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German Pages 318 [320] Year 2003
Historisierte Subjekte — Subjektivierte Historie
W DE G
Historisierte Subjekte Subjektivierte Historie Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte
Herausgegeben von Stefan Deines, Stephan Jaeger und Ansgar Nünning
Walter de Gruyter · Berlin · New York
2003
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-017805-2
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© Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Inhalt STEFAN DEINES, STEPHAN JAEGER, ANSGAR NÜNNING Subjektivierung von Geschichte(n) - Historisierung von Subjekten. Ein Spannungsverhältnis im gegenwärtigen Theoriediskurs
1
I. S u b j e k t u n d G e s c h i c h t e i m ,nachmetaphysischen 1 Zeitalter HEINZ DIETER KITTSTEINER Karl Marx in der Kehre Heideggers
·.
25
THOMAS R. WOLF Leben in Geschichte(n). Zur Hermeneutik des historisch-narrativen Subjekts ...47 STEFAN DEINES Über die Grenzen des Verfügbaren. Zu den Bedingungen und Möglichkeiten kritischer Handlungsfähigkeit
63
HANS-HERBERT KÖGLER Situierte Autonomie. Zur Wiederkehr des Subjekts nach Foucault
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MORITZ BAÊLER Das Subjekt als Abkürzung
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ELIZABETH DEEDS ERMARTH T h e Trouble With History
105
II. T h e o r i e u n d G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g STEPHAN JAEGER Geschichte als Wahrnehmungsprozess. Ihr selbstreflexiver Vollzug in der Geschichtsschreibung
123
MARIAN FÜSSEL Die Rückkehr des .Subjekts* in der Kulturgeschichte. Beobachtungen aus praxeologischer Perspektive
141
VI
Inhalt
HELMUT GALLE
Das Subjekt angesichts des Äußersten. Zeugnisse von Holocaust-Opfern als Dokumente für die Widerständigkeit von Subjektivität
161
DANIEL FULDA
Hat Geschichte ein Geschlecht? Gegenderte Autorschaft im historischen Diskurs
185
III. Inszenierungen von Subjekt und Geschichte in Kunst und Literatur STEPHEN BANN
Oscillations of the I. Academic Painting after the French Revolution (Louis Hersent, Léopold Robert, Paul Delaroche)
205
DOROTHEE KLMMICH
Charlie Chaplin und Siegfried Kracauer. Bemerkungen zum Verhältnis von Geschichte, Kunst und Kino
225
ANSGAR NÜNNING
Die Rückkehr des sinnstiftenden Subjekts. Selbstreflexive Inszenierungen von historisierten Subjekten und subjektivierten Geschichten in britischen und postkolonialen historischen Romanen der Gegenwart 239 SABINE KYORA
Literarische Inszenierungen von Subjekt und Geschichte in den Zeiten der Postmoderne
263
SILICE HORSTKOTTE
Literarische Subjektivität und die Figur des Transgenerationellen in Marcel Beyers Spione und Rachel Seifferts The Dark Room
275
MARCEL BEYER
Das wilde Tier im Kopf des Historikers
295
Zu den Autorinnen und Autoren
303
Index
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STEFAN DEINES, STEPHAN JAEGER, ANSGAR NÜNNING
Subjektivierung von Geschichte(n) Historisierung von Subjekten. Ein Spannungsverhältnis im gegenwärtigen Theoriediskurs
1.1. Subjekt und Geschichte In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schienen die theoretischen Begriffe .Subjekt' und .Geschichte' überholt zu sein. Vor allem in seinen poststrukturalistischen und hermeneutischen Spielarten hatte der linguistic tum den Glauben an ein autonom handelndes und selbstgewisses Subjekt zerstört. Aus geschichtsphilosophischer Sicht schien es unmöglich geworden, ein ganzheitliches Geschichtsmodell denken zu können. Die Möglichkeit des Subjekts, über Geschichte zu verfugen, sie aktiv zu prägen, zu verändern oder zu verstehen, erschienen massiv eingeschränkt, da es seiner Handlungsautonomie und seiner objektiven Erkenntnisfahigkeit aufgrund der eigenen Verstricktheit in die unhintergehbaren Diskurse und Sprachspiele beraubt war. Demgegenüber war .Geschichte' aufgrund ihrer Perspektivität und Narrativität nicht mehr als ganzheitlicher Begriff nutzbar, mit dessen Hilfe Entwicklungsverläufe zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft objektiv und sinnvoll gedeutet werden konnten. Der Zustand der in Frage stehenden theoretischen Konzepte schien mit den Schlagworten vom ,Ende der Geschichte' und vom ,Tod des Subjekts' treffend charakterisiert. Die sowohl emphatische als auch kritische Diskussion um den Begriff der Postmoderne sowie die Konsequenzen der linguistischen, anthropologischen und kulturellen Wenden in den letzten 35 Jahren zeigen jedoch, dass das Subjekt auch in einem gegenüber den vormaligen Ganzheits- oder Absolutheitskonzeptionen der Subjektivität depotenzierten Modus eine zentrale Rolle im Theoriediskurs spielt; genauso wie der Verlauf der (vielen) Geschichten, die sich - jenseits eines überkommenen Modells von ganzheitlicher und teleologischer Geschichte verfolgen lassen. Hierbei handelt es sich offensichtlich nicht um die Wiederkehr der .alten Geschichte' und des .alten Subjekts': Geschichte ist subjektiviert worden; sie ist in viele Einzelgeschichten zerfallen, die über verschiedenste — in ihrer Relevanz nicht mehr von vornherein hierarchisierte — Gegenstände erzählt werden
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Deines, Jaeger & Nünning
können. Zugleich ist Geschichte perspektiviert und pluralisiert worden, das heißt, die Wahrnehmung des Vergangenen und die Erzählung von Geschichte kann aus unterschiedlichen, gleichberechtigten Blickwinkeln geschehen.1 Das Subjekt hingegen ist historisiert und damit eines transzendentalen Status beraubt worden; Subjektivität sowie die Eigenschaften der Handlungs- und Erkenntnisfähigkeit müssen unter Einbeziehung der geschichtlichen, intersubjektiven und diskursiven Verhältnisse rekonstruiert werden. Für die heutigen Theoriebedingungen erscheint eine systematische Bestimmung des Wechselverhältnisses von Subjekt und Geschichte somit als unabdingbar. Der Chiasmus dieses Bandes, Historisierte Subjekte — Subjektivierte Historie, erweist sich als grundlegend. Dabei sind Subjekt(e) und Geschichte(n) als interdependente Instanzen zu denken; keiner der beiden Begriffe ist systematisch überzuordnen. Die irreduziblen Interaktionen und Interdependenzen zwischen Subjekt(en) und Geschichte(n) lassen sich zum einen in der Frage nach dem Status und den Konstituenten von Subjekten und deren Individualität bündeln: Subjekte sind immer (auch) Produkte historischer Konstellationen; zugleich prägen sie diese aktiv oder versuchen, sich den übersubjektiven Prozessen zu entziehen, um so über Geschichte zu verfügen. Der Versuch, geschichtliche Prozesse und Konstellationen rational zu erklären und zu steuern, steht der Unverfügbarkeit dieser Prozesse jenseits der Erfahrbarkeit, der Rationalität und der Einflusssphäre der Subjekte gegenüber. Darüber hinaus stellt sich jedoch die Frage, ob und in welchem Maße Geschichte immer subjektiv geprägt und vermittelt ist, von Subjekten erzählt, bewertet und konstituiert wird und damit doch der Verfügungsgewalt der erzählenden Subjekte unterliegt. Das neu entstandene Theoriefeld ist also gerade dadurch gekennzeichnet, dass Subjekt und Geschichte sich zum einen gegenseitig bestimmen, prägen und konstituieren und aufgrund dieser Konstellation zum anderen nicht mehr unabhängig voneinander gedacht und beschrieben werden können. Dieses Wechselverhältnis ist nur in der Vielfalt von möglichen Geschichts- und Subjektbegriffen zu bestimmen: das Subjekt als abstraktes, grammatisches, biographisches, kollektives, nationales oder handelndes Subjekt, als Autor- oder Künstlersubjekt; die Geschichte als Denkmodus der Moderne, als Kennzeichnung diskursiver Bedingun-
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Dieser Zerfall der einen Geschichte zu Geschichten macht zugleich die Verwendung des Begriffs der .Historie' wieder attraktiver, nicht um dessen alte Bedeutung wiederzubeleben, der vor der in der deutschen Sprache im 18. Jahrhundert stattgefundenen „Kontamination" der Begriffe .Historie' und .Geschichte' gültig war (siehe hierzu Reinhart Koselleck, Christian Meier, Odilo Engels & Horst Günther: Geschichte, Historie. In: Otto Brunner et al. [Hrsg.]: Geschichdiche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2. Stuttgart: Klett 1975, 593-717; insb. den Abschnitt .Antike" von Christian Meier [595-610] sowie die Abschnitte 593-595 und 647-691), sondern weil im Begriff .Historie' nicht das Moment der Ganzheitlichkeit und das Systematische des modernen Geschichtsbegriffs enthalten ist.
Subjektiviening von Geschichte(n) - Historisierung von Subjekten
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gen bzw. unhintergehbarer Geschichtlichkeit, als akademische Disziplin, als spezifische Darstellungsform, als Erzählung, als Modus sinnstiftenden Erzählens des Vergangenen, als Lebensgeschichte oder als Erinnerungsform. Daraus leitet sich das Hauptziel dieses Bandes ab, das darin besteht, das Verhältnis des Subjekts zur, in der und als Geschichte systematisch zu analysieren sowie einzelne philosophische, literatur-, geschichts- und kulturtheoretische Ansätze im Hinblick darauf zu untersuchen, wie Geschichte unter den jeweiligen Prämissen gegenwärtiger Theorie gedacht und dargestellt werden kann, und welches Subjekt bzw. welche Subjekte in geschichtlichen Prozessen auszumachen sind und wie sie theoretisch adäquat zu beschreiben sind. Diese Untersuchung umfasst die epistemischen, ästhetischen, handlungstheoretischen und politischen Aspekte der Wechselverhältnisse von Subjekt(en) und Geschichte(n). Ein derartiges Projekt ist notwendig interdisziplinär ausgerichtet. Die Philosophie mit neueren Theorien von Subjektivität und Geschichtlichkeit im Allgemeinen, die historischen Wissenschaften mit Konzeptionen von historischen Prozessen, Wissenstradierung und historiographischen Praktiken sowie die Literatur- und Kulturwissenschaften mit ihrem Analyseinstrumentarium in Bezug auf die Schreibweisen und Inszenierungsmöglichkeiten von Subjekten und Individuen bzw. Geschichte und Authentizität ergänzen einander. Erst diese interdisziplinäre Anlage des Bandes ermöglicht es, die Verhältnisse zwischen Subjekt(en) und Geschichte(n) in der gebotenen Vielfalt und Differenziertheit auszuloten.
1.2. Historische Grundlagen Historisch betrachtet lässt sich ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine massive Veränderung des Verhältnisses von Subjekt und Geschichte diagnostizieren. Vor dem 18. Jahrhundert wurde für das Subjekt eine Begründung außerhalb der Geschichte angenommen, beispielsweise in philosophischen, metaphysischen, ethischen oder anthropologischen Bezugssystemen. Die Geschichte erfüllte nur eine Mittlerfunktion im Hinblick auf Normen, Werte und Muster dieser externen, überhistorischen Systeme. Das handelnde Subjekt war ebenfalls auf dieses Dritte außerhalb der Geschichte ausgerichtet; die Selbst-Begründung eines Subjekts - wie sie zum Beispiel Descartes paradigmatisch für die neuzeitliche Philosophie vorgenommen hat - war nur außerhalb der Geschichte, durch eine göttliche Instanz, denkbar. Diese Fremdbestimmung von Subjekt und Geschichte wendet sich im 18. Jahrhundert zunehmend zu einer Selbstbestimmung. Einerseits eröffnen der im 18. Jahrhundert geprägte Kollektivsingular .Geschichte'2 und die Entstehung eines autonomen Systems .Geschichte' die Möglichkeit, dass die Geschichte sich selbst vollziehen konnte. Damit wird eine selbstreferentielle Geschichtsphiloso2
Koselleck: Geschichte, Historie (Anm. 1), 647-691.
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phie denkbar, die sich selbst das Subjekt ist. Zugleich gewinnt das menschliche Subjekt innerhalb der Geschichte zunehmenden Einfluss: Der Mensch macht die Geschichte. Für diese neuen Handlungsmöglichkeiten des Subjekts sind die anthropologische Wende des 18. Jahrhunderts - kulminierend in der Konzeption vom .ganzen Menschen' 3 - sowie die Entfaltung von Konzepten wie Individualität, einem hermeneutisch-perspektivischen Beobachter sowie des Genies ein deutlicher Beleg. Entscheidend ist, dass Geschichte damit eine „Eigenmacht" als Subjekt gewonnen hat, zugleich aber auch „machbar" geworden ist: Die Übermacht der Geschichte, der paradoxerweise ihre Machbarkeit entspricht, bietet zwei Aspekte desselben Phänomens. Weil sich die Zukunft der modernen Geschichte ins Unbekannte öffnet, wird sie planbar, - und muß geplant werden. U n d mit jedem neuen Plan wird eine neue Unerfahrbarkeit eingeführt. Die Eigenmacht der .Geschichte' wächst mit ihrer Machbarkeit. Das eine gründet im anderen und umgekehrt. Beiden gemeinsam ist die Zersetzung des überkommenen Erfahrungszeitraumes, der bislang von der Vergangenheit her determiniert schien, jetzt aber durchschlagen wurde. 4
Der deutsche Idealismus ist bestrebt, die Spannung dieses Wechselverhältnisses der Konzepte einer ganzheitlichen, eigengesetzlichen und selbstbewegten Geschichte und eines souveränen Subjekts, das sich einer machbaren Geschichte gegenüber sieht, philosophisch zu vereinen. Durch Konzepte wie die Hegeische ,List der Vernunft' werden die einzelnen Handlungen des Subjekts mit dem übergeordneten Prozess und Telos der historischen Entwicklung zusammengeschlossen. Die nie gänzlich gelöste Spannung zwischen Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit5 bricht jedoch im zunehmenden Niedergang der idealistischen und der sie beerbenden materialistischen Geschichtsphilosophie wieder auf. Zeitgleich kommt es zur historiographisch-konstruktivistischen Spielart dieser neuen .Verfügbarkeit von Geschichte'. Geschichte entsteht danach erst in der Praxis des Erzählens, entzieht sich damit aber zugleich ihrer ganzheitlichen Erklärung, wie an den Schwierigkeiten des Historismus der modernen Geschichtswissenschaft zwischen ihrem Anspruch auf kritische Objektivität (Verfügbarkeit) und der zunehmenden Unmöglichkeit einer Erfassung historischer Zusammenhänge
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Siehe hierzu insbesondere Hans-Jürgen Schings (Hrsg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, DFG-Symposion 1992 (= Germanistische-Symposien-Berichtsbände. 15). Stuttgart: Metzler 1994. Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte [1967]. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, 38-66, 61; siehe zudem Kosellecks Analyse der Verfugbzw. Machbarkeit von Geschichte und das Aufzeigen der Grenzen dieser Machbarkeit in seinem Aufsatz Über die Verfügbarkeit von Geschichte (Ebd., 260-277). Vgl. Koselleck: Über die Verfügbarkeit (Anm. 4): Insbesondere auf personale Subjekte bezogene Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte steht in einem steten Wechselverhältnis (siehe insbesondere Kosellecks Beispiele .großer' historischer Männer und ihrer Handlungen; ebd., 272276).
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Subjektivierung von Geschichte(n) - Historisierung von Subjekten
in den A u s w u c h e r u n g e n des Historismus (Unverfügbarkeit) deutlich zu e r k e n n e n ist. 6 D i e theoretische Landschaft seit d e m Beginn des 2 0 . J a h r h u n d e r t s schließlich ist gekennzeichnet d u r c h ein insgesamt prekär gewordenes V e r h ä l t n i s zur Subjektu n d Geschichtsphilosophie.
D i e „Schwierigkeiten m i t der
Geschichtsphiloso-
phie" 7 ergaben sich zwangsläufig aus den vermessen g r o ß e n Erzählungen der aufklärerischen Fortschrittstheorien,
der historisch-dynamisierten
Systeme
des
deutschen Idealismus u n d der emanzipatorischen Klassentheorie des historischen Materialismus. S o zeigen sich verschiedene T e n d e n z e n , die teleologische V e r n u n f t , w e l c h e die Geschichte seit d e m 1 8 . J a h r h u n d e r t b e s t i m m t hatte, aus den Geschichtskonzeptionen zu vertreiben. D a m i t einher geht eine d u r c h Nietzsche eingeleitete u n d über Freud u n d Heidegger verlaufende Linie einer z u n e h m e n d e n D e p o t e n z i e r u n g u n d Kontextualisierung des Subjekts, das d a m i t den Status einer sinnstiftenden u n d Objektivität garantierenden Instanz verlor. 8 Diese T e n d e n z e n , die sich zahlreich u n d vielfältig herausbildeten, haben v o n der Diskursanalyse (Foucault, Barthes) über die H e r m e n e u t i k ( G a d a m e r ) , v o n narrativen M o d e l l e n ( W h i t e , D a n t o ) über die D e k o n s t r u k t i o n (Derrida) bis hin zu p o s t m o d e r n e n K o n z e p t i o n e n einer Posthistoire (Sloterdijk) den V e r s u c h gemeinsam, Geschichtlichkeit u n d Subjektivität unter nichtmetaphysischen Voraussetzungen zu denken. 9 Für die in diesen S a m m e l b a n d verhandelte Problemkonstellation sind insbe-
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Zur Entwicklung von Geschichtsdenken und Geschichtsdarstellung im 19. Jahrhundert siehe Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860 (= European Cultures. 7). Berlin/New York: de Gruyter 1996; Dorothee Kimmich: Wirklichkeit als Konstruktion. Studien zu Geschichte und Geschichtlichkeit bei Heine, Büchner, Immermann, Stendhal, Keller und Flaubert. München: Fink 2002, sowie die Beitrage im Abschnitt „Historismus" in Daniel Fulda & Silvia Verena Tschopp (Hrsg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin/New York: de Gruyter 2002, 323-438.
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Vgl. z.B. Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 9. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997; und Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. Vgl. hierzu z.B.: Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988; Herta Nagl-Docekal & Helmuth Vetter (Hrsg.): Tod des Subjekts? Wien/München: Oldenbourg 1987, sowie Manfred Frank et al. (Hrsg.): Die Frage nach dem Subjekt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den Künsten; siehe hierzu z.B. Gudrun M. Grabher: Formen des lyrischen Ich im Modernismus. Subjekt-Kult und SubjektAbsage durch die Sprachskepsis. In: Reto Luzius Fetz et al. (Hrsg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Bd. 2. Berlin/New York: de Gruyter 1998, 1096-1110. Siehe u.a. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981 [1973]; Roland Barthes: Die Historie und ihr Diskurs [1967]. In: Alternative 11 (1968), 171-180; HansGeorg Gadamer: Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr 1960; Hayden White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen: Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart: Klett-Cotta 1986 [1978]; ders.: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt a.M.: Fischer 1990 [1987]; Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974 [1965];
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sondere die wirkmächtigen Entwicklungslinien der hermeneutischen und der poststrukturalistischen Theoriebildung fundamentale Bezugsgrößen.
