte. Um das Gefahrenpotential der homerischen Charybdis angemessen beurteilen zu können, ist zu fragen, wie gefährlich die Gezeitenströme in der Meerenge von Rhion für die Schiffe der homerischen Zeit waren. Die nur 1,8 km breite Meerenge, die lediglich „eine Schwellentiefe von 68 m“ aufweist,1006 verbindet das bis zu 4.000 m tiefe Ionische Meer mit dem über 900 m tiefen sowie 120 km langen und bis 35 km breiten Golf

998 999 1000 1001 1002 1003

FORBIGER I 558; mit antiken Belegen. FORBIGER I 588, Anm. 75. PHILIPPSON/KIRSTEN I 558. NEUMANN/PARTSCH 149.

Od. 12,325, 397 ff., 426 ff. Od. 12,429–441. Die Verse widersprechen nicht dem dreimaligen Strömungswechsel, den Kirke nannte (Od. 12,105), denn Kirkes Warnung erfolgte über einen Monat zuvor (vgl. Od. 12,142 mit 12,234 ff.). 1004 PHILIPPSON/KIRSTEN III 67. In der Meerenge von Rhion „ist bei heftigen Winden der [Gezeiten-] Wechsel unregelmäßig“ (a. a. O.), d. h. „die Erscheinung ist ähnlich der am Euripos“ (dies. III 332). 1005 WIEBEL 100. 1006 PHILIPPSON/KIRSTEN III 67.

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von Korinth.1007 Aufgrund dieses geomorphologischen Profils sind in der Meerenge die Gezeitenströme für mittelmeerische Verhältnisse ungewöhnlich stark. „Ihre Geschwindigkeit wird … in der Enge von Rhion mit 1,5 bis 2 Knoten [ca. 2,5–3,5 km/h] angegeben“,1008 aber „durch die Enge setzen die Gezeitenströme oft mit einer Geschwindigkeit von 5 km die Stunde“,1009 und infolge außergewöhnlicher Umstände (anhaltend starke Winde, Spring- und Nippfluten) ist die Strömungsgeschwindigkeit manchmal sogar noch höher. Die relativ starken Gezeitenströme in der Meerenge von Rhion waren im Altertum bekannt und gefürchtet, und so verwundert es nicht, dass Strabon „das erste Mal einen ‚Korinthischen Golf ‘ im ersten Buch seiner Geographie in der Diskussion über die Frage nennt, warum Strömungen in Meerengen entstehen“.1010 Die für mittelmeerische Verhältnisse starken und unregelmäßigen Gezeitenphänomene führen zu erheblichen Turbulenzen innerhalb der Meerenge, die v. a. die antike Seefahrt mit ihren relativ kleinen Schiffen beeinträchtigten. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist „die schon in der Antike berühmte Seeschlacht bei Naupaktos“,1011 die im Jahr 429 v. Chr. in der Meerenge von Rhion ausgetragen wurde. Weil „die korinthische Mannschaft nicht imstande war, bei unruhigem Wasser und der kabbeligen See, wie sie bei Naupaktos steht, präzise zu rudern, verloren die Seeleute die Gewalt über ihre Fahrzeuge“ und unterlagen, trotz doppelter Anzahl der Schiffe, gegen das in der Meerenge von Rhion stationierte attische Flottenkontingent.1012 Denn „neben der steten Übung der Ruderer und der strikten Einhaltung der vorgegebenen Ordnung war eine genaue Kenntnis der lokalen Wetter-, Wind- und Schiffahrtsbedingungen im Golf und im Bereich der Meerenge … grundlegende Voraussetzung für ein wirksames Agieren“.1013 So stellte der Althistoriker Klaus Freitag in seiner Studie über den Doppelgolf von Patras und Korinth fest: „Gefahren für die antike Schiffahrt im Golf stellten die unregelmäßigen Strömungen dar, die eine Fahrt durch die Meerenge von Rhion erheblich behindern konnten“.1014 In Anbetracht der unregelmäßigen und gefährlichen Strömungen, und dass „im Golf von Korinth Gezeitenhübe von 90 cm auftreten“,1015 ist es nicht verwunderlich, dass auch die Mannen des Odysseus in dieser Meerenge beinahe die Kontrolle über ihr Schiff verloren hätten: Aufgrund des unruhigen Wassers „bekamen die Leute Furcht und die Ruder entfielen den Händen“.1016 Und deshalb befahl Odys1007 Der Golf von Korinth ist bis 930 m tief, das Ionische Meer erreicht 60 km südwestlich Zakynthos 4.240 m Tiefe. Siehe Seekarte Nr. 435 (Ionisches Meer). 1008 PHILIPPSON/KIRSTEN III 67. 1009 PHILIPPSON/KIRSTEN II 332. „Die Hubhöhe der Springfluten im Golf von Korinth ist 0,6 m“ (dies. II 67). 1010 FREITAG 18 (mit Bezug auf Strab. 1,3,11). 1011 FREITAG 74; mit Belegen in Anm. 366. 1012 KÖSTER 130 (mit Bezug auf Thuk. 3,78 u. Diod. 12,48). 1013 FREITAG 74 f. 1014 FREITAG 328. 1015 MAUL, Mittelmeer 2233, 34 f. 1016 Od. 12,203. Und so „rührte sich keine Hand mehr, die kantigen Ruder zu schwingen“ (Od. 12,205).

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seus seinen Gefährten energisch: „Setzt euch hin an die Pflöcke, ergreift eure Ruder und schlagt sie tief in das Gewoge der See! Vielleicht gestattet uns Zeus dann doch noch Flucht und Entrinnen aus dieser verderblichen Lage“.1017 Die in der Vorstellung des Dichters als körperloses Lebewesen erscheinende Charybdis lässt sich also ebenso ungezwungen geophysikalisch dechiffrieren wie die gefährliche Skylla. Als mythischer Zug der Charybdis bleibt lediglich der Hinweis, dass sie das Meerwasser einsaugen und ausspeien würde. Aber diese Darstellung ist, zumindest aus der Sicht eines antiken Naturforschers, keineswegs obsolet: Noch „die Stoiker dachten sich die Erde als einen thierischen Körper, und sie setzten Ebbe und Fluth mit dem Athmen desselben in Verbindung, so dass sie gleichsam mit dem Athmen auch das Wasser einziehe und wieder hervorstosse“. Und Platon erklärte sich „die Ebbe und Fluth dadurch, dass das Wasser des Meeres bald aus den Höhlen der Erde stärker hervorsprudle, bald sich wieder in dieselben zurückziehe“.1018 Ja, noch in der Mitte des 19. Jhs. wurden bei der Erklärung komplexer Gezeitenphänomene „submarine Versenkungen des Meerwassers von den Geologen mannigfach angenommen“.1019 Derartige unzutreffende Erklärungsmuster für die Gezeiten müssen wir auch dem Dichter der Odyssee zugestehen! Wenn die amorphe Charybdis das Wasser einsaugt, dann verschwindet es in der dichterischen Vorstellung siphonartig in untermeerischen Hohlräumen, und aus diesem Grund weist der Dichter beim Felsmassiv der Charybdis auf die chthonischen Kräfte der geheimnisvollen Erdtiefe hin.1020 Denn „Strudel entstehen nach Aristoteles, wenn sich von den grossen Höhlen der Erde unter dem Meere eine oder mehrere plötzlich aufthun“.1021 Legt man die gängige antike Erklärung der Gezeiten zugrunde, nämlich dass bei Ebbe das Meerwasser in untermeerischen Höhlen verschwindet, dann erscheint nicht einmal die Vorstellung abwegig, dass beim starken vertikalen Absaugen des Meerwassers sogar Seefahrer samt Fahrzeug mit in die Tiefe gerissen würden.1022 Aus diesem Grund wird Odysseus von Kirke gewarnt, er dürfe nicht in den Wirkungsbereich der Charybdis gelangen, „wenn sie einschlürft“.1023 Als Odysseus über einen Monat später abermals zur Meerenge gelangte, diesmal aber als auf Wrackteilen treibender Schiffbrüchiger, der seine Ankunftszeit nicht selbst terminieren konnte, saugte Charybdis gerade das Meerwasser ein, wodurch die Schiffstrümmer nicht horizontal wegtrieben, sondern von dem

1017 1018 1019 1020

Od. 12,214 ff. Schon ab Vers Od. 12,206 ff. ermutigt Odysseus seine Gefährten, weiter zu rudern. FORBIGER I 584; mit antiken Belegen. MOUSSON 81. Er verweist a. a. O. auf „die Mythe“ von „Scylla und Charybdis“. Od. 12,101. Das Wort χθαμαλός ist als „erdverbunden“ zu interpretieren (s. Kapitel 1.1.4.). Der Dichter stellt sich das Felsmassiv der Charybdis zwar „niedriger“ vor als das der gegenüberliegenden Skylla, das in den „Uranos“ ragt (Od.12,73), aber darauf zielt das χθαμαλώτερον des Felsens der Charybdis nicht ab. Das Wort weist nämlich auf das chthonische Wesen der unsichtbaren Charybdis hin, die am Bergfuß unterhalb des Wasserspiegels gigantische Mengen an Meerwasser in die Hohlräume der unheimlichen Erdtiefe hinabsaugt. 1021 FORBIGER I 587; mit Bezug auf Arist. probl. 23,5. 1022 Od. 12,430–441. 1023 Od. 12,106.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

amorphen Ungeheuer regelrecht verschluckt wurden, und sie tauchten erst viele Stunden später wieder auf, als Charybdis das Meerwasser endlich ausgurgelte.1024 Für den Dichter bestand die akute Lebensgefahr also darin, infolge des vermeintlich siphonartigen Sogs in die sich mit Meerwasser füllenden unterirdischen Hohlräume zu geraten, und deshalb lautet die Warnung der Kirke: Wenn Charybdis das Wasser „schluckt, so sei du nicht dort! Denn es könnte niemand, selbst nicht der Erderschütterer [Poseidon], dich retten vom Unheil“.1025 Abschließend sei noch angemerkt, dass das Ausspeien der Charybdis, im Gegensatz zum Einsaugen, die Seefahrer lediglich durch turbulente horizontale Strömungen gefährdet. Die Meerenge von Rhion ist die einzige im Mittelmeerraum, die sämtlichen Kriterien der zunächst märchenhaft erscheinenden Meerenge von Skylla und Charybdis entspricht, so die von West nach Ost gerichtete Achse der Meeresstraße und die geringe Breite derselben mit den beidseits ausgesprochen hohen Bergflanken. Hinzu kommen die nun dechiffrierten geophysikalischen Phänomene, die die unsterblichen Ungeheuer Skylla und Charybdis verkörpern. Ergänzend sei noch erwähnt, dass die Meerenge von Rhion in einen geschlossenen Meeresgolf führt, d. h. in eine Sackgasse, weshalb der Dichter genötigt war, seinen Helden Odysseus die Meerenge zweimal, nämlich in beiden Richtungen passieren zu lassen.1026 In der Altertumskunde wird oft darauf hingewiesen, dass v. a. die Autoren der römischen Zeit die Straße von Messina, die sich zwischen Südkalabrien und Sizilien erstreckt, als homerische Meerenge der Skylla und Charybdis betrachten.1027 Zumal bereits Thukydides (5. Jh. v. Chr.) über die Meeresstraße von Messina schrieb: „Dort ist die sogenannte Charybdis, wo Odysseus vorbeigefahren sein soll“.1028 Diese Lokalisierung verwarf jedoch in der Neuzeit schon Georg Friedrich Grotefend: Man darf bei der Meerenge von Skylla und Charybdis „nicht an die Meerenge zwischen Sicilien und Italien denken, welche Homer schwerlich kannte; auch war diese Meerenge nie so gefährlich, als die Alten sie um der Homerischen Sage willen schilderten“.1029 Beide Monita treffen zu: So endete das Weltbild der frühen Griechen hinter dem westgriechischen Inselbogen im Ionischen Meer, wie in der vorliegenden Studie bereits dargelegt wurde (v. a. S. 274 ff.). Zudem waren die Strömungen in der immerhin 3,2 km breiten Straße von Messina für die antike Schifffahrt nicht so gefährlich,1030 wie die der deutlich schmaleren Meerenge von Rhion. Vor allem aber kann die Meeres1024 Od. 12,429–441. 1025 Od. 12,106 f. – Aufgrund des drohenden Totalverlustes durch Charybdis (12,106 ff.), wurde bei der ersten Durchfahrt der Tod einiger Gefährten durch Skylla von Odysseus vorgezogen (Od. 12,98 ff., 223 f.). 1026 Od. 12,234–262; 429–446. 1027 U. a. Vergil, Aeneis III 429 ff., 558. Pompeius Trogus, Hist. Phil. IV 1; Strabon I 2,36. 1028 Thuk. 4,24. 1029 GROTEFEND 274 f. „Bekanntlich haben die Alten“ die Skylla und Charybdis „in die Sicilische Meerenge verlegt, obwohl die Gefahren der dortigen Durchfahrt jener Beschreibung nur wenig entsprechen“ (PRELLER I 384). 1030 Auch wenn man „die Skylla und Charybdis in der Straße von Gibraltar ansetzt, gesteht man dem Dichter eine starke Abweichung von den tatsächlichen Verhältnissen zu. Die Breite der Straße beträgt 14 km“ (KLOTZ 299).

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straße von Messina hinsichtlich des bedrohlichen Charakters nicht mit der von Rhion konkurrieren, da jene nicht derart eindrucksvoll von den im Epos geforderten hohen Bergen eingeengt ist, die der Odyssee zufolge sogar bis „in den Uranos“ ragen.1031 So bildet der sog. Skylla-Felsen an der kalabrischen Küste zwar ein stattliches Felskap, jedoch ist die siziliansche Gegenküste ganz flach, und so fehlt der breiten Meeresstraße von Messina „der grausig-wilde Charakter, den der Dichter in seiner Schilderung voraussetzt“.1032 Also, selbst wenn die Straße von Messina meist als Wirkungsstätte der homerischen Ungeheuer ausgewiesen wird, so trieben die homerischen Ungeheuer Skylla und Charybdis ihr Unwesen dennoch in der Meerenge von Rhion, die die Golfe von Patras und Korinth verbindet,1033 und damit nicht in Süditalien, sondern im westgriechischen Küstenraum. So sei an die alte Heraklessage von den Rindern des Geryones erinnert, bei der die schreckliche Skylla eines der von Herakles geraubten Rinder entraffte.1034 Den ältesten antiken Gewährsmännern zufolge, nämlich Hekateios und Skylax (beide 6. Jh. v. Chr.),1035 schlug die Skylla der Heraklessage nicht in Süditalien zu, sondern im Bereich von Epeiros, das sich damals vom Golf von Patras bis Thesprotien erstreckte.1036 Zudem sei erwähnt, dass im Altertum „das Skylla-Motiv als gefahrbringendes Moment [auch] auf den Kalydonischen Golf [östlicher Teil des Golfs von Patras]“ bezogen wurde,1037 und dass sogar noch in Vergils Hirtengedichten die Skylla ihr Unwesen in diesem Vorhof des Korinthischen Golfes trieb.1038

1031 Od. 12,73; den Ausdruck verwendet Homer nur für die höchsten Berge, wie den Olymp (VÖLCKER 17)! Diejenigen, die die Meerenge mit der Straße von Messina identifizieren, stört das nicht: „Es wirkt auch dichterisch überzeugend, wenn die Meerenge durch die Darstellung Homers höher und schmaler erscheint, als die Straße von Messina tatsächlich ist“ (WOLF, Reise 62). 1032 KLOTZ 299. 1033 Übrigens befindet sich ein der Skylla „ähnliches Ungeheuer in einer Höhle des Gebirges Kirphis in der Nähe von Krisa“ (PRELLER Ib 484, Anm. 3; mit Bezug auf Antonin Lib. 8), das nur ca. 60 km östlich der Meerenge von Rhion am Golf von Korinth liegt. 1034 „Doch erzählte auch die Heraklessage von der Skylla, und zwar in der Geryonis. Wie Herakles die Rinder des Geryon in dieser Gegend vertreibt, entrafft ihm Skylla eins der Thiere“ (PRELLER Ib 483 f.; mit Anm. 4: Lykophr. Al. 44; Schol. Od. 12,85; Eustath. 1714, 30 u. A.). 1035 Hekat. frg. 349; Skyl. 26. 1036 TREIDLER, Epirus 14. 1037 FREITAG 42. „Daß das Skylla-Motiv … auch in Aitolien nicht unbekannt war, beweist … die Darstellung einer Grabstele zum Gedenken an Kritolaos (IG IX 1, 1, 121) aus Trichonion aus dem 2. Jh. v. Chr.“ (ders. 42, Anm. 217). 1038 Verg. ecl. 6,75–77. Die Verse erzählen, Skylla habe einst die Schiffe der Dulichier zerstört, die laut Ilias (2,625 f.) ihre Seeherrschaft auch auf die Echinaden im Golf von Patras stützten.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

2.3.3 Die wegelagernden Plankten Bei der Lokalisierung der homerischen Meerenge von Skylla und Charybdis dürfen die Plankten („Irrfelsen“)1039 nicht unerwähnt bleiben, die Kirke zusammen mit der Meerenge von Skylla und Charybdis vorstellt: „Felsgebirge ragen dort auf … sie heißen die Plankten. Dies ist der Name; so heißen sie auch bei den seligen Göttern. Nichts kann an ihnen vorbei, kein Vogel, nicht einmal die zarten Tauben, die Vater Zeus Ambrosia bringen; der glatte Felsen packt auch von ihnen immer die eine und andre … Nie noch kam ein bemanntes Schiff hier durch und es kommen viele; doch gibt es nur Bretter von Schiffen und Leichen von Männern; Wogen tragen sie fort und Stürme vernichtenden Feuers. Einem meerestüchtigen Schiff nur gelang die Vorbeifahrt, jener Argo, von der noch alle singen und sagen. Diese kam von Aietes und wurde von Hera geleitet, Jason zuliebe; sonst warf es sie schnell an die riesigen Felsen“.1040 Aufgrund der Verse könnte man die gefährlichen Felsen vorschnell für fiktiv halten. Indes, selbst der Klassische Philologe Ludwig Radermacher meint, dass die homerischen Plankten, „obgleich sie heute in der Regel dem Märchen angehören, doch wohl einer alten, an eine bestimmte Meerenge geknüpften Schiffersage ihren Ursprung verdanken“.1041 „An den Plankten haben sich die Interpreten zuviel den Kopf zerbrochen“,1042 denn bevor Kirke den Odysseus auf die beiden Paare von Felsgebirgen hinweist,1043 nämlich die von Jason gemeisterten Plankten und die der Meerenge von Skylla und Charybdis, spricht sie einleitend folgende Worte: „Welchen der Wege du [hinter der Sireneninsel] nimmst, das musst du selbst im Gemüte gut überlegen; ich kann dir nur sagen das Entweder – Oder“.1044 Später, bei der Fahrtbeschreibung des Odysseus, tauchen die Plankten nicht auf, sondern nur die Meerenge von Skylla und Charybdis,1045 die Odysseus, dem Rat Kirkes folgend, auf der Skylla-Seite durchfuhr.1046 Da die Plankten in der Irrfahrterzählung nicht genannt werden, nehmen manche Homerinterpreten an, dass die Plankten und die Bergmassive von Skylla und Charybdis zwei unterschiedlichen Meerengen zuzuordnen sind, die Odysseus auf seinem Weg nach Thrinakia alternativ zur Verfügung standen.1047

1039 Od. 12,61; 23,327. Es sind zwei „glatte“ und „riesige Felsen“ (Od. 12,59, 64, 71, 73). Zunächst „ist die Meinung abzuweisen als wären mit den Plankten nur die δύω σκόπελοι (Od. 12,73) der Skyklla und Charybdis gemeint“ (NITZSCH III 372). 1040 Od. 12,59–70. – „πέτρα bedeutet „Felsgebirge, Fels, Klippe …“(BENSELER 730). 1041 RADERMACHER, Odyssee 22. Auch Eduard SCHWARTZ (266) behauptet, dass bei den Plankten „etwas Bestimmtes, geographisch Fixierbares stecken muß“. 1042 HÖLSCHER, Odyssee 178. 1043 Od. 12,73. 1044 Od. 12,58. 1045 Od. 12,201–262. 1046 Od. 12,108. 1047 „Der eine Weg geht bei den Plankten vorbei, der andere zwischen der Skylla und Charybdis hindurch“ (NITZSCH III 371). Es bleibt dem Odysseus „selbst die Wahl zwischen einer Fahrt vorbei an den Planktai oder der Durchfahrt zwischen der unfern gedachten Skylla und Charybdis“ (GISINGER, Planktai 2187,31 ff.).

2.3 Der längste Tag

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Diese Deutung steht allerdings im Widerspruch zum Kurzbericht der Irrfahrt, in welchem der heimgekehrte Odysseus seiner Frau Penelope erzählt, „wie der Sirenen Stimme er hörte, und wie er die Plankten, wie die Charybdis, wie die schreckliche Skylla erreichte“.1048 Demnach hatte Odysseus nicht die Wahl zwischen zwei verschiedenen Meerengen, sondern er musste sowohl die Plankten als auch die Meerenge von Skylla und Charybdis passieren. Aber warum nennt Odysseus in der ausführlichen Irrfahrterzählung, die er den Phaiaken vorträgt, die Plankten nicht, und worauf bezieht sich die von Kirke angedeutete Alternative der Seewege hinter dem Eiland der Sirenen? Eine widerspruchsfreie Antwort auf die zweite Frage bot bereits Arthur Breusing: „Die beiden Wege, von denen Kirke spricht, führen nicht der eine durch die petrai [„Felsen“ der Plankten], der andere durch die skopeloi [die als „Warte“ dienenden Bergspitzen der Skylla- und Charybdis-Enge], sondern der eine Weg hält sich nahe der Skylla, der andere nahe an der Charybdis“.1049 Und da bei der Charybdis der Totalverlust des Schiffes drohte, empfahl Kirke dem Helden: „Also jage dein Schiff am Felsgebirge der Skylla vorüber“.1050 Odysseus konnte also gar nicht zwischen zwei verschiedenen Meerengen wählen, sondern er stand lediglich vor der Wahl, an welchem der beiden Ungeheuer er sein Schiff vorbeifahren ließ. Kirke riet ihm, trotz des vorauszusehenden Verlustes an Gefährten, die Meerenge im Gefahrenbereich der Skylla zu passieren, weil ihn am gegenüberliegenden Ufer der Charybdis „nicht einmal der Erderschütterer [Poseidon] vom Unheil retten kann“.1051 Festzuhalten bleibt, dass Kirke zwar zwei verschiedene Wege für die Etappe vom Sireneneiland zur Insel Thrinakia nennt, aber die beziehen sich lediglich auf die beiden küstennahen Seewege, die an der einen oder auf der anderen Seite der Meerenge entlang führen.1052 Und weil Odysseus bei seiner ersten Durchquerung der Meerenge selbige auf der Skylla-Seite passierte, gelangte er weder in den Gefahrenbereich der Charybdis noch in den der Plankten. Wenn diese Deutung zutrifft, dann stehen die Plankten nicht beidseits der Wasserstraße, sondern sie liegen an ein und derselben Küste, und folglich können sie von Schiffen lediglich passiert, aber nicht durchfahren werden.1053 Und genau das ist den Worten der Kirke über die Plankten zu entnehmen: So sei der Argo die „Vorbeifahrt“ gelungen;

1048 Od. 23,326 ff. (vgl.a. 12,260 f.). Die Stelle im 23. Gesang scheint bearbeitet zu sein, wie die falsche Reihenfolge der Abenteuer indiziert. Denn Odysseus gelangte erst zur Skylla (Od. 12,234 f., 245 f.) und danach zur Charybdis (Od. 12,428 ff.). Auf der Hinfahrt zur Meerenge war Odysseus auch nicht schiffbrüchig, wie es die Vorbeifahrt an den Plankten voraussetzt, aber auf der Rückfahrt! 1049 BREUSING, Irrfahrten 66. Ähnlich WOLF (Homer 304): „Zwei Wege gibt es aber bei einer Küstenfahrt am Eingang einer Meerenge“. 1050 Od. 12,108. 1051 Od. 12,107. 1052 Also, „um benachbarte Wege handelt es sich μ 59 und 73. Hier will Kirke nicht genau (διηνεκέως) bestimmen, sondern Odysseus die Wahl lassen“ (MAAß 32,1). So spricht Kirke hinsichtlich der Meerenge (Od. 12,58: ἀμφοτέρωθεν) „von beiden Seiten derselben“, vgl. „utrimque“ (BENSELER 50). 1053 So kann bei den Plankten „nur an eine Felswand gedacht werden, die auf Einer Seite und zwar feststeht“ (NITZSCH III 375).

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2. Die Irrfahrtgeschichte

das Epos spricht nicht von Durchfahrt!1054 Die homerischen Plankten sind also Felsen, „an denen Odysseus vorüberfuhr, ehe er zu der Skylla und Charybdis gelangte“.1055 Ebenso heißt es in der Odyssee wenige Verse zuvor, dass „die zarten Tauben, die dem Vater Zeus Ambrosia bringen“ an den Plankten „vorüber“ fliegen, d. h. diese längs passieren;1056 und „der glatte Felsen packt auch von ihnen immer die eine und andre. Freilich schickt dann der Vater Ersatz, daß die Zahl immer voll sei“.1057 Aber „die Deutung dieser Fabel ist verlohren und schon den Alten unbekannt“.1058 Eine treffende Interpretatation der Tauben-Metapher, die indes für die Rekonstruktion der Irrfahrtroute des Odysseus nicht wesentlich sein dürfte, konnte die Homerphilologie bislang nicht vorlegen.1059 Während in der Odyssee die Tauben des Zeus und v. a. die Argo die beiden Plankten längs passieren, lässt Apollonios Rhodios (3. Jh. v. Chr.), dem in seiner Agonautika für die Fahrtroute vom Eiland der Sirenen nach Thrinakia die Odyssee als Vorlage diente,1060 das Schiff des Jason stattdessen „durch die gewaltig lärmenden Felsen“ der Plankten fahren.1061 Somit werden die homerischen Plankten einerlei mit den mythischen Symplegaden, die beidseits einer Meerenge stehen und hindurchfahrende Schiffe zerschmettern, indem sie zusammenschlagen.1062 Also „während es sich bei den Planktai darum handelt, vorbeizukommen, muß man bei den Symplegaden hindurchfahren“.1063 Jedoch kennen die homerischen Epen die Symplegaden noch nicht,1064 sondern nur die Plankten, und diese werden nicht durchfahren: Der Dichter denkt bei den Plankten an „ein Passieren allerdings nur insoweit, als Odysseus’ Steuermann sie zur Seite liegen läßt“.1065 Die homerischen Plankten flankieren also einen Küstensaum, und zwar diejenige Uferseite, an der sich der Dichter die schreckliche Charybdis vorstellt. Wie bereits dargelegt, bildete der knapp 2.000 m hohe Voidias, der die Südflanke der Meerenge von Rhion beherrscht, die dichterische Vorlage für das stets bewölkte, „bis 1054 Od. 12,69 nennt das Verb παρ-έπλω, von παραπλέω = „die Küste entlang, am Ufer hinfahren, vorbeifahren“ (GEMOLL 575, vgl. 580). – Vgl. Od. 9,81. Angemerkt sei, dass der Vers Ilias 8,239 aufgrund eines anderen Verbs (παρ-ελαύνω) keine zwingende Analogie bietet. 1055 VÖLCKER 270 f. 1056 Od. 12,62 f. Das Verb παρ-έρχομαι bedeutet „daneben, an etwas her, an der Küste hin … vorbeifahren, vorüberschiffen“ (BENSELER 699). 1057 Od. 12,63–65. 1058 HERMANN 376. 1059 Vgl. PRELLER I b 364 u. NITZSCH III 374 f. 1060 DRÄGER (536) zu Apoll.Rhod. 4,786, wo die Planktai genannt werden: „Es handelt sich um ein metaliterarisches Zitat des Apollonios nach dem Vorbild dieser Odyssee-Stelle [12,69–72]“. Und DRÄGER (540) zu Apoll.Rhod. 4,921–928: „Vorbild ist (in umgekehrter Reihenfolge) die Wegbeschreibung Kirkes für Odysseus (Odyssee 12,55–110)“. 1061 Apoll.Rhod. 4,963; vgl. 4,786 ff. 1062 Apoll.Rhod. 2,317–346. Dagegen erscheinen die Plankten „bei Homer keineswegs als beweglich“ (VÖLCKER 271); vgl. Schol. Pind. Pyth. 4,370. So ist „zu erkennen, dass die Plankten feststehen und keine den Symplegaden nach- oder gleichgebildeten Felsen sind“ (NITZSCH III 372). 1063 GISINGER, Planktai 1171,8 ff. –Die „Plankten gehören zur Westfahrt und sind mit ihr seit alters verbunden, wie die Symplegaden mit der Reise [der Argo] nach Osten“ (RADERMACHER, Mythos 220). 1064 Denn erst „später dichtete man von einem ähnliche Thore am Eingange zum Pontos [Schwarzes Meer], den sogenannten Symplegaden oder Kyaneen“, und sie sind „nach dem Vorbilde der Plankten erdichtet“ (PRELLER I 386). 1065 GISINGER, Planktai 2188,16 ff.

2.3 Der längste Tag

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in den Himmel ragende“ Felsmassiv der luftigen Skylla. Folglich agiert in der dichterischen Vorstellung die untermeerische Charybdis am Nordufer der Meerenge, in das die Bucht von Naupaktos wie ein riesiger Schlund halbkreisförmig eingreift und somit eine Doppel-Enge formt.1066 Aufgrund der topographischen Lage der Charybdis sind die beiden Plankten ebenfalls auf der Nordseite der Meerenge von Rhion zu suchen, und zwar unmittelbar westlich derselben, da sie für den aus Westen kommenden Seefahrer der Meerenge vorgelagert sind. Und dort, wenige Kilometer vor dem „schmalen Eingang zum Korinthischen Golf “, erheben sich an der Nordostküste des Golfs von Patras tatsächlich zwei mächtige Felsmassive, durch die „ganz besonders das Auge und die Phantasie immer wieder gefesselt“ werden: Es sind „die steilen Bergpyramiden der Klokova und Varassova, die schroff gegen die Nordküste des Golfes abbrechen und der Stadt Patras ein fesselndes Gegenüber bieten“.1067 Die beiden um 1.000 m hohen Felsklötze, die „wie von einem Künstler an Höhe gleich, von Gestalt nur ähnlich gemacht“ sind,1068 stürzen mit ihren hellen Gebirgslehnen fast senkrecht ins Meer.1069 Und diese „beiden schönen Pförtnerberge“ vor der Meerenge von Rhion, wie sie Josef Ponten nannte,1070 bilden das Vorbild für die homerischen Plankten, die der Dichter als zwei „riesige glatte Felsmassive“ im Vorfeld der Meerenge beschreibt.1071 Auch wenn die Schiffe zwischen den beiden Plankten nicht hindurchfahren, so galt es in grauer Vorzeit doch als lebensgefährlich, sie zu passieren, denn – so behauptet Kirke – die glatten Felsen erfassen die Schiffe, und „Wogen tragen sie fort und Stürme vernichtenden Feuers“.1072 Schon Gregor Wilhelm Nitzsch wies anhand einer Stelle der Ilias darauf hin, dass dieser Terminus (die θύελλαι πυρὸς), „wenn auch nicht die helle Flamme, doch ein wirkliches Sieden“ bedeutet.1073 Dementsprechend befinden sich die Plankten unmittelbar vor der Meerenge von Skylla und Charybdis, in der laut Homer „alles brodelte und wallte, als wär es Wasser im tüchtig gefeuerten Kessel“.1074 Dennoch besitzen die Plankten ein eigenes Gefahrenmoment, und so deutet die homerische Vorstellung auf Naturgewalten hin, die an den Steilküsten der beiden Felsmassive durch 1066 PHILIPPSON/KIRSTEN III 67. So ist „die Meerenge doppelt, mit Zwischenschaltung eines Beckens (desjenigen von Navpaktos)“ (a. a. O.). 1067 PHILIPPSON/KIRSTEN III 191 u. 70. 1068 PONTEN 3. 1069 Der Berg Klokova ist 1039 m hoch, der Berg Varassova 913 m (s. Seekarte Nr. 659, Patraikos Kolpos und Korinthiakos Kolpos; man beachte auch die eng aneinander liegenden Höhenlinien, an denen abzulesen ist, wie extrem steil die Südabhänge der Berge zum Meeresgolf abfallen); vgl. Od. 12,77 ff. 1070 PONTEN 3. – Noch schwärmerischer äußerst sich vor einem Jahrhundert Isolde KURZ (12 f.) in ihrem vielgelesenen Buch „Wandertage in Hellas“: „Die aufgehende Sonne findet uns im Hafen von Patras … Drüben am ätolischen Ufer erhebt sich der schönste Berg, den ich jemals gesehen habe; seine Formen sind so kühn und edel, dass er das Auge nicht loslässt. Er heisst Warassowa … Neben ihm ragt ein zweiter, beinahe ebenso schöner, der Klokowa“. 1071 Od. 12,71. 1072 Od. 12,68 f. – WOLF (Reise 123; vgl. 66 ff.) deutet die Plankten als „feuerspeienden Berg“. 1073 NITZSCH III 376; mit Verweis auf Ilias 22,149 (der Vers beschreibt die feurig-wallende Gischt des Flusses Skamander) und Od. 12,202 u. 219 (das brodelnde Wasser der Meerenge von Skylla und Charybdis). 1074 Od. 12,237 f.; vgl. 202 u. 219.

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gewittrige Unwetter und gefährliche Meeresströmungen häufig Schiffbrüche verursachten.1075 Also, die „Planktai“ sind, vom Festland aus gesehen, „Felsen rechts von der Charybdis, an welche die Schiffe, die in ihren Bereich kommen, durch eine unwiderstehliche Strömung hingetrieben werden, um an ihnen zu zerschellen“.1076 Die beiden Felsmassive Klokova und Varassova, die den beiden homerischen Plankten entsprechen, beherrschen den nordöstlichen Teil des Golfes von Patras, der nach der dort gelegenen aitolischen Hafenstadt Kalydon als Golf von Kalydon bezeichnet wird.1077 Und dieses, von den beiden uferlosen, steilen und kahlen Bergflanken geprägte Küstengewässer war im Altertum wegen seiner turbulenten Strömungen und heftigen Gewitter, die oft „zwei oder drei Tage lang“ anhalten,1078 derart gefürchtet, dass der Althistoriker Klaus Freitag sogar „vom ‚Golf von Kalydon‘ als markantes Schiffahrtsproblem in der Antike“ spricht.1079 Und angesichts der hohen und schroffen Felsmassive Klokova und Varassova sowie der unmittelbar östlich benachbarten Meerenge von Rhion fügt Freitag hinzu, ohne den Gehalt seiner Worte für die homerische Geographie auszuschöpfen: „Die aus dieser Küstenformation resultierenden Gefahren für die Schiffahrt im Golf könnten eine Verbindung des in der Antike vielfach gebräuchlichen Skylla-Motives mit dem ‚Kalydonischen Golf ‘ hergestellt haben“.1080 Während der Fahrt von Aiaia (Kephallenia) in den Golf von Korinth, auf der Odysseus die Meerenge von Rhion das erste Mal durchfuhr, war er aufgrund der genannten Gefahren nicht an der Nordküste des Golfes zwischen den Hafenstädten Kalydon und Naupaktos entlanggefahren, und folglich hatte er die Plankten nicht unmittelbar passiert. Zudem war Odysseus, der auf Kirkes Rat hin an der peloponnesischen Küste entlang zur Meerenge fuhr, damals mit dem Anlegen der Rüstung beschäftigt gewesen, und danach blickte er nur gebannt ostwärts auf das hohe Bergmassiv im Süden der Meerenge, an dem Skylla lauerte.1081 Wegen seiner gebannten Blickrichtung und weil dunkles Gewölk über der Meerenge hing, tauchen die beiden Plankten, die über 10 km nördlich vom Seeweg des Odysseus lagen, in der spannenden Irrfahrterzählung nicht auf. Als Odysseus jedoch einen Monat später Schiffbruch erlitt, warf ihn der Sturm zurück zur Meerenge, die er, auf Wrackteilen treibend, nun in Gegenrichtung westwärts und diesmal auf der Nordseite, im Bereich der Charybdis durchqueren musste.1082

1075 Vergleiche das Motiv des schroff abfallenden Keraunischen Küstengebirges in Epirus, das die Seeleute – wie der Gebirgsname besagt – wegen der häufigen Gewitter fürchteten (Apoll. Rhod. 4,518 ff. Strab. 6,3,5; 7,5,8; 7,7,5. Plin. nat. 3,97; 4,1 f. Ptol. 3,13,1 f. Verg. Aen. 3,506 ff.). 1076 BENSELER 737. Vgl. SCHWARTZ (266): „Gefährlich ist lediglich die an die Klippen schlagende Brandung“. 1077 FREITAG 41 ff. – Die schon in der Ilias genannte Hafenstadt Kalydon (2,640; 9,530, 577; 13,217; 14,116) lag an der Westflanke des Berges Varassova. 1078 Im Golf von Patras bringen Südwestwinde meist „Regen und Gewitter zwei oder drei Tage lang,“ und „der Seegang ist an der Süd- und Ostseite des Golfes oft kräftig“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 70). 1079 FREITAG 44. 1080 FREITAG 44; er verweist auf den Roman von HELIODOR (Aeth. 5,1,17), in welchem sich ein Athener mit einem Ägypter über die schwierige „Durchfahrt von Kalydon“ unterhält. 1081 Od. 12,228 ff. – Zudem schränkte der Helm den Blickwinkel des Odysseus ein. 1082 Od. 12,430 ff. Winde aus südlicher Richtung (12,427 ff.) hatten ihn zur Charybdis getrieben.

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Als Schiffbrüchiger gelangte Odysseus somit auch in die Nähe der Plankten, an denen, wie Kirke sagt, „nur Bretter von Schiffen und Leichen von Männern“ treiben, und die „Wogen tragen sie fort und Stürme vernichtenden Feuers“.1083 Derart trieb nun Odysseus an den Plankten vorbei, der als einziger seines Schiffes das Inferno überlebt hatte: „Zeus aber donnerte weiter und warf seine Blitze ins Fahrzeug. Dies ging ganz aus den Fugen, da Zeus es zerschlug mit dem Blitzstrahl. Schwefel verbreitete sich; die Gefährten fielen vom Fahrzeug“.1084 Odysseus hielt sich sodann an Wrackteilen fest und band mit einem Riemen „den Kiel und den Mastbaum zusammen; darauf sitzend fuhr ich dahin in vernichtenden Winden“.1085 So gelangte er zunächst zur Charybdis und, da er weiter westwärts driftete,1086 an den Plankten vorbei. Es zeugt von subtiler Ironie des Dichters, dass er seinen Helden nun die Plankten schiffbrüchig passieren lässt, ohne dass die gefährlichen Felsen an dieser Stelle der Irrfahrterzählung erwähnt werden oder „zupackten“.1087 Trotzdem ist der angebliche Erlebnisbericht stimmig, denn Odysseus hätte die Plankten gar nicht sehen können, da er sie nach Einbruch der nächtlichen Dunkelheit passierte und wegen des Unwetters zudem schlechte Sichtverhältnisse herrschten.1088 Wie aber dem Gespräch mit Penelope zu entnehmen ist, war sich Odysseus jedoch bewusst, die Plankten passiert zu haben, an denen stets „nur Bretter von Schiffen und Leichen von Männern“ vorbeitreiben. Das Szenario nahe der Plankten verdeutlicht, wie sorgfältig die Odyssee in geographischer Hinsicht konzipiert ist, und folglich vermag die Dichtung ihren ganzen Reiz erst zu entfalten, wenn die im Epos genannten Irrfahrtstationen geographisch dechiffriert sind.1089 Die Bergmassive der Meerenge von Rhion samt der beiden „unheimlichen steilen Kalkberge Klokova und Varassova“,1090 die allein durch ihre Existenz ‚erschlagend‘ wirken und als die homerischen Plankten identifiziert wurden, „bewachen gewissermaßen den Weg, der zum Herzen Griechenlands führt“,1091 nämlich den Seeweg in den Golf von Korinth. Deshalb hüteten antike Seemächte die Meerenge von Rhion argusäugig, und folglich bezeichnet der Dichter die Felsmassive der Meerenge als skopeloi.1092 Diesen Ausdruck (skopelos), der einen Geländepunkt bezeichnet, „von dem man Ausschau 1083 1084 1085 1086 1087 1088

1089 1090 1091 1092

Od. 12,67 f. Od. 12,415 ff. Od. 12,422 ff. Die Insel Ogygia, die Odysseus nach dem Charybdis-Abenteuer erreichte, liegt im Westen von Griechenland (Od. 5,270 ff.). Lebewesen, die sich den beiden Felsen nähern, werden „gepackt“ (Od. 12,63 f.). Siehe Od. 12,426 ff., 439 ff. – Auch hätte Odysseus, als er tagsüber auf dem Feigenbaum am Ufer der Charybdis hockte (12,430 ff.), den sich der Dichter in der Bucht von Naupaktos vorstellt, nicht die Plankten sehen können. Vom Südufer der Meerenge, also bei Skylla, hätte er sie dagegen durchaus erblickt, wenn das Wetter nicht allzu schlecht ist. So irrt u. a. KLOTZ (297), dass „die Πλαγκταὶ für die Fahrt des Odysseus ohne Bedeutung sind“. PHILIPPSON/KIRSTEN III 191. PONTEN 3. Das gilt v. a. für die Felsmassive der Skylla und Charybdis (Od. 12,73, 80, 95, 101, 108, 220, 239, 430), die selten πέτραι genannt werden (12,231, 241, 260), während es sich bei den Plankten umgekehrt verhält (πέτραι: 12,59, 64, 71; 23,327; das Wort σκόπελοι bezieht in 12,73 die Planktai ein).

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halten kann“,1093 führen in der Odyssee einzig die Berge an der Meerenge von Skylla und Charybdis. Bemerkenswert ist, dass auch der antike Schriftsteller Heliodor für die Felsmassive der Meerenge von Rhion den Ausdruck skopeloi verwendet1094 und sie somit als einen wichtigen „Spähort“ bzw. als „Warte“ kennzeichnet.1095 Und diese Funktion fiel den Bergen und dem Hafenort Naupaktos, der in der Meerenge von Rhion liegt, aufgrund der geostrategischen Lage stets zu. So war „die Wendung ‚Wache halten bei Naupaktos‘ in der Antike ein allseits bekanntes Sprichwort“.1096 Die Erzählung über die Plankten sind die einzigen Verse der Odyssee, die den Helden Jason und sein Schiff, die Argo, erwähnen und somit vom hohen Alter der Argonautensage zeugen. Die Odyssee rühmt Jason, weil es ihm als erstem Seefahrer gelungen sei, die Meerenge mit den Plankten zu passieren; alle anderen waren zuvor gescheitert: „Einem meerestüchtigen Schiff gelang [als Erstes] die Vorbeifahrt, jener Argo von der noch alle singen und sagen“,1097 und daraufhin passierten „viele“ andere Schiffe der Griechen dieses westliche Tor Griechenlands.1098 Schon im Kapitel über die Insel Aiaia wurde darauf hingewiesen, dass die ursprüngliche Argonautenfahrt nicht an die Küsten des Schwarzen Meeres führte, sondern in den Meeresraum westlich von Griechenland, und so ist es nicht verwunderlich, dass wir noch in den Argonautika des Apollonios „die Argo durch die Irrfelsen [Plankten] im Nordwesten von Hellas heimkehren sehen“.1099 Indes, die dichterische Vorlage der Plankten sind nicht im Nordwesten, sondern im Westen Griechenlands zu finden. Bedenkt man zudem, dass die Meerenge von Rhion „das Eingangstor Griechenlands vom Jonischen Meer aus ist, nicht bloß für Winde und Wellen, sondern auch für den Schiffsverkehr“,1100 dann hatte der vorzeitliche griechische Held Jason keine bedeutendere Tat vollbringen können, als dem Seeverkehr dieses Tor nach Westen zu öffnen.1101 Auch die frühgriechischen Toponyme entlang der Achse des Doppelgolfs von Patras 1093 Σκόπελος (von σκοπέω = spähen) bezeichnet „einen hohen Punkt im Gelände, von dem man Ausschau halten kann“ (FINZENHAGEN 77 f., 88). 1094 Heliod. Aeth. 5,1,2. HELIODOR erzählt im Roman Aithiopika von einem phoinikischen Frachtschiff, das von Delphi aus die Meerenge von Rhion durchquert und nach Zakynthos fährt, und so die Καλυδώνιοι σκόπελοι passiert (das aitolische Kalydon lag westlich der Meerenge). Bei der Interpretation verweist FREITAG (43, Anm. 220) auf „Hom.Od. 12,73 ff.“, also auf die Felsen der Skylla- und Charybdis. 1095 BENSELER 832. 1096 FREITAG 338 u. 87; mit Verweis auf die Suda und Zenobios (Prov. 6,33). – Wache hielten in Naupaktos v. a. Athener, Makedonen und Römer (FREITAG 77, 82, 91 f.; mit Belegen). 1097 Od. 12,69 f. 1098 Die Meerenge „passieren viele Schiffe“ (Od. 12,67), zuerst jedoch „die Argo“ (Od. 12,70). 1099 VÖLCKER 133; vgl. Apoll.Rhod. 4,789 f., 825 f., 923. – Ein Indiz ist der Name des Hafenortes von Pellene, Aristonautai: „Ein traditioneller Bezug von Aristonautai auf die Argonautensage wird mit dem Verweis auf Pausanias [7,26,14] jedoch im jeden Fall herzustellen sein“ (FREITAG 254, Anm. 1364). 1100 PHILIPPSON/KIRSTEN III 70. – „Strabon verwendet den πορθμός-Begriff für die Meerenge von Rhion, um diese Funktion zu betonen“ (FREITAG 67, mit Bezug auf Strab. 8,2,3). 1101 Folglich steht die Meerenge seitdem „für alle Welt offen“ (PRELLER Ib 486). Wenn Ludwig RADERMACHER (Mythos 197) schreibt, „Die Durchfahrt durch die zusammenschlagenden Felsen aber ist im Grunde die Heldentat des Argoschiffes“, dann hat er zwar die Bedeutung der Erzählung erkannt, aber übersehen, dass in den alten Fassungen der Argonautensage die Planktai nicht durchfahren wurden, sondern man an ihnen längs vorbeifuhr.

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und Korinth und des südöstlich vom Isthmos von Korinth sich ansachließenden Saronischen Golfes indizieren, „daß wir uns hier auf den Geleisen des ältesten Handelsverkehrs der Ionier befinden, wodurch zum ersten Male die östlichen und westlichen Gestade Griechenlands miteinander in eine den Verkehrsmitteln der Zeit entsprechende Verbindung gesetzt wurden“.1102 Deshalb passierten die Plankten zu homerischer Zeit, also dem Zeitalter der beginnenden Westkolonisation, schon „viele“ Schiffe, wie die Odyssee ausdrücklich bemerkt, und so entwickelte sich der Doppelgolf von Patras und Korinth zu einer „der wichtigsten Fernhandelswasserstraßen und Verkehrsverbindungen in Hellas“.1103 2.3.4 Die unheilvolle Insel des Helios Am ereignisreichsten Tag der Irrfahrt waren Odysseus und seine Gefährten während der Morgenröte von der Insel Aiaia losgesegelt,1104 hatten gegen Mittag das Eiland der Sirenen und danach die Meerenge rudernd passiert, an der das Ungeheuer Skylla sechs Gefährten dem offenen Schiff entriss,1105 und waren schließlich an der Küste der Insel „Thrinakia“ gelandet, an der die Mannschaft zu Abend aß und sich ausruhte.1106 An der Küste Thrinakias weideten die Rinder- und Schafherden des Sonnengottes Helios Hyperion,1107 und deshalb hatte Kirke ihren Odysseus und dessen Mannen ermahnt, die heilige Rinderweide auf der „Insel des Helios zu meiden“.1108 Aber die erschöpfte Mannschaft, die die Warnung in den Wind schlug, meuterte und führte die Landung bei den heiligen Rindern auf Thrinakia gegen den Willen des Odysseus herbei.1109 Somit endet nicht weit hinter der Meerenge der aufregendste und vielleicht anstrengendste Tag der angeblichen Irrfahrt. Als daraufhin widrige Winde zu einem vierwöchigen Aufenhalt auf der Insel zwangen, schlachteten die hungrigen Gefährten die dem Helios geweihten Rinder.1110 Seit der klassischen Zeit des Altertums wird der Inselname Thrinakia meist auf Sizilien bezogen,1111 und diese Gleichsetzung „rührt von der Lokalisierung von Skylla-Charybdis, Kyklopen und Laistrygonen in Sizilien her“.1112 So wurde behauptet, Thrinakia (der

1102 DONDORFF, Euboia 49; er verweist v. a. auf „die Bezeichnung von Elis als ‚Iasie’“ und von „Argos, als der Iasischen Stadt“. Man denke auch an die beiden Ortsnamen „Chalkis“ im Norden und Süden des Golfs von Patras, so an der Küste von Aitolien, am Berge „Chalikis“ (Ilias 2,53), und an der Küste von Elis (Od. 15,295). Vgl.o. Anm. 2013. 1103 FREITAG 309. 1104 Od. 12,261–403. 1105 Od. 12,245 ff. 1106 Od. 12,305 ff. – „Thrinakia“: 11,107; 12,127, 135; 19,275. 1107 Od. 12,127 ff., 261 ff., 299 ff., 343 f., 353 ff., 375, 379 ff. 1108 Od. 12,274. 1109 Od. 12,279 ff., 294, 297. 1110 Od. 12,325–365. 1111 Vgl. Thuk. 6,2,2. 1112 ZIEGLER, Thrinakie 602,15 ff.

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Name bedeutet die „dreispitzige“ Insel)1113 habe „zuerst Trinakria geheißen“,1114 was die „dreieckige“ Insel bedeutet.1115 Jedoch ist zu bezweifeln, dass „den Homerischen Griechen die Gestalt Siciliens so genau bekannt war, daß sie der Insel danach den Namen gegeben hätten“,1116 und so hat selbst Herodot (5. Jh. v. Chr.), der Sizilien häufig erwähnt, „von der Trinakria-Hypothese noch nichts gewußt“.1117 Also, „lassen wir uns unbefangen, von Homer allein bestimmen, so müssen wir entscheiden, daß Thrinakia verschieden ist von Sicilien!“1118 Das homerische Thrinakia bezog sich ursprünglich nicht auf Sizilien, wie auch Konrat Ziegler nachdrücklich feststellt: „in Wahrheit ist die Entwicklung des Namens den umgekehrten Weg gegangen, als den die Homererklärer und Strabon angeben: nicht von Trinakria aus euphonischen Gründen zu Thrinakia, sondern vom gegebenen homerischen Thrinakia wegen der Etymologie, die man sich nach der Identifizierung mit Sizilien ausgedacht hatte, zu Trinakria. Daß diese Etymologie unmöglich ist, scheint man aber auch im Altertum erkannt zu haben“.1119 Aber „wegen der vorgefaßten Meinung von der Identität Thrinakias mit Sicilien wird die richtige Etymologie fallen gelassen. Sie ist erst in der Neuzeit von Ulrich von Wilamowitz wieder aufgenommen worden“, der unmissverständlich feststellte: „Thrinakia, von ‚thrinax’, heißt die ‚gabelförmige‘ Insel“.1120 Und so fragt Wilamowitz weiter: „Welche Insel hat auf die Bezeichnung gabelförmig mehr Anspruch als die Pelopsinsel?“1121 Denn die Insel des Pelops, also der Peloponnes,1122 läuft nach Süden in drei markante Vorgebirge aus und ragt somit wie ein riesiger Dreizack (thrinax) in das Mittelmeer hinein. Da Odysseus nach der vorliegenden historisch-geographischen Analyse in den Golf von Korinth gelangt ist, der im Norden vom mittelgriechischen Festland und im Süden vom Peloponnes geformt wird, fügt sich die Identität der homerischen Insel Thrinakia mit dem Peloponnes hervorragend ins Itinerar, zumal Odysseus in der Erzählung seiner 1113 „Das homerische Thrinakia (θρῖναξ ‚dreizinkige Gabel’)“ (GEISAU, Thrinakie 789,39). 1114 ZIEGLER, Thrinakie 602,26 f. Thrinakria ist „aus Gründen des Wohlklangs in Trinakia umgelautet worden“ (602,27 f.; mit antiken Belegen). – PLINIUS (nat. 5,132) bezeichnet die Insel Rhodos als Trinacria. 1115 Vgl. BENSELER 922. Trinakria entstand „durch Anlehnung an τρεῖς und ἄκρον“ (a. a. O.). 1116 VÖLCKER 118. Vgl. FINLEY, Sizilien 37. 1117 ZIEGLER, Sikelia 2464,20 f. (mit Bezug auf Hdt. 7,70). Die Trinakria-Hypothese „ist somit erst in den letzten Jahrzehnten des 5. Jhdts. entstanden“(2464,67 f.). 1118 VÖLCKER 119. 1119 ZIEGLER, Thrinakie 603,23–32. – Wer „θρινακίη mit Τρινακρία gleichsetzt und in diesem Ungetüm von Wort die Deutung des andern sucht, der offenbart eine so gründliche Unwissenheit in der Grammatik, daß er auf ein Urteil in diesen Dingen verzichten muss“ (WILAMOWITZ, Untersuchungen 170). 1120 ZIEGLER, Thrinakie, 605,27 ff. (mit Bezug auf WILAMOWITZ, Untersuchungen 168). – Das Toponym θρινακίη bezeichnet eine „im Gebiet des Dreizacks liegende“ Landschaft (BENSELER 421). Ludwig PRELLER (I 291 u. II 325) sagt „die Insel Dreispitz“. 1121 WILAMOWITZ, Untersuchungen 168 (mit Bezug auf Schol. N 588), dem u. a. MEYER (Odysseusmythos 272) und TEUBNER (90) zustimmen, sowie Eduard SCHWARTZ (270 f.): „Daß Θρινακίη ursprünglich ein Schiffername für die drei Zacken war, mit denen die Peloponnes nach Süden ins Meer hinein ragt, ist immer noch das Wahrscheinlichste“. 1122 Im Altertum nannte man „diesen Südteil Griechenlands nicht, wie wir, eine Halbinsel, sondern eine Insel, die Insel des Heros Pelops“ (PHILIPPSON/KIRSTEN III 9). Vgl. Hom. h. 3,250, 290, 419, 430, 432. Kyprien frg. 9. Hdt. 8,44,1 u. a. – Dementsprechend bezeichnet die Odyssee (11,107; 12,127, 135, 261, 269, 274, 276, 283, 285, 333, 335, 351, 403; 19,275) Thrinakia stets als νῆσος.

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angeblichen Irrfahrt ausschließlich durchsichtige Pseudonyme verwendet. Dennoch ist nun zu prüfen, ob die Angaben des Odysseus über Thrinakia diese Lokalisierung bestätigen. So ist zunächst die Klage des Helios bei Zeus wegen der von den Gefährten des Odysseus geschlachteten Sonnenrinder zu beleuchten: Die Rinder „machten mir Freude, jedesmal, wenn zum Himmel mit allen Gestirnen ich aufstieg, taten es wieder, wenn immer vom Himmel zur Erde ich kehrte“.1123 Die Worte des Helios lassen vermuten, dass die Insel Thrinakia inmitten des Weltbildes der Odyssee lag, das sich vom Sizilischen Meer bis in die Levante erstreckt,1124 denn „die Mitte des Himmels war natürlich den Griechen in ihrem Lande, in dem Mittelpunkt der Erde, in dem Zenith über ihnen“.1125 Unter dem Zenit, also im Zentrum der Erdscheibe, erstreckte sich der festländische Teil Griechenlands, als dessen Nabel die Orakelstätte Delphi galt,1126 die sich in unmittelbarer Nähe des Golfs von Korinth befand.1127 Folglich ist die homerische Insel Thrinakia, deren Sonnenrinder den Helios beim Auf- und Abstieg erfreuten, mitten im griechischen Erdraum platziert, und dieser Sachverhalt korrespondiert mit der bisherigen Rekonstruktion der Irrfahrt, wonach Odysseus durch die Meerenge von Rhion in den Golf von Korinth und somit ins geographische Zentrum Griechenlands vorgedrungen ist. Für die Identität der homerischen Insel Thrinakia mit dem Peloponnes spricht noch ein weiteres Indiz: So weiden die dem Helios heiligen Schafe im homerischen Hymnos an Apollon unmissverständlich auf dem Peloponnes.1128 Während Odysseus bei seiner Ankunft auf der Insel noch Rinder- und Schafherden vorfand,1129 spricht der Hymnendichter jedoch nur von Schafherden,1130 weil er wohl schon voraussetzt, dass die Gefährten des Odysseus die dem Helios heiligen Rinder geschlachtet haben. Indes, zwischen der Odyssee und dem etwas jüngeren Apollonhymnos gibt es einen wesentlichen topographischen Unterschied: Im Hymnos weiden die dem Helios heiligen Schafherden am Kap Tainaron,1131 also auf der Südspitze des Peloponnes, während Odysseus, bei Zugrundelegung der vorliegenden Rekonstruktion der Fahrtroute, die heiligen Rinderherden an der Nordküste des Peloponnes, am Golf von Korinth antraf. Aber dabei handelt es sich keineswegs um einen Widerspruch, denn wie die Pindar-Scholien lehren, „war es der Helios von Korinth, dem diese Herden gehörten“,

1123 Od. 12,387 ff. Indes, „die Verse μ. 374–390 erklärte Aristarchos für unächt“ (KIRCHHOFF 292). 1124 Unter den Toponymen der Odyssee ist „Phönizien“ (Od. 4,83 u. ö.) das östlichste und „Sizilien“ (Od. 20,383 u. a.) das westlichste. 1125 VÖLCKER 21. 1126 „So liegt die Mitte der Erdscheibe unzweifelhaft im griechischen Mutterlande und zwar ungefähr in Delphi, wo Zeus selbst nach der Sage durch seine beiden Adler das Zentrum der Erde hatte bestimmen lassen“ (DÖRPFELD, Odyssee 242). 1127 Der Hafen von Delphi war Krisa (Ilias 2,520. Hom. h. 3,269, 282, 431, 438, 445). Im Altertum verstand man unter dem „Golf von Krisa“ zuweilen den gesamten Golf von Korinth (FREITAG 407). 1128 Hom. h. 3,409–413. 1129 Od. 12,262, 265 f., 299, 301,322 f. 1130 Hom. h. 3,412 f. 1131 Hom. h. 3,411 ff. – In der Ilias (3,104) wird dem Helios ein weißer Widder geopfert.