1.3. Hermeneutik und Discursive Condirìon Spätestens seit Diltheys Programm einer .Kritik der historischen Vernunft' etabliert das hermeneutische Denken Modelle des Subjekts, die dieses als kontextualisiert (und nicht mehr substantialistisch), als historisch verortet (und nicht mehr transzendental) und als in verschiedenen Auslegungen begriffen (und nicht mehr selbstdurchsichtig) profilieren. In Heideggers fundamentalontologischen Analysen in Sein und Zeit wird das Subjekt als strukturell geschichtliches gedacht; als .Dasein' hat es den ontologischen Status des .geworfenen Entwurfs' und ist damit bis in seine Konstitutionsbedingungen hinein zeitlich verfasst.10 Diese Konzeption begreift das Subjekt als einen Prozess, der in seiner Unabgeschlossenheit und Vorläufigkeit gegen transzendentale und bewusstseinsphilosophische Konzeptionen ins Feld geführt wird. Die objektive Geschichte als Welt-Geschichte erscheint lediglich als Eigenschaft des .man', das heißt im Modus der Uneigentlichkeit. In Heideggers Spätphilosophie wird Geschichte demgegenüber als Bewegung des Seins gedacht, die dem - auch gegenüber Sein und Zeit noch einmal depotenzierten - Subjekt bestimmend gegenübersteht. Geschichte wird damit gänzlich unverfügbar und die Heideggersche Geschichtsphilosophie nähert sich einer Geschichtstheologie zunehmend an, indem Geschichte nicht mehr als plan- und rekonstruierbarer Prozess, sondern als das Hereinbrechen eines .Ereignisses' beschrieben wird.11 Gadamer knüpft an diese subjektkritische Konstellation an und lenkt den Fokus dabei verstärkt auf die Elemente der Tradition und der Sprache als deren Vehikel. Seine Philosophie positioniert sich explizit „jenseits der Subjektivität"12 und untersucht die Frage, was mit Subjekten, über die Praktiken ihres intentionalen Handelns und Wollens hinaus, aufgrund ihrer Verstricktheit in die historischen Deutungsmuster und Sprachspiele, geschieht. Das Subjekt wird so zum bloßen Moment im übersubjektiven Spiel des überlieferungsgeschichtlichen Prozesses der Weitergabe, Applikation und Modifikation von Verständnissen. Die Bewegung der Geschichte wird damit zum eigentlichen Subjekt, im Gegensatz zu idealistischen Modellen ist ihr jedoch die teleologische Ausrichtung und die grundsätzliche Sinnhaftigkeit genommen.13 Peter Sloterdijk: Nach der Geschichte. In: Wolfgang Welsch (Hrsg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Berlin: V C H , Acta Humaniora 1994 [1988], 262-273. 10 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 1953 [1927]. ' ' Vgl. hierzu den Beitrag von H. D. Kittsteiner in diesem Band, insb. Abschnitt IV, 40-43. 12
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Hans-Georg Gadamer: Subjektivität und InterSubjektivität. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 10. Tübingen: Mohr Siebeck 1995, 87-99, 99. Zu den daraus entstehenden Möglichkeiten fur eine aktuelle Geschichtsphilosophie siehe Herta Nagl-Docekal: Ist Geschichtsphilosophie heute noch möglich? In: Dies.: (Hrsg.): Der Sinn des His-
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Mit zahlreichen Schnittstellen zu dieser geschichtsphilosophischhermeneutischen Linie - zum Beispiel in Heideggers .Geschichtstheologie des Ereignisses' und in der Auffassung von der prozessualen Verfasstheit des Subjekts - verändert sich vor dem Hintergrund des Poststrukturalismus und der Diskursanalyse das Verhältnis von Subjekt und Geschichte einschneidend. Während dort eine unhinterfragbare Geschichtlichkeit zumindest partiell bestehen bleibt und das Subjekt als Instanz des Verstehens nicht gänzlich verabschiedet wird, werden Geschichte und Subjekt unter einer postmodern bzw. discursive conditionu noch radikaler in Frage gestellt. Sowohl die Geschichte als auch das Subjekt geraten unter einen Metaphysikverdacht. Jeder Begriff, der auf Einheit, Objektivität, Neutralität und Widerspruchslosigkeit basiert, wird zugunsten von offeneren und dynamischeren Formen verworfen.15 Das Subjekt wird damit nicht mehr als handelnde, singuläre Instanz, sondern als nicht abschließbarer Prozess konzipiert.16 Es erscheint dieser Auffassung zufolge nicht als personale Instanz sondern nur als Schnittpunkt oder Texteffekt von Sprachbewegungen, Zeichenprozessen und diskursiven Strategien. Der Tod des Subjekts — oder des Autors17 - bezieht sich also nicht auf die personale Handlungsinstanz .Subjekt'.18 Grundvoraussetzung dieser Argumentation ist die Annahme, dass das Subjekt keinerlei Position außerhalb der Sprache einnehmen kann; jede Form eines intentionalen Subjektbewusstseins, alle Formen des Denkens und Begründens sind rückfuhrbar auf Sprache und damit ihrer Logik unterworfen. Insbesondere in den Human-, Kulturund Geisteswissenschaften führt dieser linguistic tum zu einer Infragestellung des traditionellen Wahrheitsanspruches historischen Denkens.19 Statt referentiellen Darstellungsformen, die auf Historisches außerhalb der Sprache verweisen, wer-
torischen. Geschichtsphilosophische Debatten. Frankfun a.M.: Fischer 1996, 7-63; Heinz Dieter Kittsteiner: Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie. Plädoyer für eine geschichtsphilosophisch angeleitete Kulturgeschichte. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48,1 (2000), 6777; Hans Michael Baumgartner: Philosophie der Geschichte nach dem Ende der Geschichtsphilosophie, Bemerkungen zum gegenwärtigen Stand des geschichtsphilosophischen Denkens. In: Allgemeine Zeitschrift fur Philosophie 12,3 (1987), 1-21. 14
Zum Begriff der postmodern condition siehe Jean-François Lyotard: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir (= Collection critique). Paris: Ed. de Minuit 1983; dt. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht (= Edition Passagen. 7). Wien: Passagen 1993; zum in dieser Einleitung verwendeten Begriff der discursive condition siehe Elizabeth Deeds Ermarth: Agency in the Discursive Condition. In: History and Theory 40,4 (2001), 34-58; sowie dies.: Beyond „The Subject". Individuality in the Discursive Condition. In: New Literary History 31 (2000), 405-419.
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Ermarth: Agency (Anm. 14), 39. Ebd., 46. Siehe Roland Barthes: Der Tod des Autors [1968]. In: Fotis Jannidis et al. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000, 185-193. Siehe hierzu auch den Beitrag von M. Baßler in diesem Band, 95. Hierzu siehe F. R. Ankersmit: The Linguistic Turn. Literary Theory and Historical Theory. In: Ders.: Historical Representation. Stanford: Stanford University Press 2001, 29-74.
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den différentielle Darstellungsformen gefordert.20 Auch die Geschichtswissenschaft reagiert durch das Einbeziehen der sprachlichen Vermitteltheit ihrer Wahrheits- bzw. Wahrhaftigkeitsansprüche zunehmend auf die neuen Bedingungen.21 Zugleich begründet die discursive condition auch das Ende der Geschichte als Gesamtprozess22, der fortschreitet oder sich wiederholt, der durch ein teleologisches Denken oder stärker durch Kontingenzen erklärt werden kann. Wie das Subjekt gibt es auch Geschichte nach den Erkenntnissen der historischen Diskursanalyse nicht an und für sich oder in Ursprüngen und Teleologien, sondern sie konstituiert sich erst im Machen. Für den Nietzsche lesenden Foucault entsteht der Diskurs der Geschichte durch die Praktik der Macht. 23 Derjenige, der sich ihrer Regeln bemächtigt, diese nutzt, maskiert und verkehrt, besitzt die Geschichte. Zugleich bleibt auch das Subjekt in die Diskurse verstrickt; es kann wiederum keine autonome Stellung gewinnen. Dieser Verlust einer Stellung außerhalb der Diskurse hat insbesondere in den gender studies zu einer angeregten Debatte über Agency', also die Handlungsmacht des Subjekts geführt. In Frage steht dabei, ob durch den Verlust eines außerdiskursiven Standpunktes die Möglichkeit einer kritischen Theorie oder einer reflexiven Beurteilung der eigenen Bedingungen überhaupt obsolet werden, oder ob sich die Möglichkeit von Kritik auch auf poststrukturalistischen Fundamenten rekonstruieren lässt.24 Foucaults Überlegungen weiterentwickelnd, hält Michel de Certeau in Bezug auf die Geschichtsschreibung fest, dass der über Geschichte Schreibende trotz der Abhängigkeit von Diskursen vorgibt, Subjekt der „historiographischen Operation" zu sein, so dass die Fiktion eines wirkenden Subjekts, das die Geschichte verändert,
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Vgl. E. D. Ermarth in diesem Band, 112. Siehe Ernst Hanisch: Die linguistische Wende. Geschichtswissenschaft und Literatur. In: Wolfgang Hardtwig & Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Kulturgeschichte Heute (= Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft. 16). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, 212-230; sowie den Beitrag von M. Füssel in diesem Band, l43f. Francis Fukuyamas an Hegel angelehnte Konzeption vom „Ende der Geschichte" war ursprünglich mit Blick auf die liberale Demokratie als Ideal der endgültigen Regierungsform geprägt worden (Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. W o stehen wir? München: Kindler 1992). Der englische Originaltitel The End of History and the Last Man (New York: Francis 1992) deutet die notwendige Verknüpfung von Subjekt und Geschichte unter der discursive condition bereits an; vgl. inzwischen auch verschärft ders.: Das Ende des Menschen. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2002 (engl.: Our Posthuman Future. Consequences of the Biotechnology Revolution. New York: Farrar, Straus & Giroux 2002). Siehe zudem den Begriff der .Posthistoire' bei Lutz Niethammen Posthistoire: Ist die Geschichte zu Ende? Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989. Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie [1971]. In: Ders.: Von der Subversion des Wissens. Frankfurt a.M.: Fischer 1987 [1974], 69-90, 78. Vgl. zu diesem Komplex Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001 [1997]; sowie Hans-Herbert Kögler: Die Macht des Dialogs. Kritische Hermeneutik nach Gadamer, Foucault und Rony. Stuttgart: Metzler 1992; sowie die Beiträge von S. Deines und H.-H. Kögler in diesem Band.
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geschaffen wird. 25 Zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen den Handlungen des über Geschichte schreibenden Subjekts und den Widerständen des Materials konstituiert sich die „Wahrheit der Geschichte". 26
1.4. Subjekt und Geschichtstheorie Versucht man .Geschichte' bzw. den Geschichtsprozess als ein singulares, sich selbst begründendes Subjekt zu fassen, entsteht sowohl im geschichtsphilosophischen Denken als auch in der praktischen Historiographie die Schwierigkeit einer Ursprungsbegründung, die parallel zu den Problemen der Begründung des modernen, autonom denkenden und seienden Subjekts verläuft. Es stellt sich die Frage, wie eine solch autonome Geschichte in Sprache zu fassen wäre. Oder anders ausgedrückt: In dem Augenblick, in dem Geschichte selbstreferentiell wird, wird die Frage nach Gesetz und Zufall des Geschichtsverlaufs auch eine literarische und ästhetische. O b dieses das Emplotment, die Suggestion von Ursprüngen oder die Veranschaulichung einzelner Szenen betrifft, das Subjekt Geschichte unterliegt immer einem Konstruktions- und Versprachlichungsprozess, der seiner Autonomie zu widersprechen scheint. Wieder bietet das Verhältnis von Subjekt und Geschichte dem Theoretiker die Möglichkeit, die Erkenntnisse von Poststrukturalismus und Diskursanalyse kritisch zu hinterfragen. Geschichte kann manipuliert, verändert oder perspektiviert werden. Das heißt, es gibt eine Idee einer wahren oder zumindest wahrhaftigen Geschichte, von der abgewichen wird. Zugleich nimmt jemand, ein Subjekt, Einfluss auf Geschichte. Es stellt sich die Kernfrage, ob Geschichte im Schreiben über Geschichte verändert werden kann. Im Zuge des linguistic turn wurde seit den späten 1960er Jahren die Aufmerksamkeit auf die Formen von Historiographie gelenkt, wie sich in den grundsätzlichen Arbeiten von Barthes, White, de Certeau, Ricoeur u.a. zeigt.27 Einerseits zeigte sich hier die Verstrickung der Geschichte in Diskurse, andererseits wird gerade in der These, dass Geschichte nicht an und für sich, sondern nur in ihrer sprachlichen Darstellung existieren kann, deutlich, dass Geschichte zumindest auch von Subjekten abhängig ist, die jenseits ganzheitlicher oder autonomer Konzepte zu denken sind. Doch nicht nur die Formen der Historiographie verdeutlichen die Notwendigkeit, Geschichte und Subjekt im Wechselverhältnis zu diskutieren, sondern 25
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Michel de Certeau: Das Schreiben der Geschichte (·- Historische Studien. 4). Frankfurt a.M.: Campus 1991 [19751,20. Ebd. Vgl. neben Barthes: Die Historie (Anm. 9), White: Auch Klio dichtet (Anm. 9) und White: Die Bedeutung der Form (Anm. 9), Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. 3 Bde. (= Übergänge 18,1-3). München: Fink 1988-91 [1983-85]; sowie De Certeau: Das Schreiben der Geschichte (Anm. 25), und ders.: Theoretische Fiktionen: Geschichte und Psychoanalyse. Wien: Turia & Kant 1995 [1987].
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auch die veränderten Inhalte.28 Seit den Historikern der Annales ist der Gegenstandsbereich der Geschichtsschreibung erheblich erweitert worden, wie am deutlichsten die Diskussionen um die Cultural History erkennen lassen.29 Dieses wird — je nach Betonung des zentralen Paradigmenwechsels — als cultural, anthropological oder auch historical turn bezeichnet. Das Subjekt wird zum Beispiel im Körper, als Schmerz, in Bezug auf sein Geschlecht, als Zeichen des Unterdrückten und in der Perspektive des Opfers in vielfacher Weise verortet, immer geprägt durch die jeweiligen Diskursgeschichten, ohne dass ihm damit noch eine autonome Form des Handelns zukommen könnte.30 Es definiert sich nicht mehr über sein Inneres, seine Psyche oder seine Vernunft, sondern entsteht im historisch wandelbaren Einfluss äußerer Verhältnisse.31 Entsprechend wird eine weitere zentrale Schaltstelle zwischen Subjekten und Geschichte durch den Begriff der ,Rolle', insbesondere aus psychoanalytischer Perspektive, markiert. Das Subjekt, sowohl als einzelnes als auch als ,kollektives' Subjekt, kann Rollen annehmen, die im extremsten Falle zur völligen Identifikation zwischen Selbst und Rolle fuhren.32 Die Geschichte oder die Geschichten werden damit verinnerlicht. Insofern ist von subjektivierter, identitätsbildender Historie zu sprechen. Die historisierten Subjekte zeigen sich nun in dem Versuch, die Stimmen der unterdrückten Subjekte oder Subjektrollen in der Geschichte wieder zu versprachlichen. Auf der Gegenstandsebene wird also die Geschichte der großen Männer - einzelne Feldherrn und politische Machthaber, die den Fluss der Geschichte durch ihre Handlungen beeinflussen, - zu Geschichten vieler unterschiedlicher Subjek-
28
Siehe für diese Spannung zwischen Inhalt und Form, Karen Halttunen: Cultural History and the Challenge o f Narrativity. In: Viktoria Bonnell & Lynn Hunt (Hrsg.): Beyond the Cultural Turn. New Directions in the Study of History and Culture. Berkeley: University o f California Press 1999, 165-181, 178.
29
Siehe u.a. Bonnell & Hunt: Beyond the Cultural Turn (Anm. 28); Lynn Hunt (Hrsg.): T h e New Cultural History. Berkeley: University of California Press 1989; sowie Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2 0 0 1 .
30
Vgl. z.B. aus theoretischer Sicht mit Rückwendung auf die Geschichte des Mittelalters die Arbeiten von Caroline Bynum, u.a.: W h y All the Fuss about the Body? A Medievalist's Perspective. In: Bonnell & Hunt (Hrsg.): Beyond the Cultural Turn (Anm. 28), 2 4 1 - 2 8 0 ; sowie zum Subjekt ,Frau' in der Historiographie Michelle Perrot: Women and the Silences o f History. In: Joep Leerssen und Ann Rigney (Hrsg.): Historians and Social Values. Amsterdam: Amsterdam University Press 2000, 157-168; vgl. hierzu auch den Beitrag von S. Kyora zu Elfriede Jelinek in diesem Band, insb. Abschnitt II, 267-270).
31
Vgl. zu dem Komplex veräußerlichter Subjektivität z.B. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen.
32
Vgl. hierzu auch den Begriff des Traumas. Dominick La Capra: Representing the Holocaust.
Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977 [1976]. History, Theory, Trauma. Ithaca (N.Y.)/London: Cornell University Press 1994, 12, sowie deis.: Writing History, Writing Trauma. Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 2001; außerdem Lucette Valensi: Traumatic Events and Historical Consciousness. W h o is in Charge? In: Leerssen & Rigney: Historians (Anm. 30), 185-195.
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te, insbesondere von Gruppen, deren Geschichte durch fehlende Macht, Institutionalisierung und Tradierung zuvor nicht oder kaum erzählt wurde (dieses kann sich auf das Geschlecht, die Literarisierung, den sozialen Stand u.a. beziehen). Damit wird einerseits die Möglichkeit, die „Great Story" erzählen zu können, zunehmend in Frage gestellt;33 einzelne Subjekte werden nicht mehr als über Geschichte verfügend gedeutet. Andererseits kommt den Subjekten und ihren Geschichten ein erhöhter Wert zu, da ihre Geschichten in ihrer Subjektivität anerkannt werden. Das Verhältnis zwischen Subjekt und Geschichte wird nicht einfach auf beiden Seiten pluralisiert, sondern es entstehen neue Handlungsmöglichkeiten.
1.5. Inszenierungen Geschichte kann unter den heutigen Theoriebedingungen offensichtlich nur bedingt pragmatisch von einem über diese Geschichte verfugenden Subjekt dargestellt werden. Subjekt und das Objekt .Geschichte' sind von ihren sprachlichen und diskursiven Bedingungen und Kontexten nicht zu trennen. Mit dem Begriff der .Inszenierung' wird das epistemologische und ontologische Problem der Autonomie des Subjektes und der Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte komplexer. Inszenierung erfordert ein inszenierendes Subjekt; zuerst einmal kann dieses der Historiker, Autor, Regisseur oder Künstler sein. Auf den verschiedenen Ebenen der Texte, Bilder und performances lässt sich dann wiederum das Verhältnis von Subjekt und Geschichte inszenieren und reflektieren. Zugleich impliziert .Inszenierung' als aus den performance arts kommender Begriff 34 die Gleichzeitigkeit von Darstellung und Dargestelltem. Die Geschichte(n) entstehen erst in der Inszenierung. Die Inszenierung markiert das Dargestellte als etwas Künstliches, Unnatürliches, etwas, das außerhalb der sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichensysteme keinen eigenen, autonomen Wahrheitsbereich haben kann.
33
Vgl. in kritischer Absetzung von der Gegenwartshistoriographie Robert F. Berkhofer Jr.: Beyond the Great Story. History as Text and Discourse. Cambridge (Mass.)/London: The Belknap Press of Harvard University Press 1995.
34
Zum theaterwissenschaftlichen Hintergrund des Begriffe .Inszenierung' siehe Patrice Pavis: Inszenierung. In: Manfred Brauneck & Gérard Schneilin (Hrsg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1986, 423-425. Zu einer kulturwissenschaftlichen Anwendung des Inszenierungsbegrifls, die die Spannung zwischen Wirklichkeit und Konstruktion in der Inszenierung aufzeigt, siehe Doris Kolesch & Annette Jael Lehmann: Zwischen Szene und Schauraum - Bildinszenierungen als Orte performativer Wirklichkeitskonstitution. In: Uwe Wirth (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, 347-365, insb. 363-365; siehe außerdem zum anthropologischen Potential des Begriffs Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, 504-515.
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Für die akademische Geschichtsschreibung kommen durch den unumgänglichen Konstruktions- und Versprachlichungsprozess der Historiker und der Leser als handelnde Subjekte ins Spiel.35 Ersterer wird sich der Macht, die daraus resultiert, dass er Geschichte erst entstehen lässt, zunehmend bewusst und nähert sich damit dem Romanautor und Künstler an bzw. greift auf bestimmte von dessen Darstellungsmustern zurück. Zwischen Kunst und Wissenschaft entsteht in den unterschiedlichen Medien - Schrift, Film und Bild - eine breite Palette hybrider Repräsentationsformen von Geschichte, die Realitäts- bzw. Wahrhaftigkeitsanspruch und Potentiale von Asthetisierung und Fiktionalisierung miteinander zu kombinieren suchen. Hierzu sind auch die Biographie und insbesondere die Autobiographie zu zählen, also Formen in denen sich die Vorstellung einer übergreifenden Geschichte mit einzelnen Geschichten überlagert, in denen story und history nicht präzise voneinander zu trennen sind. Die Forschungsgeschichte36 führt mit zunehmender Genauigkeit vor, dass Überlagerungen zwischen Literatur und Geschichtsschreibung nicht zum Literarischwerden der Geschichtsschreibung oder zum Wissenschaftlich- bzw. Wahrwerden der Literatur führen, sondern dass das Wissen von der Geschichte zunehmend auch von Kunst, Literatur und Film geprägt ist. Die Aufgabe, unterschiedliche Stimmen in der Geschichte — nicht nur die der Herrschenden -
35
36
Zur Möglichkeit von multiperspektivischer Darstellung in Geschichtsschreibung siehe Stephan Jaeger: Multiperspektivisches Erzählen in der Geschichtsschreibung des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Wissenschaftliche Inszenierungen von Geschichte zwischen Roman und Wirklichkeit. In: Ansgar Nünning & Vera Nünning (Hrsg.): Multiperspektivisches Erzählen. Studien zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur narrativer Texte im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2000, 323-346; Berkhofer: Beyond the Great Story (Anm. 33); sowie Peter Burke: History of Events and the Revival of Narrative. In: Ders. (Hrsg.): New Perspectives on Historical Writing. University Park: Pennsylvania University Press 2001 [1992], 283-300. Zu Arbeiten im Schnittfeld von Literatur und Geschichte siehe insbesondere mit Rückgriff auf poetologische, narratologische und diskursanalytische Ansätze u.a. Stephen Bann: The Inventions of History. Essays on the Representation of the Past. Manchester/New York: Manchester University Press 1990; Elizabeth Deeds Ermarth: Sequel to History. Postmodernism and the Crisis of Representational Time. Princeton: Princeton University Press 1992; Philippe Carrard: Poetics of the New History: French Historical Discourse from Braudel to Chartier (= Parallax). Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 1992; Berkhofer: Beyond the Great Story (Anm. 33); F.R. Ankersmit & Hans Kellner (Hrsg.): A New Philosophy of History. London: Reaktion Books 1995; Ansgar Nünning: .Verbal Fictions?' Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. N.F. 40 (1999), 351-380; Daniel Fulda: Die Texte der Geschichte: Zur Poetik modernen historischen Denkens. In: Poetica 31 (1999), 27-60; Ann Rigney: Imperfect Histories. The Elusive Past and the Legacy of Romantic Historicism. Ithaca (N.Y.)/London: Cornell University Press 2001; ders. &Tschopp: Literatur und Geschichte (Anm. 6); sowie Stephan Jaeger: Erzähltheorie und Geschichtswissenschaft. In: Vera Nünning & Ansgar Nünning (Hrsg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär (= WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium. 5). Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2002, 237-263.
Subjektivierung von Geschichte(n) - Historisierung von Subjekten
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zu Wort kommen zu lassen, kann die akademische Geschichtsschreibung herausfordern, literarische Erzählverfahren anzuwenden, ohne dass sie ihren Anspruch, eine empirische Realität bestmöglich darzustellen, aufgibt. 37 Die akademische Geschichtsschreibung im Besonderen und Texte über Geschichte im Allgemeinen behalten immer ihre Widerständigkeit gegenüber dem freien ästhetischen Spiel. Sie beharren auf ihrem Wirklichkeitsanspruch, auf einer Referenz des Realen.38 Allerdings wird auch die akademische Geschichtsschreibung zunehmend unter Druck gesetzt, sich mit den Möglichkeiten von Asthetisierung und Fiktionalisierung und damit einer Pluralisierung der Subjekte auseinanderzusetzen, da in der heutigen westlichen Gesellschaft das kulturelle Gedächtnis über die Geschichte oft durch Romane und insbesondere durch Filme geprägt wird. Die Darstellung multipler Stimmen, Perspektiven und Kulturen in der Geschichte führt aufgrund dieser Widerständigkeit und dadurch offensichtlichen Begrenztheit einer darstellungstechnischen Innovation in der Geschichtsschreibung zu den fiktionalen Künsten und Medien, die den Spielraum der Wissenschaft und des Mediums Schrift ohne den Zwang zur Wahrhaftigkeit bezüglich einer äußeren Referenz überschreiten können. Offensichtlich kann Kunst verschiedene Subjekte auf unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Ebenen in einer fiktionalen Welt zusammenbringen. Statt einem philosophischen oder ideologischen Geschichtsmodell zu folgen oder als wissenschaftlicher Historiker in der Geschichtserzählung Geschichte kritisch zu synthetisieren, können versplitterte Subjekte in der Geschichte, zum Beispiel durch intertextuelle Verfahren, handeln oder eine Stimme bekommen. Die Inszenierungsfreiräume ermöglichen fiktionalen Figuren, Geschichte zu beeinflussen und die eigene Geschichte (Autobiographie und Identität) zu reflektieren. Gerade Formen auf der Grenze zwischen Fiktion und außer-textueller Wirklichkeit bzw. Geschichte - wie die Autobiographie oder die Verarbeitung des Holocausts in literarischen Texten, über den nicht jenseits des außerhalb des Textes begründeten Realitätseffekt zu verfügen ist - , müssen über das Verhältnis von Subjekt und Geschichte begründet werden. Die historischen, diskursiven und sprachlichen Verhältnisse können durch die Subjekte oder im fiktionalen Text metareflexiv reflektiert bzw. herausgestellt werden. Gerade Literatur und Kunst können experimentieren, inwiefern Subjektivität jenseits von geschichtlichen Kontexten darstellbar, oder ob Geschichte ohne Individuen denk- und darstellbar ist. Kunst, Film und Literatur können den Raum schaffen, um neue Verhältnisse zwischen Subjekt und Geschichte sowie deren Beschränkungen und Möglichkeiten zu erproben. Hier liegt die Besonderheit fiktionaler Ausdrucksformen, die weder an ein verfugendes und denkendes 37
38
Zur notwendigen Innovation auf der Darstellungsebene von Historiographie siehe insbesondere die Arbeiten von Peter Burke, insb.: Overture. The New History, its Past and its Future. In: Ders. New Perspectives (Anm. 35), 1-24; und ders.: History of Events (ebd.). Vgl. neben Barthes: Die Historie (Anm. 9), 179f., Rigney: Imperfect Histories (Anm. 36), insb. 7.
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Subjekt oder an einen philosophischen Geschichtsbegriff wie im philosophischtheoretischen Diskurs noch an eine Wahrhaftigkeitserwartung wie im historiographischen Diskurs gekoppelt sind. Die potentielle metahistoriographische Funktion39 fuhrt zurück zu den Grenzbereichen zwischen Geschichtsschreibung und Literatur, Philosophie und Literatur sowie Wissenschaft und Literatur. Dabei zeigt sich, dass die Übernahme literarischer und ästhetischer Darstellungsmöglichkeiten in Geschichtsdenken und Geschichtsdarstellung dem Diskurs .Geschichte' inhärent ist. Ähnlich wie der Autor, Künstler oder Historiker kann auch der Leser gerade in künstlerischen und fiktionalen Werken zum Subjekt oder zu einem Subjekt der Geschichte werden. Im Text erzeugte Leerstellen werfen allerdings immer die Frage auf, ob die Verfügungsgewalt bzw. Handlungsfreiheit eines Lesersubjektes eine ironisch im Text inszenierte bleibt. Welche Faktoren bestimmen also das Lesersubjekt: die historischen außertextuellen Kontexte - wie zum Beispiel das Wissen um historische Fakten - oder textinterne Faktoren, die dann wiederum von einem Autorsubjekt oder dessen Erzählsubjekten verantwortet wären, zum Beispiel, wenn das Lesersubjekt ironisch auf die Mehrdeutigkeit und Unvereinbarkeit zweier Perspektiven hingelenkt wirkt. Je stärker das Lesersubjekt im Umgang mit Geschichte zu sehen ist, desto so mehr scheint der Begriff des Subjekts seine grammatikalische Qualität des Handelns zu verlieren.
I I . l . Subjekt und Geschichte im ,nachmetaphysischen' Zeitalter Trotz der sehr unterschiedlichen Ansätze, das Verhältnis von Subjekt und Geschichte zu bestimmen, sind sich die Beiträge des ersten Teils dieses Bandes in der Ablehnung der beiden grundlegenden Totalitätskonzepte eines autonomen Subjektes sowie einer ganzheitlich bzw. teleologisch sich vollziehenden Geschichte einig. Die Beiträge markieren die aktuellen Konsequenzen des geschichts- und subjektphilosophischen Denkens, wie es sich nach den poststrukturalistischen und hermeneutischen Einschnitten darstellt und erproben neue Modelle von Subjektivität und Geschichte, von Handlungsfähigkeit, Individualität und Historiographie auf Basis dieser komplex gewordenen theoretischen Matrix. In seinem Beitrag Marx in der Kehre Heideggers verfolgt Heinz Dieter Kittsteiner das geschichtsphilosophische Denken Heideggers von der FundamentalontoIogie von Sein und Zeit im Übergang zu seiner Spätphilosophie. Hierbei zeigt sich eine Spannung zwischen einer Konzeption der Geschichte, in der das .Dasein' als das primäre Subjekt der Geschichte eingeführt wird, und einer Konzeption, in welcher das den Subjekten gegenüber Übermächtige und Eigenzeitliche der Geschichte betont wird. In der Hinwendung zu Heideggers Spätphilosophie erhalten 39
Hierzu vgl. Ansgar Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. 2 Bde. (= Literatur - Imagination - Realität. 11 & 12). Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1995.
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diese ,fremden Geschichtssubjekte' und das unkontrollierbar Ereignishafte der Geschichte eine zunehmend größere Bedeutung und schärfen so den Blick fur die irreduzible Unverfügbarkeit historischer Prozesse. Der ontologische Status und die Zeitstruktur dieser übermächtigen ,Welt-Geschichte' sei von Heidegger jedoch nicht hinreichend analysiert worden. In diese Lücke setzt Kittsteiner nun die Marxsche Analyse der Kapitalstruktur und die Zeitlichkeit der Verwertungsbewegung des Kapitals als eine übersubjektive Bewegung ein, mit der sich die Heideggersche Technikphilosophie und Entfremdungstheorie besser erhellen ließen. Auch Thomas R. Wolf beleuchtet in Leben in Geschichte(n). Zur Hermeneutik des historisch-narrativen Subjekts die hermeneutische Tradition und ihre Bemühungen, ein substantielles in ein kontextuelles und historisches Subjekt zu transformieren. In der Rekonstruktion der Philosophie Wilhelm Schapps wird die Konzeption eines solchen Selbst nachgezeichnet, das den Problemen sowohl der Diltheyschen als auch der Heideggerschen Philosophie entgeht. Löst Dilthey auf der einen Seite das Individuum in den Objektivationen der Geschichte auf, ohne einen verstehend-auslegenden Selbstvollzug zu berücksichtigen, so isoliert auf der anderen Seite Heidegger das Individuum in seiner Eigentlichkeit von der als uneigentlich gekennzeichneten Tradition. Schapp setzt dagegen das Theorem des „Verstricktseins in Geschichten", wobei es sich bei Geschichten um offene Sinnkomplexe handelt, die eine Reflexion sämtlicher Lebensaspekte und -erfahrungen erlauben. Eine solche narrativ gewendete Hermeneutik eröffnet einen Horizont von Selbst- und Weltverständnissen, in dem sprachliche Strukturierung, praktische Orientierung, Intersubjektivität und Historizität über .Geschichten' zugänglich und vermittelbar werden. Die Frage nach der Verfügbarkeit von Geschichte und der Handlungsfähigkeit des Subjekts wird in den Beiträgen von Stefan Deines und Hans-Herbert Kögler unter Hinzuziehung poststrukturalistischer und dekonstruktiver Philosophie weiterverfolgt. Beiden geht es darum, die Perspektive des Subjekts und die Relevanz seiner Handlungen in die poststrukturalistischen Theoriemodelle einzuzeichnen. In seinem Aufsatz Über die Grenzen des Verfügbaren. Zu den Bedingungen und Möglichkeiten kritischer Handlungsfiihigkeit verfolgt Stefan Deines die Frage, ob eine Handlungsfähigkeit der Subjekte unter den Prämissen des Postrukturalismus oder einer sprachontologisch gewendeten Hermeneutik plausibel zu denken sei und inwieweit diskursive Strukturen als verfügbar und modifizierbar gedacht werden können. Speziell eine .kritische Handlungsfähigkeit', die ein reflexives Einwirken der Subjekte auf die eigenen historischen Konstitutionsbedingungen einfordert, wird dabei problematisch, da sich Selbstanwendungsprobleme der Theorien ergeben. In einer kritischen Auseinandersetzung mit dem von Judith Butler und Elizabeth Ermarth vertretenen Kritikmodell einer sich performativ modifizierenden Wiederholung, das die subjektiven Motivationen kritischen Handelns gänzlich ausblendet, wird offenkundig, dass eine kritische Theorie ohne die Perspektive des handelnden Subjekts nicht auskommen kann.
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Hans-Herbert Kögler rekonstruiert die Rolle des Subjekts am ZentralbegrifF der Reflexion. In seinem Beitrag Situierte Autonomie. Zur Wiederkehr des Subjekts bei Foucault vertritt er die These, dass zwar eine Autonomie, die auf einer ontologischen Differenz zwischen Subjekten und ihrer geschichtlichen oder sozialen Situation beruht, zurecht kritisiert würde. Doch gehe damit keine völlige Destruktion des Begriffs der Autonomie einher, sondern im Gegenteil die Möglichkeit für einen neuen, konkreter gefassten Begriff der Selbstbestimmung. Denn die radikale Bestimmtheit der Subjekte durch das diskursive Geschehen ist zugleich die Bedingung der Möglichkeit einer symbolischen Umkehrung, einer radikalen Subversion der Macht. Bereits in Foucaults Theorie der diskursiv-machtpraktisch definierten Handlungskontexte sei in diesem Sinn eine hermeneutische Kompetenz des Subjekts eingeschrieben, die interpretative Modifikationen der Diskurse ermögliche. Gegen die entsubjektivierte Theorie der Subversion von Butler plädiert Kögler fiir Subjekte, die Geschichte machen, indem sie die ihnen zugewiesenen Klassifikationen, Selbstidentifikationen und Deutungsschemata reflexiv thematisieren, kritisch transformieren und kreativ neuinterpretieren. Anders als Kögler und Deines, die gerade auf der Erkenntnis einer discursive condition die Möglichkeit für einen neuen Begriff der .Agency' entwickeln, aufgrund dessen Subjekte ihre Diskurs- und Geschichtsverbundenheit reflektieren und damit kritisch transformieren können, sieht der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler jede Form eines reflexiven Subjekts als notwendige .Abkürzung', als identitätsherstellende Komplexitätsreduktion einer unendlichen Datenmenge. Geschichte - bzw. Kultur, die aus Baßlers Perspektive nahezu ununterscheidbar werden - sind ausschließlich als synchrones Feld, als kulturelles Archiv, erfassbar. Das Subjekt gewinnt gerade keine neue Autonomie im reflexiven Handeln, sondern es ist letzdich nur eine textuelle Funktionsweise, die ausschließlich als Datenarchiv wissenschaftlich analysierbar ist. Damit kann der Textbegriff den Subjektbegriff ersetzen; auch wenn dieses in seiner Form als .Abkürzung', als künstlicher Texteffekt zur Wiederbelebung des toten Datenmaterials bei der Versprachlichung der archivanalytischen Ergebnisse notwendig ist. Von Baßlers materialisiertem Geschichtsbegriff ausgehend ist Geschichte für Subjekte offensichtlich nicht verfügbar, weil das Archiv letztlich keinem historischen Sinngebungsprozess unterliegt, sondern sich nur in seinem intertextuellen Beziehungsgefiige verschiebt. Das Subjekt verbleibt hiernach als identitätsgebende Geste. Auch fiir Elizabeth Ermarth ist das Subjekt in Form des Individuums ein Produkt der Geschichte. Statt jedoch wie Baßler den Geschichtsbegriff zu transformieren, sieht Ermarth unter der discursive condition die Notwendigkeit, das Geschichtsdenken der westlichen Welt grundlegend zu verändern. Jenseits von Geschichte und jenseits des mit Geschichte verknüpften modernen Subjektbegriffs müssen aufgrund der discursive condition neue Formen der Darstellung des Vergangenen gefunden werden. Dieses kann nur gelingen, wenn die Grenze zwischen Literatur und Geschichte aufgehoben wird, also die Differentialität des Vergangenen ebenso anerkannt wird, wie der Umstand, dass Geschichte unhin-
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tergehbar von Sprache abhängig ist. Mit Bezug auf Autoren wie Nabokov oder Calvino schlägt Ermarth ein .anthematisches Schreiben' vor, das in immer neuen Formen und Mustern das Vergangene - und insbesondere die durch die alles überwiegende Informationsfunktion der Geschichte verdeckte Syntax von vergangenen Ereignissen, Mechanismen und Abläufen - erzählt, ohne es im Sinne der überholten Denkweise .Geschichte' zu neutralisieren bzw. festzuschreiben.40
II.2. Theorie u n d Geschichtsschreibung Nachdem Baßler und Ermarth - wenn auch aus sehr unterschiedlicher Perspektive — die Notwendigkeit eines veränderten praktischen Umgangs mit Geschichte bereits angedacht haben, werden im zweiten Teil des Bandes — Theorie und Geschichtsschreibung - die unterschiedlichen Alternativen und Probleme untersucht, die in der praktischen Geschichtsschreibung aus den veränderten theoretischen Bedingungen für Subjekt und Geschichte folgen. Alle vier in diesem Teil versammelten Beiträge kommen zu dem Ergebnis, dass der Anspruch von Wahrhaftigkeit der Geschichte nicht hintergehbar ist, wenn Geschichtsschreibung nicht vollends aufgegeben werden soll. Doch der Weg zu dieser Erkenntnis verläuft höchst unterschiedlich. Besonders bedeutsam ist hierbei, welche Subjekte der Geschichtsschreibung in den Vordergrund gerückt werden: der Leser, die historischen Subjekte auf der Gegenstandsebene oder der Historiker als Autor. Stephan Jaeger zeigt in seinem Beitrag Geschichte als Wahrnehmungsprozess am Beispiel zeitgenössischer Geschichtsschreibung, wie der Leser durch die Schaffung von Leerstellen, durch multiperspektivische Geschichtsdarstellung und durch eine besondere Fokussierung auf die Erzähl- und Wahrnehmungsweisen, die Geschichte zustande kommen lassen (statt auf den Gegenstand .Geschichte' bzw. .Vergangenes' zu verweisen), als über Geschichte verfugendes Subjekt in das Widerspiel mit dem Autorsubjekt und den historischen Subjekten eintritt. Alle diese Subjekte bleiben damit in einem Wechselspiel zwischen der Verfügbarkeit und der Unverfügbarkeit von Geschichte(n) gefangen. Hier werden die Grenzen einer postmodernen Geschichtsschreibung ebenso deutlich, wie deren Möglichkeiten. Geschichte basiert weiterhin auf dem Anspruch einer wahrhaften Repräsentation. Wie bei der philosophischen und handlungstheoretischen Frage nach situierter Autonomie ist auch hier der Begriff der Selbstreflexivität zentral. Nur weil die Darstellung von Geschichte mit der Reflexion der Geschichtsdarstellung im historiographischen Text einhergeht, kann .Geschichte' als etwas von Fiktion Unterschiedenes auch unter den Prämissen von linguistic turn und discursive condition noch zur Darstellung gebracht werden.
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Grundlegend ist hierbei der Anspruch, dass Geschichte (history) ein Denksystem, nicht nur eine akademische Disziplin bezeichnet.
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Auch Marian Füssel schließt in die Rückkehr des ,Subjekts' in der Kulturgeschichte an die veränderte Bedeutung von Wahrnehmung sowie Sinngebungen an, fokussiert seine Untersuchung aber auf die historischen Akteure, die Subjekte bzw. vornehmlich die in den Mittelpunkt gerückten historischen Individuen. Die Rückkehr des Subjekts löst das durch die Annales entstandene Paradigma der Struktur auf. Diese neue Betonung von Individualität ist aber nur im Rahmen von Rationalisierungs- und Disziplinierungsprozessen zu denken, so dass die Spannung zwischen der Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, hier zwischen Selbst- und Fremdregierung des Subjekts erhalten bleibt. Statt die überholte Vorstellung eines handelnden Subjekts wieder in die Geschichtswissenschaft hereinzuholen, schlägt Füssel einen Perspektivenwechsel von der Geschichte der Subjekte zu einer Geschichte der Praktiken vor, in der gesellschaftliche Entwicklungen nicht mehr durch Handlungen von Subjekten, sondern durch kollektive Verhaltensweisen erklärt werden, die aber an konkrete historische Subjekte rückgebunden bleiben. Wie die in den von Füssel diskutierten Kulturgeschichten untersucht auch Helmut Galle so genannte Ego-Dokumente, Zeugentexte des Holocausts. Gerade aufgrund der Auslöschung von Subjektivität in den Lagern der Nationalsozialisten können die widerständigen Lagerinsassen eine neue subjektive Identität entwickeln. In Anbetracht des Äußersten, der Katastrophe des Holocausts, sind ethische Konsequenzen fur das Subjekt abzuleiten, die Galle als neuartige Handlungsinstanz begreift, statt sie als textuelle Effekte in Sprache und Diskursen aufzulösen. Damit ermöglicht Reflexivität wiederum den Umgang mit Geschichte, hier der eigenen Lebensgeschichte der Schreibenden. Anders als in Jaegers These von der Selbstreflexivität von Geschichtsschreibung ist die Reflexivität des Subjektes als eine Vorstufe zur erneuten Konstituierung subjektiver Identität zu sehen. Dem (Autor-)Subjekt der Zeugentexte kommt eine Deutungsautorität zu, die sich als historische Sinnbildung auf den Rezeptionsprozess und die Bildung der kollektiven Identität der Deutschen auswirkt. Daniel Fuldas Beitrag Hat Geschichte ein Geschlecht? definiert ,Geschichte' hingegen vornehmlich bezogen auf das Selbstverständnis der akademischen Disziplin der Geschichtswissenschaft. Es stellt sich die Frage nach .Verfügbarkeit' über Geschichte als wissenschaftlich verfugbarem Objekt. Das verfugende Subjekt ist hierbei die Autorinstanz, der Historiker, der oft als männlich beschrieben wird. Dieses Autorsubjekt kann, selbst als weibliche Historikerin, der Geschlechtsspezifität moderner Geschichte nicht entkommen. Die Dichotomie zwischen den Zuschreibungen männlicher Geschichte und dem weiblichen, auf Differenzen basierenden Anderen' zieht sich zumindest seit der Herausbildung der Disziplin Geschichtswissenschaft durch den Diskurs der Geschichte. Damit unterliegen auch die geschlechterspezifischen Zuordnungen neuer Schreibweisen, die in der postmodernen Geschichtstheorie vorgebracht werden, diesem diskursivkulturellen Muster.