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und folglich „muß Tainaron als Dependenz zu verstehen sein“.1132 Die von den Gefährten des Odysseus geschlachteten Helios-Rinder weideten deshalb nicht am Kap Tainaron – wie die demselben Gott heiligen Schafherden im Apollonhymnos –, sondern an der Nordküste des Peloponnes. So ist einerseits an die „älteste Fassung der Alkyoneus-Sage“ zu denken, derzufolge „Alkyoneus die Rinder des Helios aus Korinth raubte“,1133 und andererseits an die „beiden Helios-Söhne Thrinax und Auges; während Auges „uns sofort die Rinderherden des elischen Augeias ins Gedächtnis ruft“,1134 ist der Heliade Thrinax offensichtlich von Thrinakia abgeleitet,1135 das ebenfalls eine Bildung von „thrinax“ ist.1136 Das Schiff des Odysseus landete in der Vorstellung des Dichters also an der Nordküste des Peloponnes (Thrinakia), d. h. an der gebirgigen Küstenlandschaft Achaia. Obwohl sie sich entlang des Golfs von Korinth erstreckt und mitten in Griechenland liegt, wurde sie erst relativ spät bevölkert, nämlich in mittelhelladischer Zeit.1137 Eine wesentliche Ursache für die späte Besiedlung dürften die häufigen Erdbeben und das weitgehend unwirtliche Landschaftsrelief sein. So wird der mittlere Bereich des alten Achaia vom hohen Gebirgsmassiv Voidias („Rindsgebirge“) beherrscht,1138 das steil zum Golf von Korinth abfällt und nur wenige Küstenebenen bietet.1139 Auch das sich südwärts anschließende Arkadien ist ein schluchtenreiches Gebirgsland, das „im Ganzen ziemlich schwach bevölkert“ war und somit „in der Geschichte keine Rolle gespielt“ hat.1140 Den Sachverhalt illustriert ein antikes Bonmot über die arkadische Stadt Megalopolis („Groß-Stadt“), die im Zentrum des Peloponnes liegt: „Die Große Stadt – das heißt: die große Einsamkeit“.1141 Und über die alten, bereits von Homer erwähnten Städte Arkadiens lästert Strabon: „Von den vom Dichter genannten Städten sind ‚Rhipe und Stratie und das windumbrauste Enispe‘ schwer zu finden, und falls man sie fände, hätte man wegen der Einsamkeit nichts davon“.1142 In der Antike wurden, abgesehen von Arkadien und Achaia, auch andere mittelgriechische Landschaften als „einsam“ bezeichnet, wie das Land der Aitoler und Akarnanen,1143 und noch bis ins 20. Jh. hinein beschreiben Geographen die nördliche und zentrale Peloponnes als „einsame, idyllische Landschaft“.1144 1132 MAYER 65; mit antiken Belegen. So sind „die heiligen Rinderherden des Helios … in der [nord-] westlichen Dependenz des Peloponnes“ anzusetzen (ders. 71). 1133 JESSEN, Helios 83,33 ff. 1134 MAYER 58. 1135 Vgl. Nonn. Dion. 14,44. 1136 WILAMOWITZ, Untersuchungen 168. 1137 THOMASSON, Achaia 32,49 ff., 51 f.; 33,12 f. Lediglich Aegion weist Funde aus mykenischer Zeit auf. 1138 „Voidias, das Rindsgebirge“ (PONTEN 4). „Dieser zentralen Stellung innerhalb der Achaia verdankt er [der Voidias] wohl auch seinen antiken Namen Panachaikon“ (PHILIPPSON/KIRSTEN III 175). 1139 Bei Aegion „beginnt die nach W verlaufende Steilküste“ (PHILIPPSON/KIRSTEN III 189). Zwischen dem Meer und dem Gebirge liegt ein von Gebirgsvorsprüngen unterbrochener Küstensaum (dies. III 65). 1140 PHILIPPSON/KIRSTEN III 185. Da dort nur „wenige Menschen“ leben (28 Personen auf 1 qkm im Jahr 1928), „spielt die menschliche Wohnung im Landschaftsbilde des Gebirges keine Rolle“ (PONTEN 4). 1141 Strab. 8,1,22. 1142 Strab. 8,2,34; mit Verweis auf Ilias 2,605–608. 1143 Noch STRABON (8,1,25 f.) spricht von der „Öde (ἐρημία) der Ätoler und Akarnanen“. 1144 PHILIPPSON/KIRSTEN III 189.

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In Anbetracht dessen erscheint es nicht verwunderlich, wenn der Odysseus-Gefährte Eurylochos nach der Ankunft bei den Sonnenrindern Thrinakia als „einsame Insel“ verflucht.1145 Aber an welchem nordpeloponnesischen Küstenort stellt sich der Odysseedichter den Frevel an den heiligen Helios-Rindern vor? Einen Anhaltspunkt dafür bietet der zeitliche Rahmen der Fahrt: Die abenteuerliche Tagesetappe von der Insel Aiaia bis zum Landeplatz auf Thrinakia wurde an einem lichten Frühsommertag bewältigt,1146 an dem im Mittelmeerraum zwischen Morgen- und Abenddämmerung bis zu 17 Stunden verstreichen. Nur etwa die Hälfte der Strecke lief das Schiff unter Segel, und vom Eiland der Sirenen bis zur Ankunft auf Thrinakia musste die fünfzigköpfige Mannschaft rudern.1147 Aufgrund dieser Bedingungen ist eine Durchschnittsgeschwindigkeit von maximal 5 Knoten (knapp 9 km/h) anzunehmen,1148 und so konnte das Schiff in dem genannten Zeitraum höchstens 150 km weit gefahren sein.1149 Da die Entfernung von der Insel Kephallenia (dem homerischen Aiaia) bis zur Meerenge von Rhion (wo Skylla und Charybdis agieren) bereits knapp 100 km beträgt, darf die Landungsstelle auf Thrinakia nicht allzuweit hinter der Meerenge angenommen werden. Und so gelangte das Schiff, nachdem es die Meerenge von Skylla und Charybdis passiert hatte, in der Vorstellung des Dichters „sogleich“ an die Stelle, bei der die heiligen Rinder des Sonnengottes weideten.1150 Außerdem weist das Epos auf die vom Rudern erschöpften Gefährten des Odysseus hin, die nach dem Skylla-Abenteuer ultimativ forderten, an der Küste Thrinakias zu landen, um sich auszuruhen.1151 Demnach ist die „gewölbte Hafenbucht“,1152 die das Schiff des Odysseus anlief, nicht weit hinter der Meerenge zu suchen, und übereinstimmend damit liegt die einzige geräumige Hafenbucht der ganzen nordpeloponnesischen Landschaft Achaia nur ca. 30 km östlich der Meerenge von Rhion. Es ist die weitgeschwungene Bucht von Aegion, die „von Natur gegen Ost- und Westwinde geschützt“ ist.1153 „In der Forschung wird betont, daß Aegion im Vergleich zu anderen achaiischen Küstenstädten über einen vortreffli-

1145 Od. 12,351 (… ἐν νήσῳ ἐρήμη). – Abgesehen von Thrinakia verwendet der Dichter den Ausdruck „einsame Insel“ (Od. 3,270) nur noch für die Szene, in der Aigisthos den Wächter der Klytaimnestra in Mykene beseitigt. Auffallend ist, dass diejenigen Inseln, die der Dichter als eindeutig menschenleer darstellt, nämlich die dem Kyklopenland vorgelagerte namenlose Insel (Od. 9,116 ff.) und das nur von der Göttin Kalypso bewohnte Ogygia (Od. 5,55 ff.), nicht als ἐρῆμος bzw. ἐρημία oder ερημόω („einsam“) bezeichnet werden. 1146 Od. 10,469 f.; vgl. 10,160, 552 ff.; 12,284. 1147 Od. 12,166–172, 194, 201 ff., 214 f., 276. 1148 Zwar erreichten antike Schiffe, die gerudert wurden, selbst auf längeren Strecken eine Durchschnittsgeschwindigkeit „von 5 Knoten und darüber“ (KÖSTER 125 f.), aber das trifft nur für Galeeren (ab dem 6. Jh.) zu und nicht für den von Odysseus genutzten bauchigen Schiffstyp. 1149 „So rechnet Herodotos (4,86) an einem langen Tage auf eine Tagefahrt 700 Stadien“ (FORBIGER I 550). – Vgl. dagegen z. B. die Etappe bei der Odyssee-Theorie der Brüder WOLF (Reise 49 ff., 61–79): Von der Kirke-Insel (Ustica) nach Thrinakia (Messina) sind es 230 km. 1150 Od. 12,261. 1151 Od. 12,280 ff.: „Wir Gefährten haben genug, wir sind müde und schläfrig …“. 1152 Od. 12,305. Das Wort „γλαφυρός“ bedeutet „ausgehöhlt“ und „gewölbt“ (BENSELER 167). 1153 PHILIPPSON/KIRSTEN III 87.

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chen, windgeschützten Hafenplatz verfügte“,1154 und deshalb war „in der Blütezeit des antiken Griechenland … Aegion, das den besseren Hafen besitzt, bedeutender als Patrai [Patras]“.1155 Die Hafenbucht von Aegion weist einen „etwa 100 m breiten Strand“ mit ergiebigen Süßwasserquellen auf,1156 wie es die Odyssee für die geräumige Hafenbucht an der Küste Thrinakias voraussetzt.1157 Der „etwa 50 m hohe, von Grotten durchlöcherte Steilrand an der im Halbkreis geschwungenen Bucht“ von Aegion1158 ermöglichte es dem Odysseus, nach der Landung sein Schiff „in einer hohlen Grotte“ zu verstauen.1159 Das Gebiet an der Bucht von Aegion war die landwirtschaftlich ergiebigste Küstenregion am Golf von Korinth, weshalb „die 12 km lange Ebene von Aegion im Altertum zum Zentrum der Achaia“ aufstieg.1160 In der fruchtbaren Ebene lag der Küstenort Helike,1161 der „als Hauptort oder Repräsentant und gemeinsamer kultischer sowie politischer Bezugspunkt für alle Achaier betrachtet wurde“.1162 Überdies war Helike – laut Pausanias – „das heiligste Heiligtum der Jonier, das des Poseidon Helikonios“.1163 Indes, Helike mit seinem Heiligtum „wurde im Jahre 373 v. Chr. durch eine Katastrophe vernichtet, die einen großen Eindruck auf die antike Menschheit hinterlassen hat. Bei einem starken Erdbeben versank die Stadt zur Nachtzeit mit allen ihren Bewohnern im Meer“.1164 Zuvor wurden dort beim alljährlichen Opferfest der Ionier zahlreiche Stiere geschlachtet,1165 und dieses alte Ritual dürfte das in der Odyssee ausführlich beschriebene Rinderopfer mit dem sechstägigen opulenten Mahl an der Küste Thrinakias (Peloponnes) evoziert haben.1166 Auf die in Helike geopferten Rinder verweist übrigens die Ilias: Der von Achill tödlich getroffene Held Hippodamas „aber stöhnte, sein Leben verhauchend, dem stöhnenden Stiere gleich, den man zum Opfer schleppt für den Herrscher Helikes“.1167 Die homerische Metapher wird verständlich durch die Worte, mit denen Strabon das „pan-ionische Opferfest“ von Helike kommentiert: „Die Ionier glauben nämlich, daß dieses Opfer dann gelungen ist, wenn der Stier während des Opferns brüllt“.1168 Als die 1154 FREITAG 270. „Die Stadt liegt am Ost-Rand einer weit ausladenden Bucht. … Der der Stadt vorgelagerte Küstenabschnitt ist von zwei ins Meer reichenden Landvorsprüngen eingerahmt, die eine Bucht bilden, in der ein für antike Verhältnisse vortrefflicher Hafenplatz eingerichtet werden konnte“ (a. a. O.). 1155 PHILIPPSON/KIRSTEN III 191. 1156 PHILIPPSON/KIRSTEN III 187: „Am Strande, wo starke Quellen entspringen …“ (a. a. O.); vgl. Paus. 7,24,3. 1157 „Im geräumigen Hafen“ war „süßes Wasser nah“ (Od. 12,305 f.). 1158 PHILIPPSON/KIRSTEN III 187. Eine der Höhlen war Herakles als Orakelstätte geweiht (dies. III 188). 1159 Od. 12,318. 1160 PHILIPPSON/KIRSTEN III 186. 1161 Helike (u. a. Ilias 2,575; 8,203. Hdt. 1,145) war eine der zwölf alten Städte von Achaia und lag nach PAUSANIAS (7,24,5 ff.) 40 Stadien südöstlich von Aegion (ca. 7 km). 1162 FREITAG 263. 1163 Paus. 7,24,5. 1164 PHILIPPSON/KIRSTEN III 188 (u. a. mit Bezug auf Strab. 1,3,18). Eine derartige „Erscheinung“ hat „sich dort [im Jahre] 1861 wiederholt“ (dies. a.a.O.). 1165 Denn „über dieses Land haben in alter Zeit die Ionier geherrscht“ (Strab. 8,7,1). 1166 Od. 12,397 f. Das rituelle Schlachten und Opfern umfasst immerhin 17 Hexameter (12,353–369). 1167 Ilias 20,404 ff. In der Ilias (20,405) ist der Herrscher Helikes „der Erderschütterer“ Poseidon. 1168 Strab. 8,7,1; er verweist in diesem Zusammenhang auf die Ilias (20,403 f.).

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Gefährten des Odysseus die heiligen Rinder „nach den Gebeten geschlachtet“ und „zu lodernden Opfern“ aufbereitet hatten,1169 „zeigten ihnen die Götter sogleich Zeichen und Wunder: Häute krochen herum, an den Bratspießen brüllten die Stücke, roh und gebraten, und laut erklang es wie Stimmen von Rindern“.1170 Übrigens „gibt es in der ganzen Odyssee sonst kein [anderes] unnatürliches Vorzeichen“,1171 und so lässt sich auch dieses Menetekel deuten: Zum einen liegt ihm der ionische Aberglaube über eine gottgefällige Opferung der Rinder in Helike zugrunde. Zum anderen wird „die mit den [Erd-] Beben häufig verbundene Geräuschentwicklung bei den antiken Autoren oftmals erwähnt und häufig mit dem Brüllen eines Rindes verglichen“.1172 In der Vorstellung des Dichters dürfte Odysseus also in der von häufigen Erdbeben heimgesuchten Bucht von Aegion gelandet sein1173 und die dem Helios heiligen Rinder im benachbarten Helike angetroffen haben,1174 lange bevor der berühmte Kultort im frühen 4. Jh. v. Chr. durch ein katastrophales Erdbeben im Meer versank. Der Frevel an den heiligen Sonnenrindern durch die Gefährten des Odysseus auf der Insel Thrinakia bestimmte den weiteren Verlauf der Reise. Denn der Sonnengott Helios klagte „sofort den Unsterblichen grollend im Herzen: ‚Vater Zeus und ihr anderen seligen Götter! Strafe die Leute des Sohns des Laertes, Odysseus! Sie haben meine Rinder gewaltsam getötet’“.1175 Und Helios drohte sogar: „Zahlen sie nicht für die Rinder die gebührende Buße, gehe ich hinab in den Hades und scheine dort für die Toten“.1176 Die Drohung zeigte Wirkung: Zeus zerschmetterte kurz nach der Abfahrt von Thrinakia das Schiff des Odysseus mit seinen Blitzen. Das Inferno überlebte einzig Odysseus,1177 der daraufhin als Schiffbrüchiger ans Ende der Welt, zur Insel Ogygia verschlagen wurde, wo er angeblich sieben Jahre lang bei der Göttin Kalypso verweilen musste. Mit der Drohung des Helios, seinen Lauf zu ändern, falls der Frevel auf Thrinakia nicht gebüßt werde, knüpft der Dichter an eine ähnliche mythische Begebenheit, die ebenfalls auf dem Peloponnes spielt: Nachdem Atreus, der Vater des Agamemnon und des Menelaos, seinem Bruder Thyestes dessen gekochte Kinder zum Mahl vorgesetzt hatte, wurde er so verflucht, dass daraufhin die schockierte Sonne ihren Lauf änderte!1178 Festzuhalten bleibt, dass Odysseus in der Thrinakia-Geschichte an der Nordküste des Peloponnes landet, und zwar in der Hafenbucht von Aegion. Der Seeweg zwischen Aegion und der großen westgriechischen Insel Kephallenia, die in der Irrfahrterzäh1169 Od. 12,359 u. 362. 1170 Od. 12,394 ff. In Helike sendet Poseidon „bei heftigen Erdbeben“ v. a. „unterirdisches Sturmgetöse“ und „manche anderen Vorzeichen“ (Paus. 6,24,8 f.). 1171 MEULI, Odyssee 45. 1172 WALDHERR (53, Anm. 38) mit antiken Belegen. Der Vergleich des Erdbebengeräusches mit „dem Brüllen eines Stieres“ findet sich „in der antiken Literatur seit Aristoteles toposhaft immer wieder“; so wurde der Erderschütterer oft als Stier dargestellt (180; vgl. 221). 1173 Aegion wurde „öfters von Erdbeben schwer betroffen“ und im Jahr „1817 durch Erdbeben fast vernichtet“ (PHILIPPSON/KIRSTEN III 187). 1174 Die Helios-Rinder weideten „nicht weit vom dunklen Bug des Schiffes“ (Od. 12,353 f.). 1175 Od. 12,376 ff. – So machte Helios „zunichte den Tag ihrer Heimkehr“ (Od. 1,9). 1176 Od. 12,382 f. 1177 Od. 12,403–425. 1178 Aischyl. Ag. 1583 ff. Sen. Thy. 682 ff., 776 ff. Hyg. fab. 258.

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lung unter dem Pseudonym Aiaia erscheint, war mit einem schnellen Schiff durchaus innerhalb eines Tages zu bewältigen, wie in der Odyssee beschrieben. Übrigens verfügte schon „das mykenische Aigion über eine regionale maritime Ausstrahlung … zu den Ionischen Inseln Ithaka und Kephallenia“,1179 also zu jenen Eilanden, die die homerischen Epen als Herrschaftsbereich des Odysseus ausweisen.1180 Die Erzählung über die eintägige Fahrt von Aiaia zu den Heliosrindern auf Thrinakia ähnelt gar einem Periplous, der alle nennenswerten Gefahren und bedeutenden Landmarken auflistet, die bei der Fahrt vom Ionischen Meer zum Golf von Korinth ins Auge fallen und zu beachten sind: Zuerst die große Insel Kephallenia (Aiaia), die als „westlicher Eckpfeiler Griechenlands“ gilt1181 und das westgriechische Binnenmeer vom offenen Ionischen Meer abschirmt, dann die weithin sichtbare Insel Artemita (Sirenen-Insel), die vor der Acheloos-Mündung liegt und den breiten Eingang des Golfs von Patras markiert, anschließend die beiden grandiosen Pförtnerberge Klokova und Varassova (Planktai) mit der Meerenge von Rhion (Enge von Skylla und Charybdis), die den Eingang zum Golf von Korinth bildet, und schließlich die Bucht von Aegion (die Hafenbucht von Thrinakia), die der beste Naturhafen an der nordpeloponnesischen Küste ist.1182 2.3.5 Die mysteriösen Hinterwäldler In der Odysseeforschung wurde bislang kaum erörtert, dass die Ereignisse auf Thrinakia, soweit sie die Person des Odysseus betreffen, ausgesprochen merkwürdig sind:1183 Odysseus wurde sowohl von Teiresias als auch von Kirke ausdrücklich davor gewarnt, bei den heiligen Herden des Helios zu landen, weil dies zur Katastrophe führen würde.1184 Dass die Mannschaft des Odysseus dennoch gegen Ende der langen Tagesetappe, auf der viel gerudert werden musste und Verluste an Menschenleben zu beklagen waren,1185 physisch und psychisch erschöpft war und die Landung in der nächst besten Bucht hinter der Meerenge von Skylla und Charybdis erzwang,1186 ist immerhin verständlich. Nicht plausibel erscheint dagegen, dass sich Odysseus von seiner Mannschaft entfernte und in die Berge wanderte,1187 obwohl ihm bewusst war, dass die heiligen Rinder durch seine hungrige Mannschaft im höchsten Grade gefährdet waren. Deshalb hatte Odysseus sei-

1179 1180 1181 1182 1183 1184 1185 1186 1187

FREITAG 268, mit Belegen. Ilias 2,631 ff. Od 9,19 ff. PARTSCH, Kephallenia 23. PHILIPPSON/KIRSTEN III 191. So untersuchte z. B. schon Adolf KIRCHHOFF (292–304) detailliert und tiefgründig die Thrinakia-Episode, ohne jedoch das inhaltliche Hauptproblem aufzuwerfen, ob das Fortgehen des Odysseus von seinen Leuten, trotz der abzusehenden Gefahren, hinreichend motiviert ist. Od. 11,107 ff.; 12,127 ff., 266 ff. Od. 12,144–307 (bes.147, 171,214 f., 245 f.). Od. 12,281 ff. „Da ich allein bin … könnt ihr ja freilich mich zwingen“, sagt Odysseus (Od. 12,297). Od. 12,333 ff.

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ne Leute sogar darauf vereidigt, die Rinder des Helios nicht anzutasten,1188 und danach „entschwand er den Gefährten beim Gang durch die Insel“.1189 So drängt sich die Frage auf, warum Odysseus, trotz der äußerst kritischen Situation, seine Gefährten verließ? Als Begründung hören wir von ihm, er sei in die Berge gewandert, „um zu beten“ und um von den Göttern den Spruch für die Heimfahrt zu erhalten.1190 Darüber räsonierte Gregor Wilhelm Nitzsch, es sei doch merkwürdig, dass „Odysseus den Act seines Betens vor den Gefährten verbergen oder doch unbeobachtet verrichten will. Weshalb dies?“1191 Ja, selbst der Wunsch nach ruhigem Gebet erklärt nicht, weshalb er sich so weit von seinen Gefährten entfernte, dass er den Rinderfrevel weder bemerkte noch rechtzeitig eingreifen konnte. Also, „es muss ein bestimmtes Andere im Bewusstsein der Zuhörer des Dichters vorhanden gewesen sein, was … als Motiv hinzugedacht wurde. Denn hatte das Weggehen gleich eine beabsichtigte Folge in der Handlung des Gedichts, so musste es doch auch an sich motiviert sein“.1192 Die tagelange Abwesenheit des Odysseus von seinen Gefährten und die dadurch hervorgerufene Katastrophe ist in der vorliegenden Fassung der Odyssee also nicht hinreichend motiviert, und folglich drängt sich die Vermutung auf, dass Odysseus in einer älteren Fassung der Irrfahrtgeschichte eine wichtige Mission an einem entlegenen Kultort des Peloponnes durchzuführen hatte. Als er danach aus den Bergen zurückkehrte, waren die Rinder gehäutet, geschlachtet, geopfert1193 und während eines sechstägigen Festmahls von den Gefährten verzehrt.1194 Odysseus hatte nur noch das Nachsehen: „Als ich aber hinunter kam an das Schiff und zum Meere, trat ich zu jedem und schalt, wie sie kamen. Doch war es nicht möglich irgendein Mittel zu finden; die Rinder blieben gestorben“.1195 Und so nahm das prophezeite Unglück seinen Lauf: Unmittelbar nach dem Aufbruch von Thrinakia wurden die Gefährten vernichtet und der schiffbrüchige Odysseus sieben lange Jahre auf ein entlegenes Eiland verbannt. Wenn der Handlungsablauf glaubwürdig sein soll, musste Odysseus für seine Bergwanderung, die er allein unternahm,1196 einen triftigen Grund gehabt haben, der in der vorliegenden Thrinakia-Geschichte jedoch nicht deutlich hervortritt. Andererseits wird das Motiv nicht unterschlagen: Als Odysseus zuvor die Meerenge passiert hatte und an der Küste von Thrinakia entlangfuhr, er sich also schon im Golf von Korinth nahe der peloponnesischen Küste befand, „da klang mir der Ausspruch im Gemüte, den mir der Thebaner Teiresias, jener erblindete Seher,“ gegeben.1197 Im Spruch des Sehers Teiresisas wurde Odysseus zweierlei aufgetragen, nämlich erstens, die an der Küste Thrinakias

1188 1189 1190 1191 1192 1193 1194 1195 1196 1197

Od. 12,298 ff. Od. 12,335. Od. 12,333 f. NITZSCH III 402. NITZSCH III 402. Od. 12,352 ff. Od. 12,397 f. Od. 12,391 ff. Od. 12,333 ff. Od. 12,266 f.

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weidenden Heliosrinder unbedingt zu meiden,1198 und zweitens, sich zu einem binnenländischen Volk zu begeben und dort dem Poseidon zu opfern: „Brich auf und nimm in die Hände ein handliches Ruder, bis du zu jenen gelangst, die nichts mehr wissen vom Meere, Menschen, die Salz nicht genießen, auch nicht mit den Speisen, die also gar nichts wissen von Schiffen mit rot gestrichenen Seiten, nichts von handlichen Rudern, die Flügel den Schiffen verleihen. Dafür gelte als deutliches Zeichen: Trifft dich endlich ein anderer Wanderer und sagt dir, du trügest wohl eine Schaufel zum Worfeln mit dir auf der glänzenden Schulter, dann verstaue du fest im Boden das handliche Ruder! Schöne Opfer mußt du dem Herrscher Poseidon dann bringen, Schaf und Stier und ein männliches Zuchtschwein. Ist es geschehen, dann kehre heim und opfere heilige Hekatomben allen unsterblichen Göttern“.1199 Über den geographischen Ort, zu dem sich Odysseus begeben sollte und an dem die mysteriösen Binnenländer lebten, „die nichts mehr wissen vom Meere“, wurde viel spekuliert,1200 obwohl die Ilias den entscheidenden Hinweis bietet: So stellte der griechische Heerführer Agamemnon zahlreiche Schiffe, um die Truppen aus Arkadien nach Troja zu transportieren, weil „die Männer Arkadiens“ keine Schiffe besaßen und „nichts von Meeresgeschäften wußten“.1201 Denn die Arkader siedeln im Zentrum des Peloponnes, und „das antike Arkadien war die einzige Großlandschaft Griechenlands, die nirgends das Meer berührte“.1202 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass im frühen Altertum „in Arkadien überall der Poseidoncult in voller Blüte“ stand,1203 da sich das Wirken des Gottes „in diesen innern Thälern und Bergen durch viele merkwürdige Erscheinungen offenbarte, durch tiefe Höhlungen und unterirdische Wasserbecken, in denen die Flüsse bald verschwanden, bald wieder hervortraten, ganz besonders in der Gegend von Pheneos und Stymphalos“.1204 Arkadien ist ausgesprochen gebirgig, weshalb die arkadische Bergbevölkerung noch bis ins 20. Jh. hinein „in ihrer bescheidenen Zurückgezogenheit“ lebte, „von jedem Verkehr entlegen“.1205 Zudem sind die Binnenebenen des Arkadischen Hochlandes „infolge ihrer Höhenlage mittelmeerischem Klima und Pflanzenwuchs entzogen. Arkadien ist eine große Insel des Höhenklimas, das dem mitteleuropäischen nahesteht, inmitten der mediterran-warmen Randlandschaften des Peloponnes“.1206 Die Landschaft Arkadien 1198 Od. 11,106 ff. 1199 Od. 11,121 ff. Nahezu wörtlich wiederholt Odysseus die Verse im 23. Gesang (266 ff.). 1200 Od. 11,122. – Oft wird angenommen, Odysseus sei nach Epiros gewandert (vgl. 14,327 ff.): „Odysseus soll ins Binnenland gehen“ und „seinen Cultus auch bei den ἠπειρῶται begründen, heisst es in den Scholien und bei Eustathius zu λ 121. 130“ (MEYER, Odysseusmythos 257). Deshalb nahmen viele an, wie Otto SEECK (298): „Das Festland, welchem Odysseus von Ithaka aus den Poseidonkult bringen soll, kann eben nur das epirotische sein“. 1201 Ilias 2,611–614. Agamemnon stellte 60 Schiffe zum Transport der arkadischen Soldaten (Ilias 2,610). 1202 PHILIPPSON/KIRSTEN III 200. – „So giebt es inmitten der griechischen Welt ein Gebiet, das alle Bedingungen [des Teiresias-Orakels] erfüllt, da es nirgends ans Meer reicht: das ist Arkadien“ (MEYER, Odysseusmythos 263). 1203 MEYER, Odysseusmythos 263. 1204 PRELLER I 358. 1205 PHILIPPSON/KIRSTEN III 213. Damals war „kein Weg von mehr als lokaler Bedeutung“. 1206 PHILIPPSON/KIRSTEN III 200.

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bildet also „eine Einheit infolge ihrer zentralen Lage im Peloponnes, ihrer relativen Abgeschlossenheit gegen außen und ihrer Höhenlage“.1207 Aufgrund dieser geographischen Isolation „gehörte Arkadien im Altertum zu denjenigen Gegenden Griechenlands, die von den großen Wanderungen nicht betroffen wurden und in denen das frühgriechische Volkstum im wesentlichen weiterleben konnte. Die Arkader galten als ‚Pelasger’“, und „der alte ‚äolische‘ Dialekt und altertümliche Sitten lebten hier fort“.1208 So war das arkadische Hochland „eine Rückzugsfeste, wo sich altertümliche Stämme und Kulturen lange erhalten konnten“, und „in der rauheren Gebirgsluft, in den Tannenwäldern, an den kühlen Bergquellen und rauschenden Bächen lebten und leben kräftigere und einfachere Menschen“, resümiert noch Mitte des 20. Jahrhunderts der Geograph Alfred Philippson.1209 Die Arkader, die schon zu homerischer Zeit als weltabgeschiedene „Kleinbauern und Hirten“ ein pastorales Leben führten, und die „noch im späteren Altertum als rohe, beschränkte, altväterische Menschen“ galten, die „zurückgeblieben in der höheren Kultur“ waren,1210 entsprechen also in jeder Hinsicht den binnenländischen ‚Hinterwäldlern’, zu denen der Seher Teiresias den Odysseus schickte, um sich mit dem Gott Poseidon zu versöhnen. Und das glaubten offensichtlich die Arkader selbst, denn die Stadt Mantineia prägte in der klassischen Zeit des Altertums eine Münze, „die den Odysseus mit dem Ruder zeigt“.1211 Jedoch gilt es zu bedenken, dass der Odysseus-Kult nachweislich von Pheneos aus in die weiter südlich liegende Stadt Mantineia verlagert wurde.1212 Die höchsten und rauhesten Gebirgsregionen Arkadiens erstrecken sich im Norden des Peloponnes und treten nahe an den Golf von Korinth heran. „Der Gipfel der Ziria (2.374 m) ist nur 21 km, der Mavron Oros (1.759 m) nur 8 km von der Küste entfernt; das 1.208 m hohe Plateau Vrostina hat nur 4 km Abstand vom Meere (also Böschung 1:3,5)“. Zu nennen ist auch der 2.338 m hohe Gipfel des Gebirgsmassivs Chelmos, der ebenfalls nur 21 km vom korinthischen Golf entfernt liegt, und so kann man „in einem Tagesmarsch aus der alpinen in die subtropische Region gelangen“,1213 d. h. von den Berggipfeln Arkadiens an die warme Südküste des Golfes von Korinth. Der Chelmos und die Ziria, die im Altertum der berühmte Berg des Hermes namens Kyllene war,1214 sind die beiden höchsten Gebirgsstöcke Arkadiens, von denen jeder mehrere Gipfel um

1207 PHILIPPSON/KIRSTEN III 294. Es war noch in der Neuzeit „ein ‚verschlossenes‘ Gebiet“ (dies. III 296). 1208 PHILIPPSON/KIRSTEN III 297. Angeblich lebten ‚die‘ Urmenschen in Arkadien (Apollod. 3,96). 1209 PHILIPPSON/KIRSTEN III 200. Arkadien wurde seit dem Altertum „als Land des Wohlseins und des Frohsinns naiver unverdorbener Bauern und Hirten gefeiert“ (dies. III 298). 1210 PHILIPPSON/KIRSTEN III 297. So haftete „den Arkadern immer etwas Primitives an“ (dies. III 298). 1211 WILAMOWITZ, Heimkehr 187: „Eine Münze von Mantineia, die den Odysseus mit dem Ruder zeigt (Head doctr. num. 449) beweist, daß man dort um 370 auf Odysseus Beschlag legen wollte“. „Es ist naiv, diesen Anspruch ernst zu nehmen“ (SCHMID/STÄHLIN 78,4). 1212 „Von Pheneos kamen alle diese [kultischen] Dienste nach dessen südlicher Nachbarstadt Mantineia. Wahrscheinlich hier wurde Odysseus, der auch auf den Münzen der Stadt erscheint, und dessen Gattin Penelope hier begraben sein sollte, Bruder der Kallisto“ (GRUPPE 119; mit antiken Belegen). 1213 PHILIPPSON/KIRSTEN III 166. Am Chelmos entspringt die Styx (vgl. Od. 5,185; 10,514). 1214 Ilias 2,603. Od. 24,1. Hom. h. 4,2, 142, 228, 304, 318, 337, 387, 408; 18,1; 19,31.

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und über 2.000 m Höhe besitzt. Diese „im Frühjahr und Vorsommer … noch Schnee tragenden Hochgebirge“ mit ihren „tiefen steilrandigen Schluchten, den jähen Felsmauern und Tafelgebirgen … machen die Landschaft am Südufer des Golfes von Korinth zu der wildesten und pittoreskesten des Peloponnes“.1215 „In den beiden isolierten, mächtigen Hochgebirgsmassen des Chelmos und der Ziria“, die „im Angesicht des Korinthischen Golfes“ aufragen,1216 nimmt „ein sonderbares Gebiet eine selbständige Stellung ein: das geschlossene, eines offenen Abflusses entbehrende Beckenland [Nord-] Ost-Arkadien. Aus den 600–700 Meter hoch liegenden Ebenen, deren flacher Boden innerhalb eines steilen Bergrahmens leicht zur Versumpfung neigt, entweichen die Gewässer nur unterirdisch durch Schlürflöcher (sog. Katavothren)“.1217 Hervorzuheben sind die beiden großen Beckenlandschaften von Pheneos und Stymphalos.1218 Während der schmale, 17 km lange Talgrund von Stymphalos, in dem die Heraklessage von den Stymphalischen Vögeln spielt,1219 sich um die Südflanke des Ziria-Gebirges schmiegt,1220 ist das ca. 14 km lange, ovale Becken von Pheneos zwischen den Gebirgsstöcken Chelmos und Ziria eingebettet.1221 Erwähnt sei, dass im schluchtenreichen Gebirge „in der Gegend von Pheneos“ der Unterweltsfluss Styx rauschte,1222 bei dem in den homerischen Epen selbst die Götter schwörten.1223 Die Beckenlandschaften von Pheneos und Stymphalos bezeichnet man als „das geschlossene Arkadien“,1224 da sie von der Außenwelt nur über hohe Gebirgspässe zu erreichen und somit noch unzugänglicher als die übrigen Täler Arkadiens sind. Näher am Golf von Korinth liegt das nördlichere der beiden Täler, nämlich die Hochebene von Pheneos,1225 die – von der Bucht von Aegion aus betrachtet, an der Odysseus mit seinen Gefährten angelandet war – vor dem Tal von Stymphalos liegt und über eine knapp 1.200 m hohe Passhöhe zu erreichen ist.1226 Das Becken von Pheneos wies seit dem Alter-

1215 PHILIPPSON/KIRSTEN III 166. 1216 PHILIPPSON/KIRSTEN III 295. Die Gebirge sind bis in den Juni hinein schneebedeckt (dies. III 206, 232). 1217 PARTSCH, Pelops 112. 1218 Pheneos und Stymphalos nennt schon der homerische Schiffskatalog (Ilias 2,605, 608). 1219 Apollod. 2,5; 6,92 f. Paus. 8,4,6. 1220 Die Stymphalos-Ebene ist „kein Becken, sondern eine Talebene“ (PHILIPPSON/KIRSTEN III 232). 1221 „Die Berge ringsum, die steil“ zum Pheneos-Becken „abfallen, sind von dunklen Tannenwaldungen bedeckt“, und „der mächtige Dom der Ziria [2374 m], der zackige Felsgrat der Durduvana [2109 m] im NW [sic.: im W; im NW: Chelmos mit 2338] geben den Hintergrund dieses Landschaftsbildes ab, in dem sich das Großartige mit dem lieblichen paart“ (PHILIPPSON/KIRSTEN III 226). 1222 PRELLER I 29: „Wie finster und schrecklich man sich aber jene Quelle der Styx und ihre Wohnung dachte, das lehrt uns am besten deren Uebertragung auf die bekannte Schlucht bei Nonakris in der Gegend von Pheneos, wo man in historischer Zeit die Styx zu suchen pflegte“. 1223 Ilias 2,755; 8,369; 14,271; 15,37. Od. 5,185; 10,514. 1224 „Die Beckenreihe wird gewöhnlich als das ‚geschlossene’, die Gebirge als das ‚offene‘ Arkadien bezeichnet; diese Benennung hat aber nur einen hydrographischen Sinn“ (PHILIPPSON/KIRSTEN III 296). 1225 Nach antiker Vorstellung lag Pheneos nicht weit vom Meer, wovon die Myrtilos-Sage zeugt: „Das Grab des Myrtilos war bei Phenos, wo er an Land gespült worden sein soll“ (GEISAU, Myrtilos 1526,42 f.; vgl. Paus. 9,14,10). In Olympia stand nur der Kenotaph des Myrtilos (Paus. 6,20,17). Laut Ilias (2,604 f.) lag nahe Pheneos das das Grab des Aipytos. 1226 Pheneos erreicht man über „eine Paßhöhe von 1181 m“(PHILIPPSON/KIRSTEN III 201).

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tum einen mehrere Quadratkilometer großen, inzwischen trockengelegten See auf,1227 der von ganzjährig fließenden Gebirgsbächen und einem knapp 20 km langen Flüsschen gespeist wurde und durch zwei Katavothren einen natürlichen unterirdischen Ablauf besaß.1228 Auf der weitläufigen und gut bewässerten Beckenebene wird und wurde v. a. Getreide angebaut, während an den Hanglagen die Weidewirtschaft vorherrschte.1229 Obwohl die völlig plane Beckenlandschaft dank fetter Böden,1230 des Wasserreichtums und der südlichen Sonne sehr fruchtbar ist, „sind Südfrüchte bei der hohen Lage natürlich gänzlich ausgeschlossen“.1231 Das von dunklen Tannenwäldern umrahmte Becken von Pheneos1232 mit seinen knapp ein Dutzend Dörfern1233 war bis in die Neuzeit hinein eine eigene Welt, die als hervorragende Kulisse für den Spruch des Sehers Teiresias taugt, Odysseus möge zu jenen Menschen gehen, die weder das Meer noch Schiffe und Ruder kennen. Den Bewohnern dieses Binnenlandes wäre das Ruder, das Odysseus auf der Schulter tragen sollte, wohl tatsächlich als ein Gerät erschienen, mit dem man Getreide worfelte (sog. Worfschaufel),1234 denn, so muss man fragen, woher sollten die vorzeitlichen Bauern und Hirten von Pheneos überhaupt ein Ruder gekannt haben? Sie sahen in ihrem Lebensraum noch nicht einmal Oberflächengewässer, die in Richtung Meer abfließen, und sie kannten auch keine (Fischer-) Boote, da selbst in ihrem großen See nie Fische existierten!1235 Als Bewohner der arkadischen Beckenlandschaft hatten die Pheneaten keinerlei maritimen Bezug, obwohl sie mitten in Griechenland lebten. Denn „schwer lastete auf Arkadien der Abschluß des Landes vom Meere; es war die einzige Großlandschaft Griechenlands, die keinen Zugang zu dem für die Griechen unentbehrlichen Seeverkehr hatte“, und deshalb „konnten sich die Arkader an der großen griechischen Kolonisation nicht beteiligen“.1236 Was für die Arkader des Altertums im Allgemeinen zutraf, das galt für die Bewohner des „eng verschlossenen Beckens“ von Pheneos1237 im speziellen, 1227 „Das Becken ist besonders interessant durch den periodischen See, den es zeitweise enthält. Seit Beginn der geschichtlichen Zeit wechseln Perioden, in denen die Ebene fast ganz trocken liegt, mit solchen, in denen sie von einem mehr oder weniger ausgedehnten See eingenommen wird“ (PHILIPPSON/KIRSTEN III 224). 1228 PHILIPPSON/KIRSTEN III 227 f. Der Abfluss tritt als Ladon (größter Nebenfluss des Alpheios) zu Tage. Das Becken von Pheneos, dessen Katavothren am Ost- und Südwestrand liegen, „nimmt außer dem Phoniatikos kleinere Bäche aus den umgebenden Gebirgen auf “ (dies. III 224). 1229 PHILIPPSON/KIRSTEN III 296. Sogar auf den Hochplateaus sieht man „Tannenwald mit eingesprengten Getreidefeldern“ (dies. III 171). 1230 Das Becken ist „sehr ergiebig, mit Getreide … bestellt, und an den Wegrainen wuchs das Gras in einer Üppigkeit, wie ich es sonst in Griechenland nicht gesehen habe“ (PHILIPPSON/KIRSTEN III 226). 1231 PHILIPPSON/KIRSTEN III 213. Hier gedeihen „unsere heimischen Obstsorten“ (a. a. O.). 1232 Vor Schwarzkiefern und Eichen „überwiegen die Tannen im eigentlichen Arkadien“ (PHILIPPSON/ KIRSTEN III 300); sie „steigen nicht unter 700 m hinab, aber hinauf bis nahezu 2000 m“ (dies. III 213). 1233 Das Becken weist (von Nord nach Süd) folgende Orte auf: Steno, Pheneos, Goura, Panorama, Archea Pheneos, Masino, Mosia, Amigdalies, Achladies, Mati; zudem zwei einzeln liegende Klöster. 1234 Die Worfschaufel (auch Hachelverderber genannt) wurde zum Reinigen des Getreides benutzt, nämlich zur Trennung von Körnern und Spreu. Vgl. Ilias 5,499 ff. 1235 PHILIPPSON/KIRSTEN III 226. Der See lief seit prähistorischen Zeiten zuweilen leer. 1236 PHILIPPSON/KIRSTEN III 297. 1237 PRELLER I 166.

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und so hätte Odysseus zweifellos dort den Menschen begegnen können, „die nichts vom Meer“ wissen und schon gar nichts „von Schiffen mit rot gestrichenen Seiten“ und „handlichen Rudern“.1238 So könnte es als Fingerzeig zu verstehen sein, dass die Vorstellung Arkadiens im homerischen Schiffskatalog, die erstaunlicherweise mit Pheneos beginnt,1239 mit den Worten endet: die Arkader „wußten ja nichts von Meeresgeschäften“. Die antike Stadt Pheneos, die „in der Geschichte keine große Rolle gespielt hat“,1240 lag am Nordwestrand des Beckens, wo ein sich über die Talebene erhebender, 60 m hoher Hügel die Akropolis trug. „Die Unterstadt breitete sich in der Ebene aus. Die Stadtmauer aus dem 4. Jahrh. v. Chr. ist noch zu sehen“.1241 Bekannt war der Ort im Altertum aufgrund der Gräber der mythischen Heroen Myrtilos und Iphikles,1242 sowie der hier hervorzuhebenden Nachricht von Pausanias, der kephallenische König Odysseus sei in Pheneos gewesen!1243 Über „die Quelle der pheneatischen Odysseus-Legende“ wurde viel gerätselt1244 und insbesondere gestritten, weil mancher namhafte Gelehrte folgerte, Odysseus sei ursprünglich eine arkadische Sagengestalt gewesen.1245 Wenn allerdings, wie in der vorliegenden Studie dargelegt, Pheneos der vom Seher Teiresias geweissagte Ort ist, an dem sich Odysseus von der Schuld gegen Poseidon entsühnen musste, die er durch die Blendung des Poseidon-Sohnes Polyphem auf sich geladen hatte,1246 dann wird der lokalmythologische Sachverhalt verständlich. Hier also hatte, dem Mythos zufolge, Odysseus sein Ruder als „ein Zeichen der Ehre des Poseidon“ gesetzt.1247 Im klassischen Altertum wusste man also noch, dass sich der Spruch des Teiresias auf Arkadien bezog,1248 was die bereits erwähnte arkadische Münze aus der Stadt Mantineia indiziert, die Odysseus mit dem Ruder zeigt. Jedoch war das Ziel des Odysseus 1238 Od. 11,122–125. 1239 Arkadien wird in den Versen Ilias 2,603–614 vorgestellt, die wie folgt beginnen: „Die in Arkadia wohnten, am Hang des kyllenischen Berges, bei des Aipytos’ Grab, wo Männer pflegen den Faustkampf, Pheneos Fluren bestellten …“. In diesem Kontext sei die Notiz von Martin Gottfried HERMANN (317) erwähnt: „Nun muß Ulysses [Odysseus] tief in das Land hinein gewesen seyn, wo wohl ein Grabmal, neben dem ein Ruder stak, war, das man dem Ulysses zuschrieb“. 1240 PHILIPPSON/KIRSTEN III 227. „Die letzten Münzen stammen aus der Zeit Caracallas“ (a. a. O.). 1241 PHILIPPSON/KIRSTEN III 216. 1242 Paus. 8,14,10 f. 1243 Paus. 8,14,5–7. Schon PAUSANIAS verstand diese Überlieferung nicht mehr: Odysseus habe in Pheneos die entlaufenen Stuten des Iphitos wiedergefunden (vgl. Od. 21,22). „Die Abhängigkeit [der Pausanias-Stelle von der Od. 21,22] verrät sich noch im Wortlaut“ (BÖLTE, Pheneos 1979,11 ff.). 1244 BÖLTE, Pheneos 1979,50. – Odysseus soll in Pheneos das Heiligtum der Artemis-Heurippa gestiftet haben (Paus. 8,14,5). 1245 „Diese Angaben [des Pausanias] werden von den Gelehrten [Ed. Meyer, Robert, Bethe u. a.] hoch eingeschätzt, die Arkadien für die ‚Heimat‘ des Odysseus halten“ (BÖLTE, Pheneos 1978,43 ff.). – Nebenbei sei erwähnt, dass THEOPHRAST (h. plant. 9,15,7) „das Moly [die Pflanze, die Hermes dem Odysseus gab: Od. 10,302 ff.] in der Umgegend von Pheneos und in der Kyllene sei, wie man sagt, dem ähnlich, von welchem Homer spricht“ (SCHMIEDEBERG 26). 1246 Od. 9,375–396; 528–536. 1247 KLAUSEN 43. 1248 MEYER, Odysseusmythos 263 ff. – Schon „Eduard Meyer hat längst festgestellt, daß eine ganze Reihe von kultischen Reminiszenzen Odysseus und Penelope nach Arkadien verweisen“ (BURKERT 151). So sei erwähnt, dass „die arkadische Penelope später allgemein für identisch mit der von Ithaka gehalten“ wurde (PRELLER Ib 463).

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nicht das ostarkadische Mantineia gewesen, sondern das nordarkadische Pheneos, wie vor allem die Worte des Pausanias über den Athena-Tempel von Pheneos belegen: „Ein Poseidon aus Bronze steht da mit dem Beinamen Hippios; die Poseidonstatue habe Odysseus geweiht, sagten sie [die Pheneaten]“.1249 Auch wenn die bronzene Poseidonstatue ein anachronistisches Requisit darstellt, weil Bronzestatuen erst in nach-achaiischer Zeit gegossen wurden, so ist doch diese dem Odysseus zugeschriebene Gabe ein wichtiges Indiz für die im Epos vom Seher Teiresias formulierte Forderung, dass Odysseus wohl in Pheneos „dem Herrscher Poseidon schöne Opfer“ bringen möge.1250 „Das Orakel des Tiresias weist also den Odysseus an, den arkadischen Poseidoncult zu begründen“,1251 und so „wird uns Odysseus ausdrücklich als Begründer des Cultus des Poseidon ἵππος in Pheneos genannt“.1252 „Ebenso soll er den später verfallenen Tempel auf dem Berge Boreion in Asea an den Quellen des Alpheios und Eurotas nach der Rückkehr von Ilion der Athene Σώτειρα und dem Poseidon errichtet haben“.1253 Und, wie schon der Altphilologe Alfred Gercke hervorhob, galt im Altertum „Odysseus nur als der, der diese Kulte eingeführt oder diese Tempel eingerichtet hatte. Sicher ist Odysseus in ganz Arkadien älter und ursprünglicher als der angeblich von ihm eingeführte Poseidonkult“; aber das war den Griechen der Klassischen Zeit kaum noch bewusst, und so „sind seine Heiligtümer in Arkadien meist verschollen“.1254 Nachdem Teiresias dem Odysseus den göttlichen Auftrag mitgeteilt hatte, schilderte ihm Kirke die Stationen der Seereise von Aiaia bis Thrinakia mit allen Gefahren.1255 Da sie ihm keine weiteren Stationen nannte, ist zu folgern, dass die Küste von Thrinakia (Peloponnes) der Endpunkt der Reise war. Und dies ist auch den Angaben über die Fahrtrichtungen zu entnehmen: Von Aiaia (Kephallenia) bis zur Hafenbucht auf Thrinakia (Bucht von Aegion) war Odysseus mit östlichem Kurs gelangt,1256 und mit Westkurs fuhr er von Thrinakia ab. Denn kurz nachdem das Schiff abgelegt hatte, sandte Zeus einen „plötzlichen, pfeifenden Westwind“, durch den „der Mast rückwarts stürzte“ und „den Steuermann hinten am Heck“ erschlug.1257 Folglich zeigte der Bug des Schiffes, der in die beabsichtigte Fahrtrichtung wies, nach Westen. Odysseus, der von Westen nach 1249 Paus. 8,14,5. „Und die Pheneaten zeigten mir auch eine Inschrift auf der Basis des Standbildes, anscheinend eine Anweisung des Odysseus an die Hirten der Pferde. Das mag uns noch gemäß der Erzählung der Pheneaten wahrscheinlich vorkommen, daß aber Odysseus die Bronzestatue geweiht haben soll, vermag ich ihnen nicht zu glauben“ (Paus. 8,14,6 f.). 1250 Od. 11,130. 1251 MEYER, Odysseusmythos 264. Denn „dem Poseidon im Binnenlande ein Heiligthum zu gründen, ist die Aufgabe, die Odysseus gestellt wird“ (259). „So solle er das Ruder in die Erde stossen und dem Poseidon ein Suovetaurilienopfer bringen, d. h. ihm an dem betreffenden Ort eine Kultstätte gründen“ (Seeck 297). 1252 MEYER, Odysseusmythos 263 (mit Bezug auf Paus. VIII 14,5). 1253 MEYER, Odysseusmythos 263 (mit Bezug auf Paus. VIII 44,4). 1254 GERCKE, Telegonie 332. 1255 Od. 12,37–141. Vgl. 11,107 ff. 1256 Odysseus war aus Westen an die Küste Thrinakias gelangt, wie aus Od. 12,326 zu schließen ist. Und Jason, in dessen Kielwasser Odysseus auf dieser Etappe fährt, durchquerte die Meerenge der Skylla und Charybdis von West nach Ost (Apoll.Rhod. 4,910); vgl. Od. 12,81. 1257 Od. 12,407 ff.; 12,408: „starker Westwind“; Od. 12,426: „Westwind“.

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Thrinakia gekommen war, brach von dort also wieder in Richtung Westen auf, woraus zu schließen ist, dass die Küste von Thrinakia der Ziel- und Wendepunkt der Reise war. Bislang erschien es merkwürdig, dass Odysseus von der Hafenbucht auf Thrinakia wieder umkehrte, obwohl er sie während der Hinfahrt meiden und somit noch weiter ostwärts fahren sollte. Aber das indiziert keineswegs einen Widerspruch, wie man vermuten könnte. Denn wenn die Mannschaft nicht gemeutert hätte, wäre Odysseus nur noch 25 km Kilometer weiter ostwärts entlang der Küste gefahren,1258 nämlich bis zur Hafenstadt Aegae, von der aus der kürzeste Fußweg ins Becken von Pheneos führte.1259 Dadurch hätte Odysseus Aegion und Helike passiert und somit seine Leute von den Heliosrindern ferngehalten, wie es der Seher Teiresias und Kirke gefordert hatten. Doch die erschöpften Gefährten erzwangen die Landung in der ersten Hafenbucht von Thrinakia, nämlich in der Bucht von Aegion, und sie wollten erst am nächsten Morgen weitersegeln, wie es der Rädelsführer Eurylochos vorgeschlagen hatte.1260 Aber die aufziehenden stürmischen „Süd- und Ostwinde“ ließen eine Weiterreise ab dem nächsten Tag nicht mehr zu,1261 und deshalb entschloss sich Odysseus nach vierwöchigem Zwangsaufenthalt, seine Mission zu Fuß zu erfüllen, zumal ein Heros wie er1262 den Saumpfad von der Küste bei Aegion bis ins arkadische Pheneos an einem Tag bewältigen konnte.1263 Das Anliegen des Odysseus, nach Pheneos zu wandern und sich dort vom Zorn des Poseidon zu entsühnen, wurde durch die ungünstigen Winde zwar nicht vereitelt, denn auch „Aigion lag an dem Ausgangspunkt von Wegesystemen, die eine Anbindung an das peloponnesische Landesinnere, vor allem nach Arkadien ermöglichten“,1264 aber infolge der unbeabsichtigten Landung in der Hafenbucht von Aegion musste der Held, als er auf göttliches Geheiß allein zu seiner Bergwanderung ins Landesinnere aufbrach, seine unzuverlässige Mannschaft bei den heiligen Rindern zurücklassen,1265 „die nicht weit vom dunklen Bug des Schiffes“ weideten.1266 Obwohl sich Odysseus der Gefahr des Rinderfrevels und der damit verbundenen schrecklichen Konsequenzen bewusst war, und deshalb zuvor noch seine Gefährten vereidigt hatte, die heiligen Rinder während seiner Abwesenheit nicht anzutasten, nahm die verkündete Katastrophe ihren Lauf. – Immerhin konnte Odysseus seine Mission auf Thrinakia erfüllen, indem er das Ruder 1258 Darum wäre Odysseus noch bis in die Nacht hinein gefahren (vgl. Od. 12,286 f.), während der Rädelsführer Eurylochos lediglich bereit war, das restliche Stück am folgenden Morgen zu fahren (12,291 ff.); jedoch setzten die widrigen Winde „im letzten Drittel der Nacht“ ein (Od. 12,312). Vgl. NITZSCH (III 388) bzgl. des Verhaltens der Gefährten des Odysseus: „Wie der Schol. zu [Od. 12,] 353 sagt, sie hätten den zur Schiffahrt dienlichen Tag unnütz verwandt“. 1259 PHILIPPSON/KIRSTEN III 169, 174. 1260 Od. 12,291 ff. 1261 Od. 12,325 f. 1262 So sagte Eurylochos kurz vor der Landung auf Thrinakia: „Unentwegter Odysseus, dein Körper kennt keine Müdigkeit, niemand gleicht dir an Kraft; es ist alles an dir wie aus Eisen“ (Od. 12,279 ff.). 1263 Die beiden unterschiedlich geführten Wege von Aigai (Aigeira) nach Pheneos und sind je ca. 42 km lang. Der Weg von Helike bzw. Aegion (wo Odysseus in der dichterischen Vorstellung landete) nach Pheneos beträgt immerhin ca. 60 km. Zu antiken Marschleistungen s. FORBIGER I 551 f. 1264 FREITAG 270, Anm. 1449. Die Wege nach Pheneos beschreiben PHILIPPSON/KIRSTEN III 168 f. 1265 Od. 12,333 ff. 1266 Od. 12,354 f.