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II.3. Inszenierungen von Subjekt und Geschichte in Kunst und Literatur Insbesondere in den Texten von Ermarth und Jaeger wurde bereits deutlich, dass Geschichtsschreibung unter heutigen Theoriebedingungen auf ästhetische Inszenierungstechniken zurückgreifen kann bzw. muss. Der abschließende Teil dieses Bandes beschäftigt sich mit Inszenierungen von Subjekt und Geschichte in fiktionalen Text- und Bildformen. Dabei wird der Schwerpunkt auf Gegenwartsliteratur gelegt, die sich den Konsequenzen moderner Hermeneutik und der discursive condition zu stellen hat. Wie aber schon Fulda im vorherigen Teil beschließenden Beitrag vorführte, sind diskursive Muster und Konstruktionsstrategien auch historiographischen Texten früherer Jahrhunderte zueigen. Die diesen abschließenden Teil des Bandes einleitenden Beiträge von Stephen Bann und Dorothee Kimmich zeigen exemplarisch auf, wie sich Subjekte im frühen 19. und frühen 20. Jahrhundert mit ihren Geschichten verändernd in die Geschichte einschreiben. Stephen Banns Beitrag Oscillations of the I zum Academic Painting in der Zeit nach der Französischen Revolution demonstriert Techniken der Selbstinszenierung des Künstlers im Widerspiel mit der Gesellschaft in der von Autoritätsverlust geprägten nach-napoleonischen Zeit. Künstler wie Robert oder Delaroche versuchen in der Öffentlichkeit, von Ideologien und akademischen Regeln eingeschränkt, ihr eigenes Bild, ihre eigene Identität - als Arbeit an der eigenen Statue in der Geschichte — zu prägen. Damit geht zuerst einmal ihre biographische Lebensgeschichte in die Bildinszenierung mit ein. Es gipfelt darin, dass Historienmalerei den Betrachter in die Geschichte hineinzieht. Das Einschreiben des eigenen Künstler-Subjekts in die Geschichte führt zur Vermischung dieses Subjekts mit historischen Gestalten, beispielsweise von Delaroche mit Napoleon. Die ästhetische und politische Sphäre, Kunst und Geschichte ergänzen einander; Subjekt und Geschichte haben sich gegenseitig verändert. Dorothee Kimmich untersucht in ihren Bemerkungen zum Verhältnis von Geschichte, Kunst und Kino ebenfalls, wie sich historische Konstellationen und Befindlichkeiten in ästhetischen Inszenierungsformen niederschlagen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Filme Charlie Chaplins sowie Siegfried Kracauers Roman Ginster und das Bild moderner Subjektivität in einer beschleunigten und industrialisierten Welt, wie es in ihnen gezeichnet wird. Ausgehend von Kracauers Bemerkung „Der Mensch, den Charlie Chaplin verkörpert, ist ein Loch" wird nachgezeichnet, wie sich Subjekte ohne Ich in der Geschichte verhalten. Der von Chaplin erfundene und verkörperte Tramp wurde gerade in seiner Eigenschaft als Nicht-Ich, als Mensch ohne Geschichte, ohne Vergangenheit und Zukunft, ohne Willen und ohne Ziel ein modernes Ereignis, in dem viele Dichter und Philosophen eigene Ideen und Vorstellungen wieder erkannten. Dem Subjekt als Loch korrespondiert in der Film-Philosophie Kracauers das Auge der Kamera. Deren Sicht auf die Welt löst die Dinge der Wahrnehmung aus ihren großen, linearen Zusammenhängen heraus und ermöglicht so eine neue Form der Geschichts-
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Schreibung, die - im Sinne von Walter Benjamins Geschichtsthesen - eine .revolutionäre Chance' bereithält. Ansgar Nünning hält diesem identitätslosen Subjekt der Moderne eine gerade für englischsprachige historische Romane der Gegenwart erkennbare Rückkehr des sinnstiftenden Subjekts entgegen. Diese .Rückkehr' wird darin einerseits durch ein stärker inhaltliches Subjekt auf der Gegenstandsebene vollzogen, sowie andererseits metahistoriographisch in den Erzählverfahren reflektiert. Die Literatur - hier in ihrer Form als Geschichtsfiktion - kann letztlich zu einem .reintegrierenden Interdiskurs' von Historiographie, Geschichtstheorie und -philosophie werden. Dieses wird exemplarisch daran deutlich, dass viele englischsprachige historische Romane sowohl die bei Füssel betonte Rückkehr der Subjekte auf der Gegenstandsebene, beispielsweise in fiktiven Gegenentwürfen der Geschichte aus der Sicht von Frauen oder Minderheiten, als auch das von Jaeger diskutierte selbstreflexive Verfahren durchspielen, womit durch Subjektivierung, Perspektivierung und Pluralisierung Geschichte zu Geschichten wird. Damit dokumentieren die historischen Romane im praktischen Vollzug, dass das Subjekt ganz im Sinne der discursive condition nur in seinen historischen Umständen zu denken ist, wie auch Geschichte(n) wiederum nur in Abhängigkeiten von Subjekten und Subjektivitäten inszeniert und erzählt werden können. Historische Romane werden zum komplexen Spiegel der Verfahren und Ideen von Philosophie, Theorie und Wissenschaft. Während Nünning explizit die Unhintergehbarkeit der Historizität von Subjekten und Subjektivität von Geschichte(n) herausarbeitet, konstatiert Sabine Kyora im Gegenzug in ihrem Beitrag Literarische Inszenierungen von Subjekt und Geschichte in den Zeiten der Postmoderne ein Verschwinden der Konzepte von .Subjekt' und .Geschichte' in der deutschsprachigen Literatur ab 1970. Sie konzentriert sich vornehmlich auf in Auseinandersetzung mit Theorien der Postmoderne entstandene und innovative Verfahren erprobende Texte. An Rainald Goetz' Internet-Tagebuch Abfall für alle sei ein Subjektivität ausdrückendes „Erzählen nach der Geschichte" auszumachen, während die Romane Elfriede Jelineks als Inszenierungen von ,Geschichte ohne Subjektivität' gelesen werden können. Das in der ästhetischen Inszenierung geschaffene, von patriarchalen und kapitalistischen Strukturen geprägte geschlossene System formt die Subjekte, die mit ihren Handlungen nur wieder das System bestätigen. An Jelineks Die Kinder der Toten wird schließlich die Kreuzfigur von unidentischen Subjekten und einer unheimlichen Geschichte in der literarischen Holocaustverarbeitung entwickelt. Hierbei ist die Bedeutung von Erinnerung bzw. Verdrängung für die Ausbildung von Identität hervorzuheben. An die Überlegungen zur Erinnerung und Geschichtsschreibung des Holocausts bei Kyora, sowie bei Galle, schließt Silke Horstkotte in ihrem Beitrag Literarische Subjektivität und die Figur des Transgenerationellen thematisch an. Das Subjekt, das als Kind oder Enkel der Nazigeneration in kollektive und historische Prozesse der Verarbeitung von Schuld eingebunden ist, also zwischen Generati-
Subjektivierung von Geschichte(n) - Historisierung von Subjekten
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onsdistanz und persönlicher Verbundenheit schwebt, sieht sich der Aufgabe ausgesetzt, sowohl seine eigene als auch eine im Holocaust begründete Familiengeschichte zu schreiben, individuelle und familiale Erinnerung zu vereinen. Die literarischen Werke Marcel Beyers und Rachel Seifferts ermöglichen durch ihre selbstreflexiven und nicht-linearen Verfahrenstechniken, insbesondere durch erzählte und interpretierte Photographien, das Transgenerationelle als einen narrativ verlaufenden Erinnerungs- und Gedächtnisprozess auf der Ebene kulturhistorischer Prozesse zu analysieren. Die sprachlich verfasste Lebensgeschichte soll die Identität des Sprechers als Teil einer Familie garantieren. Zugleich fuhren die Romane jedoch einen notwendigen Mangel an narrativer Kontextuierung vor, die die Familiengeschichte wieder zu Lebensgeschichten auflöst, bei denen zwischen Fiktion und faktischer Vergangenheit nicht mehr unterschieden werden kann. Subjektivität und Geschichte sind in gegenseitiger Abhängigkeit unauflöslich miteinander verbunden. Abgeschlossen wird der Band durch Marcel Beyers Beitrag Das wilde Tier im Kopf des Historikers. Der in den Beiträgen von Bann, Kimmich und Horstkotte in verschiedenen Facetten aufkommende Bezug zwischen Bild und Geschichte wird hier auf die Spitze getrieben. Zugleich schließt Beyer an Galles Überlegungen zum Zeugen bzw. Augenzeugen an, der letztlich seiner Phantasie unterworfen bleibt, um sich ein Bild von der Geschichte machen zu können. Für das Dichtersubjekt gestaltet sich Geschichte in Bildern; es nimmt Teil am Bild der Geschichte; es prägt dieses Bild in anderen Bildern, deren narrative Verknüpfung oft offen und vieldeutig bleiben. Das Historikersubjekt sieht sich hingegen jenseits der Geschichte; es versucht Fakten von Fiktionen zu trennen, wodurch es in die Gefahr der Reduktion und manchmal des Demagogischen gerät. Dem Dichter und Beobachter wird zur Wachsamkeit beim Bilderschreiben geraten, um diesen deutenden Reduktionen nicht anheim zu fallen.
Danksagung Ermöglicht wurde dieser Band durch die VolkswagenStiftung, welche die den Band vorbereitende internationale Tagung, die im November 2002 im Gästehaus der Justus-Liebig-Universität Gießen stattfand, großzügig finanziert hat. Die Tagung fand in Kooperation mit dem Gießener Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften (GGK) statt. Besondere Erwähnung verdient auch die vielfältige logistische Unterstützung des Gießener Zentrums für Philosophie. Die Alexander von Humboldt-Stiftung hat durch ein Feodor-Lynen-Stipendium Stephan Jaeger viele Freiräume zur Vorbereitung von Tagung und Band gegeben. Ausdrücklich gedankt sei Roy Sommer, dem Geschäftsführer des GGK, Rose Lawson fur die Hilfe bei der Finanzbuchhaltung der Tagung, dem Verlag Walter de Gruyter, insbesondere Heiko Hartmann, für die gute Zusammenarbeit bei der Erstellung des Bandes sowie Nadyne Stritzke und Wibke Bindemann für die Endkorrektur des Manuskriptes.
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Deines, Jaeger & Nünning
Eine öffentliche Lesung von Marcel Beyer mit Podiumsdiskussion zum Thema des Bandes wurde vom Gießener Sonderforschungsbereich „Erinnerungskulturen" finanziert, wofür wir dem SFB-Sprecher Günther Oesterle ganz herzlich danken möchten. Tanja Schultz konnte leider aus gesundheitlichen Gründen ihren auf der Tagung gehaltenen Vortrag Weltbürgertum. Die Politik der Geschichte — Anmerkungen zu Kant und Benjamin nicht in eine schriftliche Fassung umarbeiten; ihr sei umso mehr unser wärmster Dank fur die aktive Tagungsteilnahme ausgedrückt. Für Vermischtes, Nebensächliches, Unverzichtbares und an dieser Stelle nicht im Einzelnen Aufzählbares stehen wir in der Schuld von Sandra Heinen, Jasper Liptow und vielen anderen, deren Nennung den Rahmen dieser Einleitung sprengen würde. Schließlich gebührt unser Dank natürlich allen Beiträgerinnen und Beiträgern sowie den Diskutantinnen und Diskutanten auf der Tagung, die den angestrebten interdisziplinären und anregenden Diskussionsraum allererst ermöglicht haben.
I. Subjekt und Geschichte im,nachmetaphysischen' Zeitalter
HEINZ DIETER KITTSTEINER
Karl Marx in der Kehre Heideggers1 I. Schicksal und Welt-Geschichte I. Das Schicksal Ich teile die Auffassung Paul Ricœurs, dass Sein und Zeit in einer „verwirrenden Ratlosigkeit" eher abbricht als endet.2 Ein Aspekt dieser Ratlosigkeit bildet unseren Ausgangspunkt. Es ist der Übergang von der „einzelnen Geschichtlichkeit" zu einer „gemeinsamen Geschichte". Ricoeur moniert, dass Heidegger allzu selten auf das Existenzial des „Mitseins" rekurriere, und im § 27 nur dessen Verfallsform in der Alltäglichkeit herausstelle; daher rühre dann der abrupte Übergang vom einzelnen Schicksal zum gemeinsamen Geschick. Gerade an dieser Stelle bleibe er im Rekurs auf das „Volk" mit Begriffen wie Kampf, kämpfende Nachfolge und Treue im Bannkreis einer tragisch-heroischen politischen Philosophie.3 Der § 74 von Sein und Zeit expliziert die „Grundverfassung der Geschichtlichkeit" in der Absicht, „das ontologische Problem der Geschichte als existenziales zu exponieren."4 Damit ist im Sinne des § 72 der Ort des Problems der Geschichte nicht die „Historie"; vielmehr soll, wie Geschichte möglicher Gegenstand der Historie werden kann, aus der Seinsart des Geschichtlichen und ihrer Verwurzelung in der Zeitlichkeit zu entnehmen sein.5 Das ist ein kühnes Programm, denn es besagt, dass die Geschichtlichkeit des Daseins nicht .zeitlich' ist, weil es ,in der Geschichte steht', sondern dass es geschichtlich nur existiert, „weil es im Grunde seines Seins zeitlich ist" (SuZ, 376). Es ist eine Begründung der Geschichte in der Geschichtlichkeit angekündigt; um sie vorzubereiten grenzt sich Heidegger gegen das „vulgäre Verständnis der Geschichte" ab. Was uns an diesem Abschnitt inte' Dieser Beitrag ist inzwischen zu einem Buch ausgearbeitet, das im Frühjahr 2004 unter dem Titel: Mit Marxfiir Heidegger — mit HeideggerfiirMarx im Fink-Verlag erscheinen wird. 2 Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. Bd. 3. München: Fink 1991, 114ff. 3 Ebd., 120f. 4 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 1953 [1927], 382. (Im Folgenden zitiert als SuZ). 5 Vgl. SuZ, 375.
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ressiert, ist der seltsame Begriff des „Welt-geschichtlichen." Es soll sich um eine sekundäre Geschichtlichkeit des „nichtdaseinsmäßigen Seienden" handeln, denn: „Primär geschichdich - behaupten wir - ist das Dasein." (SuZ, 381) Da die WeltGeschichte den ganzen § 75 einnimmt, stellen wir diese uneigentliche Geschichtlichkeit zunächst zurück und wundern uns nur über folgende Aussage: Daß im Grunde das menschliche Dasein das primäre .Subjekt' der Geschichte ist, leugnet niemand, und der angeführte vulgäre Begriff der Geschichte sagt es deutlich genug. (SuZ, 382)
Warum verwundern wir uns? Weil eben dies geleugnet werden kann und geleugnet worden ist. Die Geschichtsphilosophie seit Kant und Hegel kannte andere Geschichtssubjekte als das „menschliche Dasein": eine Naturabsicht, einen Weltgeist - bis hin zu Marx' Kapitalsubjekt. An dieser Stelle sei eine erste These gewagt: Wenn wir an Heideggers „Kehre" kommen, werden auch diese fremden Geschichtssubjekte wiederkehren. Dass da etwas anderes Machthabendes in der Geschichte waltet als das „Subjekt", zeigt sich schon im Übergang zum § 74, denn das „Dasein" soll keineswegs nur ein „Atom" im „Getriebe der Weltgeschichte" sein, ein „Spielball der Umstände und Ereignisse". (SuZ 382) Diese eher beiläufigen Bemerkungen besagen aber: Die Begründung der Geschichte auf Geschichtlichkeit ist von der Frage gar nicht abzutrennen, ob und wie diese Situation des Ausgeliefertseins an eine „Weltgeschichte" überwunden werden soll. Der § 74 rekapituliert nun die Bemühungen des Daseins, durch die „vorlaufende Entschlossenheit" der Verlorenheit des Selbst im Man zu entkommen. Denn das Dasein, das „gewählt hat" und die Möglichkeit des „Behagens, Leichtnehmens, Sichdrückens" — also des ganzen Vokabulars des § 27 — hinter sich lässt, bringt sich in die „Einfachheit seines Schicksals". (SuZ, 384) Meine Bemühungen gehen nun dahin, diesen scheinbar so einfachen und Heidegger so geläufigen Begriff zu dechiffrieren: wir betrachten die Kategorie des ,Schicksals' als das entteleologisierte Geschichtssubjekt der klassischen Geschichtsphilosophie, das im Durchgang durch Nietzsche als Hintergrundmetapher weiterexistiert und die Übermacht der Geschichte über das „Subjekt" bzw. das „Dasein"ausdrückt. Sich mit diesem Schicksal zusammenzuschließen gilt als positive Auszeichnung; nur der Entschlossene kann ein „Schicksal" haben. Der „Unentschlossenene" wird noch mehr als jener umgetrieben, „und kann gleichwohl kein Schicksal .haben'." (SuZ, 384) Dieses „schicksalhafte Geschick" steht nun im „Mitsein mit Anderen", im „Geschehen der Gemeinschaft des Volkes".6 Insofern ist das Mitsein mit dem Volk der Gegenentwurf zum „Man" des § 27. Wir verhalten einen Moment: Wir haben jetzt im Hintergrund eine „uneigentliche" Welt-Geschichte und zugleich ein „Schicksal", das nur der Volks6
Völlig zu recht bemerkt Ricoeur, dass hier eine Übertragung des je eigenen Seins zum Tode auf die Gemeinschaft vorliege. Ricoeur: Zeit und Erzählung. Bd. 3 (Anm. 2), 121. - Der Generation des Ersten Weltkrieges lag diese Übertragung in ihrem Erfahrungsraum allerdings nahe.
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Gemeinschaft der Entschlossenen zukommen kann. An dieser Trennlinie muss sich die Zeitlichkeit bewähren: „Nur eigentliche Zeitlichkeit, die zugleich endlich ist, macht so etwas wie Schicksal, das heißt eigentliche Geschichtlichkeit möglich." (SuZ, 385) Heidegger macht eine Differenz zwischen eigentlicher und uneigentlicher Geschichte; wir werden fragen, ob nicht die uneigentliche die wirkliche und die eigentliche die unwirkliche Geschichte ist. In einem weiter gefassten kulturhistorischen Horizont, den wir hier nicht ausführen können, sehen wir darin eine Eigenart des deutschen Geschichtsdenkens, die sich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg noch verschärft hat: Eine Abwendung von der Weltgeschichte und ein Sich-Einkapseln in eine vermeintlich eigentliche Geschichtlichkeit, mit der fernen Absicht, von diesem Kraftzentrum her die Weltgeschichte doch noch zu überwältigen. Dass es sich bei dem Eingang in eine imaginierte Geschichte um eine Kraftverstärkung handelt, ist dem Deutschen Idealismus seit Fichte geläufig. Es ist kein Zufall, dass Heidegger die Wiederholung gerade an dieser Stelle ansetzt. Dass das Dasein in der Wiederholung einer gewesenen Existenzmöglichkeit sich „seine Helden wählt" gründet existenzial in der vorlaufenden Entschlossenheit. Die Wiederholung fasst die drei Ekstasen der Zeitlichkeit zusammen; sie ist der Modus, durch den das Dasein ausdrücklich als Schicksal existiert.7 Da Heidegger sich wenig später auf Nietzsches ,Zweite unzeitgemäße Betrachtung' bezieht und andeutet, die dort von Nietzsche entfaltete „Dreifachheit der Historie" sei in der Geschichtlichkeit des Daseins fundiert, 8 halten wir es für berechtigt, Heideggers „Wiederholung" als die existenzialontologische Umschreibung von Nietzsches Begriff der „plastischen Kraft" zu lesen, die auch bei Nietzsche meint, die Gegenwart zu formen in Hinblick auf eine Zukunft, und sich dabei der Vergangenheit als einer „kräftigen Nahrung" zu bedienen.9 Heidegger nutzt dieses Motiv, das sich auch in Walter Benjamins Thesen über den Begriff der Geschichte findet, unter ausdrücklichem Hinweis darauf, dass die „Kraft" einer gewesenen Möglichkeit in die Gegenwart und deren Zukünftigkeit hereinschlagen solle.10 Um es zusammenzuhalten: die im Mitsein des Volkes zusammengeschlossenen Entschlossenen, die den eigentlichen Gegenentwurf zur Welt des § 27 bilden, haben im Schicksal ihre vergangene Geschichte wiederholend in der Kraft des Möglichen auf die Zukunft ausgerichtet.
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Vgl. SuZ, 385f. SuZ, 396. Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie fur das Leben. [1874] In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. München: dtv 1988,243-334,329. „Nur faktische eigentliche Geschichtlichkeit vermag als entschlossenes Schicksal die dagewesene Geschichte so zu erschließen, daß in der Wiederholung die ,Kraft' des Möglichen in die faktische Existenz hereinschlägt, das heißt in deren Zukünftigkeit auf sie zukommt." (SuZ, 395).
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Wozu brauchen sie diese Kraft? Weil das uneigentliche geschichtliche Existieren so kraftlos nicht ist, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Nicht umsonst hatte Heidegger im § 27 konstatiert: „Das Man ist ein Existenzial und gehört als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins." (SuZ, 129) Diese Macht scheint so groß zu sein, dass Heidegger, wenn er zur WeltGeschichte zurückkommt nun fragt, ob nicht der „Zusammenhang des Lebens" in der uneigentlichen Geschichtlichkeit des Daseins den Zugang zur „eigentlichen Geschichtlichkeit" verlegen könne. (SuZ, 387) Es ist dies ein Motiv, das in den Beiträgen zur Philosophie als Ausdruck der höchsten Not in der Notlosigkeit wiederkehrt." 2. Die Weltgeschichte Zunächst und zumeist konstituiert das „Verstehen als Verständigkeit auch die uneigentliche Existenz des Man". Nicht nur Zeug und Werk begegnen umweltlich, sondern es „begibt" sich damit die ganze Skala der Entfremdung: „die .Geschäfte', Unternehmungen, Vorfalle, Unfälle." Heidegger bietet seine AbscheuWorte aus dem § 27 auf, um dann zu fragen, ob dies nicht auch alles zur „Geschichte" gehöre, die hier allerdings nur in Anfuhrungszeichen gesetzt ist.12 Dahinter ist noch die zweite Frage geschaltet, ob Geschichte denn etwa nur „das isolierte Ablaufen von .Erlebnisströmen' in den einzelnen Subjekten" sei? Jeder Leser von Sein und Zeit weiß, dass Heidegger suggestiv fragt, wenn er ein Problem hat. Seine Schwierigkeit hier ist klar: Hat er sich in der Entfaltung der „Grundverfassung der Geschichtlichkeit" (§ 74) so weit von der Geschichte entfernt,13 dass er nun nicht mehr zurückfindet und daher über keinen zwischen Subjekt und Objekt vermittelnden Begriff der historischen Zeit mehr verfügt?14 Interessanterweise wechselt Heidegger an dieser Stelle das Vokabular: er lässt die Existenzialien einen Moment auf sich beruhen und spricht vom Geschehen der Geschichte als der Verkettung von Subjekt und Objekt. Erst über die Frage nach der „Seinsart der Verkettung als solcher" kommt er auf die Versicherung zurück, das „Dasein" sei nicht etwa ein „weltloses Subjekt", sondern existiere als „In-der-Welt-sein." Das ist nichts Neues, warum muss es hier noch einmal gesagt werden? Weil dieses
" Manin Heidegger: Beiträge zur Philosophie. (Vom Ereignis). Frankfurt a.M.: Klostermann 1989, 125. (Im Folgenden zitiert als Beiträge). 12 SuZ, 388. 13 „Geschichtlichkeit stellt Geschichte still ins Ungeschichdiche, unbekümmert um die geschichtlichen Bedingungen, denen innere Zusammensetzung und Konstellation von Subjekt und Objekt unterliegen." (Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1966, 133). 14 „Meine These ist nun, dass die besondere Weise, in der die Geschichte auf die Aporien der Phänomenologie antwortet, in der Ausarbeitung einer dritten Zeit — der eigentlich historischen Zeit — besteht, die zwischen der erlebten und der kosmischen Zeit vermittelt." Ricoeur: Zeit und Erzählung. Bd. 3 (Anm. 2), 159.
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„Welt-Geschichtliche" des Seienden, in das das Dasein zunächst und zumeist eingelassen ist, über eine eigene Macht und Dynamik verfugt, die Heidegger ausklammert. Zunächst reduziert er die Weltgeschichte auf das nichtdaseinsmäßige Seiende: Geschichtliche Welt ist faktisch nur als Welt des innerweldichen Seienden. Was mit dem Zeug und Werk als solchem .geschieht', hat einen eigenen Charakter von Bewegtheit, der bislang völlig im Dunkel liegt. (SuZ, 389)
Das ist insofern höchst bedeutsam, als diese spezifische „Bewegtheit" nicht erhellt wird, sondern im Dunklen bleibt. Da diese Stelle fiir meine Argumentation von zentraler Bedeutung ist, muss sie ausfuhrlicher zitiert sein: Dem Problem der ontologischen Struktur des weit-geschichtlichen Geschehens vermögen wir hier, von der dazu notwendigen Überschreitung der Grenzen des Themas abgesehen, um so weniger nachzugehen, als es gerade die Absicht dieser Exposition ist, vor das ontologische Rätsel der Bewegtheit des Geschehens überhaupt zu fuhren. (SuZ, 389)
Halten wir nur fest: zugunsten einer Exposition des „ontologischen Rätsels der Bewegtheit des Geschehens überhaupt" stellt Heidegger die „ontologische Struktur des weltgeschichtlichen Geschehens" beiseite. Er kommt auch nicht mehr auf sie zurück. Was nun noch folgt, hat mit dieser Welt-Geschichte nichts mehr zu tun, sondern handelt nur davon, wie vor dem Hintergrund der „Zerstreuung" das Dasein sich „zusammenholen" muss, um die „Treue der Existenz zum eigenen Selbst" in der Entschlossenheit zu konstituieren. (SuZ, 391) Heidegger kehrt auf seine ursprüngliche Frage nach dem eigentlichen Ganzseinkönnen des Daseins zurück. Am Ende des Paragraphen steht die Überleitung zu der Frage nach der ontologischen Genese der „Historie als Wissenschaft aus der Geschichtlichkeit des Daseins" als Vorbereitung zu einer „historischen Destruktion der Geschichte der Philosophie". Das wird später bedeutsam werden. Dennoch schwelt das Problem der Welt-Geschichte im Hintergrunde weiter. Ohne dass ich jetzt näher darauf eingehen kann: Es ist präsent im „Ursprung des vulgären Zeitbegriffs" (§ 78) und vor allem im besorgenden Verfall an die Welt im § 79. Nur ist hier alles wieder zivilisationskritisch vom „Entschlossenen" und vom „Unentschlossenen" her gedacht: „An das Besorgte vielgeschäftig sich verlierend, verliert der Unentschlossene an es seine Zeit." (SuZ, 410) Aber was ist dieses Es, an das der Unentschlossene seine Zeit verliert? Grammatikalisch ist es das Besorgte. Aber worin vollzieht sich das Besorgen? Hat dieses .worin' eine eigene Zeitstruktur, die vom Dasein und seinen Existenzialien her nicht aufgeschlüsselt werden kann? Auch die ,Innerzeitigkeit' hilft nicht weiter - bis plötzlich in der Abgrenzung gegen Hegel die .Weltgeschichte' wieder auftritt. Ich muss daran erinnern, dass ich oben gesagt hatte: Je näher wir der Kehre kommen, desto mehr kehren auch die nicht-subjektiven, die fremden Subjekte der Geschichte wieder. Sie kehren aber nicht in ihrer eigenen Gestalt zurück, denn nach Nietzsche gibt es keinen gültigen geschichtsphilosophischen Begriff
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des .Geistes' oder des ,Weltgeistes' mehr. Für Heidegger ist daher Hegel die radikalste Ausformulierung des vulgären Zeitbegriffs. Allerdings macht Hegel etwas, was Heidegger nicht mehr darf: Er lässt „Geist und Zeit" in eins fallen.15 Dagegen muss sich nun „Sein und Zeit" absetzen. Es kann nicht meine Aufgabe sein, diesen komplexen § 82 zu referieren. Nur einige Grundzüge, die auf die Weltgeschichte fuhren. Die Ausgangsfrage fragte nach der Verwirklichung des Geistes in der Zeit, die als Negation der Negation gedacht ist.16 Dabei fällt - frei nach Ricoeur - eine Trauerarbeit an Hegel·1 auf: Heidegger erinnert daran, dass für Hegel der „Fortschritt" nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ gedacht war. Der Begriff erfüllte sich noch mit der Zeit. Und daher kann Hegel sagen: „Die Weltgeschichte ist also überhaupt die Auslegung des Geistes in der Zeit, wie sich im Raum die Idee als Natur auslegt."18 Ein ausfuhrliches Zitat aus dem Schlusskapitel der Phänomenologie des Geistes zeigt schließlich - fast bedauernd - was nicht mehr geht: die schrittweise Realisierung des Geistes durch die Stufen seines Bewusstseins hindurch. Was folgt, ist eine abrupte Entgegensetzung: „Die vorstehende existenziale Analytik des Daseins setzt dagegen in der .Konkretion' der faktisch geworfenen Existenz selbst ein" (SuZ, 435) - das ist genug, um zu wissen, dass es die teleologische Einhüllung des Daseins in einen schützenden Gang des „Geistes" nicht mehr gibt und dass daher die Zeitlichkeit anders begründet werden muss. Hegels Zeitlichkeit in der Verschränkung von Zeit und Geist kann nicht mehr gedacht werden. Es gibt keine qualitative Weltgeschichte, keine „Vernunft in der Geschichte" mehr, die das „Dasein" noch in sich aufnehmen könnte. Die Frage stellt sich daher unabweislich: Wie sieht die ontologische Struktur einer nichtqualitativen Weltgeschichte aus? Was Heidegger im § 75 weggeschoben hat, kehrt nun wieder als die Wiederkehr des Verdrängten. Auf der letzten Seite von Sein und Zeit setzt Heidegger ganz neu an, so als ob er seinen ganzen Entwurf in Frage stellen wollte. War es wirklich so einleuchtend, zwischen dem Sein des existierenden „Daseins" und dem „Sein des nicht-daseinsmäßigen Seienden" zu unterscheiden?19 Der Philosoph könne sich dabei nicht beruhigen. Das Buch endet in einer Kaskade von Fragen. Was sind „Dinge", von denen das Dasein doch innerweltlich umgeben ist?20 .Allein, was bedeutet Verdinglichung? [...] Warum kommt diese Verdinglichung immer wieder zur Herrschaft?" Man hat erwogen, ob Heidegger damit auf Georg Lukács' Verdinglichungsaufsatz aus Geschichte und Klassenbe-
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Vgl. SuZ, 428. Vgl. ebd., 433. Zur .Trauerarbeit an Hegel' vgl. Ricoeur: Zeit und Erzählung. Bd. 3 (Anm. 2), 312ff. Zitiert nach SuZ, 434. Vgl. ebd., 436. Zu der Bedeutung von Dingen im Zusammenhang von Subjekt und Geschichte, siehe auch den Beitrag von D. Kimmich in diesem Band.
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wußtsein hat anspielen wollen - ich halte es für unwahrscheinlich. 21 Allerdings taucht dieser Begriff auf im Zusammenhang mit der Frage nach einem Übermächtigen in der Geschichte und seiner Zeitstruktur. Er taucht aber nur auf, um gleich wieder von der Frage nach dem „Sinn des Seins" verschüttet zu werden. Zusammengefasst: Heidegger entwickelt den Begriff des „Schicksals" als Existenzial des „Daseins", das existentiell gewählt hat zwischen einem eigentlichen und einem uneigentlichen Seinsmodus. Hingegen klammert er die Frage nach der ontologischen Struktur der geschichtlichen Bewegung des nicht-daseinsmäßigen Seienden explizit aus. Gerade diese Struktur aber nennt er Welt-Geschichte. Eine Verbindung zwischen dem „Schicksal" der Entschlossenen und der WeltGeschichte ist nicht ersichtlich, anders gewendet: eine vom Dasein her zu denkende fundamentalontologische Geschichtlichkeit scheint an dieser Geschichte zu scheitern. In einer abschließenden Arbeit an Hegels Zeitbegriff wird deutlich, dass diese Welt-Geschichte zumindest nicht mehr Hegels teleologische „Weltgeschichte" sein kann. Nur das können wir vorläufig sagen: Sie scheint ent-teleologisiert werden zu müssen, sie besteht in einer Bewegung von Dingen, und wie das „Dasein" sich zu ihr verhalten kann, scheint fragwürdig.
II. Das Ge-Stell des Karl M a r x Wer hat nicht schon über Heideggers „Ge-stell" gelacht? Über jenen verschrobenen Begriff aus dem Vortrag von 1953 über „Die Frage nach der Technik". Und doch werden wir sehen, dass ausgerechnet in diesem Begriff die Frage nach dem zeitlichen Zusammenhang einer Welt-Geschichte wieder auftaucht. Um uns darauf vorzubereiten, müssen wir allerdings einen Sprung von Heidegger zu Karl Marx machen. Der Sinn dieses Übersprungs wird nach dem Bisherigen klar sein: Ich schlage vor, die Zeitlichkeit der Kapitalstruktur bei Marx in die offengebliebene Frage nach der Bewegung des nicht-daseinsmäßigen Seienden bei Heidegger einzusetzen. Es ist ein Experiment. 1. Das Kapital-Subjekt und die Zeitigung seiner Zeit Zunächst einige kursorische Worte zu Karl Marx. Wahrscheinlich hätte er zur Zeit der Pariser Manuskripte der Hegelkritik Heideggers in Sein und Zeit zugestimmt. Auch Marx kritisiert Hegels „Geist", auch er setzt mit der konkreten, faktisch geworfenen Existenz ein. Das klingt bei ihm anders, weil er nicht über Kierkegaard, sondern über Bruno Bauer, Feuerbach und Moses Hess kommt und die Entfremdung des arbeitenden Menschen in seinen Produkten analysiert. Dabei ist Marx ganz nahe am Begriff der ,Objektivation', wie ihn Dilthey später
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Vgl. dazu die Diskussion bei Dieter Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Manin Heideggers 1910 -1976. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, 334f.
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benutzt: Würden unsere Produktionen gelingen, so wären sie „ebenso viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegenleuchtete" 22 - das ist nicht Dilthey, das ist Marx. Nur interessiert sich der .kritische Kritiker' nicht für einen Wieder-Aufbau der Geisteswissenschaften, nachdem Hegels Geist-Begriff verschlissen ist, sondern er will das Misslingen der Objektivation in den Produkten der Arbeit mit der Genese des Geldes zusammenbringen. Dabei beschreibt der junge Marx ähnliche Phänomene, die Heidegger in das Licht der Zivilisationskritik des § 27 taucht. Die Parallelen zwischen Marx und Heidegger reichen aber weiter. Auch Marx hat seine „Kehre". Sie wird nur nicht so genannt; Althusser hat seinerzeit mit dem Werkzeug des „epistemologischen Bruchs" 23 darin herumgestochert. Dabei geht es um fundamentalere Dinge: Es geht bei Marx nach seiner frühen Hegelkritik, die zunächst mit Feuerbach den „Menschen" ins Zentrum seiner Gattungsgeschichte stellt, um eine allmähliche Rückkehr zu Hegel insofern, als Marx den ,Geist' nicht mehr wie Max Stirner fur einen „Sparren" erklärt, sondern den Weltmarkt als die Wahrheit des Weltgeistes entdeckt. 24 Die „fremde Macht", die Hegel beschrieben hatte, und deren Tyrannei wir unterworfen sind, existiert wirklich, sie lässt sich nicht nach der Manier der Junghegelianer ins ,Ich' oder den Einzigen und sein Eigentum auflösen. Betrachtet man den Übergang des frühen Marx zum Marx der Kritik der Politischen Ökonomie in seiner Beziehung zu Hegel, dann könnte man unter Berücksichtigung der Auseinandersetzung mit den Jungehegelianern so sagen: Hegel hatte den subjektiven Anteil in der dialektischen Bewegung des Substanz-Subjekts zu hoch angesetzt. Jener Kernsatz aus der Phänomenologie: „Es kommt nach meiner Einsicht [...] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken." 25 gibt den Einwirkungsmöglichkeiten des Subjekts zu viel Raum. Die Fallhöhe des Geistes liegt an dem „eben so sehr". Die Substanz erweist sich als viel massiver, als der Deutsche Idealismus wahrhaben wollte. Die nächste Folge davon ist, dass Marx Hegel vorwirft, die Empirie nur zum Schein als Verwirklichungsform der Idee auszugeben: Hegel bringe es nur bis zu einer Allegorie.16 Dieser scheinhaften Versöhnung stellt Marx eine Bewegung von gesellschaftlichen Formen entgegen, die nun nicht mehr vom ,Geist', sondern von einem gesellschaftlichen a priori generiert werden, von der Art und Weise der Verausgabung der gesamtgesellschaftlichen Arbeit über den Tausch der Produkte. Marx' Arbeitsweise ist „formgenetisch". 27 Um noch einmal
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Karl Marx: Marx-Engels Werke. Hrsg. vom Institut fur Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz 1968ff. Ergänzungsband 1. Auszüge aus Mills Elements deconomie politique., 463. (Marx-Engels Werke, im Folgenden zitiert als MEW) Louis Althusser: Für Marx. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968, 31fF. Marx: M E W (Anm. 22) Bd. 3. Die deutsche Ideologie [1845], 37. G.W.F. Hegel: Die Phänomenologie des Geistes. Hamburg: Meiner 1952 [1807], 19. Marx: MEW (Anm. 22) Bd. 1. Kritik des Hegeischen Staatsrechts [1843], 241. Marx: MEW (Anm. 22) Bd. 26.3. Theorien über den Mehrwert, Bd. 3. 491.
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die Parallele zu Dilthey zu ziehen: Marx und Dilthey bilden die Extreme des Formbegriffi. Was bei Dilthey .Objektivation' des .Lebens', ist bei Marx Form, Wertform, in der der .Wert' - der begriffliche Ausdruck jenes gesellschaftlichen Verhältnisses - im Tausch zweier Waren sich vergegenständlicht. Diese Formgenese ist nicht (wie oft missverstanden) historisch, sondern .logisch'.28 Der Kürze halber sei nicht von der Entfaltung der Wertformen ausgegangen, sondern schon vom fertigen Resultat, der Verwertungsbewegung des Kapitals. Es geht um die Formel G-W-G'. Ich lasse alle inhaltlichen Bestimmungen beiseite und achte nur auf den philosophischen Hintergrund: Der Wert wird nacheinander als „das Subjekt eines Prozesses", als das „übergreifende Subjekt eines solchen Prozesses" und schließlich als die „sich selbst bewegende Substanz" bezeichnet.29 Das heißt nichts anderes als: Hegels Substanz-Subjekt (der Geist) ist substanziell Geld, aber das Geld in seiner Verwertungsbewegung unter Einschluss des Menschen. Denn das , W in der Mitte von G-W-G' impliziert den arbeitenden Menschen, der - ich springe jetzt in Heideggers Sprache - dem In-der-Welt-Sein verfallen ist. In der Sprache von Marx: das „falsche" Kapitalsubjekt hat sich zum Grund der Weltgeschichte gesetzt, denn in seiner Realität, der Konkurrenz der vielen Kapitale untereinander, 30 vollzieht sich die Kapitalverwertung auf dem Weltmarkt und ordnet sich alle Verhältnisse unter, die noch nicht von dieser Verwertung erfasst sind. Wir nennen das heute .Globalisierung'. Diese Bewegung des Kapitals bringt eine spezifische historische Zeit hervor. Die „Zeit" bei Heidegger war eingeführt „als Horizont des Seinsverständnisses aus der Zeitlichkeit als Sein des seinsverstehenden Daseins". Sie wurde sogleich vom „vulgären Zeitverständnis" abgegrenzt.31 Dieses tritt auch im „vulgären Verständnis der Geschichte" wieder auf: Geschichte bedeutet das Ganze des Seienden „in der Zeit"32 - und gerade gegen dieses vorgegebene „in der Zeit" fuhrt Heidegger seine „Geschichtlichkeit" aus der ursprünglichen Zeitlichkeit des Daseins ins Feld.33 Wir sehen nun aber, dass Marx gar nicht von einem „in der Zeit" ausgeht, und insofern das „vulgäre" Geschichtsverständnis für ihn nicht zutrifft. 34 Viel näher steht er den Andeutungen Heideggers über die „Weltzeit", die aber noch
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Heinz Dieter Kittsteinen .Logisch' und .Historisch'. Über Differenzen des Marxschen und Engelsschen Systems der Wissenschaft. (Engels Rezension Zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859). In: IWK. Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. 13,1. (1977), 1 - 4 7 .
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Marx: M E W (Anm. 22) Bd. 23. Das Kapital Bd. 1 [1867], 169. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (Rohentwurf) [1858], Berlin: Dietz 1953, 545.
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Vgl. SuZ, 17. Vgl. ebd.. 379. Vgl. dazu die Kritik bei Ricoeur: Zeit und Erzählung. Bd. 3 (Anm. 2), 139ff. Alle fünf Möglichkeiten des „vulgären Verständnisses der Geschichte" treffen für Marx nicht zu. (Vgl. SuZ, 378f.) Vielmehr muss er in die Linie mit Hegel gestellt werden (Vgl. ebd., 428), so aber, dass er einen vom „Geist" gereinigten Zeitbegriff anstrebt.