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im Becken von Pheneos dem Erderschütterer Poseidon opferte, nachdem ihn ein Wanderer auf die vermeintliche Worfschaufel angesprochen hatte.1267 Wie die Darlegung zeigt, war das Poseidon-Opfer der ursprüngliche Inhalt der Thrinakia-Geschichte gewesen.1268 Die vorliegende Fassung der Odyssee verschweigt jedoch den Sachverhalt, denn sie erzählt nicht, wohin Odysseus in die Berge entschwunden ist, und was er dort außer „Schlaf “ und „Gebet“ genau getan hat.1269 So wird der Leser genötigt anzunehmen, Odysseus müsse nach erfolgter Heimkehr nochmals in ein ungenanntes Binnenland aufbrechen, um dem Poseidon zu opfern.1270 Und Odysseus „soll zu Poseidon’s Ehren bis dahin wandern, wo man das Ruder gar nicht kennt, und dasselbe für eine Worfschaufel ansieht“. Da die Worfschaufel, die „beim Worfeln des Getreides gebraucht wird“, jedoch ein „Karst mit drei Zacken“ ist, der dem Dreizack (Thrinax) des Poseidon entspricht, nach welchem Thrinakia, also „die Insel des Helios benannt ist“,1271 erscheint es evident, dass das homerische Thrinakia das mysteriöse Binnenland ist, wo Odysseus dem Poseidon opfern muss. Indes wurde das eigentliche Anliegen „auf Thrinakia und die Wanderung ins ferne Binnenland“ ausgeblendet.1272 Indem der Dichter der uns vorliegenden Fassung der Odyssee den Bußgang des Odysseus zu den Menschen, die weder das Meer noch Schiffe und Ruder kennen, tilgte, hat er aber einen schweren inhaltlichen Widerspruch verursacht: Nicht allein „Erich Bethe weist auf den Widersinn hin, daß Odysseus trotz des zürnenden Poseidon heimkehrt, sein Weib und Gut wiedererobert und dann erst den Gott versöhnen soll, der ihm die Heimkehr nicht gönnt. Welchen Zweck erfüllen da weitere Sühneleistungen, zumal auf sie innerhalb des epischen Gedichtes selbst gar nicht eingegangen werden kann, und sie dem Wortlaut, wonach Odysseus’ Leiden mit seiner Ankunft auf Scheria beendet sein sollen, widersprechen? Man kommt also auch von unserer Untersuchung her notwendig zu dem Schluß, daß die Odyssee in der uns vorliegenden Gestalt eine Überarbeitung ist“.1273

1267 Od. 11,127 ff. Übrigens kam Odysseus im Hochsommer nach Thrinakia, „als die langen Tage schon wieder schwanden“ (Od. 10,470) und somit das Getreide reif zum Ernten und Worfeln war. 1268 „Offenbar ist das Ruder, das Odysseus in die Erde pflanzt, nichts anderes als der balken- oder brettförmige Fetisch des Gottes, dessen Dienst er er durch sein Opfer begründet. Odysseus erscheint hier in enger Beziehung zu Poseidon“ (MEYER, Odysseusmythos 257). 1269 Od. 12,335 ff. 1270 Od. 23,248 ff. 1271 KLAUSEN 67 f. 1272 KLAUSEN 43. – „Ein größeres Loch [„im Gewebe der Odyssee und ihres Endes“] reißt die Weisung, die Teiresias Odysseus in der Unterwelt gibt“ (GRETHLEIN 255); also, „die Weisung des Teresias sprengt nicht nur den zeitlichen Rahmen der Odyssee“ (ders. 258). 1273 IRMSCHER 59 (mit Bezug auf BETHE, Homer II 129). – Ähnlich äußert sich u. a. Alfred GERCKE (Telegonie 316): „Es ist ein widersinniger Gedanke“, denn „die Absicht, den Gott zu versöhnen kommt zu spät, wenn der Verhaßte bereits allen Gefahren entronnen ist und ruhig am heimischen Herd sitzt“. Für Friedrich BLASS (256 f.) ist dieses Problem eine „Hauptfrage“ der Komposition: „Weshalb geht denn Odysseus in den Hades? Um Teiresias zu befragen, wie er nach Hause kommen könne“. Aber „was bleibt vom Zweck der Hadesfahrt?“

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2.4 Das neue Finale 2.4.1 Die Insel der einsamen Kalypso Als das Schiff des Odysseus nach dem einmonatigen Zwangsaufenthalt auf Thrinakia wieder in See stach, „da ließ über dem Schiffsraum dunkles Gewölk der Kronide sich ballen, und Finsternis stürzte herab auf die Wogen“.1274 Der plötzliche Wetterwechsel kündigte das Gottesgericht für den Frevel an den Helios-Rindern an, und kurz darauf wurde das Schiff von stürmischen Böen ergriffen.1275 Anschließend „donnerte Zeus und warf seine Blitze ins Fahrzeug. Dies ging ganz aus den Fugen, da Zeus es zerschlug mit dem Blitzstrahl“,1276 womit Zeus seine dem Helios gegebene Zusage in die Tat umsetzte, den Rinderfrevel zu rächen.1277 Während sämtliche Gefährten in der stürmischen See ertranken, gelang es Odysseus, sich an Wrackteile zu klammern, und so musste er weitere Abenteuer erdulden.1278 Der vorgelegten Lokalisierung entsprechend ereignete sich die Katastrophe im Korinthischen Golf, nahe der nordpeloponnesischen Hafenbucht von Aegion, von der aus Odysseus mit seinen Gefährten abgefahren war. Das geschilderte Wetterszenario verlief folgendermaßen: Anfangs anhaltende Winde aus „Süden“ und „Osten“,1279 die dann drehend abflauten, bis unvermittelt „stürmischer Westwind“ einsetzte,1280 gefolgt von heftig donnernden Gewittern, deren „funkelnde Blitze“ das Schiff zerstörten.1281 Der Dichter schildert einen für die Seefahrer gefährlichen Wetterverlauf, der für den Golf von Korinth signifikant ist: „Während die Einfahrt in den Golf von Korinth durch regelmässigen Wechsel lokaler Winde erleichtert wird,“ ist sein Inneres gefährdet durch „plötzlich“ hereinbrechende „Windstösse, die häufig ohne warnendes Vorzeichen von den hohen Bergen seiner Ufer“ niederfahren.1282 Vorherrschend sind die „heftigen NO- und O-Winde, die ‚Golfwinde’, die häufig während des Tages den Golf “ bestreichen; wenn sie jedoch – wie in der Odyssee geschildert – als „SO-Winde“ in Erscheinung treten „und allmählich nach SW drehen“, gibt es Sturmböen „und Gewitter zwei oder drei Tage lang“.1283 Aufgrund der zuweilen gefährlichen Strömungen und Witterungsbedingungen im Raum der Meerenge von Rhion und im westlichen Zipfel des Golfes von Korinth ereigneten sich dort während des Altertums zahlreiche Schiffbrüche, die für die Seefahrer oft tödlich endeten.1284 1274 Od. 12,405 f. 1275 Od. 12,407–413. 1276 Od. 12,415 ff. – Angemerkt sei, dass die Hafenstadt Aegion, vor deren Küste Zeus das Schiff zerstörte, „eine Stätte besonderer Zeus-Verehrung“ war (PHILIPPSON/KIRSTEN III 187). 1277 Od. 12,387 f. 1278 Od. 12,417 ff. 1279 Od. 12,325 f. 1280 Od. 12,407 f. 1281 Od. 12,415 f.; vgl. die Ankündigung Od. 12,387 f. 1282 NEUMANN/PARTSCH 141. – Der Golf von Korinth ist „rough enough to be extremely dangerous to small boats“ (PAYNE 24). „Nowhere is navigation more dangerous than in this inland bay“ (TOZER 64). 1283 PHILIPPSON/KIRSTEN III 70. „Mit Ausnahme des Sommers“ herrschen die „heftigen“ Golfwinde vor. 1284 FREITAG 103; mit Bezug auf Philostr. Ap. 5,18. Paus. 10,13,10. Polyain. 8,46. Lukian. 77,21,2.

2.4 Das neue Finale

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Gepeitscht von Sturmböen aus Südost, driftete Odysseus auf Wrackteilen den ganzen Tag und die folgende Nacht auf der stürmischen See dahin und gelangte am nächsten Morgen zur Charybdis, die in der Meerenge von Rhion gerade das Meerwasser einschlürfte.1285 Der siphonartige Abfluss des Ungeheuers war angeblich von einem weit ausladenden Feigenbaum überschattet, dessen Äste Odysseus gerade noch ergreifen konnte, bevor die Wrackteile im tiefen Wasser der Meerenge verschwanden.1286 Als Charybdis die Wrackteile am Abend wieder ausgurgelte, ließ sich der erschöpft am Baum hängende Held auf das Treibholz fallen und driftete ohne Trinkwasser und Nahrung zehn Tage und Nächte im offenen Meer, bis er vor der fernen Insel Ogygia strandete, auf der die Göttin Kalypso lebte.1287 Diese unglaubliche Geschichte vom zehntägigen Ritt des Odysseus auf einem Balken durch die stürmische See, die wir aus dem Mund des listenreichen Helden hören und die vom Freiherrn von Münchhausen stammen könnte, ist wieder ein untrügliches Indiz dafür, dass die Irrfahrterzählung bloß erfunden ist und die Zuhörer, nämlich den Adel der Phaiaken, unterhalten sollte. Dennoch liegt der angeblichen Irrfahrt ein Itinerar zugrunde, das in der geographischen Realität nachvollziehbar ist, und so konnten selbst die Ungeheuer Skylla und Charybdis als gefährliche Naturgewalten dechiffriert werden. Wie bereits dargelegt, verkörpert die amorphe Charybdis die für die antiken Seefahrer problematischen Gezeitenströme in der Meerenge von Rhion. Die Strömungen in der Meerenge sind unregelmäßig, zuweilen recht heftig und turbulent, weil im Norden der Meerenge die Bucht von Naupaktos (Lepanto) in die Küstenlinie eingreift und somit eine doppelte Meerenge formt: Die westliche Enge, die seit dem Jahr 2004 von einer faszinierenden Hängebrücke überspannt wird, bildet das Kap Rhion mit dem Kap Antirhion, und die 7 km weiter östlich gelegene Enge bildet das Kap Drepanon mit dem Kap Mornos.1288 Die weit gebogene Bucht von Naupaktos, die „ein starker Burgberg“ überragt,1289 dürfte in der dichterischen Phantasie den gigantischen Schlund der Charybdis verkörpern.1290 Odysseus, der vom Naturhafen Thrinakias, d. h. von der Bucht von Aegion aus in See gestochen war, gelangte ausdrücklich durch südliche Winde

1285 Od. 12,427 ff. – Auf eine ähnliche Abdrift verweist FREITAG (284): „In einer bei Polyainos [8,46] überlieferten Episode wird berichtet, daß ein Schiff der Oiantheier bei der Überfahrt von Helike nach Oiantheia in einen Sturm geraten war und nach dem achaiischen Rhion abgetrieben wurde“. 1286 Od. 12,432 ff. 1287 Od. 12,438 ff. – Der Inselname Ogygia weist darauf hin, dass „die Insel der Kalypso eine okeanische im allernatürlichsten Sinne ist. Und wirklich besitzen wir noch eine Stelle [Od. 6,172], wo sie ‚ogygisch‘ heißt. Ohne daß es auch nur möglich wäre, den Eigennamen zu verstehen“ (WILAMWOWITZ, Untersuchungen 16 f.). 1288 „Es ist beachtenswert, sowohl in geomorphologischer wie in Hinsicht des Seeverkehrs und der Seestrategie, daß hinter dem Eingang des Golfes von Korinth, der Enge von Rhion, zwei Vorhöfe, dann erst der eigentliche Golf folgen“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 322 f.). 1289 PHILIPPSON/KIRSTEN II 321. Die Hafenstadt war „durch ihre Lage der Schlüssel zum Eingang in den Golf von Korinth“ (OBERHUMMER, Akarnanien 82). 1290 In die Bucht mündet der Fluss Mornos (Daphnos d. A.), dessen Delta den enormen Tidenhub von bis zu 0,6 m aufweist (PHILIPPSON/KIRSTEN III 67). Der Mornos ist für die Wasserversorgung Athens inzwischen weitgehend trockengefallen.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

und die Strömung zum Schlund der Charybdis,1291 also in die Bucht von Naupaktos. Da Odysseus auf der Hinfahrt in den Golf von Korinth die Meerenge auf der Südseite passiert hatte und somit der schrecklichen Skylla begegnete, sollte er während der unfreiwilligen Rückfahrt nicht unkontrolliert durch die Meerenge treiben, sondern mit dem Südwind gezielt auf die gegenüberliegende Seite der Meerenge gelangen und somit auch das andere Ungeheuer, nämlich die Charybdis erdulden. So wurde der Südwind vom Dichter zwar topographisch korrekt, aber v. a. aus dramaturgischen Gründen eingeführt.1292 Nachdem die fürchterliche Charybdis die Wrackteile am Abend wieder ausgegurgelt hatte, passierte Odysseus, auf dem Kiel reitend, die Meerenge westwärts.1293 Daraufhin trieb er an den steilen Felsmassiven Klokova und Varassova vorbei, die den Nordosten des Golfes von Patras beherrschen und als die homerischen Plankten identifiziert wurden. An den Plankten, die Odysseus auf der Hinfahrt nicht unmittelbar passiert hatte, da er die Meerenge auf der peloponnesischen Skylla-Seite durchquerte, treiben dem Epos zufolge „nur Bretter von Schiffen und Leichen von Männern vorbei; Wogen tragen sie fort und Stürme vernichtenden Feuers“.1294 Es handelt sich wohl eine ironische Pointe, dass der Dichter seinen Helden nun schiffbrüchig, an Treibholz geklammert, die gefährlichen Plankten passieren lässt, obwohl er sie an dieser Stelle im Epos weder aktiviert noch namentlich erwähnt.1295 Nach seiner Heimkehr erzählte Odysseus jedoch, dass er die Plankten passiert und kurz zuvor „Zeus mit qualmenden Blitzen donnernd von oben das eilende Schiff ihm getroffen [habe] und alle Gefährten mit einem Schlage verkamen“.1296 Als Zeus das Schiff „mit dem Blitzstrahl zerschlug, verbreitete sich Schwefelgeruch“, fügt Odysseus hinzu,1297 und so sei auf „die kräftige Entwicklung schwefliger Dämpfe“ an der Nordküste des Golfs von Patras hingewiesen, die dort zuweilen „nach grossen, die See ungewöhnlich aufregenden Stürmen“ zu registrieren sind.1298 Trotz geographischer Reminiszensen handelt es sich bei der phantastischen Abdrift des schiffbrüchigen Odysseus von Thrinakia über den Schlund der Charybdis hinweg bis nach Ogygia keineswegs um eine glaubwürdige Seefahrergeschichte, sondern um eine Humoreske: Sei es, dass Odysseus den ganzen Tag lang „wie eine Fledermaus“ am Feigenbaum1299 über dem Schlund der Charybdis hängt und somit unfreiwillig ‚Wache 1291 Od. 12,427 ff. – Aufgrund der Luft- und Meereströmungen waren nach der Seeschlacht bei Erineos (westlich Aegion) 413 v. Chr. die Athener „in der Lage, wegen der Abdrift in den Gewässern gegnerische Schiffstrümmer zu erbeuten, bevor sie nach Naupaktos zurückkehrten“ (FREITAG 84 f.). 1292 Dagegen wertet mancher Homerforscher (u. a. WOLF, Reise 27) den Südwind als Indiz für eine nord-süd-gerichtete Verkehrsachse der Meerenge von Skylla und Charybdis. 1293 Od. 12,422 ff. 1294 Od. 12,67 f. 1295 Vgl. Od. 12,441–448. Odysseus hätte die Plankten aufgrund des schlechten Wetters und in der Nacht (12,438 f.) auch gar nicht sehen können. 1296 Od. 23,327 ff. 1297 Od. 12,417. 1298 NEUMANN/PARTSCH 312. Auch „bei unserem Besuch 1934 haben wir bei der Stadt [Aetolikon] einen starken Geruch von Schwefelwasserstoff wahrgenommen“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 352). 1299 Od. 12,432 f. „Daß der reizvollen Partie so lange von der Kritik Unrecht geschah, lag großenteils an Vers 12,432, insofern die Feige bei Homer noch nicht vorkommen durfte, während sie faktisch bereits in den

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in Naupaktos‘ hält, oder dass er die – untätigen! – Plankten ausgerechnet schiffbrüchig passiert; überdies lässt ihn der Dichter ohne Nahrung und Süßwasser zehn Tage und Nächte lang auf einem Balken über die stürmische See bis zur Insel Ogygia reiten.1300 Zwar ist die gesamte Irrfahrterzählung fiktiv, aber nun wird die Handlung aufgrund ihrer witzigen Züge vollends unglaubwürdig. Doch ungeachtet der tragikomischen Geschichte ist zu fragen, wie der Dichter die Handlung konzipiert hätte, wenn er sich hier um mehr Plausibilität bemüht hätte? Dann wäre der schiffbrüchige Odysseus entweder im Bereich der Meerenge ertrunken oder aber, wenn er schon mit den vorherrschen Golfwinden1301 tagelang weiter westwärts treiben musste,1302 vor seiner Heimatinsel Kephallenia gestrandet! Odysseus wäre folglich ohne Schiff, ohne Gefährten und elend heimgekehrt, in etwa so, wie es das von Poseidon erhörte Gebet des Kyklopen Polyphem verlangt und Teiresias prophezeit hatte.1303 Jedoch bevor Odysseus in der ursprünglichen Erzählung seine Heimat Ithaka erreichte, dürfte Poseidon das große Finale eingeläutet haben, indem er das Meer derart aufwühlte, dass Odysseus glaubte, sein Leben sei nun endgültig verloren. Halbtot rollten ihn schließlich die Wogen an die Küste seiner Heimatinsel. Dieses ebenso schaurige wie großartige Szenario, das der Dichter ausführlich in einhundert Versen schildert,1304 bietet die vorliegende Fassung der Odyssee auf der letzten Etappe, nämlich als Odysseus die Küste des rettenden Phaiakenlandes erreicht. Ursprünglich dürften die Verse jedoch der Thrinakia-Episode gefolgt sein, als sich Odysseus zwischen der Hafenbucht von Aegion und seiner westgriechischen Heimatinsel Ithaka (Kephallenia) befand.1305 Und dementsprechend endet das maritime Finale mit den Worten des Poseidon: „Jetzt hast du Übel in Fülle erlitten! Nun treibe weiter auf dem Meer herum …“; und der Dichter fügt hinzu: „Also sprach er [Poseidon] und peitschte dann ein auf die Rosse mit prächtigen Mähnen. Aegae nahm er zum Ziel, den Ort seines ruhmvollen Tempels“.1306 Diese abschließenden Verse verweisen auf den hier postulierten

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mykenischen Kuppelgräbern des Triphylischen Pylos auftritt“ (MAYER 80,1). – An der Meerenge von Rhion lag der achaiische Hafenort Erineos. „Der Name könne, so Curtius, Peloponnesos I, 458, auf wilde Feigen in der Umgebung verweisen“ (FREITAG 275, Anm. 1473). Od. 12,442–448. – Übrigens „kannte nach ihnen [den Alexandrinern] Homer zwar aus eigener Erfahrung das Reiten, schrieb es aber seinen Heroen nicht zu (Schol. O 679)“ (NIESE, Commentar 271); Homer ließ also nur den schiffbrüchigen Odysseus auf einem Balken „reiten“. „Im westlichen Teil des Golfes [von Korinth] herrschen Nordostwinde vor. Sie … nehmen an Stärke nach der Einfahrt des Golfes hin zu, von wo sie als sogenannte Golfwinde den Golf von Patras bestreichen“ (PHILIPPSON/KIRSTEN III 66). Auch auf den westgriechischen Inseln verspürt man „in den warmen Sommertagen“ diese „regelmässig wehende Ostbrise, die aus dem Golfe von Patras kommend“ westwärts weht (SALVATOR, Zante 113). Die Insel Ogygia, zu der Odysseus gelangte, liegt westlich von Ithaka (Od. 5,269 ff.). Od. 9,528 ff.; 12,114 ff. – Dazu bemerkt Gregor Wilhelm NITZSCH (III 83), „dass jenes Gottes Zorn allein jene vollständige Erfüllung nicht habe bedingen können“. Od. 5,282–381. „In dieser Situation ist ein [epischer] Seefahrer normalerweise erst dann, wenn er am Ende seiner Reise angelangt ist, der Heimkehrer also, wenn er den Fuß auf den heimatlichen Boden gesetzt hat“ (KRISCHER, Phäaken 13). Also, „seinen ursprünglichen Platz hat der Seesturm vor Ithaka“ (KRISCHER, Weblist 10). Od. 5,377–381.

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geographischen Raumbezug, denn Aegae in Achaia war die antike Nachbarstadt von Aegion und Helike.1307 Die ursprünglich wohl derart in der Heimat des Odysseus endende Irrfahrt hat jedoch der Dichter der uns vorliegenden Fassung der Odyssee erweitert, indem er Odysseus noch zur fernen Insel Ogygia und danach zum Land der Phaiaken gelangen ließ.1308 Dem Helden wurden also weitere Leiden aufgebürdet, bevor er endlich heimkehren durfte. Und da bei der erweiterten Fassung der Irrfahrt der Poseidonzorn gegen Odysseus noch für das ‚große Finale‘ vor dem Phaiakenland benötigt wurde,1309 musste der Dichter den von Teiresias geforderten Bußgang des Odysseus nach Pheneos ins Innere Arkadiens, der den Zorn des Poseidon beenden sollte und die Heimkehr gewährte, aus der Thrinakia-Geschichte tilgen. Zwar passierte Odysseus auch in der ursprünglichen Irrfahrtgeschichte die Meerenge von Skylla und Charybdis zweimal, um aus der Sackgasse des Golfs von Korinth wieder herauszukommen, aber erst in der erweiterten Fassung der Odyssee lässt der Dichter seinen Helden am Feigenbaum über dem Schlund der Charybdis vom frühen Morgen bis zum Einbruch der Nacht hängen, bevor dieser auf den Wrackteilen weiterfahren darf.1310 Für die halbtägige Verzögerung des Geschehens hat der Dichter einen triftigen Grund: Denn durch diesen ironischen Kunstgriff ließ er Odysseus im Schutz der Dunkelheit ebenso unbemerkt wie märchenhaft an dessen Heimatinsel vorbeitreiben, die dem Golf von Patras vorgelagert ist, und so driftete der Held ins offene Ionische Meer hinaus, um nach zehn Tagen und Nächten vor der einsamen Insel Ogygia zu stranden.1311 Nun drängt sich die Frage auf, an welche Insel der Dichter bei der Insel Ogygia dachte, auf der Odysseus sieben Jahre lang verbringen musste, bevor er endlich heimkehren durfte.1312 Dem Epos ist zu entnehmen, dass Ogygia von der zivilisierten Welt sehr weit entfernt1313 und „im Nabel des Meeres“ lag.1314 So benötigte Odysseus auf einem selbstgezimmerten und mit Segel ausgestatteten Floß1315 für die Rückfahrt von Ogygia 1307 Aegae (in Achaia: Strab. 8,7,4) war seit homerischer Zeit „bekannt als ein Zentrum der Poseidon-Verehrung“ (FREITAG 260; mit Bezug auf Ilias 8,203; vgl. 13,21; s. a. Hom. h. 3,32 u. 12,3). 1308 Deshalb sind auch die Verse im 9. Gesang (29–36), die auf den Aufenthalt bei Kalypso verweisen, interpoliert (s. KIRCHHOFF 216, 281 ff.; die Verse Od. 7,251–258 schied schon Aristarch aus), und dass Odysseus die Irrfahrtgeschichte „bei den Phaeaken erzählt, ist ein Zug, der entschieden nicht der Sage als solcher angehört“ (KIRCHHOFF 275). 1309 Od. 5,282–381. 1310 Od. 12,438 ff. 1311 Od. 12,447 f.; 7,252 ff. 1312 Od. 7,259 ff. – „Denn all die späteren, weiteren Angaben, sie [Kalypso] sei Okeanide, Nereide oder Hesperide gewesen, ihre Insel [Ogygia] sei in Nymphaia oder Gaudos oder vor dem lakonischen Vorgebirge oder am Lukrinersee zu suchen, … all diese Angaben sind leicht als spätere Erfindungen zu erkennen“ (GÜNTERT 28). 1313 „Weit entfernt im Meer liegt die Insel Ogygia“ (Od. 7,244). „Eine Stadt ist nicht nahe mit Menschen, die Göttern Opfer bringen“ (Od. 5,101 f.). 1314 Od. 1,50. – BUCHHOLZ (278 f.): „Wenn aber Ogygie der ‚Nabel’, d. h. der Mittelpunkt des Meeres heisst, so ist dies nicht mit mathematischer Schärfe zu fassen; es besagt eben weiter nichts, als dass die Insel weitab in einem ausgedehnten Meere gelegen habe“ (a. a. O.). So bezeichnet HOMER z. B. auch die Insel Kreta als „mitten im Meer“ gelegen (Od. 19,172; vgl. 4,844; 5,132; 7,250). 1315 Od. 5,243 ff. Das Epos beschreibt ein „Blockschiff “ (BREUSING, Nautik 129–141).

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in Richtung Heimat bei günstigem Fahrwind1316 immerhin knapp zwanzig Tage,1317 und die enorme Fahrzeit indiziert, dass der durchmessene Erdraum „ein ungeheurer Raum und ein ungeheures Meer nach homerischen Begriffen“ ist.1318 Wie weit sich die Insel selbst für göttliche Maßstäbe von Griechenland entfernt befindet, ist der Klage des Götterboten Hermes zu entnehmen, als er bei Kalypso eintrifft: „Zeus befahl mir, hierher zu gehen; ich wollte es gar nicht. Wer auch liefe von selbst über so viel salziges Wasser? Endlos ist es, und eine Stadt ist nicht nahe mit Menschen“.1319 Das Bild der Ferne zeichnet auch das von Tilman Krischer treffend gedeutete Möwengleichnis der Odyssee, in welchem „Hermes, den Auftrag des Zeus befolgend, vom Olymp zur Insel der Kalypso“ eilt, und zwar „wie eine Möwe, die Fische fangend, über die gewaltigen Wogentäler des Meeres streicht“.1320 Im Gegensatz zu allen anderen homerischen Gleichnissen, in denen Götter vom Olymp herab eilen,1321 führt Hermes hier weniger eine vertikale, sondern vielmehr eine anscheinend „unbegrenzte“ horizontale Bewegung aus, um zur Kalypso-Insel zu gelangen, die folglich „am Rande der Welt liegt“.1322 Und so wird der Inselname Ogygia als „die nach dem Ocean hin liegende, die Oceaninsel“ gedeutet.1323 Die auf der Insel Ogygia lebende Göttin Kalypso, der „niemand Gesellschaft leistet, auch nicht ein einziger Gott und keiner der Menschen“,1324 erscheint als eine „Tochter des Atlas, des Übelgesinnten, der sämtliche Tiefen kennt auf dem ganzen Meer; es ist jener, der selber die langen Säulen hält, die bewirken, dass Erde und Himmel getrennt sind“.1325 Der mythische Atlas wird meist als ein hohes und fernes Gebirge gedeutet.1326 Obwohl „die Anschauungen, wo der ‚Ur-Atlas‘ zu suchen sei, nicht unwesentlich auseinandergehen“,1327 befand er sich in der Vorstellung der Griechen stets im fernen Westen, und das schon seit homerischer Zeit. So „steht Atlas, nach Hesiod, vor dem Haus der Nacht“,1328 das man sich am westlichen Rand der Erdscheibe dachte.1329 1316 1317 1318 1319 1320 1321

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„Fahrwind schickte sie [Kalypso] aus, der ohne Gefahren und lau war“ (Od. 5,268; 7,266). Od. 7,267 f.; 6,170 f. (vgl. 5,33 f.). VÖLCKER 124. – „Die ogygische Insel ist entfernter gelegen als der Hades“ (KLAUSEN, Vorwort VIII). Od. 5,100 ff. KRISCHER, Epik 19. Das Beispiel zeigt „besonders deutlich, was die typologische Betrachtung leistet“ (ders. 22,5). „Was die übrigen Gleichnisse anlangt, so läßt sich feststellen, daß der Bewegung eines Gottes vom Olymp zur Erde im Gleichnis in der Regel eine vorwiegend vertikale Bewegung entspricht (Meteor, Regenbogen, Hagelschauer, Bleikugel). Die einzige deutliche Ausnahme ist das Möwengleichnis der Odyssee“ (KRISCHER, Epik 21). KRISCHER, Epik 22. „Die Möwe fliegt und fliegt“. NITZSCH II 14, Anm. 1. Und er fügt a. a. O. hinzu: „Indem die Wortform allerdings wohl mit Ὠκεανός, der auch ὠγήν oder ὠγῆνος heisst, zusammenhängt. Od. 7,246 f. – Dies verdeutlicht „die menschenleere Einsamkeit der abgelegenen Insel“ (MEULI, Odyssee 63). Od. 1,52 ff. Auf Ogygia „wohnt Atlas’ listige Tochter, Kalypso mit herrlichen Flechten“ (Od. 7,245). VÖLCKER 102. Das Atlasgebirge nennt erst Strab. 17,825. Plin. nat. 5,13. Solin. 24,15. HENNIG, Geschichte 24. Indes, der „Ur-Atlas“ ist bei ihm der 3.730 m hohe Pik von Teneriffa (ders. 24 f.). HÖLSCHER, Odyssee 158. Im Westen liegt bei HOMER auch der Ἔρεβος (Ilias 16,327. Od. 10,528; 11,37, 564; 12,81; 20,356); in Od. 12,81 und 20,356 werden Ἔρεβος und ζόφος zusammen genannt.

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Ebenfalls im fernen Westen lag nach homerischer Vorstellung das Elysion, wo wenige verdiente Heroen nach dem Tode ein paradiesisches Leben in voller Körperlichkeit und ewiger Jugend führen.1330 Und diesem kosmologischen Kontext entsprechend bietet die göttliche Kalypso dem Odysseus an, ihn „jung zu erhalten und für all seine Tage unsterblich zu machen“, falls er für immer auf Ogygia bliebe.1331 Zudem erscheint das Eiland der Atlas-Tochter Kalypso aufgrund der naturräumlichen Ausstattung wie ein elysisches Gefilde,1332 sodass der Odysseedichter sagt: „Selbst ein Unsterblicher, käm er gegangen und könnte es sehen, staunend müßte er schauen und Wonne erfüllte sein Innres“.1333 Also auch aufgrund der elysischen Ausgestaltung der Insel liegt sie in der dichterischen Vorstellung weit westlich von Griechenland. Außerdem wissen wir, dass zwischen Ogygia und dem griechischen Erdraum ein weites, inselleeres Meer liegt, dass Odysseus nach siebenjährigem Aufenthalt bei Kalypso direkt und nonstop in Richtung Heimat überquerte.1334 Als er tagelang über „den breiten Rücken des Meeres“ fuhr,1335 diente ihm zur Orientierung eine Gestirnkonstellation, die ihm Kalypso mitgeteilt hatte.1336 So saß Odysseus auf dem floßartigen Segler und „hielt am Steuer sitzend die Richtung. Nie überfiel seine Lider der Schlaf: die Plejaden behielt er immer im Auge und stets den Bootes, der spät erst hinabsinkt, stets auch die Bärin, die manche auch Wagen benennen. Sie dreht sich immer am selben Ort und schielt auf Orion; denn sie nur kennt kein Bad in der Flut des Okeanos. Immer zur linken sollte er sie haben; so hatte die hehre Göttin Kalypso streng ihm gesagt für die Fahrt. Und so fuhr er denn hin auf dem Meere“.1337 Um den genannten Kurs genau berechnen zu können, ist astronomisch einiges zu berücksichtigen, z. B. „daß zu Homers Zeiten die Plejaden früher auf- und untergingen als Bootes“,1338 und dass „die Konstellation des Großen und Kleinen Bären zum Nordpol eine andere war“.1339 Die Sternkoordinaten, die dem Odysseus als Wegweiser von der Insel Ogygia in die Heimat dienten, hat der 1330 Od. 4,563 ff. Im Elysion „läßt Zephyros allzeit seine Winde wehen“ (Od. 4,567 f.). 1331 Od. 5,136; ähnliche Formulierungen bieten die Verse 7,257 u. 23,336. Vgl.a. 1,55 ff. – „Der Held muß als Mensch sterben, wenn er als ‚Unsterblicher‘ leben will: der Eingang zur ewigen Jugend führt nur durch die Pforte des idrischen Todes“ (GÜNTERT 163). So deutet der Name „Kalypso“ auf den irdischen Tod hin, denn „die Bedeutung ‚verbergen, verhüllen‘ ging auf die speziellere Sondervorstellung ‚in die Erde verbergen‘ zurück. Eine einzelne Spezialbedeutung war daher ‚bestatten, begraben, in das Grab legen‘“ (ders. 35), wie zahlreiche Beispiele für den Gebrauch des Wortes καλύπτω bei griechischen Dichtern belegen (s. GÜNTERT 31 ff.). 1332 Od. 5,59 ff. 1333 Od. 5,73 f. 1334 Od. 5,265 ff. 1335 Od. 4,560; vgl. 5,174 ff. 1336 Kalypso schwor, Odysseus heimwärts zu senden (Od. 5,177–187) und sandte ihm den dafür nötigen Wind (Od. 5,167, 176, 268; 7,266). Zudem nannte sie ihm den Kurs, den er präzise einhielt (Od. 5,270– 277). 1337 Od. 5,270–278 (zu den Sternbildern Od. 5,271–275; vgl.a. Ilias 18,482–490). Bzgl. der Plejaden und des Bärengestirns in der griechischen Mythologie s. PRELLER Ib 363 ff. u. 367 f. 1338 BARTHOLOMÄUS 65. „Die Plejaden gingen bei Anbruch der Dunkelheit auf, Bootes aber erst bei Ende der Nacht“ (a. a. O.). 1339 KÖSTER 191. Es ist anzumerken, „daß der sogenannte Drache, zwischen dem Großen und Kleinen Bär liegend, am Pol stand und Polarstern war“ (a. a. O.). Der Kleine Bär war zu homerischer Zeit noch nicht versternt (vgl. Plin. nat. 7,56).

2.4 Das neue Finale

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Geodät Karl Bartholomäus für das Jahr 800 v. Chr. berechnet und einen Nordostkurs mit dem Kurswinkel von „53° bis 54°“ erhalten.1340 Demnach befindet sich das homerische Ogygia nicht genau westlich des westgriechischen Inselraumes, sondern westsüdwestlich bis südwestlich.1341 Dieser Anforderung entspricht, wie der Blick auf eine Mittelmeerkarte zeigt, die Maltagruppe,1342 die ca. 95 km südlich von Sizilien liegt: „Zwischen Abend- und Morgenland, zwischen Afrika und Europa im Zentrum des Mittelmeeres gelegen, in der Frühzeit der Menschheit von der vollkommenen Einsamkeit des Meeres umgeben, war ihr schon durch ihre geographische Lage ein einzigartiges Schicksal bestimmt“.1343 Die isoliert ‚im Nabel des Meeres‘ liegende Maltagruppe, die aus den Inseln Malta (246 qkm), Gozo (67 qkm) und dem Eiland Comino (2,5 qkm) besteht, tauchte im Bewusstsein der Griechen erst zu homerischer Zeit am fernen westlichen Horizont auf.1344 Die Maltagruppe bietet sich als Ort der einsamen Nymphe Kalypso geradezu an, und so galt namentlich die Insel Gozo schon im Altertum als das homerische Ogygia.1345 In den mächtigen prähistorischen Megalithbauten auf Malta und Gozo1346 wurde „die ‚Große Göttin‘ des Mittelmeerraumes verehrt, die Urmutter, aus deren Schoß unaufhörlich Leben quillt und die auch den Toten Wiedergeburt schenkt“.1347 Vielleicht ließ sich der Dichter der Odyssee von der Kunde dieser in steinernen Figuren dargestellten ‚Großen Göttin‘ inspirieren, als er „die gewaltige Göttin“ Kalypso1348 schuf, die auf ihrer einsamen Insel dem Odysseus die Unsterblichkeit anbot.1349 1340 BARTHOLOMÄUS 63; vgl. 58. 1341 Ogygia „liegt nach Homers Vorstellung in der ungeheuren Bucht zwischen Libyia und dem Atlas, so weit westlich gerückt, daß Odysseus auf der Fahrt nach Scheria oder Corcyra den großen Bären zur Linken hat ([Od.] V 276)“ (VOSS, Blätter 311). 1342 Wenn man von Malta einen Nordostkurs von 53° realisiert, gelangt man in den westgriechischen Inselraum südlich von Kerkyra (Corfu), und zwar in Bereich der Paxoi und der Hafenstadt Parga (vgl. Seekarte Nr. 435, Ionisches Meer). 1343 LATZKE 9. – „Die Anaximanderkarte zeigt uns, welche Insel am ehesten als Nabel des Meeres in Frage kommt: es ist Malta“ (HERRMANN 31). 1344 „Im Westen … taucht [in Od. 1,184] Temese mit seiner Erzproduktion auf, auch Sizilien (Od. 20,383; 24,211) – vom ferneren Mittelmeer nichts“ (HÖLSCHER, Odyssee 136). Uvo HÖLSCHER setzt Temesa (Temese) in Kalabrien an, wie schon Theodor BERGK (789): „So fahren die Taphier nach Temesa, um Erz einzutauschen; denn das italische Tempsa ist gemeint, wo noch in späterer Zeit Spuren längst verlassener Kupferbergwerke sich fanden, nicht das weit entfernte Tamassus in Cypern, welches nicht einmal an der Küste, sondern tief im Innern jener Insel lag“. Vgl. o. die Anm. 610 (in Teil I, S. 96). 1345 KALLIMACHOS (s. Strab. 7,3,6) bezeichnete das maltesische Gozo als das homerische Ogygia. – Beim Dorf Xaghra auf Gozo wird die Höhle der Kalypso lokalisiert (LEWIS 94; BAEDEKER, Malta 110). 1346 „Bekannt sind auf Malta und Gozo rund 40 Tempelanlagen aus neolithischer Zeit“ (BAEDEKER, Malta 49). Die Steine der Megalithbauten sind bis zu 57 t schwer (ders. 109). Obwohl die Megalithbauten bereits zwischen dem 5. und 3. Jt. geschaffen worden sind, dürften sie wohl auch den Menschen im frühen 1. Jt. als Kultstätten gedient haben. 1347 LATZKE 28. Die Tempelanlagen der Göttin sind teils unterirdisch und mehrstöckig. Vielleicht bezieht sich der Name Kalypso (die „Verborgene“) auf den unterirdischen Tempelkult. Hermann GÜNTERT (157) legt dar, dass einige Attribute „dem Wesen der homerischen Kalypso geradezu widersprechen und damit auf die vorhomerische Göttin hinweisen“. 1348 Od. 7,246; „Hohe Göttin“: Od. 5,215; nur „Göttin“ u. a. Od. 1,51; 5,85, 276. Anzumerken ist, dass auf Ogygia ausschließlich die Göttin – ohne Gott – lebte (Od. 7,246 f.). 1349 Od. 5,136; 7,257; 23,336.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

Die Maltagruppe ist die von Griechenland am weitesten entfernte Station, die Odysseus während seiner Irrfahrt erreichte, und somit qualifizierte sie sich für die mehrjährige Verbannung des Helden. Da der Dichter über das ferne Malta kaum etwas wusste, schmückt er die Insel Ogygia idealtypisch aus, ohne kennzeichnende Anhaltspunkte für ihre Beschaffenheit geben zu können. Die einzige Ausnahme bildet eine signifikante botanische Angabe: Odysseus habe für den Bau seines Floßes auf Ogygia „zum Himmel ragende Tannen“ geschlagen.1350 Da im Mittelmeerraum die Baumgrenze der Tanne nicht unter 600 m Höhe liegt und die Waldgrenze der Tanne erst bei 800 m Höhe beginnt, und himmelhoch strebende Tannen nur in über 1.000 m Höhe gedeihen,1351 hätte Odysseus auf der maximal 239 m hohen Maltagruppe jedoch gar keine Tannen schlagen können. Mit Ausnahme der beiden großen Inseln Kreta und Sizilien, die jedoch dem einsamen homerischen Eiland Ogygia keineswegs entsprechen,1352 bietet im zentralen Mittelmeerraum einzig die westgriechische Insel Kephallenia der Tanne die erforderlichen Wachstumsbedingungen,1353 und sie weist auch seit vorgeschichtlichen Zeiten prächtigen Tannenwald auf.1354 Kalypso zeigte dem Odysseus „wo die riesigen Bäume wuchsen“, die er für den Bau seines seetüchtigen Floßes fällte,1355 und so schreibt der Botaniker Stephan Fellner über die Tanne im homerischen Epos: „In der Tat wird sie bis 57 m hoch und ist als Bau- und Schiffsholz sehr geschätzt“.1356 Also, „riesig“ können Tannen auch im griechischen Erdraum werden. Jedoch weist Fellner auf die „zum Theil übertriebenen Epitheta“ hin, mit denen das Epos die Tanne rühmt; „so lässt Homer sie von der unteren Luft bis zum Äther reichen“.1357 Tatsächlich sagt Odysseus, die Tannen auf der Kalypso-Insel würden „zum Himmel“ bzw. wörtlich „bis in den Uranos ragen“ (ἐλάτη τ᾽ ἦν οὐρανομήκης).1358 Wenn man bedenkt, dass die Alten Griechen den Ausdruck „in den Himmel ragen“ nur für höchste Gebirge wählten1359 und der bis 1620 m hohe Gipfelkamm des Aenos auf 1350 Od. 5,239. – Hermann GÜNTERTs eingehende Untersuchung des Inselnamens Ogygia (167 ff.) hat die „Annahme, Kalypsos Reich sei eine Toteninsel, nur bestätigt“. Die in der Odyssee (5,60 ff.) genannten Bäume und Pflanzen der Insel (Schwarzpappeln, Erlen, Zypressen, Weiden sowie Eppich und Veilchen) sind „Totenpflanzen“ und „Unterweltsbäume“ der griechischen Mythologie. Aber „die Weißtannen, die ε 239 genannt sind, werden im Landschaftsbild ε 63 bis 73 nicht erwähnt; dies erklärt sich daraus, dass Odysseus sie zum Floßbau braucht“ (GÜNTERT 170 f.). 1351 „Die untere Grenze dieses Baumes in Griechenland von etwa 600 m ü. M. gilt nur für höhere Gebirge, die mit größeren Räumen in den Lebensbezirk der Tannen reichen“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 531). 1352 Die kleine Insel Ogygia hat keine Städte (Od. 5,101) und keinen Seeverkehr (Od. 5,141). 1353 Dort sind „Tannen nur auf Kephallenia vorhanden“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 420). 1354 Den „Tannenwald“ gab es schon „in der mykenischen und homerischen Epoche“ (MARINATOS 117). 1355 Od. 5,241. 1356 FELLNER 44. – „Eine ungeheure Weißtanne (abies), welche 4 Klaftern im Umfange hatte, war auf dem Schiffe zu sehen, auf welchem Kaiser Cajus [Caligula] den Obelisk … aus Aegypten … nach Rom hat schaffen lassen“ (LENZ; mit Verweis auf PLINUS hist. nat. 16,40,76); der riesige Frachter wurde als Basis für einen Leuchtturm im Ostia versenkt (vgl. Anm. 1735). 1357 FELLNER 44. 1358 Od. 5,239. – Die Begriffe Uranos und Äther sind in den homerischen Epen teils synonym (so reicht in der Ilias 14,287 f. die Tanne auf dem Ida bis „zum Äther“) und teils unterschieden, v. a. in Redensarten, in denen der Uranos sich meist über dem Äther erstreckt (u. a. Ilias 15,20). Siehe dazu VÖLCKER 17 f. 1359 VÖLCKER 17.

2.4 Das neue Finale

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Kephallenia, um mit den Worten des weitgereisten Fürst von Pückler-Muskau zu sprechen, „wie eine schroffe Wand zwischen Himmel und Erde steht“,1360 dann reichen die riesigen Tannen, die noch heute auf mehreren Kilometern Länge den Kamm des Aenos bekleiden, wahrlich „bis in den Himmel“. Und deshalb sollte man an den dichterischen Worten über die „in den Himmel ragenden Tannen“ der Kalypso-Insel keinen Anstoß nehmen. Wie bereits gesagt, können Tannen aufgrund klimatischer Bedingungen im zentralen Mittelmeerraum – mit Ausnahme von Kephallenia – ausschließlich in den Hochgebirgen der Inseln Kreta und Sizilien gedeihen,1361 die aber beide nicht als Insel der Kalypso infrage kommen. Folglich hat der Dichter die Kalypso-Insel namens Ogygia mit einem Charakteristikum der Insel Kephallenia ausgeschmückt,1362 auf der Odysseus in der ursprünglichen Fassung der Irrfahrtgeschichte nach dem Verlust seines Schiffes und Passieren der Meerenge von Rhion mittellos gestrandet war. Die hiermit postulierte Verquickung von Ogygia und Kephallenia kann sich sogar auf einen bemerkenswerten frühgriechischen Beleg stützen: So wird im 3. Buch der pseudo-hesiodischen Frauenkataloge die Insel Ogygia mit Kephallenia identifiziert1363 und Kalypso als Stammutter der Kephallenen bezeichnet!1364 Diese nun verständliche Stelle des Frauenkatalogs erschien den Homerphilologen bislang entweder unerklärlich oder gar „absurd“.1365 Und noch auf einen anderen Aspekt gilt es bei der Identifikation der Insel Ogygia hinzuweisen: In der Homerphilologie wird angenommen, „daß das Kalypsolied nur von der Kirkesage abhängt und vielmehr seinerseits das Kirkelied, wie es heute vorliegt, beeinflußt hat“.1366 Das heißt, „Kalypso ist nach dem Muster der Kirke, deren Doppelgängerin sie ist, frei erfunden und der Odyssee eingefügt“.1367 Wenn jedoch das Vorbild für Kalypsos Ogygia die Insel Kephallenia ist, wie schon Hesiod annimmt, und „Kirke und 1360 PÜCKLER-MUSKAU III 507. 1361 Zumindest seit der Neuzeit wächst die Weißtanne „weder in Sicilien noch in Spanien, die nördlichen Pyrenäen ausgenommen“ (LENZ 384). 1362 Immerhin ist bekannt, dass die homerische Ogygia-Geschichte umgestaltet wurde: „der Stoff war ein längst bekannter und längst poetisch ausgebildeter, ehe dieser Dichter ihn als gegeben neu zusammen zu fassen versuchte“ (WILAMOWITZ, Untersuchungen 16). 1363 „Ein höchst merkwürdiges Zeugnis haben wir endlich im Fragment aus der γῆσ περίοδοσ im 3. Buch der Kataloge, Pap. Oxy. 1358 fr. 2, 31 ff. Da heißt es von den Boreaden, die die Harpyien verfolgen: ἔς τε Κεφαλλήνων ἀγερώχων φῦλον ὄρουσαν, οὕς τέκεν Ἑρμάωνι Καλυψὼ πόντια νύμφη. … Der Dichter dieser Verse hat also die Insel der Kalypso auf Kephallenia lokalisiert“ (MERKELBACH 231 f.). 1364 „In dem großen Fragment Oxyrhynchos-Papyri XI … heißt es überraschenderweise, daß Kalypso einem Gotte – der Name ist nicht deutlich – die Kephallenen geboren habe“ (MAYER 63). Also, „hier gelten die Kephallenen als Nachkommen der Kalypso und des Hermes“ (MERKELBACH 232). 1365 „Diese erste Lokalisierung der Insel der Kalypso [durch Hesiod] ist absurd“ (MERKELBACH 232). „Kalypso Stammutter der Kephallenen! Wie da die Zusammenhänge laufen, weiß ich nicht“ (MEULI, Odyssee 61). 1366 HUMISCH, Kalypso 941,1 ff. (mit Bezug auf WILAMOWITZ, Untersuchungen 115 ff.). 1367 HUMISCH, Kalypso 940,58 f. Auch Ulrich von Wilamowitz (Ilias/Homer 488) wies darauf hin, dass die „Geschichte von Kalypso … sich selbst als Einzelgedicht aussondert.“ So wurde Ogygia mit Aiaia vermengt: Prok. 3,12,31. Hyg.fab. 125. Auch „Mela II,7,18 verwechselt die Kalypso mit der Kirke, wie Plinius umgekehrt XIII,30, so wie auch Dio. Cass. XLVIII,50 jene irrig erwähnt“ (NITZSCH II 14, Anm. 1). – Wir haben übrigens „keine Nachrichten darüber, wie die Heimkehr des Odysseus zur Zeit der Abfassung der Ilias erzählt wurde“ (KRISCHER, Telemach 11).

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2. Die Irrfahrtgeschichte

Kalypso als Variationen derselben Geschichte erscheinen“, wie moderne Homerphilologen behaupten,1368 dann muss sich folglich auch Kirkes Insel Aiaia auf Kephallenia beziehen. Und tatsächlich ist der Inselname Aiaia in der Irrfahrterzählung des Odysseus lediglich ein Pseudonym für Kephallenia, wie in dieser Studie dargelegt wurde. Der Dichter der uns vorliegenden Fassung der Odyssee hat also sowohl die Insel Aiaia als auch die Insel Ogygia nach dem Vorbild der Insel Kephallenia gestaltet1369 und die beiden Dubletten in das Itinerar der Irrfahrt sachkundig eingebunden. Deshalb kann man die Inseln Aiaia und Ogygia aus der Irrfahrtgeschichte tilgen, ohne dass die Handlung beeinträchtigt wird oder gar die Route des Odysseus an Plausibilität verliert, im Gegenteil: Wenn man den ersten Aufenthalt des Odysseus auf Aiaia streicht, dann gelangt der Held nach dem Abenteuer in Telepylos (dem messenischen Pylos) direkt zum Tor des Totenreiches (beim triphylischen Pylos), das ohnehin an seiner Fahrtroute lag. Und wenn man den zweiten Stop auf Aiaia tilgt, dann fährt Odysseus vom Totenreich ohne Zwischenstop auf Kephallenia direkt in den Golf von Korinth, um die von Teiresias erhaltene Weisung unverzüglich umzusetzen, nämlich in Pheneos dem zürnenden Poseidon zu opfern.1370 Ebenso schadlos lässt sich die Insel Ogygia aus dem Itinerar der Irrfahrtgeschichte streichen, denn in diesem Fall gelangt der schiffbrüchige Odysseus nach Passieren der Meerenge entweder direkt zu seiner Heimatinsel (Ithaka = Ogygia-Aiaia) – oder ohne Umweg zum Land der Phaiaken, und damit so, wie es noch der 19. Gesang der Odyssee darstellt: Odysseus „hat ja die trauten Gefährten samt dem geräumigen Schiff auf dem weinroten Meere verloren, als er die Insel Thrinakia hinter sich hatte. Es zürnten Zeus ihm und Helios, weil die Gefährten die Rinder getötet. Alle gingen da unter im Schwall des rauschenden Meeres. Er aber hielt sich am Kiel und die Woge warf ihn ans Festland, hin zum Land der Phaiaken, die Göttern nahe verwandt sind“.1371 In dieser Version der Irrfahrt fehlt also die Insel Ogygia, und dort gelangt Odysseus sogleich zum Land der Phaiaken, das nun zu identifizieren ist.

1368 HÖLSCHER, Odyssee 111. Ja, „es ist ganz undenkbar, daß beide Personen nicht identisch sein sollten, die eine der anderen nachgebildet“ (WILAMOWITZ, Untersuchungen 116). Vgl. Od. 9,29 ff. 1369 So diente der Vers, der die geographische Lage der Heimatinsel des Odysseus charakterisiert (Od. 9,25: αὐτὴ δε χθαμαλὴ πανυπερτάτη εἰν ἁλὶ κεῖται), sowohl zur Ausgestaltung von Aiaia (Od. 10,196) als auch von Ogygia (Od. 7,244) als Vorbild (vgl. ROBERT 634). 1370 Übrigens war „das Grundmotiv der Odysseussage, der Zorn des Poseidon, durch den arkadischen Cultus gegeben … Damit fällt auch Licht auf den Namen Odysseus … Er kann nur der ‚Zürnende‘ bedeuten. Ein zürnender Poseidon Ὀδυσσεύς entspricht durchaus den Anschauungen, die wir über den Gott gewonnen haben“ (MEYER, Odysseusmythos 267). 1371 Od. 19,273 ff. – Daraus ist zu „schließen, daß es einst eine Odysseedichtung ohne Kalypso gegeben hat“ (GÜNTERT 18).

2.4 Das neue Finale

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2.4.2 Das wunderbare Land der Phaiaken Von der Insel Ogygia, die nach homerischer Vorstellung weit südwestlich1372 von Griechenland „im Nabel des Meeres“1373 liegt und deshalb schon im Altertum mit Malta bzw. deren Nachbarinsel Gozo identifiziert wurde, gelangte Odysseus angeblich nach siebzehntägiger Seefahrt auf einem selbstgezimmerten Floß zum Land der Phaiaken.1374 Wie im vorausgegangenen Kapitel angeschnitten, war Odysseus in der älteren Fassung der Irrfahrterzählung, nachdem er die Meerenge von Skylla und Charybdis abermals – d. h. nun westwärts – passiert hatte, schiffbrüchig vor Ithaka gestrandet. Darum gehörte zur ursprünglichen Irrfahrt des Odysseus weder das Eiland Ogygia noch das Land der Phaiaken, wie v. a. Tilman Krischer aufgrund kompositorischer Erwägungen nachgewiesen hat.1375 Dennoch ist in der vorliegenden historisch-geographischen Untersuchung zu fragen, ob der Dichter auch bei der Beschreibung des Phaiakenlandes, das der Dichter „Scherie“ nennt,1376 an einen konkreten geographischen Raum und deren Bevölkerung dachte. Während hinsichtlich der Phaiaken namhafte „ältere und neuere Forscher der sogenannten mythischen Geographie und Völkerkunde an ihrer Realität nicht gezweifelt haben“,1377 wurde diese Auffasung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts negiert. So schreibt Gregor Wilhelm Nitzsch über Scherie (bzw. Scheria): In der Odyssee wird „dieses Land und Volk zum idealen Musterbilde Hellenischen und besonders Ionischen Glückes ausgemalt“, und deshalb „gehört es noch ganz dem Wundergebiete an“.1378 Für die meisten modernen Altphilologen ist das homerische Phaiakenland bloß noch ein Synonym für „Utopia“,1379 wodurch sich eine Suche danach von vornherein verbietet, wie z. B. den intransigenten Worten des Ulrich von Wilamowitz zu entnehmen ist: „Nach einer näheren Bestimmung über Scherias Lage im Meere kann niemand auch nur fragen wollen“.1380 – Doch auch dieses Tabu gilt es kritisch zu hinterfragen! Der Odyssee zufolge liegt das Land der Phaiaken „einsam im wellenwogenden Meere, ganz zu äußerst“,1381 und deshalb glauben viele Homerforscher, es handele sich um ein fiktives Gemeinwesen „am äußersten Rande der Welt“.1382 Wäre letzteres der Fall, dann 1372 1373 1374 1375 1376 1377 1378 1379 1380 1381 1382

Od. 5,269 ff. Od. 1,50. Od. 5,342464. KRISCHER (Penelope 9): „Die gesamte Phaiakis [war] in der älteren Version nicht enthalten“. Od. 4,34; 6,8; 7,79; 13,160. Den Namen geben antike Autoren meist in der Schreibweise Σχερία wieder (u. a. Arist. frg. 469. Strab. 6,259, 7,299. Plin. nat. 4,52). PRELLER I 387. Und er fährt a. a. O. fort: „Desto größer ist das Verdienst von Welcker und Nitzsch, welche zuerst das Mährchenhafte an diesen und ähnlichen Erzählungen nachgewiesen haben“. NITZSCH III, Vowort XXVIII. „Die Insel heißt Utopia … Eigentlich sollte sie Scheria heißen“ (WILAMOWITZ, Ilias/ Homer 497). U. a. ist es auch für Jacob BURCKHARDT (Phäakenland 116) eine „Utopie“, und Gregor Wilhem NITZSCH (III, Einleitung S. X) spricht von einem „ganz utopischen Locale“. WILAMOWITZ, Ilias/Homer 499. – „Die Schilderung des Landes und Volkes der Phäaken gehört wesentlich der Phantasie des Dichters an“ (BERGK 787). Das Phaiakenland ist eine „Mährcheninsel“ (KIRCHHOFF 237). Od. 6,204 f. (vgl. 6,279). EITREM, Phaiaken 1523,38; ders. 1518,37 f.: „Die Phaiaken leben am Ende der Welt“.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

hätte der Phaiakenkönig Alkinoos wohl kaum gefragt, ob der schiffbrüchige Odysseus „aus Westen oder Osten“ an die Küste seines Landes gelangte.1383 Der Odysseedichter kennt also durchaus noch Länder und Inseln, die westlich des Phaiakenlandes liegen, namentlich Ogygia, von wo aus Odysseus mit einem Nordost-Kurs losgefahren war,1384 und der ihn übers offene (Ionische) Meer direkt zu seiner Heimatinsel Ithaka führen sollte.1385 Jedoch gegen Ende der Meeresüberquerung erblickte ihn der zürnende Gott Poseidon und sandte ihm einen fürchterlichen Sturm, der das Schiff zerstörte und den ums Überleben kämpfenden Helden an die Küste des Phaiakenlandes verschlug.1386 Da Odysseus auf dem offenen Meer, kurz vor seiner Heimat in Seenot geriet, ist das Land der Phaiaken im westgriechischen Küstenraum zu suchen,1387 und dementsprechend wurde Odysseus auf einem schnellen Phaiakenschiff innerhalb nur einer Nacht zum heimatlichen Ithaka gebracht.1388 Diese Schlussfolgerung zogen bereits antike Gelehrte, und so wurde die der nordwestgriechischen Festlandsküste unmittelbar vorgelagerte Insel Kerkyra (ital. Corfu) im Altertum allgemein als das homerische Phaiakenland betrachtet.1389 Auch ist die Hypothese formuliert worden, „daß schon die ersten Auswanderer aus Euboia die Phaiaken für die Ureinwohner Korkyras hielten“.1390 Die Lokalisierung der homerischen Phaiaken auf der Insel Kerkyra ist jedoch nicht stichhaltig, denn die Odyssee bezeichnet das Phaiakenland nirgends als Insel, sondern stets als Festland.1391 Überdies bedeutet der Eigenname des Phaiakenlandes, „Scherie“, geradezu Festland,1392 und deshalb konnte man vom Phaiakenland aus, ohne ein Schiff benutzen zu müssen, „weit über die Erde gehen“.1393 Es ist also, um Ulrich von Wilamowitz zu zitieren, „unverkennbar, daß Scheria keine Insel ist“.1394 Aber seit der Klassischen Zeit Griechenlands „hatte Korkyra [die Insel Corfu] längst Anspruch darauf erhoben, Scheria zu sein, das darum zu einer Insel gemacht worden ist“.1395 Zudem führte die vom Dichter suggerierte weltabgeschiedene Lage des Phai1383 1384 1385 1386 1387 1388 1389 1390 1391 1392

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Od. 8,29. Od. 5,269 ff. Die Irrfahrt des Odysseus spielt westlich von Griechenland (Od. 10,25 ff.). Od. 5,263 ff.; 282–464 (s. a. 180 ff.). Od. 5,282 ff. Dafür spricht auch, dass die Küste dem Sonnenaufgang abgewendet ist, denn die Berge des Phaiakenlandes lagen für den ostwärts fahrenden Odysseus morgens „im Schatten“ (Od. 5,279 f.). Od. 13,35–95. „Die Ansicht, daß Korkyra das homerische Scheria sei, hat im Altertum durchschlagenden Erfolg gehabt“ (EITREM, Phaiaken 1530,67 ff.; mit antiken Belegen: 1531,36 ff.). Jedoch erst lange nach Homer (s. BETHE 368 f.; auch die ausführliche Anm. 2). EITREM, Phaiaken 1529,25 ff. Od. 5,35, 280, 345, 398 u. ö. – Also, „Scheria ist keine Insel“ und damit nicht Kerkyra (WELCKER 42). „Der Name Scheria … ist ein Nennwort, von σχερός, Festland“ (WELCKER 6); ähnlich PRELLER (Ib 492), wonach Scheria „einfach das feste Land bedeutet“. Also, „ἤπειρος und Σχερίη sind synonym“ (JESSEN, Scheria 559,14). Der „Name des Phäakenlandes … scheint terra continens zu bedeuten“ (SCHWARTZ 225, Anm. 2). Das homerische Phaiakenland ist also „ein Stück des Festlandes, da es nie νῆσος, sondern γαῖα heißt“ (SEILER/CAPELLE 573, Anm. 3). Od. 19,284. „Odysseus (19,279 ff.) spielt mit der Vorstellung, man könne von den Phaiaken auch zu Fuß über weites Land nach Thesprotien gelangen“ (JESSEN, Scheria 559,21 ff.). WILAMOWITZ, Heimkehr 43, Anm. 1. WILAMOWITZ, Heimkehr 169.

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akenlandes und vor allem die homerische Wendung, die Stadt der Phaiaken läge „im vielflutenden Meer“,1396 in der Homerphilologie zu der nahezu dogmatisch verfestigten Annahme, die Phaiaken würden eine (fiktive Voll-) Insel auf hoher See bewohnen.1397 Indes, die Odyssee spricht lediglich von „vielflutend“ (πολύ-κλυστος) und nicht von „ringsherumflutend“ (περί-κλυστος).1398 Schon Friedrich Gottlieb Welcker wies anhand einer Hesiod-Stelle nach, die ebenfalls das Epitheton „vielflutend“ (πολύκλυστος) aufweist, dass „auch von dem äußersten Küstenland als solchem … gesagt werden konnte, daß es im Meere liege“.1399 Es gibt also keinen Grund daran zu zweifeln, dass „die Phäaken an der Küste eines Festlandes, nicht auf einer Insel wohnen“, betonte Eduard Schwartz.1400 Und, wie u. a. Gregor Wilhelm Nitzsch hinzufügt, wissen wir auch, in welchem Küstenraum „Homer sich Scheria gedacht“ hat, nämlich „nördlich von Ithaka“ bzw. im „Nordwesten“.1401 Sollte das Land und die Hafenstadt der Phaiaken je in der geographischen Wirklichkeit existiert haben, dann ist es also nicht auf einer der westgriechischen Inseln zu suchen, sondern an der nordwestgriechischen Festlandsküste,1402 und zwar – wie die Odyssee explizit fordert – „ganz zu äußerst“.1403 Das äußerste Gestade des westgriechischen Festlandes, das Homer kennt, ist die in der Odyssee mehrfach genannte Küstenlandschaft Thesprotien,1404 die sich zwischen den vorgelagerten Inseln Kerkyra (Corfu) und Leukas am Ionischen Meer erstreckt. Auf Thesprotien, von wo aus die schnellen Schiffe – wie von Scheria – nur einen halben Tag bis Ithaka benötigten,1405 verweist auch die angekündigte Heimkehr des Odysseus im 19. Gesang der Odyssee: „Ehrlich will ich es künden und gar nichts werde ich verhehlen: ganz in der Nähe im reichen Volk der Thesproter hörte ich schon von Odysseus’ Heimkehr“, denn „ihn warf die Woge ans Festland, hin ans Land der Phaiaken“.1406 Zudem hebt die Odyssee wiederholt hervor, dass Odysseus von Thesprotien aus heimkehren werde.1407 Deshalb urteilte schon Karl Völcker in seinem Werk über ‚Homerische Geographie und Weltkunde‘: „Ohne Zweifel 1396 Od. 6,204. Aufgrund dieser Stelle wird das Phaiakenland meist als Insel gedeutet. 1397 Scheria ist allen Lokalisierungen „zum Trotz eine Insel“ (Ernst MEYER, NZZ 18. Nov. 1970). Die Phaiaken leben „auf der Insel Scherie“ (KÄPPE, Phaiakes 713,1). 1398 Im „vielflutenden Meer“ liegt auch das ägyptische Eiland Pharos (Od. 4,354), das dem Festland unmittelbar vorgelagert bzw. mit ihm verbunden ist. 1399 WELCKER 7,10. Er zitiert aus der Theogonie 189. Vgl. auch die Argumentation von GROTEFEND (271): „Das Phäakenland heißt Scheria, weil es ἐν σχερῷ oder ἐν ξερῷ ἠπείροιο, Od. V 402, lag“. Und Otto August RÜHLE (55) fügte vor knapp zweihundert Jahren hinzu: „Indessen auch noch heutigen Tages werden Uferstrecken, deren weitere Begrenzung noch nicht ermittelt ist, vorläufig als Inseln angenommen, und in wörtlicher und bildlicher Beschreibung auf eine analoge Weise bezeichnet“. 1400 SCHWARTZ 225. „Ob es übrigens eine Insel war, ist nicht ausdrücklich gesagt“ (GÜNTERT 179). 1401 NITZSCH II 72. 1402 Die Phaiaken „können also nur, als die letzteren der Menschen, in nördlicher oder nordwestlicher Richtung seyn“ (VÖLCKER 66), „noch unterhalb der Akrokeraunien“ (ders. 134). 1403 Od. 6,205 (vgl.a. 6,279). Schon Friedrich Gottlieb WELCKER (49, Anm. 106) wies darauf hin, dass eine erfolgreiche Deutung „ἔσχᾱτος nach dem Maße von Hellas oder der hellenischen Kunde beurtheilt“. 1404 Od. 14,315, 316, 335; 16,65, 427; 17,526; 19,271, 287, 292. 1405 Vgl. Od. 14,334 ff. 1406 Od. 19,268 ff. 1407 Od. 14,314 ff.; 16,64 f.; 17,525 f.; 19,270 f., 278–299.

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2. Die Irrfahrtgeschichte

liegt darin die Andeutung der Lage des Phäakenlandes, vor oder in der Nähe der Thesproter!“1408 Doch lassen sich die vom Dichter besungenen Phaiaken an der thesprotischen Küste überhaupt lokalisieren? Der schiffbrüchige Odysseus erblickte die rettende Hafenstadt der Phaiaken „in nächster Nähe von ihm; und es hatte den Anschein, grade als schwimme ein mächtiger Schild auf dem dunstigen Meere“.1409 Bei dieser Metapher denkt der Dichter sicherlich an den üblichen Rundschild,1410 und nicht an den eigenartigen Turmschild,1411 wofür auch die Morphologie derjenigen Eilande und Vorgebirge spricht, die im Altertum ebenfalls mit einem Schild verglichen wurden.1412 Ein entsprechendes topographisches Gebilde bietet auch die thesprotische Küste im Nordwesten Griechenlands. So lag die bedeutendste antike Hafenstadt Thesprotiens, die den Namen „Toryne“ trug,1413 auf einem der Küste vorgelagerten „conical rock“,1414 der sich auf nahezu kreisrunder Basis ca. 120 m hoch aus dem Meer aufwölbt. Aus der Sicht des Seefahrers erscheint der umflutete Felsklotz, der durch eine breite Gebirgsrippe mit dem Festland verbunden ist, als ein mächtiger abgerundeter Kegelstumpf, der wie ein mächtiger steinerner Rundschild auf dem Wasserspiegel des Meeres liegt. Das antike Toryne1415 trägt seit dem Mittelalter den Namen Parga und war in der Neuzeit ein bedeutender See- und Handelsstützpunkt der Venezianer.1416 Die Odyssee be1408 VÖLCKER 67. „Die Aufnahme bei den Thesprotern … bezieht sich bestimmt auf die Geschichte bei den Phäaken“ (a. a. O.). 1409 Od. 5,281. – Das Phaiakenland erschien dem Odysseus also „wie ein auf dem Wasser liegender Schild“ (MAYER 75). 1410 „So kann eine Bergkuppe einem Schiffenden wohl wie ein gewölbtes Schild [ρινόν] erscheinen“ (NITZSCH II 45; mit Verweis auf Ilias 4,447). 1411 Obwohl „die meisten Schilde bei Homer Rundschilde“ und nicht Turmschilde sind (SCHADEWALDT 358), legt Armin WOLF (Homer/Karte 27 ff.) einen Dipylon-Schild zugrunde, dessen Aufriß den Küstenlinien des Phaiakenlandes entsprächen. Jedoch erschien dem schiffbrüchigen Odysseus das Land nicht aus der Vogelperspektive, sondern er sah vom Meeresspiegel aus „das Phaeakenland, das sich wie ein Schild über dem Horizont erhebt“ (WILAMOWITZ, Phaeaken 1042). 1412 So ist das nordafrikanische Aspis „ein hohes, von allen Seiten sichtbares Vorgebirge in der Gestalt eines Schildes“ (BREUSING, Nautik 9). „Eine ganze Reihe kleiner Inseln im ägäischen Meere führten den Namen Ἀσπίς“ (MAYER 75; vgl. Pyrrh. 31 f. u. Kleom. 17, 21). Indes, bei der Phaiakenland-Metapher spricht der Dichter (Od. 5,281) nicht explizit von ἀσπίς, sondern er benutzt das allgemeinere Wort für Schild, ρινός (BENSELER 814: der „aus Rindsleder gemachte Schild“; vgl. Od. 12,423). – Zu den insgesamt nur zwei topographischen Details, die Armin WOLF (Homers Reise 302) an meiner Odyssee-Theorie zu monieren vermag, gehört der Einwand: „Bei der Schildform“ des Phaiakenlands denkt WARNECKE „an den Rundschild (aspís), obwohl es bei Homer rhinón heißt“ [vgl. dagegen o. die Anm. 1410]. 1413 Τορύνη (Ptol. III 14,5; Plut. Ant. 62). Der Ortsname bedeutet „Rührkelle“ (BENSELER 917). „Die Gleichung mit Párga ist nach der Lagecharakterisierung (Halbinsel = Kelle) sicher“ (PHILIPPSON/KIRSTEN III 100, Anm. 5). 1414 DE BOSSET 45. „Parga, that single solitary rock“ (HUGHES 200). 1415 „Toryne, der Hafen, in welchem Augustus nach der Ueberfahrt von Italien mit seiner Flotte vor Anker ging, als er Antonius eine Schlacht anbieten wollte, haben wir an der Stelle des heutigen Parga zu suchen“. Und „hier gingen nach Thukydides (I 46) 432 v. Chr. die Korinther mit einer Flotte von 150 Segeln vor Anker“ (NEUMANN/PARTSCH 139, Anm. 1). 1416 Toryne bzw. Parga war „die berühmteste Siedlung“ an der thesprotischen Küste. Der Ortsname „Parga wird zuerst 1337 erwähnt“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 100; vgl. BURSIAN I 28). Unter den „festländischen Besitzungen Venedigs“ stand seit dem Beitritt im Jahr 1401 „Parga an erster Stelle“ (OBERHUM-

Kokytos

dstr

and

500 m

Kap Cheladi

San

Valtou-Bucht

m

Burg

200

0m 20

0m

Pargastadt

10

m

Abb. 12: Der Küstenverlauf bei Parga

Ionisches Meer

10 0

200 100 m m

(Schiffseiland)

2.4 Das neue Finale 361

362

2. Die Irrfahrtgeschichte

schreibt die Hafenstadt der Phaiaken als eine typisch frühgriechische Koloniegründung mit geschütztem Seehafen und abgeschlossener Landschaftskammer, die ihre Siedler opulent ernährt,1417 „so daß ein Hörer oder Leser der Odysseestelle an eine Stadtlage etwa auf den Ionischen Inseln denken konnte“, wie schon Hans Bürchner bemerkte.1418 Den inselartigen Charakter einer fruchtbaren und autarken „Kleinstlandschaft“ hat das Territorium der Hafenstadt Parga mit seinem Dutzend Dörfern bis in die Neuzeit hinein bewahrt.1419 Und diesen anachronistisch anmutenden Sachverhalt hob der Althistoriker Ernst Kirsten hervor: „Auf kleinstem Raum … erneuert sich hier der antike Stadtstaat: ein Bauernort mit Bedeutung als Exporthafen, und mit einem ‚Polisgebiet’, das durch die dahinter aufragenden Kalkhöhen bereits begrenzt wird“.1420 So erschien Parga noch im neugriechischen Staat als „the last little spot of ancient Greece“.1421 Parga und die den Ort umgebende Landschaftskammer, die durch eine knapp 1000 m hohe Gebirgsbarriere vom thesprotischen Festland verkehrsgeographisch abgeriegelt ist,1422 konnte man bis zum Bau der modernen Küstenstraße vor einem halben Jahrhundert nur über den Seeweg erreichen.1423 Deshalb bezeichneten englische Autoren das Gebiet von Parga einfach als „island“,1424 und in der Vergangenheit galt es politisch als „integral dependency of the Ionian Islands“.1425 Somit rechtfertigte das Gebiet von Parga bis in die jüngste Vergangenheit hinein den von vielen Homerinterpreten als widersprüchlich empfundenen und vieldiskutierten Dualismus zwischen Festland und Insel, mit der die Odyssee das Land der Phaiaken charakterisiert.1426 Parga, dessen Burgstadt wie ein gewölbter Rundschild im Meer liegt, war also das festländische Territorium, das, wie Homer treffend sagt, zu seiner Zeit „ganz zu äußerst einsam im wellenwogenden Meere“ liegt.1427 Nicht nur, dass das Territorium der Hafenstadt der Phaiaken „als ein bedeutendes Emporion von beträchtlicher Größe“ beschrieben wird,1428 auch die topographischen MER, Parga 685). Die umfassendste Darstellung von Parga und Umgebung bietet Ludwig SALVATOR,

Parga). 1417 Koloniegründung: Od. 6,3 ff. – Seehafen: Od. 6,267 ff.; 7,34 f., 43 f., 108; 8,5, 51 ff., 247, 252 f., 565 ff.; 13,73 ff., 165. – Landwirtschaft: 6,259, 293 f.; 7,113–128. 1418 BÜRCHNER, Scherie 407,17 ff. 1419 PHILIPPSON/KIRSTEN II 236. „Das Territorium von Parga hatte 10 Meilen Länge von Taverna bis Frankokastro“(II 278, Anm. 107). 1420 PHILIPPSON/KIRSTEN II 260. 1421 HUGHES 204. „Parga is one of those places which, being in a state approaching to independence, may be supposed to furnish the strongest resemblance to the ancient republics of Greece“ (ders. 203). 1422 „This small country [Parga] is backed by a steep mountain, which seperates it from the dominions of Ali Pascha“ (DE BOSSET 46), der es wegen der schroffen Gebirgsbarriere nicht erobern konnte. 1423 Noch Mitte des 20. Jhs. schrieben PHILIPPSON/KIRSTEN (II 101): „Heute hat die Stadt, der Landverbindung entbehrend, keine Bedeutung mehr“. Die Küstenstraße nach Parga wurde erst 1978 gebaut. 1424 U. a. JERVIS (207) „described it [Parga] as an island“, und er beklagt, dass „no one in Great Britain was aware that it was anything else but a barren rock or desert island“. 1425 DE BOSSET 46. Ebenso betrachtet HUGHES (350) Parga als „the continental dependencies of the Ionian islands“, und „still Parga remained attached to the government of the Ionian islands“ (vgl. 177 u. 201). 1426 Es lässt „der Dichter im Dunkel, ob das ein Festland oder eine Insel ist“ (WILAMOWITZ, Ilias/Homer 491). 1427 Od. 6,204 f. (vgl. 6,279). 1428 MÜLDER, Phäakendichtung 15.

2.4 Das neue Finale

363

Details des homerischen Phaiakenlandes entsprechen den naturräumlichen Gegebenheiten im Bereich von Parga. So liegt – der Odyssee zuolge – die Hafenstadt mit der Burg des Phaiakenkönigs Alkinoos auf einem vorgeschobenen Kap, dessen Zugang bzw. Isthmos zwei sandige Buchten scheidet,1429 die ihrerseits in eine abweisende Felsküste eingebettet sind.1430 Dieser Beschreibung entsprechend, erstreckt sich Parga auf einem ca. 400 m langen und bis zu 250 breiten Felskap, das von zwei geschwungenen Sandbuchten eingefasst wird,1431 die ihrerseits von Steilküsten flankiert sind.1432 Also, die Burgstadt von Parga ist „situated between two bays, which afford landing places for the shipping of the country“,1433 und dementsprechend flankierten den isthmosartigen Zugang zur Burg des Phaiakenkönigs Alkinoos beidseits Schiffslandeplätze und Werften.1434 Der südöstlichen Hafenbucht von Parga, die heute Athanasios-Bucht heißt, ist als Blickfang ein knapp 200 m langes Felseiland schützend vorgelagert, das den Namen Panayia trägt und von Parga aus der Silhouette eines alten Schiffrumpfes ähnelt. Während die Flächen von ‚Bug‘ und ‚Heck‘ des felsigen ‚Schiffes‘ ungefähr gleich hoch dem Meer entsteigen, ragt das platte Zentrum (das mittlere Drittel) des Felseilandes nur geringfügig über den Wasserspiegel empor, und somit korrespondiert das Profil des Felseilandes mit der Schilderung der Odyssee, wonach der zürnende Erderschütterer Poseidon auf das aus südlicher Richtung1435 heimkehrende Phaiakenschiff „mit der flachen Hand“ geschlagen und es derart vor den Augen der Städter zu einem felsigen Eiland versteinert habe.1436 Dieses Ereignis kommentiert der Odysseedichter aber mit den Worten, dass die Phaiaken „doch nicht das wahre Geschehen wußten“.1437 So sei angemerkt, dass infolge von Erdbeben in den griechischen Küstengewässern tatsächlich kleinere Fels- „Inseln im Meer auftauchen oder verschwinden“.1438 Während der Haupthafen von Parga allzeit an der südöstlichen Hafenbucht lag, wurde die weit geschwungene westliche Valtou-Bucht weit weniger vom Seeverkehr frequentiert. Nahe dem westlichen Ende dieser Bucht mündet ca. 1,5 km westlich der Stadt Parga das Flüßchen Kokytos, das heutzutage aufgrund der Wasserentnahme an den 1429 Od. 6,263 ff. – „Der Dichter stellt sich also eine Halbinsel oder Landzunge vor“, mit „Stadt und Burg“, und zwei Naturhäfen, die „die Stadt auf zwei Seiten umschließen“ (MAYER, 80). 1430 Od. 5,398–440. 1431 „A fine conical hill, covered with houses and surmounted by a fortress, juts out into the sea and forms two excellent harbours, one on the east and the other on the west, but the bay stretches out its long arms in two fine curves“ (HUGHES 347). 1432 Vgl. Seekarte Nr. 723 B (Ormos Pargas). Nördlich und südlich der beiden Sandbuchten setzt sich die thesprotische Küste als hafenlose Abrasionsküste fort (vgl. Od. 5,385 f.; 400–442). 1433 DE BOSSET 45. 1434 Od. 7,43 ff. „Le petit port de Parga est divisè en deux baies par la saillie de côte sur laquelle se trouve la citadelle“ (BÉRARD II 478). Bzgl. des isthmosartigen Zugangs von Parga schrieb William TURNER (207), dass die Pargioten „repulsed the tyrant [Ali Pasha] from their rocky isthmus“. 1435 Das phaiakische Schiff kehrte vom kephallenischen Inselraum heim (Od. 13,70 ff.). 1436 Od. 13,159–169. – „Poseidon aber ist so erzürnt über ihre Unterstützung des Odysseus, daß er das Schiff, mit dem sie ihn nach Ithaka geleiten, zerschmettern und ein Gebirge um die Stadt legen möchte (13.149– 52). Von Zeus gezügelt, verwandelt Poseidon dann das Schiff stattdessen in einen Stein“ (GRETHLEIN 234). 1437 Od. 13,170. 1438 CAPELLE, Erdbebenforschung 360,37 f.

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zahlreichen Staustufen nur als kleiner Bach ins Meer mündet. Noch vor zweihundert Jahren bezeichnete der in britischen Diensten stehende westgriechische Inselgouverneur Charles Philippe de Bosset das Gewässer als „river“ und ließ es kartographieren.1439 Er wies zudem darauf hin, dass das Wasser des Kokytos aufgrund einer kalkhaltigen Substanz weiß gefärbt sei.1440 Dieser Sachverhalt könnte den Odysseedichter veranlasst haben, vom „weißen Schleier“ der Meergöttin Ino-Leukothea zu sprechen, der den verzweifelt schwimmenden Odysseus an der Steilküste ermutigt hatte, weiterhin durchzuhalten,1441 sodass vor seinen Augen plötzlich die rettende, weitgeschwungene Sandbucht mit der Flussaue erschien.1442 Der zuvor an der unzugänglichen Abrasionsküste um sein Leben kämpfende Odysseus hätte übrigens nordwestlich des weit vorspringenden Kaps Cheladi, das die Valtou-Bucht mit scharfen Konturen im Westen begrenzt, die rettenden sandigen Buchten von Parga tatsächlich nicht erblicken können, sondern nur die schildförmige Burgstadt und die sich dahinter fortsetzende Steilküste.1443 So verriet ihm das beim Kap Cheladi ins Meer strömende helle Kalkwasser des Kokytos die dahinter liegende Flussmündung und somit einen möglichen Landeplatz.1444 Der Kokytos durchflutet eine fruchtbare Aue, die leider in den vergangenen vier Jahrzehnten in Meeresnähe zunehmend touristisch bebaut wurde. Die einst geräumige Flussaue, die aufgrund des landschaftlichen Reliefs abseits vom Land- und Seeverkehr liegt, war ein hinreichend entlegener Ort, um als reizende Kulisse für die ungestörte Begegnung des dort gestrandeten Odysseus und der beherzten Nausikaa zu dienen, die an der Flussmündung mit ihren Gefährtinnen die Wäsche wusch und danach Ball spielte.1445 Der Waschplatz und die dortige Spielwiese ist bei einer Wegstrecke von anderthalb Kilometer zwar weit, aber nicht allzuweit von der Stadt entfernt,1446 und so fuhr Nausikaa mit dem hübschen Maultiergespann1447 zum Wäschewaschen und fröhlichem 1439 Nahezu den gesamten Verlauf des Flusses zeigt die ‚Map of the territory of Parga‘ von DE BOSSET, der (46) den „Cocytos“ noch als „river“ und „little river“ bezeichnet (ebenso HUGHES 347) – also nicht als „rivulet“ („Bach“). 1440 „The water of the Cocytus is witish, and charged with a calcareous substance, which depositing itself on the neighbouring rocks, form a species of alabaster tufa“ (DE BOSSET 46 f.). 1441 Od. 5,333–353, 458–462. Leukothea bedeutet die „weiße Göttin“. 1442 Od. 5,436 ff. 1443 „Sobald die Deckung durch Corfù aufhört, wird die [thesprotische] Küste wieder unwirthlich und an den Riffen des Vorgebirges Cheimerion tost die Brandung; nur Toryne, das heutige Parga, besass einen kleinen Hafen“ (NEUMANN/PARTSCH 139). 1444 Poseidon warf Odysseus an die Steilküste, die sich nördlich des Phaiakenlandes erstreckt (Od. 5,385 f.), und hinter dem schroffen Felskap (Od. 5,412, 415, 428, 434) rettet er sich an den Strand einer vor dem Nordwind geschützten Flussmündung (Od. 5,441–454). 1445 Od. 6,85 ff. 1446 Vgl. dagegen z. B. das Phaiakenland in der Odyssee-Theorie von Hans-Herman und Armin WOLF (110 f. mit Fig. 34 auf S. 91), bei der die Flußmündung mind. 20 km von der angeblichen Phaiakenstadt Tiriolo entfernt liegt. Warum war Nausikaa „wenigstens 6 bis 8 Stunden“ mit dem Maultierwagen unterwegs (ders. 110), anstatt die Wäsche in der Nähe ihrer Heimatstadt zu waschen?! Armin Wolf (Homers Reise 302) verweist jedoch auf Od. 6,40 („die Waschgruben sind weit von der Stadt“) und kritisiert deshalb a. a. O. meine Deutung. M.E. sind Waschplätze, die ‚nur‘ anderthalb Kilometer von der Stadt entfernt liegen, als „weit von der Stadt“ zu bezeichnen. 1447 Od. 6,69 ff., 316.

2.4 Das neue Finale

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Spielen an die Flussmündung.1448 Da der Palast auf dem über 100 m hohen, kegelstumpfartigen Burgberg am meerseitigen Ende des isthmosartigen Höhenrückens lag, war der Maultierkarren ein geeigneter ‚Geländewagen‘ für Nausikaas Ausflug. Die thesprotische Küste besitzt ein ausgeglicheneres Klima als der Ägäisraum, denn sie ist im Winter milder und im Sommer kühler sowie aufgrund der feuchten Westwinde erheblich niederschlagsreicher. Diesen Sachverhalt hebt auch der Geograph Alfred Philippson hervor: „Sehr groß sind die Gegensätze zwischen der West- und Ostseite“ Griechenlands, denn die Westseite ist sehr regenreich“.1449 In Anbetracht dieser klimatischen Gunst schwärmt der ionische Dichter über das Phaiakenland: „Der täglich und stündlich wehende Westwind lässt ja die Früchte hier wachsen und reifen“.1450 Um einer überzogenen Kritik der zitierten Odysseestelle vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, dass an der Küste des homerischen Phaiakenlandes zuweilen auch andere Winde herrschen, so Süd-, Ost- und Nordwind,1451 die laut Odyssee sogar Sturmstärke erreichen können.1452 Hervorzuheben ist jedoch, dass das Territorium von Parga vorwiegend von Westwinden bestrichen wird und durch einen knapp 1.000 m hohen Gebirgszug gegen die kühlen Nordostwinde abgeschirmt ist.1453 Das somit für seine milden Winter gerühmte Territorium1454 ist zudem ganzjährig süßwasserreich1455 und außerordentlich fruchtbar.1456 Deshalb wurden in der Gegend um Parga in den vergangenen Jahrhunderten nicht nur subtropische Früchte wie Orangen und Zedrate angebaut und exportiert,1457 sondern sogar Zuckerrohr und Reis.1458 Und im Altertum gedieh nahe Parga der sonst nur in Nordafrika wachsende Lotos.1459 So finden die klimatischen Angaben und die paradiesisch anmutenden Ländereien des Phaiakenkönigs Alkinoos, auf dem das ganze Jahr über unterschiedliche Früchte gedeihen,1460 bei Parga nahezu ihre Entsprechung in der Realität. 1448 Od. 6,72 f., 85 ff., 251 ff. 1449 PHILIPPSON, Mittelmeergebiet 102; so hat das der thesprotischen Küste vorgelagerte Korfu 1357 mm Niederschlag jährlich (z.Vgl.: Athen 393 mm). – Ähnliches gilt für Kephallenia (das homerische Ithaka), auf dem es im Winterhalbjahr zuweilen „immer Regen“ gibt (Od. 13,245). 1450 Od. 7,118 f. – An der thesprotischen Küste sind im Winter- und Sommerhalbjahr die Westwinde vorherrschend, während es in der Ägäis v. a. im Sommer die Nordwinde sind (GELSDORF 752). 1451 Od. 5,295, 385. 1452 Od. 5,304 f., 331 f. 1453 PHILIPPSON/KIRSTEN II 99. So war Odysseus vor dem kalten Nordwind geschützt (Od. 5,443, 385). 1454 Die thesprotische Küste ist für „die Lauheit der Winter“ bekannt, denn „letztere sind verhältnismäßig warm infolge des Gebirgsschutzes gegen die Nordostwinde“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 40). 1455 „In the territory of Parga, there are twenty-five rivulets, fountains or abundant springs“. Infolge „the fertilizing influence of the spring and rivulets, which water the soil in every part, the vincinity of Parga has become one of the most smiling and agreeable spots that can be seen“ (DE BOSSET 46). 1456 Das Gebiet um Parga „ist eine der fruchtbarsten Striche von West-Epirus, und die wirtschaftliche Kraft der alten Landschaft Thesprotien hat wohl hier ihren Schwerpunkt gehabt“ (TREIDLER, Epirus 113). Parga exportierte sogar Getreide nach Korfu: PHILIPPSON/KIRSTEN II 236; 278, Anm. 107. Vgl. TURNER 203. 1457 DE BOSSET 48. Vgl. PHILIPPSON/KIRSTEN II 101. 1458 PHILIPPSON/KIRSTEN II 44, 100 f., 260. 1459 TREIDLER, Epirus 114, Anm. 549; mit Bezug auf PHYLARCH fr. 50 (F. H. G. I, 350). 1460 Od. 6,293 ff.; 7,116.

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Rätselhaft ist bislang die Erzählung des Phaiakenkönigs Alkinoos, dass einst Seeleute seines Volkes den Helden Rhadamanthys nach „Euboia“ gebracht hätten, „das wohl am fernsten liegt, wie Augenzeugen berichten“; und die Phaiaken „brauchten nur einen Tag ans Ziel und wieder zurück in die Heimat“.1461 Mochte man den homerischen Phaiaken, die ja ausdrücklich am Rande der griechischen Oikumene siedelten,1462 noch zugestehen, dass sie dank ihrer angeblichen Wunderschiffe für die Hin- und Rückfahrt zur zentral gelegenen Ägäisinsel Euboia nur einen Tag benötigten, so erscheint die Aussage des Alkinoos, Euboia läge „am fernsten“, unerklärlich – und zwar unabhängig davon, ob man das Phaiakenland geographisch lokalisiert oder es als fiktiven Ort betrachtet. Denn die große Ägäisinsel Euboia, die der mittelgriechischen Küste unmittelbar vorgelagert ist, lag wohl in den Augen keines Volkes „am fernsten“, und schon gar nicht für die seefahrenden Phaiaken, die ausdrücklich Orte, Landschaften und Inseln nördlich, östlich und südlich von Euboia kannten, nämlich Thrakien, Lemnos, Ilion (Troja) und sogar das ferne Zypern.1463 Wenn die Aussage des Alkinoos in dem vorliegenden Kontext überhaupt Sinn macht, kann das Toponym „Euboia“ keinesfalls die gleichnamige Ägäisinsel bezeichnen. Deshalb fragte bereits Friedrich Gottlieb Welcker, ob hier nicht ein anderes Euboia „gemeynt sey?“1464 Nun wissen wir von Strabon, dass es auf der westgriechischen Insel Kerkyra, die noch vor der Inbesitznahme durch die Korinther von proto-euboiischen Kolonisten besiedelt worden war,1465 einen Ort namens Euboia gab, worauf schon Ulrich von Wilamowitz bei der Deutung der homerischen Rhadamanthysfahrt hinwies.1466 Dieser frühgriechische Ortsname Euboia bezeichnete wohl den Hauptort der Euboier auf Kerkyra, der aufgrund topographischer Bedingungen zu allen Zeiten im mittleren Bereich der Ostküste der Insel lag und somit dem nordwestgriechischen Festland zugewandt ist. Wenn Alkinoos die kerkyräische Hafenstadt Euboia meinte, dann kann die Erzählung über die Reise des Rhadamanthys nun einer historisch-geographisch plausiblen Lösung zugeführt werden. Denn die Hafenstadt der Phaiaken, also das heutige Parga, liegt nur knapp 40 Seemeilen (ca.70 km) von der Hauptstadt Kerkyras entfernt. Da antike Segelschiffe bei günstigem Wind bis zu 6 Knoten liefen,1467 war die Strecke vom Phai1461 Od. 7,321–326. „Die Geschichte, auf die hier angespielt wird, ist uns gänzlich unbekannt“ (WILAMOWITZ, Ilias/Homer 499). Auch wenn die Rhadamanthys-Geschichte ein „Einschub“ eines Interpolators sein sollte (KIRCHHOFF 202; vgl. 190), passt sie in den geographischen Kontext. 1462 Od. 6,205; vgl. Od. 6,8 u. 279. 1463 Die Phaiaken kennen Thrakien (Od. 8,361), Lemnos (Od. 8,283, 294, 301), Ilion (Od. 8,495, 578, 581; vgl. 503) und Zypern (Od. 8,362), und ihre Schiffe besuchen „alle [Hafen-] Städte“ (Od. 8,560). 1464 WELCKER 29, Anm. 56; mit Verweis auf EUSTATHIOS (zu Ilias 2,536), der u. a. an Kerkyra denkt. – König Alkinoos spricht nicht von einer νῆσος namens Euboia (Od. 7, 321). 1465 Die Insel Kerkyra wurde „wegen ihrer Lage am Seewege nach dem Westem zuerst von Eretriern, dann von dorischen Korinthern besetzt“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 421). Vgl. PLUTARCH, Quaest. Gr. 11. 1466 WILAMOWITZ, Untersuchungen 172, Anm. 4: „auch ein Euboia gab es auf Korkyra, Strab. 449)“. „Die Niederlassung der Eretrier auf Korkyra [Plut. qu. Gr. 11] für historisch zu halten … wird unterstützt durch das Zeugnis Strabons p. 449, der einen Ort Euboia auf Korkyra anführt“ (GEYER 61; vgl. Strab. 6,2,4). 1467 CASSON, Ships 285 ff.

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akenland zum kerkyräischen Euboia und zurück im günstigsten Fall in etwa 14 Stunden zu bewältigen. Folglich hätten die seeberühmten Phaiaken, die den Rhadamanthys fuhren, die Reise tatsächlich innerhalb eines Tages durchführen können, ohne ermüdet zurückzukehren, wie Alkinoos prahlend betont. Die Küstenlandschaft Thesprotien wird vom Fluss Acheron durchströmt, der im Mündungsbereich wegen seiner „fast 20 km langen, Acherusischen Sümpfe“ einen natürlichen Limes bildete.1468 Der Acheron, der 10 km südöstlich von Parga in den thesprotischen Golf mündet,1469 markierte, wie Herodot berichtet, die westliche Grenze des griechischen Erdraumes.1470 Die „ganz zu äußerst“ (ἔσχατος) wohnenden Phaiaken der Odyssee sind folglich beim Acheron zu lokalisieren, der seit homerischer Zeit in der griechischen Mythologie als Totenfluss gilt,1471 weil sich in der kosmologischen Vorstellung der frühen Griechen das dunkle Jenseits westwärts erstreckte. Vor diesem Hintergrund wird die merkwürdig erscheinende Aussage der phaiakischen Prinzessin Nausikaa überhaupt erst verständlich, ihrer festländischen Heimat könne sich von Land her „kein Sterblicher nähern“.1472 Folglich liegt die Hafenstadt der Phaiaken in der Vorstellung des Dichters jenseits von Griechenland, also westlich der Acheronmündung, was ja auf Parga zutrifft. Und weil die homerischen Phaiaken bereits jenseits des Acheron leben, bringen sie „immer Menschen nach ihrer irdischen Heimat und zu den Lebenden zurück, niemals zu den Toten hinüber“,1473 wie unmissverständlich festzustellen ist. „Dazu kommt, daß die Pheaken der Odyssee durchaus nicht mit den Verstorbenen, sondern nur mit Lebendigen und den wirklichen Menschen verkehren“, worauf bereits Ludwig Preller aufmerksam machte.1474 Obwohl sich das homerische Phaiakenland nach frühgriechischer Topographie hinter dem Totenfluss Acheron befand, lag es dennoch nicht weit vom westgriechischen Inselraum entfernt, wie die Abdrift des Odysseus belegt: Ihn verschlug der Sturm kurz vor Erreichen der Heimatinsel Ithaka zu den Phaiaken,1475 und „daher auch die Phäaken keine Verwunderung bezeigen, als ihnen Odysseus erzählt, daß er mit Fahrwind auf dem Wege nach Ithaka in die Nähe Scheria’s gekommen sei“.1476 Die räumliche Nähe zwischen den Kephallenen und Phaiaken indiziert auch die Zeitangabe über die Rück1468 PHILIPPSON/KIRSTEN II 104. „Im Altertum wird eine Acherusía Límne, also ein See, nicht ein Sumpf, genannt, durchflossen vom Acheron“ (II 105). 1469 Östlich der Paxoi registriert man „den stumpfen Winkel der Festlandsküste, den die Alten als thesproticus sinus bezeichnet zu haben scheinen; der heutige Meerbusen von Parga wird mit ihm identisch sein, wie auch R. Kiepert mit recht angenommen hat“ (TREIDLER, Epirus 110; vgl. Liv. 8,24,3). 1470 Hdt. 8,47. – „Die Identifizierung ist durch die häufige Schilderung des Achéron als des Totenflusses gesichert“ (PHILIPPSON/KIRSTEN II 39). 1471 Ilias 10,513; 23,27 f. Od. 10,513 (ebenso u. a. Aischyl. Ag. 1160. Pind. Pyth. 11,21). – Im Phaiakenland spielt der Dichter mit dem Motiv des Todes (Od. 5,489 f.; vgl. 13,79 f.). 1472 Od. 6,205. Dagegen ist von See her Scherie für Sterbliche zu erreichen (6,276 ff.; 7,32; 8,28 f.). Das indiziert auch die wehrhafte Stadtbefestigung mit Mauerring (7,44 f.) und Türmen (6,262). 1473 EITREM, Phaiaken 1527,5 ff. – Vgl. Od. 7,319 ff.; 13,78–92. 1474 PRELLER Ib 493. 1475 Od. 5,268 ff. 1476 VÖLCKER 123 (mit Bezug auf Od. 7,266).

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fahrt des Odysseus: Die edlen phaiakischen Jünglinge, die Odysseus heimbrachten, bestiegen bei Sonnenuntergang das mit Segel und Rudern ausgestattete Schiff, und sie erreichten Ithaka schon während der Morgenröte.1477 Dementsprechend konnte der ca. 75 Seemeilen lange Seeweg von Parga bis zum Hafen von Ithaka (bzw. Kephallenia) tatsächlich in nur einer Nacht bewältigt werden.1478 Also, einerseits siedelten die homerischen Phaiaken nach frühgriechischer Vorstellung weltabgeschieden, „weitab von erwerbenden Menschen“,1479 nämlich jenseits des Toten-Flusses Acheron, andererseits konnten sie innerhalb nur einer Nacht zum kephallenischen Inselraum gelangen,1480 der dem mittelgriechischen Doppelgolf von Patras und Korinth vorgelagert ist und für gute Augen bei günstiger Witterung gerade noch in Sichtweite von Parga liegt.1481 Daran zeigt sich, wie spielerisch der Dichter mythische Motive in seine Erzählungen einwebt und zugleich ein geographisch stimmiges Weltbild zeichnet, das keineswegs märchenhaft bzw. utopisch ist. Dieses Beispiel zeigt auch, wie schnell man bei der Interpretation der Odyssee Schiffbruch erleidet, wenn man deren Angaben nicht historisch-geographisch deutet. 2.4.3 Die west-ionischen Seefahrer Die Phaiaken, an deren Königshof der schiffbrüchige Odysseus die Geschichte seiner angeblichen Irrfahrt erzählt, nehmen innerhalb der Odyssee eine Sonderstellung ein, weil sie zur Rahmenhandlung gehören. Während die Personen und Völker in der Irrfahrterzählung des listigen Odysseus einen fiktionalen Charakter aufweisen dürfen, müssen die Phaiaken innerhalb der epischen Wirklichkeit ebenso real sein, wie z. B. das westgriechische Inselvolk der Kephallenen oder die von Telemach besuchten Spartaner.1482 Und davon zeugt auch die Qualität der homerischen Angaben über die Phaiaken. So werden „die Phaiaken in der Odyssee ganz menschlich geschildert“,1483 und dement1477 Od. 13,35, 94. 1478 Die Phaiaken brachten Odysseus auf einem mit den besten 52 Jünglingen bemannten Segelschiff (Od. 8,35 f., 52 f.) in nur einer Nacht heim (13,35 ff. mit 93 ff.); allerdings war es eine lange Herbst- bzw. Winternacht (vgl. 14,457 f.; 15,392; 17,25, 191, 572, 328). Der Seeweg von Scherie (Parga) zum Stadthafen von Ithaka (Kephallenia) beträgt ca. 80 sm. Da von Sonnenuntergang bis zum morgendlichen Aufgang der Venus (13,93) im Winter bis zu dreizehn Stunden vergehen, war die Distanz mit der realistischen Geschwindigkeit von ca. 6 kn zu bewältigen (vgl. CASSON, Ships 285 ff.). 1479 Od. 6,8. 1480 Dietrich MÜLDER (Ithaka 25), der eine geographische Interpretation ablehnt, kommentiert das Geleit für Odysseus dagegen wie folgt: Die Phaiaken wohnen nach Od. 8,6 „fern von der Menschenwelt. Weil sie den Odysseus so schnell heimbringen, vermutet man örtliche Nähe, aber diese Schnelligkeit erfolgt ausdrücklich auf übernatürliche Weise, wodurch Nähe ausgeschlossen wird“. 1481 „The eye ranges [von der Burg von Parga] over a part of the Ionian Sea; on the left is seen the Isle of santa Maura [Leukas] …; further on, appear the mountains of Cephalonia“ (DE BOSSET 42). Vgl. Walter LEAF (182): „It is necessary to realize that Corfu is in sight of Leukas and Cephalonia [?] – far away on the horizon, it is true, but still in sight”. 1482 Sparta (Od. 1,93, 285; 2,214, 327, 359; 4,1, 10; 11,460; 13,412) und Lakedaimon (3,326; 4,313, 702; 5,20; 13,414, 440; 15,1; 17,121; 21,13) sind synonym. 1483 EITREM, Phaiaken 1522,32 f.; vgl. 1532,21 ff.

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sprechend stellt selbst der schiffbrüchige Odysseus nach seiner Strandung im Phaiakenland unmissverständlich fest: „Doch eines ist sicher: Menschen mit menschlicher Stimme bin ich jetzt nahe“.1484 Bedenkt man zudem, dass sich die Schilderung der Gründung der phaiakischen Hafenstadt „wie die Darstellung einer rein historischen Kolonisation liest“,1485 dann erscheint es aus Sicht der Historischen Geographie ebenso legitim wie geboten, Wesen und Identität dieses Volkes nun zu untersuchen,1486 und zwar unbeirrt von den vielen tradierten Behauptungen, die seit zwei Jahrhunderten die Fachliteratur beherrschen, wonach das Phaiakenland samt seiner Bewohner der „wunderbaren Traumgeographie“ angehöre.1487 Auch darf man sich von den ebenso unbegründeten wie apodiktischen Worten selbst eines Ulrich von Wilamowitz nicht einschüchtern lassen: „Es bedarf eigentlich keines Wortes, daß dem Dichter Scheria kein geographisch bestimmtes Land ist und die Phäaken kein gewöhnliches Menschenvolk“.1488 Immerhin schrieb schon Theodor Bergk in seiner ‚Griechischen Literaturgerschichte‘, dass Land und Volk der Phaiaken „kein rein mythisches Gebilde“ sind.1489 Falls die homerischen Phaiaken als ein reales Volk zu betrachten sind, dann war es zweifellos ein ‚außergewöhnliches Volk‘, das es aufgrund seiner Künste und Technologie verdient hat, zu Beginn der abendländischen Geschichte besungen zu werden. Der Versuch, die homerischen Phaiaken ethnisch zu bestimmen, kann sich zunächst auf eine Beobachtung des Odysseus stützen, die er beim Anblick der phaiakischen Prinzessin Nausikaa und ihrer Gefährtinnen äußerte: Solche Mädchen habe er einst „beim Altar des Apollon in Delos gesehen“,1490 also auf dem winzigen Ägäiseiland, das das Hauptheiligtum der ionischen Griechen trug.1491 Die homerischen Phaiaken sind somit als Ionier zu identifizieren, und folglich ist „das Phäakenleben sorgfältig dem Jonischen nachgebildet“.1492 So sind die Phaiaken, wie sonst „nur die Jonier, gewandschleppend und in weiße Gewänder gekleidet“,1493 und an den phaiakischen Festmählern nehmen, wie bei den Ioniern, auch Frauen und Mädchen teil.1494 Angesichts des Festes, das die Phaiaken zu Ehren des Odysseus austragen und bei dem Demodokos vom Untergang Trojas singt, bemerkt selbst Friedrich Gottlieb Welcker: „Wer erinnert sich nicht bey diesem Feste der Jonischen Panegyris in Delos in dem Homerischen Hymnus?“1495 1484 Od. 6,125. Im Phaiakenland sah Odysseus die „Felder und Äcker der Menschen“ (Od. 6,259). 1485 JESSEN, Phaiaken 2204,40 f. (mit Bezug auf Od. 6,8 ff.). Vgl. LEHMANN-HARTLEBEN 13. 1486 Denn „der eigentliche Schauplatz für dies Kampfspiel [der Streit über das Wesen der Phaiaken] sind die Untersuchungen über die Homerische Geographie“ (WELCKER 58). 1487 BURCKHARDT, Phäakenland 116. 1488 WILAMOWITZ, Ilias/ Homer 499. 1489 BERGK 787. 1490 Od. 6,162; vgl. 149–169. In der Argonautensage des Apollonios Rhodios (4,1303) sind die phaiakischen Mädchen blond, wie Medeia (3,829). 1491 Vgl. Hom. h. 3,146 ff. 1492 WELCKER 65. Die ionischen Sitten und Gebräuche der Phaiaken behandelt WELCKER (30–36). 1493 WELCKER 30; mit Verweis auf die Ilias (13,685) und den „Homerischen Hymnus an die Delier“. 1494 WELCKER 34; vgl. Od. 8,243. 1495 WELCKER 33 (vgl. Od. 8,97 ff., 256 ff., 487 ff.). „An diesem Feste traten auch Homeriden und Hesiodische Rhapsoden auf “ (ders. 34).

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Auch sei erwähnt, dass, dem ionischen Herrschaftssystem entsprechend, bei den homerischen Phaiaken zwölf Archonten mit einem dreizehnten Primus inter pares regieren, der der König Alkinoos ist.1496 Die Phaiaken sind also „ganz Jonier der [homerischen] Zeit“,1497 und der Dichter bietet mit seiner Beschreibung des Phaiakenlandes eine „fast realistische Darstellung eines ionischen Adelsstaates und seines kulturellen Lebens“.1498 Sogar Ulrich von Wilamowitz spricht von „den ganz ionisierten und ganz menschlichen Phäaken“,1499 und die homerische Beschreibung von der Landnahme durch die Phaiaken und den Aufbau ihrer Stadt namens Scherie1500 gilt als „ein Idealbild einer ionischen Neugründung“.1501 – Grundsätzlich stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien es sich überhaupt noch entscheiden lässt, ob die vom Dichter bis ins Detail wie reale Ionier gezeichneten Phaiaken als ein historisches oder ein fiktives Volk zu deuten sind?! Obwohl die phaiakischen Kolonisten einen befestigten Seestützpunkt mit einem auch landwirtschaftlich genutzten Polisgebiet unterhielten, stellt der Dichter sie weniger als Ackerbauern als vielmehr als Seefahrer dar. Ja, sie glänzten vor allen anderen in der Seefahrt und im Schiffbau, wie die Odyssee mehrfach hervorhebt.1502 So werden die Phaiaken als „schiffsberühmt“1503 und sogar als „die ersten Meister der Seefahrt“ bezeichnet.1504 Wenn wir nun fragen, welche Griechen zu homerischer Zeit „die Schiffsberühmten“ waren, dann werden wir – mit den Worten aus dem homerischen Hymnos an Apollon – auf „die schiffsberühmten Euboier“ verwiesen,1505 d. h. auf jene ionischen Griechen, die seit der Mitte des 8. Jhs. die Meere beidseits von Griechenland befuhren und kolonisierten. So trifft vielleicht das Urteil von Hans Treidler zu, dass der Name „’Ionisches Meer‘ die lebendige Erinnerung an die großen kolonialen Leistungen des seetüchtigen hellenischen Stammes bewahrt hat“.1506 Für die These, die Phaiaken als einen Volksstamm euboiischer Herkunft zu deuten, spricht jedoch vor allem der Personenname Phaiax (es ist der Heros eponymos der Phai-

1496 Die Führungsriege der Phaiaken (Od. 8,157, 390 f.) entspricht den Häuptern „der gentilizischen Verbände des Demos, wie die ‚Könige‘ der attischen Phylen“ (EITREM, Phaiaken 1520,5 f.). 1497 WELCKER 29. „In den Phaiaken mußten die Jonier … ihre eigene Natur erkennen“ (ders. 35). 1498 GEISAU 4, Phaiakes 690,1 ff. „Die Phäaken schildert [der Dichter] A uns als lebendiges Abbild der ionischen Seefahrer; das Treiben in ihrer Stadt und im Hafen ist ein köstliches Bild einer ionischen Stadt“ (MERKELBACH 234 f.). 1499 WILAMOWITZ, Heimkehr 181. Ähnlich äußert sich u. a. Uvo HÖLSCHER (Odyssee 109). 1500 Od. 6,7–10 (vgl. 6,262–272; 7,34–46; 8,555–563). 1501 EITREM, Phaiaken 1519,48 f. (s. RHODE, Psyche I 83). 1502 Odysseus stand und bewunderte die Häfen und seetüchtigen Schiffe … ein Wunder zu schauen“ (Od. 7,43 ff.; vgl. 6,264 ff.). Die Phaiaken sind die „Freunde der Ruder“ (Od. 5,386; 8,96, 191, 535, 369; 11,349; 13,36, 166). – „Ruderliebend“ sind auch die nordwestgriechischen Taphier (Od. 1,181, 419). 1503 Od. 6,22; 7,39; 8,191, 369; 13,166; 16,227. – Auch die Phönizier sind „schiffsberühmt“ (Od. 15,415). 1504 Od. 8,247; vgl. 7,108 f. Und Alkinoos prahlt, Odysseus „soll daheim seinen Freunden erzählen, wie wir [Phaiaken] die anderen weit übertreffen, geht es um Schiffahrt“ (Od. 8,251 f.). So ist das Geleit der Phaiaken stets zuverlässig und sicher (Od. 7,192 ff.; 8,566). 1505 Hom. h. 3,31 u. 219. Die auf Euboia gelegenen „beiden Nachbarstädte Chalkis und Eretria sind im 8. und in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts die bedeutendsten Handelsstädte des europäischen Griechenlands“ (MEYER, Geschichte V 406). Vgl. PHILIPPSON, Euboia 855,53 ff. 1506 TREIDLER (Meer 94).

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aken), der einzig in einer Inschrift auf Euboia belegt ist!1507 Da in der Ilias die Bewohner der Insel Euboia als Abanten bezeichnet werden,1508 müssten die homerischen Phaiaken ein Volksstamm der ionischen Abanten sein,1509 der sich zu Beginn der griechischen Westkolonisation an der thesprotischen Küste festsetzte.1510 Und tatsächlich haben wir Kunde, dass nach dem Fall von Troja in den nordwestgriechischen Küstenraum Abanten eingewandert sind.1511 Mehr noch: Wie Pausanias einer alten Inschrift in Olympia entnahm, trug den Namen Abantis nicht nur die Insel Euboia,1512 sondern auch ein Küstenbereich von Thesprotien.1513 Hinzu kommt die Kunde von einer euboiischen Kolonie namens „Phaiake“,1514 die in vorklassischer Zeit an der nordwestgriechischen Festlandsküste lag, gegenüber der Insel Kerkyra.1515 Es gibt also eine historische Lizenz für die hier dargelegte These, dass die Phaiaken ein Volksstamm derjenigen Abanten (Euboier) waren, die sich an der thesprotischen Küste niedergelassen hatten. Über eine ganz andere Indizienkette, die auf einem seltsam erscheinenden Scholion zur Odyssee beruht, hatte bereits Barthold Georg Niebuhr „nicht den geringsten Zweifel“, „daß das Alterthum die Phäaken“ Homers ursprünglich an der nordwestgriechischen Küste fixierte.1516 Und auch der berühmte Odyssee-Übersetzter Johann Heinrich Voss verortete die Phäaken im Bereich Thesprotiens.1517 1507 IG XII 9 nr. 191 B 24. Phaiax ist der Sohn des Poseidon und der von ihm entführten Korkyra (Hellanik. frg. 77). 1508 Ilias 2,536, 540, 541; 4,464. – „Der Hauptsitz der Abanten war wohl Mittel-Euboia“ (GEYER 61). 1509 Die Abanten gehörten „der altaiolischen Bevölkerung an“(GEYER 61) und wurden „allmählich ionisiert“ (ders. 21). Nach HERODOT (1,146) nahmen sie als Ionier an der Kolonisation Kleinasiens teil. 1510 Die Erschließung der Westroute erklärt, warum „die Abanten grade Corcyra gegenüber eine Niederlassung gründeten, weshalb endlich die Eretrier noch vor der dorischen Einwanderung auf Corcyra einen Versuch machten“, die Insel zu besetzen (DONDORFF 41). Vgl. Plut., Quastiones Graecae, 11, p. 293. „Für eine eretrische Kolonie auf Kerkyra spricht“ auch „die spätere kerkyräische Münzprägung: eine Kuh, die ihr Kalb säugt“; dieses Motiv ist ein „spezifisch euboiischer Typus“ (PARKER 56). 1511 Zu dem wenigen, „was vor dem 8. Jahrhundert von gemeinsamen Unternehmungen der Euboier berichtet wird“, „gehören die Siedlungen der Abanten in Illyrien an den keraunischen Bergen; von Troja zurückkehrend wurden sie dorthin verschlagen“ (GEYER 24). Folglich bestanden „vielfache Verbindungen zwischen Euböa, Böotien und der Epirotischen Küste“ (DONDORFF 28). Vgl. Strab. 10,1,15; Paus. 5,3–4; Ps.-Skymn. 441–443; Steph. Byz. s.v. Ἀμάντια. 1512 Hes. Aigim.frg. 186,1 f. Eur. Heraclid. 185. Apoll. Rhod. 4,1135. Strab. 10,1,3. Kall.h. 4,20. – Der Inselname Euboia erscheint zuerst bei HOMER (Ilias 2,535). 1513 Paus. 5,22,4. Siehe auch ‚Abantes‘ bei Steph. Byz. 1514 Hekat. frg. 76 bei Steph. Byz. – Phaiake fiel „aber den Epiroten wieder zu, die Baiake sagten, weil sie keine Aspiraten hatten“ (WILAMOWITZ, Ilias/Homer 503). Der Etymologe Konrad SCHWENCK (110) schreibt bzgl. des Toponyms „Φαίακις, dessen Wurzel αἰα ist, also verwandt mit dem Namen der Phäaken; so kommen mehrere Namen vor, denen der P Laut vor αἰα getreten ist; Βαῖαι, Βαῖβαι, Βαιάκη in Chaonien“. 1515 Auch wurde „die Halbinsel Makridia, Korkyra gegenüber, durch Euböer nach der Einnahme Trojas besetzt (Schol. Apoll.Rhod. 4,1175)“ (WELCKER 39, Anm. 70). 1516 NIEBUHR 256 (mit Bezug auf Schol. Odyss. 18,85). „Schon früher erklärte Niebuhr die Phäaken für Epiroten“ (WELCKER 57,125; mit Verweis auf die Jen. Lit. Zeit. 1813, 69). Friedrich Gottlieb WELCKER meint jedoch (wie mir Gerrit WALTHER, Wuppertal, dankenswerterweise mitteilte) die ‚Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung‘ Jg. 1813, Spalte 69). 1517 VOSS, Myth. Briefe III 173: „Seht droben vor dem Thesproterlande, wo Barbarei [d. h. der unzivilisierte Teil des Balkans] anfängt, die äussersten Fäaken in Scheria“.