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„lückenhaft" und unvollständig behandelt sei. 35 Ohne es im einzelnen auszuführen: Das „Kapital" ist eine Bewegung von „nicht-daseinsmäßigem Seienden", vulgo von Dingen (Ware und Geld), die in ihrer Bewegung in der Einheit von Zirkulationssphäre und Produktionssphäre historische Zeit generieren. Historische Zeit - und zwar permanent beschleunigte historische Zeit - deshalb, weil sowohl Zirkulationszeit als Produktionszeit 36 um der Verwertung willen beständig verkürzt werden. 37 Georg Simmel hatte das „Tempo des Lebens" an der Zahl der verschiedenen Eindrücke in einer Zeiteinheit messen wollen; 38 wir werden von Marx her besser von einer Beschleunigung der Warengenerationen sprechen, die die Kapitalverwertung aus sich entlässt, die in unserem Lebenszeitraum an uns vorüberziehen und in unser Leben gestaltend eingreifen. Waren - um das noch einmal hervorzuheben — sind keine „Objektivationen" im Sinne Diltheys, sondern vom Wert zensierte und entstellte Gebrauchsgegenstände; sie haben also den im Marxschen Sinne nicht-menschlichen „formgenetischen" Teil ihrer Form in sich — am weitesten auf dem Weg dieser Analyse ist Walter Benjamin mit seinem Begriff der „Phantasmagorie" gekommen. 39 Zugleich generiert eine Kreisbewegung G - W - G ' eine krisenhaft-dynamische, multidimensionale historische Zeit, die zwischen die subjektiv erfahrene Zeit und die kosmische Zeit eingeschoben werden muss. Anders als Marx betrachten wir allerdings diese Zeit als entqualifiziert; Marx hatte noch einmal ein ,Ziel' der Geschichte angenommen, und er hatte versucht, einen Zeit-Punkt theoretisch zu bestimmen, an dem die Entfaltung der Produktivkräfte über die Abnahme des Profits das Kapital zur historischen Schranke seiner selbst werden lässt.40 Es sollte gegen seine Intention - List der Vernunft zum Schöpfer einer anderen Produktionsweise werden. 41 Wir lassen diese Utopie
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Vgl. ebd., 4 0 5 .
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So z.B. über die „künstliche Abkürzung der Produktionszeit": (Marx: M E W [Anm. 22], Bd. 24.
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„Je mehr die Zirkulationsmetamorphosen des Kapitals nur ideell sind, d.h. je mehr die Umlaufeeit
Das Kapital Bd. 2, 242). = 0 wird oder sich Null nähert, um so mehr fungiert das Kapital, um so größer wird seine Produktivität und Selbstverwertung." Ebd. 127f. — Aussagen dieser Art wären heute zu überprüfen, weil sich die „Zirkulationsmetamorphosen" verselbständigt haben wie das gesamte „Kreditwesen", vgl. Marx: M E W (Anm. 22) Bd. 25. Das Kapital Bd. 3, 404ff. 38
Georg Simmel: Die Bedeutung des Geldes fur das Tempo des Lebens. In: Soziologische Ästhetik. Bodenheim: Philo 1998, 93ff. - Heinz Dieter Kittsteiner: Erfahrungsraum, Erwartungshorizont und symbolische Repräsentation der Zeit. In: Evelyn Schulz & Wolfgang Sonne (Hrsg.): Kontinuität und Wandel. Geschichtsbilder in verschiedenen Fächern und Kulturen. Zürich: Hochschulverlag der Ε Τ Η 1999, 52-86.
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Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppen-
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Marx: Grundrisse (Anm. 30), 634f.
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Für diese Produktionsweise der gemeinsamen Planung der Geschichte hatte Marx auch einen
hausen Bd. V,2. Das Passagen-Werk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, 822.
eigenen ZeitbegrifF bereitgestellt: „Ökonomie der Zeit, darein löst sich schließlich alle Ökonomie auf." (Ebd., 89).
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auf sich beruhen und fassen zusammen: Wenn man Marx' Generierung der historischen Zeit aus der Bewegung des Substanz-Subjekts .Kapital' in die von Heidegger offen gelassene Frage nach der Bewegung des nicht-daseinsmäßigen Seienden einsetzt, erhält man eine Zeitstruktur, die dem .Dasein' und seinem sorgenden Inder·Welt-Sein vorgelagert ist. Diese Zeitstruktur ist über den Weltmarkt an die Zeit der Welt-Geschichte gekoppelt. Sie ergänzt Heidegger insofern, als Marx am konsequentesten alles .Daseinsmäßige' aus der Kapitalstruktur ausgeschaltet hat. Es handelt sich wirklich um eine Bewegung von Dingen, in die die Menschen nur als „ökonomische Charaktermasken" oder als „Warenhüter", deren „Willen in jenen Dingen haust" integriert sind. 42 Ist diese Einschaltung von Marx in Heidegger willkürlich, oder kommt ihr etwas im Denken Heideggers entgegen? 2. Heideggers „Ge-stell" als ver-stellte Kapitalismus-Kritik Wer den § 27 in Sein und Zeit als Kritik der Entfremdung liest, auch in den Schriften der 30er und 40er Jahre darauf geachtet hat, dass Heidegger erwägt, ob der anfänglich begrüßte National-Sozialismus kapitalistisch degeneriert, 43 wird sich nicht wundern, wenn Heidegger in den 1950er Jahren, die nun den Sieg des demokratischen Kapitals in der BRD nach dem Untergang des „nationalen Sozialismus" sehen, seine warnende Stimme erhebt. Seine Bedenken sind, wie in seiner Generation üblich, eingebettet in die „Frage nach der Technik". Man fragt also, um mit Marx zu reden, von der Gebrauchswertseite, nicht von der Wertseite her. Und doch ist die Wertseite und ihre Zeitstruktur bei Heidegger begrifflich verstellt anwesend. Ich erspare mir alles Gestaune über die Möglichkeiten der Technik und gehe gleich auf das Kernproblem: Ist Technik ein „Mittel" für menschliche Zwecksetzungen, oder ist sie noch etwas anderes? Warum muss die Technik „gemeistert" werden, warum droht sie „der Herrschaft des Menschen zu entgleiten"? 44 Der Aufsatz breitet zunächst einen ursprünglich positiven Begriff der Technik aus: sie sei eine Art der alétheia, eine Weise des Entbergens. Gegen diese Wesensbestimmung werde dann häufig eingewandt, das gelte vielleicht für die Griechen oder das liebe Handwerk, nicht aber fur die „neuzeitliche Maschinentechnik". 45 Über die sentimentalische Entgegensetzung von „bäuerlichem T u n " und modernem Landbau kommt Heidegger dann zum ersten Teil seines Begriffs ,Ge-stell': der
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Marx: MEW (Anm. 22) Bd. 23. Das Kapital Bd. 1, 16 u. 99. In den §§ 14-16 des Buches Mit Marxfur Heidegger - mit HeideggerfiirMarx (Anm. 1) findet sich eine genauere Analyse des Heideggerschen National-Sozialismus. Martin Heidegger: Die Frage nach der Technik [1954]. In: Ders.: Vortrage und Aufsätze. Pfullingen: Neske 1985, 11. Ebd., 17.
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moderne Landbau stellt6 die Natur: .Ackerbau ist jetzt modernisierte Ernährungsindustrie". Das wird hin- und hergewendet, nebst Anspielungen auf Hegels Jenaer Realphilosophie,47 bis Heidegger plötzlich bemerkt, dass die Maschine selbst „unselbständig" ist. Sie ist vom „Bestellen des Bestellbaren" abhängig, z.B. von der „Holzverwertungsindustrie". Das Bestellen scheint aber eine besondere Weise des Entbergens zu sein: „Wo und wie geschieht das Entbergen, wenn es kein bloßes Gemächte des Menschen ist"? Am Ende wird es klar: „So ist denn die moderne Technik als das bestellende Entbergen kein bloß menschliches Tun." Und dann, mit einer Entschuldigung, dass dieses Wort hier in einem ganz ungewohnten Sinn gebraucht werde: „Wir nennen jetzt jenen herausfordernden Anspruch, der den Menschen dahin versammelt, das Sichentbergende als Bestand zu bestellen - das Ge-steLl"™ Das Ge-stell stellt herausfordernd den Menschen, es ist etwas, das im „Wesen der modernen Technik waltet und selber nichts Technisches ist."49 Was ist dieses Nicht-Technische? An dieser Stelle macht Heidegger eine Ausführung, auf die wir in anderem Zusammenhang noch zurückkommen müssen, weil sie für die in diesem Punkt von Nietzsche beeinflusste Generation typisch ist: Es ist die bodenlose Unterschätzung der Einsichten der Aufklärung und der Erfahrungen des späten 18. Jahrhunderts mit der politischen und vor allem der ökonomischen Doppelrevolution. Hier wie auch anderswo setzt Heidegger die Neuzeit immer mit Descartes an, als philosophische und physikalische Eroberung der Welt. 50 Dass diese .Moderne' im späten 18. Jahrhundert schon die Einsicht in die Unverfügbarkeit ihrer .technischen' Eroberung hat, ein Wissen, das sich in der Struktur der deutschen Geschichtsphilosophie und der schottischen Politischen Ökonomie fast gleichzeitig ausdrückt, ist dieser Generation von Denkern nicht denkwürdig erschienen. Anstatt nun jenes „Fremde" an der Technik zu analysieren, erklärt Heidegger die „neuzeitliche Physik" zum unbekannten Vorboten des Ge-stells.51 An dieser Stelle tritt aber zum Ge-stell das Geschick hinzu, es bekommt eine Geschichte.52 Ich hatte oben gesagt, dass meine Bemühung dahin geht, die fur Heidegger so geläufigen Begriffe .Schicksal' und .Geschick' in Frage zu stellen. Ich betrachte sie als ent-teleologisierte geschichtsphilosophische Begriffe, die die
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Dieses Stellen der Natur, dass die Natur genötigt wird, auf eine ihr gestellte Frage zu antworten, ist bei Kant in der „Kopernikanischen Wende" beschrieben. Immanuel Kant: Akademie-Textausgabe. Bd. 8. Kritik der reinen Vernunft. Berlin: de Gruyter 1968, 10. Heidegger: Technik (Anm. 44), 21. Ebd., 23. Ebd., 24. Vgl. Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes. In: Ders.: Holzwege. Frankfurt a.M.: Klostermann 1963, 87; sowie ders.: Gesamtausgabe. Bd. 48. Nietzsche: Der europäische Nihilismus. Frankfurt a.M.: Klostermann 1986, 185f. Heidegger: Technik (Anm. 44), 25. Vgl. zum Zusammenhang von .Geschick' und .Technik' bei Heidegger auch Th. Wolf in diesem Band, insb. 55f.
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Übermacht eines Geschehens überlagern, das an sich selbst nicht auf ein ,Ziel' zuläuft, sondern in einem entqualifizierten Marxschen Zeitbegriff ausgedrückt werden kann. Dieser qualitätslosen Weltgeschichte werden aber in der Auffassung als Schicksal und Geschick doch wiederum inhaltliche Momente zugeschrieben. Um es zu präzisieren: Trotz der Ent-teleologisierung wiederholt sich zwanghaft 53 noch einmal der gleiche Vorgang, den auch die Geschichtsphilosophie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts mit der unverfugbaren Geschichte vorgenommen hatte. Nicht umsonst hatten wir eingangs .Schicksal' und ,Welt-Geschichte' bei Heidegger als eigentliche und uneigentliche Geschichte gegenübergestellt. Wir können nun sagen: das „Ge-stell" zeigt Merkmale der Kapitalverwertung. Sie ist aber nicht als solche aufgefasst, sondern einem „Geschick" zugesellt, das zwar Bedrohliches zeigt, das dann aber in seiner Gefährlichkeit jene Gegenbewegung hervorruft, die in den Hölderlin-Ton einmündet: „Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch." 54 Wenn das Ge-stell als Geschick waltet, „dann ist es die höchste Gefahr". Die besteht in dem trügerischen Schein, der Mensch sei der „Herr der Erde" und alles was bestehe, sei nur sein „Gemächte". Nun ist Heidegger in vertrautem Fahrwasser: „Wo das Ge-stell waltet, prägen Steuerung und Sicherung des Bestandes alles Entbergen", ja sogar der Grundzug des Entbergens, die poiesis wird verstellt. 55 Das Ge-stell stellt und fordert heraus, aber es hat seine immanente Dialektik. Die größte Nähe zu Marx findet sich in Aussagen zur Entfremdung und zur Beschleunigung: Das Ge-stell präsentiert sich als die „vermeintlich einzige Weise der Entbergung" und droht den Menschen in die Preisgabe seines Wesens „fortzureißen". Das „Rasende des Bestellens"56 erinnert stark an das, was Heidegger 1935 der USA und der UdSSR gleichermaßen vorgeworfen hatte: die trostlose Raserei der entfesselten Technik und die bodenlose Produktion des Normalmenschen. 57 Raserei, fortreißen — alles das sind ZeitbegrifFe, die die Übermacht eines weltgeschichtlichen Zusammenhangs andeuten, in den die .Technik' eingelassen ist. Übersetzen wir all das in Marx, so würde es heißen: Die naturwüchsige Kapitalverwertung treibt die Geschichte vorwärts, bis zu einem Punkt, an dem die Verwertung in die Krise fuhrt, die eine Revolution auslösen soll. Marx - der alte Kommunist des 19. Jahrhunderts - denkt primär von der Wertseite her, sie soll den Umschlag einleiten. Heidegger, der entfremdungstheoretische Existenzialontologe des 20. Jahrhunderts, beginnt mit der Gebrauchswertseite, eben der ,Tech-
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„Sind die Menschen einmal über die Vormacht des Allgemeinen belehrt, so ist es ihnen fast unumgänglich, sie als das Höhere, das sie beschwichtigen müssen, zum Geist zu transfigurieren. Zwang wird ihnen zum Sinn." Theodor W . Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1966, 308. Heidegger: Technik (Anm. 44), 39. Ebd., 33. Ebd., 36f. Martin Heideggen Einfuhrung in die Metaphysik. Tübingen: Niemeyer 1987 [1935], 28.
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nik', unterstellt sie aber der fremden Herrschaft des Ge-stells. In der Erfahrung der Gefährdung von Mensch und Natur erfolgt ebenfalls ein Umschlag: In der Besinnung auf das „Wesen der Technik", die zugleich zum „Wesen der Wahrheit" fuhrt. „So erscheint der Aufgang des Rettenden." Bei Marx ist es der Sozialismus, der das eigentliche Wesen der Technik hervorbringt, nämlich ihre Befreiung von der Eigenschaft, Kapital sein zu müssen. 58 Umschlagspunkt ist eine vom Substanz-Subjekt ,Kapital' objektiv ermöglichte Revolution, die subjektiv ergriffen werden soll. Heidegger hat eine andere .Revolution' zu bieten - das Ereignis.
III. Fragen an die „Kehre" Im Aufsatz über die .Technik' zitiert Heidegger, um den „möglichen Aufgang des Rettenden" anzukündigen, die Seiten 16f. aus der Schrift vom Wesen der Wahrheit aus dem Jahr 1943. 55 Wie wir aus der Humanismus-Schrift wissen, wird diese schmale Broschüre als der Ort der „Kehre" angesprochen. Der dritte Abschnitt des ersten Teiles von Sein und Zeit wurde zurückgehalten, „weil das Denken im zureichenden Sagen dieser Kehre versagte und mit Hilfe der Sprache der Metaphysik nicht durchkam." Wir versuchen den Satz „Hier kehrt sich das Ganze um", 6 0 in der Schrift vom Wesen der Wahrheit zu lokalisieren. Was die „Kehre" selbst betrifft, halten wir uns an die alte Wegweisung von Walter Schulz, die sich ihrerseits auf Heideggers Selbstdarstellung von 1949 stützt. Sie läuft darauf hinaus, dass das „Dasein" von Anfang an nicht als seiner mächtig bestimmt war, so dass es in der Kehre als vom Sein ausgesetzt verstanden werden muss. 61 Als zentraler Satz der Kehre kann die Aussage aus dem Abschnitt über das „Wesen der Freiheit" gelten: Der Mensch .besitzt' die Freiheit nicht als Eigenschaft, sondern höchstens gilt das Umgekehrte: die Freiheit, das ek-sistente, entbergende Da-sein besitzt den Menschen und das so ursprünglich, daß einzig sie einem Menschentum den alle Geschichte erst begründenden und auszeichnenden Bezug zu einem Seienden im Ganzen als einem solchen gewährt. 6 2
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Marx: Grundrisse (Anm. 30), 593ff. - Es ist ganz hübsch zu sehen, dass ein Linksheideggerianer sich eben diese Passagen ausersehen hatte: Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Neuwied/Berlin: Luchterhand 1967, 56. Heidegger: Technik (Anm. 44), 28. Martin Heidegger Über den Humanismus. Frankfurt a.M.: Klostermann 1981, 19. Orlando Pugliese: Vermittlung und Kehre. Grundzüge des Geschichtsdenkens bei Martin Heidegger. Freiburg/München: Alber 1965, 20f. Martin Heideggen Vom Wesen der Wahrheit. Frankfurt a.M.: 1943, 17.
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Gehörte in Sein und Zeit zum Grund des Daseins noch das Nichts63 und der existenziale Sinn der Geworfenheit,64 so enthüllt sich dieses „Nichts" nun als das Sein selbst, das sich entbergend zu verstehen gibt.65 Denn das Sein-lassen wird nun als das „Sicheinlassen" auf das Seiende verstanden. Zuvor war das Wesen der Wahrheit als die Freiheit bestimmt worden.66 Der Mensch ek-sistiert nun als „Eigentum dieser Freiheit" und wird so überhaupt erst „geschichtsfahig".67 Da aber auch die Unwahrheit aus dem Wesen der Wahrheit kommt, geht der Mensch in die Irre, und das nicht beiläufig, sondern notwendig, denn „die Irre gehört zur inneren Verfassung des Da-seins, in das der geschichtliche Mensch eingelassen ist."68 Die Entbergung des „Seienden als eines solchen" setzt den Durchgang durch die Irre voraus; sie ist ein Teil des Wesens der Wahrheit: „Die Irre, in der jeweils ein geschichtliches Menschentum gehen muss, damit sein Gang irrig sei, fugt wesentlich mit die Offenheit des Da-seins."69 Im Jahre 1943, als dieser Satz zum Druck gegeben wird, klingt er zumindest nach einer schicksalhaften Legitimation der „Irre", an deren Ende die Lichtung steht. An dieser Stelle nur eine einzige Frage: Was bedeutet das? Wie kommt Heidegger dazu, einen zunächst vom „Dasein" und einer fundamentalontologischen Analytik des Daseins her gedachten Entwurf umzukehren, und nun das Da-sein als „Eigentum" eines anderen zu bestimmen? Er selbst beschreibt es so, dass in Sein und Zeit der Entwurfbereich, die Frage nach der Offenheit, „d.h. nach der Wahrheit des Seins" absichdich unentfaltet geblieben sei.70 Nimmt man jetzt aber die Dialektik von Wahrheit und Irre hinzu - die NB. an die Arbeit des Negativen bei Hegel erinnert - und denkt man an seine respektvolle Erwähnung der Hegelschen Geschichtsphilosophie insgesamt als einer gleichwohl nicht mehr gangbaren Möglichkeit,71 dann liegt die Frage nahe, ob Heidegger in der Kehre nun eine eigene Geschichtsphilosophie entwirft, die die Kritik der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie zur Voraussetzung hat, die aber deren Grundzug wiederholt: Die schützende Einbettung des Subjekts in einen Prozess, der mit ihm und über es abläuft, und der fiir es zurechtbringt, was das „Dasein" selbst nicht vermag. Was war das Proprium der Geschichtsphilosophie? Dass der Mensch seiner Geschichte nicht mächtig ist, dass er sie nicht planen und nicht machen kann. 63
„Einzig weil das Nichts im Grunde des Daseins offenbar ist, kann die volle Befremdlichkeit des Seienden über uns kommen." (Martin Heidegger: Was ist Metaphysik? Bonn: Cohen 1929, 27). 64 Vgl. SuZ, 284f. 65 Walter Schulz: Der gebrochene Weltbezug. Aufsätze zur Geschichte der Philosophie und zur Analyse der Gegenwart. Stuttgart: Neske 1994, 95. Heidegger: Vom Wesen der Wahrheit (Anm. 62), 13. '-1 Ebd., 18. 68 Ebd., 23. 69 Ebd., 24. 70 Ebd., 28. Er bezieht sich auf SuZ, 151. 71 Über Hegel als Kulminationspunkt der Vermittlung von Geschichte und Wahrheit, der gleichwohl nicht mehr gedacht werden kann, vgl. Ricoeur: Zeit und Erzählung. Bd. 3. (Anm. 2), 332f.
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Das ist am deutlichsten bei Kant ausgedrückt. 72 Bei Kant enthüllt sich aber noch mehr. Woher kommt denn die Gewissheit, dass, um der Verzweiflung zu entgehen, eine „Teleologie in praktischer Absicht" überhaupt gedacht werden darf? Sucht man Rat in Kants Religionsschrift: und nimmt die dritte Frage aus dem Ende der Kritik der reinen Vernunft hinzu: „Wenn ich nun thue, was ich soll, was darf ich alsdann hoffen?", so enthüllt sich die in eine neue Position zur Moralphilosophie gebrachte Gnade als Kern der geschichtsphilosophischen Teleologie. Die Eckpunkte dieser Umstellung heißen Kant und Luther. Luther hatte das Ethos auf die Gnade begründet und es insofern bedingt, Kant fordert im Kategorischen Imperativ unbedingt, und überlässt es dann der Gnade, ob sie auf das Ethos folgen will. 73 Dieses Sein-lassen der Gnade ist nun aber nicht mehr als Vollzug des Heilshandelns Gottes gedacht, sondern die Gnade fällt gleichsam in die dynamisierte Geschichte als deren Ende. In diesem Sinne stand bei Kant die Gnade am Anfang der Geschichtsphilosophie; es sieht so aus, als ob sie bei Heidegger auch an deren Ende stünde. Das hat Folgen, selbst wenn Geschichts-Philosophie nach Nietzsche nicht mehr in den Spuren Hegels gedacht werden kann, gleichwohl aber Kants und Hegels (und Schellings) 74 Problem der unverfugbaren Geschichte im Hintergrund bestehen bleibt. Man wird dann darauf achten müssen, welche neuen Formen dieses Problem annimmt. Zugleich würde dann deutlich, dass Geschichtsphilosophie (in welcher Form auch immer) zum fundamentalen Bestand der Philosophie gehört, solange diese Grundlage im realhistorischen Prozess besteht, und das Fragen der Philosophie auf sich lenkt. Dass Heidegger sich wieder von einer neuen Geschichtsphilosophie/Geschichtstheologie einfangen lässt, wäre dann dieser Situation geschuldet.