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Bislang stritten namhafte Homerphilologen darüber, in welcher Gegend die Phaiakensage heimisch war. Während u. a. Paul Kretschmer für Thesprotien votierte,1518 behauptete v. a. Ulrich von Wilamowitz, die Phaiakensage stamme aus Euboia, weil die Odyssee auf die ionische Nationalität der seefahrenden Phaiaken hindeute.1519 Viele Philologen legen sich in dieser Kontroverse jedoch nicht fest, denn „welcher griechischer Stamm die Phaiakensage zuerst erzählte, läßt sich nicht ausmachen“, und „man wird weder für ionischen, noch für thesprotischen Ursprung der Phaiakensage überzeugende Gründe beibringen können“.1520 Auf dieses fruchtlose Entweder-Oder ist mit einem problemlösenden Sowohl-Als-auch zu antworten, denn die homerischen Phaiaken, die offensichtlich dem Zeitalter der frühgriechischen Westkolonisation angehören,1521 sind einerseits euboiische Emigranten und andererseits thesprotische Immigranten.1522 Obwohl das Gebiet von Parga bereits in mykenischer Zeit besiedelt worden war und vom damaligen Seeverkehr profitierte,1523 ist die vor- und frühgriechische Geschichte der Hafenstadt weitgehend unbekannt.1524 Allerdings ist anzunehmen, dass die frühen euboischen Seefahrer das Territorium von Parga nicht nur wegen der landschaftlichen Vorzüge annektiert hatten, sondern insbesondere wegen seiner seestrategischen Lage.1525 Denn einerseits bietet Parga den besten Naturhafen Thesprotiens, und andererseits galt es stets als „the Ear and the Eye“ der Insel Kerkyra,1526 weil es die südliche Zufahrt zu dem Binnenmeer beherrschte, das die sichelförmige Insel Kerkyra mit dem nordwestgriechischen Festland bildet. Und da Kerkyra der nordwestliche Vorposten der Euboier im griechischen Erdraum war, bevor die Korinther sie gewaltsam verdrängten,1527 hat die strategische Position von Parga sicherlich schon das vitale Interesse der frühen Seefahrer aus Euboia geweckt. So könnte der antike Name der Hafenstadt Parga, der Toryne

1518 KRETSCHMER (281) „folgert aus der Synonymität von Σχερίη und Ἤπειρος, daß die Phaiakensage in Epirus heimisch sei“ (JESSEN, Phaiaken 560,56 ff.). Vgl.a. MAYER 76. 1519 Denn „die Ionier von Euboea waren ganz voll von den homerischen Gedichten“ (WILAMOWITZ, Phaeaken 1043). Vgl. WILAMOWITZ, Untersuchungen 188; WILAMOWITZ, Ilias/ Homer 501 ff. 1520 JESSEN, Phaiaken 2218,59–66. – „Über den Entstehungsort der Phaiakis wüßte ich nichts Sicheres zu sagen“ (BETHE 368). 1521 Vgl. Od. 6,2 ff. 1522 Dafür spricht auch die prächtige Ausstattung des Palastes des Alkinoos: „Wenn in Scherie bei den Phäaken ein Palast mit Kyanon-Fries sich findet, wie in Tiryns und Mykene, und links und rechts von der Tür metallene κύνες, gleich den Flügelwesen in den mykenischen Kuppelgräbern“, dann dürften sie aus dem Ägäisraum eine reichere Kultur als die westgriechische mitgebracht haben (RÜTER 45). 1523 Parga liegt „in einem Gebiet, das schon in mykenischer Zeit besiedelt war“ (OBERHUMMER, Parga 687). Etwa 3 km östlich von Parga wurde ein Kuppelgrab aus der Zeit 1230–1200 v. Chr. gefunden (BRODBECK-JUCKER 94; mit Literaturangaben). 1524 „Von der antiken Besiedlung wissen wir wenig“ (TREIDLER, Epirus 111). „Die Reste [v. a. „römische Reste, auch von einem Molo“; PHILIPPSON/KIRSTEN II 99, Anm. 1] lassen den Schluß zu, daß Toryne in späthellenistischer und römischer Zeit ein wichtiger Umschlagplatz war“ (SCHEER, Parga 510). 1525 „A spot like that upon which Parga is situated, uniting so many advantages, was, in all probability, not neglected by the ancients, who were in general so judicious in the selection of the site of their town“ (DE BOSSET 47). Vgl. PHILIPPSON/KIRSTEN II 243. 1526 DE BOSSET 46. Vgl. PHILIPPSON/KIRSTEN II 240. 1527 GEYER 41, 61.

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(Τορύνη) lautet,1528 ein Indiz der proto-euboiischen Gründung sein, denn er ähnelt auffallend dem Stadtnamen Torone (Τορώνη), den die wichtigste von Euboiern gegründete Kolonie auf der nordgriechischen Halbinsel Chalkidiki trug.1529 Und noch aus einem anderen Grund musste der Naturhafen von Parga das vitale Interesse der frühen Seefahrer aus Euboia geweckt haben: Die thesprotische Küste ist nämlich derjenige nordwestgriechische Küstenraum, von dem aus die antiken Seefahrer bei ihren Überseefahrten in Richtung Süditalien und Sizilien terrestrisch navigieren konnten.1530 Denn bei der Fahrt von Parga westwärts ist bei günstiger Witterung entweder das rückwärtige Gebirgsmassiv von Epirus zu sehen oder voraus der Gebirgsstock Sila in Kalabrien, dessen Ostvorsprung die antike Hafenstadt Krotone beherrschte, in deren Gründungslegende übrigens die Phaiaken wiederkehren: Kroton, der Heros eponymos der Stadt, galt als Bruder des Phaiakenkönigs Alkinoos.1531 Parga, das nahezu exakt östlich von Krotone liegt, bildete somit einen Brückenkopf der auf terrestrischer Navigation basierenden Seeroute von Griechenland nach Italien. Und wegen dieser strategischen Lage trat die Hafenstadt zu Beginn der Römischen Kaiserzeit ins Rampenlicht der Weltgeschichte, als nämlich Octavian mit seiner Flotte nach der Überfahrt von Italien in Toryne (Parga) vor Anker ging, um seinen Gegnern Antonius und Kleopatra die Schlacht anzubieten,1532 die kurz darauf 25 sm weiter südöstlich vor Actium ausgetragen wurde (31 v. Chr.). Im Zeitalter Homers galt die Direktüberquerung des Ionischen Meeres zwischen Griechenland und Süditalien bzw. Sizilien noch als ein wagemutiges Abenteuer, zumal solche Überseefahrten vom ‚Diesseits‘ ins unbekannte ‚Jenseits‘ führten, das sich die frühen Griechen stets im fernen Westen dachten.1533 So werden die Phaiaken auch als „Fährmänner des Todes“ gedeutet, obwohl die Odyssee dazu wenig Anlass gibt.1534 Zwar 1528 Plut. Ant. 62. Ptol. III 14,5. – In römischer Zeit galt Toryne als Kolonie der Elier (Plut. Ant. 62 u. Ptol. 3,13,3); die Euboier waren schon früh auch in Elis präsent, wovon z. B. der elische Hafenort Chalkis zeugt (Od. 15,295). 1529 Hdt. 7,122; 8,127. Thuk. 4,110,2. 1530 Siehe dazu die von Carl NEUMANN erstellte „Karte der Meeresteile, darin sich der Beobachter außerhalb Landsicht befindet“ (die Karte ist abgedruckt in BALMER 280/281). – „Da von dem Gestade Chaoniens [Küstenlandschaft nordöstlich von Kerkyra/Corfu] aus die Gipfel des Garganos und der Abbruzzen ersichtlich sind, so musste sich von hier aus bald nach Erwerbung der ersten Kenntnisse der Schifffahrt Seeverkehr mit der Ostseite der italischen Halbinsel entwickeln“. Und „indem an klaren Tagen von dem Strande bei Otranto die Gebirge Albaniens sichtbar sind, war andererseits auch für die Rückfahrt ein geeignetes Objekt gegeben“ für die terrestrische Navigation (HELBIG 285). 1531 Schol. Theokr. IV 32a. Kroton war ein Sohn des Phaiax (a. a. O.). – Auf die frühen Beziehungen zwischen den Bewohnern der Küste von Epirus und Krotone verweist Wolfgang HELBIG (268 f.). 1532 PHILIPPSON/KIRSTEN II 100. „Irrig noch Kromayer-Veith“, die (Röm. Abt. Bl. 24) die den Landungsort des Octavian mit dem Ort Arpitsa identifizierten (dies. II 100, Anm. 5). 1533 U. a. Od. 4,563 ff.; 24,1 ff. 1534 WELCKER 15. Dabei gesteht Friedrich Gottlieb WELCKER (67) selbst ein, dass „die Phaiaken wegen ihres Wohllebens sich nicht zu Todtenschiffern eigneten“! Schon Ludwig PRELLER (I 393) mahnte: „Aber abgesehen davon, daß den Griechen jene Sage [von der „nordischen Todteninsel“] in so alter Zeit schwerlich bekannt sein konnte, wie reimt sich das Wohlleben der Phäaken, der heitere Glanz und alle die lustigen und fröhlichen Gewöhnungen ihres Daseins mit solchen Geschäften des Todes, da die Alten doch allen Tod und allen Verkehr mit dem Tode nie anders als mit den düsteren Farben zu malen pflegen? Dazu kommt, daß die Phäaken der Odyssee durchaus nicht mit Verstorbenen, sondern nur Lebendigen und den wirklichen Menschen verkehren“.

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sind nach der Vorstellung des Odysseedichters die Phaiaken am westlichen Rande des griechischen Erdraumes anzusetzen, jenseits des Acheron, aber für die Phaiaken selbst existierte ein westliches Jenseits, das nicht mythisch, sondern geographisch zu verstehen ist, wie die Frage des Phaiakenkönigs Alkinoos indiziert, ob der schiffbrüchige Odysseus „aus Ost oder West“ gekommen sei.1535 So ist zu homerischer Zeit „das Land der Phäaken gleichsam die geographische Scheidelinie zwischen der entdeckten und der unentdeckten Welt“, wie schon William Gladstone treffend bemerkte.1536 Hervorzuheben ist zudem, dass die Länder des Westmeeres bis ins 8. Jh. hinein im mythischen Nebel lagen1537 und aufgrund der technischen Bedingungen nur unter Bewältigung von Nachtfahrten zu erreichen waren.1538 Und weil die Phaiaken schon früh die Ost-West-Route bedienten,1539 beherrschten gerade sie die nächtliche Navigation, wie die Odyssee bezeugt.1540 Die in der Nautik führenden Phaiaken fuhren also schon zu homerischer Zeit „gegen alle Menschensitte bei Nacht“,1541 und „aus dem nächtlichen der Fahrt erklärt sich ganz einfach der bezeichnende Name“ der Phaiaken, „der aus φαίαξ, Verstärkung von φαιός, Dunkelmann,“ abzuleiten ist;1542 d. h. aufgrund ihrer fortschrittlichen Überseefahrten westwärts durch Nacht und Nebel erhielten die von Homer besungenen Seefahrer den stolzen Namen „Phaiaken“. Wenn die Phaiaken am damals aufblühenden Überseeverkehr in ‚die Neue Welt‘ (Magna Graecia) partizipierten und folglich in Navigation und Schiffbau führend waren (wie die Odyssee wiederholt betont), dann erscheinen die prahlenden Worte über die wunderbaren Schiffe der Phaiaken in einem anderen Licht. Denn die schnellen ‚Überseeschiffe’, die wie von Gedanken geleitet „in Dunkel und Gewölk eingehüllt“ das offene Meer überquerten,1543 waren sowohl für den vielgereisten Odysseus als auch für den Dichter und seine staunenden Zeitgenossen technische Wunderwerke.1544 Und so resultiert die vieldiskutierte homerische Metapher, das mit den besten Jünglingen bemannte 1535 Od. 8,29. 1536 GLADSTONE 36. 1537 WILAMOWITZ (Ilias/Homer 501) spricht über „die Länder des Westmeeres, das vorher in unheimlichem Nebel lag.“ 1538 Aufgrund der vorherrschenden Nordwestwinde und der gegenläufigen Meeresströmung mussten für die Ost-West-Überquerung des Ionischen Meeres zwischen Westgriechenland und Sizilien mindestens zwei Nächte eingeplant werden, und für den ca. 270 km langen Seeweg zwischen Parga und Krotone in Kalabrien war mindestens eine Nacht auf See erforderlich, und (WARNECKE, Lebensnerv 289 f.). 1539 Die Phaiaken, die sich durch nächtliche Seereisen auszeichnen (Od. 8,560 ff.; 13,35, 70–95), „rüsten Geleitfahrt für alle“(13,173 f.; vgl. 4,563 f.; 7,321 ff.; 8,31). 1540 Od. 8,562; 13,70–95. – Der Dichter bietet ausgerechnet bei der Etappe zwischen Ogygia und dem Phaiakenland, die tagelang übers offene Meer führte, eine detaillierte Beschreibung der nächtlichen Navigation (Od. 5,269–280). Zum sog. Nachtsprung vgl. WARNECKE, Phänomenologie 14 f. 1541 WILAMOWITZ, Ilias/Homer 498. – Auch die homerischen Kephallenen fuhren nachts über das Meer (Od. 2,389–429; 5,268–277; 15,34, 292–300, 471–475; 367 f.)! So steht z. B. im 15. Gesang (Vers 434) explizit: „Früh, nach nächtlicher Fahrt, war das Schiff zum Ziele gelangt.“ 1542 WELCKER 11. „Denn immer schiffen sie ja eingehüllt in Gewölk und Dunkel (Od. 8,562)“ (a. a. O.). 1543 Od. 8,562. „Die Schiffe sind schnell, als hätten sie Flügel, als wären es Gedanken“ (Od. 7,36). 1544 Die übliche Interpretation, wonach die Phaiaken märchenhafte „Zauberschiffe“ besäßen (KÄPPE, Phaiakes 713), greift also nicht, denn die dichterische Übertreibung zeugt „von jenen technischen Wunschträumen, wie sie in fortschrittlichen Zeiten in volkstümlichen Literaturen aufzukommen pflegen. In der Tat hat das 8. Jh. im Schiffsbau die für viele Jahrhunderte grundlegende Entdeckung des Auslegers

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Schiff des Phaiakenkönigs sei schneller als ein Habicht,1545 lediglich aus dem Bedürfnis des Dichters, die bahnbrechenden Fahrten der Phaiaken mit dem frühgriechischen Weltbild in Einklang zu bringen: Hatte doch selbst noch der weise Nestor geglaubt, das Mittelmeer „sei so gewaltig und schrecklich, daß nicht einmal Vögel selbst in der Zeit eines Jahres es ganz überfliegen“ können.1546 Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass es sich bei dem in der Odyssee geschilderten Seefahrervolk nicht um „sonntagsfrohe Phaiaken“ handelt, wie sogar im Phaiakenartikel der ‚Realencyklopädie der classischen Altertumswissenschaft‘ zu lesen ist.1547 Denn die homerischen Phaiaken werden in der Odyssee als Emigranten vorgestellt, die überdies – bevor sie nach Scherie eingewandert waren – bereits einen gescheiterten Kolonisationsversuch zu beklagen hatten!1548 Das wird in der Homerphilologie gern übersehen, um am Klischee der glückseligen und im Luxus lebenden Phaiaken festhalten zu können. Auch ist das von Odysseus besuchte Scherie kein paradiesisches Utopia, an dem ewiger Friede und Frohsinn herrscht, wie die Homerphilologie suggeriert.1549 Zwar setzt der Dichter die Phaiaken in ein vorteilhaftes Licht, aber er zeichnet ein differenziertes Bild, dessen Schattenseiten in Odyssee-Kommentaren oft ausgeblendet werden, da sie dem utopischen Ideal der „sonntagsfrohen Phaiaken“ widersprechen. So wird der unbefangene Leser der Odyssee feststellen, dass die Hafenstadt der Phaiaken nur im Schutz wehrhafter Mauern gedieh,1550 und pazifistisch waren die Phaiaken ihrerseits auch nicht: So hatten sie die Amme der Prinzessin Nausikaa einfach in der Nachbarschaft, aus „Apeira“ geraubt, worunter man im Altertum die nordwestgriechische Landschaft Epirus verstand.1551 Auch waren die Phaiaken nicht, wie das Königspaar, durchweg edel gesinnt; denn selbst Angehörige des phaiakischen Adels benahmen sich unbeherrscht und ehrverletzend, wie z. B. die Zurechtweisung des Laodamas und des Euryalos durch Odysseus indiziert.1552 Zudem verhielten sich die homerischen Phaiaken mittellosen Fremden gegenüber keineswegs gastfreundlich,1553 sondern in der Regel sogar abweisend, wie die Göttin Athene in Gestalt eines phaiakischen Mädchens dem gestrandeten Odysseus warnend mitteilte: „Unsere halten es gar nicht so gerne mit Menschen der Frem-

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gebracht, der dem alten Fünfzigruderer gegenüber die Rudermannschaft in Reihen über einander zu staffeln erlaubte“ (SCHADEWALDT, Welt 114). Od. 13,86 f. Od. 3,321 f. EITREM, Phaiaken 1527,4. Od. 6,4 f. „Die Wanderung der Phäacier muß nicht lange vor der Ankunft des Ulysses vorgegangen seyn, da noch ein Sohn des Nausithoos, Alcinous, regiert“ (HERMANN 357). So sei „Scheria die glückselige Insel des westlichen Oceans“ (SEECK 300), und so verbringen die homerischen Phaiaken „ihr seliges Leben in metallenen Palästen bei Schmaus, Gesang und Tanz ohne Streit und Krieg“ (ders. 306). Die „lange und hohe“ Stadtmauer (Od. 6,9) wies einen „Kranz hoher Türme“ auf (Od. 6,262). Da diese Angabe im literarischen Phaiakenbild vieler Homerphilologen stört, wird sie beiläufig negiert: „So erscheint das Umgeben mit einer Mauer zu jedem Bau einer Stadt gehörig“ (NITZSCH II 91). Od. 7,8 f. Zur Gleichsetzung von Apeira mit Epeiros s. Schol. Od. 7,8. Od. 8,152–181. Die Phaiaken der Argonautensage von Apollonios Rhodios, die auf Kerkyra (Corfu) lebten, waren gastfreundlich, „im Kontrast zur Odyssee 7,32 f., wo Athene die homerischen Phaiaken nicht fremdenfreundlich schildert“ (DRÄGER 542, zu Vers 4,997).

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de; frohes Empfangen beliebt man hier nicht, kommt jemand von auswärts“.1554 Odysseus, der als zunächst unbekannter Schiffbrüchiger nur infolge göttlichen Beistandes und seiner Beredsamkeit die Gunst der Phaiaken erlangte,1555 bildete also den Ausnahmefall, worauf schon Dietrich Mülder ebenso treffend wie spöttisch hinwies: „Als ob es geradezu ein Sport der Phäaken wäre, alles Lumpengesindel gratis heimzubefördern“.1556 Um die in der Homerphilologie idealisierten Phaiaken vollends zu entzaubern und auf den Boden der Realität zu stellen, sei abschließend auf die Möglichkeit hingewiesen, dass Odysseus vom phaiakischen Adel weniger aus Großherzigkeit in die Heimat geleitet wurde, sondern vielmehr aus machtpolitischem Interesse. So bittet Odysseus, unmittelbar bevor er sich den Phaiaken als schiffbrüchiger Herrscher der Kephallenen vorstellt, deren Gastfreund (ξεῖνος) zu bleiben, „solange der grausame Tod mich verschonet“, wie Johann Heinrich Voss übersetzt.1557 „Soweit der Ausdruck Tod bedeutet, ist es der von der Übergewalt eines andern“, es ist „der Tod“, „der Vergewaltigung, Elend, Sklaverei bringen kann“; aber „so etwas will Voss den Odysseus natürlich nicht sagen lassen – das wäre ja so, als ob dieser fürchtete, bald einer Gewaltsamkeit zu erliegen“. Und, den Lesern weiter die Augen öffnend, fährt Dietrich Mülder fort: „So weltfremd ist der Dichter der Odyssee aber nicht. Freundschaft bedingt Gegendienste“; wer, wie Odysseus, „im Elend Gefälligkeit in Anspruch nimmt, stellt Erwiderung in seiner Heimat in Aussicht“, und so bedeutet in den Versen Odyssee 9,16–18 „das Ganze: ‚damit ich in meiner fernen Heimat dir in Dankbarkeit ergeben bin‘“.1558 Deshalb ist nun zu fragen, welche Gegenleistung Odysseus den Phaiaken für das Geleit in die Heimat und die wertvollen Gaben bieten konnte?1559 Welchen Nutzen hatte er für das Seefahrervolk, um nicht als fremder und mittelloser Schiffbrüchiger die übliche Gewalt (v. a. Versklavung oder Totschlag) zu erleiden?! – Wenn in der vorliegenden Studie der westgriechische Insel- und Küstenraum historisch-geographisch treffend gedeutet wurde, samt der politischen Verhältnisse im Reich der Kephallenen, dann musste den Phaiaken daran gelegen sein, dass Odysseus die Herrschaft im westgriechischen Inselbogen wiedererlangt und nicht einer der aussichtsreichen adligen Freier aus Dulichion (Kerkyra) Penelope ehelicht.1560 Denn die mächtigen Dulichier der Insel 1554 Od. 7,30 ff. Die Phaiaken gaben Geleit (8,30 ff.; 13,173 f.) sonst wohl nur gegen Bezahlung (vgl. Od. 13,272 ff.); ansonsten hätte einem mittellosen Schiffbrüchigen, wie es Odysseus war, wohl die Sklaverei gedroht (vgl. Od. 18,112 ff.; 21,306 ff.). 1555 Od. 6,13–78, 308 ff. Vgl. Od. 11,362 ff. 1556 MÜLDER, Phäakendichtung 38. 1557 Vgl. VOSS (Odyssee 100; Verse 9,16–18). „Und bin ich entflohn meinem grausamsten Tage“ übersetzt Anton WEIHER (227). Dagegen übersetzt Oskar HENKE (I 91 f.): „… und ich in Zukunft, falls ich entfliehe, euer Gastfreund bleibe“. 1558 MÜLDER, Ithaka 24. „Für Nachdenkende muss dies [Od. 9,18] übrigens genügen, da man aktiver ξεῖνος nur in der Heimat sein kann“ (a. a. O.). 1559 Im 8. Gesang Vers 545 sagt Alkinoos, die Phaiaken würden ihrem ξεῖνος (544) „Geleit geben und liebe Geschenke und schenken aus Liebe“, also uneigennützig handeln. Indes, nicht nur Friedrich BLASS (109) erkannte „die Unechtheit der Epexegese 545“, sondern auch „Friedländer, A. Römer bei Hentze, Kirchhoff “. 1560 Die Dulichier stellten das weitaus größte Kontingent an Freiern (Od. 16,245 ff.). Deren Anführer, Amphinomos (vgl. Od. 16,394 ff., 405; 18,125 ff., 394 ff., 422 ff.; 20,247.), sowie die kephallenischen Fürsten

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Kerkyra schufen schon in frühster historischer Zeit eine Peraia an der thesprotischen Küste, die sich zunehmend ausdehnte.1561 Diese Peraia widerstrebte den nordwestgriechischen Thesprotern, und deshalb dürften sie das von Penelope erwähnte Bündnis mit den Kephallenen geschlossen haben.1562 Die zügige Heimkehr des bislang verschollenen Odysseus lag somit im Interesse der Phaiaken, die an der thesprotischen Küste, südöstlich gegenüber von Kerkyra, ihre aufstrebende Seekolonie gegründet hatten. Odysseus konnte, falls es ihm gelingt, die Herrschaft im Reich der Kephallenen zurückzugewinnen, den Phaiaken als ξεῖνος also ausgesprochen nützlich sein, und folglich mutet vor dem realpolitischen Hintergrund das großzügige Geleit nicht mehr dichterisch fabelhaft an. So sind die kostbaren Schätze, die die Phaiaken dem mittellosen Odysseus mitgaben,1563 wohl als Startkapital und materiellen Rückhalt für die Restauration seiner Herrschaft zu deuten.1564 Dass die Phaiaken dem Odysseus kein militärisches Kontingent mitgaben,1565 sondern ihn stattdessen unbemerkt in einer ‚Nacht und Nebelaktion‘ in seine Heimat brachten, passt ebenfalls ins Bild.1566 So wurden mit dieser ‚Undercover-Aktion‘ die benachbarten mächtigen Dulichier (Kerkyräer) nicht unnötig provoziert, die ja mit einem Großaufgebot nach der kephallenischen Königswürde strebten.1567 Wenn man zudem bedenkt, dass dem Phaiakenkönig Alkinoos durchaus bewusst war, dass das Geleit für Odysseus den schrecklichen Zorn des Poseidon evozieren wird,1568 dann ist das politische Motiv für das Geleit erheblich wahrscheinlicher als die postulierte aufwendige humane Geste, die auch angesichts der eingetretenen Folgen vom phaiakischen Hochadel nicht zu verantworten gewesen wäre.1569 In dem Vers 9,24, in welchem Odysseus als Gastfreund (ξεῖνος) der Phaiaken auftritt und damit der unausgesprochene ‚Deal‘ zwischen ihm und den Gastgebern erfolgt, sagt

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Eurymachs und Antinoos waren die aussichtsreichsten Bewerber (vgl. Od. 18,290 ff.), um die Nachfolge des Hochkönigs Odysseus anzutreten. Skyl. 28; Thuk. 2,80,5. Od. 16,426. Od. 8,390 ff., 402 ff., 417, 424–441; 13,10 f., 120, 136 f., 203, 217 ff., 258 f., 367 ff. Vgl. Od. 14,314–335 u. 19,269– 295, wonach Odysseus bei den Thesprotern wertvolle Schätze erhalten habe. Vgl. Od. 11,358 ff. Also, „der nostos ist nicht nur eine persönliche oder familiäre, sondern auch eine politische Angelegenheit“ (GRETHLEIN 247). Vgl. Od. 24,430 ff. Nicht nur dieser Sachverhalt beantwortet die u. a. von Dietrich MÜLDER (Phäakendichtung 13) gestellte „Frage: ‚Warum wird Odysseus nicht bei Tage in seine Heimat geleitet?‘ Irgendein Hinderungsgrund muß wohl vorliegen, irgendein Zwang, daß gerade bei Nacht gefahren muß“. Weitere Gründe sind die Geheimhaltung der Seewege, navigatorische Zweckmäßigkeiten (so starte man z. B. im klassischen Altertum vom kephallenischen Hafen Pale am Spätnachmittag, vor Sonnenuntergang westwärts in Richtung Sizilien; s. o. S. 139), insbesondere aber die Tatsache, dass die Phaiaken die Meister des sog. ‚Nachtsprungs‘ waren, und so war allein schon aus literarischen Gründen beim Geleit des Odysseus ein Paradebeispiel der nächtlichen Navigation angezeigt. – Da der Phaiakenkönig Alkinoos wegen des Geleits den vernichtenden Zorn des Poseidon fürchtete (Od. 8,564 ff.), dessen wachen Augen am Tage kaum ein Schiff entgeht (vgl. Od. 5,282 ff.), könnte gar dies der Hauptgrund für den nächtlichen Transfer gewesen sein. Od. 16,247 ff. Od. 8,564 ff. mit 13,125 f. – Bei einer realpolitischen Deutung wäre der worst case für die Phaiaken gewesen, wenn die Machtergreifung des Odysseus gescheitert und es zudem bekannt geworden wäre, dass die Phaiaken als ‚Dunkelmänner‘ der Aktion fungierten. Od. 8,564; 13,125–187; bes. 171 ff.

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Odysseus, seine Heimat läge „fern“ vom Phaiakenland. Nun könnte man die Aussage relativieren, da Odysseus nach langer Fahrt übers offene Meer als orientierungsloser Schiffbrüchiger bei den Phaiaken eintraf und somit lediglich im guten Glauben war, er befände sich dort fern der Heimat, wobei jedoch vorauszusetzen ist, dass er vor dem Trojanischen Krieg noch nicht in Thesprotien gewesen war.1570 Diejenigen Homerphilologen, die das homerische Phaiakenland nicht geographisch, sondern als Utopia deuten, setzen es in weite Ferne vom ebenfalls nicht realen, sondern literarischen Ithaka. Die somit angeblich „irreführende“ Auffassung selbst bedeutender Gelehrter, wie z. B. Georg Barthold Niebuhr,1571 die das homerische Phaiakenland an der thesprotischen Küste oder auf der vorgelagerten Insel Kekyra (Corfu) ansetzen, beanstandet u. a. Dietrich Mülder: „Dem widerspricht aufs entschiedendste dies ἀπόπροθι [Od. 9,24] wie alles andere. Wenn das Phaiakenland auch die letzte Station auf der Reise des Odysseus ist, so ist es seiner Heimat doch immer noch fast so fern wie all die Örtlichkeiten, von denen er kommt“.1572 Aber gerade das Wort ἀπόπροθι („fern“ – wie ‚fern‘?), das wir bei den Phaiaken aus dem Munde des Odysseus hören, ist zu relativieren, denn es weist nicht auf die absolute Ferne hin, wie zwei Beispiele der Ilias nahelegen, in denen ebenfalls das Wort ἀπόπροθε auftaucht: So überlegt Nestor im 10. Gesang, ob angesichts der einbrechenden Dunkelheit die feindlichen Truppen der Troer in der Nähe des Schiffslagers ausharren würden, „entfernt von der Stadt“, oder zurückkehren in den schützenden Mauerring ihrer Stadt.1573 Und im 17. Gesang sagt Automedon, um schnell in die Schlacht eingreifen zu können: „Mein Alkimedon, halte mir ja nicht ferne die Rosse, sondern so, daß dicht sie am Rücken mir schnauben“.1574 Im ersten Fall bezieht sich das Wort ἀπό-προθε also nur auf die Entfernung zwischen der Stadt Troja und dem an der Küste aufgeschlagenen Schiffslager der Griechen, im zweiten bedeutet es, dass sich die Pferde nicht etliche Meter entfernt befinden, sondern in Tuchfühlung mit den Kriegern stehen sollen. Demnach bedeutet ἀπό-προθε weniger „fern“, als vielmehr das unverfängliche „weit“,1575 das relativ zu interpretieren ist und, je nach Situation, eine ganz geringe oder größere Entfernung meint. Das Emporion der seefahrenden Phaiaken muss also keineswegs ausgesprochen weit entfernt von der Heimatinsel des Odysseus liegen, und die relative Nähe bzw. Ferne Ithakas war dem König Alkinoos durchaus bewusst, wie auch die behandelte Xenos-Problematik indiziert.1576 Indes, in einem Vers der Odyssee wird 1570 Das setzt voraus, dass Ephyra (Od. 1,259; 2,328) nicht in Thesprotien liegt, wie mancher annimmt (WEIHER, im Namenregister 717), sondern ein „Alter Name für Korinth“ war (HAMPE, Register 432); ebenso Hans RUPÉ, im Namenregister (der Ilias) 935. Ulrich „v. Wilamowitz H. U. 25 nimmt für Buch [Od.] I [259] das thesprotische an, will aber für [Buch] II 328 das elische oder thessalische gelten lassen“ (WÜST, Odysseus 1919,64 ff.). 1571 NIEBUHR 256. – Weil manche Philologen die Übersetzung, derzufolge „des Odysseus Heimat fern ist“, relativieren, empört sich Dietrich MÜLDER (Ithaka 25): „dies fern darf man ja nicht durch eine verwischende Übersetzung unschädlich machen wollen!“ 1572 MÜLDER, Ithaka 25. 1573 Ilias 10,209. 1574 Ilias 17,501. 1575 Vgl. PAPE I 282. 1576 Somit erledigt sich auch die Frage nach der Legitimität der historisch-geographischen Deutung der homerischen Phaiaken. Denn, so meint Dietrich MÜLDER (37, Anm. 1), dass Alkinoos angeblich „nicht

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ἀπό-προθε meist im Sinne der großen Ferne gedeutet, und zwar als Odysseus in seiner Irrfahrtgeschichte von der göttlichen Kalypso erzählt: „Weit entfernt im Meer liegt die Insel Ogygia“.1577 Wie jedoch in der vorliegenden Studie dargelegt, ist diese Insel der Kalypso in der Erzählung des listenreichen Odysseus nur eine Chiffre für seine Heimatinsel Ithaka,1578 und so ist auch diese nicht in utopischer Ferne zu suchen. 2.4.4 Die Heimat des Dichters Seit einigen Jahrzehnten befasst sich die Homerforschung wieder intensiver damit, die historische Persönlichkeit des Ilias- und des Odysseedichters zu greifen,1579 und so soll auch in der vorliegenden Studie die Frage gestellt werden, welchem griechischen Volksstamm der Dichter angehörte, und ob es historisch-geographische Indizien für den Ort gibt, an dem die uns vorliegende Odyssee gedichtet bzw. komponiert wurde. In der Regel lokalisiert man den Dichter der Ilias und den der Odyssee an der Westküste Kleinasiens,1580 denn „fast einstimmig nennt die Überlieferung als ursprünglichen Namen Homers ‚Melesigenes’“,1581 und „aus dem Namen Melesigenes wird dann später Meles als Homers Vater erschlossen und dieser mit dem Fluss Meles bei Smyrna identifiziert … Daher stammen die von den meisten Städten anerkannten Ansprüche Smyrnas als Vaterstadt Homers“.1582 Dennoch blieb „das Vaterland Homers umstritten. Zuerst hören wir nur von Smyrna und Chios“,1583 dann von weiteren achtzehn Städten und Inseln, die auch im östlichen Ägäisraum liegen und ebenfalls beanspruchten, die Heimat des Dichters zu sein.1584 Aufgrund dessen „regten sich schon früh die Stimmen, die an der Möglichkeit, das Vaterland Homers zu bestimmen, verzweifelten“.1585

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genau über die Lage von Ithaka orientiert ist“, und „wer die Phäaken irgend mythologisch oder historisch deuten will, muß von dieser Stelle [Od. 9,24] ausgehen“. Od. 7,244. So verweist Thomas W. Allen (20) auf die Ithaka-Miscelle von Carl Robert „that the description of Ithaca is a repetition of Circe’s [sic.] island“. Hier liegt ein Versehen vor: Carl Roberts Aufsatz handelt über die Kalypso-Insel Ogygia (indes, bei Robert, Ithaka 634, steht im Text versehentlich „Insel Ortygia“, aber das unmittelbar folgende Odyssee-Zitat, das mit „Ὠγυγίη …“ beginnt, sowie die Versangabe „κ 244“ belegt, dass „Ogygia“ gemeint ist). „Das 20. Jahrhundert … hat Homer wieder als historische Person etabliert“ (LATACZ, Homer 33). „Es ist eben ein kleinasiatischer, fast möchte man vermuten, ein milesischer oder kolophonischer Dichter“ (WILAMOWITZ, Untersuchungen 167). Bei solchen Spekulationen mahnte u. a. schon Eduard SCHWARTZ (231) zur Vorsicht: „Man denkt sich gerne Ionien, und zwar im weiteren Sinne, als den Schauplatz dieses Wesens und [dichterischen] Treibens; aber es wird geraten sein mit allen Vermutungen zurückzuhalten“. RADDATZ, Homeros 2191,33 ff. Man „zog aus Ilias und Odyssee, aus den [Hom.] Hymnen, dem Margites und anderen Werken Schlüsse über sein Leben“ (a. a. O. 2190,32 ff.). RADDATZ, Homeros 2191,46 ff. RADDATZ, Homeros 2194,14 f. „Zwei hellenistische Epigramme nennen sieben Städte, die den Anspruch erhoben, Homers Geburtsstadt zu sein (AP 16.297–8); in der Kaiserzeit kamen noch etliche Anwärter hinzu“ (GRETHLEIN 22). Zu den Städten und Inseln, die „Homer als ihren Mitbürger betrachteten“, siehe THIERSCH (239 ff.). RADDATZ, Homeros 2198,67 ff. Vgl. VOGT 367 ff.

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Unabhängig von der Kontroverse um die Heimat Homers, vertraten die antiken Gelehrten überwiegend die unitarische Position, derzufolge der Dichter sowohl die Ilias als auch die Odyssee geschaffen habe.1586 Die moderne kritische Analyse gelangte jedoch zu einem anderen Urteil, denn die „Unterschiede der beiden Gedichte [Epen] schließen es mit ziemlicher Sicherheit aus, sie beide demselben Dichter, Homer, zuzuschreiben“.1587 Darum beschränken sich die folgenden Überlegungen auf den Odysseedichter, also auf jenen Sänger, der den älteren Odysseestoff umgestaltete sowie erweiterte und damit die uns bekannte Fassung der Odyssee schuf.1588 Da über diesen Dichter ebensowenig bekannt ist wie über den Ilias-Dichter, und „aus der antiken Tradition über die Person Homers echte Überlieferung zu gewinnen … unmöglich“ ist,1589 erscheint als einzig akzeptable Grundlage, der Persönlichkeit des Odysseedichters näherzukommen, ausschließlich sein Werk. In diesem Sinne sprachen sich schon namhafte Gelehrte vor zwei Jahrhunderten aus: „Ueber den Homer giebt es keine andere historische Quelle, als die Homerischen Gedichte selbst“.1590 Und deshalb ist ausschließlich die Odyssee zu befragen, ob sie Hinweise auf ihren Dichter bietet. Aus historisch-geographischer Sicht dürfte weder der Odyssee- noch der Ilias-Dichter in Smyrna oder in einer benachbarten Hafenstadt heimisch gewesen sein, denn in beiden Epen ist der kleinasiatische Küstenraum ausgesprochen unterbelichtet.1591 Diesen Sachverhalt monierte schon Ulrich von Wilamowitz, der sich über „den geographischen Horizont der Ilias“ wunderte, denn „von der [vermeintlich] eigenen Heimat, der äolisch-ionischen Küste, schweigt er [der Dichter]“.1592 Noch krasser tritt der Sachverhalt in der Odyssee hervor: Von den etwa 140 Eigennamen, die einen geographischen – bzw. teils mythischen – Raumbezug aufweisen, bezieht sich ein verschwindend geringer Teil

1586 Noch „um 500 sind alle [epischen] Gedichte von Homer; um 350 [Alexandriner] sind von Homer im wesentlichen nur noch Ilias und Odyssee, alle anderen sind ihm abgesprochen [v. a. Nosten, Kleine Ilias, Kyprien, Thesprotis, die Hymnen]“ (WILAMOWITZ, Untersuchungen 353). 1587 HÖLSCHER, Odyssee 22. 1588 „Die Odyssee, wie sie ist, ist das Werk einer einheitlichen Compilation, sie soll also ein zusammenhängendes Gedicht darstellen. Dieses Gedicht wird seit dem Ende des sechsten Jahrhunderts im wesentlichen ebenso gelesen, wie wir es lesen“ (WILAMOWITZ, Untersuchungen 227). 1589 RADDATZ, Homeros 2190,8 ff. Vgl. u.a. THIERSCH 231–263. – „Antiquity knew nothing definite about the life and personality of Homer“ (KIRK 1). 1590 THIERSCH 65. 1591 Man denke v. a. an „das Verzeichnis der Troer und ihrer Bundesgenossen im Schiffskatalog der Ilias – „hier herrscht die äusserste Dürftigkeit: mit Ausnahme der Pelasger, Paeoner, Paphlagoner und Karer werden den Volksnamen keine Städte beigesellt … Die Heimath jener Völkerschaften bleibt hier also unbestimmt“. Dagegen hat der „hellenische Katalog seine Vorzüge und Bedeutung in der Vollständigkeit, mit der er Völker und Städte aufzählt“ (NIESE 50). 1592 WILAMOWITZ, Ilias/Homer 361. Also, „den Theil Asiens, in welchem er [Homer] geboren sein soll, kennt er nicht“ (THIERSCH 282). – Dagegen z. B. Theodor BERGK in seiner Griechischen Literaturgeschichte (784): „Auch die nähere und entferntere Umgebung Troja’s ist dem Dichter wohlbekannt“, anders „in der Odyssee, wo der Dichter Oertlichkeiten schildert, welche weit von seiner Heimath entfernt waren. Gleich die Angaben über die Insel Ithaka, die Heimath des Odysseus, stimmen nicht recht weder mit der Wirklichkeit noch auch unter sich“.

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auf Kleinasien, nämlich nur die Toponyme „Ilios“,1593 „Troia“1594 und „Troer“,1595 sowie „Hellespont“,1596 Kap „Mimas“1597 und die „Solymer Berge“1598. Von den insgesamt zwölf Dutzend geographisch verwertbaren Eigennamen der Odyssee zeugt also – abgesehen von dem zerstörten Ilion bzw. Troja – kein einziger von einer in Kleinasien gelegenen Siedlung und auch nicht (abgesehen von den Troern) von einem dort lebenden Volksstamm. Deshalb urteilte Ulrich von Wilamowitz treffend über den Dichter der Odyssee: „Nach Asien weist nichts bei ihm“.1599 Ganz anders ist der Sachverhalt, wenn man sich von der Ägäis zum Ionischen Meer wendet, das für den ionischen Dichter angeblich jenseits von Griechenland lag: Etwa drei Viertel aller Verse der 24 Gesänge umfassenden Odyssee spielen im westgriechischen Insel- und Küstenraum,1600 und mehr als drei Dutzend homerische Toponyme beziehen sich auf die Westhälfte Griechenlands und die vorgelagerten Inseln. So bemerkte Ulrich von Wilamowitz: „Wenn es zutrifft, daß die Odyssee, die dem Bearbeiter vorlag, mit ω [dem 24. Gesang] schloß, hatte er also fast nur Gedichte, die über den Westen Bescheid wissen“.1601 Der Befund hätte die Homerphilologen nachdenklich stimmen und die Frage nach der Herkunft des Dichters neu aufwerfen müssen, zumal vereinzelt schon im Altertum behauptet wurde, Homer sei im westgriechischen Inselraum heimisch gewesen.1602 Zumindest aber beschreibt der Odysseedichter keinen anderen Erdraum detaillierter als die Inseln und Küsten des Ionischen Meeres, wie die vorgelegte Untersuchung über die Inselreiche der Dulichier, Taphier und Kephallenen sowie über die Küstenländer der Phaiaken, Thesproten, Arkananen, Aitoler, Eleier, Pylier und Kaukonen nachweisen konnte. Unter allen griechischen Volksstämmen hebt die Odyssee besonders die Phaiaken hervor: Sie sind die Lieblinge der Götter,1603 und „edle Gedanken, Verständnis für

1593 Od. 2,18, 172; 8,495, 578, 581; 9,39; 10,15; 11,86, 169, 372; 14,71, 238; 17,104, 293; 18,252; 19,125, 182, 193; 24,117. 1594 Od. 1,2, 62, 210, 327, 355; 3,257, 268, 276; 4,6, 99, 146, 488; 5,39, 307; 9,38, 259; 10,40, 332; 11,160, 499, 510, 513; 12,189; 13,137, 248, 315, 388; 14,229, 469; 15,153; 16,289; 17,314; 18,260, 266; 19,8, 187; 24,37. 1595 Od. 1,237; 3,85, 86, 87, 100, 220; 4,243, 249, 254, 257, 259 (Troerinnen), 273, 275, 330; 5,310; 8,81, 220, 503, 504, 513; 11,169, 383, 510, 513, 532, 547; 12,190; 14,71, 367; 17,119; 18,261; 22,36, 228; 24,27, 31, 38. 1596 Od. 24,82. 1597 Od. 3,172. 1598 Od. 5,283. 1599 WILAMOWITZ, Untersuchungen 26. – So warnte Erich BETHE (367) vor der üblichen Verortung des Odysseedichters im ostägäischen Raum: „Wo und wann“ die „erste geniale Composition gemacht ist, die Odysseus’ ganze Irrfahrten in seiner Icherzählung bei den Phaiaken zusammenfaßte, ist schwer zu sagen“. 1600 Folgende Gesänge der Odyssee spielen im westgriechischen Insel- und Küstenraum: 1., 2., 3., 6., 7., 8., 13., 14., 16. bis 24. sowie die Verse 4,625–847; 5,291–494; 10,25–49, 10,135–574 (Aiaia = Kephallenia); 15,193–557; außerdem der 11. (Visionen in Pylos) u. 12. Gesang (Sirenen, Skylla und Charybdis, Thrinakia, bei denen es sich um Toponyme an den Golfen von Patras und Korinth handelt). 1601 WILAMOWITZ, Heimkehr 168. 1602 RADDATZ, Homeros 2198,32 f.; mit Belegen. Vgl. RÜHLE 16 f. – „Möglicherweise deuten sich hier Zusammenhänge an, die doch eine intimere Bekanntschaft des jonischen Dichters mit Ithaka vermuten lassen“ (HÖLSCHER, Odyssee 319). 1603 „Die Phaiakes sind ἀντίθεοι, ἀγχίθεοι, Lieblinge und Verwandte der Götter, die früher persönlich mit ihnen verkehrten“ (GEISAU, Phaiakes 690,11 f.).

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hohe Werke der Schönheit lehrte Athene sie mehr als die anderen“.1604 So verfügten die Phaiaken nicht nur über materiellen und kunsthandwerklichen Reichtum,1605 sondern sie zeichneten sich vor allem im Schiffbau1606 und in der Seefahrt aus.1607 Auch glänzten sie, wie der Dichter rühmt, mit ihren musischen Begabungen, nämlich mit Tanz und epischem Gesang.1608 Derartige Talente sind keineswegs verwunderlich, wenn man die frühgriechischen Phaiaken – wie in der vorliegenden Studie geschehen – an der thesprotischen Küste ansetzt, denn schon in vorhomerischer Zeit „wanderte mit den Abanten auch thrakischer Musendienst und Pflege der Dichtkunst“ in den nordwestgriechischen Insel- und Küstenraum ein.1609 Dass die Odyssee gerade die Phaiaken ausgesprochen ausführlich darstellt sowie mit verklärtem Blick und überschwänglicher Zuneigung schildert,1610 könnte ein Indiz dafür sein, dass der Dichter diesem Volk angehörte,1611 zumal die homerischen Phaiaken nicht bloß in der dichterischen Phantasie existierten. Am Hof des Phaiakenkönigs Alkinoos wirkte der „göttliche“ Sänger Demodokos,1612 der in einzigartiger Weise die alten Mythen und zeitgenössischen Ereignisse im epischen Gesang vortrug.1613 Der im Epos immerhin ein Dutzend mal genannte Demodokos1614 gilt als Verkörperung des edlen Sängers schlechthin, und deshalb stellt man sich genau so den Odysseedichter (bzw. Homer) vor.1615 Hinzu kommt „die fehlende Unterscheidung der Äußerung des Dichters von denen seiner Personen“, die „ein eigentümliches Merkmal archaischer Rezeption von Dichtung“ ist,1616 und folglich erkennen die meisten Homerphilologen in Demodokos die „indirekte Selbstdarstellung“ des Dichters.1617 Da nun die Phaiaken nicht in der Utopie anzusiedeln sind, sondern in der historisch-geographischen Realität, ist es noch wahrscheinlicher, dass sich der Odysseedichter in der

1604 Od. 7,110 f. 1605 Man denke v. a. an den Herrschersitz der Phaiaken, über den „ein Glanz wie von Sonne und Mond hinauf bis zur Decke lag“ (Od. 7,84 ff.), ferner an die prächtigen Geschenke (Od. 13,10 ff., 135 ff.). 1606 „Odysseus stand und bewunderte die Häfen und seetüchtigen Schiffe … ein Wunder zu schauen“ (Od. 7,43 ff.; vgl. 6,264 ff.). 1607 Od. 8,247; vgl. 7,36, 108, 192 ff.; 8,251, 555 ff., 566. 1608 Od. 8,248 ff.; bes. 251 ff.: „Der Gast soll daheim seinen Freunden erzählen, wie wir die anderen weit übertreffen, geht es um Schiffahrt, Laufen, Tanzen und Singen“. 1609 DONDORFF 57. 1610 Der Phaiakenkönig Alkinoos ist „aller Völker trefflichstes Vorbild“ (Od. 9,1 f.), der seine Gemahlin Arete „hoch in Ehren hielt, wie sonst auf der Welt nicht eine geehrt wird unter den Frauen“ (Od. 7,67 f.). 1611 So fragte Friedrich Gottlieb WELCKER (57), weshalb der Dichter ausgerechnet die Phaiaken „mit besonderer Vorliebe schildre“, und Uvo HÖLSCHER (Odyssee 105) bemerkte: „Und doch muß dem Dichter schon in der einfachen Geschichte etwas entgegengekommen sein, das ihm erlaubte, das Land der Phäaken zu einem solchen Bild der Gastlichkeit und hohen Geselligkeit zu erheben“; – das Land war seine Heimat! 1612 Od. 8,43; 13,27. 1613 Od. 8,73–82, 266–367, 499–521. 1614 Od. 8,44, 106, 254, 262, 472, 478, 483, 486, 487, 537; 13,28. – Abgesehen von Demodokos nennt die Odyssee namentlich nur noch den Sänger Phemios auf Ithaka (1,154, 337; 17,263; 22,331). 1615 „Es spricht alles dafür, daß in diesen Sängerszenen der Dichter die eigenen Gelegenheiten des epischen Vortrages abgespielt hat“ (HÖLSCHER, Odyssee 161). 1616 HÖLSCHER, Odyssee 220. 1617 LATACZ, Homer 40 ff.

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Gestalt des „berühmten Sängers“ Demodokos1618 ein unsterbliches Denkmal setzte, sowie seinem wunderbaren Volk, das ihn über alle Maßen ehrte.1619 Ein weiteres kommt hinzu: Seit alters her gilt als charakteristisches Merkmal des Dichters der homerischen Epen dessen Blindheit,1620 und als Blinden stellt die Odyssee auch den phaiakischen Sänger Demodokos vor: „Die Muse liebte den Sänger vor allen; sie schenkte ihm Gutes und Schlimmes: nahm ihm das Licht seiner Augen und schenkte ihm liebliche Weisen“.1621 Der von der Muse begnadete Demodokos scheint geradezu das Abbild des blinden Homer zu sein, worauf u. a. Uvo Hölscher hinwies: Es „rührt das Homerbild der schon alten Legenden von dem blinden Dichter offenbar von der Odyssee her, indem der blinde Sänger Demodokos, übrigens mit einigem Recht, als Spiegel des Dichters verstanden wurde“.1622 Diese Deutung vertrat schon vor einem Vierteljahrtausend Martin Gottfried Hermann in seinem ‚Handbuch der Mythologie‘: „Uebrigens schließt man doch … aus dieser Stelle [Od. 8,492], daß Homer unter dem Demodokos sich selbst schildre“.1623 Obwohl die homerischen Phaiaken – und damit auch deren Sänger Demodokos – schon im Altertum im Westen Griechenlands lokalisiert wurden, brachte man den Homer genannten Ilias- und Odysseedichter in Zusammenhang mit der Sängerschule der „Homeriden auf Chios“ in der Ägäis.1624 Denn „Chios berief sich auf den Hymnus auf den delphischen Apoll, wo der Sänger von sich Vers 172 f. sagt: ‚Ist ein blinder Mann, er wohnt im staubigen Chios, all seinen Liedern gebührt der Hochruhm künftiger Zeiten’“.1625 Das Vorbild für die Mär vom blinden Sänger auf der Insel Chios ist offensichtlich der blinde Demodokos der Odyssee, der älter als sein Doppelgänger im Apollonhymnos ist.1626 Dennoch zeugt der Sachverhalt von einem interessanten kulturhistorischen Zusammenhang: Die Phaiaken konnten als ionische Abanten identifiziert werden, die an der Westküste Griechenlands siedelten. Nachdem sich dieser Stamm der Abanten (nämlich die Nachfahren des euboiischen Helden Phaiax) im Westen niedergelassen hatte, waren andere Abanten von Euboia aus ostwärts nach Chios ausgewandert,1627 und so erscheint es nachvollziehbar, dass der blinde Dichter im Apollonhymnos ausgerechnet für die Insel Chios in Anspruch genommen wird, obwohl er eigentlich dem nach Westgriechenland emigrierten Abantenstamm zuzuordnen ist. 1618 Od. 8,251. – Und der Dichter legt Odysseus die Worte in den Mund: „Dir, Demodokos, gilt ja vor allen Menschen mein Lobpreis, ob dich die Muse gelehrt, die Tochter des Zeus, ob Apollon“ (Od. 8,487 f.). 1619 Od. 8,472; 13,28. Bei den Phaiaken gilt Demodokos sogar als „Heros“ (Od. 8,482). 1620 „Die verbreitetste Ansicht stammt von Ephoros (Ps.-Plut. I 2)“ (RADDATZ, Homeros 2199,13 f.). U. a. legt Bernhard THIERSCH (80 f.) dar, dass die übliche Deutung des Namens vom phaiakischen Sänger Demodokos herrührt. 1621 Od. 8,63 f. Wegen seiner Blindheit musste Demodokos geführt werden (Od. 8,105 f.). 1622 HÖLSCHER, Odyssee 22. 1623 HERMANN 364, Anm. 1. 1624 RADDATZ, Homeros 2194,6 f. 1625 RADDATZ, Homeros 2194,54 ff. – Schon THUKYDIDES (3,104) hielt den Vers für autobiographisch. 1626 THIERSCH 243; vgl. Schol. Pind. Nem. 2,1. Athen. 1,22 1627 „Zur Zeit der ionischen Wanderung sollen die Abanten unter Amphiklos von Histaia nach Chios gewandert sein“ (DONDORFF 58); „die von Troia heimkehrenden Abanten waren schon früher nach Epirus gewandert“ (ders. 59, Anm. 1).

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„Die Sprache der Homerischen Epen besteht in einer älteren Form des ionischen Dialekts, der mit äolischen Worten und dichterischen Neubildungen durchsetzt ist“.1628 Unter der Äolis, dem Land der historischen Äoler, versteht man die Ägäisinsel Lesbos und den gegenüberliegenden „Nordteil der kleinasiatischen Westküste“.1629 Aufgrund des aiolischen Spracheinflusses der Homerischen Epen wird die Heimat des Dichters an der ionisch-aiolischen Sprachgrenze in Kleinasien vermutet,1630 die beim antiken Smyrna verlief: Südlich und westlich von Smyrna erstreckte sich der ionische Sprachraum, und nördlich davon – bis zur Troas – der aiolische Sprachraum. Angesichts des von Äolismen durchsetzten ionischen Dialekts der Homerischen Epen ist nun die Frage zu stellen, ob die in der vorliegenden Studie geäußerte Annahme, der Odysseedichter habe nicht im kleinasiatischen Küstenraum gelebt, sondern an der Westküste Griechenlands, überhaupt zu vertreten ist. Bei den homerischen Phaiaken, denen der Dichter vermutlich angehörte, handelt es sich um ionische Abanten, die infolge der euboiischen Kolonisation bereits in der ersten Hälfte des 8. Jhs. in den westgriechischen Insel- und Küstenraum gelangt waren. Abgesehen davon, dass „die in der Mitte der Insel [Euboia] wohnenden Stämme altaiolischen Ursprungs waren“,1631 ist hervorzuheben, dass aiolische Spracheinflüsse schon in frühester Zeit von Thessalien (dem Ursprungsland des aiolischen Dialekts) westwärts nach Nordwest-Griechenland vorgedrungen sind: Ja, in frühgriechischer Zeit werden „alle von Aiolos abgeleiteten Stämme … nach linguistischem Sprachgebrauch ihrerseits als Nordwest-Griechen von den gleichzeitig eingewanderten Doriern getrennt“,1632 und noch Thukydides versteht unter der „Aiolis“ nicht – wie die Antike – den Küstenraum in Kleinasien, sondern die Küstenlandschaft am Golf von Patras,1633 die Homer als das Gebiet der vordorischen Aitoler kannte.1634 Die ionische Sprache derjenigen Euboier, die an der Westküste Griechenlands siedelten, wurde folglich vom aiolischen Dialekt kontaminiert, und so weisen die Äolismen im homerischen Epos keineswegs zwangsläufig zur Ägäisküste Kleinasiens, wie oft suggeriert wird, sondern auch nach Euboia und in den westgriechischen Küstenraum! Aufgrund linguistischer und kulturgeographischer Überlegungen gelangte bereits im Jahr 1832 der Klassische Philologe Bernhardt Thiersch in seiner umfangreichen Publikation über ‚Das Vaterland des Homer‘ zu der Annahme, die Heimat des Dichters sei 1628 WITTE, Homeros 2213,62 ff. – Zum Problem der Äolismen in den homerischen Epen siehe Paul CAUER, Homer 1–3. 1629 KIRSTEN, Aiolis 180,22 f. 1630 „Wohl lehrt die Sprache, daß das Epos in dem Gebiete Asiens gebildet ist, wo Äolisch und Ionisch sich mischten“ (WILAMOWITZ, Heimkehr 174). Ebenso u. a. noch Uvo HÖLSCHER (Odyssee 15): „Die epische Kunstsprache selber, in ihrer Mischung des jonischen mit dem äolischen Dialekt, weist auf … die geschichtliche Situation der anatolischen Griechen“. 1631 GEYER 81. 1632 GEISAU, Aioleis 178,19 ff. – „Auch scheinen zwei Namen von Ithakesiern, Ἁλιθέρσης und Πολυθέρος, auf nähere Beziehungen zu den Völkern hinzuweisen, welche später unter dem sehr vagen Begriffe des aeolischen Stammes zugerechnet wurden“ (HELBIG 282; mit Bezug auf Od. 2,157, 253; 17,68; 22,287; 24,451). 1633 Thuk. 3,102,5. 1634 Ilias 2,638; 23,663. Od. 14,379.

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nicht in Kleinasien zu suchen, sondern im westlichen Griechenland.1635 Zwar wird in seiner Studie auch ein Zusammenhang zwischen Homer und dem phaiakischen Dichter Demodokos gesehen,1636 aber eine geographische Identifikation des homerischen Phaiakenlandes unterlassen, da es schon damals in der Homerforschung meist als fiktive ionische Kolonie gedeutet wurde. Wie jedoch dargelegt, handelt es sich bei der phaiakischen Hafenstadt um eine geographisch fassbare Siedlung an der Westküste Griechenlands, nämlich um die thesprotische Hafenstadt, die im klassischen Altertum den Namen Toryne trug. Folglich lag dort auch die Heimat des phaiakischen Sängers Demodokos, sprich des Odysseedichters, was wohl vielen Altphilologen erstaunlich oder befremdlich erscheinen mag. Dennoch kann aufgrund der hier vorgelegten Indizien und Folgerungen kein Flecken der Alten Welt mit stärkerem Recht beanspruchen, die einstige Wirkungsstätte des Odysseedichters gewesen zu sein,1637 als die Vorgängerin der antiken Hafenstadt Toryne, die seit dem Mittelalter den Namen Parga trägt. Dieser historisch-geographische Befund ist Anlass genug, die Volkszugehörigkeit der homerischen Phaiaken – und damit des Dichters der Odyssee – genauer zu klären. Bereits „vor dem 8. Jahrhundert“ v. Chr. wurden einzelne nordwestgriechische Küstenorte1638 und v. a. die vorgelagerten Inseln „Kerkyra und Leukas wegen ihrer Lage nach dem Westen zuerst von Eretriern“ aus Euboia besetzt.1639 Vermutlich war auch die thesprotische Hafenstadt Toryne (Parga), die stets die Südflanke Kerkyras schützte und als die Hafenstadt der Phaiaken identifiziert werden konnte, ein Stützpunkt der Eretrier gewesen. Abgesehen von dem Hinweis des Phaiakenkönigs Alkinoos, dass einst Seeleute seines Volkes den mythischen Heros Rhadamanthys nach Euboia gebracht hätten,1640 weist auf die eretrische Volkszugehörigkeit der homerischen Phaiaken v. a. der Heroenname Phaiax hin, der als Eponym der Phaiaken gilt und einzig für Eretria nachgewiesen ist.1641 Auch sei erwähnt, dass bereits Georg Barthold Niebuhr eine Verbindung zwi-

1635 THIERSCH 197 f. Er favorisiert den westlichen Peloponnes (166 ff., 214 ff., 289 f.). 1636 THIERSCH 80 f. 1637 An dieser Stelle sei auf die Fundamentalkritik von Rudolf HERCHER hingewiesen, der zu Beginn der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die Fiktionsthese über die von Homer genannten Toponyme im westgriechischen Insel- und Küstenraum überhaupt erst ‚hoffähig‘ machte. Zwar spricht er (271) „auch von den individuellen Zügen, die sich gelegentlich von jenen allgemeinen Bildern abheben“, und so verweist er als einziges Beispiel auf das Land der Phaiaken: „Wer der Ansicht ist, daß überhaupt die Schilderung des Individuellen einen Beweis für Autopsie abgebe, der muss vor allen Dingen zeigen, daß Homer auch das erwiesen fabelhafte [?] Scheria besucht habe, wohin er die individuellste seiner Schilderungen verlegt hat“ (ders. 271, Anm. 2). 1638 Zu dem wenigen, „was vor dem 8. Jahrhundert von gemeinsamen Unternehmungen der Euboier berichtet wird“, „gehören die Siedlungen der Abanten in Illyrien an den keraunischen Bergen“ (GEYER 24), und die Kunde, „dass die Eretrier noch vor den Chalkidiern das Westmeer befuhren“ (ders. 61). 1639 PHILIPPSON/KIRSTEN II 421. 1640 Od. 7,321 ff. Euboia bezeichnet die große Ägäisinsel (Ilias 2,535) und die gleichnamige Stadt auf Kerkyra, die von den Euboiern gegründet worden war (Strab. 6,272, vgl. 10,449). 1641 IG XII 9 nr. 191 B 24. – Phaiax war Sohn des Poseidon und der Korkyra (Hellanik. frg. 77), und „die Phaiaken hießen nach diesem Phaiax, statt umgekehrt“ (EITREM, Phaiax 1533, 49 f.).

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schen den Eretriern und der an der thesprotischen Küste lokalisierten Phaiakenkolonie Scheria sah.1642 Hinzu kommt, dass im Altertum die Schutzgöttin von Eretria die weithin berühmte Artemis Amarysia war, deren Heiligtum außerhalb der Stadt in Amarynthos lag.1643 Und so evozierte die signifikante Artemisverehrung der Eretrier wohl die Episode von der Ankunft des Odysseus im Phaiakenland, wo der leidgeprüfte Held außerhalb der Stadt seiner Retterin, der phaiakischen Prinzessin Nausikaa begegnete, die er mit folgenden Worten ansprach: „Herrscherin! Knieend komm ich und frage dich: Bist du eine Göttin, bist du ein Weib? Und wohnst als Göttin bei denen im breiten Himmel? Der großen Tochter des Zeus, der Artemis, muß ich dann dich an Ansehn, an Wuchs und an Größe am nächsten vergleichen“!1644 Die von Eretriern – teils zusammen mit Chalkidiern – gegründeten Hafenstädte und Kolonien im nordwestgriechischen Küstenraum wurden schon in der zweiten Hälfte des 8. Jh. v. Chr. „von den dorischen Korinthern besetzt, während die südlicheren Inseln den Achaeern überlassen blieben, die sie schon in den homerischen Zeiten bewohnt hatten“.1645 Dieser Umbruch war eine Folge des Krieges zwischen den euboiischen Nachbarstädten Chalkis und Eretria, aus dem das mit Korinth verbündete Chalkis siegreich hervorging und infolge dessen Eretria zur Bedeutungslosigkeit herabsank.1646 Die Endzeitstimmung der nur wenige Jahrzehnte währenden Herrschaft der von den Korinthern bedrängten Eretrier in Westgriechenland findet ihren Niederschlag auch in der Odyssee: Obgleich die Phaiaken abgeschieden lebten und sich bislang nicht bedroht fühlten,1647 umgaben sie ihre Stadt mit einer hohen Festungsmauer samt Türmen1648 und waren den Fremden gegenüber nicht mehr so freundlich gesinnt wie noch eine Generation zuvor.1649 Zudem erwarteten die homerischen Phaiaken den von Nausithoos prophezeiten Fluch des Poseidon, der das Ende ihrer florierenden Hafenstadt ankündigte.1650 Folglich ist der Dichter, der an der thesprotischen Küste am Fürstenhof der Phaiaken wirkte 1642 „Die Phäaken waren keine Griechen: die Eretrier, welche Scheria einnahmen, fanden dort Barbaren, wahrscheinlich Epiroten. Das phäakische Volk des Dichters hat er gestaltet; daß er griechische Namen nennt, geschieht nach demselben Gesetz, nach welchem er es nicht ahnden läßt, daß die Phryger Barbaren waren; wir glauben in ihnen Griechen zu sehen (NIEBUHR in seiner Rezension von A. H. L. Heerens ‚Ideen über die Politik, den Verkehr, den Handel‘ etc.; in: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung, Jg. 1813, Spalte 69). – M. E. hatten jedoch die Eretrier das nordwestgriechische Emporion Scheria gegründet (indes, je früher die Odyssee datiert wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Eretrier den Hafenplatz den ‚barbarischen‘ Epiroten entrissen haben). 1643 Strab. 10,1,10. Liv. 35,38,3. Paus. 1,31,5. 1644 Od. 6,149 ff. Den Vergleich zwischen Nausikaa und Artemis zog bereits der Narrator (Od. 6,101 ff.). 1645 PHILIPPSON/KIRSTEN II 2,421. 1646 „Die Eretrier nahmen an der Begründung von Kyme [in Campanien] noch teil, dann wird ihre Mitwirkung im Westen nicht mehr erwähnt … offenbar fühlten sie sich den vereinigten Chalkidiern und Korinthern nicht gewachsen“ (GEYER 25). 1647 Od. 6,200 ff.; vgl. 8,562 f. – Zwar hatten die Phaiaken Waffen (Od. 8,406), aber „unsere Phaiaken lieben ja gar nicht Bogen und Köcher“ (Od. 6,270). 1648 Od. 6,262 f.; 7,45. 1649 Od. 8,564 ff. 1650 Od. 8,565 ff.; vgl. 13,172 ff.

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und wohl dort die tradierte Fassung der Odyssee schuf, gegen Ende der Herrschaft der Eretrier im nordwestgriechischen Inselraum zu datieren, also kurz nach der Mitte des 8. Jhs. v. Chr.,1651 aber noch vor 734 v. Chr., als die Korinther die eretrischen Kolonisten gewaltsam verdrängten.1652 Dass die Odyssee im westgriechischen Insel- und Küstenraum die Zustände in der Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr. beschreibt, bevor dort die Korinther die politische Führung übernahmen, hatte v. a. schon Benedictus Niese bei seiner Untersuchung des homerischen Schiffskatalogs erkannt.1653 Es sei abschließend betont, dass diese Datierung der uns vorliegenden Fassung der Odyssee ausschließlich aufgrund der historisch-geographischen Analyse der Odyssee erfolgte!1654 Da die relativ kurze Kolonisationsphase der Eretrier im Westen Griechenlands von den dominanten Korinthern nachhaltig überlagert wurde und der thesprotische Küstenraum „entfernt von den Zentren griechischer Geschichte und Kultur“ lag, „die sich zu allen Zeiten im Ägäischen Meer befunden haben“,1655 geriet der ehemalige eretrische Stützpunkt in Parga wohl schon im Altertum in Vergessenheit, zumal er seine seestrategische Position zwischen dem Ägäisraum einerseits und Italien und Sizilien andererseits sowohl an das nördlichere Kerkyra als auch an das südlichere Kephallenia verlor. Man erinnerte sich wohl nur noch daran, dass die Eretrier einst die benachbarte Insel Kerkyra besetzt hatten, der Parga, weil es die Einfahrt in den sogenannten Südkanal Kerkyras kontrollierte, als ‚Auge und Ohr‘ diente.1656 Sogar die Kunde von der frühen eretrischen Landnahme auf Kerkyra wurde durch die darauffolgende korinthische Kolonisation derart überlagert, dass sie beinahe verloren gegangen wäre. Und indem die Korinther das eroberte Kerkyra in ihren Sagenkreis einbanden und v. a. mit der Medea- und Argonautensage verknüpften, wurde es fälschlicherweise als die Heimat der glückseligen Phaiaken gedeutet.1657 1651 Vgl. die Datierung der Homerphilologen. „Der genaue Zeitpunkt ist nicht mehr bestimmbar, er lag aber mit hoher Wahrscheinlichkeit in der zweiten Hälfte des 8. Jh. v. Chr.“ (LATACZ, Homer 23). 1652 Auf Kerkyra waren „die ersten Colonisten Ionier von Eretria und dann die Korinther, welche sie 734 definitiv besetzten“ (KIEPERT 297), und so wurden „die Eretrier von Korinthern aus Korkyra vertrieben“ (GEYER 27; mit Bezug auf Plut. qu. Gr. 11; mor. 293). Auf diesem Ereignis beruht auch die Datierung von WILAMOWITZ (Ilias/Homer 362): „Also gab es um 750 eine auf Euboia bekannte Odyssee“. 1653 „Etwa vor 740 v. Chr. wird unser Verzeichnis geschrieben worden sein, zwischen diesem Jahre und 770 v. Chr.“ (NIESE, Schiffskatalog 47). „Ebenso erscheint die Erwähnung der westlichen Inseln Kephallenia, Zakynthos u. a., die hiedurch eine gewisse Bedeutung erhalten, gerechtfertigt. Dass einst diese Eilande mächtiger waren als in historischer Zeit, können wir schon aus dem Vorhandensein in der Odyssee schliessen. Da sie doch wohl der Seefahrt und dem Handel ihre ehemalige Blüthe verdankten, so lässt sich muthmassen, das das Emporkommen der korinthischen Seemacht ihnen verhängnisvoll geworden ist; korinthische Ansiedlungen bestanden in der That in Akarnanien, Epiros und Kephallenia. Die korinthische Seeherrschaft wird aber bezeichnet durch die Gründung von Korkyra und Syrakus (734)“ (a. a. O.). 1654 In diesem Kontext sei erlaubt, Albin LESKY (Homeros 819,6 ff.) über Lebenzeit und Heimat Homers zu zitieren: „Tiefes Mißtrauen bekennen wir freilich den Versuchen gegenüber, die Frage auf Grund sprachlicher Beobachtungen zu beantworten“. 1655 PHILIPPSON/KIRSTEN II 2, 421. 1656 DE BOSSET 46 (er spricht von „the Ear and the Eye“). 1657 Und „als man Scheria mit der Insel Kerkyra gleichsetzte, wurden die Phaiaken mit weiteren Sagen umwoben“ (EITREM, Phaiaken 1528,6 f.). „Die Ansicht, daß Korkyra das homerische Scheria sei, hat im Altertum durchschlagenden Erfolg gehabt“ (ders. 1530,67 ff.; mit antiken Belegen: 1531,36 ff.).

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2. Die Irrfahrtgeschichte

Fassen wir abschließend die Ergebnisse zusammen: Der Dichter, der die tradierte Fassung der Odyssee schuf, war Ionier, dessen Eltern aus Eretria auf Euboia stammten, und er lebte seit der Mitte des 8. Jhs. v. Chr. als Sänger am Fürstenhof der thesprotischen Hafenstadt, die im klassischen Altertum den Namen Toryne trug und seit dem Mittelalter Parga heißt. Deshalb hatte der Dichter die zuverlässigen Angaben über den westgriechischen Inselraum, und darum konnte die vieldiskutierte Ithaka-Frage einschließlich des Dulichion-Problems sowie die angeblich utopische Heimat der homerischen Phaiaken vollständig und widerspruchsfrei historisch-geographisch gelöst werden. Dies war bislang nicht gelungen, weil die Homerphilologie bei der Deutung der entsprechenden Stellen der Ilias und Odyssee folgende unzutreffende Prämisse zugrunde legte, die in den apodiktischen Worten von Ulrich von Wilamowitz gipfelt: „Es sollte kein Wort mehr darüber verloren werden müssen, daß den homerischen Dichtern [nur] einige Ortsnamen und einige vage Vorstellungen über die westlichsten Inseln zu Gebote standen, nichts genaueres. Das konnte ja gar nicht anders sein; denn das Epos ist ja an der kleinasiatischen Küste entstanden“.1658 Und weil die Wirkungsstätte des Dichters eben nicht an den Küsten der Ägäis lag, sondern am Ionischen Meer, bündelte er ausgerechnet die Sagen über den kephallenischen Inselkönig Odysseus zu einem großen Epos.1659 Den Dichter beflügelte wohl die Absicht, durch diesen westgriechischen Helden an „das kompositionelle Vorbild der Ilias“ anzuknüpfen1660 und ihr ein gleichwertiges Epos zur Seite zur stellen.1661 Für seine Fassung der Odyssee kombinierte der Dichter die Mythen über Odysseus mit den Erzählungen der Westfahrten der frühgriechischen Kolonisten und ließ die Irrfahrt – zum Ruhme seiner Heimat – im Phaiakenland (Toryne/Parga) enden. Zudem hat sich der Dichter in der Person des blinden Sängers Demodokos verewigt. Ja mehr noch: Indem der Eroberer von Troja, der tränengerührte Odysseus persönlich dem Demodokos gestand, dieser würde den Untergang von Troja derart kenntnisreich besingen, als sei er selbst dabei gewesen,1662 schlägt er einen subtilen Bogen zum Ilias-Dichter, den man – wie den der Odyssee – seit alters her Homer nennt.1663 1658 WILAMOWITZ, Ithaka-Hypothese 383. 1659 Schon Wilhelm DÖRPFELD „versuchte nachzuweisen, dass das Lied von der Heimkehr des Odysseus und die Telemachie bei den Achaeern im Westen entstanden ist“ (RÜTER 3). – Es ist jedoch anzunehmen, dass der Dichter bereits auf eine epische Vorlage der Odyssee zurückgriff! Vgl. u.a. KRISCHER, Odysseus 9 ff. 1660 HEUBECK, Odyssee 689. „Die vorbildhafte Wirksamkeit der Ilias wird aber auch darin faßbar, daß der Dichter der Odyssee bestrebt ist, den Bericht der Ilias zu ergänzen“ (ders. 688). 1661 Ein Indiz dafür ist die Hinzufügung der Irrfahrtstation Ogygia (s. Kapitel 2.4.1.), wodurch der Nostos um sieben Jahre (Od. 7,259) auf ein Jahrzehnt gestreckt wurde (Od. 16,18; vgl. 2,175; 16,206; 17,327; 19,222, 484; 21,208; 23,102, 170; 24,322). Dadurch schuf der Dichter ein Äquivalent zur zehnjährigen Belagerung Trojas (Od. 5,106 f.; 14,240 f.). – Aber die Irrfahrt dauerte gar nicht zehn Jahre! Denn eine Addition der Zeitangaben während der Irrfahrt ergibt „höchstens acht und ein halbes Jahr“ (KLAUSEN 78 f., Anm. 31). 1662 Od. 8,485 ff. – „Odysseus findet im Gesang des Demodokos die Qualität, die im Urteil der antiken Literaturkritik die homerischen Epen auszeichnete“(GRETHLEIN 95). 1663 Die Odyssee „ist das Werk eines Dichters, der sich mit ihm ebenbürtig neben den stellt, der die Ilias geschaffen hat und den man Homer nennt, des Dichters der Odyssee“ (HEUBECK, Odyssee 711), und so „bleibt es erlaubt, mit der Antike auch die Odyssee als Werk Homers zu sehen“ (LATACZ, Homer 87 f.).

Malta

Sizilien

Italien

Euboia

Kreta

Abb. 13: Der geographische Horizont der Odyssee

Cyrenaica

Griechenland

Troja

Ägypten

Zypern

Phönizien

2.4 Das neue Finale 389

Anhang Der deutsche Krieg um Ithaka „Until the end of the nineteenth century the prevailing view was that Thiaki was Ithaca“.1 Dies wurde erst infrage gestellt, als infolge der durch Eisenbahn und Dampfschifffahrt bedingten zunehmenden Mobilität zahlreiche Bildungsbürger und Wissenschaftler den griechischen Erdraum bereisten und somit die antiken Stätten in Augenschein nehmen konnten. Etliche besuchten auch den westgriechischen Inselbogen, um auf den Spuren Homers in der Heimat des Odysseus zu wandeln. Im Fokus stand die Insel Theaki (das heutige Ithaka), deren angebliche homerische Stätten als erster William Gell im Jahr 1807 beschrieben hatte. Viele Besucher waren jedoch enttäuscht, da die karge und relativ kleine Insel kaum den topographischen Angaben der Odyssee entspricht. Aber „Gells Nachfolger fühlten sich nicht berufen, gegen seine Visionen zu protestieren; vielmehr schämten sie sich, an solchen Stellen nichts zu sehen, wo jenem alles klar gewesen war“. Immerhin modifizierte drei Jahrzehnte später Martin Leake die Theaki-Ithaka-Theorie, aber auch dessen Änderungen konnten nicht verschleiern, „daß zwischen dem Ithaka Homers und der Wirklichkeit [Theakis] eine Reihe factischer Widersprüche bestehen, die nicht hinwegzuinterpretieren sind“.2 Das hinderte aber etliche Gelehrte nicht daran, weiterhin auf die angeblich beeindruckenden Übereinstimmungen mit dem homerischen Ithaka hinzuweisen.3 Den Nerv der spürbaren Enttäuschung über das sogenannte Ithaka traf der im Jahr 1866 erschienene Aufsatz „Homer und das Ithaka der Wirklichkeit“ von Rudolf Hercher, der eine heftige Kontroverse um das rechte Verständnis der Heimatinsel des Odysseus hervorrief.4 Dieser ‚Krieg um Ithaka‘ tobte vor allem unter den Gelehrten im deutschsprachigen Mitteleuropa und er wurde nicht nur mit mehr oder minder guten 1 2 3 4

JONES V 524. HERCHER 263.

„Selbst der letzte Berichterstatter über Ithaka [vor dem Jahr 1866], George Ferguson Bowen, konnte nach dreijährigem Aufenthalt auf der Insel keine andere Überzeugung gewinnen, als daß Gell mit seinen Versicherungen Recht gehabt habe“ (HERCHER 263). Aber „selbst der scharfe Angriff, den Hercher gegen Gell und seinen Anhang richtete, erschütterte deren Ansehen nicht endgültig. Sie fanden entschiedene Verteidiger in v. Warsberg und Schliemann“ (Partsch, Kephallenia 54).

392

Anhang

Argumenten ausgefochten, sondern auch mit heftigen Verbalattacken. So verunglimpfte z. B. der eitle „Philologenfürst“ Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff5 den nicht minder berühmten und starrsinnigen Archäologen Wilhelm Dörpfeld sogar öffentlich als „Dilettanten“,6 obgleich Dörpfeld für seine Forschungen in Troja und Olympia große Verdienste erworben hatte. So empfanden Zeitgenossen den Konflikt um das homerische Ithaka als ein trauriges Beispiel für den unüberbrückbaren „Gegensatz“, der „zwei im Grunde zu gemeinsamen Wirken berufene Männer trennt“.7 Zudem belastete die Ithaka-Frage vielerorts das Verhältnis unter den akademischen Kollegen und sogar zwischen den altertumswissenschaftlichen Disziplinen, ja, „since that time, students of Homeric geography have been divided into rival camps“.8 Der heftige Streit um Ithaka rief „one of the most notorious learned controversies“ des 20. Jahrhunderts hervor9 und schadete nicht nur der wissenschaftlichen und kollegialen Atmosphäre, sondern führte überdies zu Kollateralschäden in der Homerinterpretation, die schon Emil Belzner beklagte: „Das Bedauerliche ist vor allem, daß in diesem Kampfe [Streit um die Ithaka-Frage] manchem Dichterwort ein Sinn beigelegt worden ist, der ihm nicht zukommt und den man ihm unter gewöhnlichen Umständen auch niemals beigelegt hätte; und diese Umdeutung der dichterischen Gedanken hat schon viel Geltung gewonnen. Es ist Pflicht, dem entgegenzutreten“.10 Diesem seit einem Jahrhundert weitgehend ungehörten Appell folgend, wurden in der vorliegenden Studie die unnötigen philologischen Spekulationen, die als Blindgänger einer längst vergangenen Epoche die Homerphilologie prägten und noch immer belasten, entschärft und als Altlasten entsorgt. Da Archäologen, Althistoriker und Geographen keine gemeinsame Antwort auf die Ithaka-Frage fanden, versuchten im ‚Krieg um Ithaka‘ drei unterschiedliche Lager, die Deutungshoheit über das homerische Ithaka zu erlangen. Das Gros der ‚historisch-kritischen‘ Philologen gelangte zunehmend zu der Überzeugung, dass die homerische Darstellung der Heimat des Odysseus weitgehend fiktiv sei.11 So stellte schon Ulrich von Wilamowitz unmissverständlich fest: „Es sollte kein Wort mehr darüber verloren wer5 6

7 8 9 10 11

GRETHLEIN 72.

„Da hat denn nun Dörpfeld den Text in einer Weise vergewaltigt, daß dafür kein Wort zu hart ist, auch nicht die von Wilamowitz gebrauchte Bezeichnung: Dilettantismus“ (MÜLDER, Ithaka-Hypothese 154)“. Denn „Dörpfeld ignoriert eben alle Grammatik, alle Kritik, alle Geschichte, es sei denn, es paßte ihm in seinen Kram“ (Wilamowitz, Ithaka-Hypothese 382). CAUER, Homer 15. FRASER 213. STUBBINGS 398. „This is not because of the abscence of a definite tradition [?], but because of doubts cast on the truth of the tradition in modern times” (a. a. O.). BELZNER 5. „Und so wird denn am Dichterwort gedreht und gedeutelt, bis es mit der ins Auge gefaßten Wirklichkeit – wenn auch nur notdürftig – stimmt, oder wenn das nicht geht, so wird die betreffende Stelle etwa gar als unecht ausgeschieden“ (7). Schon vor einem Jahrhundert wurde in Teubner’s Schülerausgaben zur Odyssee sogleich im Vorwort die Suggestivfrage gestellt, ob Homer wohl „von der Freiheit des Dichters Gebrauch macht und den Schauplatz frei gestaltet, also Ithake deshalb seine Lage weit im Westen anweist, um es dem Fabellande möglichst nahe zu rücken?“ (HENKE, Bd. 1, S. V). Und in der Gegenwart urteilt z. B. Jonas GRETHLEIN (103) mit Verweis auf die geographische Identifizierung Ithakas (siehe a. a. O. die beiden Literaturangaben zur Anm. 15): „Die meisten Forscher belächeln derartige Versuche“.

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den müssen, daß den homerischen Dichtern [nur] einige Ortsnamen und einige vage Vorstellungen über die westlichsten Inseln zu Gebote standen, nichts genaueres“.12 Die Analytiker, die sich diesem Diktum unterwarfen, fanden in den geo- und topographischen Angaben der Odyssee zunehmend – angebliche – Ungereimtheiten und Fehler über die mutmaßliche Heimat des Odysseus. Kritisch angemerkt sei, „daß durch eine solche analytische Position die Frage der Ithaka-Lokalisierung nicht gelöst, sondern eigentlich auf den jeweiligen letzten Bearbeiter bzw. Kompilator geschoben wird“.13 Das zweite um das homerische Ithaka streitende Lager von Altertumswissenschaftlern hält an der etablierten Theaki-Ithaka-Theorie fest, wobei dem/n Verfasser/n der Odyssee jedoch große dichterische Freiheiten zugestanden werden. Namhafte Verfechter dieser Auffassung waren der Althistoriker Otto Seeck14 sowie der vor einem Jahrhundert bedeutende Geograph Joseph Partsch,15 der „sehr zum Vorteil der Wissenschaft den Philologen nie ganz abgestreift hat“.16 Indes scheint vielen Befürwortern der Theaki-Ithaka-Theorie kaum bewusst zu sein, dass Partsch, um die vermeintlich gravierendsten Widersprüche zu beseitigen, die geographische Hauptstelle der Odyssee über das homerische Ithaka für die Theaki-Deutung geopfert hat, worauf u. a. Josef Gröschl hinweist: Am weitesten „geht in seiner Athetese Partsch, der gar [die Odysseeverse] IX 21–26 als spätere Interpolation verwirft – ein recht kräftiger Aderlaß für die arme Ithakafrage und ein bequemer dazu“.17 Das dritte Lager im Kampf um Ithaka bilden die Anhänger der Leukas-Ithaka-Theorie, als deren Protagonist der Archäologe Wilhelm Dörpfeld gilt. Die Akzeptanz der Theorie schwand jedoch deutlich mit dem Tode Dörpfelds in der Mitte des 20. Jahrhunderts.18 Obwohl die Leukas-Ithaka-Theorie in der Klassischen Philologie umstritten ist bzw. meist abgelehnt wird, erhielt sie – wie auch die Theaki-Ithaka-Theorie – spürbare 12 13 14

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WILAMOWITZ, Ithaka-Hypothese 383. U. a. warnte auch Albert BISCHOFF (14), dass über die Geogra-

phie der Inseln „in der Dichtung eine … weniger genaue Vorstellung erwartet werden darf “. SIEBERER 153, Anm. 13. Weil die geographischen Rahmenbedingungen des homerischen Ithaka (s. Od. 9,21 ff.) nicht auf Theaki (das heutige Ithaka) zutreffen, behauptet Otto SEECK (306): „Die bisherigen Odysseedichter waren Festländer gewesen“. Aber „der Sänger“, welcher die Kunde über die Topographie Ithakas übermittelt, „hat das alles selbst gesehen. Seine feinen und anschaulichen Schilderungen zeugen von so viel Liebe zu dem Lande, von einer so genauen Kenntnis desselben, dass er gewiss, wenn nicht ein Ithakesier war, so doch lange auf der Insel gelebt haben muss“. So sagt der für Theaki votierende Joseph PARTSCH (Kephallenia 57): Die Odysseeverse „spiegeln eine lebendige Anschauung wieder, in welche nur eine irrige Orientierung sich einmischt“; deshalb fühlt sich PARTSCH berufen, Theaki am geographischen Ort platziert zu lassen und lediglich die Himmelsrichtungen anders zu deuten. WALDBAUR 29. So „überwog doch auch in den nächsten Jahren noch die philologische Richtung in der Arbeit des jungen Professors [ Joseph PARTSCH], der ‚Kiepert’s Lehrbuch der Alten Geographie‘ und Bunbury’s ‚History of Ancient Geography‘ einer gründlichen Besprechung unterzog und sich eingehend mit dem byzantinischen Dichter Corippus befaßte, dessen Herausgabe in den Monumenta Germaniae (1875) ihm von Mommsen anvertraut wurde (ders. 10). GRÖSCHL 20 (mit Bezug auf Joseph PARTSCH, Kephallenia und Ithaka 57). Schon im Jahr 1907 stellte Josef GRÖSCHL (42 f.) fest: „Wenn ich zum Schlusse noch ein Urteil darüber abgeben soll, wie die Chancen beider Theorien gegenwärtig stehen, so kann ich mit freudiger Genugtuung feststellen, daß heute die Mehrzahl der Forscher für die Identität des hom. und dem heutigen Ithaka ist, während es um Dörpfeld herum immer einsamer wird“.

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Schützenhilfe von teils namhaften Philologen,19 die etliche Odyssee-Stellen der Dörpfeldschen Theorie entsprechend interpretierten. Und wenn die gewünschte Umdeutung der unpassenden Termini bei dieser oder den anderen Ithaka-Theorien nicht möglich war, d. h. der jeweiligen Theorie nicht nutzbar gemacht werden konnte, dann wurden die problematischen Stellen einfach der Interpolation verdächtigt und athetiert.20 Dieses Unwesen treiben indes auch Analytiker, die für die Fiktionsthese plädieren. Die genannten Frontstellungen sind zu beachten, wenn man im westgriechischen Insel- und Küstenraum die philologischen Tretminen vergangener Schlachten des verbissenen Kampfes um das homerische Ithaka gewissenhaft beseitigen will. So ist in der folgenden Untersuchung bei jeder ungewöhnlichen Deutungsvariante darauf hinzuweisen, welchem der drei genannten Lager der Übersetzer bzw. Interpret angehört und somit sein Motiv für die jeweilige Deutung offenzulegen. Dies ist ein hilfreicher Indikator, Exegese von Eisegese zu scheiden. Die Hauptstelle zur Geographie des Inselreichs des Odysseus sind die Odysseeverse 9,21–26, die in der Homerphilologie als überaus problematisch gelten21 und die der Verfasser der vorliegenden Studie wie folgt übersetzt:22 Ich bewohne das weithin sichtbare Ithaka; gar herrlich ragt dort empor und rüttelt den Bergwald Neritons Gipfel. Beidseits [von Ithaka] liegen noch viele bewohnte Inseln und nah beieinander. Dulichion und Same und das waldige Zakynthos. Es selbst [Ithaka] wurzelt tief am [Meeres-] Boden und liegt am höchsten [weitesten] im Meer nach Westen, abseits liegen die anderen nach Osten und Süden.

Nachfolgend werden diese Verse einzeln durchgegangen um darzulegen, welche Interpreten eine abweichende Übersetzung bieten und warum. Auch wird sich dabei zeigen, ob die hier vorgelegte Übersetzung dem Sachverhalt entspricht und als Leitlinie fungieren kann. Immerhin trifft die von mir gebotene Deutung auf den westgriechischen Inselbogen umfassend und widerspruchsfrei zu und erscheint somit historisch-geographisch überzeugend.23 Die hauptsächliche Auseinandersetzung hat daher mit den Ana19

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So empörte sich schon Dietrich MÜLDER (Ithaka-Hypothese 155) über die Leukas-Ithaka-Theorie (mit Bezug auf Od. 9,25 f.): Die von Dörpfeld konstruierten „Wortverbindungen χθαμαλὴ εἰν ἁλὶ κεῖται und πανυπερτάτη πρὸς ζόφον und ihre Interpretation ist so unglaublich, daß man über die ganze Theorie kein weiteres Wort verlieren würde, wenn sich nicht bessere Philologen als Dörpfeld und sein nächster Anhang seiner Sache angenommen hätten“. Darum rechnet Ulrich von Wilamowitz (Ithaka-Hypothese 382) Wilhelm DÖRPFELD zu denjenigen Homerforschern, die „den Widerspruch zwischen Homer und der Realität bemerken, aber aus Gründen des Glaubens nicht anerkennen“. „Das Hauptzeugnis für die Lage Ithakas und seiner Nachbarinseln ist ι 21–26“ (BELZNER 8). „The most important and the most obscure passage of Homer referring to Ithaca is ι 21–7” (STUBBINGS 399). „So bleibt doch die Beschreibung der Lage Ithaka’s in der Hauptquelle ι 21–27 nach der üblichen Erklärung schwer begreiflich“ (BISCHOFF 13). Zur Grammatik der genannten Verse s. Gregor Wilhelm NITZSCH (III 6 f.). So rezensierte der Gräzist (u. ehem. Rektor der Uni Genf) André HURST (1–3): „Le livre de Warnecke est de ceux qu’on ne peut lâcher: il présente des idées tour à tour raisonnables et surprenantes … Et dès les premières pages, il se pose en champion qui relève triomphalement ce défi … Le poète de L’Odyssée décrit le royaume d’Ulysse avec und precision qui permettrait selon Warnecke de l’identifier à coup sûr … Cependant, il est au moins aussi certain que bien des idées fascinantes qu’il nous présente nourriront de futures discussions. Qu’il en soit chaleureusement remercié”.

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lytikern zu erfolgen, die das homerische Ithaka weitgehend als Produkt der dichterischen Phantasie propagieren,24 nur weil die bisherigen Ithaka-Theorien gescheitert sind. Dennoch ist es unverständlich, dass – wie nachfolgend ersichtlich – „so viele andere Homerforscher die Widersprüche suchen und finden, sie verwickeln und verknoten, statt sie aufzulösen“.25 Verse 9,21–22: ναιετάω δ᾽ Ἰθάκην εὐδείελον. Ἐν δ᾽ ὄρος αὐτῆ,/Νήριτον εἰνοσίφυλλον, ἀριπρεπές. Die Hauptstelle der Odyssee, in der Odysseus sein Inselkönigreich darstellt, beginnt mit dem Satz (Vers 9,21): „Ich bewohne das weithin sichtbare Ithaka“ (ναιετάω δ᾽ Ἰθάκη εὐδείελον.).26 Das erste Wort naietao (ναιετάω) heißt „wohnen“ und ist in diesem Vers transitiv: „bewohnen“.27 Merkwürdigerweise wird die Stelle selten so übersetzt. So schreibt zum Beispiel Roland Hampe in seiner Odyssee-Übersetzung (Reclam-Ausgabe): „Im weithin sichtbaren Ithaka wohn ich“. Und A. T. Murray (Loeb-Edition) übersetzt: „I dwell in clear-seen Ithaca“. Eine größere Freiheit nimmt sich Johann Heinrich Voss in der als ‚klassisch‘ geltenden deutschen Odyssee-Ausgabe: „Ithakas sonnige Höhen sind meine Heimat“. Und Anton Weiher (Tusculum-Ausgabe) sagt: „Ithaka ist mein Besitz“. Zwar ist dem Vers 9,21 zweifellos zu entnehmen, dass die Insel als Wohnsitz des Odysseus ausgewiesen wird, und aus den homerischen Epen geht auch hervor, dass Ithaka die „Heimat“ des Helden seit seiner Kindheit ist (was ja nicht sein muss);28 aber dass die ganze Insel Ithaka als der persönliche „Besitz“ des Odysseus zu betrachten sei, der als Hochkönig die Kephallenen beherrschte, impliziert das Wort naietao nicht, zumal die Odyssee noch andere, untereinander rivalisierende Fürsten bzw. Könige auf Ithaka nennt.29 Folglich ist auch die Übersetzung der Odysseus-Worte durch den geschätzten Joseph Partsch falsch: „Ithaka nenn ich mein“.30 Derartige Deutungen setzen bewusst oder unbewusst die relativ kleine Insel Theaki (das heutige Ithaka) als die Heimat des Odysseus voraus. Wäre er auf dieser Insel heimisch, dann hätte ihm wohl tatsächlich das ganze Eiland gehört.

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So kommentiert z. B. Dietrich MÜLDER (Ithaka 23) die Verse Od. 9,20 ff., in denen Odysseus seine Inselheimat vorstellt: „Das ist natürlich keine Autopsie, aber es ist dichterische Abfindung mit der Wirklichkeit, Umgestaltung des Materiellen zum Ideellen, Abbild des unvollkommenen Materiellen im Spiegel der Phantasie“. MÜLDER, Ithaka 2 (der sich dabei auch ‚an die eigene Nase‘ fassen muss!). – Viele „Analytiker wandten großen Scharfsinn auf und durchpflügten den Text Vers für Vers auf der Suche nach Inkohärenzen. Wo immer sie Unstimmigkeiten zu erkennen meinten, postulierten sie mehr oder weniger kunstvoll zusammengeschweißte Gedichte“ (GRETHLEIN 23). Od. 9,21. PAPE II 214. Vgl. z.B. Ilias 2,840 f. („die speergewohnten Pelasger, deren Stämme die scholligen Fluren Larissas bewohnten“) und Od. 1,404: „solange noch Ithaka bewohnbar ist“. Ilias 3,200 f. Od. 19,399 f. So herrschten auf Ithaka auch die beiden Könige Antinoos und Eurymachos (Od. 18,64 f.; vgl. 1,399 ff.; 15,519 ff.; 16,418 f.; 17,414 ff.; 18,291 ff.; 24,179). PARTSCH, Kephallenia 56: „Ithaka nenn ich mein, ein weithin sichtbares Eiland“.

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In dem kurzen Satz zu Beginn des Verses 9,21 ist zudem auf das Adjektiv eudeielon (εὐδείελον) hinzuweisen. „Das Wort heißt ‚sehr deutlich, leicht erkennbar‘, auch ‚weithin sichtbar‘“, und „wenn eine Insel dieses Beiwort verdienen soll, muß ihre Gestalt, ihre Höhe, der ganze Gebirgscharakter und die Küstengliederung eine auffallende und eigentümliche sein“.31 Wie bereits erwähnt, ist im westgriechischen Inselbogen die aufgrund ihres 1628 m hohen Aenos-Massivs alles überragende Insel Kephallenia über 150 km weit sichtbar und verdient somit das homerische Beiwort eudeielos, das auch „die wohlsichtbare, weitkenntliche“ bedeutet.32 Kephallenia stellt also das benachbarte heutige Ithaka, das viele für das homerische halten, hinsichtlich Größe und Höhe bei weitem in den Schatten. Deshalb unterschlägt bzw. neutralisiert z. B. schon vor einem Jahrhundert das ‚Schülerhilfsbuch zu Homer‘ (Ameis/Hentze) das Wort eudeielos, indem dort der Beginn des Verses 9,21 wie folgt übersetzt ist: „Ich wohne auf der ragenden Ithaka“33 – was auf jedes gebirgige Eiland zutrifft. Odysseus beginnt die Vorstellung seiner Inselheimat also mit den Worten: „Ich bewohne das weithin sichtbare Ithaka“, und er fährt fort (Vers 9,21 f.): „gar herrlich ragt dort empor und rüttelt den Bergwald Neritons Gipfel“. Meist wird das auffällige einosi-phyllos (εἰνοσί-φυλλος) als „laubschüttelnd, waldig“ gedeutet,34 und sicherlich will der Dichter damit zum Ausdruck bringen, dass der hohe Berg Neriton bewaldet ist. Aber dem Wort ist nicht zu entnehmen, ob es sich um Laub- oder Nadelwald handelt,35 und somit ist z. B. die Übersetzung von Roland Hampe, der Neriton sei „mit blätterschüttelndem Laubwald“ bedeckt, nicht korrekt, ebenso der fahrlässige „Laubwald“ in der Übersetzung von Anton Weiher. Dagegen nennt Hans Rupé – ohne die Waldart unnötig zu präjudizieren – „Neritons rauschende Wälder“, ebenso A. T. Murray die „waving forests“, und Johann Heinrich Voss spricht bloß „von rauschenden Wipfeln“. Indes, das Wort einosi-phyllos ist von enosis („das Erdbeben“) abzuleiten,36 und diesem Aspekt wird namentlich Anton Weiher in seiner Übersetzung gerecht: Nritons Gipfel „rüttelt“ den Wald. Denn das homerische Beiwort des Neriton zielt, wie bereits dargelgt, auf den von Erdbeben durchgerüttelten Bergwald Kephallenias ab. Hinter dem Wort einosi-phyllos zeichnet der Dichter das Bergmassiv Neriton mit dem auffälligen Attribut ariprepes (ἀριπρεπές) aus („sehr hervorstechend, glänzend, herrlich“ etc.),37 das in den homerischen Epen nur wenige und wirklich ganz hervorragende Phänomene führen, wie die vom Gott Hephaistos geschmiedete Aigis des Zeus

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GRÖSCHL 29 f. (s. a. Od. 13,234). NITZSCH III 6. Und Emil BELZNER (8) übersetzt Od. 9,21: „Ich bewohne das gut kenntliche Ithaka“. HENKE III 85. – Übrigens versucht Dietrich MÜLDER (Ithaka 33) nachzuweisen: „εὐδείελος setzt auch

Baumbestand voraus“. BENSELER 246. Namentlich Emil HERKENRATH (1237) deutet das εἰνοσί-φυλλος (Od. 9,22) nicht als blätterschüttelnden Laubwald, sondern als „Schwarzwald“ und somit als Tannenwald. BENSELER 246 u. 288; mit Verweis auf den „Erderschütterer“ Poseidon (ἐννοσίγαιος: Od. 5,423; 6,326; 9,518; 11,102, 241, 13;140. ἐνοσίχθων: 1,74; 3,6; 5,282, 339, 366, 375; 7,35, 56, 271; 8,354; 9,283, 525; 11,252; 12,107; 13,125, 146, 159,162). BENSELER 117.

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oder die strahlenden Sterne des Nachthimmels.38 Von diesem alles überstrahlendem Wort in Vers 9,22 fühlen sich etliche Odyssee-Übersetzer, auch Johann Heinrich Voss und Roland Hampe, derart geblendet bzw. irritiert, dass sie es in ihren Übersetzungen einfach unterschlagen.39 Immerhin übersetzt u. a. Anton Weiher: „gar herrlich ragt dort“ der Berg Neriton, und bei A. T. Murray ist zu lesen, Ithakas Berg Neriton sei „conspicious from afar“. – Wie bereits dargelegt führt der homerische Neriton das außergewöhnliche Attribut ariprepes, weil er mit dem in den Himmel ragenden Aenosmassiv auf Kephallenia zu identifizieren ist, das nicht nur als eine über 150 km weit sichtbare Landmarke für den Seeverkehr fungiert, sondern dessen Gipfelpartie zudem von einem mehrere Kilometer langem Tannenwald gekrönt ist. Als erstes Ergebnis bleibt festzuhalten, dass Odysseus seine Inselheimat zunächst mit den Worten vorstellt: „Ich bewohne das weithin sichtbare Ithaka; gar herrlich ragt dort empor und rüttelt den Bergwald Neritons Gipfel“. Verse 9,22–24: ἀμφὶ δὲ νῆσοι/πολλαὶ ναιετάουσι μάλα σχεδὸν ἀλλήλῃσι,/Δουλίχιόν τε Σάμη τε καὶ ὑλήεσσα Ζάκυνθος. Αm Ende des Verses 9,22 folgt ein Satz, der mit den Worten amphi de nesoi (ἀμφὶ δὲ νῆσοι) beginnt. Wie bereits dargelegt (s. Seite 55 f.), wird amphi (ἀμφὶ) meist als „rundherum“ und „im Umkreis“ bzw. „round about“ verstanden, obwohl es eigentlich „zu beiden Seiten“ bedeutet und somit „nicht eine völlige Umschließung“ meint, und „noch weniger eine ‚kreisförmige‘, welche der Etymologie nach dem Wort ganz fremd ist“.40 Darauf weist namentlich Emil Belzner mit Bezug auf das Wort amphi („beidseits“) im Vers Od. 9,25 hin: „Dieses Adverbium bedeutet bei Homer sehr häufig auch ‚auf beiden Seiten‘“, und so „könnte man von einer solchen Inselgruppe sagen, daß die anderen Inseln ‚zu beiden Seiten von Ithaka‘ liegen“; und diese Vorstellung, wobei Ithaka die westlichste sein muss, deckt sich „überraschend mit der wirklichen Lagerung der großen Jonischen Inseln“ im westgriechischen Inselbogen.41 Dass die meisten Interpreten das amphi im Odysseevers 9,22 dennoch nicht mit „beidseits“ übersetzen, ist das Resultat zweier unterschiedlicher Deutungsansätze. All diejenigen, die das heutige Ithaka als das homerische ausweisen, müssen amphi im Sinne von „im Umkreis“ ausreizen,42 weil die anderen westgriechischen Inseln rund38 39 40 41

42

Aigis: Ilias 15,308. Sterne: 8,555. Zudem das Pferd Agamemnons (Ilias 23,453). In der Odyssee werden, abgesehen vom Gebirgsmassiv Neriton, nur noch die Fürsten der gottähnlichen Phaiaken mit dem Attribut ausgezeichnet (8,390; vgl. 176), allen voran der König Alkinoos (8,424). Dabei stellte schon Gregor Wilhelm NITZSCH (III 6) bzgl. Od. 9,21 f. fest: „In unserer Stelle liegt das Hauptgewicht auf ἀριπρεπές“. FRISK I 46. BELZNER 19 (der von Belzner benutzte Begriff „Jonische Inseln“ ist nicht korrekt verwendet, denn er umfasst auch Kerkyra/Corfu und die der südöstlichen Peloponnes vorgelagerte Insel Kythera; vgl. im Teil I Anm. 122). Auch Alfred GERCKE (Ithaka 189) bestreitet, „daß die vielen Inseln rings um Ithaka (ἀμφὶ) liegen sollen“, obwohl er ein Befürworter der Theaki-Ithaka-Theorie ist. „Ringsum, dicht aneinandergereiht, sind viele bevölkerte Inseln“ (PARTSCH, Kephallenia 56). – Und Hugo MICHAEL (10) behauptet: „Ἀμφὶ heisst ‚zu beiden Seiten‘ und kann sich zu der Bedeutung ‚von beiden Seiten umschliessend‘, also ‚ringsum‘ erweitern“. Als Beleg dafür bietet er Od. 11,423: „Klytaimnestra tötete die Kassandra ἀμφ᾽ ἐμοί“, d. h., „wie ganz richtig erklärt wird, ‚indem sie mich mit ihren

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herum liegen (im Norden die ‚Fastinsel‘ Leukas und die Taphischen Inseln, im Osten die Echinaden, im Süden Zakynthos und im Westen Kephallenia). Aber diese Deutung widerspricht den Versen 9,25–26, denen zu entnehmen ist, dass Ithaka innerhalb des Archipels „am weitesten westlich“ liegt, d. h. in einer der vier Himmelsrichtungen die äußerste ist und somit nicht allseits von anderen Inseln umgeben sein kann.43 Die andere Motivation, amphi in Vers 9,22 mit „ringsherum“ zu übersetzen, herrscht bei den Analytikern vor, die eine historisch-geographische Deutung der Odyssee als verfehlt ablehnen, weil das von verschiedenen Dichtern und Interpolatoren bearbeitete Epos weitgehend literarische Fiktion sei und deshalb Unstimmigkeiten vorauszusetzen sind.44 So dient der von Homerphilologen postulierte Widerspruch, dass Ithaka einerseits allseits von anderen Inseln umgeben ist und andererseits als westlichste Insel ausgewiesen wird, als Bestätigung der analytischen Position, dass die Odyssee von mehreren Dichtern und Interpolatoren mit unterschiedlichen Vorstellungen zusammengeflickt wurde. Zwar soll nicht bestritten werden, dass die uns vorliegende Fassung der Odyssee auf mehrere Dichter und Bearbeiter zurückzuführen ist, aber diese Prämisse verleitet dazu, im Epos nicht nur auf mögliche Widersprüche hinzuweisen, sondern sie auch zu suchen und zu finden. Wenn also in Vers 9,22 das amphi als „rundherum“ gedeutet wird, dann ist diese Interpretation unvereinbar mit dem in Vers 9,26 genannten pros zophon (πρὸς ζόφον; „nach Westen“). Denn entweder ist Ithaka von anderen Inseln allseits umgeben, oder sie ist in einer Richtung (laut Odyssee die westliche) die äußerste des Archipels. Legt man bei amphi jedoch die Grundbedeutung „beidseits“ zugrunde, kann das homerische Ithaka durchaus die beiden Bedingungen widerspruchsfrei erfüllen, nämlich sowohl am weitesten westlich zu liegen als auch an zwei Seiten von anderen Inseln eingefasst zu sein. Der gegen Ende des Verses Od. 9,22 beginnende Satz, der sich über den gesamten Vers 23 erstreckt, lautet also: „Beidseits [von Ithaka] liegen noch viele bewohnte Inseln und nah beieinander“. Diejenigen Philologen, die zur Fiktionsthese neigen und Ungereimtheiten im Odysseetext aufspüren (bzw. konstruieren), finden sie auch hier: So „sind die Bestimmungen ἀμφὶ δέ und μάλα σχεδόν ἀλλήλῃσιν, die die Lage [der Inseln] zueinander beschreiben, hinzugefügt worden“, denn „ἀμφί ist also [weil es „geradezu Berührung mit einem Gegenstande ausdrückt“] mit ἄνευθεν [‚fern‘] unvereinbar“.45 Tatsächlich weisen die etwa 90 Stellen der Odyssee, die das Wort amphi führen, auf eine deutliche Nähe, aber nicht unbedingt „Berührung“ hin, was bei einer Insel, die laut Odyssee 9,22 f. von ausdrücklich „vielen Inseln“ umgeben ist, wohl auch kaum möglich ist. Auch ist es nicht Armen umschloss“ (ders. 10, Anm. 1). Aber auch hier ist die eigentliche Bedeutung von amphi noch zu erkennen: es sind die beiden Arme, die den anderen Menschen „beidseits“ umfassen. 43 „It follows that ‚around‘ in line 23 not means ‚all around Ithaca’: because, if the islands encircle Ithaca, then Ithaca cannot be furthest west“ (DIGGLE 520; mit Bezug auf Od. 9,22 f. u. 25 f.). 44 „Hinsichtlich der Westküste von Griechenland und der vor ihr liegenden Inseln kann es zweifelhaft sein, ob der Dichter, wenn er z. B. Ithake als die am weitesten westlich gelegene Insel bezeichnet, wirklich ungenau unterrichtet war, oder ob er von der Freiheit des Dichters Gebrauch macht“ (HENKE I, Vorwort S. V). 45 MÜLDER, Ithaka 22. So „hat [ Johann Heinrich] Voss ἀμφί δέ richtig ‚von grosser Nähe‘ verstanden. Man kann sagen, dass ἀμφί geradezu Berührung mit einem Gegenstande ausdrückt“, und deshalb sei amphi mit „in unmittelbarer Nähe“ zu übersetzen (MÜLDER, Ithaka 21 f.).

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widersprüchlich, wenn – wie bereits dargelegt – nach Vers 9,23 die Glieder des westgriechischen Inselbogens in ihrer Gesamtheit (mala schedon allelesi/μάλα σχεδὸν ἀλλήλῃσι) „nah beieinander“ liegen, aber einige dieser Inseln innerhalb der Gruppe eher (aneuthe/ ἄνευθε) „entfernt“ voneinander sind. Den Vers 9,24 füllt die Formel „Dulichion und Same und das waldige Zakynthos“, die auch in anderen odysseeischen Gesängen wiederholt erscheint.46 Wie bereits erwähnt, fehlt dieser Vers in der bedeutenden Odyssee-Handschrift Harleianus, und er ist, wie v. a. Carl Robert hervorhebt, „ohne Zweifel für das π [den 16. Gesang, Vers 122] gedichtet und aus diesem an den anderen Stellen entlehnt“47 und in den 9. Gesang unpassend eingefügt. Denn „der stilistische Schnitzer liegt darin, daß als Apposition zu νῆσοι πολλαὶ [nesoi pollai; „viele Inseln“] nur drei Inseln genannt werden. Das ist absolut unhomerisch. Es ist aber auch unlogisch, denn mindestens müßte hinzugefügt werden: ‚und noch viele andere’, womit zwar auch nicht dem homerischen Sprachgebrauch, aber doch der Logik Genüge geschehen wäre“.48 Deshalb glätten manche Odysseeübersetzer, so Anton Weiher, die zwischen den Versen 9,23 und 24 liegende Bruchstelle mit überleitenden Worten: „Ich nenne Same, Dulichion, nenne Zakynhos …“. Obwohl Dietrich Mülder sich als überaus kritischer Analytiker profiliert, versucht er die Argumente der modernen Kritik bezüglich des Formelverses zu entkräften, vielleicht um den Bestand an vermeintlichem Chaos in den geographischen Informationen der Odyssee nicht zu mindern.49 Zwar stellt auch Mülder fest: „Πολλαὶ νῆσοι sind es, die nach Odyssee (ι 23) zu Ithaka gehören, namentlich werden aber nur drei genannt … Das sind nicht eben πολλαὶ“.50 Da aber – laut Mülder – es dem Dichter nicht „auf geographische Genauigkeit“ ankommt, „dürfte man getrost übersetzen: viele Inseln, vor allem Dulichion und Same und das waldige Zakynthos“.51 Diese Aussage ist v. a. Mülders Diktum geschuldet, dass „der Dichter der Odyssee von dem Reiche des Odysseus auch nicht das allergeringste weiter wußte, als was er in der Hauptquelle, der Ilias las“.52 So 46

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Od. 1,246; (9,24); 16,123; 19,131. Zwar „erscheinen auch hier die drei Namen als Apposition zu νήσοισιν, aber mit einem sehr wesentlichen Unterschied, durch den die Inkorrektheit der Verwendung im 9. Gesang erst recht grell hervortritt; denn an allen drei Stellen werden eben die νῆσοι nicht als πολλαὶ bezeichnet“ (ROBERT 633). ROBERT 632 f. Ebenso meint u. a. Emil HERKENRATH (1236), dass der der Vers Od. 9,24 „nur im π ursprünglich sein kann“; „ι 24 ist aus π 123 interpoliert“. ROBERT 632. – Also „es geht nicht an, auf πολλαὶ νῆσοι als Erläuterung nur drei Namen folgen zu lassen“ (HERKENRATH 1236). „Da drei Namen als Belege für die zahlreich vertretene Gruppe“ von Inseln „nicht ausreicht“, zumal überleitende Worte „wie ‚beispielsweise‘ oder ‚und andere mehr‘“ fehlen, ist Vers 24 „zu tilgen“ (GERCKE, Ithaka 190). Damit korrelieren die um das Jahr 1905 formulierten überheblichen Worte von Paul CAUER (Homer 1): Zunehmend „aber verbreitet und befestigt sich die Überzeugung, daß die Technik in einer drei Jahrtausende alten Dichtung nicht nach dem Maßstabe beurteilt werden darf, den eine gereifte Wissenschaft [die Klassische Philologie] mit der ihr eigenen Korrektheit und Konsequenz des Denkens, an die Hand gibt“. MÜLDER, Ithaka 16. MÜLDER, Ithaka 18. Noch unbekümmerter ist Josef GRÖSCHL (20): „Jedenfalls nehmen wir ungekünstelter und richtiger an, [Vers Od.] IX 24 stelle einfach eine Auswahl aus dem IX 23 genannten, um Ithaka liegenden Inseln dar“. MÜLDER, Ithaka-Hypothese 157.

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habe der Dichter die drei Inselnamen, aus denen er den Odysseevers 9,24 formte, dem Schiffskatalog der Ilias entnommen, denn dort „werden die das Reich des Odysseus bildenden Inseln einfach aufgezählt“.53 Aber in der Ilias werden, im Gegensatz zum Formelvers Odyssee 9,24, „die das Reich des Odysseus bildenden Inseln“ keineswegs, wie Mülder behauptet, „einfach aufgezählt“.54 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass der Schiffskatalog der Ilias dem Reich des Odysseus insgesamt fünf Inseln zuordnet, und so müsste Mülder zumindest eine Erklärung bieten, warum der Odysseedichter für den Formelvers nur die beiden Inselnamen Zakynthos und Samos herausgepickt hat, sowie den Inselnamen Dulichion, der im Schiffskatalog neun Verse zuvor dem Reich der Dulicher angehört.55 Die Behauptung Mülders, Carl „Robert hält (mit Unrecht) den Vers ι 24 für interpoliert“,56 ist folglich nicht überzeugend, und somit ist der Formelvers im 9. Gesang zu athetieren, wofür auch der altphilologische Mainstream plädiert.57 Verse 9,25–26: ἀυτὴ δὲ χθαμαλὴ πανυπερτάτη εἰν ἁλὶ κεῖται/πρὸς ζόφον, αἱ δέ τ᾽ ἄνευθε πρὸς ἠῶ τ᾽ ἠέλιόν τε, Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schrieb Gregor Wilhelm Nitzsch über die Verse Od. 9,25–27: „Dies ist die Stelle über die geographische Lage und Beschaffenheit Ithakas, von welcher alte und neue Erklärer die manigfaltigsten Auslegungen aufgestellt haben“.58 Dennoch legt die von mir gebotene Studie dar, dass die historisch-geographische Interpretation den Text angemessen und widerspruchsfrei deutet, und nicht die im Elfenbeinturm gedrechselte ‚Höhere Kritik‘. Der Versanfang 9,25 „ἀυτὴ δὲ χθαμαλὴ gehört zu den Bestimmungen, die in den Angaben über Ithaka am meisten missdeutet sind“,59 wobei das erste Wort aute (ἀυτὴ; „Sie selbst“, d. h. die Insel Ithaka) unproblematisch ist.60 Immerhin gesteht noch Gregor Wilhelm Nitzsch zu Beginn des Zeitalters der sog. ‚historisch-kritischen Exegese‘ zu, 53 54 55 56 57 58 59 60

MÜLDER, Ithaka 22; mit Bezug auf Ilias 2,632 ff. Erwähnt sei, dass Dietrich MÜLDER (Ithaka 6) „in dem

Literaturwerk Odyssee eine Nachahmung der Ilias“ sieht. Siehe Ilias 2,631 ff. Ein weiteres kommt hinzu: „Die Art der Koordinierung des Ganzen [der Darstellung des Reichs des Odysseus in der Ilias] mit seinen Teilen ist doch nicht viel anders als bei Euböa und Lakedämon (536 f., 581 f.)“ (CAUER, Homer 581). Ilias 2,634 nennt Zaynthos und Samos (aber nicht einfach durch τε verbunden), 2,631 Ithaka und 2,633 Krokyleia und Aigilips. Dulichion und die Echinaden werden bereits in 2,625 genannt. MÜLDER, Ithaka-Hypothese 162 (die Klammer im Zitat steht so im Original). Vgl. Thiel, Odyssea 113 zu Vers 9,24. So schreibt Hans BÜRCHNER im RE-Artikel „Ithaka“ (2293,46): Der Formelvers Od. 9,24 ist „an dieser Stelle zu athetieren“. NITZSCH III 7. „Es musste sich χθαμαλὴ zu einer Bedutung bequemen, der seine Etymologie und all sein Gebrauch bei Homer wie bei Spätern widerstrebt“ (a. a. O.). MÜLDER, Ithaka 29. Dennoch schreibt Dietrich MÜLDER (Ithaka 29): „ἀυτὴ verstand man als Einzelinsel Ithaka“; sodann bietet er (ders. Ithaka 33) mehrere Beispiele um darzulegen, dass das Wor „ἀυτὴ“ auch „Überordnung über Zugehöriges“ impliziert. [Diese Behauptung dient als Argument, um den unmittelbar vorausgehenden (und zu athetierenden) Formelvers Od. 9,24 zu retten!]. So fährt MÜLDER (Ithaka 33) fort: „Aber ausgeschlossen ist es, dieses ἀυτὴ in einen Gegensatz zu setzen zu Vorhergehendem, d. h. dem Vers ι 24 und den darin erwähnten Inseln“, nämlich ‚Dulichion und Same und das waldige Zakynthos“.