IV. Die Überbietung der Geschichtsphilosophie durch die Geschichtstheologie des „Ereignisses"
Ich lese den Ereignis und Geschichte betitelten § 12 der Beiträge zur
Philosophie,
um die Ebenen von Geschichte und Ereignis näher zu bestimmen. Von Vornherein ist „Geschichte" nicht gefasst „als ein Bereich des Seienden unter anderen", sondern einzig im Blick auf die „Wesung des Seyns selbst." (Beiträge, 32) Von 72
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Vgl. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 17; sowie ders.: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 310. Beide in: Akademie-Textausgabe. Bd. 8. Berlin: de Gruyter 1968, 310. Heinz Dieter Kittsteiner: Religion, Aufklärung und Geschichte in Kants Die Religion innerhalb der Grenzen 11er bloßen Vernunft. In: Ders.: Listen der Vernunft. Frankfurt a.M.: Fischer 1998, 73-87. Vgl. dazu Heinz Dieter Kittsteiner: Freiheit und Notwendigkeit in Schellings System des transcendentalen Idealismus - Zur Aktualität des geschichtsphilosophischen Denkens. In: Moshe Zuckermann (Hrsg.): Geschichte denken: Philosophie, Theorien, Methode. Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29 (2000), 85-104.
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Vornherein haben wir es wieder mit zwei Geschichten zu tun, einer eigentlichen und einer uneigentlichen. Das wäre die Sprache von Sein und Zeit. Heidegger bestätigt das im nächsten Satz: Es handelt sich um eine andere „Geschichtlichkeit" — mit einer interessanten Wendung: Auch schon die fundamentalontologische Absicht in Sein und Zeit sei nicht als „Beitrag zur vorhandenen [Hervorhebung H.D.K.] Geschichtsphilosophie" zu verstehen gewesen. Nein, sicher nicht. Aber was war es dann? Auch eine Geschichts-Philosophie? Die Parallelen bleiben in der Kehre. Das „Wesen des Seyns" kann nur geschichdich begriffen werden, doch diese Geschichte darf nicht auf einen „Geschichtsbegriff' gebracht werden. Es gibt einen kaum aussagbaren „Ab-Grund der Geschichte", aus dem die Wahrheit des Seins emaniert. Der Weg zum Wesen der Geschichte ist aus der Wesung des Seyns selbst begriffen, ist 'fundamentalontologisch' vorbereitet durch die Gründung der Geschichdichkeit auf die Zeidichkeit. (Beiträge, 33)
Also werden wir es auch hier mit einer „Zeitlichkeit" zu tun bekommen, die von den Kategorien der Geschichtsphilosophie, ja selbst von den Existenzialien von Sein und Zeit sich abgelöst hat. Dieser „ursprüngliche Begriff der Geschichte" ist als Überbietung aller Denkfiguren der Geschichtsphilosophie eingeführt. Ich hatte oben gesagt: Das Proprium der klassischen Geschichtsphilosophie besteht in Denkfiguren wie ,List der Vernunft', die besagen, dass Geschichte mehr sei als intentionales Handeln. Heidegger setzt hier seine Überbietung an: mit dieser „ursprünglichen Geschichte" ist ein „Bereich gewonnen, in dem sich zeigt, warum und wie Geschichte ,mehr' ist als Tat und Wille. Auch ,Schicksal' gehört zur Geschichte und erschöpft nicht ihr Wesen." Dass Geschichte mehr ist als „Tat und Wille" ist trivial und mag zugleich als Kritik am Nationalsozialismus gelesen werden - dass aber auch sein eigener vormaliger Begriff des „Schicksals" unter die Räder kommt, das ist bedeutsam. Was ist dieses Andere der „Geschichte des Seyns"? Vielleicht hilft es weiter, sich einige seiner Bemerkungen zu Hegel anzusehen. „Hegels Systematik in den beherrschenden Blick bringen, und doch ganz entgegengesetzt denken." (Beiträge, 176) Dann: Hegels „aus seinem Fragen gesehene Geschichte der Philosophie war die erste philosophische Geschichte der Philosophie, die erste angemessene Geschichtsbefragung, aber auch die letzte und letztmögliche zugleich dieser Art." (Beiträge, 214) Was heißt das? Das heißt zunächst, dass Heidegger in seiner „Geschichte des Seyns" sich an Hegel orientiert — und zwar an der Geschichte der Philosophie, nicht etwa an der Philosophie der Geschichte. Der lange Abschnitt 259 Die Philosophie gibt eine Vorstellung von der Heideggerschen Philosophiegeschichte als der Geschichte des Seyns. Die zentrale Zäsur ist der Übergang von der vormaligen Metaphysik (der Frage nach dem Sein des Seienden), die immer vom Seienden ausgeht, um dann zu fragen „was es sei". (Beiträge, 424f.) Die noch erst zu gründende neue „Metaphysik" fragt nicht mehr vom „Seienden" her, sondern sie er-fragt die „Wahrheit des Seyns". Das Seyn muss „er-dacht" werden. (Beiträge, 428, 265) In der Mitte zwischen diesen bei-
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den Extremen liegt noch einmal Hegel. Hat nicht bei ihm das Seiende schon seinen Vorrang vor dem Sein verloren, wenn man jeden sinnlichen Gegenstand als die Verwirklichung des Absoluten Geistes denken muss?75 Hier liefert Heidegger eine Kritik an Hegel, die von der Marxschen nicht so verschieden ist. Marx hatte Hegel vorgeworfen, dass er es nur zu „ A l l e g o r i e n " bringt, d.h. zu einer scheinhaften Vermittlung von Empirie und Geist. Die Empirie erscheint als das Gefäß des Geistes, der Geist hat aber keine anderen „Gefäße" zu Verfügung, als die gerade existierende Empirie. 76 Nicht viel anders urteilt Heidegger; der absolute Idealismus löse die Gegenständlichkeit nur zum Schein auf, um desto gewisser die Vormacht des Seienden zu behaupten. 77 Aber waren nicht gerade darum die Kämpfe der Junghegelianer gegangen, wobei immer Nietzsche als zu spät gekommener Junghegelianer mitzurechnen ist, der den von Löwith konstatierten Bruch im Dénken des 19. Jahrhunderts mitträgt? Und hatte nicht der Junghegelianer Karl Marx gegen seine vormaligen Gefährten die Konsequenz gezogen, die Vormacht des Seienden nicht mehr unter dem Schein der Idee zu verbergen, sondern sie wirklich und schamlos absolut zu setzen? Diese absolute Schamlosigkeit führte in den Kapitalbegriff. An genau diesem Punkt geht Heidegger den anderen Weg. Hegels Fehler war die Vermittlung von Geist und Welt gewesen - eigentlich ein christliches Motiv. Heidegger nimmt die Geisthaftigkeit der Welt wieder zurück. Deren „Geschichte" setzt er eine andere entgegen, die mit der „vulgären" Geschichte nicht mehr vermengt ist. Frei nach Sigmund Freud könnte man sagen: Heidegger nimmt eine Entmischung8 vor, weil er es in der Vermischung nicht aushält. Denn nicht zufällig folgt auf diesen Abschnitt „Das Riesenhafte", dessen wesentliche Bestimmung eine posthistoire etwa wie Gehlen umschreibt: Das Riesenhafte der Verlangsamung der Geschichte (des Ausbleibens wesentlicher Entscheidungen bis zur Geschichtslosigkeit) im Schein der Schnelligkeit und Lenkbarkeit der historischen' Entwicklung und ihrer Vorwegnahmen. (Beiträge,
441) Eben das ist die Gegenwelt der Geschichte des Seyns. In dieser Geschichte ereignet sich nichts, dafür ist die Geschichte weit-geschichtlich. In Heideggers
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Vgl. Beiträge, 426. — Hegels Satz: „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt" besagt ja, dass das Bekannte erst erkannt werden kann, wenn es in den Gang des Geistes eingestellt ist. D a n n aber hat es seine Eigenständigkeit als „Seiendes" schon verloren. Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 25), 28.
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Marx: M E W (Anm. 22) Bd. 1. Z u r Kritik des Hegeischen Staatsrechts, 206 -210. „Jede Gegenständlichkeit, jede Stufe derselben ist zwar aus der absoluten bestimmt. Allein, die Gegenständlichkeit als solche ist schon ihrem Wesen nach, von ihrer seinsgeschichtlichen H e r k u n f t ganz zu schweigen, nicht nur auf den Gegenstand bezogen, sondern vom Gegenstand her als einer bestimmten Auslegung des Seienden auf G r u n d des Ausgehens von diesem auch bestimmt." (Beiträge, 427).
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Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Bd. 13. Das Ich und das Es. Frankfurt: Fischer 1963ff., 269f.
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„seynsgeschichtlicher Erfragung des Seyns" ereignet sich zwar das Ereignis, es bleibt aber umgekehrt der Geschichtsbegriff ein Mysterium. Er ist keine geschichtsphilosophische Vermittlung mehr wie bei Hegel, aber auch nichts von dem, was wir als .Geschichte' bezeichnen würden. Das ist für Heidegger „Historie". Heidegger liefert eine Geschichtstheologie, die den klugen Grundzug guter Geschichtstheologien sich bewahrt hat: sie lässt sich nicht zu präzise auf ihren Verwirklichungsort in der Geschichte ein, sondern verbleibt in einer schwebenden Parallelaktion.79 In dieser Ortlosigkeit liegt auch ihre Überbietung. War die klassische Geschichtsphilosophie schon eine Begnadigung der Geschichte, so haben wir es hier - nach ihrem Scheitern - mit dem ,Er-denken' einer geschichtsjenseitig zu denkenden Begnadigung zu tun, die sich als Reminiszenz des vormaligen Scheiterns aber noch als .Geschichte' bezeichnet.
V. Der T r i u m p h des § 27 und die Universalisierung der Entfremdung Wenn Heidegger in seiner Metaphysikvorlesung von 1935 gegen die Theologen stichelt, dann wirft er ihnen vor, dass sie nicht eigentlich mehr fragen können, weil sie auf ihr Fragen bereits die geoffenbarte Antwort wissen, und nur noch „so tun als ob".80 Hat er sich nun mit der Kehre selbst in diese Position gebracht? Hat er eine Antwort gegeben, oder hat er eine gnostisch schillernde Frage offengehalten? Zunächst ein radikaler Schnitt: Wir gehen auf Sein und Zeit zurück und klammern aus, ob und wie weit die Kehre zu Zeit und Sein schon vorgedacht war.81 Der § 27, vorbereitet durch die Frage nach dem „wer" in der „Alltäglichkeit des Daseins" (SuZ, 114, 128) und durch den § 38 {Das Verfallen und die Geworfenheit) überleitend in die „Sorge als Sein des Daseins" ist einer der Höhepunkte der Heideggerschen Zivilisationskritik und zugleich ein zentraler Bereich seiner Entfremdungstheorie.82 Das Vokabular des § 27 scheint vordergründig Allgemeingut der heroischen Modernd zu sein. Schon der Begriff der ,Abständigkeit" (SuZ, 126), der - ob intendiert oder nicht - eine gewisse Nähe zu Kants Begriff der „ungeselligen Geselligkeit" hat,84 zeigt aber, dass es hier um eine kritische 79 80 81
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Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart: Kohlhammer 1953, 159. Heidegger: Metaphysik (Anm. 57), 5. So heißt es aus der Sicht der Beiträge: „In Sein und Zeit erstmals begriffen als .Seinsverständnis', wobei Verstehen als Entwurf zu fassen und die Entwerfung als geworfine und das will sagen zugehörig der Er-eignung durch das Seyn selbst." (Beiträge, 252). Vgl. dazu Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. München: dtv 1988, 117ff. Mit dem Begriff „heroische Moderne" bezeichne ich eine spezifische Haltung zur Geschichte seit Nietzsche. Ihr geht eine evolutive und eine Stabilisierungsmodeme voran. Mit diesem in sich abgestuften Modell einer .Moderne' versuche ich die Zeit zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert zu kennzeichnen. Vgl. dazu Heinz Dieter Kittsteiner: Die Stufen der Moderne. In: Johannes Rohbeck (Hrsg.): Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, 91-117. Vgl. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (Anm. 72).
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Analyse der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt geht. Der Unterschied ist allerdings beträchtlich: bei Kant ist die „ungesellige Geselligkeit" der Motor des Fortschritts, der noch von den Subjekten und ihrem Verhalten her gedachte Vorläufer der Marxschen Formel G-W-G'. Bei Heidegger ist das „Man" die lähmende Diktatur der Durchschnittlichkeit, die „Einebnung aller Seinsmöglichkeiten". Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren die „Öffentlichkeit".85 Ich führe das Vokabular kurz an: Alles wird geglättet, alles Erkämpfte wird handlich, jedes Geheimnis verliert seine Kraft. Nichteingehen auf die .Sache', alle Unterschiede werden nivelliert. Das Man - überall dabei und überall davongeschlichen. Seinsentlastung. Leichtnehmen und Leichtmachen. Das Man-Selbst, die Zerstreuung. Doch dann die Warnung: Diese Seinsart des Dasein ist nicht etwa Nichts, sie ist ein „ens realissimum", und, wie gesagt: „Das Man ist ein Existenzial und gehört ah ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins." (SuZ, 128f.) Bestätigungen dieser Art ziehen sich quer durch Sein und Zeit. Der alltäglichen Ausgelegtheit des Daseins vermag sich niemand zu entziehen.86 Das durch die existenziale Struktur des Gewissens bezeugte eigentliche Seinkönnen vermag die Herrschaft der „Unentschlossenheit des Man" nicht zu beseitigen — sie begnügt sich in Lutherischer Wendung damit, dass es die „entschlossene Existenz" nicht anzufechten vermag.87 Schließlich komme das Dasein nie „hinter seine Geworfenheit zurück".88 Resümiert man all das, wird es um so bedauerlicher, dass Heidegger vor einer existenzialontologischen Analyse der ,WeltGeschichte' haltgemacht hat. Es zeigt sich aber auch das Große am § 27, vielleicht sogar an Sein und Zeit insgesamt. Diese Größe des philosophischen Entwurfs besteht darin, dass Heidegger das Phänomen der .Entfremdung' universalisiert hat. Das wird deutlich, wenn man es mit Geschichte und Klassenbewußtsein vergleicht. Dort ist in einer eleganten und sehr pointierten philosophischen Zumutung die „Entfremdung" ein letztes Mal als das Erkenntnisprivileg einer bestimmten Klasse dargestellt.89 Inzwischen fühlt sich aber nicht nur die Arbeiterklasse, sondern auch das gebildete Bürgertum in seinem Mit-Sein mit Anderen entfremdet. Man mag einwenden, das sei spätestens seit Schopenhauer und Nietzsche so; man sollte aber nicht vergessen, dass gerade Nietzsche in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg schon als ein bereits veralteter Romantiker galt, so bei Spengler, so bei Ernst Jünger. Seine Botschaft musste
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Vgl. SuZ, 127. Vgl. ebd., 169. Vgl. ebd., 299. „Grund-seiend, das heißt als geworfenes existierend, bleibt das Dasein ständig hinter seinen Möglichkeiten zurück." (SuZ, 284, 323). Das „Bewußtsein des Proletariats" sollte zum „Bewußtsein des Prozesses selbst" und damit das Proletariat zum „identischen Subjekt-Objekt der Geschichte" werden. (Georg Lukács: Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats. In: Ders.: Geschichte und Klassenbewußtsein. Berlin: Malik 1923, 216).
Marx in der Kehre Heideggen
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wieder-geholt werden und Heidegger ist ihr Prophet. Das „Dasein", dem es in seinem Sein „um dieses Sein selbst geht" (SuZ, 12) ist klassenspezifisch neutral. Das leuchtete ein. Man musste sich als Intellektueller nicht mehr der Arbeiterbewegung anschließen; denn das erforderte in der zweiten Hälfte der 20er Jahre zunehmend ein sacrificium intellectus, denn die SPD war seit 1914 und dann vor allem seit 1918/19 diskreditiert, und die KPD erging sich im Stalinismus und schloss ihre Intellektuellen aus.90 Die Entfremdung ist universal - und der Gehalt des § 27 ist es ebenfalls. Zusammen mit der Marxschen Analyse der Weltgeschichte als einer Bewegung von Dingen kann er als eine neue Grundlage der Kritik des globalisierten Kapitalismus dienen. Dabei würde sich allerdings zeigen, dass die Ausgänge aus dem § 27 heute nicht mehr gangbar sind. Der historische Heidegger suchte einen Ausweg, aber dessen Stationen verbleiben in einer .Haltung' oder sie führten in die politische Irre. Denn auf der Ebene von Sein und Zeit vermochte bekanntlich die existenziale Analyse nicht zu erörtern, „wozu sich das Dasein je faktisch entschließt"91 und als Heidegger eine Möglichkeit für ein nicht-entfremdetes Dasein im Rahmen des „Volkes" zu sehen glaubte, war es — wie er bald einsehen musste — die falsche. Was blieb, war eine esoterische Geschichte des Seyns, die sich, wie wir uns bemüht haben zu zeigen, von der exoterischen Geschichte abgekoppelt hat.92 Dem § 27 wohnt eine eigenartige Ambivalenz inne: Einerseits betont Heidegger, dass das „eigentliche Selbstsein" nicht auf einem „vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts" sondern auf einer „existenziellen Modifikation des Man ab eines wesenhaften Existenzials" beruhe. (SuZ, 130) An anderen Stellen bestimmt er umgekehrt das Man-Selbst als „eine existenzielle Modifikation des eigentlichen Selbst". (SuZ, 317) Man mag darin einen Vorverweis auf die „Kehre" sehen, die Ausführungen aus dem § 64 fuhren aber nur in die Entschlossenheit als „Ständigkeit des Selbst" gegenüber dem unentschlossenen Verfallen.93 Ich möchte an diese Ambivalenz eine andere Frage richten, die sich verschärft, wenn man Marx in die Kehre einsetzt: Bis zu welchem Grad ist ein Ausgang aus dem „Verfallen" überhaupt denkbar? Das setzt zunächst voraus, dass man bei Heidegger auf die Position von Sein und Zeit zurückgeht, und die „Kehre" kritisch befragt.
l>0
So z.B. Karl Korech. Lukács hielt sich seit 1924 nur noch mit großen Verrenkungen.
91
Vgl. SuZ, 383. - Heidegger wirkte zunächst auf die Studenten durch den Appell an das bloße Wollen. „Erst später wurde uns klar, daß dieses Eine eigendich nichts war, eine pure Entschlossenheit, von der nicht feststand, wozu? ,Ich bin entschlossen, nur weiß ich nicht wozu', hieß der treffliche Witz, den ein Student eines Tages erfand." Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Stuttgart: Metzler 1983, 29.
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„Das Seyn als Er-Eignis ist die Geschichte; von hier aus muß deren Wesen, unabhängig von der Werdens- und Entwicklungsvorstellung, unabhängig von der historischen Betrachtung und Erklärung bestimmt werden." (Beiträge, 494). Vgl. Beiträge, 322.
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Heinz Dieter Kittsteiner
Ich hatte versucht auszuführen, dass ich Heideggers „Kehre" unter geschichtsphilosophischem Aspekt als eine Wiederholung der schützenden Einhüllung des Subjekts in den Gang des „Geistes" betrachte - nun allerdings unter der Erschwerung, dass Hegels Lösung nicht mehr möglich ist. Mein Eindruck war, dass Heidegger in dieser Wiederholung nichts anders übrig bleibt, als eine .Geschichte des Seyns* zu konstruieren, die starke Annäherungen an eine Geschichtstheologie zeigt. Dem würde zumindest die These von Karl Löwith kontradiktorisch entsprechen, dass überhaupt nur eine jüdische Theologie der Geschichte „möglich und innerlich notwendig ist, während eine chrisdiche Geschichtsphilosophie ein künstliches Gebilde darstellt." 54 Aus dem künsdichen Gebilde der christlichen Geschichtsphilosophie will Heidegger heraus - wo aber will er hin? Seine Rede vom „letzten Gott" und seinem Vorbeigang im „Ereignis" gäben darauf einen Wink. „Die Vorbereitung des Erscheinens des letzten Gottes ist das äußerste Wagnis der Wahrheit des Seyns, kraft deren allein die Wiederbringung des Seienden dem Menschen glückt." (Beiträge, 411) Zugleich aber hatte sich diese — NB: synergistische — Geschichtstheologie des „Seyns" von der realen Geschichte abgekoppelt, so dass mit einer Epiphanie des „Ereignisses" im Rahmen der „Historie" nicht gerechnet werden kann. Es bliebe dann kein anderer Ausweg, als letztlich Heideggers „Kehre" mit Kant zu erklären, und das „Ereignis" als regulative Idee zu betrachten. Sie wäre von keinem „konstitutiven Gebrauch", sondern nur ein oberster Gesichtspunkt der Erfassung des Seins im Ganzen. 95 Für Heideggers andere Form der Geschichtstheologie würde dann gelten, was fur die klassische Geschichtsphilosophie gesagt werden kann, sofern auch sie eine Form der Metaphysik ist: Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.' 6
Dass Heidegger sich auf die Metaphysik als zur „Natur des Menschen" 97 gehörend beruft, würde dem nur korrespondieren. Das Verdienst der „Kehre" wäre es, diese Frage offen gehalten zu haben.