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dass das homerische Ithaka eine konkrete Insel sei, jedoch belastete er seine Auffassung bereits mit einer unnötigen Hypothek, die der Willkür der Interpreten Tür und Tür öffnete: „Nur müssen wir berücksichtigen, dass die Lage gegen die anderen Inseln ja dem Dichter nicht auf einer Charte und nicht nach Messungen vorlag, sondern jedenfalls von ihm oder den Schiffern, die ihm berichteten, nur nach dem vielleicht eigenthümlichen Augenschein gefasst sein musste“.61 χθαμαλὴ Die größten Schwierigkeiten bereitet den Interpreten das Wort chthamalê (χθαμαλὴ), weil es als „niedrig“ gedeutet wird und somit im Widerspruch zum „weithin sichtbar“ des Verses 9,21 steht. Denn es wäre grotesk, eine „niedrige“ Insel als „weithin sichtbar“ auszuweisen,62 zumal im Umfeld des homerischen Ithaka noch viele andere Inseln liegen. Die Anhänger der etablierten Theaki-Ithaka-Theorie versuchen, den Widerspruch zu lösen, indem sie den Terminus „weithin sichtbar“ und das Wort „niedrig“ relativieren: so sei das homerische Ithaka im Gegensatz zu den umliegenden Inseln relativ niedrig.63 Zwar ist die heutige Insel namens Ithaka (Theaki), die aufgrund ihrer beiden bis zu 800 m hohen Gebirgszüge nahezu allseits steil dem Meere entsteigt, keineswegs flach oder niedrig , aber ist sie erheblich niedriger als das sich unmittelbar westlich von ihr erstreckende Kephallenia, das doppelt so hoch in den Himmel ragt.64 Und auch das nördlich benachbarte Leukas ist mit 1.100 m Höhe sichtlich höher ist als das heutige Ithaka. Aus diesem Grund übersetzen manche Gelehrte, so der Geograph und Althistoriker Joseph Partsch, den Anfang des Odysseeverses 9,25 wie folgt: „Niedrig erscheint meine Insel, am weitesten draußen im Meere“, insbesondere wenn man von Elis aus (NW-Peloponnes) in Richtung des westgriechischen Inselbogens blickt.65 Diese Interpretation, derzufolge Ithaka für den Beobachter ausserhalb des Inselbogens „niedrig“ v. a. im Vergleich zur benachbarten Insel Kephallenia erscheint,66 erntete zwar 61 62

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Wie kann „der Berichterstatter“, der „nichts weiter von [dem Relief der Insel] Ithaka zu sagen weiss“ und als herausragendes Merkmal einen „Berg besonderer Beschaffenheit anführt – wie kann es ihm in den Sinn kommen, eine solche Insel durch das Prädikat χθαμαλὴ anderen Inseln entgegensetzen zu wollen?“ (Mülder, Ithaka 29). So ist χθαμαλὴ „vielfach als Lagebestimmung aufgefaßt worden, indem man es nicht als niedrig im absoluten, sondern im relativen Sinne nahm“ (BELZNER 20). „Die Anhänger der These, Thiaki sei das homerische Ithaka, scheinen das χθαμαλὴ hingegen vorwiegend als ‚niedrig im Vergleich zu Kephallenia‘ (so Stubbings 402 u. a.) zu interpretieren“ (SIEBERER 156, Anm. 21). „Die landschaftlichen Reize dieser Insel [Theaki] beruhen hauptsächlich auf der Zerlegung ihrer kaum zwei Quadratmeilen (104 qkm) messenden Landmasse in zwei Gebirgsstöcke“ (PARTSCH, Kephallenia und Ithaka, 5). Also „‘niedrig‘ kann diese Insel auf keinen Fall heißen, auch nicht im Gegensatz zu Kephallenia, dessen Berge sich ja allerdings zu bedeutender Höhe erheben (800 : 1600 m)“ (BELZNER 48). PARTSCH, Kephallenia 57. Eine Seite zuvor übersetzt er die Odysseeverse 9,21–26, und da lautet Vers 25: „Niedrig liegt meine Insel am weitesten draußen im Meere“ (ders. 56). – „Ithaque en particulier, semblent basses aux yeux des marins“; also „elle est ‚l’île basse‘ á côté de ‚l’île haute‘. C’est ce que nous dit le poète” (BÉRARD II 412). „Von der Westküste des Peloponnes, zumal aus der Nähe von Pyrgos und Olympia gesehen, erscheint das doppelgipfelige Ithaka, obgleich seine zwei Hauptberge bis zu 600 und 800 Metern aufsteigen, den-

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Kritik,67 aber ihr stimmten auch namhafte Gelehrte zu, unter denen Victor Bérard und Frank Henry Stubbings hervorzuheben sind.68 Obwohl Joseph Partsch seiner Deutung einschränkend hinzufügt, „daß der Dichter dieser Verse die Insel nur nach dem Eindrucke der Fernsicht beurteilte“ und bei diesem „eine genaue Kenntnis Ithakas nicht vorauszusetzen“ ist,69 hat Partsch mit seiner Deutung der Verse „wesentlich dazu beigetragen, daß der Glaube an das homerische Ithaka wieder Boden gewann“.70 – Im Gegensatz zur konzilianten Deutung von Joseph Partsch („niedrig erscheint meine Insel“) ist die entsprechende Stelle z. B. in der Übersetzung von Roland Hampe („sie selbst ist niedrig“)71 mit der geographischen Wirklichkeit der westgriechischen Inselheimat des Odysseus definitiv unvereinbar, ganz gleich ob man das heutige Ithaka (Theaki), Kephallenia oder Leukas zugrunde legt. Eine Deutungsvariante, die chthamalos ebenfalls im relativen Sinne auffasst, bietet Dietrich Mülder, der jedoch nur ein literarisches Ithaka postuliert, denn „man darf nicht meinen, dass der Dichter darauf versessen ist, eine geographische Lektion über die jonischen Inseln zu erteilen“.72 Mülder schreibt: „Gerade dieser Gegensatz zwischen dem einen auffallenden Berge [Neriton] und ihrer sonstigen Niedrigkeit [auf die sich chthamalê/χθαμαλὴ angeblich bezieht] ist das Kennzeichen der Insel“.73 Aber eine Insel, die als Merkmal einen außerordentlich hohen und weithin sichtbaren Berg aufweist und ansonsten eben und flach ist,74 gibt es im westgriechischen Inselraum nicht, und so ist dies für viele Analytiker eine Bestätigung, dass dem Dichter bloß eine literarisch-fiktive Insel

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noch wie erdrückt, verschwindend niedrig neben den gewaltig aufragenden Bergen von Kefallenia (bis 1620 m)“ (ENGEL 17). So stichelt Dietrich MÜLDER (Ithaka 26, Anm. 1): „Soll man sich auch den Dichter vorstellen, wie er von der Festlandsküste aus doziert?“ BÉRARD II 412; STUBBINGS 402. – Indes, Frank H. STUBBINGS (402) schreibt irrtümlich (mit entsprechender Fußnote 4 auf S. 412): „It has, however been pointed out by Victor Bérard that, as seen by someone approaching from the south or south-east [von der elischen Küste], Ithaki does seem low by contrast with the very high mountains of Cephallenia behind it”. Tatsächlich gebührt die Urheberschaft dieser Deutung von χθαμαλὴ in Od. 9,25 Joseph PARTSCH (Kephallenia 57), wie auch Victor BÉRARD (II 472 u. 473) sogar im Text wiederholt auf PARTSCH samt Literaturangabe hervorhebt. „Sinnlos sind diese Worte nicht“; jedoch „spricht die Bezeichnung Ithakas als ‚niedrige Insel‘ dafür, daß der Dichter dieser Verse die Insel nur nach dem Eindrucke der Fernsicht beurteilte … Für diesen Sänger also, dem der Eingang der Erzählung der Irrfahrten des Odysseus angehört [d. h. der die Verse Od. 9,19 ff. schuf], wird eine genaue Kenntnis Ithakas nicht vorauszusetzen sein“ (PARTSCH 57). OBERHUMMER, Ithaka 6 f. – „Partsch [Kephallenia 57] hat die meines Erachtens einzig mögliche Erklärung des Wortes [χθαμαλὴ] gegeben, indem er sagt, dass der Dichter dieser Verse die Insel nur unter dem Eindrucke der Fernsicht beurteilt hat“ (MICHAEL 8). „Vom Festland gesehen, von welchem der Dichter naturgemäss [?] seinen Ausgangspunkt nimmt (von Osten her), ist die Insel die nächste, somit niedrig, sofern die andern weiter draußen im Meer liegen“ (BISCHOFF 14). HAMPE 134: „Aber sie selbst [Ithaka] ist niedrig und liegt ganz oben im Salzmeer“. MÜLDER, Ithaka 23; und er fügt hinzu: „… oder sein Publikum, eine solche [„geographische Lektion“] entgegenzunehmen“. MÜLDER, Ithaka 30. Für eine solche Insel bietet Ulrich von WILAMOWITZ (Ithaka-Hypothese 381) als Beispiel: „Der Kynthos macht Delos nicht absolut hoch; aber kenntlich ist er genug“. So übersetzt z. B. Oskar HENKE (III 85): „Ithaka selbst hat flache Ufer“; „χθαμαλὴ mit flachen Ufern“ (ders. I 92). „Aber sie selbst [die Insel Ithaka] ist niedrig“ (Roland HAMPE 134).

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vorgeschwebt habe.75 Indes, unabhängig vom Problem der geographischen Evidenz, ist darauf hinzuweisen, dass dem Wort chthamalos „an sich der relative Begriff des Niedrigen nicht innewohnt“ und daher jegliche Übersetzung mit „niedrig“ den Sachverhalt verfehlt.76 Aber auch die Verknüpfung des Wortes chthamalos mit dem nachfolgenden Wort panypertatos („am aller-höchsten“), und dieses als „Hochebene“ zu interpretieren, ist verfehlt.77 Schon die antiken Gelehrten haben am Odysseevers 9,25 „vielerlei herumgedeutelt“: „Apollodor z. B. hat χθαμαλὴ als niedrig gefaßt im Verhältnis zu den anderen Inseln, die höher in das Meer hinauslägen, also nahe am Festland“.78 Diese von Strabon überlieferte Deutung,79 die „zu einer Erklärung ihre Zuflucht“ nahm, „die kein einziges Beispiel bestätigt“,80 nutzt Wilhelm Dörpfeld für seine Leukas-Ithaka-Theorie, indem er sagt: αὐτὴ δὲ χθαμαλὴ bedeutet „Ithaka liegt am festen Boden, an der χθών“, und so folgert er, „also dicht an der Küste“, d. h. „am festen Boden“, am Festland.81 Aber die Deutung „niedrig im Meere“ im Sinne von ‚am festen Boden des Festlandes‘ „ist für unsere Sprachkenntnis nicht mehr diskutabel“, befand Ulrich von Wilamowitz.82 Und Emil Belzner urteilte über Vers 9,25: „Am schlimmsten geht es aber dem Beiwort χθαμαλὴ“,83 weil es der Leukas-Ithaka-Theorie „gefügig“ gemacht wurde.84 Dennoch fand die Deutung auch Befürworter, und so übersetzt u. a. A. T. Murray (Loeb-Edition): „Ithaca itself lies close to the mainland“. πανυπερτάτη εἰν ἁλὶ κεῖται Es ist jedoch zu beachten, dass im Odysseevers 9,25 dem chthamalos („niedrig“?) unmittelbar das Wort panypertatos („am aller-höchsten“) folgt, und „das scheinbar Widersprechende … sahen nicht allein Strabo, sondern auch die Scholiasten zu dieser Stelle“.85 Schon im Ithaka-Kapitel (S. 58 ff.) wurde dargelegt, dass panypertatos, das mit den nach75

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Das Wort χθαμαλὴ wurde am meisten missdeutet, „weil ja die [angeblich] einzige Bedeutung ‚niedrig‘ sowohl der Wirklichkeit [der westgriechischen Inseln] widerspricht, als auch [was zu beweisen wäre!] in einem Gedanken, der ‚geographische‘ Lage zum Gegenstand hat, sehr wenig angebracht scheint“ (MÜLDER, Ithaka 29). BISCHOFF 15. „Ebenso wenig haben [ Jacob] Bryant Abh. Üb. den Trojan. Krieg S. 268 und William Gell das Richtige gefunden, welche χθαμαλὴ πανυπερτάτη als Bezeichnung der Hochebene (table-land) fassten. So wäre der Superlativ gar nicht vergleichend, was er bei dem vorgesetzten παν doch sein muss“ (NITZSCH III 10). WILAMOWITZ, Wochenschrift 381. Aber „diese Übersetzung [‚am Festland‘], die besonders im Neugriechischen ihre Analogie hat, ist von Wilamowitz (Sitzung d. Arch. Ges. Berlin Jan. 1903) u. a. zurückgewiesen worden“ (LANG 99). Strab. 10,2,12: „Writers do not interpret chthamalê as meaning ‚low-lying‘ here, but ‚lying near the mainland’, since it is very close to it” (übersetzt von Horace L. JONES V 43). NITZSCH 8. DÖRPFELD, Alt-Ithaka 81 (mit Bezug auf Strabon 10,2,12). – „Eine derartige Ausdeutung von χθαμαλὸς liegt ist begreiflicherweise im Interesse eines jeden, der Leukas als das homerische Ithaka auffaßt“ (BELZNER 20,1). WILAMOWITZ, Ithaka-Hypothese 381. Ebenso ROBERT 42. MÜLDER, Ithaka-Hypothese 155. BELZNER 20. SCHREIBER 13.

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folgenden Worten ein hali keitai („im Salzmeer“) einen Terminus bildet,86 sich auf die horizontale Dimension bezieht und „am höchsten [bzw. am weitesten] im Meer“ bedeutet (vgl. ‚auf hoher See‘). Dagegen beziehen die Befürworter der Leukas-Ithaka-Theorie das chthamalos auf ein hali keitai (obwohl dazwischen noch das Wort panypertatos steht), um den Ausdruck als „niedrig im Meer“ und somit nahe am Festland zu deuten. Und Wilhelm Dörpfeld macht das sperrige panypertatos der Leukas-Ithaka-Theorie vollauf dienstbar, wenn er behauptet, es würde „nicht nur ‚der oberste‘ oder ‚der höchste‘, sondern auch ‚der äusserste in einer Reihe‘ oder ‚der letzte nach einer Richtung‘ hin“ bedeuten,87 wodurch suggeriert wird, das Wort bezeichne das ‚nördlichste‘ Glied des westgriechischen Inselbogens und folglich Leukas. Auch sei die vor knapp zweihundert Jahren vom Karlsruher Professor Karl Kärcher gebotene Übersetzung des Odysseeverses 9,25 zitiert, die noch vor dem altertumswissenschaftlichen ‚Krieg um Ithaka‘ entstand und sich somit unbelastet um ein angemessenes Verständnis der homerischen Epen bemühte. Auch Kärcher bezieht, der Deutung Strabons folgend,88 das chthamalos („niedrig“) auf die Worte vom „(Salz-)meer“, während er das dazwischen stehende panypertatos in seiner Grundbedeutung „am aller-höchsten“ interpretiert: „Ithaka selbst liegt niedrig [tief] im Meere, die höchste von allen gen Westen“.89 Immerhin berücksichtigt Kärchers Übersetzung alle Wörter des Verses in ihrem ursprünglichen Sinn und seine Deutung ist zudem mit der Geographie des westgriechischen Inselbogens vereinbar. So sei angemerkt, dass „die höchste von allen“ westgriechischen Inseln ganz eindeutig die weithin sichtbare und „rauhe Hochgebirgsinsel Kephalonia“ ist,90 die außerdem am tiefsten im Meer und am weitesten westlich liegt. Dennoch trifft Karl Kärchers Übersetzung, wie schon Gregor Wilhelm Nitzsch moniert, nicht zu, weil er das panupertatos vertikal deutet anstatt horizontal.91 Aber selbst wenn panypertatos im horizontalen Sinn gedeutet wird (Ithaka „liegt am weitesten im Meer“), spricht der Terminus nicht für Theaki. Deshalb stellt Eugen Oberhummer treffend fest: „Für das heutige Ithaka ist eine befriedigende Lösung des Rätsels [Deutung des Verses 9,25] überhaupt nicht möglich, da die Bezeichnung als ‚äusserste‘ der Inseln mit der Lage schlechthin nicht zu vereinigen ist“.92 Dennoch ist Eugen Oberhummers apodiktisches Urteil problematisch, „daß πανυπερτάτη tatsächlich nichts anderes bedeuten kann, daß damit Ithaka als die ‚Jenseitigste‘, also westlichste 86 87 88 89 90 91 92

Aber Dörpfeld und seine Gefolgschaft hat „diese schon durch ihre Stellung innig zusammengehörigen Worte auseinandergenommen und πανυπερτατη πρὸς ζόφον, ειν αλι aber auf χθαμαλὴ bezogen“ (BELZNER 12). Dörpfeld, Alt-Ithaka 80. „Ithaca itself lies chthamalê, panypertatê on the sea; for chthamalê means ‚low’, or ‚on the ground’, whereas panypertatê means ‚high up’” (Strab. 10,2,12; übersetzt von Horace L. JONES V 41). KÄRCHER, Geographie 843. RUDOLF 8: Sogar der österreichische Kronprinz Rudolf war auf seiner Seereise von Triest nach Alexandria im Jahr 1881 beeindruckt, als er die „rauhe Hochgebirgsinsel Kephalonia“ passierte. NITZSCH (III 9) betont mit Verweis auf Ilias 12381 und 13,165, „dass ὑπέρτατος und πᾰν-ῠπέρτατος so wie ὕπατος nicht der höchste bedeutet, sondern der oberste oder der äusserste in einer Reihe oder einem begränzten Raume, nicht altissimus, sondern summus, supremus“. OBERHUMER, Ithaka 11. Also „whatever interpretation is put upon the terms πρὸς ζόφον and πανυπερτάτη, they are untrue of Ithaca [Theaki]“ (ALLEN 94).

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unter den dem Dichter vorschwebenden Inseln bezeichnet wird“.93 Nicht nur, weil das ‚Jenseitige‘ zu sehr die mythographische Komponente des pros zophon betont, sondern weil es noch eine andere bemerkenswerte Deutungsvariante gibt: Der Scholiast will das παν-υπερτάτη in Odyssee 9,25 „auf das Ansehen oder den Ruhm (δόξα) der Insel bezogen wissen“, und so würde Odysseus damit seine Heimatinsel als „die erste, vornehmste von allen anderen Inseln“ im Westen Griechenlands rühmen.94 Aufgrund der mehr und minder problematischen Deutungsvarianten von chtamalos und panypertatos sowie ihres scheinbaren Gegensatzes95 votierte Carl Robert für eine radikale Lösung des Problems: „Die genauere Prüfung des Verses 25 hat mich auf einen anderen Lösungsversuch gebracht. Dieser Vers ist nämlich nichts anderes wie jämmerliches Flickwerk“.96 Da der dem Vers 9,25 unmittelbar vorausgehende Formelvers „Dulichion, Same und das waldige Zakynthos“, wie bereits dargelegt, interpoliert ist, athetiert Carl Robert die beiden Verse 24–25. Zur Bestimmung der geographischen Lage des homerischen Ithaka verbleiben ihm somit nur die Verse 23 (Vers-Ende) und 24 sowie 26, die Robert wie folgt übersetzt: „Nach Abend hin ist Ithaka von dicht gedrängten Inseln umgeben, andere Inseln liegen in größerer Entfernung nach dem Morgen und der Sonne hin“.97 Und er beendet seine Analyse mit dem orakelhaften Satz: „Ist aber dies die ursprüngliche Fassung der Stelle, so wird sich der Leser die Frage, wo Ithaka liegt, selbst beantworten und auch dem Odysseus das Zeugnis nicht versagen, daß seine geographische Beschreibung an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt“.98 Diese Äußerung kommentiert Emil Herkenrath irritiert mit den Worten: „Aber westlich von Ithaka liegt nur Kephallenia“.99 Oder versteht der Altphilologe Carl Robert unter den „dicht gedrängten Inseln“, die „nach Abend hin“, also im Westen des heutigen Ithaka liegen, gar das Konglomerat von Inselkörpern, aus denen die stark gegliederte Insel Kephallenia besteht?! Immerhin nahmen die altgriechischen Gelehrten Andron und Pherekydes an, Homer habe die stark gegliederte Insel Kephallenia als zwei verschiedene nesoi (νῆσοι, „Inseln, Halbin-

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OBERHUMMER, Ithaka 11. SCHREIBER 13 (mit Bezug auf den Scholiast der Schol. Vulg. Ambr.). – Bemerkenswert ist, dass in der

nur wenige Seiten umfassenden Korfu-Ithaka-Theorie von J. F. Leutz-Spitta (292), ohne Bezug auf den Scholiast, zu lesen ist: „Corfou, c’est le coryphée des îles ioniennes … et digne en tous points d‘être la patrie d’Ulysse”. Auch „Eustathios endlich bemerkt, daß diese beiden Worte zwar an sich widersprechende Epitheta wären, aber daß auch jedes Wort etwas anderes bezeichne“ (SCHREIBER 14). ROBERT 633. So wurde der Vers Od. 9,25 angeblich aus den Versen Od. 10,196 u. 17,244 zusammengeflickt. „Damit ist nun doch wohl erwiesen, daß der Vers nach der Manier der späteren in der Stichwort-Manier arbeitenden Rhapsoden … zusammengestoppelt ist, und daß er dem alten Epos nicht angehören kann“ (a. a. O.). ROBERT 634. „Nun bildet, was man eigentlich längst hätte postulieren müssen, ἄνευθε den Gegensatz zu μάλα σχεδὸν ἀλλήληισιν“ (a. a. O.). ROBERT 635. – Indes, so deutlich sind die Verse nun nicht; aber Carl ROBERT meint wahrscheinlich das heutige Ithaka (Theaki). Auch Emil BELZNER (66), der in einer Literaturübersicht die Publikationen den unterschiedlichen Ithaka-Theorien zuordnet, ist sich nicht sicher: So führt er „Karl Robert (?), Ithaka …“ unter der „Ithaki-Theorie II“ (gemeint ist die Variante von William LEAKE) mit Fragezeichen auf! HERKENRATH 1236, Anm. 2.

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seln“)100 aufgefasst,101 und somit würden mindestens zwei der sechs in den homerischen Inseln namentlich genannten Inseln, die dem Odysseus als Hochkönig des Volks der Kephallenen unterstanden, sich auf Kephallenia beziehen.102 Auch der antike Terminus νῆσοι τῶν Κεφαλλήνων („Inseln der Kephallenen“) dürfte v. a. auf diese Inselkörper zu beziehen sein,103 denn das große westgriechische Kephallenia zerfiel in drei kulturgeographisch eigenständige Inselkörper (Inselrumpf sowie West- und Nordhalbinsel). Diese drei „dicht gedrängten“ nesoi (vgl. Od. 9,23), die der nachhomerische Inselname Kephallenia umfasst, bilden den Westen des Inselbogens, während die anderen Insel „in größerer Entfernung nach dem Morgen und der Sonne hin“ liegen, namentlich Theaki, das Eiland Atokos und die Echinaden (im Osten) sowie Zakynthos samt den winzigen Strophaden (im Süden). Carl Roberts mögliche Interpretation scheint einer historisch-geographischen Lösung des Ithaka-Problems recht nahe zu kommen, doch zahlt er dafür mit der Athetese des Verses 9,25 einen zu hohen Preis. So ist Alfred Gercke zuzustimmen, der mit Recht fragt: „Ist also nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, wenn man um des χθαμαλὴ willen den ganzen Vers [Od. 9,] 25 streicht?“104 Denn selbst wenn Carl Roberts Vermutung zutrifft, dass der Vers ‚zusammengeflickt‘ wurde, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass er inhaltlich fehlerhaft ist und somit untaugliche geographische Informationen transportiert. Zwar ist im Vers 9,25 „der Sinn der Worte umstritten“, jedoch ist zu beachten, dass v. a. diese Odysseestelle „von jeher zu Zweifeln herausgefordert [hat], da die Worte auf das heutige Ithaka nicht passen“.105 Aber bevor man das „nicht wegzudeutende χθαμαλὴ“106 einfach relativiert (wie Joseph Partsch), ignoriert (wie Johann Heinrich Voss) oder athetiert (wie Carl Robert), ist ein Blick auf den Kontext zu werfen, um zu überprüfen, ob beim Vers 25 nicht doch alle Worte sinnvoll zu deuten sind. So lautet der Hauptsatz in Odyssee 9,25 f.: „αὐτὴ δὲ χθαμαλὴ πανυπερτάτη εἰν ἁλὶ κεῖται πρὸς ζόφον“.

100 BENSELER 621. 101 „Pherecydes (not in F. H. G.) made Dulichium Pale in Cephallenia (followed by Paus. VII 15. 7), Hellanicus, fr. 138, made it Cephallenia in general, Andron (F. H. G. II 360, fr. 6) part of Cephallenia”, aber „Strabo himself … was unable to allow that Dulichium was either the whole or a part of Cephalenia” (z 85). Möglicherweise hat der Dichter die „nahezu formelhafte Verknüpfung beider Namen (Δουλίχιόν τε Σάμη τε) gebraucht als unvermeidlichen Ersatz für den noch fehlenden Gesamtnamen Kephallenia“ (Partsch, Kephallenia 37). 102 Die Ilias (2,631–634) nennt die Inseln Ithaka, das kephallenische Samos und Zakynthos, sowie Krokyleia und Aigilips. Hinzu kommt das in der Odyssee (4,846) genannte Eiland Asteris, das strategisch günstig platziert ist sowie einen Doppelhafen aufweist (4,846) und deshalb womöglich nicht unbewohnt war. 103 Arist. frg. 462, 1554 a 9,20 B. Dionys. Calliph. f. v. 50. Georg. Aerop. chr. syng. 184 B. – Bislang war der Ausdruck schwer zu deuten, da in historischer Zeit die Kephallenen (mit Ausnahme von Kephallenia und Theaki) allenfalls auf winzigen Eilanden lebten: „Zu ihnen [νῆσοι τῶν Κεφαλλήνων] scheinen außer Ithake mehrere Eilande gehört zu haben, die in der nächsten Nähe von Kephallenia im Ionischen Meer liegen“ (BÜRCHNER, Kephallenia 216,7 f.). 104 GERCKE, Ithaka 190. Merkwürdigerweise schreibt Alfred GERCKE nur eine Spalte (189) zuvor: „Evident ist jedenfalls die Beseitigung von ι 25, worin Ithaka als niedrig bezeichnet wird“. 105 OBERHUMMER, Ithaka 11. 106 MÜLDER, Ithaka-Hypothese 160.

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Das Adjektiv chthamalos, das sich von chthon (χθών, „Erdboden, Erdtiefe“) ableitet, bedeutet „am Boden befindlich, niedrig im absoluten Sinn“.108 Dieser etymologischen Bedeutung verweigert sich v. a. Wilhelm Dörpfeld, auch wenn es nicht den Anschein hat: Er sagt nämlich bewusst nicht, ‚Ithaka ist fest am Boden‘ (im vertikalen Sinn), sondern er wählt die Formulierung, Ithaka liege „am festen Boden“, also ‚am Festland‘ (im horizontalen Sinn). Wie in der vorliegenden Studie bereits dargelegt, bedeutet das Wort chthamalos in Vers 9,25 jedoch vertikal „am festen Boden“, und zwar laut Ulrich von Wilamowitz im „absoluten“ Sinne,109 d. h. in der Erdtiefe „fest angewurzelt“.110 Der Dichter will damit sagen: obwohl die Insel Ithaka am weitesten westlich tief im Meer liegt, schwimmt sie nicht (so bedeutet das griechische Wort für Insel, νῆσος, „eigentlich das schwimmende Land“),111 wie etwa die weiter westlich im Meer befindliche „schwimmende Insel“ Aiolia,112 sondern sie haftet fest in der ‚absoluten‘ Erdtiefe (χθών), wofür die häufigen Erdstöße der zahlreichen Beben im westgriechischen Inselraum ein sicheres Indiz sind. Auch lässt sich das seltene Adjektiv panypertatos einschließlich der unmittelbar folgenden Worte problemlos deuten, wobei es Emil Herkenrath ganz genau nimmt: „πανυπερτάτη εἰν ἁλὶ πρὸς ζόφον läßt sich nicht übersetzen: am weitesten nach Westen im Meere; πανυπέρτατος heißt: ‚am weitesten auf hoher See‘, d. i. ‚vom Strande entfernt‘“.113 Und wörtlich übersetzt, unter Berücksichtigung des sich im Vers 9,26 anschließenden pros zophon („nach Westen“), heißt es: Ithaka liegt „am höchsten im Meer nach Westen“. Erwähnt sei noch, dass manche Interpreten, auch wenn sie nicht der LeukasIthaka-Theorie anhängen, den Ausdruck als „zu alleroberst im Meer“ verstehen und ihn entweder auf die westliche,114 nordwestliche oder nördliche Richtung beziehen.115 107

107 BENSELER 987. – Wenn u. a. Anton WEIHER die Odysseestelle 22,52 als „festgegründetes Ithaka“ übersetzt, so hat das nichts mit der hier behandelten Bedeutung zu tun, sondern es handelt sich bloß um eine eigenwillige Übersetzung des Wortes ἐυ-κτίμενος, das „wohlgebaut“, „wohlbewohnt“, „wohlangelegt“, „wohlbestellt“ bedeutet (BENSELER 363). 108 GOESSLER 35 (immerhin ist er ein Befürworter der Leukas-Ithaka-Theorie); diese Bedeutung des Wortes legt u. a. auch Carl ROBERT (42) zugrunde. 109 WILAMOWITZ (Ithaka-Hypothese 381): „das Wort gehört zu χθών, humilis ist es, also kein relatives Wort, sondern absolut“. 110 VÖLCKER 53; „also: rings ist unermeßliches Meer, die Insel selbst aber ist festes Land“. 111 BENSELER 621 (vgl.a. Aesch. Pers. 299: θαλασσόπληκτος). – So „hat das Wort νῆσος für ‚Insel‘ eine rein griechische Provenienz und gehört in die spätere Zeit der Kolonisation“ (LÄTSCH 29). 112 Von der „schwimmenden Insel“ Aiolia (Od. 10,3) segelt Odysseus mit anhaltendem Westwind bis in Sichtweite Ithakas (10,25–30). 113 HERKENRATH 1237, Anm. 6. – „Πανυπερτάτη soll dann heissen ‚zu alleräusserst‘, während es doch ‚zu alleroberst‘ ist, zusammen mit εἰν ἁλὶ also angibt, daß Ithaka von der ganzen Gruppe am weitesten ‚auf hoher See‘ draußen liegt“ (BELZNER 12). 114 „Ithaka liegt also von jener Inselgruppe zu alleroberst im Meere, d. h. am weitesten im Meere draußen, und zwar gegen Westen“ (BELZNER 15). Ithaka liegt „zu alleroberst (also wohl nördlich) in der See gegen Westen“ (BÜRCHNER, Ithake 2293,50 f.). „Sie selber aber liegt niedrig ganz zu oberst in dem Salzmeer“ (Schadewaldt, Odyssee 9,25). „Ithaka … liegt zu oberst“ (HENKE III 85). 115 BUCHHOLZ (120): „nach Westen (Nordwesten)“. „Durch das ‚gegen das Dunkel‘ (9,26: πρὸς ζόφον) ist das Ithaka der Odyssee als im Westen oder – wenn man zunächst auch eine eher umstrittene Deutung akzeptiert – im Norden von den anderen Inseln abseits gelegen gekennzeichnet“ (SIEBERER 152). Schon Johann Heinrich VOSS (Odyssee) übersetzte Vers Od. 9.25: „gegen den Nord“.

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Der Übersicht halber ist nun eine kurze Zwischenbilanz zu ziehen über die vieldiskutierten Odysseeverse 9,21–26, in denen Odysseus die geographische Lage seiner Inselheimat vorstellt. Dabei ergab sich folgende widerspruchslose und sinnvolle Übersetzung: „Ich bewohne das weithin sichtbare Ithaka; gar herrlich ragt dort empor und rüttelt den Bergwald Neritons Gipfel. Beidseits [von Ithaka] liegen noch viele bewohnte Inseln und nah beieinander“. Da der anschließende Formelvers „Dulichion und Same und das waldige Zakynthos“ vom 16. Gesang in den 9. Gesang interpoliert wurde, ist er hier zu streichen, und so fährt der Text fort mit den abschließenden Versen 25–26, von denen die erste Hälfte bereits untersucht und übersetzt wurde: Es selbst [Ithaka] wurzelt tief am [Meeres-] Boden und liegt am höchsten [weitesten] im Meer nach Westen, abseits liegen die anderen nach Osten und Süden“. – Der letzte dieser Verse, also 9,26 (πρὸς ζόφον, αἱ δέ τ᾽ ἄνευθε πρὸς ἠῶ τ᾽ ἠέλιον τε), erscheint unbefangenen Lesern, die nichts von den philologischen Schlachten um Ithaka wissen, vom Verständnis her unproblematisch, doch auch er leidet seit über einem Jahrhundert unter dem Stellungskrieg der Homerinterpreten. πρὸς ζόφον, αἱ δέ τ᾽ ἄνευθε πρὸς ἠῶ τ᾽ ἠέλιον τε Der Vers 9,26 enthält drei Himmelsrichtungsangaben, nämlich pros zophon („nach Westen“) sowie pros eo t´ helion te („nach Osten und Süden“). Die Angabe pros zophon nennt die Lage des homerischen Ithaka innerhalb des von Odysseus beherrschten Archipels, die Worte pros eo t´ helion te dagegen die beiden Richtungen, in denen die anderen Inseln von Ithaka aus liegen. Jedoch werden die Richtungsangaben nicht ausschließlich geographisch gedeutet, sondern v. a. von Analytikern auch mythographisch bzw. mythologisch. So gilt pros zophon als Metapher für das dunkle Jenseits bzw. das Totenreich, und kontra-positionierend dazu wird pros eo t´ helion te als helle Weltsphäre gedeutet, in der die Sonne aufgeht (Osten) und leuchtet (im Süden).116 Bei diesem, wie schon Strabon – in der Übersetzung von H. L. Jones – sagte, „considerable change in the celestial phenomena“,117 ist jedoch zu beachten, dass der Mythos das dunkle westliche Totenreich nicht im hohen Norden ansetzt, sondern im äußersten Westen, weit hinter dem Sonnenuntergang. Denn bei Zugrundelegung der mythologischen Bedeutung von zophos wäre das homerische Ithaka, wie Eugen Oberhummer formuliert, „die ‚Jenseitigste‘, also westlichste“ Insel,118 und somit der geographischen Sphäre entrückt. Um die genannten Himmelsrichtungen mythologisch zu deuten und somit das homerische Ithaka ins Reich der Fiktion zu verweisen, stellte Dietrich Mülder zunächst verwirrende Fragen, die wie Nebelkerzen den eigentlich offenkundigen Sachverhalt verdunkeln: Die Verse Od. 9,25–26 „enthalten nach allgemeiner Auffassung Richtungs116 VÖLCKER 42 ff. MICHAEL 6. 117 Strabon (10,2,12) sagt bzgl. der Himmelsrichtungen in Vers Od. 9,26: „For it is indeed possible to interpret this as meaning the four ‚climata’, if we interpret ‚the dawn‘ as meaning the southerly region (and this has some plausibility), but it is better to conceive of the region which is along the path of the sun as set opposite to the northerly region, for the poetic words are intended to signify a considerable change in the celestial phenomena” (übersetzt von Horace L. JONES V 45). 118 OBERHUMMER, Ithaka 11.

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angaben, aber von wo aus sollten die wohl gegeben sein? Von Elis [NW-Peloponnes]? von dem gegenüberliegenden Festlande [Akarnanien]? oder von Ithaka [Theaki] für die übrigen Inseln, dagegen von den übrigen Inseln wieder für Ithaka? Wenn eine Insel (Ithaka) die westlichste von mehreren ist, weshalb muss dann noch gesagt werden, dass diese anderen östlich [und südlich!] von ihr liegen?“119 Man muss kein Geograph sein, um auch die letzte dieser Fragen klar beantworten zu können: Selbst bei einer Insel, die am westlichsten in einem Archipel liegt, müssen die anderen Inseln nicht ausschließlich im Osten liegen, wie Dietrich Mülder annimmt und dabei die homerische Angabe „Süden“ unterschlägt. Er ahnte wohl nicht, dass für die anderen Inseln, allein bei Berücksichtigung der drei weiteren Kardinalrichtungen (N, O, S), immerhin sieben Himmelsrichtungen bzw. Kombinationen von Himmelsrichtungen möglich sind: nur N, nur O, nur S; N und O; N und S; O und S (so in Od. 9,26); N und O und S; wobei die Inseln, falls sie nördlich und südlich von Ithaka liegen, nicht so weit nach Westen ragen dürfen wie das homerische Ithaka. Zudem sollte es unstrittig sein, dass Odysseus in der Unterhaltung, in der er – in der epischen Wirklichkeit – dem fremden Volk der Phaiaken seine Inselheimat vorstellt, sich der üblichen geographischen Darstellungsformen bedient. Jedoch ist Dietrich Mülder anderer Meinung: „Es müsste klar sein, dass der Standort des Sprechers und der Angeredeten allein der sein kann, von dem aus die Lage der Örtlichkeit geschildert wird, nach der Odysseus heimgebracht werden möchte; sie liegt [laut Mülder] πανυπερτάτη πρὸς ζόφον von der Phaiakeninsel, ist von ihr die allerentlegenste nach ‚Westen‘“.120 Dem ist entschieden zu widersprechen, denn der Bezugsrahmen ist doch die Heimatinsel des Odysseus, also Ithaka, die er den Phaiaken als Erstes nennt (Od. 9,21 f.); sodann verweist er auf die anderen Inseln (Vers-Ende 9,22 bis Vers-Ende 24), und danach sagt er, in welcher Himmelsrichtung die anderen Inseln seines Reiches von Ithaka aus liegen (9,25 f.); zum Schluss charakterisiert er die naturräumliche Beschaffenheit seiner Heimatinsel (9,27 f.). Die Darstellung seiner Inselheimat, die Odysseus den Phaiaken vorträgt, ist also sehr übersichtlich und klar strukturiert, und so würde ein unbefangener Leser kaum auf den Gedanken kommen, dass der Bezugsrahmen nicht das vorgestellte Inselreich der Kephallenen ist, sondern das Phaiakenland sein soll. Zudem steht eine solche Annahme 119 MÜLDER, Ithaka 26. – Zu dem Bündel an Fragen sah sich Dietrich MÜLDER offenbar veranlasst durch den Versuch von Joseph PARTSCH (Kephallenia 56 f.), die Theaki-Ithaka-Theorie zu retten, indem dieser hinsichtlich der Richtungsangaben Od. 9,26 schreibt: „Der Sprechende, also der Dichter, nimmt für die Bezeichnung der Gruppierung der Inseln ‚draußen im Meere‘ seinen eigenen Standpunkt offenbar auf dem Festlande, wie die Richtungsbezeichnung andeutet, etwa in Elis“ (ders. 57). Sicherlich wurde die Deutung von Joseph PARTSCH (vgl. ders. 55 f. u. 56, Anm. 1) vom Odysseewerk des Otto SEECK (281) evoziert: „Doch vom ‚weithin sichtbaren Ithaka‘ konnte nur derjenige reden, welcher von einem ausserhalb gelegenen Punkte her die Insel zu sehen gewohnt war“. Um derartige Überlegungen zu dikreditieren, d. h. als beliebig infrage zu stellen, bietet MÜLDER (a. a. O.) die Fülle an Fragen auf: „Von Elis? von dem gegenüberliegenden Festlande?“ etc. 120 MÜLDER, Ithaka 26. Vgl. Alfred GERCKE (Ithaka 191): „Durch den Einschub des Verses [Od. 9,] 25 [durch „den Interpolator“] vor πρὸς ζόφον wurde nun die Insel des Odysseus aus dem Osten weit hinaus in das Westmeer verlegt“ (ders. 190 f.), und „durch die falsche Einordnung des Zusatzes vor πρὸς ζόφον wurde die verkehrte Orientierung hervorgerufen“.

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im Widerspruch zur Odyssee, ganz gleich, ob ihr ein fiktives oder geographisches Weltbild zugrunde liegt. Denn Odysseus gelangt ostwärts übers offene Meer in Richtung Heimat121 und gerät kurz vor Erreichen von Ithaka in einen schweren Sturm, sodass er sich an die phaiakische Küste rettet,122 die eine halbe Tagesreise zur See von Ithaka entfernt liegt.123 Bedenkt man zudem, dass der Dichter die Phaiaken zumindest am westlichen Rande der griechischen Oikumene ansetzt,124 so wäre es unverständlich, wenn Odysseus hätte sagen wollen – wie u. a. Mülder unterstellt –, dass seine Heimatinsel „am weitesten westlich von der Phaiakeninsel“ liegt. Ein solches Lageverhältnis wäre sogar mit der Topographie eines Märchenlandes unvereinbar. πρὸς ζόφον Es wurde bereits angedeutet, dass zophos (ζόφος) „kein rein geographischer Begriff ist“,125 sondern auch „Finsternis, Dunkel, insbesondere das unterirdische Dunkel, das Schattenreich, die Unterwelt“ bedeuten kann.126 Dieses im äußersten Westen gedachte Reich der Toten, in welchem ewige Dunkelheit herrscht,127 liegt weit hinter dem Ort des Sonnenuntergangs.128 Und weil das Wort zophos sowohl die Himmelrichtung Westen als auch das dunkle Jenseits bezeichnet, übersetzt u. a. A. T. Murray (Loeb-Edition): Ithaka sei „the furthest towards the gloom [‘Düsternis’]“. Bei derartigen Übersetzungen ist aber unbedingt zu beachten, dass die zophos genannte Sphäre des düsteren Totenreichs, die dem hellen Osten gegenübersteht, in der Vorstellung der Alten Griechen eindeutig im Westen liegt. Dennoch nutzen etliche Homerinterpreten die Ambiguität von zophos, um die mythologische Bedeutung „Finsternis, Dunkel“ (für das Totenreich) geographisch zu transformieren, indem sie den mythischen zophos nicht nur auf den irdischen Westen übertragen, sondern – wegen der düsteren Komponente – v. a. auf den trüben Nordwesten oder gar Norden.129 Gestützt auf diese irrige Homerinterpretation, die schon in 121 Od. 5,268 ff.; vgl. 10,25 ff. 122 Od. 5,278 ff. Die göttliche Kalypso hatte geschworen, den Odysseus zur Heimat zu senden (5,177 ff.), konnte aber nicht wissen, dass der zürnende Poseidon ihn kurz vor Erreichen der Heimat erblickt und ihn nochmals Seenot bringt (5,282 ff.). 123 Od. 13,33 ff. u. 93 ff. 124 Od. 6,240 f. (vgl. 6,279). 125 MÜLDER, Ithaka 28: „ζόφος ist M 240 [Ilias 12,240] kein rein geographischer Begriff, das geht auch aus anderen Stellen hervor“, nämlich Ilias 15,191 („des Hades düstere Schattenbehausung (zophos)“; 21,56 (ihm erschien ein Wunder: die Toten erschienen aufzuerstehen und wiederzukehren „aus nebligem Dunkel (zophos))“; 23,51 (die Toten gehen „ins Reich der Schatten (zophos))“. –„ζόφος ist also in der Ilias das Reich des Dunkels, Reich des Unheils, Totenreich“ (a. a. O.). 126 BENSELER 386. 127 Od. 11,57; 13,241; 20,356. – Aber „da die Fälle, wo ζόφος die Unterwelt bedeutet, ohnehin ausser Betracht bleiben, an andern aber wie γ 335 (…) bestimmt nur der Westen gemeint ist, so scheint es mit der Begründung misslich zu stehen. Denn die Stelle ν 241 kann nicht angeführt werden, da dieselbe ebenso wie die unsrige (ι 26) beide Deutungen zulässt“ (BISCHOFF 16). 128 Weit westlich von Ithaka liegt eine „Insel Syria, vielleicht schon erhieltest du Kunde; über Ortygia [Syrakus?] liegt sie hinaus, wo [abends] die Sonne sich wendet“ (Od. 15,403 f.). 129 „‘The gloom‘ is a poet’s term, and it would be a strange conception of the darker points of the compass which did not allow the murky north to colour that word” (LEAF 149 f.).

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der Antike von Krates130 und Strabon131 angeführt wird, legt auch die Odyssee-Übersetzung des Johann Heinrich Voss ein unrühmliches Zeugnis ab: „Ithaka liegt in der See am höchsten hinauf an die Feste, gegen Nord“.132 Diesem schlechten Beispiel folgend, nehmen auch andere Homerinterpreten an, dass der Ausdruck zophos zwar v. a. Westen bedeute, aber es „sei in diesem Falle selbstverständlich auch der Norden eingeschlossen, ohne daß dieser allein gemeint sei“.133 So übersetzt z. B. Roland Hampe (Reclam-Ausgabe) den Vers 9,25 f., der die geographische Lage Ithakas beschreibt: Die Insel „liegt ganz oben im Salzmeer nach dem Dunkel“.134 Dass im Odysseevers 9,26 das vieldiskutierte zophos, das die geographische Lage von westgriechischen Inseln beschreibt, weder als mythisches Totenreich noch als geographischer Norden zu deuten ist, lehren die Verse 10,190 und 13,240 f., in denen zophos der Morgenröte und damit dem Osten entgegen gesetzt wird,135 ferner die Verse 3,329–335: „Die Sonne versank und Dämmerung nahte“, und endlich gedachten sie schlafen zu gehen, „denn schon ist im Westen (zophos) die Helligkeit verschwunden“. Indes, der geographischen Deutung von pros zophon in Vers 9,26 verschließen sich etliche Analytiker mit zweifelhaften Argumenten. So wird z. B. auf ein Odyssee-Scholion verwiesen, in welchem „Homer hier Verhältnisse anders darstellt, als sie in Wirklichkeit waren“,136 und Otto Seeck vermutet unbekümmert: „Der Dichter scheint nicht gewusst zu haben, dass Kephallenia der Odysseusinsel im Westen vorlag. Er war eben ein echter Binnenländer“.137 Aber selbst Homerinterpreten, die dem Dichter weder geographische Unkenntnis vorwerfen noch das pros zophon mythologisch deuten, fassen die Himmelsrichtung 130 „Uneingedenk der anderen Stellen, aus denen die Homerische Orientierung ersichtlich ist, nahm er [Krates] nicht bloss ζόφος fälschlich für den Norden, sondern sogar das allein stehende ἠὼς für den Süden. Etwas vorsichtiger verfuhr Strabo X 336 f., eben indem er sich scheute, das οὐδ᾽ ὅπῃ ἠὼς, so allein gestellt [in Od. 10,190], von dem Süden zu verstehen. Da er sich, freilich irriger Weise, einmal überzeugt hielt, ζόφος sei der Norden“ (NITZSCH III 116). 131 Strab. 10,2,12: So sei im Inselreich des Odysseus Ithaka „the highest towards the darkness, that is what he [Homer] means by ‚towards the darkness‘ [πρὸς ζόφον], but opposite towards the south [πρὸς νότον]” (übersetzt von Horace L. JONES V 43). 132 VOSS (Odyssee 100). „Letzteres falsch, da ζόφος der Westen ist“ (BUCHHOLZ 120, Anm. 7). 133 GRÖSCHL 19 (mit Bezug auf REISSINGER, PAVLATOS und MICHAEL, die Vertreter der Leukas-Ithaka-Theorie sind). 134 HAMPE 134. Vgl. die Deutung von Emil BELZNER 8 (die Klammer steht im Original), der zwar treffend feststellt, zophos ist „die Gegend des Sonnenuntergangs, das westliche Dunkel, daher Westen, Abend“, um dann den Akzent auf den geographischen Nordwesten zu verlagern: „Ithaka selbst liegt niedrig, zu alleroberst im Meere gegen das Dunkel (Westen)“. 135 Also, „zophos“ muss als Westen gedeutet werden, denn, „wie auch andernwärts, steht es im Gegensatz zu ἠὼς τ᾽ ἤλιός τε“ (GRÖSCHL 18). „Diese Lage erhellt sich auch aus der Beschreibung der Fahrt von der Aiolosinsel her …“ (BELZNER 12), denn Odysseus fährt mit Westwind übers offene Meer heimwärts nach Ithaka (Od. 10,25 ff.). 136 „Hochinteressant ist das Schol. B zu πρὸς ζόφον (ι 26): πρὸς τὰ δυτικὰ μερη. Αἱ γὰρ ἄλλαι νῆσοι καὶ Κεφαλληνία ἀνατολικώτεραι αὐτῆς εἰσιν. Ich schließe aus der der ausdrücklichen Beifügung καὶ Κεφαλληνία (neben αἱ ἄλλαι νῆσοι, worin es doch eigentlich schon inbegriffen war), daß der Kommentator, auf den dieses Scholion zurückgeht – man denkt gern an den vortrefflichen Aristarch –, sich dessen klar bewußt war, daß Homer hier Verhältnisse anders darstellt, als sie in Wirklichkeit waren“ (BELZNER 44). 137 SEECK 299.

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nicht unbedingt als „Westen“ auf, sei es nun der geographische oder mythische. So interpretieren viele Befürworter der Theaki-Ithaka-Theorie und auch der Leukas-Ithaka-Theorie die Himmelsrichtung als „Nordwesten“ oder gar „Norden“,138 weil Theaki und Leukas keineswegs die westlichsten Glieder des Inselbogens bilden, sondern die nördlichsten desselben. Beispielhaft sei Hugo Michael zitiert, der als Befürworter der etablierten Theaki-Ithaka-Theorie behauptet: für das Wort zophos im Odysseevers 9,26 „kommt die Bezeichnung Norden seiner Bedeutung am nächsten“, denn wie „der Dichter mit ἠῶς ἠέλιός τε die ganze Erdscheibe bezeichnet, über welche die Sonne ihre Bahn vollendet, so nennt er die ihr entgegengesetzte ζόοφος; sie ist die Stätte des Dunkels, der Nacht, des Todes“.139 Dem ist jedoch zu widersprechen: einerseits, weil hiermit zophos auf das im fernen Westen liegende mythische Jenseits beschränkt wird (denn die westliche „Stätte des Dunkels“ liegt jenseits der Erdscheibe, hinter welcher im Westen „die Sonne ihre Bahn vollendet“) und somit als Himmelsrichtung der Oikumene ausgeblendet wird, andererseits weil das dunkle Totenreich in der Vorstellung der Griechen nicht auch dem Süden gegenüber lag, sondern einzig dem Osten.140 Schon Gregor Wilhelm Nitzsch bezog dementsprechend klar Stellung: „Zunächst beseitigen wir die Annahme …, dass πρός ζόφον gegen Norden bedeute. Dass es vielmehr gegen Westen sei, darüber lässt schon [Od.] XIII 240 keinen Zweifel übrig“.141 Und Albert Bischoff betont, es finde sich in den homerischen Epen „keine Stelle, wo ζόφος klar und deutlich den Norden und nur den Norden bedeutet“.142 Gegen die Deutung „nach Norden“ für pros zophon im Vers 9,26 votiert u. a. auch Emil Belzner mit einem weiteren Argument: Die Bedeutung „Norden … wird aber allein schon durch die andere Bestimmung πανυπερτάτη εἰν ἀλὶ [in Vers 9,25] unmöglich gemacht; denn wenn Ithaka am weitesten auf hoher See liegen soll, kann es nicht die nördlichste der ganzen Inselgruppe sein“.143 Es sei angemerkt, dass dieser zutreffende Hinweis ein geographisches Verständnis der Odysseestelle voraussetzt, weil „am weitesten auf hoher See“ lediglich bei Zugrundelegung der westgriechischen Inseln ‚am weitesten westwärts‘ bedeutet (bzw. bei Inseln, die einer anderen Nord-Süd-gerichteten Küste vorgelagert sind, an die im Westen ein Meer grenzt). 138 „Ithaca, therefore is ‚out to sea‘, to the north-west“ (ALLEN 95). Ähnlich äußert sich Victor BÉRARD (II 413): „… que je traduis par Nord-Ouest“. Und Johann Heinrich VOSS (Odyssee 100) übersetzt gar: „Ithaka liegt in der See am höchsten hinauf an die Feste, gegen den Nord”. 139 MICHAEL 6. Ähnlich äußerst sich u. a. Wilhelm PAPE (I 1029). 140 So sagt Athene auf Ithaka: Die Insel „kennen recht viele, ja alle, mögen sie wohnen, wo Morgen es wird und sonniger Mittag (πρὸς ἠῶ τ᾽ ἠέλιόν τε) oder auch dort, wo sie hinter uns hausen im dunstigen Dunkel (… μετόπισθε ποτὶ ζόφον ἠερόεντα)“ (Od. 13,239 ff.). Das Adverb μετόπισθε(ν) erklärt E. BENSELER (594): „… hinterwärts, auch von der Himmelsrichtung, u. zwar vom Abend, weil man sich bei Bestimmung der Himmelsgegend gegen Osten wandte“. 141 NITZSCH III 7. Um so merkwürdiger ist, dass NITZSCH (III 10) eine seltsame Übersetzung des Satzes Od. 9,25 f. bietet: „So könnte der Wortsinn sein: sie [Insel Ithaka] sonst flach, liegt am obersten im Meere nach Nordwesten“. 142 BISCHOFF 17. 143 BELZNER 13. Vgl. dagegen Dietrich MÜLDER (Ithaka-Hypothese 155): „Es wird πανυπέρτατη mit πρὸς ζόφον verbunden, wodurch seine Bedeutung annuliert wird“.

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Die philologischen Spekulationen über die Himmelsrichtungen im Vers 9,26 erscheinen in der Ithaka-Frage wenig hilfreich, denn „niemals sind wir bei Homer gezwungen, ζόφος mit ‚Norden‘ wiederzugeben“.144 Dennoch erfreut sich diese Deutung der Richtungsangabe für pros zophon nicht nur bei Analytikern großer Beliebtheit, sondern auch bei den Befürwortern der Leukas-Ithaka-Theorie145 sowie bei denjenigen Homerforschern, die das heutige Ithaka (Theaki) als homerisches Ithaka betrachten. Denn unter den Gliedern des westgriechischen Inselbogens liegen weder Leukas noch Theaki „am weitesten westlich im Meer“, sondern einzig Kephallenia.146 Da jedoch Leukas im Altertum als festländisches Vorgebirge Akarnaniens galt, war Theaki, abgesehen von den kleinen Taphischen Inseln, die nördlichste Insel des Archipels, weil sie um 3 km weiter nach Norden reicht als das westlich benachbarte Kephallenia.147 Doch dieses Argument der Befürworter der etablierten Theaki-Ithaka-Theorie empörte u. a. Walter Leaf, der die berechtigte Frage stellt: „Is the exceptionally strong superlative πανυπέρτατε to be explained by the fact that the extreme northern point of Thiaki lies about a mile farther north than the extreme point of Kephallenia?“148 Ulrich von Wilamowitz, der sich mehrmals entschieden gegen Wilhelm Dörpfelds Leukas-Ithaka-Hypothese aussprach,149 übersetzt die Odysseeverse 9,25 f. mit den Worten: „Ithaka selbst liegt niedrig nach dem Dunkel zu im Meere, die andern [Inseln] abseits, nach der Morgenröte und der Sonne“. Und er fügt kommentierend hinzu: „Damit ist den anderen Inseln vom Himmel der Teil zugewiesen, an dem die Sonne aufgehen kann, Ithaka der, wo sie nie hinkommt“.150 Entgegen der Gewohnheit vieler Analytiker, die den mythischen Osten als Sphäre des lebenspendenden Lichts das dunkle Jenseits im fernen Westen kontrapositionieren und somit die Himmelsrichtung ‚Süden‘ in Vers 9,26 absorbieren, nennt Wilamowitz in seiner Übersetzung korrekt die „Morgenröte“ (‘den Osten‘) und die „Sonne“ (‘den Süden‘). Infolge dessen wird die Deutung von zophos als Himmelsrichtung ‚Norden‘ bewusst negiert, weil dem Norden ja der Süden gegenüberliegt und nicht der (mythische) dunkle Westen.

144 BELZNER 14. Vgl. BISCHOFF 17. 145 Zu Dörpfelds Deutung der Verse Od. 9,21–26 siehe DÖRPFELD, Alt-Ithaka 77 ff. 146 Das heutige „Ithaca cannot be tortured into lying ‚all highest up in the sea towards the West‘. It is completely covered by Samos [Kephallenia]” (BUTLER 176). Und Leukas liegt nordnordöstlich von Kephallenia. 147 „Es ergiebt sich also aus dieser Betrachtung, dass der Dichter in der oben angeführten Stelle [Od. 9,25 f.] sagt: die Insel Ithaka liegt weiter nach der Seite des Dunkels, also nach Norden, als seine Nachbarinseln, was auch der Lage des heutigen Ithaka entspricht“. Und „von den hier angegebenen Inseln liegt Ithaka auch in der That am meisten nördlich bzw. nordwestlich“ (MICHAEL 7 f.). Aber das heutige Ithaka reicht nicht nordwestlicher als Kephallenia! 148 LEAF 147. – Selbst wenn man Theaki „als die äusserste gegen Norden“ unter den Inseln verstehen will, so muss „das entferntere [nördlichere] bei Leukas liegende Taphos [Meganissi] ausser Betracht bleiben“ (BISCHOFF 18). 149 Wie Hans DRAHEIM (S. III) schon im Jahr 1902 schreibt, „bestreitet [Ulrich] v. Wilamowitz Dörpfelds Erklärung von χθαμαλὴ“. – Für WILAMOWITZ ist die Leukas-Ithaka-Theorie schon deshalb abwegig, weil „nach Dörpfelds Ansicht gerade eine nicht zum Kephallenenreiche gehörige Insel, nämlich Dulichion [Ilias 2,625 ff.], später [angeblich] den Namen Kephallenia erhalten hat“ (MICHAEL 10). 150 WILAMOWITZ, Wochenschrift 381.