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Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen (Anm. 79), 179. Die Möglichkeit, nicht Kant mit Heidegger, sondern Heidegger mit Kant auszulegen, kann hier nicht näher erörtert werden. Sie würde darauf hinauslaufen, auch Heideggers „Verwindung der Metaphysik" noch als eine Form der Metaphysik im Kantischen Sinne zu betrachten. Kant: Kritik der reinen Vernunft. (Anm. 46), VII. „Die Metaphysik gehört zur ,Natur des Menschen'. Sie ist weder ein Fach der Schulphilosophie, noch ein Feld willkürlicher Einfalle - sie ist das Grundgeschehen im und als Dasein selbst." Heidegger: Was ist Metaphysik? (Anm. 63), 28.
T H O M A S Κ. W O L F
Leben in Geschichte(n). Zur Hermeneutik des historisch-narrativen Subjekts Und dennoch, in der Tat gälte es nur, den Faden an einer beliebigen Stelle aus dem Geweb' des Lebens zu ziehen, und er liefe durchs Ganze, und in der nun breiteren offenen Bahn würden auch die anderen, sich ablösend, einzelweis sichtbar. Denn im kleinsten Ausschnitte jeder Lebensgeschichte ist deren Ganzes enthalten, ja man möchte sagen dürfen: in jedem einzelnen Augenblicke steckt es, sei's nun, daß Wollust, Verzweiflung, Langeweile oder Triumph den, gleichwie bei einem Bagger, herankommenden und vorübergleitenden Eimer der tickenden Sekunde füllen.1
Die Frage nach .Leben' und .Geschichte' steht immer dann im Mittelpunkt interpretativer Aufmerksamkeit, wenn die externen Maßstäbe kultureller Orientierung in eine Krise geraten, und ein Bedürfnis nach interner Kohärenz sichtbar zu werden beginnt. Mit Friedrich Nietzsches ganz und gar nicht unzeitgemäßer Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben aus dem Jahre 1874 lässt sich daher der Auftakt für eine Auseinandersetzung markieren, deren wissenschafts- und kulturkritische Auswirkungen unter veränderten Vorzeichen bis heute spürbar sind. In dieser so wirkungsmächtigen wie missverständlichen Abhandlung hat Nietzsche der „historischen Krankheit" seiner Zeit eine „ Gesundheitslehre des Lebens" entgegen zu stellen versucht bzw. einem hypertrophen .Erinnern' das horizontbildende .Vergessen' als Therapie empfohlen, um eine historistische Nivellierung heterogener Identitätsstiftung zu vermeiden.2 Damit sollte jedoch
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Heimito von Doderen Die Dämonen. Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1985 [1956], 11. Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie fur das Leben. In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, 243-334, 329ff.
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Thomas R. Wolf
keineswegs nur das vermeintlich wilde Leben gegen eine wissenschaftlich gebändigte Geschichte ausgespielt werden, sondern es geht ihm vielmehr darum, „sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen", d.h. es bedarf für Nietzsche zwar noch eines un- bzw. «¿^historischen Korrektivs als Kriterium einer lebensdienlichen Geschichtsschreibung, doch muss letztlich „die Historie [...] das Problem der Historie selbst auflösen, das Wissen [...] seinen Stachel gegen sich selbst kehren", 3 um das moderne Individuum als eine spezifische Konstellation von ,Leben' und .Geschichte' zu konstituieren: so korrespondiert der Subjektivierung der Historie vom Standpunkt des eigenen Lebens aus umgekehrt eine Historisierung des Subjekts, das sich im Prozess seines Lebens aber nicht nur als Produkt, sondern auch als Projekt zu identifizieren hat. 4 Im Zuge einer durch die ökonomisch-politischen und wissenschaftlichtechnologischen Umwälzungen des letzten Jahrhunderts in allen Lebensbereichen spürbaren Pluralisierung individueller und kollektiver Identitätsbildung werden daher beide Konzepte wie auch das Kompositum .Lebensgeschichte' zunehmend stärker in den kulturwissenschaftlichen und phihsophischen Diskussionen beachtet.5 Nach dem Abschied von den großen .Erzählungen' geht es nunmehr allenthalben um eine wechselseitige Anerkennung heterogener Lebensformen und ihrer kleinen .Geschichten', ohne diese aber einer substanzialistischen oder teleologischen Zentralperspektive unterordnen zu können. Paradoxerweise scheint dabei der Streit um den „Tod des Subjekts" (Foucault) oder das „Ende der Geschichte" (Fukuyama) geradezu dialektisch in einer vielschichtigen und verwirrenden Debatte um die .Narrativitat' aufgehoben, die einerseits für die Frage nach der personalen Identität, andererseits mit Blick auf eine Theorie der Historiographie eine entscheidende Rolle gespielt hat; - und sich bereits im Zwischenreich lebensweltlicher Erfahrung als temporal strukturierte Einheit von Erleben und Erzählen artikuliert.6 Darüber hinaus lässt sich in diesem subjektivitäts- bzw. wissenschafts-
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Ebd., 306. - Vgl. hierzu auch demnächst meinen Beitrag: Die Gewalt des Gedenkens. Erinnern und Vergessen bei Nietzsche und Heidegger. In: Christian Lötz et al. (Hrsg.): Erinnerung. Philosophische Perspektiven und Probleme. München: Fink (in Vorbereitung).
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In diesem Sinne bezieht Foucault eine .kritische' Historie zu Recht auf Nietzsches spätere .Genealogie', für die nicht die Frage nach dem Ursprung, sondern nach der Herkunft konstitutiv ist, und mit dem Erkenntnisj«¿/>¿í keineswegs auch die Si/feterfahrung destmiert wird. Vgl. Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Ders.: Von der Subversion des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982 [1974], 83-109, 96ff. Aus der umfangreichen Literatur vgl. etwa die Publikationen von Liszló Tengelyi: Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte (= Übergänge. 33). München: Fink 1998, und Dieter Thomä: Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem. München: Beck 1998. Zu diesem Problemkomplex vgl. die grundlegenden Arbeiten von Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper 1981 [1958], 171ff.; David Carr: Time, Narrative, and History. Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1991 [1986]; Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974 [1965]; Louis O. Mink: Historical Understanding. Ithaca (N.Y.)/London: Cornell University Press 1987; Alasdair Maclntyre: Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart (= Theorie und Gesellschaft. 5).
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Leben in Geschichte(n)
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theoretischen Kontext auch die praktische Frage nach einer unverzichtbar gewordenen Vermittlung von individuellem Selbstverständnis und kulturellem Weltverhältnis formulieren, das als offener Horizont des Wissens und Handelns zugleich den quasi-transzendentalen Hintergrund für moralische Konzepte wie .Verpflichtung' oder .Verantwortung' umfasst.7 Oder anders gesagt: Zwar konstituiert sich das Subjekt nur noch über seine Geschichte(n), doch bezieht sich Geschichte im engeren und strengeren Sinne wiederum auf interagierende Subjekte und ihre Verbindlichkeiten, sonst bleibt es beim bloßen Geschehen bzw. natürlichen Vorgang, wodurch jegliche Geltung auf ihre Genese - oder gegenwärtig nicht selten sogar auf Genetik - reduziert zu werden droht. Der .Zusammenhang des Lebens' ist demgegenüber zum Synonym für die hermeneutische Alternative einer Wechselwirkung von Subjektivität und Historizität im .nachmetaphysischen' Zeitalter geworden, deren prägnanteste Positionen im Folgenden einer idealtypischen ReLektüre zu unterziehen sind, um sowohl ihre unbestreitbare Ambivalenz als auch die ungebrochene Aktualität im Sinne eines argumentativen ,Artikulations¿/rwc£f' bzw. .ArtikulationsraAwzf/w' gegenwärtiger Auseinandersetzungen rekonstruieren zu können.8 Historisch und systematisch betrachtet, war es zuerst Wilhelm Dilthey, der mit und gegen Nietzsche eine hermeneutische Philosophie des Lebens zur Grundlegung der Geisteswissenschaften konzipiert hat, indem er ein substanzielles in ein kontextuelles Selbst zu transformieren suchte, das sich nur aus seiner Geschichte versteht (Abs. I). Gegenüber einer vermeintlich noch einseitig erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch präformierten Interpretation historischer Objektivationen klagt Martin Heidegger jedoch das primäre Verstehen unserer selbst als Vollzugsbedingung des Auslegens ein, das sich die Vergangenheit als Möglichkeit des Handelns durch eine .Destruktion' überkommenen Wissens aneignet. Dabei gerät jedoch die emanzipatorische Dezision zum endlich-,eigentlichen' Dasein in das existenzielle Dilemma einer Isolation gegenüber der als .uneigentlich' denunzierten Kultur, deren Rehabilitierung als geschlossene .Schicksalsgemeinschaft' aus methodischen und moralischen Gründen fraglich bleibt (Abs. II). Der narrative Rückgang von Wilhelm Schapp sowohl hinter die objektive Geschichte als auch hinter eine ontologische Geschichtlichkeit auf die Verstrickung in eine Vielzahl von Geschichten als den offenen Sinnhorizonten fur Selbst- und Weltverständnis erweist sich daher als Antwort auf die von Dilthey und Heidegger eröffneten
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Frankfurt/New York: Campus 1987 [1981], 273ff.; Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. 3 Bde. (= Übergänge. 18). München: Fink 1988-91 [1983-1985]; ders.: Das Selbst als ein Anderer (= Übergänge. 26). München: Fink 1996 [1990]. Vgl. hierzu etwa Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, 15-204, besonders 94f. - Zum Problem der .Situierten Autonomie' bzw. .Agency' vgl. auch die Beiträge von H.-H. Kögler und S. Deines in diesem Band. Zur Einfuhrung der Begriffe vgl. Frithjof Rodi: Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, 15-30.
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Thomas R. Wolf
Perspektiven und deren Probleme, die es hinsichtlich ihres Ertrages für die Einheit menschlicher Selbsterfahrung in der Vielheit kultureller Sinnentwürfe kritisch zu prüfen gilt (Abs. III).9 I. Wie László Tengelyi im Anschluss an Ricoeur bemerkt, hat Dilthey hinsichtlich des ,Zwitterbegriffs' Lebensgeschichte noch nicht deudich zwischen ihrem zeitlichen Verlauf und einer erzählten Einheit unterschieden.10 Doch möge er gerade deshalb als Ausgangspunkt für eine problemgeschichtliche Rekonstruktion gewählt werden, da hier erstmals der Versuch einer systematischen Grundlegung der historischen Geisteswissenschaften im Ausgang vom Zusammenhang geschichtlichen Lebens in Angriff genommen wird, der mehrere Problemdimensionen in sich vereint: (a) In Abgrenzung von den Naturwissenschaften geht es Dilthey bekanntlich um eine verbindliche Begründung von praktischem Orientierungswissen, weshalb eine unreflektierte Übernahme der dort bewährten Epistemo- und Methodologie aufgrund ihrer unterschiedlichen Geltungsansprüche offenbar nicht gerechtfertigt ist: Denn während die Natur als Gegenstand einzelwissenschaftlicher Erklärung mittels hypothetischer Konstrukte auf bestimmte Kausalrelationen zurückgeführt und in elementare Prozesse zerlegt werden kann, erfolgt der Zugang zur Geschichte über die Teilnahme an Traditionen und Situationen, innerhalb derer sich handelnde Subjekte über ihre Ziele und Zwecke zu verständigen haben. Diltheys Projekt lässt sich daher in Gänze mit dem Schlagwort einer „Kritik der historischen Vernunft, d.h. des Vermögens des Menschen, sich selber und die von ihm geschaffene Gesellschaft und Geschichte zu erkennen" (GS I, 116), charakterisieren.1 * (b) Damit ist aber nicht nur eine Ergänzung, sondern zugleich die Erweiterung der kantisch-kritischen Fragestellung nach den Möglichkeitsbedingungen von Erfahrung in ihrer kognitiven, affektiven und voluntativen Dimension beabsichtigt, 9
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In eine ähnliche Richtung weisen bereits die Überlegungen von Ferdinand Fellmann: Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993, besonders 108ff.; 187ff.; 206fF. - Vgl. jetzt auch Burkhard Liebsch: Geschichte im Zeichen des Abschieds (= Übergänge. 30). München: Fink 1996; Hans-Helmuth Gander: Selbstverständnis und Lebenswelt. Grundzüge einer phänomenologischen Hermeneutik im Ausgang von Husserl und Heidegger (= Philosophische Abhandlungen. 80). Frankfurt a.M.: Klostermann 2001.
Vgl. Tengelyi: Zwitterbegriff (Anm. 5), 13; Ricoeur: Selbst (Aran. 6), 174. " Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Bernhard Groethuysen et. al. Stuttgart/Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1957, werden als GS abgekürzt und unter Angabe des jeweiligen Bandes im Text zitiert. - Zu dieser Debatte vgl. etwa Karl-Otto Apel: Diltheys Unterscheidung von .Erklären' und ,Verstehen' im Lichte der Problematik der modernen Wissenschaftstheorie. In: Ernst Wolfgang Orth (Hrsg.): Dilthey und die Philosophie der Gegenwart (= Sonderband der Phänomenologischen Forschungen). Freiburg/München: Alber 1985, 285-347.
Leben in Geschichte(n)
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die den transzendentalen Anspruch historisch und hermeneutisch transformiert: „Das Leben der Geschichte ergreift auch die scheinbar starren und toten Bedingungen, unter welchen wir denken." (GS XIX, 44) Von diesem dritten Weg zwischen Positivismus und Transzendentalphilosophie spricht Dilthey somit auch als „Empirie, nicht Empirismus" (GS XIX, 17) oder „Selbstbesinnung, im Gegensatz gegen Erkenntnistheorie" (GS XIX, 49). Denn im Unterschied zu jenen Positionen ist weder die faktische Reduktion der Erfahrung auf isolierte Empfindungsdaten, noch eine bloß formale Klassifikation empirischer Wissenschaften anvisiert, sondern eher eine ,proto-phänomenologische' Deskription im Sinne fundamentaler Einsichten in die prädiskursive Lebenstotalität, „welche der Erkenntnis sowohl der Natur als der geschichtlich gesellschaftlichen Welt zugrunde gelegt werden müssen." (GS I, 3)12 Diese „ganze, volle, unverstiimmelte Erfahrung" (GS I, 123) gilt es also anstelle abstrakter Elemente bzw. eines .blutleeren' Erkenntnissubjekts in den Blick zu nehmen, um die kategorialen Strukturen des Denkens und Erkennens aus dem Leben selbst zu begründen. Das eigene Selbst bezeichnet daher auch nicht mehr eine substanzielle Identität, sondern beschreibt eine kontextuelle Struktur personalen Lebens, die sich aus ihrer situationalen - d.h. einer sinnlichsinnhaften, somatisch-symbolischen - Verflechtung mit der Wirklichkeit erschließt.13 (c) Gegen Nietzsches angeblich noch ahistorischen Individualismus betont Dilthey damit aber das geschichtliche und gesellschaftliche Individuum als Fundament und Fokus historischer Erkenntnis: Alle letzten Fragen nach dem Wert der Geschichte haben schließlich ihre Lösung darin, daß der Mensch in ihr sich selbst erkennt. Nicht durch Introspektion erfassen wir die menschliche Natur. Dies war Nietzsches ungeheure Täuschung. Daher konnte er auch die Bedeutung der Geschichte nicht erfassen. (GS VII, 250)14
Die schwankende Stellung zwischen Psychologie und Hermeneutik hat gelegentlich dazu geführt, eine grundsätzliche Wende in das Spätwerk hinein zu lesen, doch handelt es sich hier eher um eine Komplementarität, die dem Verstehen individuellen und kulturellen Lebens Rechnung trägt.15 So geht es letztlich um den „Fortgang von der Selbstbesinnung zur Hermeneutik, von dieser zum Naturerkennen",
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Zu Diltheys ambivalentem Verhältnis zur Phänomenologie Edmund Husserls vgl. GS VII, 10, 14, 39ff., 237 und ihren kurzen Briefwechsel. In: Husserliana - Dokumente. Hrsg. von Elisabeth & Karl Schuhmann. Bd. III, 6. Philosophenbriefe. Dordrecht: Kluwer Academic Publishers 1994, 43-53. - Einschlägig dazu bereits Georg Misch: Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967 [1929].
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Vgl. hierzu besonders GS V, 90-138; GS XIX, 152ff. Ähnlich auch GS IV, 528f.; GS V, 370f.; GS VIII, 226. - Zu Konvergenzen und Divergenzen vgl. Werner Stegmaier: Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche (= Neue Studien zur Philosophie. 4). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1992.
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Vgl. GS V, 138-240, 317-331.
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Thomas R. Wolf
da der „bisherige Gegensatz zwischen Lebensphilosophie und psychologischer Wissenschaft aufgehoben werden muß, soll die zweite Wahrheit und volle Wirklichkeit, die erste aber Genauigkeit erhalten." (GS VIII, 174f.)16 Die einschlägigen Passagen zu diesem mehrdimensionalen Projekt finden sich vor allem in dem aus nachgelassenen Papieren zusammengestellten Band zum yA ufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften: Denn dort steht die paradigmatische Bedeutung der (Arno-)Biographie für ein Verständnis der Geschichte, und umgekehrt der Geschichte für das Verstehen unserer selbst im Vordergrund.17 Den Ausgang bildet hier der einzelne Lebensverlauf, der einen von Geburt und Tod umgrenzten Zusammenhang darstellt und in seiner Kontinuität und Komplexität direkt erfahren werden kann. Alle Handlungen und Entscheidungen stehen dabei in einem zeitlichen Konnex, der sich im Unterschied zu einer bloß linearen Abfolge als konkret erfüllter Vollzug aus erinnerter Vergangenheit, über erlebte Gegenwart in eine erwartete Zukunft hinein erstreckt und von beständiger .Korruptibilität', d.h. Vergänglichkeit bedroht ist.18 Hieraus erwächst auch die für Leben und Geschichte eigentümliche Kategorie der Bedeutung, durch die reflexiv aus äußeren Ereignissen innere Erfahrungen gewonnen werden, indem sich selektive Erlebniseinheiten der immanent-teleologischen Sinnstruktur personalen Lebens einschreiben. Den anderen beiden Zeitdimensionen entsprechen jeweils Wert und Zweck im Sinne der gegenwärtigen Gestaltung bzw. einer zukünftigen Entwicklung des Lebensprozesses. Der Paradoxie, erst das Ende des Lebens oder der Geschichte abwarten zu müssen, um ihnen abschließende Bedeutung zu verleihen, steht also die offene Perspektive ständiger Wiederaneignung des bereits Gewordenen gegenüber, um - wie es Dilthey einmal nennt: „mit dem Leben fertig zu werden." (GS VII, 74)19 So zeigt sich schon im psychischen Zusammenhang der hermeneutische Zirkel, der vom Einzelnen fort zum Ganzen und vom Ganzen zurück zum Einzelnen schreitet. Daher wird durch die Bedeutung zum einen der einzelne Lebenslauf bestimmt, zum anderen das „Neben- und Nacheinander von Lebensverläufen in der Geschichte" (GS VII, 73) beschrieben, indem ihre jeweilige Besonderheit differenziert und artikuliert werden kann, um sie schließlich aus einer Sphäre von Gemeinsamkeit zu interpretieren. Die Geisteswissenschaften sind so im Sf7-w¿íwrzusammenhang von Erlebnis, Ausdruck und
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Zum Vorwurf der Ambiguitäc zwischen ,Wissenschaftstheorie' und .Lebensphilosophie' bzw. .Positivismus' und .Historismus' vgl. aber Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik Tübingen: Mohr 1960, 218fF.; Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968, 178ff.
Vgl. GS VII, IX, 74, 191ff., 246ff.; - aber auch bereits GS I, 33; GS V, 10f„ 224f. Vgl. auch GS VIII, 80f.; GS XIX, 210ff. " Vgl. ebd., 140: „Von dem Gegenwärtigen aus durchlaufen wir rückwärts eine Reihe von Erinnerungen bis dahin, wo unser kleines ungefestigtes ungestaltetes Selbst sich in der Dämmerung verliert, und wir dringen vorwärts von dieser Gegenwart zu Möglichkeiten, die in ihr angelegt sind und vage, weite Dimensionen annehmen." — Zu dieser .Zweideutigkeit' im Lebenszusammenhang vgl. auch Liebsch: Geschichte (Anm. 9), l40ff.; Gander: Selbstverständnis (Anm. 9), 301f. 18
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Verstehen fundiert; - wie umgekehrt der Mensch sich selbst und Andere über gesellschaftliche Lebensäußerungen oder geistige Objektivationen innerhalb eines geschichtlichen W/r£«»g