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Durch seine Übersetzung des Verses 9,26 hat Ulrich von Wilamowitz also die der Leukas-Ithaka-Theorie dienliche Deutung von pros zophos verworfen,151 und dafür revanchiert sich der düpierte Wilhelm Dörpfeld, indem er in generösem Ton darauf hinweist, dass der erste Teil der Übersetzung (Vers 9,25) durch Wilamowitz wohl „nur“ durch „ein Versehen“ fehlerhaft ist, weil dieser das Wort pan-ypertatos („am aller-höchsten“) unterschlagen hat.152 Dies ist ein signifikantes Beispiel für den Schlagabtausch im ‚Krieg um Ithaka‘. Zwar fehlt das Wort pan-ypertatos tatsächlich in der Übersetzung des Verses 9,25, die Ulrich von Wilamowitz in seinem Statement gegen die Leukas-Ithaka-Theorie anführt, aber der starrsinnige Dörpfeld verstand die damit verbundene scharfe Kritik seines Kontrahenten wohl gar nicht, wenn er glaubt, Wilamowitz einer grob fehlerhaften Unterlassung überführen zu können. Denn das Wort panypertatos steht im Vers 9,25 ja zwischen den Worten chthamalos und ein hali keitai („tief im Meer“), die Wilhelm Dörpfeld zu einem Terminus verbindet und als „nah am Festland“ deutet, was philologisch zumindest problematisch ist. Indem Wilamowitz das Wort panypertatos, auf das sich die folgenden Worte ein hali keitai tatsächlich beziehen („am höchsten im Meer“), einfach übergeht, stolpert Dörpfeld in die gestellte Falle, weil er nun naiverweise selbst die Unterlassung von panypertatos moniert, also gerade auf die Unterschlagung jenes Wortes hinweist, das seine eigene Deutung des Verses 9,25 am deutlichsten konterkariert. Zudem kann Wilhelm Dörpfelds Interpretation „nach Norden“ für pros zophon (in Vers 9,26) die Leukas-Ithaka-Theorie nicht glaubwürdig stützen, weil auch diese Deutung philologisch untragbar ist. Denn „in line [Od. 9,] 26 the directions ‚towards dusk … dawn and sun‘ refer to west and east. To refer them (as some have) to north and south (or south-east) does violence to the Greak language and common sense”.153 Auch deshalb ist die Deutung „Norden” weder für die Leukas-Ithaka-Theorie noch für die etablierte Theaki-Ithaka-Theorie ein Gewinn; und selbst „wenn man das πρὸς ζόφον als ‚Norden‘ ansieht, stimmen die Angaben der Odyssee nicht, da Thiaki kaum nördlicher als das benachbarte Kephallenia liegt“.154 Zudem steht in Vers 9,26, dass die anderen Inseln ausschließlich „östlich und südlich“ von Ithaka liegen, während doch unmittelbar 151 Wilhelm DÖRPFELD (Alt-Ithaka 79) hatte, um seine Leukas-Ithaka-Theorie zu stützen, ein Zitat von Ulrich von Wilamowitz (Arch. Anzeiger, 1904, 42) aufgegriffen, „dass ζόφος ‚den Teil des Horizontes bezeichne, wohin die Sonne nie kommt‘, also den Norden“. „Also den [geographischen] Norden“ folgert missverstehend DÖRPFELD; dabei meint WILAMOWITZ das dunkle Totenreich, das im fernen Westen, noch hinter dem Sonnenuntergang liegt. 152 „Dass dabei das Wort πανυπέρτατη ganz ausgelassen ist, wird nur ein Versehen sein“ (DÖRPFELD, Aufsätze 26 f.). „Wilamwowitz gibt den Text nur in Übersetzung und läßt dabei das wichtige Wort πανυπέρτατη fort. Daß dies mit Bewußtsein geschehen sei, wird jeder für ausgeschlossen halten“ (CAUER, Homer 15). 153 DIGGLE 520. – Obwohl Walter LEAF (147) ein Befürworter der Leukas-Ithaka-Theorie ist, übersetzt er die Stelle in Od. 9,26 wie folgt: „… towards the dawning and sun“. 154 SIEBERER 153. Deshalb führt u. a. F. H. STUBBINGS (402) die etwas nördlichere Lage des heutigen Ithaka (Theaki) nur vorsichtig an. Ein originelles Argument bietet Albert BISCHOFF (18): „Ithaka konnte die nördlichste dieser Inseln genannt werden, insofern es sich nicht so weit nach Süden erstreckt als seine Nachbarinsel [Kephallenia], Schiffe also weiter nach Norden fahren mussten, um Ithaka zu erreichen, als bei Kephallenia“.

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westlich von Theaki (dem heutigen Ithaka) sich die große Insel Kephallenia befindet. Deshalb schrieb schon Rudolf Hercher, der die Identität des homerischen Ithaka mit der heutigen Insel dieses Namens bestritt: „Sicher ist, daß der Dichter des neunten Buches [des 9. Gesangs der Odyssee] Ithaka westlich von Kephallenia und an die Grenze der bekannten Welt setzt“.155 Damit lieferte Rudolf Hercher den Befürwortern der Theaki-Ithaka-Theorie den Tipp, das homerische Ithaka zumindest auf dem Kartenbild westlich von Kephallenia zu platzieren.156 Begründet wird dies mit der bloßen Annahme, der Dichter habe zwar das heutige Ithaka gemeint, aber fälschlicherweise geglaubt, es läge unter den westgriechischen Inseln „am weitesten westlich“. Eine Variante, derzufolge der Dichter sich nicht geirrt, sondern in diesem Punkt seine dichterische Freiheit wahrgenommen habe, bietet Oskar Henke: Es „bleibt nichts anderes übrig, als die Annahme, daß der Dichter mit Bewusstsein sich den Schauplatz den Bedürfnissen seiner Dichtung gemäß gestaltet hat“, und so platziert auch Henke in der Skizze des westgriechischen Inselraums das heutige Ithaka westlich von Kephallenia.157 Und Oskar Henke fügt selbstgefällig hinzu: Ausschließlich diese Verlagerung von Ithaka ins Meer westlich Kephallenia kann „die Frage lösen, deren scheinbare Unlösbarkeit immer wieder die Zweifel [hervorrief], daß der Dichter das wirkliche Ithake im Auge gehabt habe“, nämlich einerseits das heutige Ithaka und andererseits die westlichste Insel zu sein.158 Dieser ultimative Befreiungsschlag transformiert das homerische Ithaka aber schon fast zu einer fiktiven Insel, denn innerhalb des westgriechischen Inselbogens liegen sowohl Theaki (das sog. Ithaka) als auch Leukas, die beide als homerisches Ithaka gedeutet werden, nicht „am weitesten westlich im Meer“, wie es der Odysseevers 9,25 f. verlangt. πρὸς ἠῶ τ᾽ ἠέλίον τε Auch der Ausdruck pros eo t’ helion te („nach Süden und Osten“) im Vers 9,26 wird von den Befürwortern der Ithaka-Theorien entweder eigenwillig gedeutet oder manipuliert, weil die Angabe, derzufolge die anderen bewohnten Inseln ausschließlich östlich und südlich des homerischen Ithaka liegen, für alle bisherigen Ithaka-Theorien problematisch ist. So befinden sich bei der etablierten Theaki-Ithaka-Theorie, die das heutige Ithaka als das homerische ausweist, die anderen Inseln nicht ausschließlich „im Osten und 155 HERCHER 264. Zumindest im Weltbild der Ilias bildeten die westgriechischen Inseln die westliche „Grenze der bekannten Welt“; indes, die Odyssee weist schon auf Sizilien hin (Od. 20,383; 24,211, 307, 366, 389). 156 So platziert schon Oskar HENKE (I, Vorwort S. V), obwohl er Theaki als das homerische Ithaka betrachtet, die Insel des Odysseus im Kartenbild (ders. III 86, Fig. 4) westlich von Kephallenia, um zumindest zwei der drei in Vers Od. 9,26 genannten Himmelsrichtungen zu entsprechen. 157 HENKE III 86 (mit Figur 4). Zudem behauptet HENKE (III 87), daß „die kleine Insel Asteris nach Osten zu verlegen ist [also Asteris wird von West nach Ost verlegt und Ithaka von Ost nach West!]. Ihre Lage paßt auch so ganz vortrefflich für solche, die ein von Süden heimkehrendes Schiff aus dem Hinterhalt überfallen wollen“. 158 HENKE III 84. „Er [Homer] wollte Ithake dem Wunderlande im Westen, in dem Odysseus so eigentümliche Abenteuer erlebt, möglichst nahe rücken und eine ungehinderte Fahrt aus der unbekannten Ferne unmittelbar nach Ithake schaffen, ohne daß erst andere Inseln umfahren werden mussten“ (ders. III 86).

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Süden“, wie es der Vers 9,26 fordert, weil westlich von Theaki die große Insel Kephallenia liegt.159 Und bei der Kerkyra-Ithaka-Theorie von Johannes Leutz-Spitta, derzufolge die große nordwestgriechische Insel Kerkyra (Corfu) das homerische Ithaka sei, liegen die anderen bewohnten Inseln im Nordwesten (Othoni, Erikussa, Mathraki) und Südosten (Paxos, Antipaxos samt der winzigen Sybotai). Und bei der Marretimo-Ithaka-Theorie von Samuel Butler, die das homerische Ithaka vor die Westspitze Siziliens setzt, erstrecken sich die übrigen Ägadischen Inseln sowie Sizilen ausschließlich östlich von Marretimo. Anders liegt der Fall bei der westgriechischen ‚Fastinsel‘ Leukas, die v. a. Wilhelm Dörpfeld als das homerische Ithaka ausgewiesen hat. Zwar ist Leukas in der realen Geographie nicht die westlichste Insel des Archipels, wie es der Vers 9,26 vom homerischen Ithaka verlangt, aber immerhin befinden ich die anderen „bewohnten“ Inseln, die Odysseus beherrschte,160 tatsächlich ausschließlich „im Osten und Süden“ von Leukas. So liegen zwischen Leukas und Akarnanien – und somit östlich von Leukas – die Taphischen Inseln,161 und im Süden Kephallenia, Theaki, Zakynthos und die Strophaden. Obwohl sich die größten und bedeutendsten Inseln also südlich von Leukas befinden, legt jedoch Wilhelm Dörpfeld auf die Angabe „im Süden“ (Vers 9,26) keinen besonderen Wert, obwohl sie von den drei im Vers genannten Himmelsrichtungen die passendste für die Leukas-Ithaka-Theorie ist. Es wird noch darauf eingegangen, weshalb Dörpfeld ausgerechnet die Himmelsrichtung „im Süden“ zur Dispostion stellte. Festzuhalten bleibt, dass die Himmelsrichtungsangaben in den Odysseeversen 9,25 f. „quite untrue of Thiaki“ sowie etwas günstiger für „Leucas“ sind, und deshalb stellt u. a. Thomas W. Allen resigniert fest, „we are reduced to supposing an error in Homer“.162 Daran ändert auch die von Oskar Henke vorgeschlagene Rochade zwischen Theaki und Kephallenia im geographischen Raum nichts. In Anbetracht der gescheiterten Ithaka-Theorien samt ihren Varianten erscheint es verständlich, dass die Homerphilologie auch ohne konkreten geographischen Bezug die homerischen Ausführungen über das Inselreich des Odysseus deutet, und davon bleiben die Himmelsrichtungen im Odysseevers 9,26 nicht verschont.

159 Dass im Norden von Theaki sich noch Leukas befindet, ist indes außer acht zu lassen, weil Leukas im Altertum nicht als Insel, sondern als festländisches Vorgebirge galt. – Und nach einer Theorie von Rudolf MENGE (60), die auf folgender Prämisse beruht, ist Theaki sogar als westlichste aufzufassen: Die Hauptstadt von Theaki/Ithaka sei zu homerischer Zeit der Ort Polis im Nordwesten der Insel gewesen und die Hauptstadt Kephallenias das ostkephallenische Same. „Der nördliche Teil der Insel [Theaki/Ithaka] aber erstreckt sich nach Westen, und zwar soweit, daß Polis westlicher gelegen war als die [kephallenische] Hauptstadt Same“. Dieser Sachverhalt, der der Ithaka-Theorie von William LEAKE folgt, soll die Richtungsangabe „am weitesten westlich“ legitimieren; legt man indes die etabliertere Theaki-Ithaka-Theorie von Martin GELL zugrunde, wonach sich die Stadt des Odysseus auf dem Aetos befand, greift das Argument nicht, da der Aetos in Sichtweite nordnordöstlich von Same liegt. 160 Bei den Inseln, die östlich und südlich des homerischen Ithaka liegen, muss es sich um „viele bewohnte Inseln“ handeln (Od. 9,22 f.). 161 Die Fürsten der „Taphier“, die auf „Taphos“ wohnten, waren Gastfreunde der kephallenischen Königsfamilie (Od. 1,181 ff., 417 ff.). 162 ALLEN 95 f.

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So äußert sich z. B. Josef Gröschl „zu ἠῶς τ᾽ ἠέλιός τε. Bei diesen synonymen Ausdrücken ist jedenfalls nicht an den Süden zu denken, sondern es sind damit Lichterscheinungen gemeint [analog zu ζόφος, das als Dunkel gedeutet wird]: Das Morgenrot und die aufgehende Sonne, daher auch die östliche Weltgegend“.163 Denn der Odysseevers 9,25 sei angeblich Ausdruck des frühgriechischen Weltbildes, das die Hemisphäre in eine dunkle westliche und in eine helle östliche Hälfte aufteilt,164 und bei dieser Kontrapositionierung von West und Ost ist die Himmelsrichtung Süden verständlicherweise störend. Folglich „ist doch ἠῶς τ᾽ ἠέλιός τε für eine unbefangene Auffassung nichts weiter als der ‚Osten‘“.165 Also, der homerische Terminus pros eo t‘ helion sei zusammenfassend als die helle Sphäre zu verstehen, und folglich sei die ‚Morgenröte bzw. der Osten‘ bzw. ‚die Sonne bzw. der Süden‘ als synonyme Himmelsrichtungen auffassen, wobei dem ‚Osten‘ die Dominanz gebührt, weshalb die Himmelsrichtung ‚Süden‘ einfach unterschlagen wird. So übersetzt schon schon Rudolf Hercher: „… die andern [Inseln] sind weit ab östlich entfernet“.166 Aufgrund des synonymen Verständnisses von „Morgenröte“ und „Sonne“ wird in manchen Übersetzungen des Odysseeverses 9,26 jedoch nicht der ‚Süden‘ unterschlagen, sondern stattdessen der ‚Osten‘, so z. B. in der Ilias-Ausgabe von Hans Rupé.167 Und Thomas W. Allen, der die homerische Himmelsrichtung Süden nicht völlig unbeachtet lassen will, bietet als Kompromiß: „to the east and south-east“.168 Dagegen plädiert u. a. Albert Bischoff für die wortgetreue Übersetzung „gegen Osten und Süden“, weil der Dichter, wenn er meinte, was die ‚Höhere Kritik‘ ihm unterstellt, die Himmelsrichtung Süden wohl nicht genannt hätte.169 Um aber das homerische Ithaka nicht als „ein Erzeugnis freier Phantasie“ den Analytikern zu überlassen, übersetzte der renommierte Geograph und Althistoriker Joseph Partsch die Odysseeverse 9,21 ff. wie folgt: „Niedrig erscheint meine Insel, am weitesten draußen im Meere gegen den West, die andern gesondert nach Osten“. Als Geograph unterschlägt er nicht zufällig die Himmelsrichtung ‚Süden‘, und zwar aufgrund folgender Prämisse: „Für diesen Sänger, dem der Eingang der Erzählungen der Irrfahrten des Odysseus angehört [d. h. dem Dichter, der den Beginn des 9. Gesangs verfasste], wird eine genaue Kenntnis Ithakas nicht vorauszusetzen sein“.170 Mit diesem Postulat recht163 GRÖSCHL 18. 164 VÖLCKER 42 ff. 165 BELZNER 14 (vgl. Ilias 12,239 f.); und er fügt hinzu: „sagen doch auch wir ‚der Sonne entgegen‘ und meinen damit die Ostrichtung‘. 166 HERCHER 264. Also, „Ithaka soll westlich, die andern drei [Inseln] sollen östlich liegen“ (RÜTER 37). „Ithaka … liegt zu oberst im Meer nach Westen, die andern aber getrennt von ihr nach Osten zu“ (HENKE III 85). 167 Hans RUPÈ (407) übersetzt πρὸς ἠῶ τ᾽ ἠελιόν τε in Ilias 12,239 mit „zur Sonne“, ohne die „Morgenröte“ zu erwähnen. 168 ALLEN 95. 169 „Was zunächst auffallen muss, ist, dass die zwei Ausdrücke πρὸς ἠῶ τ᾽ ἠέλιόν τε genau dasselbe, den Osten, bezeichnen sollten, wo doch eine Bezeichnung genügte“. Also, der Ausdruck „bedeutet gegen Osten und Süden“, denn „ἠῶς ist ja nur im Osten, ἠέλιος vorherrschend im Süden“ (BISCHOFF 16). 170 PARTSCH, Kephallenia 57. Indes meint Joseph PARTSCH (a. a. O.), dass „manche“ Beschreibung Ithakas in den anderen Gesängen der Odyssee „nicht ein Erzeugnis freier Phantasie sein kann“.

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fertigt Partsch die Annahme, der Dichter habe sich bei den Himmelsrichtungen geirrt, jedoch sei das nicht dem mangelnden Orientierungsvermögen des Dichters anzulasten, sondern einzig dem geographischen Raum. Diese, gegen Ende des 19. Jahrhunderts geäußerte Behauptung, die der (etablierten) Theaki-Ithaka-Theorie bislang das Überleben sicherte, ist nun genauer zu untersuchen. Joseph Partsch begründet seine sensationelle Behauptung wie folgt: „Zu allen Zeiten bekundet sich die Neigung, die südliche oder südöstliche Streichungsrichtung der einzelnen [westgriechischen] Inseln als eine rein östliche aufzufassen“.171 Gestützt auf diese Beobachtung, dreht Joseph Partsch die Achse der Himmelsrichtungen um ca. 45°, sodass die westgriechische Küstenlinie samt den vorgelagerten Inseln – anstatt von Nordwest nach Südost – von West nach Ost verläuft. Infolge dieser veränderten Ausrichtung (d. h. Drehung der betreffenden Erdoberfläche) befindet sich im ‚neuen‘ Süden nur noch das offene Ionische Meer. Und weil bei dem Dichter eine „genaue Kenntnis Ithakas nicht vorauszusetzen sein“ wird, habe dieser sich bei der Himmelsrichtungsangabe ‚Süden‘ geirrt, weshalb Partsch sich auch als Geograph berufen fühlt, das Wort ‚Süden‘ zu streichen. Und deshalb übersetzt er die Verse 9,25–26, mit denen Odysseus seine Heimatinsel vorstellt wie folgt: „Niedrig erscheint meine Insel, am weitesten draußen im Meere gegen den West, die andern gesondert mehr gegen Osten“.172 Aufgrund der Drehung der Himmelsrichtungen zeigt das nördliche bzw. nordwestliche Ende der westgriechischen Inseln nun in Richtung ‚Westen‘, und v. a. darauf kommt es Joseph Partsch bei seiner geographischen Deutung der Odysseestelle an, die ihn zur Aussonderung der Himmelsrichtung Süden im Vers 9,26 nötigt. Denn Theaki, das sog. Ithaka, ragt geringfügig weiter nach Norden als die große Nachbarinsel Kephallenia, und so läge infolge der postulierten Ausrichtung nun Theaki „am weitesten westlich im Meere“, wie es die Odyssee für das homerische Ithaka voraussetzt. Aber bei dieser Gedankenspielerei handelt es sich, selbst wenn man die fragwürdige Prämisse der zu ändernden Orientierung um etwa 45° akzeptiert, kaum mehr als einen Bluff: Denn die Nordspitze Theakis, die recht genau nur 3.000 Meter weiter nördlich liegt als die Nordspitze Kephallenias, befindet sich ca. 8,5 km 25° ONO von der Nordspitze Kephallenias entfernt, und folglich müsste die Achse der Himmelsrichtungen um mindestens 70° gedreht werden, damit Theaki eine Nasenspitze weiter ‚westlich‘ läge als Kephallenia.173 Folglich ist es, wie schon Rudolf Hercher monierte, „völlig gleichgültig, ob sich Homer jene Inseln als eine von Osten nach Westen gelagerte Horizontalgruppe oder in der

171 PARTSCH, Kephallenia 56. Vor allem „bei Korfu läßt sich von Strabo und Ptolemäus durch die mittelalterlichen und neuzeitlichen Quellen hindurch bis in die Gegenwart eine falsche Orientierung verfolgen, welche das Nordende [Nordwestende!] als Westende, die Südspitze [Südostspitze!] als Ostende auffaßt“ (a. a. O.). 172 PARTSCH, Kephallenia 57. 173 Das bringt der für Theaki votierende Oskar HENKE (97) in seiner Untersuchung „Die homerische Geographie“ auf den Punkt: „Wenn man darum [„die südöstliche Streichungsrichtung der Inseln als eine westöstliche“ auffasst] das Kartenbild um 90°, aus der Nord-Süd- in die West-Ostlinie verschiebe, so ergebe sich die vom Dichter angenommene Lage von Ithaka von selbst“.

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Richtung einer Linie gedacht hat, die sich [der geographischen Realität entsprechend] von Südost nach Nordwest bewegt“.174 Die Schützenhilfe, die Joseph Partsch der etablierten Theaki-Ithaka-Theorie zukommen ließ, ist also bei genauer Betrachtung für das heutige ‚Ithaka‘ wenig hilfreich. Zudem ging ‚der Schuss nach hinten los‘. Denn das geographische Argument von Partsch nutzte Wilhelm Dörpfeld,175 um die Leukas-Ithaka-Theorie zu stützen. Denn durch die von Partsch vorgeschlagene Drehung der Achse der Himmelsrichtungen blickt Leukas als eindeutig nördlichstes Glied des westgriechischen Inselbogens in Richtung ‚Abendland‘, womit es in dieser Hinsicht der Lage des homerischen Ithaka entspräche. Einzig aus diesem Grund schloss sich Dörpfeld nach eigenem Bekunden lieber „denen an, die πρὸς ἠῶς τ᾽ ἠέλιόν τε mit ‚nach Osten‘ übersetzen“,176 und folglich ist auch er genötigt, die in Vers 9,26 genannte Himmelsrichtung „Süden“ zu opfern, obwohl sie in der realen Geographie trefflich zur Leukas-Ithaka-Theorie passt. Bei der Umdeutung des homerischen zophos („Westen“) im Odysseevers 9,26 als nördliche Richtung, bzw. bei der Behauptung, dass der geographische Norden der homerischen Himmelsrichtung zophos entspricht, berufen sich Joseph Partsch und seine Mitstreiter v. a. „auf die Küstenzeichnung des Ptolemaios im 2. Jahrhundert n. Chr.“, der „die Küste von den Akrokeraunen bis zum korinthischen Isthmus in ungebrochener Linie von Westen nach Osten zeichnet. Dieser Fehler der kartographischen Darstellung geht indessen nicht durch das ganze Altertum hindurch; er kommt im Gegenteil erst in der alexandrinischen Zeit auf und erscheint zuerst auf der Karte des Eratosthenes, während gerade die ältesten griechischen Karten, vor allem die des Hekateios (517 v. Chr.) und jedenfalls auch schon der Pinax des Anaximander (um die die Mitte des 6. Jahrhunderts) die Küste in fast gerader Linie von dem Winkel des adriatischen Meeres bis zum Eingange des korinthischen Golfes in der Richtung NNW auf SSO zeichnen. Gerade in der dem Homerischen Zeitalter am nächsten liegenden Periode hatten also die Hellenen eine durchaus richtige Vorstellung über den allgemeinen Verlauf der Küste“.177

174 HERCHER 264. Dem Zitat zufolge dürfte der Gedanke, die westgriechische Inselflur um ca. 45° zu drehen, damit die Nordwestspitze Theakis deutlicher nach Westen ragt, den Homerinterpreten schon ein Vierteljahrhundert vor den Ausführungen von Joseph PARTSCH (Kephallenia 56 f.) in den Sinn gekommen sein. 175 Vgl. DÖRPFELD, Alt-Ithaka 87–80. u. ders. Odyssee 208. Die Leukas-Ithaka-Theorie basiert von Anfang an auf der Erkenntnis von Joseph PARTSCH, derzufolge angeblich „den Alten die Richtung der Küste und Lage der Inseln ost-westlich erschien“, wie Hans DRAHEIM (S. III) schon 1902 aufgrund erster Vorträge von Wilhelm DÖRPFELD schreibt. 176 DÖRPFELD, Alt-Ithaka 80. Und er fügt generös hinzu: „Wer die von anderen empfohlene Übersetzung dieser Worte mit ‚nach Osten und nach Süden‘ vorzieht, mag das tun“ (a. a. O.). Zumal bei der LeukasIthaka-Theorie ja nur die kleinen Taphischen Inseln im Osten liegen, und somit die Südrichtung, in der von Leukas aus die großen Inseln liegen, die wichtigere ist. 177 KIESSLING 343. – Auch Emil BELZNER (68 ff.) verweist mit Literaturangaben auf frühe Karten; diese sind „deswegen besonders bedeutungsvoll, weil sie mit völliger Klarheit zeigen, wie wenig begründet die Behauptung ist, für das Altertum (und Mittelalter) sei ein (durchgehender) Orientierungsfehler von 45° (Verdrehung gegen den Sinn der Uhrzeigers) anzunehmen. Diese Behauptung ist gefolgert aus Strabos Beschreibung der Fahrt von Kerkyra zum Golf von Korinth (VII, 324), wo die hierbei einzuschlagende Richtung als west-östlich bezeichnet wird“.

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Abgesehen von der zitierten Klarstellung durch Max Kiessling sei erwähnt, dass auch die von Joseph Partsch angeführten Belege für den kephallenischen Inselraum nicht derart schlagend sind,178 um damit eine derart „falsche Orientierung“ bei der Beurteilung des Verlaufs der nordwestgriechischen Küste und der vorgelagerten Insel zu begründen. Ohnehin wird man „nicht von vornherein davon ausgehen können, daß eine uns erst für die spätere griechische Geschichte bezeugte Anschauung eines westöstlichen Küstenverlaufs Westgriechenlands auch die in den homerischen Epen vertretene ist“.179 Außerdem gilt es zu bedenken, dass diejenigen Menschen des Altertums, die den überschaubaren Inselbogen kannten, gar nicht an dem Orientierungsverlust litten, den die irrigen Interpretationen von Odyssee 9,21 ff. unterstellen. Denn die Bewohner Kephallenias sahen die Sonne stets im Westen über dem offenen Ionischen Meer untergehen180 und nicht im Norden bzw. Nordosten über der nahegelegenen Festlandshalbinsel Leukas.181 Die Befürworter der Theaki-Ithaka-Theorie und Leukas-Ithaka-Theorie verschließen jedoch davor die Augen, und bei Analytikern stoßen geographische Argumente ohnehin auf taube Ohren, denn für sie ist der Dichter, der die Odysseeverse 9,19 ff. schuf, entweder ein ortsunkundiger „echter Binnenländer, der an keinem der beiden Meere [Ägäis u. Ionisches Meer] genau Bescheid wusste“,182 oder ein „nur mit Kleinasiens Ufern vertrauter Dichter“.183 Immerhin nehmen Joseph Partsch und manche anderen Befürworter der etablierten Theaki-Ithaka-Theorie an, „dass der Dichter dieser Verse die Insel nur nach dem Eindrucke einer Fernsicht beurteilte“ und bei ihm daher „eine 178 „Der Siegesbericht eines venezianischen Admirals unterscheidet die Nord- und Südseite des Lagunengebietes von S. Maura [ital. Name für Leukas] als banda di ponente und banda di levante“… Desgleichen kommen bei Kephallenia in den Berichten der Proveditori [venez. Statthalter] Vertauschungen der Himmelsrichtungen im selben Sinne vor“ (PARTSCH, Kephallenia 56). Der einzige Beleg, den PARTSCH (Kephallenia 56, Anm. 3 bietet) dazu bietet, lautet: „Der Hafen von Samos, val d’Alessandria, nella costa boreale coperta dalla isoletta Teachi“. Und der Haupttext bei PARTSCH (Kephallenia 56) fährt fort: „Bondelmonte verlegt das Kloster Sisia der Südküste [im Südosten Kephallenias] an den Ostrand [Ad orientem vero in litore Francisci ecclesiam adoramus], die Nordspitze mit Porto Phiskardo an das Westende dieser Insel [Ad occidum ergo Viscardus portus]“. 179 SIEBERER 154, Anm. 14. – So führt Emil BELZNER (13) gegen die postulierte West-Ost-Achse zwei antike Beispiele an: „Man vergleiche auch Livius XXXIII, 17: ‚An dieser Enge lag [die Stadt] Leukas, angeschmiegt an einen Hügel, der gegen Sonnenaufgang und Akarnanien seinen Abhange kehrte‘. Und kurz vorher: ‚Ganz Akarnanien, zwischen Aetolien und Epirus gelegen, blickt nach Sonnenuntergang und dem sizilianischen Meer‘“. 180 So schreibt Otto SEECK (267): Wer Theaki-Ithaka „kannte, musste auch wissen, das man die Sonne nicht im freien Meere, sondern hinter Kephallenia versinken sah“. Und den Bewohnern von Leukas konnte die westliche Lage Kephallenias auch nicht entgehen, auch wenn „in der [geographischen] Breite, welche hier in Betracht kommt, die Punkte des Horizontes, an welchem die Griechen in den verschiedenen Zeiten des Jahres die Sonne auf- und untergehen sahen, mehr als 60° auseinander liegen“ (MICHAEL 6). 181 Und wenn der Kephallenenkönig Odysseus, der in den zitierten Worten zu Beginn des 9. Gesangs sein Inselreich ‚selbst‘ vorstellt, tatsächlich auf Leukas heimisch gewesen wäre, wie v. a. Wilhelm DÖRPFELD behauptete, dann hätte jener beim bloßen Blick von der westlichsten Spitze von Leukas (dem berühmten leukadischen Felsen) sich davon überzeugen können, dass Kephallenia deutlich weiter westlich liegt als Leukas. Das ist auch DÖRPFELD (Alt-Ithaka 86) bewusst: „Am meisten nach Westen liegt heute unbedingt die Insel Kephallenia“. 182 SEECK 299. 183 PARTSCH, Kephallenia 54. Ähnlich u. a. WILAMOWITZ, Ithaka-Hypothese 383.

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genaue Kenntnis Ithakas nicht vorauszusetzen sein“ wird.184 So erscheint es tröstlich, dass der angeblich blinde Homer zumindest von Ferne auf den westgriechischen Inselbogen geblickt hat. Der Eindruck, dass der Odysseedichter – bzw. laut Samuel Butler die Dichterin!185 – wohl blind war, drängt sich auch bei Butlers Ithaka-Studie auf, die er gegen Ende des 19. Jahrhunderts verfasste. Infolge der Probleme, mit denen die beiden bekannten Ithaka-Theorien im westgriechischen Inselraum kämpfen, findet Butler das homerische Ithaka unter den Ägadischen Inseln, die der Westspitze Siziliens vorgelagert sind. Das westlichste Eiland der kleinen Inselgruppe, Marettimo (nur 12 qkm groß), weist Butler als das die Heimatinsel des Odysseus aus.186 Da aber südlich von Marettimo sich keine Inseln befinden, sondern ausschließlich östlich, harmoniert die von Odysseus genannte Himmelsrichtung ‚Süden‘ nicht mit der Butlerschen Theorie und wird deshalb ausgeblendet und nicht übersetzt: „It [Ithaca] lies on the horizon all highest up in the sea towards the West, while the other islands lie away from it to the East”.187 In Anbetracht der bisherigen Ithaka-Theorien erscheint es verständlich, dass in der Homerphilologie seit langem die Frage als abwegig gilt, ob die Odysseeverse 9,21 ff. vielleicht doch konkrete und differenzierte Informationen über den westgriechischen Inselraum transportieren. So meint u. a. Dietrich Mülder feststellen zu müssen: „Aber Odysseus erzählt doch den Phaiaken gar nichts Wesentliches über Ithaka (nur: „es ist wohl rauh, doch nährt es treffliche Jugend“; Vers 9,27), sondern es folgt sogleich die Irrfahrterzählung“.188 Ohnehin seien die Himmelsrichtungsangaben „nach Osten und Süden“ im Odysseevers 9,26 angeblich bloß durch die Iliasstelle 12,237 ff. evoziert: „Die hier in M [Ilias, 12. Gesang] vorliegenden Vorstellungen und Ausdrücke für Himmelsrichtungen sind nicht die des Geographen, sondern die des Vogelflugdeuters; sie sind nicht relativ, sondern absolut. Der Vogelschauer richtet (nach dieser [Ilias-] Stelle) sein Angesicht nach Norden, da liegt rechts der leuchtende Osten, das Land des Heils, links der dunkle Westen, das Land des Vergänglichen“. Deshalb würde der Odysseevers 9,26 mit „pros zophos“ beginnen, und diese Angabe „erheischt eine weitere Angabe der Ört184 PARTSCH, Kephallenia und Ithaka 57. Laut PARTSCH sah der Dichter die Inseln von der Küste von Elis aus (a. a. O.). – „Ueber Ithaka selbst ist der Dichter verhältnismässig schlecht unterrichtet, und nichts weist darauf hin, dass er jemals den Boden der Insel betreten habe“ (SEECK 281). 185 Samuel BUTLERs (14) Ithaka-Theorie gipfelt in der “female authorship of the Odyssey, the fact of its being written at Trapani on the west coast of Sicily”; so sieht er (208) nicht „any serious reason why Nausicaa should not have written the Odyssey”. 186 „The lofty and rugged island of Marettimo [„some 22 miles off Trapani“ an der Westspitze Siziliens; BUTLER 172] did duty in the writer’s mind for Ithaca”. „The long island, now Isola Grande – low lying and wheat growing – was her [der “Authoress” der Odyssee] Dulichium”. „The other two islands [Favignana und Levanzo] stood for Same and Zacynthus, but which was which I have not been able to determine” (BUTLER 177). Alle Ägadischen Inseln zusammen weisen nur 38 qkm Fläche auf (zum Vergleich: selbst das kleine heutige Ithaka umfasst, wie die Nordseeinsel Sylt, knapp 100 qkm Fläche). 187 BUTLER 41; ebenso 175. 188 MÜLDER, Ithaka 27. „Im Vorspann sagte Odysseus nur das nötigste über seine Heimat: es ist eine Insel namens Ithaka, sie ist weithin sichtbar, dort ragt als Wahrzeichen der waldbedeckte Berg Neriton empor, und östlich und südlich von Ithaka liegen weitere zu seinem Herrschaftsbereich gehörende Inseln“ (a. a. O.).

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lichkeiten, die im Osten liegen – das sind die Inseln, von denen Odysseus kommt [?!], wovon er den Phaiaken jetzt erzählen wird“.189 Wie die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen, wurde die ‚Höhere Kritik‘ dem Sachverhalt nicht gerecht,190 derzufolge das homerischen Ithaka bloß eine jeglichem geographischen Bezug enthobene literarische Insel sei, die sich einer euhemeristischen Deutung entzieht. Eine Homerexegese, die den geographischen Bezug topographischer Angaben derart negiert und somit von der Realität abhebt, schwebt in ähnlichen Sphären wie manche Äußerungen des von Analytikern gescholtenen Archäologen Wilhelm Dörpfeld, der „etwa auftauchenden Bedenken“ gegen seine Interpretation des Odysseeverses 9,26 apodiktisch „zerstreuen“ ließ, weil „die homerischen Angaben über die Himmelsrichtungen bei Ithaka nicht auf der heutigen Karte nachgeprüft werden dürfen“.191 So ist es inzwischen einerlei, ob falsche Folgerungen durch exzentrische Feldforscher oder von skurrilen Exegeten gezeitigt werden. Wie dieser philologisch und historisch-geographische Überblick demonstriert, führte die Unvereinbarkeit der Aussagen über das homerische Ithaka mit der heutigen Insel Ithaka (Theaki)192 – sowie den dadurch evozierten anderen Ithaka-Theorien – nunmehr seit zwei Jahrhunderten zur Verwirrung bei der Interpretation der Odysseeverse über die Heimatinsel des Odysseus. Und dies fand seinen Niederschlag in einer Fülle unterschiedlicher Übersetzungen der Worte, mit denen der Dichter in den Versen 9,21–26 Odysseus die geographische Lage seiner Inselheimat beschreiben lässt. Aber trotz der diversen und teils widersprüchlichen Interpretationen liefert die ‚Höhere Kritik‘ bislang keinen überzeugenden Beweis, dass die untersuchten Verse nicht geographisch zu deuten sind; zu hören ist lediglich das autoritative Dekret, dies zu unterlassen.193 Die Ergebnisse der hier vorgelegten historisch-geographischen Untersuchung legitimieren hinreichend, den Odysseetext über Ithaka unbefangen zu lesen, wonach sich die Heimatinsel des Odysseus innerhalb des westgriechischen Inselbogens „am weitesten westlich im Meer“ befindet (… πανυπερτάτη εἰν ἁλὶ κεῖται πρὸς ζόφον), während die anderen Inseln „abseits im Osten und Süden liegen“ (αἱ δε τ᾽ ἄνευθε πρὸς ηω τ᾽ ἠέλιόν τε).194 Und so ist abschließend festzuhalten, dass die vieldiskutierten Verse zu Beginn des 9. Gesangs – wenn man keine Worte unterschlägt oder fahrlässig interpretiert, und 189 MÜLDER; Ithaka 27 (mit Bezug auf Ilias 12,237 ff.). „Die Beschaffenheit der bezeichneten Gegenden [in Ilias M 237 ff.] wird das erste Mal durch Verdoppelung ἠῶ τ᾽ ἠέλιὸν τε, das zweite Mal durch das Beiwort ἠερόεντα bezeichnet, der hier [Ilias M] ausgedrückte Gegensatz fordert seine Wiedergabe auch [in der Odyssee-Stelle] ι 25/26; liegt Ἰθάκη πρὸς ζόφον – was viel mehr heisst als ‚westlich‘ von uns –, so erheischt das eine weitere Angabe der Örtlichkeiten, die im Osten liegen“ (a. a. O.). Vgl. VÖLCKER 45 f. 190 Schon Albert BISCHOFF (17) war empört: „Eine gekünstelte Deutung!“ Und er fragt: „So sehr man das Gewicht dieser Argumentation anerkennen muss, ist denn die Sache wirklich so? Steht die Sonne in dieser Richtung? Ist dies denn nicht nur den kleineren Teil des Tages der Fall?“. 191 DÖRPFELD, Alt-Ithaka 80 f. 192 Die in den Odysseeversen 9,21 ff. genannten „conditions do not apply to Thiaki, nor to the Ithaca of history” (ALLEN 94). 193 So verurteilte u. a. Dietrich MÜLDER (Ithaka 23) den Versuch, das homerische Ithaka historisch-geographisch zu deuten, denn die Angaben des Dichters, „mögen sie auch noch so geographisch aussehen und mögen sie zünftige Geographen auch noch so reizen, [erfüllen] dichterischen Zweck“. 194 Od. 9,25 f.

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unabhängig davon, für welche der seriösen Deutungsvarianten von chthamalos und panypertatos man sich entscheidet – stets die Insel Kephallenia als das homerische Ithaka ausweisen, weil sie erstens die weitaus höchste der westgriechischen Inseln ist, zweitens von allen am tiefsten im offenen Ionischen Meer liegt, drittens im westgriechischen Inselbogen eindeutig die westlichste ist, und viertens die übrigen von Odysseus beherrschten Inseln sich östlich und südlich von ihr befinden. Hinzu kommt, dass Kephallenia auch der bereits erwähnten panypertatê-Deutung des Scholiasten entspricht, nämlich unter den Inseln in der Heimat des Odysseus „die Würdigste“ zu sein. So ist Kephallenia innerhalb des westgriechischen Inselbogens nicht nur die weitaus größte und landschaftlich großartigste, sondern sie war von spätmykenischer bis zur homerischen Zeit auch die bedeutendste, da sie als „westlicher Eckpfeiler Griechenlands“ den Seeverkehr über das Ionische Meer in die damals ‚Neue Welt‘ im fernen Westen vermittelte,195 wie in der vorliegenden Studie dargelegt wurde. Und deshalb rühmt die Göttin Athene: Ithaka „kennen recht viele, ja alle, mögen sie wohnen, wo Morgen es wird und sonniger Mittag, oder auch dort, wo sie hinter uns hausen im dunstigen Dunkel“.196 Dagegen stellte schon Rudolf Hercher über das heutige Ithaka (Theaki) fest: „Von je her ist Ithaka in Folge seiner Bedeutungslosigkeit für die große Handelsstraße des Mittelmeeres von fremden Schiffen gemieden worden“,197 und auf ihr lag zu keiner Zeit das politische Zentrum des Inselvolks der Kephallenen. Aufgrund der vorgelegten Analyse können die Verse 9,21–26 (mit Athetese des eindeutig interpolierten Fomelverses 24) wie folgt übersetzt werden, ohne dass sie Widersprüche oder sonstige Unstimmigkeiten aufweisen: Ich bewohne das weithin sichtbare Ithaka; gar herrlich ragt dort empor und rüttelt den Bergwald Neritons Gipfel. Beidseits [von Ithaka] liegen noch viele bewohnte Inseln und nah beieinander. Es selbst [Ithaka] wurzelt tief am [Meeres-]Boden und liegt am höchsten [weitesten] im Meer nach Westen, abseits liegen die anderen nach Osten und Süden.198

Und diese Beschreibung passt, wie im ersten Teil des vorliegenden Buches dargelegt, vortrefflich auf Kephallenia,199 also auf die Hauptinsel des Volkes der Kephallenen, deren König im homerischen Epos der listenreiche Odysseus ist. Nicht unerwähnt sei, dass die beiden Hauptstellen zur geographischen Lage Ithakas, nämlich die Ausführungen im Schiffskatalog der Ilias (2,631–635) und zu Beginn des neunten Gesangs der Odyssee (9,21–26), keineswegs „unvereinbar“ miteinander sind, wie die meisten Analytiker und

195 Das Zitat stammt von Joseph PARTSCH, Kephallenia 23. Bzgl. des frühgriechischen Seeverkehrs von Kephallenia in Richtung Sizilien s. a. a. O. 40. Vgl.a. WARNECKE, Lebensnerv 271 ff. 196 Od. 13,239 ff. 197 HERCHER 269. 198 Od. 21–26 (ohne den interpolierten Vers 24). Weshalb der Bergwald „gerüttelt“ wird und nicht nur seine Blätter „geschüttelt“ werden, wurde im Kapitel (1.2.1) geklärt. 199 Dagegen behauptete u. a. Joseph PARTSCH (Kephallenia 56): „Die größte Schwierigkeit hat der geographischen Erklärung immer die merkwürdige Stelle bereitet, an welcher Odysseus den Phaeaken seine Herkunft mitteilt und die Lage seiner Heimatinsel schildert (Od. 9,21 ff.)“, denn „diese Schilderung steht in so vollem Widerspruch mit der wirklichen Verteilung der Inseln“ vor der Westküste Griechenlands.

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Homerforscher behaupten,200 und auch innerhalb der genannten Stellen der Ilias und Odyssee sind bei angemessener Interpretation keine Widersprüche festzustellen, wie die Darlegung zeigte! Der ‚deutsche‘ Krieg um Ithaka, der v. a. ein bedauerliches Zeugnis der „kleinlichen Kritik“ der in Mitteleuropa betriebenen Historisch-Kritischen Exegese ist, „hat dem Ansehen der deutschen Philologie im Auslande, das sich an diesen Untersuchungen fast gar nicht beteiligt hat, nicht wenig geschadet“, wie der negativ besetzte Begriff „critique allemande“ indiziert. „Auf das Fehlerhafte und Irreführende dieser Methode“ wies schon vor einem Jahrhundert der Altphilologe Carl Rothe hin: „Mehr noch forderte zum Widerspruch heraus das gewaltsame, willkürliche Verfahren dieser [Homer-] Kritik. Statt objektiv den Tatbestand, das Vorkommen älterer und jüngerer sprachlicher Formen festzustellen, verfuhr diese Kritik so, als ob schon erwiesen wäre, daß ältere und jüngere Gesänge in der Ilias und Odyssee vereinigt seien, und änderte nun gewaltsam den Text oder verwarf an sich untadelige Versreihen, wenn diese ihrem Prinzip widerstrebten. Wenn aber in jüngeren Teilen des Gedichtes ältere Vorstellungen sich fanden, so griff sie zu dem Auskunftsmittel: der Dichter ‚archaisiere‘. Dabei stimmten die Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungen durchaus nicht überein“.201 Daher ist noch in der Gegenwart die sowohl von Paul Cauer als auch von Carl Rothe vor über einhundert Jahren gestellte Frage aktuell: „Soll die Homerkritik abdanken?“202 – Meines Erachtens kann eine vernünftige Homerkritik künftig nur im interdisziplinären Dialog betrieben werden, der sich nicht darauf fokussiert, die Epen Ilias und Odyssee zu zerpflücken, sondern bestrebt ist, deren historisch-geographische Botschaften zu extrahieren. Diesem Anliegen dient die vorgelegte Studie, wie der Untertitel besagt: „Die historisch-geographische Wiedergeburt der Odyssee“. Die schriftliche Überlieferung vom Beginn der abendländischen Geschichte ist zu kostbar, um nur über ihre literarischen Qualitäten zu spekulieren. Zwar mag „die Ithakafrage zuallererst eine literarische sein“,203 aber eine angemessene Antwort konnte nur durch die interdisziplinäre Althistorische Geographie erfolgen, wie die vorliegende Studie demonstrierte.

200 „Diese beiden ausführlichen, [angeblich] ‚unvereinbaren‘ Stellen sind ι 19 ff. und Β 631 ff.“ (MÜLDER, Ithaka 2). Das Ithaka-Problem ist geographisch zu lösen, auch ungeachtet der Frage, ob „der Schiffskatalog von den übrigen Büchern der Ilias zu trennen ist“ (NIESE, Schiffskatalog 10). 201 ROTHE 229 f. Carl ROTHE (230) wies auch auch „auf das Fehlerhafte und Irreführende dieser Methode hin“. 202 CAUER, Homerkritik 98. ROTHE 229. 203 MÜLDER, Ithaka 6.

Nachwort Meine Kindheit und Jugend erlebte ich in der niedersächsischen Kleinstadt Hannoversch Münden, die am Zusammenfluss von Werra und Fulda zur Weser liegt und eine beachtliche mittelalterliche und frühneuzeitliche Historie hat.1 So hörte ich seit dem Kindesalter diverse Geschichten, auch solche, die sich der groben Klassifizierung von Fiktivem und Faktischem entziehen: Seien es die Spottlieder über den legendären Arzt Dr. Eisenbarth, der im Jahr 1727 in meiner Heimatstadt starb, oder die phantastischen Erzählungen des weitgereisten Freiherrn von Münchhausen, der im 18. Jh. ein Stück flussabwärts in Bodenwerder lebte. Auch sei erwähnt, dass meine Heimat zwischen Göttingen und Kassel liegt, also im Brennpunkt der Wirkungsstätten der Brüder Grimm, die in der ersten Hälfte des 19. Jhs. die deutschen Kinder- und Hausmärchen sammelten und somit der Nachwelt überlieferten. Zeitlebens faszinierte mich ‚die Geschichte hinter der Geschichte’, bzw. das historisch-geographische Substrat der Geschichten, auch das der lokalen Sagen, der Grimmschen Märchen oder der Reiseberichte des ‚Lügenbarons’. Denn schon früh spürte ich, dass selbst „die Lüge, um sich zu beglaubigen, das reale Detail verlangt“.2 Hinzu kam eine kindliche Entdeckerfreude, angespornt von der Tat des Georg Friedrich Grotefend, der als Sohn eines Schusters knapp zwei Jahrhunderte vor meiner Zeit in Hannoversch Münden geboren und aufgewachsen ist. Grotefend war als junger Mann mit dem Sekretär der Göttinger Universitätsbibliothek die verwegene Wette eingegangen, er könne – voraussetzungslos – die damals bekanntgewordenen Keilschrifttexte aus Persepolis entziffern. Tatsächlich waren ihm nach kurzer Zeit grundlegende Erfolge bei der Entzifferung gelungen, und so gilt dieser „Geniestreich“ als „eine der erstaunlichsten Leistungen des menschlichen Geistes“.3 Als Quartaner des städtischen Grotefend-Gymnasiums hörte ich erstmals etwas über die fast dreitausend Jahre alten Homerischen Epen, von den unüberwindlichen Schwierigkeiten bei der Deutung der Odyssee und über die angeblich nicht zu beantwortende Frage nach deren Dichter. Infolge des lokalen Anregungsmilieus hatte ich damals forsch behauptet, ich könne, wenn ich wollte, die ehrwürdige Odyssee enträtseln, 1 2 3

Bereits 1247 Stapelrecht; 1488–1585 Residenz der Welfenherzöge; 1626 von Tilly erobert.

HÖLSCHER, Odyssee 211. – Zum Verhältnis von Fikta und Fakta s. WHITE 145 ff. CERAM 205.

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Nachwort

was beim Lehrer bloß verständnisloses Kopfschütteln hervorrief. Aber damals wollte ich ja noch nicht, weil ich wusste, dass ich nicht reif war, um eine solche Aufgabe zu bewältigen, und in den folgenden drei Jahrzehnten stand mir anderes im Sinn. Indes, vergessen hatte ich mein vorlautes Verhalten und den damit verbundenen Spott der Mitschüler nicht, der mir den Spitznamen Odysseus einbrachte. Als der berühmte Göttinger Altorientalist Prof. Dr. Dr.h.c. Walter Hinz, der als junger Mann die elamischen Strichschriften des südlichen Mesopotamiens aus dem 3. Jahrtausends entzifferte, im Jahr 1991 das Geleitwort für mein Buch über die tatsächliche Romfahrt des Apostels Paulus verfasste,4 ermutigte er mich, meine im jugendlichen Leichtsinn geäußerte Vision ungeniert anzugehen, also die Odyssee zu dechiffrieren und somit einen wegweisenden Beitrag zur Lösung der Homerischen Frage zu leisten. Ob mir dies mit dem vorliegenden Werk gelungen ist, mag der Leser und die Nachwelt entscheiden. Zumindest konnte aufgezeigt werden, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Homerischen Epen – und anderen Überlieferungen des Altertums – künftig als interdisziplinäre Aufgabe begriffen werden muss. Und deshalb bitte ich jeden, der diese Auffassung teilt, meine Forderung zu unterstützen, die transdisziplinäre Althistorische Geographie als eigenständige wissenschaftliche Disziplin in der Hochschullandschaft zu etablieren.5 Mit diesem Appell endete die Erstauflage meines Buches „Homers Wilder Westen“. Da die Notwendigkeit der Renaissance einer solchen Hochschuldisziplin erfreulicherweise inzwischen erkannt wurde,6 wünsche ich mir angesichts der nun vorgelegten überarbeiteten und erweiterten Zweitauflage hilfreiche Informationen sowie v. a. konstruktive Kritik an meiner historisch-geographischen Homer-Interpretation, und erlaube mir, das Nachwort mit folgenden Worten von Dietrich Mülder zu schließen: „Um eine wirkliche Widerlegung müßte ich allerdings bitten, nicht bloß um ein autoritatives Dekretum“.7

4 5 6

7

H. WARNECKE: War Paulus wirklich auf Malta? Neuhausen 1992. Das Geleitwort von Walter HINZ enthält auch die überarbeitete und erweiterte Fassung: H. WARNECKE: Paulus im Sturm. Über den Schiffbruch der Exegese und die Rettung des Apostels auf Kephallenia. Nürnberg 2000. H. WARNECKE: Die (Alt-) Historische Geographie als eigenständige (altertums-) wissenschaftliche Disziplin. In: Orbis Terrarum, Bd. 5. Stuttgart 1999 (225–230). So sei in der vorliegenden Neuauflage des Buches erwähnt, dass am Friedrich-Meineke-Institut der FU Berlin eine Professur für Historische Geographie des antiken Mittelmeerraumes geschaffen wurde. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass es v. a. dem Althistoriker Eckart Olshausen (Universität Stuttgart) zu danken ist, während der vergangenen Jahrzehnte in Mitteleuropa für das Überleben der Althistorischen Geographie gesorgt zu haben. MÜLDER, Skylla 1437. Resonanz erbittet Dr. Heinz Warnecke, In der Mulde 10 b, D 51503 Rösrath. E-Mail: [email protected]

Literaturverzeichnis Das Literaturverzeichnis enthält ausschließlich Titel, aus denen zitiert bzw. auf die in den Fußnoten als Beleg hingewiesen wird. Wenn etliche namhafte Werke zur Homerforschung im Verzeichnis nicht erscheinen, bedeutet das keineswegs, dass sie zu vernachlässigen sind oder der Autor der vorliegenden Studie sie nicht zur Kenntnis genommen hätte. Indes, die Fülle an Homerliteratur ist unüberschaubar. Ein Großteil der berücksichtigten Titel stammt aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, weil damals v. a. in Mitteleuropa die Weichen in der Homerforschung gestellt wurden. Außerdem seien folgende Nachschlagewerke genannt, die sich kaum zur Zitation oder als Beleg eignen, dem Autor aber unentbehrlich waren, nämlich die ‚Homeri Odyssea‘ von H. VAN THIEL (1991), die ‚Concordantia Homerica, Pars I, Odyssea‘ von J. R. TEBBEN (2 Bde., Hildesheim 1994) und die ‚Epitheta Rerum et Locorum apud Homerum‘ von J. H. DEE (2 Bde.; Hildesheim 2002). Wie im Literaturverzeichnis aufgeführt, wurden für die vorliegende Studie verschiedene Altgriechische Lexika genutzt (auch LIDDELL-SCOTT-JONES). Da sich jedoch die Fehlinterpretationen der Homerischen Epen v. a. während des vergangenen Jahrhunderts auch in den Lexika niederschlugen, bevorzugte ich das „Handwörterbuch der Griechischen Sprache“ von W. PAPE aus dem Jahr 1843 (3 Bde. mit ca. 6.500 Spalten), das nur wenig von den Ergebnissen der Ithaka-Diskussion kontaminiert ist, sowie G. E. „BENSELERs Griechisch-Deutsches Schulwörterbuch zu Homer, Herodot“ etc. aus dem Jahr 1911 (über 2.000 Spalten). Die Odyssee-Stellen wurden v. a. aus der Übersetzung von A. WEIHER zitiert (Homer Odyssee, griech. und deutsch, 5. Aufl., Düsseldorf 1977), die Ilias-Stellen v. a. aus der Übersetzung von H. RUPÉ (Homer Ilias, griech. u. deutsch, 8. Aufl., München 1983). ALLEN, Th.: The Homeric Catalog of Ships. Oxford 1921. ALT, K.: Homers Nymphengrotte in der Deutung des Porphyrios. In: Hermes, Bd. 126, Heft 4,

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Verzeichnis der Abbildungen und Skizzen Aus Kostengründen wurde auf eine wünschenswerte Anzahl von Abbildungen und Skizzen verzichtet. Der Fachmann wird ohnehin seinen Geschichtsatlanten und GOOGLE-Earth mehr vertrauen. Die Abbildungen skizzieren v. a. kleinräumigere Territorien, deren Karten nicht ohne weiteres zur Hand sind. – Zahlreiche Farbfotos und Abbildungen vom kephallenischen Inselraum bietet das Buch „Aus der Heimat des Odysseus“ von M. Steinhart und E. Wirbelauer (Mainz 2002). 1. Der westgriechische Insel- und Küstenraum 2. Die Inseln Kephallenia und Theaki 3. Der südliche Teil des kephallenischen Inselrumpfes (Ausschnitt der Karte von J. Partsch 1890) 4. Der Inselrumpf Kephallenias 5. Die kephallenische Halbinsel Paliki (Ausschnitt der Karte von J. Partsch 1890) 6. Die Inselkörper Erissos und Theaki (Ausschnitt der Karte von J. Partsch 1890) 7. Die Halbinseln Leukas und Plagia 8. Der westgriechische Inselraum in den Homerischen Epen 9. Der Norden der Bucht von Navarino (Pylos) 10. Die Westküste des Peloponnes 11. Die Meerenge von Rhion 12. Der Küstenverlauf bei Parga 13. Der geographische Horizont der Odyssee

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Heinz Warnecke holt Homers Odyssee aus der „literarischen Entrückung“ in die historische Wirklichkeit zurück und leitet damit einen Paradigmenwechsel in der Homerphilologie ein. Er löst unter Berücksichtigung aller Angaben der Homerischen Epen die Frage nach der Heimatinsel des Odysseus und weist auf solider philologischer Basis nach, dass die fiktive Irrfahrt des Odysseus durch geographische Räume führt, die in der Form mythisierender Narration nichts an Realität einbüßen. Zudem sind die stoffgeschichtlichen Erkenntnisse wegweisend für die Lösung der Homerischen Frage. Auch können nun die historische Persönlichkeit des Odyssee-Dichters und dessen Heimat verlässlich fixiert werden. Neben einer Fülle neuer Argumente ergänzt Warnecke die zweite Auflage um ein Kapitel zur Geschichte der Ithaka-Frage. „Das vorliegende Buch bringt einen unerhört wichtigen Beitrag zum Verständnis der Odyssee“. T. Krischer, Geleitwort zur ersten Auflage

ISBN 978-3-515-11621-3

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag