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German Pages 598 [600] Year 2012
Oskar Reichmann Historische Lexikographie
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Christa Dürscheid Andreas Gardt Oskar Reichmann Stefan Sonderegger
111
De Gruyter
Oskar Reichmann
Historische Lexikographie Ideen, Verwirklichungen, Reflexionen an Beispielen des Deutschen, Niederländischen und Englischen
De Gruyter
ISBN 978-3-11-028255-9 e-ISBN 978-3-11-028269-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die hier vorgelegte Publikation hat eine längere Vorgeschichte. Seit etwa 15 Jahren geplant und vor rund 10 Jahren begonnen zog sich ihr Abschluss immer wieder hinaus. Die Gründe hierfür lagen in meiner beruflichen Tätigkeit (bis zur Emeritierung im Herbst 2005), in einer Reihe anderer Arbeiten, vor allem aber in meiner Selbstverpflichtung, jedes Jahr eine Lieferung des Frühneuhochdeutschen Wörterbuches (FWB) vorzulegen. Zum einführenden Verständnis des Buches seien meine Zielsetzungen kurz genannt: Ich wollte die zugleich wissenschaftliche (vor allem linguistische und philologische) wie kulturpädagogische Tätigkeit ‚historische Lexikographie‘ zunächst einmal in ihren gesellschaftlichen Einbindungen beschreiben. Folglich waren die Ideen und Interessen offenzulegen, die die deutsch-, niederländisch-, englischsprachigen Gesellschaften seit der Frühen Neuzeit veranlasst haben, Wörterbücher zu geschichtlichen Epochen, Autorwerken, Varianten (usw.) ihrer eigenen Sprache zu erarbeiten und damit historische Lexikographie zu ermöglichen. Ich wollte zum anderen die sprach- und geschichtstheoretischen Vorannahmen herausstellen, unter denen historische Lexikographie realisiert wurde. Ein drittes Anliegen zielte auf die Methoden, verstanden als die Gesamtheit des fachlichen Instrumentariums, mit dem man lexikographisch arbeitet. Man könnte diese drei ‚Gegenstände‘ als das ideologische, das sprachtheoretische und das methodische Anliegen historischer Lexikographie bezeichnen. Auf diese Anliegen habe ich mich strikt konzentriert. Sie können in ähnlicher Weise übrigens auch auf die Lexikographie gegenwärtiger Sprachen bezogen werden. Wenn ich meinen Ausführungen drei Lexikographien, diejenigen zum Deutschen, zum Niederländischen und zum Englischen, zugrundelege, dann hat dies den Grund, dass ich aus der üblichen einzelsprachzentrierten Betrachtung lexikographischer Tätigkeit ausbrechen und auf zumindest teileuropäische Zusammenhänge (Gemeinsamkeiten und Unterschiede) als kulturwissenschaftlichen Normalfall aufmerksam machen bzw. solche Zusammenhänge als Normalfall propagieren wollte. Drei Anliegen und drei lexikographische Traditionen in den Mittelpunkt eines Buches zu stellen, bedeutet dem Anspruch nach, dass die diesbezügli-
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chen Gewichte gleich verteilt und in jedem Kapitel bis in seine Einzelaussagen hinein kenntlich gemacht werden. Ich habe versucht, diesem Anspruch zumindest teilweise gerecht zu werden. Dementsprechend wurden alle zentralen Aussagen auf jede der drei Sprachen bezogen und mit Beispielen belegt. Dies schließt allerdings nicht aus, dass sich gewisse Schwerpunktsetzungen als arbeitstechnisch notwendig und auch als sinnvoll erwiesen. Die wichtigsten seien genannt: Der Lexikographie des Deutschen wurde mehr Raum als derjenigen des Niederländischen und Englischen, auch des Niederdeutschen, zugewiesen. Innerhalb des (Hoch)deutschen hat die per definitionem vergangenheitsbezogene Sprachstadienlexikographie eine höhere Gewichtung erfahren als die gegenwartsbezogene historische (diachrone) Lexikographie (selbst als das Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, DWB); Entsprechendes gilt mit Bezug auf das Niederländische und Englische. Des weiteren hat die Languelexikographie eine größere Beachtung gefunden als die Textlexikographie, darunter die Autorenlexikographie. Die semasiologisch orientierte Lexikographie wurde durchgehend höher gewichtet als die syntaktisch und morphologisch orientierte. Eine herausgehobene Rolle wurde dem Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (FWB) zugewiesen. Die einzelnen Gewichtungen zeigen sich wie folgt: Die Beispiele entstammen häufiger dem Deutschen als den beiden anderen Sprachen; als des Beispiels bedürftig erschienen mir eher semantische und pragmatische als grammatische Fragen. Die sog. Nennwortarten (vor allem Substantive) erhielten mehr Aufmerksamkeit als die Partikeln. Die Gründe für derartige Gewichtungen (man wird sie aus anderer Perspektive Lücken oder Schieflagen nennen) sind teils, aber nicht nur, persönlicher Art (z. B. hinsichtlich der Rolle des FWB). Sie ergeben sich teils aus meiner Eigenschaft als Germanist (nicht Nederlandist oder Anglist), teils aus dem vermutlich peripheren Interesse der sich sprachlich provinzialisierenden anglophonen Welt an einem Buch in deutscher Sprache und der dazu parallel laufenden Umorientierung der Niederländischsprachigen vom Deutschen (und Französischen) zum Englischen. Sie ergeben sich aber aus sprachtheoretischen Überlegungen (mit der Semantik im Mittelpunkt) sowie aus den Schwerpunkten der Lexikographie, vor allem der hohen Rolle der Languelexikographie und der Nennwortlexikographie vor der Partikel- und der Textlexikographie (wie bereits erwähnt), außerdem der Appellativlexikographie vor der Namenlexikographie. Dies alles bedeutet auch, dass ich Folgendes nicht leisten wollte: Ich wollte keine detailbezogene Geschichte der deutschen, niederländischen und englischen Lexikographie schreiben. Dem Aufbau des Buches liegen folgende Überlegungen zugrunde: Am Anfang steht die Lexikographie als eine von sprachlich und literarisch inter-
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essierten Gesellschaften gewünschte Aufbereitung der eigenen Vergangenheit zu Zwecken der Sinngebung für die Gegenwart (Teil A). Dazu braucht man Wörterbücher mit Kennzeichen, die den Anliegen der Gesellschaft Rechnung tragen, die den lexikographischen Auftrag erteilt (Teil B). Und man braucht Corpora, aus denen solche Wörterbücher über die Extrahierung von Belegen und die Interpretation von Wortvorkommen erarbeitet werden (Teil C). Danach setzt der eigentliche lexikographische Prozess ein; das ist die Gestaltung Hunderttausender von Wortartikeln mit großenteils mehreren Bedeutungsansätzen, die je nochmals weitere Informationspositionen aufweisen. Daraus ergibt sich der nicht nur umfänglichste, sondern zweifellos zentrale Teil (D) dieses Buches. In den einzelnen Kapiteln dieses Teiles werden die üblichen Produkte lexikographischer Arbeit, also die Wörterbuchartikel und ihre Bauteile (als Realisierung von Ideen; vgl. den Buchtitel) beschrieben, und zwar so, dass die ideologischen Voraussetzungen (eben die Ideen), die theoretischen Vorgaben und die Methoden historischer Lexikographie sichtbar werden. Außerdem erfolgt die kritische Reflexion unter Aspekten, die mir nach rund dreißigjähriger lexikographischer Erfahrung und der Abfassung von etwa 6000 Seiten eines Wörterbuches als relevant erscheinen. – Es folgt ein Teil E mit der bibliographischen Auflistung der im Buchtext genannten und derjenigen weiteren Publikationen, deren Lektüre im Zusammenhang mit den Themen des Buches steht. Hinsichtlich der technischen Einrichtung des Buches untergliedere ich nach Teilen (mittels Großbuchstaben, z. B. D), Kapiteln (mittels arabischer Zahlen, z. B. 7), Unterkapiteln teilweise bis dritter Ordnung (also z. B. 7. 5. 1). Innerhalb der Kapitel und Unterkapitel wird nochmals in Absätze, und zwar wiederum nach Zahlen, teilweise ebenfalls bis dritter Ordnung, gegliedert. In Einzelfällen erwies es sich sogar als unumgänglich, zusätzlich noch Punkte anzusetzen, die dann als (1) oder (a) oder gar als (1) mit dem Unterpunkt (a) erscheinen. Die Kombination von Buchstaben und Kapiteln (einschließlich der Unterkapitel) mit den Gliederungen innerhalb der (Unter-) kapitel (nach Absätzen, Punkten und Unterpunkten) würde zu Kombinationen wie D (Teil), 7. (Kapitel), 7. 5. 1 (Unterkapitel), anschließendem unterkapitelinternem 5. 2. 1 (Absatz), schließlich zu (1) und im Extremfall sogar zu (a) führen. Derartige Folgen von Gliederungsmarken sind nicht rezipierbar. Ich habe mich deshalb entschlossen, bei Verweisen – sie begegnen relativ zahlreich – generell wie folgt zu verfahren: Innerhalb jeder Gliederungseinheit (vom Teil bis zum Unterpunkt) wird nur auf die nächst über- oder nebengeordnete Einheit verwiesen. Bei Verweisen, die auf hierarchisch gleichrangige Einheiten (sog. Teile) zielen, wird dies selbstverständlich angegeben. Der Deutlichkeit halber heißt es dann z. B (fiktiv): vgl. Teil A,
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dort Kap. 3, Abs. 2. 1, Punkt (1). Im übrigen geben die lebenden Kolumnen die Gliederungseinheiten (Teil, Kapitel) an. Vorliegendes Buch stand von Anfang an unter dem Stern vieler Ermunterungen mit der Tendenz, dass man es dringend brauche, vieler interessierter Nachfragen, wann es denn nun endlich erscheine, einiger Aufrufe zu der Pflicht, dass ich es der Wissensgemeinschaft schuldig sei, vereinzelter heimlicher Zweifel, ob es denn überhaupt noch komme, teilweise auch des mitleidigen bis versteckt lächelnden Bedauerns darüber, dass man sein Emeritat dazu nutze, ein solches Buch zu schreiben. Aufmunterungen, Interesse und Pflichtaufrufe habe ich mit tiefer Dankbarkeit entgegengenommen, merkbare Zweifel als innere Anfechtung derjenigen interpretiert, die den Zweifel äußerten. Der Gleichmut des überzeugten Lexikographen hat es mir ermöglicht, dem, was ich für meine Pflicht hielt, nicht nur nachzukommen, sondern es jederzeit mit tiefer Freude tun zu können. Dass dazu ein Umfeld gehört, ist mir täglich bewusst und wird mir stets bewusst bleiben. Ich danke meinem engeren und weiteren Heidelberger Umfeld, dem Mitherausgeber und der Mitherausgeberin meines Wörterbuches, den Bearbeiterinnen und Bearbeitern einzelner Strecken des FWB, den verantwortlichen Trägern benachbarter und vergleichbarer Wörterbücher (insbesondere des Deutschen Rechtswörterbuches, der Neubearbeitung des Grimmschen Wörterbuches sowie der Leitung des Instituuts voor Nederlandse Lexicologie), den Herausgeberkollegen des Handbuches Wörterbücher, den Vertreterinnen und Vertretern des Verlages, mit denen bzw. mit dem mich einige Jahrzehnte enger Zusammenarbeit verbinden, der Herausgeberin und den Herausgebern der Reihe Studia Linguistica Germanica für die Aufnahme in die Reihe, ohne die zugehörige lange Namensliste anzuschließen. Eine Ausnahme liegt mir dennoch am Herzen: Ich danke meiner Frau, Anja Lobenstein-Reichmann, für ihr anhaltendes wissenschaftliches Interesse an meinem Buch und für das ungetrübte private Klima, das seine Abfassung nicht nur ermöglicht, sondern gefördert hat. Besonderer Dank gebührt schließlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die in den Jahren von 1990 bis 1998 die Zentralexzerption für das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch finanziell ermöglichte und das gesamte Unternehmen damit vor dem Untergang bewahrt hat. Die DFG genehmigte mir anschließend (zum Abschluss der Exzerption sowie zur Niederschrift des hier vorgelegten Buches) ein Forschungssemester.
Mauer bei Heidelberg, den 22. Mai 2011
Prof. Dr. Oskar Reichmann
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI A. Historische Lexikographie in gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenhängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Lexikographie als Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vergangenheitsbezogene und gegenwartsbezogene historische Lexikographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Produktion historischer Wörterbücher . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zur Rezeption historischer Wörterbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. 2. Benutzergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. 3. Mögliche Benutzungsanlässe und mögliche Benutzerfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Lexikographie in Diensten der Ideologie: Patriotische / nationale, bildungsbürgerliche und volkskundliche Zwecke historischer Wörterbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 16 25 49 49 51 54
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B. Zur Typologie historischer Wörterbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 1. Zur Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2. Vorschlag einer Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 C. Zum Corpus historischer Wörterbücher und zur Corpusexzerption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 1. Zum Corpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .103 2. Zur Corpusexzerption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information . . . . 1. Zum Rahmen der behandelten Gegenstände . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Lemmazeichen I: Probleme der Auswahl. . . . . . . . . . . . . . 3. Das Lemmazeichen II: seine Schreibgestalt . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Lemmazeichen III: seine Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Lemmazeichen IV: seine Schreibungen . . . . . . . . . . . . . . .
137 137 143 156 176 182
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Inhaltsverzeichnis
6. Wortbildungsvarianten, Flexionsmorphologie und Etymologie des Lemmazeichens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Zur Bedeutung des Lemmazeichens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. 2. Zur Gewinnung von Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. 3. Exkurs: Zur Abfassung eines Artikels am Beispiel frnhd. geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. 4. Zur Bedeutungserläuterung und -vermittlung I: Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. 5. Zur Bedeutungserläuterung und -vermittlung II: sprachliche Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. 5. 1. Die ‚einfache‘ und die ‚komplexe‘ Bedeutungserläuterung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. 5. 2. Die ‚synonymische‘ und die ‚phrastische‘ Bedeutungserläuterung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. 5. 3. Die ‚kompakte‘ und die ‚diffuse‘ Bedeutungserläuterung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. 6. Zur methodischen und theoretischen Begründung der Bedeutungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. 7. Zur Anordnung der Einzelbedeutungen . . . . . . . . . . . . . 7. 8. „Verschiedenes“ zur Wortbedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Lexikalische Symptomwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Zur onomasiologischen Vernetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Zu den Phrasemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Zu den Syntagmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Zu den Wortbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Zu den Belegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. 1. Allgemeine Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. 2. Versuch einer Belegtypologie und das Auswahlproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. 3. Nochmals: das Auswahlproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. 4: Zur Anordnung der Belege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Kommentare des Lexikographen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Häufigkeitsangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
191 211 211 218 255 278 286 286 302 321 329 341 366 369 379 404 412 432 472 472 493 501 511 523 535
E. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 1. Wörterbücher, Glossare, Indices, Bibliographien . . . . . . . . . . . 547 2. Monographien, Sammelbände, Abhandlungen . . . . . . . . . . . . . 559 F. Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579
Verzeichnis der Abbildungen Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19. Abb. 20:
Ausprägungen historischer Lexikographie . . . . . . . . . . . . . . 20 Das Ineinandergreifen semasiologischer und onomasiologischer Verfahren in der historischen Lexikographie . . . . 67 Typologische Klassifizierung relevanter historischer Wörterbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Die lexikographische Erkenntniskurve. . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Beispiel für ein Ausgabenglossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Corpusvermehrung über Verschiebebelege . . . . . . . . . . . . . 123 ‚Ideale‘ Anlage lexikographischer Karteikarten . . . . . . . . . 130 Logik der Anlage von Artikeln historischer Wörterbücher . 142 Der Anspruchsskopus der großen gesamtsprachlichen Wörterbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Priorisierte Gegenstandsbereiche gesamtsprachbezogener Wörterbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Das Vokalsystem des klassischen Mittelhochdeutschen . . . . 166 Das idealisierte Graphemsystem des Frühneuhochdeutschen am Beispiel der Konsonanten . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Der Artikel Gazelle als Beispiel für ein Fremdwörterbuch mit nicht indoeuropäischer Ausgangssprache . . . . . . . . . . . . 197 Etymologie in einem gegenwartsbezogenen historischen Wörterbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .198 Der Artikel geschichte im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Onomasiologische Felder zu Bedeutungsansätzen von frnhd. geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Syntagmen zu den Bedeutungsansätzen von frnhd. geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Mögliches Adressengefüge des historischen Bedeutungswörterbuches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Die Gewichtung begriffs- und anschauungsorientierter Teile der Bedeutungserläuterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Die Bedeutungsgliederung von Gewalt im Schweizerischen Idiotikon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
XII Abb. 21: Abb. 22: Abb. 23: Abb. 24: Abb. 25: Abb. 26: Abb. 27: Abb. 28: Abb. 29: Abb. 30: Abb. 31: Abb. 32: Abb. 33: Abb. 34: Abb. 35: Abb. 36: Abb. 37:
Verzeichnis der Abbildungen
Schema zur Erläuterung der Feldprobe. . . . . . . . . . . . . . . . . Onomasiologische Felder zu frnhd. arbeit. . . . . . . . . . . . . . . Die Gegensatzprobe: ein Beispiel zu ihrer Erläuterung . . . . Frnhd. abenteuer in idealtypischer hierarchischer Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Graphische Veranschaulichung des hierarchischen Gliederungsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textvernetzungen innerhalb einer Bedeutungsreihe . . . . . . Linien onomasiologischer Vernetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . Auszug aus einem (nicht publizierten) Fragment eines nhd. – frnhd. Synonymenwörterbuches . . . . . . . . . . . . Auschnitt aus dem Historical Thesaurus of the Oxford English Dictionary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Artikelaufbau von Wortfamilienwörterbüchern I: Althochdeutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Artikelaufbau von Wortfamilienwörterbüchern IIa: nhd. reiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Artikelaufbau von Wortfamilienwörterbüchern IIb: nhd. reizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Artikelaufbau von Wortfamilienwörterbüchern IIc: nhd. schlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Struktur des Wortbildungsfeldes im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch: gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Möglichkeiten der Beleganordnung I: Zeit-Raum-Anordnung (fiktiv). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Möglichkeiten der Beleganordnung II: Raum-ZeitAnordnung des Frühneuhochdeutschen Wörterbuches . . . . Möglichkeiten der Beleganordnung III: nach Textsortengruppen und Zeit (fiktiv) . . . . . . . . . . . . . . .
332 335 335 357 358 365 391 402 403 444 445 446 447 470 516 518 522
A. Historische Lexikographie in gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenhängen 1. Historische Lexikographie als Aufgabe 1. Kein Lexikograph kann seiner Praxis erfolgreich ohne die Überzeugung nachgehen, etwas gesellschaftlich Sinnvolles zu tun. Der Sinn, den er selbst sucht, schon um ihn an andere vermitteln zu können, ergibt sich einmal – wissenschaftspragmatisch – aus angenommenen Nachschlageanliegen potentieller Wörterbuchbenutzer, zum andern – wissenschaftsintern – aus der fortwährenden Reflexion über die ihm in seinem Corpus vorliegenden Belege sowie zum dritten – ideengeschichtlich – aus den außerlinguistisch in der Geistes-, Ideen-, Wissenschaftsgeschichte im Schwange befindlichen theoretischen Vorannahmen, Überzeugungen, Ideologemen, kulturpädagogischen Forderungen sowie schließlich – ganz praktisch – aus den Zielsetzungen1 seiner Auftraggeber und den Erwartungen der Gesellschaft. Der gute Praktiker gestaltet aus diesem Gebräu, das ihm vorgegeben ist, sowie aus seinem individuellen Wollen die Inhalte und die Motive seiner Praxis; und er sucht die Ergebnisse seiner Arbeit so vorzutragen, dass sie ihrerseits auf die Erwartungen einer Gesellschaft sowie auf seine eigenen theoretischen Reflexionen und Sinngebungen zurückwirken. Lexikographische Praxis, Philologie, Linguistik, Geschichtswissenschaft im jeweils weitesten Sinne dieser Ausdrücke und metalexikographische Reflexion gehen dabei Hand in Hand. Die Frage nach dem Mischungsverhältnis der genannten Disziplinen ist damit nur aufgeworfen, nicht beantwortet: Es soll z. B. gute Praktiker geben, die nie etwas von Theorie gehört haben;2 und es gibt zweifellos gute Theoretiker, die nie in der Praxis gestanden haben. Es gibt auch gute Philologen und Historiker, die sich nie über einen punktuellen Nachschlageanlass hinausgehend mit dem Tun von Lexikographen beschäftigt haben, und umgekehrt.
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Es handelt sich bei dieser Aufzählung nicht um scharfe Abgrenzungen, die ohnehin meist nicht auf die Erscheinungen anwendbar sind, sondern um einen allgemeinen Rahmen der im Spiel befindlichen Größen. So laut einer Aussage von F. de Tollenaere (1980, S. 21).
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A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen
Dass es mir mit diesem Buch allerdings nicht um eine Trennung, sondern um eine möglichst enge, auf Einsicht und Erkenntnisgewinn zielende Verbindung von Theorie und Praxis sowie von historischen (geschichtswissenschaftlichen) und sprachbezogenen (darunter literaturwissenschaftlichen) Fächern geht, dürfte einsichtig sein. – Der Untertitel des Buches spiegelt dieses Anliegen mit der Trias Ideen, Verwirklichungen und Reflexionen3. Mit Ideen und Verwirklichungen beziehe ich mich auf ‚Fakten‘ historischer Lexikographie: Wer hat wann ausgehend von welchen Quellen in welchen geschichtstypischen Zusammenhängen welchen Typ von Wörterbuch erarbeitet? Mit Reflexionen beziehe ich mich auf das Nachdenken und die Urteile des heutigen Lexikographen bzw. Metalexikographen über Wörterbücher sowie auf die Reflexion seiner eigenen geschichtstypischen Einbindung. Das Attribut historisch des Titels besagt, dass die Argumentation an lexikographischen Werken aus Geschichte und Gegenwart erfolgt, also an Wörterbüchern zu vergangenen Sprachstufen sowie an Wörterbüchern zur jeweiligen Gegenwart, sofern sie ihren Gegenstand unter eine historische Perspektive stellen. – Die im Untertitel aufscheinenden ‚Beispiele‘ (also nicht Aussagen zu Einzelfällen, sondern zu Erscheinungen, die für eine ganze Reihe von Fällen gelten) sollen das jeweils Gesagte veranschaulichen. – Dass die Beispiele drei Sprachen betreffen, hat den Zweck, kulturnationale Geleise der Lexikographie als einer Einzeldisziplin im Gesamtkanon geschichtsorientierter Fächer zumindest in teileuropäische Zusammenhänge – Parallelen wie Gegensätze – zu stellen. 2. Vorliegendes Buch kann nach dem Gesagten keine klare Grenze ziehen zwischen einerseits demjenigen, was man als abgesicherte theoretische Vorgabe zu bezeichnen und anzuerkennen gewohnt ist, und andererseits bestimmten, darunter persönlichen, Überzeugungen. Die wichtigsten dieser Vorgaben / Überzeugungen sind: (1) Der Wortschatz einer Sprache (oder einer ihrer Varietäten, Existenzformen, Textgruppen, eines Dichterwerkes, eines einzelnen Textes) ist Teil des Mediums, in dem Menschen sich auf Gegenstände, die ihnen relevant erscheinen, beziehen und die sie darstellen, in dem sich ihre Erkenntnis abspielt, in dem sie miteinander kommunizieren und in dem sie sich individuell und sozial zu erkennen geben. Üblicherweise spricht man im Hinblick auf diese Tätigkeit von der Darstellungs-, Erkenntnis-, Kommunikations-
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Diese Formulierung ist an O. Reichmann 1998 angelehnt; letztlich geht sie auf eine Anregung St. Sondereggers im Rahmen der Vorbesprechungen zur 2. Auflage des Handbuchs Sprachgeschichte zurück; vgl. St. Sonderegger bereits 1988; dort heißt es: „Sprachgeschichte als Idee und Verwirklichung“.
1. Historische Lexikographie als Aufgabe
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sowie Symptomfunktion der Sprache (usw.) bzw. von Sprache (usw.) als „Medium, Mittel, Instrument“ der Darstellung, der Erkenntnis, der Kommunikation sowie als Symptomträger der Menschen, die die Sprache sprechen und schreiben bzw. ihre Texte rezipieren. (2) Die lexikographische Befassung mit dem so aufgefassten Wortschatz ist eine Tätigkeit im Dienste verschiedener Zwecke. Diese Zwecke sind mindestens: die wissenschaftliche Erkenntnis des Gegenstandes ‚Wortschatz‘, die kulturpädagogische Vermittlung der Resultate dieser Erkenntnis, die praktische Hilfeleistung an diejenigen, die mit dem Wortschatz einer Sprache fragend oder gestaltend umgehen. (3) Speziell die historische Lexikographie öffnet den Zugang zum Verständnis geschichtlicher Sprachstände, damit der sprachlichen Überlieferung generell und historischer Einzeltexte im besonderen, über all dies zum Verständnis der historischen Gewordenheit heutiger Sprache und schließlich zum historischen Bewusstsein einer Gesellschaft, die sich (so jedenfalls innerhalb Europas) lange Zeit entscheidend über ihre Sprache und ihre Texte definiert hat, teilweise noch heute definiert und vermutlich4 weiterhin definieren wird. Im Hintergrund dieser Aussage stehen auch die neueren Theorien zum kulturellen Gedächtnis.5 Bezieht man diese Theorien auf die historische Lexikographie, wie sie in den vergangenen beiden Jahrhunderten motiviert war, so ist festzustellen: Wörterbücher sind nicht nur linguistische Fachbücher für einen kleinen Kreis von Spezialisten in einem Teilbereich der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften; sie sind vielmehr zugleich Handlungsinstrumente innerhalb des Prozesses der Bildung bzw. Verstärkung sprachhistorisch-textlich-literarisch bestimmter Kultur. Aufs engste damit verbunden: Sie sind Instrumente innerhalb des Aufbaus und der Begründung sich meist auch irgendwie sprachnational definierender staatlicher Einheiten, zur Formierung bildungssoziologischer Schichten und Gruppen sowie zur Schaffung bzw. Verstärkung regionaler Identitäten (Genaueres hierzu in Kap. 5). – Jede dieser Aussagen ist näher zu erläutern. 2. 1. Die Leistungen des Wortschatzes, wie soeben unter Abs. 2, Punkt (1) geschehen, mit den Ausdrücken Darstellung, Erkenntnis, Kommunika-
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Es handelt sich hier um eine Vorsichtsklausel, die zum Ausdruck bringen soll, dass verbunden mit dem möglicherweise bevorstehenden Ersatz der europäischen Kultursprachen durch ein zunächst fachsprachliches und danach ein in weitere Domänen übernommenes Englisch auch ganz andere, nichtsprachliche Identifizierungskriterien für Staaten als geschichtliche Handlungseinheiten relevant werden können. Erinnert sei hier – ohne dass auf Differenzierungen eingegangen werden könnte – an den Diskurskreis von A. Assmann, J. Assmann u. a.; vgl. auch: E. R. Kandel 2007.
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A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen
tion und Symptom zu fassen, ist in der Linguistik bis in die Einführungsbücher hinein üblich und sinnvoll.6 Gemeint ist damit Folgendes: (1) Wenn sich jemand sprachlich äußert, stellt er in der übergroßen Mehrzahl aller Fälle etwas dar, er äußert sich also über etwas. Dieses ‚Etwas‘ kann ein exophorisch (durch eine Zeigegebärde7) identifizierbarer singulärer Einzelgegenstand (z. B. ein Einzelmensch, ein bestimmter Baum), eine nicht zeigbare (gedachte) Klasse solcher Einzelgegenstände (also ‚der Mensch‘, ‚der Baum generell‘), ferner irgendetwas Soziales, Psychisches, Geistiges, Fiktionales (z. B. ‚Verstand‘, ‚Recht‘, ‚Gnade‘, eine ‚Beziehung‘) 8 sein. Es spielt dabei vorerst keine Rolle, ob das gemeinte Etwas auf den ersten Blick und einigermaßen unbestreitbar (wie man dann sagt: ‚real‘) vorhanden ist, so dass man sich nur darauf beziehen muss, oder ob man es problematisierend als ‚sprachlich verfasst‘, als irgendwie ‚gedacht‘ erkennt und dann unterstellt, dass es ‚Existenz‘ (welchen Status auch immer) hat. Unwichtig in vorliegendem Zusammenhang soll auch sein, ob man von den sprachlichen Ausdrücken, die die Äußerung über etwas ermöglichen, als einem Mittel oder Instrument spricht oder ob man andere, kompliziertere Redeweisen wählt. Entscheidend für ‚Darstellung‘ ist nur die Tatsache, das Sprechen fast immer ‚über etwas sprechen‘ heißt, und weiterhin, dass der Wortschatz (das Lexikon) dazu vorgeprägte Einheiten liefert, und zwar gleich mindestens um die Hunderttausend (oder auch sehr viel mehr) pro Sprache und jede Einheit in systematisch mehreren Bedeutungen.9
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Ich verweise auf die Tradition K. Bühlers (1934); vgl. als besonders relevant in der kritischen Vermittlung dieser Tradition: P. von Polenz 1974. Dass der Erfolg der Zeigegebärde seinerseits auf Voraussetzungen beruht, wird nicht bestritten. Dass bereits der Einzelmensch und Einzelbaum, erst recht ‚der Mensch‘ und ‚der Baum‘ nicht außerhalb sozialer Kategorisierungen stehen und somit etwas Soziales sind, ist offensichtlich. Für das DWB, WNT und schon für das alte OED 1928 (= NED) werden Zahlen in der Größenordnung von 400 000 Einheiten genannt. Die damit zustande kommende Menge von Bedeutungsansätzen liegt dann entsprechend höher. Wie immer man die im HTOED (2009, S. IX) angegebene Zahl von „797120 meanings“ mit den Bedeutungsansätzen der großen Wörterbücher in Bezug setzt: Mir scheint eine Eins-zu-Eins-Relationierung der Größenordnung nach durchaus möglich zu sein. Dies gilt erst recht für weitere Informationen. Die Zahl der Belegzitate des WNT, das hier als Beispiel angeführt sein mag, liegt bei 1, 7 Millionen. Neuere Zählungen von Wörtern, verstanden als Zusammenschreibungen, gehen in mehrere Millionen und sind bei geeigneter Corpusquantität weiter steigerbar. Mit einem vernünftigen Umfang des Lemmabestandes eines Wörterbuches haben diese Zahlen wenig zu tun, sie dienen offenbar großenteils auch der Schaffung des Eindrucks von Bedeutsamkeit. Im übrigen ist bei allen Zahlenangaben grundsätzlich zu fragen, ob man die Einheiten eines offenen Inventars (wie des Wortschatzes einer Sprache) und erst recht die Bedeutungsansätze überhaupt zählen kann.
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(2) Wenn sich jemand sprachlich über etwas äußert, äußert er sich immer auf eine bestimmte von mehreren möglichen Weisen. Da diese „möglichen Weisen“ höchstens in Grenzfällen kongruent sind, könnte man auch sagen: Er spricht seinen Gegenstand notwendigerweise unter einem bestimmten Aspekt, damit als etwas Besonderes, Eigenes an, als eine Größe, auf die andere Sprecher nur im Extremfall genau gleich, in der Regel leicht bis weitgehend unterschiedlich Bezug nehmen.10 In dem Maße nun, in dem der Gegenstand anders angesprochen wird, bringt man ihn als einen anderen in das jeweilige Sprachspiel ein, man konstituiert ihn – das heißt auch: man ontologisiert ihn – als einen anderen. So kann man einen Menschen einen Weißen oder einen Farbigen, einen Proleten oder einen Gebildeten nennen, eine kognitive Fähigkeit als Vernunft, Verstand, Intellekt, Klugheit, Weisheit, Geist, Witz ansprechen, eine Presseäußerung als Dummheit, Fehler, Missverständnis, Unwahrheit oder Lüge bezeichnen, auf eine bestimmte Menge Geld mittels Lohn, Gehalt, Einkommen, Gewinn, Profit Bezug nehmen. Und je nach dem, wie man sich angesichts dieser Möglichkeiten verhält, bringt man die gemeinte Bezugsperson bzw. -gegebenheit nicht nur als etwas je Anderes ins Spiel; und man konstituiert sie nicht nur als etwas Anderes, sondern man behandelt sie auch als etwas je Anderes. Jeder Sprecher, jede Sprechergruppe oder Sprecherschicht, jede Sprachvarietät (z. B. eine Mundart, eine Fachsprache), jede Sprache und jede kulturell zusammengehörige Gruppe von Sprachen (z. B. die Sprachen von Kultureuropa) kann bestimmte Möglichkeiten, Weisen des Sprechens über Gegenstände favorisieren und andere der Minderbeachtung, der Abwertung oder dem Vergessen anheimfallen lassen, und jeder Sprecher (bzw. seine Gruppe usw.) tut dies in der sprachlichen Handlungspraxis fortwährend: Man kann nicht nicht favorisieren, nicht nicht minder oder stärker beachten, auch nicht nicht ab- und aufwerten und nicht nicht vergessen bzw. behalten. Dabei können die angenommenen favorisierten Sprechweisen, indem sie gleichzeitig inhaltliche Klassifizierungen und Ontologisierungen sind, zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit ohne Bewusstsein einer Alternative werden. Sie tendieren dazu, mit zunehmender Verwendung Züge sozialer Verfassungskonstitute11 nicht hinterfragter Art mit allen Folgen hinsichtlich ihrer Gültigkeit und ihrer deontischen Handlungsaufladungen anzunehmen. In dem
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Zu der hier angesprochenen Perspektivität s. grundlegend W. Köller 2004. Zum Bestimmungswort -verfassung dieses Kompositums passt, dass im vorangehenden Abs. (1) der Ausdruck „sprachlich verfasst“ verwendet wurde; ähnliche Verwendungen begegnen auch weiterhin. Im übrigen wird mit dieser Metapher nur ein Vergleich mit nicht ausgesprochenem tertium comparationis vorgenommen, keine Gleichsetzung.
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A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen
Maße und mit der Konsequenz, mit der die Favorisierung erfolgt, entstehen Gestaltungen, Entwürfe, Ideologien, Sinnwelten einzeltextlicher, individueller, varietätenspezifischer, einzelsprachlicher oder die Einzelsprache übergreifender Provenienz (O. Reichmann 2004). Es ist dabei gleichgültig, ob man (realistisch formuliert) sagt: Das Weltbild drückt aus, spiegelt, reflektiert, bezeichnet Zugriffe von Menschen auf Realität, oder ob man (ebenfalls realistisch) vom Weltbild einer Varietät, Sprache12 als sozialhistorischem Apriori spricht bzw. ob man es gar (idealistisch) als Apriori in die Nähe des Transzendentalen rückt. Entscheidend ist vorerst, dass der Wortschatz einer der vornehmsten Träger solcher wie auch immer verstandener Gestaltungen (oft nennt man diese Weltbilder, Weltansichten, Weltanschauungen)13 ist. Er gibt damit jedem sprachlich Handelnden und jedem Rezipienten, jeder in eine Sprache hineinwachsenden und in ihr agierenden Generation wie jedem eine fachliche Varietät lernenden und benutzenden Einzelnen die Einheiten vor, in denen er den historisch und sozial üblichen Zugang zur Realität vollzieht, mit denen er Grundlinien seiner Erkenntnis zieht, gleichsam geschichts- und sozialtypische Erkenntniszuschnitte vornimmt. Inhaltseinheiten, die von der Mehrzahl der Angehörigen einer Sprachgesellschaft oder von deren Autoritäten14 getragen werden, gelten mit zunehmender Allgemeinheit und kultureller Anerkennung als unbezweifelbar, objektiv, den bezeichneten Wirklichkeitsbeständen entsprechend, ihnen angemessen.15 Inhalte, die von allen Sprachangehörigen akzeptiert sind und dementsprechend in der Kommunikation fortwährend tradiert werden, stehen im Extremfall sogar für die Realität, wie es bereits G. W. Leibniz mit dem Bild vom lexikalischen Inventar als Rechenpfenni-
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Der einzelne Text und der Idiolekt auf der einen und der durch gemeinsame Kultur geprägte Sprachbund auf der anderen Seite werden in diesem Zusammenhang gerne übergangen. Den Terminus Weltanschauung braucht A. W. Schlegel: „in den früheren Epochen der Bildung gebiert sich in und aus der Sprache [...] eine dichterische Weltansicht“ (1801/2, S. 388). W. von Humboldt verwendet Weltansicht: „Ihre [der Sprachen] Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst“ (1822, S. 262). Das sind diejenigen mit „Kultur, Geschmack und praktischer Einsicht“ (E. Coseriu 1974, S. 74). F. Schößler formuliert diese Gedanken wie folgt: „Kultur [damit auch Sprache, innerhalb dieser der Wortschatz, O. R.] fungiert als Filter, der vergangene Entwürfe selektiert, um einen Zukunftsrahmen zu entfalten; sie liest Unterscheidungen in Vergangenes ein, um Zukunft zu organisieren“ (2007, S. 71). – Bei K.-P. Konerding (2009, S. 155) heißt das: „>Harte Fakten< erweisen sich – historisch-genetisch betrachtet – als kommunikativ produzierte, akzeptierte und schließlich präsupponierte Artefakte“.
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gen zum Ausdruck gebracht hat.16 Beispiele für Inhalte dieser Art sind heute so selbstverständliche Gegebenheiten wie ‚Mensch‘, ‚Bruder‘, ‚Schwester‘, ‚Onkel‘, ‚Tante‘. In dem sechs bis neun Jahrhunderte zurückliegenden Mittelhochdeutschen ‚gab‘ es keine semantische Einheit ‚Onkel‘ und keine Einheit ‚Tante‘ im heutigen Sinne, sondern nur ‚Vaterbruder (veter)‘ und ‚Vaterschwester (base)‘ bzw. ‚Mutterbruder (œheim)‘ und ‚Mutterschwester (muome)‘ (Lexer 1, 133; 1, 2239; 2, 148; 3, 331). Im benachbarten Ungarischen sollen die Brüder- und Schwesternverhältnisse nochmals anders aufgeteilt sein, nämlich in ‚jüngeren‘ und ‚älteren Bruder‘ bzw. ‚jüngere‘ und ‚ältere Schwester‘. Eine Einsicht in den einzelsprachlichen Status dieser Einheiten ist aus dem Sprachen- oder Varietätenvergleich zu gewinnen. – Ich fasse das ‚Auf-eine-bestimmte-Weise-Reden‘ und die damit angenommene Konstitution von ‚Gegenständen‘ im Folgenden auch unter dem Ausdruck kognitive Funktion von Texten, Sprache usw. (3) Wenn sich jemand sprachlich äußert, äußert er sich in der Regel gegenüber jemandem. Man kann dieses ‚Sich-gegenüber-jemandem-Äußern‘ in sehr verschiedener Weise verstehen: Man kann zum Beispiel meinen, es ginge dabei um den Transport17 von Inhalten aus dem Kopf des Einen in den Kopf eines Anderen. Dann würde der Kommunikationspartner zum Doppel der eigenen Person gemacht, gleichsam kommunikativ zum Objekt sprachlichen Handelns geklont. Man kann aber auch der Auffassung sein, dass man denjenigen, gegenüber dem man sich äußert, bereits in die eigene Formulierung einbezieht, um ihm etwas zu verstehen zu geben, ihn zum Nachdenken anzuregen oder generell: um eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Dies zu Ende denkend, kann man sogar der Meinung sein, dass Kommunikation im Kern ein reziprokes Handlungsspiel sei, in dem man den Beteiligten ‚als individuellen Jemanden‘ versteht, mit dem man die Inhalte aushandelt, die dann eine gemeinsame soziale Praxis (z. B. den ‚Alltag‘, die ‚Verfassung der Gesellschaft‘, das soziale Beziehungssystem usw.) bilden. In diesem Falle gewinnen die unter (2) angenommenen sozialtypischen Erkenntniszuschnitte Handlungsrelevanz. Wie ‚Kommunikation‘ auch aufgefasst werden mag: In lexikologischem und lexikographischem Zusammenhang ist herauszustellen, dass sie immer auch in Einheiten der Wortebene verläuft. Und diese haben mit ihrer in den Absätzen (1) und (2) bereits 16 17
G. W. Leibniz (1697 / 1717, S. 329): „Daher braucht man offt die Wort als [...] RechenPfennige an statt der Bildnisse und Sachen“. Eine andere Metaphorik setzt statt einer Zweigliederung (Kopf des Einen / Anderen) eine Dreigliederung voraus: (1) Inhalt im Kopf des Sprechers, (2) Kodierung oder Verpackung in einem Text, gleichsam wie in einem Behälter, (3) Dekodierung oder Auspacken des Inhalts durch einen Rezipienten.
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A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen
erwähnten darstellungs- und erkenntnisfunktionalen Aufladung gleichzeitig eine kommunikative Potenz, sie geben gesellschaftlich übliche Möglichkeiten des Handelns vor, und zwar nicht nur mit den Nennwortarten, sondern auch mit allen anderen funktionalen Wortklassen. Ein adäquater Ausdruck für die hier gemeinte Handlungsrelevanz fehlt, da die Linguistik immer noch stark auf die Subjekt-Objekt-Relation fixiert ist, nicht so sehr auf die Subjekt-Subjekt-Relation. Ein denkbarer Ausdruck für diese Relation wäre Handlungsbild. (4) Wenn sich jemand sprachlich äußert, äußert er sich immer auf eine Weise, die dem Rezipienten seiner Äußerung bestimmte Erkenntnisse über den individuellen Zustand (z. B. Erregung, Ruhe) des Sprechenden sowie (in diesem Zusammenhang besonders relevant) über seine soziale Einordnung ermöglicht. Dies Letztere kann (pragmalinguistisch gesehen) die Handlungssituation sein, die einerseits den Sprachgebrauch bestimmt und andererseits durch ihn definiert wird; es können (soziolinguistisch gesehen) die Schichten und Gruppen sein, denen man angehört; es kann (sprachgeographisch gesehen) der Raum sein, in dessen Dialekt jemand aufgewachsen ist, und es kann (unter historischem Aspekt) die Zeit sein, deren Ausdrucksweisen man gebraucht. Jede Äußerung liefert also außer der sachbezüglichen, der erkenntnisprägenden und der kommunikationsrelevanten Information, wie sie unter (1) bis (3) angesprochen wurde, gleichzeitig personenbezogene Information. Der Wortschatz gilt als einer der Teilbereiche der Sprache, der dies leistet. – Die Aufladung lexikalischer Einheiten mit – individuell und sozial gesehen – personenbezogener Information wird terminologisch gerne mittels Symptomfunktion oder Symptomwert gefasst. Der Symptomwert des Wortes Samstag z. B. ist ‚in der in der südlichen Hälfte des deutschen Sprachgebietes gebraucht‘ (A. Avedisian 1963), die Adjektive afterkläffisch >üble Nachrede führend< und dumpfhirnig gelten als frühneuhochdeutsch, das Ensemble triuwe, milte, genâde, hulde (usw.) steht vor allem unter semantischem Aspekt für das klassische Mittelhochdeutsche. 2. 2. Die soeben gebrauchten Formulierungen könnten suggerieren, lexikalische Einheiten seien relativ autonome oder, wie man gerne sagt: autosemantische Einheiten, die die genannten Leistungen ohne Kontext, für sich stehend, erbringen. Aus ihrer Gesamtheit oder auch aus ihrer Summe würde sich dann der Satz, in weiteren Schritten der Textabschnitt, der Text und die Texttradition ergeben. Nach dieser Sicht wären lexikalische Einheiten jeweils aus sich heraus, gleichsam Einheit für Einheit, adäquat behandelbar. Diese Existenzweise von Wörtern (bzw. einiger im Zentrum der Aufmerksamkeit stehender Wortklassen) kann erst einmal nicht geleugnet werden (obwohl synsemantische Einheiten damit tendenziell unter den
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Tisch der Beschreibung fallen). Man spricht sowohl normalsprachlich wie wissenschaftlich ja so von „der“ Bedeutung (vom Bedeutung-Haben) eines Wortes, als sei sie einfach vorhanden; man suggeriert mit dieser Redeweise im übrigen eine gewisse Dominanz der Nennwortarten, damit der Darstellungsfunktion des Wortschatzes vor seinen anderen Funktionen. Man wird dies alles auch weiterhin tun und damit begründen können, dass das gesamte Verständnis eines Textes von einem einzigen Wort abhängen kann. Außerdem hat man methodisch kaum eine andere Wahl, als vom Kleineren zum Größeren zu schreiten. Dennoch ist im Bewusstsein zu halten, dass der „Ausgangspunkt einer Phänomenologie des linguistischen Objektes“, gleichsam die Vorkommensform von Sprache, nun mal die Texthaftigkeit des originären sprachlichen Zeichens“ ist (P. Hartmann 1971, S. 12)18. Wörter begegnen also nur in Texten; jeder einzelne Wortgebrauch setzt damit einen Sprecher und einen Hörer voraus. In dem Maße, in dem man dies hervorkehrt, wird die ‚Autonomie‘ des jeweils ‚kleineren‘ sprachlichen Ranges, also des Wortes, des Satzes, letztlich sogar des Textes, insofern er in Texttraditionen steht, angetastet; der einzelne Wortgebrauch wird zur Funktion innerhalb der höheren Ränge der Sprache, nacheinander also des Satzes, des Textes und eines textlichen Traditionsstranges, handlungstheoretisch gesprochen: innerhalb der Äußerung (z. B. Aussagen, Begründen, Auffordern), der Texthandlung (z. B. Informieren, Erbauen, Anleiten, Unterhalten), der Handlungstraditionen (z. B. Legitimeren, sozial Verbinden, wie man es schon länger tat). Der Satz ist unter diesem Aspekt dann nicht mehr als Summe / Gesamtheit von Wörtern und Wortbedeutungen, der Text nicht mehr als Summe / Gesamtheit von Sätzen usw. aufzufassen, sondern umgekehrt: Es ist die Texttradition, die dem einzelnen Text (der Texthandlung) ihren Sinnzusammenhang gibt, so wie die Texthandlung über mehrere Abstufungen den einzelnen Wortgebrauch, seine Bedeutung pro Textstelle, mit festlegt. Die Betonung dieser Bestimmung von oben herab (top down), ich wiederhole nochmals: nicht nur vom Satz her, sondern von den Texttraditionen und letztlich vom gesamten Kommunikationsspektrum einer geschichtlichen Zeit her, ist die Kehrseite eines Denkens, das von den kleineren Einheiten (bottom up) auf größere gerichtet ist und das in der Lexikographie durchaus vorherrscht. – Hiermit soll gesagt sein, dass alle weiteren Ausführungen dieses Buches durch die Überzeugung bestimmt sind, dass das Zusammenspiel von Einzelwort und Texttradition unter zwei entgegen-
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Die Frage, ob man Text nur auf Schriftformen der Sprache oder auch auf mündliche Äußerungen bezieht, wird hier nicht diskutiert, da sie für die historische Lexikographie (außer für die gegenwartsbezogene; dazu: Kap. 2, Abs. 1. 2) irrelevant ist.
10 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen gerichteten Perspektiven steht: einerseits von unten, von der einzelnen Belegstelle ausgehend – und diese empirisch sehr ernst nehmend – nach oben bis zur Texttradition hin und andererseits von oben, dem Textspektrum ausgehend und dieses ebenfalls hoch gewichtend, nach unten bis zur Belegstelle hin. Dies hat erhebliche, die Artikelstruktur, die Art und Anzahl aller Informationspositionen betreffende und bis zur Ausbildung des Lexikographen und seiner Text- und historischen Semantikkenntnis reichende Weiterungen. 2. 3. Die Aufgabe der Lexikographie im Sinne der Absätze 2. 1 und 2. 2 kann nach dem Vorgetragenen nur darin bestehen, – die Darstellungs-, Erkenntnis-, Kommunikationsleistung des Wortschatzes und seine Symptomwerte so zu behandeln, dass die Sichten bottom up und top down wissenschaftlich erkennbar werden, – jede dieser Leistungen mit einer begründeten Ausgewogenheit zu behandeln, – die gefundenen Erkenntnisse als Bildungsinhalte an Interessierte zu vermitteln, – dies so zu tun, dass sie jedermann schnell auffinden kann, der beim kritischen Umgang mit Sprache bzw. Texten oder als sprachlich Gestaltender in Wörterbüchern lexikalische Information sucht. Diese Aufgaben sind analytisch klar trennbar: erst Erkenntnis, dann Beschreibung, danach Vermittlung, letztere in einem fachtextlichen Gewand, das Nachschlageeffizienz garantiert. Man fühlt sich an die Kleidermetapher der Rhetorik und einfacher Kommunikationsmodelle erinnert: Etwas Vorhandenes wird irgendwie erkannt, danach verpackt und in einem weiteren Schritt ohne Beeinflussung des Inhalts durch die Verpackung an andere weitergegeben. Es ginge dann – wie bereits oben unter Abs. 2. 1 (3) erwähnt – um Kommunikation im Sinne von Inhaltstransport; die üblicherweise gebrauchten Verben lauten etwas transportieren, rüberbringen, weitergeben, das der Empfänger dann rezipieren, gleichsam ‚entgegennehmen‘ kann. In Wirklichkeit bilden Erkenntnisgewinnung, -beschreibung und -vermittlung (mit letzterem gleichzeitig die Gebrauchshilfe) eine Einheit. Diese ergibt sich wie folgt: 2. 4. Wissenschaftliche Erkenntnis (s. obigen ersten Spiegelstrich) ist immer Erkenntnis von etwas. Diese Aussage suggeriert nach normalsprachlichem Verständnis, dass innerhalb einer vorausgesetzten Realität ‚Sprache‘ ein als Wortschatz bezeichneter Teilgegenstand existiert, der den fachüblichen Erkenntnisverfahren durch einen Wissenschaftler unterzogen wird. Das Ergebnis solcher Verfahren, also die ‚Erkenntnis‘ (nunmehr metonymisch verstanden), wird dabei gerne als möglichst objektive Abbildung,
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Widerspiegelung, d. h. als Wiederholung des Vorgegebenen in irgendeinem, letztlich irrelevanten Symbolsystem verstanden. Bei aller Anerkennung des Wertes von Methodik ist aber auch zu betonen, dass der Gegenstand der Erkenntnis stärker, als das objektivistische Erkenntnisideal zugestehen würde, eine Gegenstandssetzung ist, also eine vom Lexikographen vorgenommene Transponierung eines in seinem Kopf gestalteten Inhaltskomplexes in die sprachliche Realität. In diesem Inhaltskomplex mischt sich Vielfältiges. Erwähnt seien nur die theoretische Auffassung des Lexikographen über den Wortschatz, eine ubiquitär verbreitete Abbildungs- oder Repräsentationsauffassung, individuelle Forschungs- und Erkenntnisinteressen, die Erwartungen und Vorgaben von Auftraggebern, das dem Rezipienten unterstellte Frageanliegen, die leichte Handhabbarkeit von Erkenntnisresultaten durch den Rezipienten, gewisse Einfachheits- sowie Verdichtungskonventionen der Textsorte ‚Wörterbuchartikel‘, schließlich die Sprache, in der man sozialisiert ist und in deren Ausdrucks- und Inhaltseinheiten man spricht, schreibt, denkt und versteht. Das Reden von Erkenntnis „über etwas“ bleibt auch bei dieser Bestimmung des Erkenntnisgegenstandes möglich; man hat sich nur des veränderten Status des Gegenstandes bewusst zu werden. Im übrigen fällt damit natürlich die typisch ‚wissenschaftlich-analytische‘ Trennung von Erkenntnis einerseits, Erkenntnisverpackung und -vermittlung andererseits. Die Ziele dieser Trias gehen in einem zutiefst hermeneutischen Prozess auch in wissenschaftlicher Erkenntnisfindung in die Gegenstandssetzung ein. In dem gesetzten Gegenstand wird dann sicherlich auch als objektiv Vorauszusetzendes durchscheinen und als solches erkennbar sein, zu einem großen Teil dürfte aber auch dasjenige ‚erkannt‘ werden, was als Voraussetzung eingegeben wurde und was man als Erkenntnisresultat „will“. 2. 5. Soll dieser Kreis (von Erkenntnis, Beschreibung, Vermittlung) nicht eine stetige rückwärts gerichtete Reproduktion seiner selbst werden, so ist Sorge dafür zu tragen, dass die sich Lexikographie nennende kulturelle Tätigkeit in möglichst fundamentaler ideologischer Konkurrenz mehrerer lexikographischer Unternehmen (selbst zum vorgeblich gleichen ‚Gegenstand‘) erfolgt. Im Lichte dieser Überlegung stellen sich folgende Fragen, und zwar weniger mit der Absicht, sie zu beantworten, als sie zum Gegenstand einer kaum abschließbaren Reflexion zu machen: – Welche Trägerschaft von Lexikographie sichert oder verhindert die geforderte Konkurrenzsituation auf welche Weise? – Was von den oben genannten Erwartungen kann welche Lexikographie schon aufgrund arbeitspraktischer und finanzieller Vorgaben am ehesten leisten?
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Wie ist das historische Verhältnis von institutionell-staatlich abgesicherter Lexikographie einerseits und einer Lexikographie, die von kulturell interessierten gesellschaftlichen Gruppen bzw. von privat Interessierten initiiert und getragen wird, andererseits? – Ist dieses Verhältnis zeitübergreifend relativ konstant geblieben, oder hat es sich im Laufe der Lexikographiegeschichte stark verändert? – Wie ist das jeweilige Verhältnis zwischen lexikographischen Großunternehmen, die auf Ewigkeitswert19 heischende Erkenntnisse gerichtet sind, und einer mittelfristig konzipierten Lexikographie, die auf zeitgebundene Erkenntnis- und Gebrauchsanliegen einer diesbezüglich interessierten Kulturgesellschaft zielt? 2. 6. In welchem genauen Verhältnis Erkenntnis des Wortschatzes, Verpackung und Vermittlung auch gesehen werden, alle drei Ziele der Lexikographie schließen mindestens folgende Aufgaben ein: (1) Die in unterschiedlicher Weise definierten, im Wörterbuch zu behandelnden lexikalischen Einheiten sind auf methodisch kontrollierte Weise zu sammeln (= Sammlungsproblem). (2) Die gesammelten Einheiten sind makrostrukturell zu ordnen. Die Ordnung kann nach sehr unterschiedlichen Kriterien erfolgen; üblich ist die alphabetische Ordnung; aber auch diejenige nach sog. Begriffen20 und Begriffsgebäuden21 wird immer wieder diskutiert. Für besondere, meist eingeschränkte Zwecke begegnet die Ordnung nach Beleghäufigkeiten, nach Wortarten, nach Wortbildungsaspekten, nach Gesichtspunkten wie ‚Erbwort / Fremdwort‘, nach Erstbelegungen22 usw., nach Kriterien also, in die dann – zumindest in vielen Fällen – die Alphabetfrage wieder hineinspielt. Im Prinzip sind genau so viele Ordnungskriterien und demzufolge Ordnungen denkbar, wie den Wortschatzeinheiten Eigenschaften zugeschrieben werden und wie man Produzenten- und Benutzeranliegen feststellt, antizipiert oder entwirft. Selbstverständlich können mehrere Ordnungskriterien
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Zu diesem Problem s. M. Schlaefer (2005, S. 174); er spricht von der „Titanic-Falle“ der großen Langzeitunternehmen, die „außerhalb der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurse“ lägen. 20 Verwiesen sei auf das kürzlich erschienene Lexikon sprachtheoretischer Grundbegriffe des 17. und 18. Jahrhunderts (LsG) von G. Haßler / C. Neis (2009). Dieses Werk konnte nicht mehr – weder in seiner Bedeutung noch in seiner sprachtheoretischen und gestalterischen Problematik – in den vorliegenden Band eingearbeitet werden. 21 Vgl. R. Hallig / W. von Wartburg 1963 und die daran anschließende Diskussion; zusammenfassend: O. Reichmann 1990a. 22 Man denke hinsichtlich der Erstbelegwörterbücher etwa an E. Seebold 2001; 2008 (ChWdW 8 und 9); Th. Finkenstedt / E. Leisi / D. Wolff 1970; N. van der Sijs 2001; 2002. Dieser Wörterbuchtyp bleibt in vorliegendem Band unberücksichtigt.
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miteinander kombiniert werden; besondere Möglichkeiten in dieser Hinsicht liefert die elektronische Datenbehandlung (= Ordnungsproblem). (3) Die gesammelten und geordneten Einheiten müssen nach den typologisch bestimmenden Kriterien wissenschaftlich behandelt werden. Das Verb behandeln wird hier bewusst statt der auch möglichen und fachsprachlich wahrscheinlich üblicheren Ausdrücke beschreiben, abbilden, darstellen gebraucht. Damit soll betont werden, dass ‚behandeln‘ gleichzeitig immer auch interessebedingte und damit kritische Vermittlung ist (= Behandlungsproblem). (4) Die in der wissenschaftlichen Behandlung gewonnenen Erkenntnisse sind insofern isoliert pro lexikalisches Zeichen an einer bestimmten Stelle des Wörterbuches auffindbar zu machen, als der Wortschatz ein Inventar von Einheiten und jede dieser Einheiten ein Unikat ist. Insofern die Einheiten aber in strukturellen Bezügen stehen, stellt sich – und zwar mit gleicher Gewichtung wie die an die Einzeleinheit adressierte Information – die Aufgabe, Strukturbezüge erkennbar zu machen (= Strukturproblem und damit einhergehendes Zugriffsproblem). (5) Die gesammelten, geordneten und behandelten Einheiten sind hinsichtlich ihrer Verwendung zu dokumentieren. ‚Dokumentieren‘ heißt: Dasjenige, was sich als Gegebenheit des Corpus gleichsam aus den Quellentexten ablesen und mit wenigen Handgriffen in die lexikographieübliche Form bringen lässt, ist aus der Vorlage in das Wörterbuch hinüberzuhebeln. Gedacht ist an ‚pure Fakten‘ wie Schreibformen, Datierungen, Genusangaben, Beleghäufigkeiten, also an all dasjenige, worüber kaum ernsthaft diskutiert werden kann. Die Tatsache, dass bestimmte Informationen außerhalb des Zweifels stehen, birgt gewisse Gefahren: Die Dokumentation kann zu Halden von faulem lexikographischem Gestein führen, das außer seiner korrumpierenden abbildlich-reproduktiven Richtigkeit nichts Positives an sich hat und kaum jemanden interessieren dürfte; dann changiert das Wörterbuch vor lauter Dokumentation zu einer archivgeweihten Textsorte mit reduzierter Nutzbarkeit für inhaltliche historische Erkenntnis und damit für gegenwartsbezogene kulturpädagogische Einsichten und Gestaltungen (= Dokumentationsproblem). (6) Dokumentation hat dem Gesagten bzw. Unterstellten zufolge auch „höhere“ Aufgaben: Veranschaulichung, Plausibilisierung, Illustrierung, wertende Gewichtung, Vermittlung des interpretativen Status der Information und Belegung aus dem Corpus heraus. Es ist also ein Gleichgewicht zwischen zwei zu unterscheidenden, wenn auch ineinander übergehenden Gegenstandstypen zu erstreben. Ich meine am einen Ende der Skala die in (5) genannten ‚puren‘ Fakten, am anderen Ende die interpretativ gewonnene
14 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen Information, am deutlichsten die Bedeutungskonstruktion. Wenn man dies ernst nimmt, dann folgt daraus das genaue Gegenteil der in (5) heraufbeschworenen Halden faulen Gesteines: Die diffizileren Informationen, speziell die Bedeutungserläuterungen, treten aus dem Schattendasein der Dokumentation heraus.23 Neutraler gesagt: Dokumentation und Mitteilungen, die ihr Dasein der ‚erkennenden‘ Tätigkeit des Lexikographen verdanken, sollten Gegenstand der Reflexion sein (= Gewichtungsproblem). (7) Die Medien, in denen lexikographische Information erfolgt, sind de facto das gedruckte Buch und die digitale Fassung (der Computer). Bei der Handhabung des Buches und des Computers als bloß medial unterschiedlich würde ein gleicher Gegenstand nur anders dargeboten. Buch und Computer bieten aber offensichtlich auch verschiedene quantitative und qualitative Darstellungs- und Nutzungsmöglichkeiten (dazu A. Lobenstein-Reichmann 2007); darüber ist bei der Planung eines Wörterbuches zu entscheiden. Die Möglichkeiten des Computers werden oft als Einladung zur Pflege kognitiver Schlichtheit verstanden, also zur Reduktion des Erkenntnisinteresses auf das technisch Erkenn- und Darstellbare, teilweise auch als Verführung zur Amorphie, und sehr oft als Verführung zur digitalen Fassung des von Anderen Erarbeiteten.24 Umgekehrt ermöglicht der Computer die Dokumentation
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Im Hintergrund dieser Formulierung steht die aus folgendem Beispiel ersichtliche und hier pointiert dargestellte Praxis (in Wirklichkeit geht es natürlich um eine weite Skala von Möglichkeiten): In einigen älteren Strecken des DRW finden sich teils relativ kurze Bedeutungsangaben; vgl. etwa: gemuten „zumuten, verlangen“ (Bd. 4, Sp. 204) oder genächte „I. Anzahl Nächte“, „II. Gerichtstermin, Sitzung“, „III. Urteil“ (ebd., Sp. 205); diesen folgen dann umfängliche Belegteile. Dem Benutzer wird also eine Reihe von Erschließungsaufgaben überlassen; der Lexikograph als Interpret und Gestalter tritt hinter dem Dokumentator zurück. – Der systematische Ort für solche Reduktionen ist die ‚einfache‘ Bedeutungserläuterung, die in Teil D, Kap. 7. 5. 1 ohne Wertung ausführlich behandelt wird. – Im übrigen sei die Vermutung geäußert, dass die Wörterbücher zum Niederländischen und Englischen eher zu kürzeren Erläuterungen tendieren als diejenigen zum Deutschen. 24 Ich kann deshalb die Euphorie, die A. Kirkness (2007) mit Wertungen wie „ganz eindeutig“ (im Hinblick auf den digitalen Grimm, dem die Zukunft gehöre) oder mit „zukunftsträchtig“ (im Hinblick auf das geplante Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache) vorträgt, nur unter folgenden Voraussetzungen nachvollziehen: (1) Die Beleggewinnung hat nicht nur unter quantitativen, sondern unter qualitativen Aspekten, speziell semantischen und grammatischen, zu erfolgen. (2) Es müssen digitale Verfahren für die Beleginterpretation und die Bearbeitung der Belege zu einem Wörterbuchartikel entwickelt werden, die den herkömmlichen qualitativ gleichwertig sind; sonst würde der zentrale Arbeitsblock herkömmlicher Lexikographie, die Beleginterpretation und -verarbeitung, aus der lexikographischen Zukunft verbannt werden. Bei alledem ist zu prüfen, ob die digitale Bedeutungserschließung überhaupt, und falls ja, wie weit, über die Voraussetzungen verfügt, herkömmliche Verfahren zu ersetzen. (3) Die Erarbeitung eines digitalen Wörterbuches aus einem eigenen Corpus (also ab ovo) darf nicht mehr Zeit in Anspruch nehmen als die herkömmliche. (4) Der vielbeschworene ‚Mehrwert‘
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beliebig großer Datenmengen, eine der Buchpublikation qualitativ hoch überlegene Kontrolle dieser Daten, ihre Zusammenstellung nach beliebigen Gesichtspunkten, damit Einsicht in die strukturelle Vernetzung des Wortschatzes, ferner die stetige Erweiterung und Verbesserung der Artikeltexte, den Zugang zum Wörterbuch unabhängig von den Bibliotheken an jedem Ort der Erde.25 Das Buch ist medial an die Fläche einer Seite mit den Dimensionen ‚links‘ und ‚rechts‘, ‚oben‘ und ‚unten‘ gebunden. Das ist Stärke und Schwäche zugleich: Stärke insofern, als es der zeitlichen Linearität des normalen Sprechens und Lesens entspricht, Schwäche insofern, als es die dem Wortschatz inhärente Vielfalt von Beziehungen nur unbefriedigend zu repräsentieren vermag.26 Das Buch steht ferner (zumindest in einem gewissen Maße) für die Eindimensionalität der Datenordnung (meist für das Alphabet); es setzt deshalb lexikographische Vorentscheidungen hinsichtlich der Dominanz der dargebotenen Information (etwa semantische oder syntaktische) voraus; es bedeutet damit automatisch eine stärkere, aber auch einseitigere kognitive Strukturierung; es dürfte auch für leichtere Erfassbarkeit der einzelnen Artikel durch den Rezipienten stehen (= Problem des Publikationsmediums).
ist unter qualitativen Aspekten genau zu bestimmen. (5) Es ist aufmerksam zu beobachten, ob mit dem Medienwechsel ein Wechsel von der alten Buch-, Rezeptions- und Arbeitskultur zu einer neuen Informationskultur vollzogen wird, wie diese genau aussieht und ob man sie will. – Auch W. Klein (2004) beschreibt das (gegenwartsbezogene) Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) mit grundsätzlich positiver Haltung: Es geht aber bezeichnenderweise um ein Programm „vom Wörterbuch zum Digitalen Lexikalischen System“, also vom Wörterbuch weg, so jedenfalls der Titel seines Beitrags 2004. 25 W. Klein (2004) hat diese Vorteile für die gegenwartsbezogene Lexikographie plausibel formuliert. 26 Ansätze dazu finden sich allerdings in den Kapiteln des Teils D dieses Buches. Ich verweise ferner auf die vereinzelt in der älteren Dialektlexikographie begegnende Beschreibung zusammenhängender sachkultureller Frames (oft begleitet von bildlichen Darstellungen); dazu unter lexikologischem Aspekt: O. Reichmann 1983; zu einzelnen lexikographischen Aspekten: H. Friebertshäuser 1983, S. 1294; W. Scholze-Stubenrecht 1990; zur Realisierung s. etwa das Hess.-Nass. Vwb. (z. B. Bd. 2, S. 273; 537; 805; 882, jeweils mit Bild); s. ferner das Thür. Wb., Bd. 1, S. 276; das Meckl. Wb., Bd. 2, S. 431f.; 952f.
16 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen
2. Vergangenheitsbezogene und gegenwartbezogene historische Lexikographie 1. Hinsichtlich der Aufgabe, die der historischen Lexikographie laut Kapitel 1 als einem Einzelbereich der Gesamtheit ‚Lexikographie‘ zukommt, sei zu dem bisher Gesagten zunächst eine Differenzierung angebracht; diese wird danach argumentativ in einer besonderen Weise gewendet. – Die Differenzierung betrifft zwei Ausprägungen historischer Lexikographie: Es gibt eine vergangenheits- (s. dazu den folgenden Abs. 1. 1.) und eine gegenwartsbezogene (dazu Abs. 1. 2.) historische Lexikographie. 1. 1. Vergangenheitsbezogene Lexikographie liegt dann vor, wenn der behandelte Gegenstand zum Zeitpunkt seiner Darstellung als bereits ‚geschichtlich‘ angesehen, also als in einer gewissen Distanz zum Bearbeiterzeitpunkt stehend beurteilt wird. Als mögliche Gegenstände kommen in Betracht: – ein früheres Stadium einer Sprache (z. B. Mhd. oder Mengl.), – mehrere solcher Stadien (z. B. ‚Altdeutsch‘ im Sinne von ‚Ahd. plus Mhd.‘), – ein historischer Autor (z. B. Walther von der Vogelweide; M. Luther; F. Schiller), – eine historische Textgruppe (z. B. der Minnesang, die mhd. Artusepik, das bürgerliche Trauerspiel).27 (1) Der Aspekt, also z. B. die diachrone oder synchrone Perspektive, unter dem die Behandlung des Gegenstandes erfolgt, kann bei vergangenheitsbezogener Lexikographie variieren, muss dies aber nicht. Man kann also durchaus z. B. ein diachronisches oder ein synchronisches Wörterbuch etwa des Alt-, Mittel- oder Frühneuhochdeutschen oder des Alt- bzw. des Mittelenglischen schreiben. Für den Fall der Wahl einer synchronen Perspektive tut man dann so, als ob es für z. B. das Mhd. kein Vorher und kein Nachher, keine Entwicklung aus einer älteren Sprachstufe heraus und keine Entwicklung zu einer jüngeren Sprachstufe hin gegeben habe. Entscheidet man sich für die Diachronie, so hat man drei Möglichkeiten, nämlich den Blick zeitlich nach rückwärts (z. B. vom Mhd. auf das Ahd.) oder nach vorwärts (vom Mhd. auf das Frnhd.) oder in beide Richtungen (also vom Mhd. auf das Ahd. sowie auf das Frnhd.) zu lenken. – In der Realisierung können sich Synchronie und Diachronie auf mannigfache, oft versteckte Weise mitein-
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Entsprechende Gegenstandsbestimmungen sind natürlich für das Niederländische oder Englische möglich.
2. Vergangenheitsbezogene und gegenwartsbezogene historische Lexikographie
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ander verbinden. Zur Veranschaulichung sei nur angedeutet, dass z. B. das an sich synchron angelegte Goethe-Wb. im Vorspann zu seinen zentralen Artikeln knappe Einblendungen folgender Art bringen kann: „Der tiefgreifende, für das neuzeitl[iche] Bewußtsein bes[onders] signifikante Bedeutungswandel des Wortes [Geschichte, O. R.; ...] ist zur Goethezeit im wesentlichen vollzogen“ (mit Literaturangaben). – Im übrigen schließt Synchronie systematisch diasoziale, diaphasische und diatopische Aspekte ebenso ein wie die Diachronie dies tut. Dennoch scheinen gewisse Gewichtsverteilungen zu bestehen: Synchronie lässt – wohl wegen der Konzentration auf den Sprachzustand – mehr Diasoziologie, Diaphasik, Diatopik zu als Diachronie mit ihrer Gewichtung auf der Herausarbeitung einzelner geschichtlicher Linien. Das Muster für die Öffnung der Synchronie zur Diasystematik bietet wieder das Goethe-Wb.: Im Vorspann zum Artikel Gestalt finden sich Verbindungen zu Herder, zu Schellings Naturphilosophie, zur Botanik, zur Baukunst, zur Ästhetik der Frühromantik. (2) Das Attribut historisch heißt in vorliegendem Zusammenhang: Der zum Gegenstand erhobene Wortschatz wird unter synchroner Perspektive im Sinne von ‚zustandsbezogen, vergangen, früher gewesen, zeitlich alt‘ (z. B. mhd., mnd., mengl.) betrachtet, unter diachroner Perspektive als ‚entwicklungsbezogen, im Laufe der jeweils vorangehenden Zeit(en) zu dem geworden, was er irgendwann‘ (z. B. im Mnd., Mnl., Frnengl. oder im Gegenwartsdeutschen) ist‘. Von welcher zeitlichen Entfernung an etwas ‚geschichtlich‘ in dem erstgenannten Sinne (also ‚vergangen‘ usw.) ist, hängt stark von der Intention des Handelnden ab. Man wird zwar mit einiger Zustimmung rechnen können, wenn man die mit den Adjektiven alt und mittel gekennzeichneten Stufen des Deutschen (oder des Niederländischen, Englischen) als geschichtlich betrachtet; auch für das Frnhd., Mnl. und Frnengl. wird man dies nachvollziehen. Es gibt aber sicher auch die Möglichkeit, Luthers Wortgebrauch als „eigentlich schon modern“ zu betrachten, wie es Jacob Grimm ohne Zweifel tut, wenn er in seinem Deutschen Wörterbuch (DWB, Bd. 1, Sp. XVIII) den „ganzen zeitraum“ seines Neuhochdeutschen (seit 1450) zu erfassen sucht. Erst recht gilt dies für die Sprache der deutschen Klassik und der Literatur des 19. Jahrhunderts, die ja auch mit erheblichem kulturpädagogischem Engagement in das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (WDG; vgl. dort Bd. 1, S. 04) und in Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (Duden, Gr. Wb.; dort Bd. 1, 1999, Vorwort) aufgenommen ist, und zwar im WDG mit der ausdrücklichen Charakterisierung als ‚zur deutschen Gegenwartssprache gerechnet‘. In der Dialektlexikographie entspricht dem z. B. die Charakterisierung des Niedersächsischen Wörterbuches als eines synchronen, den dialektalen
18 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen Wortschatz Niedersachsens von der „Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart“28 erfassenden Werkes. Im Unterschied zu diesen möglichen Entscheidungen soll in vorliegendem Buch das Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg als Übergangsphase zwischen ‚vergangen‘ und ‚gegenwärtig‘ verstanden werden. Die heutige Gegenwart umfasst also ein Menschenleben, das nahezu die volle Zeitspanne des 20. Jahrhunderts durchmessen hat;29 eine beliebige vergangene Gegenwart, etwa die Zeit um 1850, würde entsprechend bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückreichen. – Obwohl die Entscheidung, was als ‚geschichtlich‘ (im genannten Sinne) betrachtet wird, für jede historische Epoche gesondert zu treffen ist und der persönlichen Entscheidung des Lexikographen erhebliche Spielräume gegeben, aber auch einige Grenzen gesetzt sind, scheint ein gutes Jahrhundert als Größenordnung für ‚Gegenwart‘ und damit als Abgrenzung gegen ‚Vergangenheit‘ auch sonst eine gewisse Gültigkeit beanspruchen zu können: Die historisch erklärende (also nicht mehr geographisch motivierte30) Lexikographie zur Bibelübersetzung M. Luthers (1522ff. bis 1545) zum Beispiel beginnt in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts;31 für C. W. Ramler / G. E. Lessing ist der etwas mehr als ein Jahrhundert vor ihm lebende Friedrich von Logau (1604 – 1655) Geschichte (deshalb ist ja ein Teil seiner Wörter, nämlich die guten, angemessenen, brauchbaren, in einem Wörterbuch zu sammeln und wieder einzuführen32). Im Jahre 1863 publiziert J. Kehrein sein Onomatisches Wörterbuch (mit onomasiologischer und wortbildungsmorphologischer Anlage) dagegen unter der für ihn selbstverständlichen Voraussetzung, dass „die Sprache der Klassiker die Grundlage aller lexikalischer Werke“ seiner Zeit (also seiner zwei Generationen später liegenden Gegenwart) zu sein habe. – Der Deutlichkeit halber sei hier angefügt, dass zeitgenössische Lexikographie, wie sie etwa von J. Maaler (1561), von G. Henisch (1616), J. C. Adelung (2. Aufl. 1739–1801), D. Sanders (1876) oder z. B. von S. Johnson (1755) oder Ch. Richardson für das Englische ausgeübt wurde, nicht zur vergangenheitsbezogenen Lexikographie gerechnet und dementsprechend in vorliegendem Buch höchstens unter Detailaspekten33 behan-
28 D. Stellmacher in Deutschsprachige Wörterbücher 2000, S. 66. 29 L. von Renthe-Fink 1964, S. 9f.; P. von Polenz 1984, S. 1ff. 30 Ob diese Motivation tatsächlich existiert hat oder nur vorgegeben wurde, scheint mir durchaus fraglich zu sein; vgl. O. Reichmann 2011. 31 Nachweise bei O. Reichmann 1990b, S. 1155. 32 So in dem „Vorbericht von der Sprache des Logau“; s. C. W. Ramler / G. E. Lessing 1795, S. 131; 352ff. 33 S. Johnsons Wörterbuch (1755) ist z. B. dadurch historisch, dass die Belege den vorangehenden Jahrhunderten entstammen und dass Etymologien (natürlich entsprechend dem Erkenntnisstand der Zeit) geboten werden.
2. Vergangenheitsbezogene und gegenwartsbezogene historische Lexikographie
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delt wird. Selbst wenn sie, wie insbesondere das Wörterbuch der deutschen Sprache von D. Sanders, historische Aspekte haben, ist ihr Ziel die Behandlung der Sprache ihrer jeweiligen Gegenwart. 1. 2. Der Ausdruck gegenwartsbezogene historische Lexikographie mag auf den ersten Blick als widersprüchlich erscheinen. Er verliert diesen Anschein, wenn man historisch als Perspektive des Forschers versteht und dementsprechend definiert: ‚zwar auf die Sprache der Gegenwart bezogen, diese aber diachron, unter dem Gesichtspunkt ihres geschichtlichen Werdens betrachtend‘. Gegenüber der vergangenheitsbezogenen historischen Lexikographie kommt für die gegenwartsbezogene also obligatorisch die Perspektive ‚diachron‘ hinzu. Beispiele für so orientierte Wörterbücher sind das Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, das DFWB, das Schwäbische Wörterbuch und das Schweizerische Idiotikon, alle etymologischen und alle bedeutungsgeschichtlichen Wörterbücher (etwa Paul 2002). – Musterbeispiele aus dem Niederländischen und Englischen sind das WNT und das OED. – Die historische Tiefe aller dieser Werke wird gerne voll, tendenziell bis zu den jeweiligen Altstufen der Sprache, ausgelotet.34 1. 3. Die folgende Skizze dient der stichwortartigen Kennzeichnung der vorgetragenen Unterscheidungen (siehe Abb. 1, S. 20). 2. Die unter Abs. 1 des vorliegenden Kapitels angekündigte Wendung des Gesagten soll dazu dienen, die kulturpädagogische Bedeutung der historischen Lexikographie eigens herauszustellen. Es geht dabei – unter Wiederaufgriff und Erweiterung des (in Kap. 1, Abs. 2. 1) zu den Funktionen des Wortschatzes Gesagten – gleichsam um mein lexikographisches Manifest, ein paar Sätze, die den Sinn historischer Lexikographie auf den Punkt bringen sollen. Die im Folgenden unter (1) gemachten Aussagen sind eher methodischer Art; unter (2) folgt eine unter dem Aspekt ‚Realismus / Idealismus‘ hochbrisante theoretische Diskussion. (1) Gegenstand der vergangenheitsbezogenen historischen Lexikographie ist all dasjenige, was einzelne Menschen und Menschengruppen im Laufe ihrer in Texten sichtbar werdenden Geschichte an Sachgütern, an gesellschaftlichen Einrichtungen, an Erkenntnissen, Ideologien und Handlungen, an Sach- und Sozialbeziehungen für so wichtig erachtet haben, dass sie es mit lexikalischen, d. h. kurzen, in der Ausdrucks- wie Bedeutungsge-
34 Diese Tendenz ergibt sich folgerichtig aus dem Bestreben, die eigene Sprache mit dem Gütesiegel des Alters vorzuführen. Sogar das DFWB führt die Belegreihen in den neueren Bänden der Neubearbeitung – sofern möglich – bis in das Ahd. zurück (H. Schmidt 2009, S. 19).
20 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen
Abb. 1: Ausprägungen historischer Lexikographie
stalt konventionalisierten Ausdrücken bezeichnet haben.35 Gegenstand der historischen Lexikographie heutiger Sprachverhältnisse ist die geschichtliche Gewordenheit des gegenwartssprachlichen Wortschatzes, also der heutige Vorrat an lexikalischen Zeichen, und zwar nicht (wie auch denkbar und oft praktiziert) unter synchron-funktionalen Aspekten, sondern unter dem Gesichtspunkt, dass er Resultat, Ergebnis geschichtlicher Prozesse und Vor-
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Ich stütze diesen Satz auf W. von Humboldt 1822, S. 257: „Das Wort macht zwar nicht die Sprache aus, aber es ist doch der bedeutendste Theil derselben, nämlich das was in der lebendigen Welt das Individuum. Es ist auch schlechterdings nicht gleichgültig, ob eine Sprache umschreibt, was eine andere durch ein Wort ausdrückt. [...]. Dem Verstandesact, welcher die Einheit des Begriffes hervorbringt, entspricht, als sinnliches Zeichen, die des Wortes“.
2. Vergangenheitsbezogene und gegenwartsbezogene historische Lexikographie
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aussetzung für zukünftige ist. Sofern man der Meinung ist, dass Sprache das verbreitetste und vornehmste Symbolsystem ist, in dem solche Prozesse verlaufen und wissenschaftlich greifbar werden, bedeutet dies in umgekehrter Formulierung: Es gibt nichts Relevantes auf der Welt und im Kopf des Menschen, auf das man nicht mittels lexikalischer Zeichen Bezug genommen hätte. In dem Maße, in dem man dieser Aussage zustimmt, verläuft der Zugang zu historischen Verhältnissen über den Wortschatz; überspitzt: Es gibt keinen auch nur annähernd ähnlich leistungsfähigen anderen methodischen Zugang, auch nicht über bildliche Darstellungen oder archäologische Hinterlassenschaften. Sinngemäß gilt für die historische (diachrone) Lexikographie heutiger Sprachverhältnisse, dass diese die Bezugnahme auf Realität immer auch (oder gar: nur) in Abhängigkeit von der Geschichte solcher Bezugnahmen sichert. (2) Die gerade gemachte Aussage war auf die Darstellungsfunktion des Wortschatzes bezogen. Eine erkenntnisfunktional ausgerichtete Redeweise würde wie folgt lauten: Gegenstand der Lexikographie historischer Sprachverhältnisse ist immer eine bestimmte, meist die favorisierte Art und Weise, in der individuell, sozial, von einer Sprecherschicht oder Sprechergruppe, von der Gesamtheit aller Sprecher einer Sprache oder gar einer Sprachgruppe Bezug auf Realität genommen wurde. Versteht man „favorisierte Art und Weise“ als ‚Weltansicht‘36 oder (so der im Deutschen später üblich gewordene Terminus) als ‚Weltbild‘, dann heißt das: Gegenstand der Lexikographie ist das textliche / sprachliche Weltbild, durch das man Realität geschichtstypisch kategorisiert und möglicherweise so konstituiert hat, wie sie jedem in eine Sprache, Textwelt usw. Hineinwachsenden vermittelt wird. Man halte sich vor Augen: Wenn Sprache tatsächlich das vornehmste Symbolsystem der Repräsentation von ‚Welt‘ ist, und daran wird niemand ernsthaft zweifeln, dann gibt es historische Welten immer nur – realistisch gesprochen – hinter den Brechungen, Verzerrungen, Generalisierungen, Spezifizierungen usw. der lexikalischen Mittel der jeweiligen Existenzform von Sprache. Welt zu erkennen, hieße demnach, sie durch ihre sprachbedingten Brechungen hindurch, in ihrer Beschaffenheit jenseits von Sprache, in sprachfreier Form hinter Sprache zu enthüllen. Idealistisch gesprochen hieße es, dass Welt, wenn sie schon immer in Sprache (und zwar in Einzelsprache, in Texten usw.) gefasst sei, auch notwendigerweise einen sprachinternen Status habe, letztlich gar nicht „sprachfrei“ gedacht werden könne. Wie immer man zu dieser natürlich nicht objektiv im Sinne von ‚richtig‘
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Vgl. die Zitate von A. W. Schlegel und W. von Humboldt in Anm. 13.
22 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen oder ‚falsch‘ zu beantwortenden Weltanschauungsfrage stehen und wie immer man sie relativieren mag: Empirisch gesehen liegen aus der Vergangenheit keine Gegenstände der Art ‚Arbeit‘, ‚Ehre‘, ‚Huld‘, ‚Dreifaltigkeit‘, auch nicht Kollektivgegenstände wie ‚der Baum‘ oder ‚der Strauch‘ schlechthin, keine Qualitäten wie ‚gesund‘ oder ‚krank‘, ‚farbig‘ oder ‚weiß‘ und keine Beziehungssteuerungen wie diejenigen durch aber, wohl, doch, eigentlich (usw.) vor; methodisch gesehen findet man also keinen ‚Gegenstand‘ des Typs ‚Arbeit‘, oder eine ‚Qualität / Modalität‘ wie ‚eigentlich‘, sondern erst einmal nur Wörter (wohlgemerkt immer in Sätzen, Texten, Texttraditionen). Angesichts dieses kaum bestreitbaren Faktums ist Lexikographie Grundlagenwissenschaft im fundamentalsten Sinne des Wortes, und zwar für alle geschichtswissenschaftlichen Disziplinen, deren Gegenstände nur über Sprache zugänglich sind. Es geht lediglich darum, ob man den Wortschatz in realistischer Sicht als einen den direkten Realitätszugang behindernden37 und methodisch wie auch immer zu durchstoßenden Schleier betrachtet, um an die dahinter liegende Realität heranzukommen, oder ob man ihn in idealistischer Sicht als Symbolsystem sieht, in dem Realität überhaupt erst – für den über Einzelsprache verfügenden Menschen – so existiert, wie sie dem naiven Bewusstsein erscheint.38 Bezieht man diese Gedanken auf die gegenwartsbezogene historische Lexikographie, dann lässt sich analog argumentieren: Gegenwartssprachlicher Wortschatz ist immer Resultat der Art und Weise, wie frühere Sprecher auf Realität Bezug genommen haben; er ist damit zugleich sprachliches Inhaltssystem, das allen gegenwärtigen Weisen der Bezugnahme zugrunde liegt. Dies zu erkennen und pädagogisch zu vermitteln, ist eine Aufgabe, die mit dem Selbstverständnis von Wissenschaft, darin bestehend, das eigene Tun reflexiv zu begleiten, harmoniert. (3) In kommunikationsfunktionaler Perspektive besteht der Gegenstand der Lexikographie in der Behandlung der lexikalischen Einheiten, in denen Sprecher einer Sprache kommunikativ miteinander umgehen, in denen sie sich reproduktiv auf Realität beziehen, in denen sie reziprok Realität setzen,
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Es ist unbefriedigend, ausgerechnet Sprache als die Fähigkeit, die den Menschen zum Menschen macht, unter derart negativen Kennzeichnungen zu sehen. Hierzu zwei Zitate, die diese Haltung belegen: „Das ist ein Dilemma: Sprache verstellt uns Geschichte“; dann folgt ein relativierendes aber (so H.-J. Goertz 1995, S. 148). Selbst bei C. Geertz begegnet die Metapher, dass der Mensch in „selbst gesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist“ (1983, S. 9; Kursivierung von mir). Man könnte die apodiktische Schärfe dieses Satzes sicher reduzieren, wenn man vernünftigerweise nicht bestreitbare Bezugsgegenstände wie ‚einzelner Baum‘ oder ‚einzelnes Blatt‘ von solchen des Typs ‚Arbeit‘, ‚Ehre‘, ‚Gnade‘ unterscheidet. Man kommt damit aus der Problematik aber nicht heraus.
2. Vergangenheitsbezogene und gegenwartsbezogene historische Lexikographie
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in denen sie ihre Beziehungen definieren. Fasst man historische Verhältnisse als Gegebenheiten auf, die kommunikativ ausgehandelt werden, dann ist Geschichtsschreibung aller Sparten notwendigerweise das Bemühen, ihre jeweils spezifischen Gegenstände, etwa geschichtliche Staaten-, Rechts-, Wirtschaftsverhältnisse, als Gegebenheiten zu beschreiben, die prinzipiell immer im kommunikativen Fluss der Tradierung existieren, nicht also als zwar nur über Sprache zugängliche, von ihrem Status her aber außersprachliche Entitäten. Geschichtsschreibung käme auf diese Weise in die Nähe einer kommunikationsgeschichtlich aufgezogenen Bedeutungsgeschichte sowie einer Symptomwertgeschichte (s. dazu den folgenden Absatz), jeweils natürlich innerhalb einer Textgeschichte. – Die sprachphilosophischen Fragestellungen, die soeben unter erkenntnisfunktionalem Aspekt angesprochen wurden, stellen sich in analoger Weise unter kommunikationsbezogenen Aspekten. Man brauchte statt vom Weltbild dann nur vom Kommunikations-, Handlungs-, Beziehungsbild zu sprechen und dieses als das aus welchen Überlieferungsgründen auch immer erhaltene Ergebnis einer sozialen Favorisierung mehrerer möglicher solcher Bilder bzw. als kommunikatives Apriori zu definieren. Erkenntnisgegenstand aller Geschichtswissenschaften wäre dann zumindest unter methodischem Aspekt das Bild, das die erhaltenen Texte zeigen; etwas Anderes liegt empirisch ja nicht vor. Ob man seine Tätigkeit theoretisch anders versteht, nämlich ein Durchstoßen des Überlieferungsbildes in Richtung auf eine hinter ihm liegende ‚Realität‘, ist eine Weltanschauungsfrage. – Für die historische Lexikographie gegenwärtiger Sprachstände gilt wieder Entsprechendes. (4) Historische Lexikographie ist immer auch diejenige Disziplin, die die Symptomwerte geschichtlicher Ausdrücke behandelt und damit Einblicke in die Gruppierungen und Schichtungen einer Sprachgesellschaft und in deren Bewertungen ermöglicht. Der Wert dieses Informationstyps für eine Geschichtsschreibung, die ihren Gegenstand auch durch jeweils zeitgenössische Bewertungen der Handelnden bestimmt sieht, ist offensichtlich: Wörter und Wortbedeutungen sind nicht frei im kommunikativen Raum schwebende autonome Gegebenheiten, sondern gewinnen besondere Werte durch denjenigen, der sie gebraucht. Es ist nicht nur ein semantischer Unterschied, ob glaube oder gute werke im Sinne der Reformation oder des zeitgenössischen Katholizismus gebraucht wurden; die Verwendung solcher Ausdrücke gibt auch Möglichkeiten der Klassifizierung ihrer Benutzer. Sobald jemand dauernd positiv und mit Frontstellung gegen die ‚guten werke‘ vom ‚glauben‘ schreibt, gilt er als ‚gnadheinz‘ (FWB 7, Sp. 44), als Ketzer / Protestant, und zwar unabhängig davon, was er inhaltlich genau über ‚glaube‘ aussagt.
24 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen 3. Lexikographie wird in ihrer vergangenheits- und in ihrer gegenwartsorientierten Ausprägung verbreitet als eine Tätigkeit gesehen, die in engstem Zusammenhang mit der Philologie steht. Dabei wird ‚Philologie‘ besonderen Aspekten unterworfen, von denen hier nur diejenigen der vergangenen beiden Jahrhunderte interessieren. – Philologie ist erstens diejenige Wissenschaft, die auf eine Einzelsprache und deren Texte, gerne sogar auf eine als Nationalsprache verstandene Sprache bzw. auf Texte zielt, die man als Ausdruck von Nationalität bzw. als deren Voraussetzung sieht. An die Stelle von National‚sprache‘ kann auch National‚dialekt‘ treten. – Philologie ist zweitens diejenige Wissenschaft, die sich einen qualitativ herausgehobenen, nämlich literarischen, Textkanon schafft, den man als Leistung der Bildungsschichten und -gruppen versteht, in deren Tradition man sich sieht (ausführlich zu diesen beiden Punkten: Kap. 5). In der Praxis (insbesondere in der Mediävistik) realisierte sich dies generationenlang als enge institutionelle Anbindung der Lexikographie an die Abteilung ‚Literaturwissenschaft‘ der jeweiligen Einzelphilologie, und zwar in der Weise, dass sich Lexikographie in die Funktion der Hilfswissenschaft für ‚höhere‘ Zwecke hineinmanöveriert fand. Dies letztere mag innerhalb der Germanistik und partiell auch innerhalb der Nederlandistik und der Anglistik dadurch bedingt (gewesen) sein, dass die Quellen der älteren Jahrhunderte zu einem erheblichen Teil mit den bildungsideologischen und national-patriotisch orientierten literaturgeschichtlichen Interessen der Germanistik, Nederlandistik, Anglistik in Einklang gebracht werden konnten. Jedenfalls zeigen die beiden dreibändigen Wörterbücher des Mhd., M. Lexer und BMZ, deutlich abgeschwächt auch das neue Mittelhochdeutsche Wörterbuch (Mhd. Wb.), ferner das Middelnederlandsch Woordenboek (Mnl. Wb.) von E. Verwijs / J. Verdam und nicht zuletzt die großen nationalen Werke der deutschen, niederländischen und englischen Philologie (DWB; WNT; OED), auch das DOST, eine gewisse bis offensichtliche Konzentration auf literarische Quellen, die sich zur Instrumentalisierung als Monumente einer je besonderen Bildungs-, Literatur- und Nationalgeschichte offenbar besonders eignen. Die heutige Lexikographie historischer Sprachstadien (außer den großen, nationalkulturellen, diachronen Unternehmen zweifellos der Kern historischer Lexikographie) hat sich teilweise allerdings aus den Bindungen an die Philologie und speziell an die Literaturwissenschaft (mit ihrem eingeschränkten Textkanon) gelöst. Dies ist die einzig vertretbare Entscheidung. Die Etablierung und Institutionalisierung nebeneinander stehender Disziplinen wie Germanistik, Rechtsgeschichte, Geschichtswissenschaft mit den Einzelzweigen Sozial- und Wirtschaftsge-
3. Zur Produktion historischer Wörterbücher
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schichte, Verfassungsgeschichte, Staatengeschichte usw. hat zwar nachvollziehbare historische Gründe; sie hätte aber auch nach weitgehend anderen Unterscheidungen verlaufen können. Jedenfalls ist historische Lexikographie heute nicht mehr nur eine Teildisziplin einer nationalen Philologie, erst recht nicht der Literaturgeschichte (sie müsste dann auch von Literaturwissenschaftlern ausgeübt werden), sondern der Traditionsforschung generell. Gerade dann, wenn man – wie oben mehrfach geschehen – die Einzelsprache als unhintergehbaren und für viele Anliegen einzigen methodischen Zugang zu historischer Realität sieht oder wenn man sie gar unter die theoretische Vorgabe stellt, Konstituente von Wirklichkeitsbildern zu sein, ist Lexikographie für die Theologie, die Geschichtswissenschaft und die Rechtsgeschichte in gleicher Weise Grundlagendisziplin wie für die Sprachoder Literaturgeschichte; sie hat dann die gesamte Sprache einer Zeit in der wechselseitigen Verflechtung aller historischen Sinnwelten zum Gegenstand. Kein zukünftiges Sprachstadienwörterbuch sollte die ahd., mhd., mnd., frnengl. usw. Sprache auf Quellen einengen, die man als literarisch qualifiziert hat, die aber in einem offenen Übergangsverhältnis zu anderen, nicht als literarisch klassifizierten Quellen stehen; keine sollte nur an Germanisten (Nederlandisten, Anglisten oder Vertreter anderer Einzelphilologien) adressiert sein. Dass damit auch Aspekte der Finanzierung historischer Lexikographie angesprochen sind, ergibt sich aus dem folgenden Abschnitt.
3. Zur Produktion historischer Wörterbücher 1. Man sollte erwarten, dass historische Lexikographie, wenn sie in der im vorangehenden Kapitel beschriebenen Rolle erkannt wäre, innerhalb von Gesellschaften wie denjenigen mit vorwiegend deutscher, niederländischer, englischer Sprache einen breiten gesellschaftlichen und staatlichen Rückhalt habe. – Die Fakten zeigen folgendes Bild: 1. 1. Die vergangenheitsbezogene Lexikographie des Deutschen vollzog sich in den späteren Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (und großenteils bis heute) in den Ländern mit deutschsprachiger Bevölkerungsmehrheit (de facto in der Bundesrepublik Deutschland, der Republik Österreich, der Schweizerischen Eidgenossenschaft) im Rahmen eines guten Dutzends relevanter Unternehmen; diese sind: – Althochdeutscher und Altsächsischer Glossenwortschatz (Glwsch.), – Althochdeutsches Wörterbuch (Ahd. Wb.), – Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen (Et. Wb. Ahd.),
26 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen – – – – –
Mittelhochdeutsches Wörterbuch (Mhd. Wb.), Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache (WMU), Mittelniederdeutsches Handwörterbuch (Mnd. Hwb.), Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (FWB), Deutsche Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache (DRW), – Wörterbuch zu Dr. Martin Luther’s deutschen Schriften (Luther-Wb.),39 – Lexikon sprachtheoretischer Grundbegriffe des 17. und 18. Jahrhunderts (LsG), – Goethe-Wörterbuch (Goethe-Wb.), – Schiller-Wörterbuch (Schiller-Wb.), – Klassikerwörterbuch (Kwb.), – Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache (Schweiz. Id.), – Thesaurus proverbiorum medii aevi (TPMA).40 1. 2. Gegenwartsbezogene historische (diachrone) Lexikographie betreiben / betrieben – in welcher Gewichtung auch immer – die folgenden Unternehmen: – einige der großen Dialektwörterbücher des Deutschen, darunter (von Norden nach Süden): das Mecklenburgische Wörterbuch (Meckl. Wb.), das Hamburgische Wörterbuch (Hamb. Wb.), das Westfälische Wörterbuch (Wfäl. Wb.), das Mittelelbische Wörterbuch (Melb. Wb.), das Hessen-Nassauische Volkswörterbuch (Hess.-Nass. Vwb.), das Thüringische Wörterbuch (Thür. Wb.), das Pfälzische Wörterbuch (Pfälz. Wb.), das Südhessische Wörterbuch (Shess. Wb.), das Badische Wörterbuch (Bad. Wb.), das Bayerische Wörterbuch (BWB), das Sudetendeutsche Wörterbuch (Sudetendt. Wb.), das Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ), das Siebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch (Sieb.-Sächs. Wb.), – einige allgemeine Wörterbücher der deutschen Gegenwartssprache, unter diesen das fortlaufend vervollständigte und verbesserte Große Wörterbuch der deutschen Sprache (Duden, Gr. Wb.), das Deutsche Universalwörterbuch (Duden, Uwb.), H. Paul, Dt. Wb. (2002 in 10. Auflage),
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Gemeint ist hier die Fortsetzung des Luther-Wbs. von Ph. Dietz (1870) durch R. und G. Bebermeyer 1993ff. 40 Diese Liste enthält (wie auch die folgenden Zusammenstellungen) einige Unternehmen, die eingestellt wurden (Luther-Wb. in der Fortsetzung von R. und G. Bebermeyer) oder zum Abschluss gebracht werden konnten (TPMA; Meckl. Wb.; Pfälz. Wb.; Shess. Wb.). – Zur besonderen Geschichte des DOE (im englischen Bereich) s. M. Adams 2009, S. 345 – 351.
3. Zur Produktion historischer Wörterbücher
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das Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung (DWB, Neub.), – das Deutsche Fremdwörterbuch (DFWB), – das Historische Deutsche Vornamenbuch (HdV), – die abgeschlossenen, aber (wie die genannten allgemeinsprachlichen Wörterbücher des Dudenverlags und H. Paul, Dt. Wb.) laufend überarbeiteten etymologischen Wörterbücher des Deutschen, darunter W. Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, ferner F. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (24. Aufl. von E. Seebold) und Duden, Etymologie. Das Herkunftswörterbuch (2. Aufl. von G. Drosdowski). Eingestellt wurde das 1986ff. in 3 Lieferungen erschienene Etymologische Wörterbuch von R. Hiersche (vgl. dazu dens. 1987). 1. 3. Dass zwischen den als ‚vergangenheitsbezogen‘ und ‚gegenwartsbezogen-diachron‘ klassifizierten Wörterbüchern Überlappungen bestehen, ist in vorliegendem Zusammenhang ebenso selbstverständlich wie irrelevant: Das Schweiz. Id. etwa könnte auch als ‚gegenwartsbezogen-diachron‘ und das DWB oder das WBÖ je nach Aspekt auch als ‚vergangenheitsbezogen‘ charakterisiert werden. Wichtig aber ist, dass sich die unter gegenwartsbezogen-diachron aufgelisteten Werke im Gewicht ihrer geschichtlichen Komponente deutlich unterscheiden: Das Meckl. Wb., das BWB, das WBÖ beanspruchen nach ihren Vorworten / Einleitungen und jüngst nach ihren jeweiligen Eigencharakterisierungen (laut Akademiewbb. 1994 sowie laut Deutschsprachige Wörterbücher 2000), den Wortschatz ihrer Gebiete bis weit in die Vergangenheit, z. B. bis zum Zeitpunkt der „Besiedlung des Landes“41 oder bis in ahd. Zeit42, zurückzuverfolgen; das ist die eine Position. Nach einer anderen Position werden in der Phase der Materialsammlung nur Exzerpte in nicht exakt43 angegebener Dichte, teilweise beschränkt auf die letzten beiden Jahrhunderte, aus historischen Quellen gewonnen und bei der Ausarbeitung in einer im einzelnen unterschiedlich vage angegebenen Auswahl einbezogen.44 In einer Reihe von Fällen sah man sich aus
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So für das Meckl. Wb. J. Gundlach / Ch. Rothe 1988, S. 70f.; vgl. auch J. Gundlach in Akademiewbb. 1994, S. 52. 42 So A. A. Rowley für das BWB; s. Deutschsprachige Wörterbücher 2000, S. 12. 43 Man beachte Formulierungen wie: Urkunden vor 1300 „sind berücksichtigt“, sonst wurde aufgenommen, „was gerade am Wege lag“ (Bad. Wb., Bd. 1, S. 3*). 44 Einige Beispiele (mit Angaben vorwiegend aus: Deutschsprachige Wörterbücher 2000): Hamb. Wb.: Exzerption aus dem 13. bis 20. Jh., Darstellung aber nur in Ausnahmefällen über das 17. Jh. zurückreichend (J. Meier, S. 46). – Hess.-Nass. Vwb.: „Belege aus Urkunden nur bisweilen herausgegriffen“ (so das Vorwort von 1942), dagegen: „umfangreiche Auszettelung veröffentlichter Urkunden des Gebiets sowie schriftlicher
28 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen finanziellen oder bearbeitungstechnischen Gründen nicht in der Lage, den ursprünglichen Anspruch der Erfassung und Darstellung auch des historischen Wortmaterials der jeweiligen Landschaft zu realisieren, und reduzierte die historische Komponente in einem im einzelnen von den Arbeitsbedingungen her nötigen bzw. möglichen Ausmaß. Das jüngste Beispiel bietet das 1999 publizierte Straffungskonzept für das WBÖ. Es setzt fest, dass „isolierte und historische Wörter einschließlich Ableitungen und Komposita vor 1800“ bei der Artikelausarbeitung nicht mehr berücksichtigt werden, dass „historische Belege der mittelhochdeutschen Literatur [...] nicht zitiert [werden], außer wenn sie den bairischen Charakter in besonderer Weise bezeugen.“ An die Stelle der bis dahin üblichen „ausführlichen Darbietung der vorhandenen historischen Belege“ tritt nunmehr die Regel: „nur ein historischer Beleg aus jedem Jahrhundert pro Bedeutung“ (I. Reiffenstein 1999, 114; 115; ähnlich WBÖ, Beih. 2, S. 11). Es gibt also generell eine wie auch immer begründete Tendenz, die ursprünglich auch historisch-diachronen Informationen der großräumigen Dialektwörterbücher, erst recht die auf die weitere Vergangenheit bezogenen Informationen, zugunsten synchron gegenwartsbezogener auszudünnen oder gar auf sie zu verzichten. Die beiden oben genannten Wörterbücher des Duden-Verlages sind ohnehin durch die Sparsamkeit ihrer historischen Komponente gekennzeichnet. Die Neubearbeitung des DWB unterliegt einem Straffungskonzept, das ebenfalls von (übrigens vernünftiger) Sparsamkeit hinsichtlich der historischen Dokumentation des (weiteren) gegenwartssprachlichen Wortschatzes diktiert ist. 2. Die Arbeitsstellen historischer Wörterbücher verfügen über einen von Unternehmen zu Unternehmen stark unterschiedlichen Mitarbeiterstab. Den Minimalfall bildet eine Einzelperson, den Maximalfall eine Gruppe von knapp 20 Personen; ein Stab von 4 bis 6 Personen kann als Durchschnitt gelten. Üblicherweise wird jeweils eine der Mitarbeiterstellen vom sog. Arbeitsstellenleiter eingenommen; technisches Personal kann hinzukommen, gehört aber nicht zur Regelbesetzung. Insgesamt sind in Deutschland,
Zeugnisse in oder über Mundart aus allen Zeiten“ (H. J. Dingeldein, S. 48). – Shess. Wb.: historische Belege aus Urkunden, Weistümern, Chroniken usw. in Auswahl dargeboten (R. Mulch, S. 85). – Thür. Wb.: Exzerption historischer Quellen wie Gemeindeordnungen, Inventarverzeichnisse, Urkundenbücher usw. (W. Lösch, S. 89). Historischer Wortschatz habe Aufnahme gefunden, „wenn er die Wortgeschichte erhellt, [...], mundartnah ist oder den bäuerlichen Lebenskreis betrifft“ (Bd. 1, S. IV). – Schles. Wb.: hier und da Nennung historischer Belege mit (als Ausnahme) Einordnung in die Sprachgeschichte (vgl. betriese). – Sieb.-Sächs. Wb.: Urkundensprache von der Mitte des 13. Jhs. bis 1848 (S. Haldenwang, S. 81). – Sudetendt. Wb.: historische Quellen nur in Ausnahmefällen (B. Kesselgruber, S. 83).
3. Zur Produktion historischer Wörterbücher
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in der Schweiz und in Österreich für eine Anzahl von etwa 95 Millionen Deutschsprechenden rund 150 Personen45 hauptberuflich mit historisch-vergangenheitsbezogener und gegenwartsbezogen-diachroner Lexikographie befasst; das ist eine Relation in der Größenordnung von 1: 600 000. – Die historische Sachlexikographie, wie sie sich z. B. im Lexikon des Mittelalters (LdM), im Lexikon für Theologie und Kirche (LThuK), in Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), in der Theologischen Realenzyklopädie (TRE), im Historischen Wörterbuch der Philosophie (Hist. Wb. Phil.), im Historischen Wörterbuch der Rhetorik (Hist. Wb. Rhet.), aber auch z. B. in Registern wie dem Luther-Register 46 niederschlägt, ist in diese Berechnung nicht einbegriffen. 3. Die Mitarbeiterstellen sind zu einem nicht genau angebbaren, in jüngster Zeit aber steigenden Prozentsatz, befristet; trotzdem dürften sie in der Mehrheit immer noch eine längerfristige finanzielle Absicherung durch eine wissenschaftliche Einrichtung oder (seltener) durch einen Verlag haben. Das bedeutet zwar oft, aber nicht immer, die arbeitsrechtliche Absicherung des einzelnen Stelleninhabers. Neben der festen Anstellung der einen Person steht also die auf einige wenige Jahre befristete Anstellung einer anderen. Eine weitere Ungleichheit ergibt sich aus der ungleichen Honorierung der nach ‚alten‘ und der nach ‚neuen‘ Verträgen angestellten Personen. Während sich die eine Person damit (kritisch formuliert) auf lebenslange Behäbigkeit und ‚Qualitätspflege‘ einstellen als auch (positiv ausgedrückt) eine lebenslange lexikographische Erfahrung sammeln und diese zum Wohl des Unternehmens einsetzen kann, ist oder fühlt sich die andere in den wenigen Jahren ihrer Anstellung auf den Erwerb einer zusätzlichen, außerhalb der Lexikographie liegenden Berufsqualifikation angewiesen. – In Einzelfällen gibt es besondere, von den genannten Üblichkeiten abweichende Formen der Organisation von Wörterbüchern und der Mitarbeit an ihnen. – Ich trage dies alles teilweise mit dem Unterton des Unbehagens an der Form der in der Bundesrepublik Deutschland herrschenden Organisation geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung vor, will aber keineswegs suggerieren, dass sich die Verhältnisse leicht verbessern ließen. – Im niederländisch- und englischsprachigen Raum sind die Produktionsverhältnisse stark durch die
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Es geht hier nur um die Angabe der Größenordnung; die Mitarbeiterstäbe der diachronen Wörterbücher der Gegenwartssprache, der Dialekte usw. wurden je nach der Rolle, die die historisch-diachrone Komponente in den einzelnen Unternehmen hat, nur partiell in die Berechnung einbezogen. 46 Dazu: Deutschsprachige Wörterbücher 2000, S. 56; Wiss. Lex. 2003, S. 275 – 279.
30 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen dortigen großen Institutionen (Instituut voor Nederlandse Lexicologie; Oxford English Dictionary) geprägt. 4. In den mitteleuropäischen Ländern gibt es meines Wissens keinen Studiengang ‚Lexikographie‘. Die Mitarbeiter historischer Wörterbücher haben also weder eine direkt auf ihren Beruf bezogene Ausbildung absolviert noch eine auf Lexikographie konzentrierte Abschlussprüfung abgelegt. Dennoch sind typische Ausbildungsmerkmale und biographische Wegmarken erkennbar: Der Lexikograph hat ein Universitätsstudium in einer linguistischen oder philologischen Disziplin (für das Deutsche: in Germanistik) absolviert; er hat dabei historische Sprach- und Literaturkenntnisse erworben und vor allem gelernt, eine ihm gestellte Aufgabe theoretisch zu reflektieren; er hat innerhalb des so bestimmten Rahmens wahrscheinlich lexikographische Lehrangebote, die von einigen Universitäten, von drittmittelfinanzierten Forschungsstellen innerhalb einer Universität oder von seiten einer Akademie unterbreitet wurden, als Ergänzung zur eng fachgebundenen Lehre wahrgenommen und in diesem Zusammenhang möglicherweise Hilfskraftdienste geleistet. Nach Abschluss seines Studiums hat er eine (oft befristete) Stelle an einem akademischen oder verlagsgebundenen Wörterbuchunternehmen gefunden, die er – persönliches Interesse vorausgesetzt – nutzt, um in eine Dauerstelle eingewiesen zu werden bzw. eine Leitungsposition in einem Verlag zu übernehmen. Nebenbei kann er für einige Semester einen (unbezahlten oder minimal honorierten) Lehrauftrag an einer Universität ausgeübt haben. Eine Habilitation war bei dieser Belastung in aller Regel weder möglich, noch wurde sie von seiten der Wörterbuchleitungen erwartet bzw. gefördert, da der Nutzen der Habilitation für die lexikographische Praxis oft als nicht gegeben gilt oder tatsächlich nicht vorhanden ist. Sollte sie dennoch (als Ausnahme) gelungen sein und sollte dem Lexikographen eine Professur oder eine Leitungsstelle eines Verlages zuteil geworden sein, so wendet er sich nicht nur praktisch, sondern auch mit seinen Arbeitsgewichtungen denjenigen Teilgebieten seines Faches zu, die mit höherem Prestige ausgestattet sind als die Lexikographie. Diese gilt – und das wird zum mindesten in der Bundesrepublik immer wieder direkt so gesagt – innerhalb der philologischen Fächer als Domäne handwerklicher Biederkeit und hilfswissenschaftlicher Zubringerdienste.47 Bleibt er einem lexikographischen Unternehmen dennoch verbunden oder übernimmt er ein solches
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Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Diskussion bei H. E. Wiegand (1998, S. 15ff.) unter der Überschrift: „Ist die Sprachlexikographie eine Wissenschaft?“ Man beachte auch die Antworten (S. 39 – 41), darunter die inzwischen bekannt gewordene Klassifizierung der Lexikographie als als „kulturelle Praxis“ (mit Differenzierungen).
3. Zur Produktion historischer Wörterbücher
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z. B. auf dem Wege einer Berufung gleichsam als Mitgift, so stellt er seine Energie ebenfalls in den Dienst angesehener Domänen linguistischer, literaturgeschichtlicher oder -theoretischer Entwürfe. Professoren, die sich der lexikographischen Praxis so engagiert widmen wie z. B. ein Literaturwissenschaftler einer Geschichte des europäischen Bildungsromans, einer Dichterbiographie, einer Studie über eine mittelalterliche Texttradition, zählen jedenfalls zu den Exoten unseres Faches (der Germanistik). Es stört niemanden, wenn lexikographisch unausgewiesene48 Personen über Nacht zum Leiter eines Wörterbuchunternehmens werden, auch dies ein Beweis für das geringe wissenschaftliche Prestige der Lexikographie. Die akademische Leitung eines Projektes innezuhaben, heißt in der Praxis denn auch nur allzu oft, die Arbeit in profund demokratischer Weise zu delegieren. Die Titelblätter der Wörterbücher spiegeln dies teilweise korrekt (etwa begründet von [...], bearbeitet von [...]), teilweise in interpretablen Formulierungen der Art bearbeitet von [...] unter Mitarbeit / Mitwirkung von [...]; sie erscheinen mir deshalb als interpretabel, weil sie den Anteil der Mitarbeitenden, möglicherweise sogar des eigentlichen Autors, am Endprodukt nicht klar erkennen lassen. Vereinzelt wird die Leistung der Bearbeiter / Autoren dadurch verschleiert und ihre Motivation damit beeinträchtigt, dass man auf der Titelseite nur den / die Herausgeber bzw. die herausgebende Institution nennt, während die Bearbeiter / Autoren auf der Titelrückseite erscheinen oder auf sonstige Weise peripherisiert werden. 5. Zwischen der Gründung eines Wörterbuches und dem tatsächlichen oder geplanten Publikationsbeginn liegt ein unterschiedlich langer Zeitraum: Im günstigsten Fall erreicht dieser nicht einmal 10 Jahre (FWB); Zeitspannen von einer drittel bis zu einer vollen Generation49 können als Normalfall gelten; in Einzelfällen liegt die Spanne bei einem Wert zwischen einer guten und rund zwei Generationen50 oder übersteigt diesen sogar.51 Die Gründe für so unterschiedliche Planungs- und Vorbereitungszeiten ergeben sich teils aus den immer wieder angeführten kriegs- und sonstigen zeitbedingten Unterbrechungen, zu einem erheblichen Teil aber auch aus
48 Dieser Fall begegnete 1930 auch hinsichtlich des MED (vgl. M. Adams 2009, S. 335). Er kann mit allen möglichen Fehlaktivitäten verbunden sein und sogar bedeuten, dass mit einem neuen Projektverantwortlichen die Konzeption wechselt (ebd., S. 336): vom Ergänzungswerk des OED (so unter S. Moore) zum eigenständigen Werk (so unter H. Kurath). 49 So das Mhd. Wb.: 1990 bis 2006; WMU: 1957 bis 1968; Goethe-Wb.: 1946 bis 1966. 50 Z. B. Hess.-Nass. Vwb.: 1911 bis 1943; Pfälz. Wb.: 50 Jahre; Thür. Wb.: 1907 bis 1966; WBÖ: 1911 bis 1963; OED: 1858 bis 1882. 51 Wfäl. Wb.: Nach Vorläuferarbeiten (seit 1906) 1927 bis 1969; dann Änderung der Konzeption und erneuter Publikationsbeginn: 1997; BWB: 1911 bis 1994.
32 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen lexikographischer Inkompetenz, Fehlplanungen und Fehlorganisationen, aus qualitätsblinder ungesteuerter Sammelwut, aus der geschilderten sozialstrukturellen und sozialpsychologischen Situation der Lexikographie, aus konzeptionellen Unklarheiten, auch aus dem Desinteresse offiziell Verantwortlicher sowie aus Leitungsschwächen.52 6. Auch die Bearbeitungszeiten historischer Wörterbücher (sowohl die tatsächlichen wie die geplanten) unterliegen starken Schwankungen. Für das DWB (1. Aufl.) wurden 108 Jahre benötigt: Die erste Lieferung erschien 1852; der Abschluss des Werkes lag im Jahre 1960; erst 1971 folgte das Quellenverzeichnis. Das DRW und das Schweiz. Id. werden diese Spanne mit 124 bzw. mit 145 Jahren noch übersteigen. Die kürzeste Bearbeitungsdauer hat das HdV mit 11 Jahren. Auf 24 Jahre kam das WMU; eine mittlere Dauer (30 – 50 Jahre) erreichten das Pfälz. Wb., der Glwsch. R. Schützeichels sowie mit 44 Jahren auch das NED / OED 1928. Entsprechende Zeiträume sind (nur zum Teil sicher berechenbar, zum Teil mit einem im einzelnen unsicheren Wahrscheinlichkeitsgrad) für die Neub. des DWB, das FWB, das Mhd. Wb., das Thür. Wb., das DFWB (2. Aufl.)53 zu erwarten. Für das Ahd. Wb., das Goethe-Wb., das Hess.-Nass. Vwb., das BWB, das WBÖ, das Sieb.-Sächs. Wb. wird mit Bearbeitungszeiten gerechnet, die über 50 Jahren liegen, im Einzelfall auch auf ein Jahrhundert oder mehr zusteuern könnten. – Erstaunlich ist dagegen die „betrekkelijk korte tijd“ >relativ kurze Zeithinter sich lässt, abhängtbearbeitet< (W. J. J. Pijnenburg, K. H. van Dalen-Oskam, K. A. C. Depuydt, T. H. Schoonheim); die Redactie bildeten 13 Personen. – Träger der historischen Lexikographie des Niederländischen ist eine nach niederländischem Recht arbeitende Stiftung Instituut voor Nederlandse Lexicologie; finanziert wird sie vom niederländischen Staat und der Flämischen Gemeinschaft. (b) Als herausragende Gestalt der historischen Lexikographie des Englischen gilt (neben Henry Bradley, William Craigie, C. T. Onions68) James A. H. Murray. Von ihm heißt es in der Einleitung (History) zum OED 1989 (Bd. 1, S. XL), er sei der „editor capable of converting its latent possibilities into a great reality“, und weiter, er habe dem Wörterbuch eine Form gegeben, „which proved to be adequate to the end, standing the test of fifty years without requiring any essential modification to adept it to the steady advance of English scholarship“. Er redigierte nicht weniger als 7 207 Seiten im OED-Format (etwa 24 000 Normalseiten; vgl. die Zusammenstellung a. a. O., 1989, S. XLIV). In den Jahren um 1877 hängt Sein und Nichtsein des OED davon ab, ob er sich bereit erklärt, dem Werk als leitender Herausgeber zur Verfügung zu stehen (Nachweise bei L. Mugglestone 2009, S. 242).
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So lautet jedenfalls das Urteil von J. W. Muller 1929 im Vorwort zu Band 9, S. XIV – XV; Weiteres, darunter begründet Kritisches bei P. G. J. van Sterkenburg 1990, auch bei J. J. van der Voort van der Kleij 1983. 68 Kurzbiographien zu diesen und anderen finden sich bei D. L. Berg (1993, S. 98ff.).
3. Zur Produktion historischer Wörterbücher
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14. Der abschließende Blick auf die Produktionssituation der historischen Lexikographie fängt sich an einigen markanten Punkten. Zu diesen zählt die allmähliche Verschiebung ihrer Trägerschaften von Gesellschaften,69 Interesseverbänden und -gruppen im weitesten Sinne auf staatliche oder staatlich gestützte Förderungsinstanzen. Auch bei der 2. Auflage des OED (1989) ist „the British Government“, genauer „the Department of Trade and Industry“ mit der Ankündigung einer Subvention auf den Plan getreten. Der Grund ist nach History (1989, S. LI) the „recognition of national importance of the project“, zweifellos eines nationalen Monumentes („national monument“).70 – Mit der allgemeinen Verschiebung der Trägerschaft korreliert eine langfristige Tendenz zur Reduktion der Individuallexikographie sowie die jede Motivation lähmende Dauer der Bearbeitungszeiten, schließlich auch – auf der Benutzerseite – die Verunmöglichung einer „normalen“ Rezeption. Den Zusammenhang zwischen diesen Tendenzen sehe ich wie folgt: Von Einzelpersonen oder Gesellschaften initiierte und getragene Lexikographie ist per definitionem an die Interaktion mit Rezipienten, an soziale Resonanz und nicht zuletzt an den wirtschaftlichen Erfolg ihrer Publikationen gebunden. Sie muss deshalb um den Wörterbuchbenutzer werben, d. h. auch: auf seine angenommenen Informationswünsche eingehen, diesen durch Inhalt und Art der Darstellung gerecht werden und sich damit bestimmten Produktionszeiten unterwerfen. Wörterbücher müssen also innerhalb einer Generation fertig werden. Demgegenüber ist festzustellen: Wörterbücher von der Größenordnung des DWB, WNT, OED, auch des Schweiz. Id. und selbst solche vom Umfang und Zuschnitt sowie von der Qualität der größeren historischen Sprachstadien-, einiger Dialekt- und Autorenwörterbücher haben sich, und zwar teils schon mit ihren ersten Lieferungen, von den zeitgebundenen, damit wechselnden, außerdem eingeschränkten Informationsanliegen vorgestellter Benutzer abgewendet und in Richtung auf die Fiktion umfassender, dem Anspruch nach zeitüberdauernder Endgültigkeit hin entwickelt, sich dabei (dies gilt insbesondere für einige Strecken des DWB, etwa g-) in irrelevanten laut- und formengeschichtlichen Details verloren. In den Termini des heutigen Gedächtnis-Diskurses ausgedrückt: Sie haben nicht nur das kommunikative Gedächtnis, sondern auch das kulturelle Gedächtnis weit überstiegen (soweit man diesem jedenfalls gewisse Fokus-
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Zu diesen zählt dann etwa in England die Historical Society, aber auch z. B. die Worshipful Company of Goldsmiths (OED 1989, Bd. 1, S. XLV). Das engl. Adjektiv national hat hier natürlich eine partiell andere Bedeutung als national im Deutschen des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; interessant ist dennoch auch der Ausdruck monument als Entsprechung für dt. Denkmal.
48 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen sierungen zuerkennt und damit auch Vergessensbestände einräumt) und sich tendenziell auf die Gesamtheit der Überlieferung gerichtet. Selbst wenn sie eine nationale, bildungssoziologische und / oder volkskundliche Funktion im Programm hatten, wurde dieses Motivbündel konterkariert durch ihre monumentalistische Anlage, durch die Umfänge, die der Nutzung im Wege stehen, durch Differenzierungen außerhalb des Interesses, nicht zuletzt durch ihre Bearbeitungsdauer und oft durch ihren Preis. Hinzu kam, dass die anfänglich propagierte ‚nationale‘ Funktion zwar lange, in ihren Ausläufern – einigen offiziellen Äußerungen nach – bis in die Zeit der deutschen Teilung, aufrechterhalten wurde,71 aber dennoch zunehmend an Glaubwürdigkeit verlor. Das DWB ist eben niemals das regelmäßig eingesehene Referenzwerk Bildungs- und Literaturinteressierter, nicht einmal der Berufsgermanisten, gewesen, das zu sein es beanspruchte. Kurz gesagt: Anspruch, Anlage und auch Realisierung der großen Wörterbücher mögen unter wissenschaftlichem Aspekt bewundernswürdige Leistungen sein, sie stehen aber aufgrund ihrer Monumentalität außerhalb der Rezeptionsdisposition. Auch wenn dies alles sehr apodiktisch und allgemein gesagt wurde und im einzelnen stark modifiziert werden müsste, kommt man nicht an folgender Schlussfolgerung vorbei: Die historische Lexikographie – sowohl diejenige alten Stils als auch die digital arbeitende – braucht eine neue Ideologie und dazu stimmige Realisierungen. Die geforderte Ideologie wird weniger schlagend sein müssen als das Zusammenspiel nationaler und bildungsorientierter Anliegen des späten 19. Jahrhunderts; sie kann nach meinem Urteil nur auf der Rolle der Sprache als des methodischen Zugangs zu geschichtlicher Erkenntnis, auf der geschichtstypischen Perspektivierung von Welt durch Einzelsprache, auf der einzelsprachbedingten Verfassung sozialer Beziehungs- und Herrschaftsgefüge beruhen (im Sinne von Kap. 2, Abs. 2). Die neuen Realisierungen sollten auf keinen Fall alles bieten; sie sollten in kürzerer Zeit entstehen, mehr praktische Tauglichkeit aufweisen, ihre theoretischen Grundlagen zu erkennen geben und sich zu inhaltlichen Gewichtungen bekennen. Inwieweit diese Forderungen in den On-line-Versionen realisiert werden (können), bleibt abzuwarten.
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Interessant ist, dass diese Aussage auch für das Goethe-Wb. gilt.
4. Zur Rezeption historischer Wörterbücher
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4. Zur Rezeption historischer Wörterbücher 4. 1. Vorbemerkungen 1. Während die Produktion historischer Wörterbücher aus Vorworten, Werkstattberichten, Dokumentationen des Typs Deutschsprachige Wörterbücher, aus Werkstattberichten und Berichtssammlungen (z. B. Dialektlexikographie 1988; Wiss. Lex. 2003), nicht zuletzt auch aus Verwaltungsakten so erschlossen werden kann, dass sowohl der äußere Arbeitsrahmen als auch das wissenschaftlich Typische und Relevante erkennbar wird, liegt die Rezeption nahezu vollständig im Dunkeln: Es gibt für historische Wörterbücher – und zwar weder für vergangenheitsbezogene noch für gegenwartsbezogen-diachrone – keinerlei empirische Untersuchungen mit dem Ziel herauszufinden, wer als Individuum oder als Angehöriger welcher Bildungsschicht oder Institution welche Wörterbücher aufgrund welcher Benutzungsanlässe wie häufig und wie intensiv mit welchen Informationsanliegen und welchen kurzfristigen Nachschlageerfolgen oder mit welchen längerfristig wirkenden Leseerlebnissen zur Hand nimmt.72 Nicht einmal von den Studierenden und Kollegen des Faches Germanistik wissen wir, welche auch nur ungefähre Rolle Wörterbücher wie „der Lexer“ oder das DWB im Studien- oder Arbeitsalltag spielen. Der Autor eines historischen Wörterbuches kennt in der Regel zwar die Auflagenhöhe und die Verkaufszahlen seines Werkes, bleibt aber im unklaren darüber, wer es gekauft hat, wer es tatsächlich einsieht oder gar zum ständigen Nachschlage- und Forschungsinstrument macht. Er produziert insofern weitgehend blind, eine Situation, die für geistes- und sozialwissenschaftliche Publikationen allerdings keine Besonderheit ist. Angesichts dieser Tatsache kann er sich auf zweierlei Weise verhalten: (1) Da er selbst der Zunft der Traditionsbefassten angehört und deren Arbeitsweise kennt, kann er sich diese beim Schreiben seiner Artikel stets vor Augen halten. Er wendet sich dann an von ihm selbst antizipierte Benutzer mit antizipierten Informationsanliegen, das heißt in kritischer Formulierung: Er konstruiert sich zur Eigenmotivation die Fiktion einer wissenschaftskommunikativen Produzenten-Rezipienten-Beziehung; posi-
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Man vgl. zur Fragestellung (bezogen auf Wörterbücher generell) am ehesten: R. R. K. Hartmann 1989; P. Kühn 1989; U. Püschel 1989; G. Nenzioni 1989; R. Bergmann 1989; G. Harras 1989; J. Hoock 1989; hinter vielem hier Vorgetragenen stehen die Arbeiten von H. E. Wiegand zur Wörterbuchforschung; vgl. dens. zusammenfassend 1998a; 1998b; ferner 2006 / 7 (unter seinem Namen).
50 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen tiv formuliert heißt das: Er entwickelt ein begründetes Wissenschafts- und Bildungsprogramm, das er dann als Angebot an andere zu vermitteln sucht. Wie man die Situation auch kennzeichnen mag, sie muss an eingehenden Reaktionen, etwa an Rezensionen, Allusionen oder an der Zitierhäufigkeit, gemessen und beurteilt werden. Im Prinzip besteht aber keine sichere Möglichkeit, den Grad anzugeben, in dem die Intention des Lexikographen und die tatsächliche Benutzung seines Werkes übereinstimmen: „There is no one-to-one match between intended uses [...] and actual uses of the dictionary“ (R. R. K. Hartmann 1989, S. 102). (2) Wenn ein Bezug auf den Benutzer ohnehin nur über Antizipationen, Fiktionen, Programme möglich ist, dann liegt der Schluss nahe: Ich halte mich streng an die Sache, d. h. ich beschreibe meinen Gegenstand hinsichtlich aller seiner Eigenschaften so exakt wie möglich; den Wörterbuchbenutzer lasse ich dabei außer Betracht; er mag sich aus dem produzierten Text die Information herausholen, die für ihn gerade von Belang ist, er braucht dies aber auch nicht zu tun; die Leistung des Wörterbuchautors bleibt davon unberührt. Wenn mein Produkt seinen faktischen Ort in einer wohl behüteten Bibliothek haben sollte und von niemandem wahrgenommen wird, dann ist es die Schuld derjenigen, die ihre Informationschance nicht wahrnehmen. 2. In Wirklichkeit werden beide Haltungen, also die antizipativ-benutzerbezogene und die sachbezogene, zusammenspielen. – In diesem Buch wird die Auffassung vertreten, dass der Wörterbuchautor, da er keine eigenen empirischen Untersuchungen zur Rezeption seines Werkes vornehmen kann, sich den Rezipienten als möglichst vielseitig interessiert vorstellen und ihn selbst auf die Gefahr von Fehleinschätzungen hin als Kommunikationspartner ansprechen sollte. Dies gilt für den gesamten lexikographischen Prozess von der Wörterbuchplanung bis hin zur typographischen Gestaltung der Information, zu dem Distributionsapparat des Verlages und auch bis zum Preis. Das sog. Recht der Sache bleibt dabei erhalten. Es wird aber nicht nur aus einem objektartig gedachten Gegenstand hergeleitet, der zur Abbildung drängt, sondern auch aus Gestaltungsideen, reflektierten Gegenstandssetzungen, theoretischen Entwürfen, Interessen von Sprachhistorikern, unterstellten Informationserwartungen und Belehrungswünschen von Rezipienten. Das Planen und Schreiben von Wörterbüchern ist damit von vorneherein immer auch ein Akt kulturellen Schaffens, inhaltlicher Fokussierungen, der Vermittlung von Geschichtsbildern, des Werbens um die Aufmerksamkeit von Rezipienten ebenso sehr (reaktiv) auf der Basis von deren Interessen wie (aktiv) des kulturpädagogischen Engagements der Produzenten lexikographischer Werke.
4. Zur Rezeption historischer Wörterbücher
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3. Die folgende Zusammenstellung von Angaben über den Benutzer, über Benutzungsanlässe und Benutzerfragen kann nach dem Vorgetragenen nur eine Darlegung der Verhältnisse sein, von der ich mir erstens vorstelle, dass sie die Rezeptionsrealität zumindest partiell trifft, und von denen ich zweitens meine, dass sie die Wörterbuchproduktion und -rezeption mit einigen Aussagen sinnvoll zu steuern und zu verbessern vermag. – Ich beschränke mich bei meinen Angaben auf diejenigen Wörterbuchtypen, die nach meinem Urteil innerhalb der historischen Lexikographie eine ausgezeichnete Funktion erfüllen. Im Mittelpunkt steht das als Bedeutungswörterbuch angelegte Sprachstadienwörterbuch.
4. 2. Benutzergruppen 1. Als Benutzer historischer Wörterbücher (sowohl der vergangenheitsbezogenen wie der gegenwartsbezogen-diachronen) kommen drei Gruppen in Betracht: (1) Eine erste, engere Gruppe bilden alle diejenigen, die die Sprache und Literatur der älteren Stufen des Deutschen, Niederländischen, Englischen jeweils bis zur Schwelle der Gegenwart zum fachlichen Gegenstand haben. Das sind Sprach-, Text-, Literaturhistoriker. (2) Eine größere Gruppe bilden diejenigen, für die die Texte der älteren Stufen der behandelten Sprache den methodischen73 Zugang zu dem Kultursystem ermöglichen, das den Gegenstand ihrer beruflichen Tätigkeit bildet. Versteht man den historischen Staat, das Territorium, die Gesellschaft, die Wirtschaft, das Recht, die Verfassung, die Kirche, den Glauben, die geistigen Ideen, die Welt der Technik und Naturwissenschaften, darunter etwa der Medizin, des Berg- und Hüttenwesens, der Metallgewinnung und -verarbeitung, der Handwerke, des Landbaus als solche Kultursysteme, dann gehören alle mit der Aufbereitung, Interpretation und Tradierung der sprachvermittelten kulturellen Tradition Befassten zum Kreis potentieller Benutzer historischer Wörterbücher. Es sind Historiker aller Sparten, an hervorragender Stelle Staaten-, Territorial-, Sozial-, Wirtschafts-, Rechts-, Verfassungshistoriker, Theologen, Kirchengeschichtler, Geistes- und Ideengeschichtler, Volkskundler und alle Fachhistoriker wie Medizin-, Technik-
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Die über den methodischen Zugriff hinausgehende sprachtheoretische Frage nach dem Status sprachlich verfasster Kultursysteme, speziell von Abstraktgegenständen, gilt auch unter dem hier diskutierten Aspekt, wird aber nicht eigens ausformuliert; verwiesen sei auf Kap. 2, Abs. 2 (2).
52 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen geschichtler, an der Geschichte der Handwerke, des Landbaus usw. Interessierte. – Im VMNW wird eine vergleichbare Gruppe von Benutzern angenommen (Bd. 1, S. XI). (3) Eine relativ umfängliche Gruppe müssten diejenigen bilden, die mit der geschichtlichen Gewordenheit heutiger Sprache und Literatur sowie heutiger sprach- und textvermittelter Kultursysteme befasst sind. Gedacht ist an Pädagogen insbesondere des sekundären und tertiären Bildungsbereiches, an Literatur-, Sprach- und Kulturkritiker, Soziologen und Politologen, Theologen, Philosophen u. a. 2. Unter soziologischem Aspekt gehören die anvisierten Benutzergruppen Berufen an, die eine akademische Ausbildung voraussetzen oder deren Vertreter sich die Denk- und Handlungsgewohnheiten akademisch Gebildeter autodidaktisch erarbeitet haben. Mit diesem Zusatz soll einerseits darauf hingewiesen werden, dass historische Lexikographie zumindest ihrem Anspruch nach kein hermetisch abgeschlossenes Rezeptionsfeld für Absolventen eines tertiären Ausbildungsganges und entsprechende Berufe sein kann, dass es andererseits aber eine übertriebene Hoffnung sein dürfte, historische Wörterbücher als Hausbuch74 im Sinne Jacob Grimms zu verstehen. Ihren zentralen Rezipientenkreis bilden nun einmal die professionell auf gehobener Ausbildungs- und Berufsebene mit Sprache, Texten, Literatur und sprach- sowie textvermittelten Kultursystemen Befassten. 3. Daraus ergibt sich folgende Aussage für die Fachsprache historischer Wörterbücher: Der Wörterbuchautor kann sich bei der Formulierung seiner Artikel auf den sprachlichen und inhaltlichen Verständnishorizont sog. Gebildeter verlassen. Er kann deshalb durchaus einen gehobenen bis gelehrtensprachlichen Wortschatz, eine ebenso geprägte Syntax, eine verdichtete Fachsprache gebrauchen. Er kann außerdem davon ausgehen, dass sein Rezipient über ein gewisses Maß an historischen Fakten und Zusammenhängen verfügt, die deshalb auch nicht in jedem Artikel rhematisch neu ausformuliert werden müssen. Der Reformationshistoriker z. B., der ein Nachschlageanliegen hinsichtlich des Ausdrucks ablas in der Bedeutung >Jahrmarkt< hat und diese Bedeutung etwa in ihrer Beziehung zu den Bedeutungen >Sündenvergebung< oder >Erlass der Sündenschuld< von
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Die klassische Formulierung lautet: „fände bei den leuten die einfache kost der heimischen sprache eingang, so könnte das wörterbuch zum hausbedarf, und mit verlangen, oft mit andacht gelesen werden. warum sollte sich nicht der vater ein paar wörter ausheben und sie abends mit den knaben durchgehend zugleich ihre sprachgabe prüfen und die eigne anfrischen? Die mutter würde gerne zuhören.“ (J. Grimm, [Vorwort zum DWB], Bd. 1, 1854, S. XII–XIII).
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ablas verstehen möchte, kann Formulierungen wie die folgenden auch in ihren inneren Differenzierungen relativ mühelos verstehen: ablas [...]. 5. >Vergebung der Sünden durch Gott oder einen Priester, in letzterem Falle per gratiam dei oder in der Form der Absolution nach vorangegangener BeichteNachlaß oder Erlaß der Sündenschuld und damit verbunden geglaubter Sündenstrafen durch die Kirche auf Grund der Erfüllung vorgeschriebener, darunter vor allem finanzieller VoraussetzungenJahrmarkt< bedeutet (FWB 1, Sp. 207), punktuell vollziehen; sie kann sich aber, und zwar insbesondere bei strukturrelevanten Fragen, zu einer den Nachfrageanlass transzendierenden kognitiven Orientierung, auch zum interessierten Verweilen im Text ausweiten. In diesem Falle käme er in die Nähe des Hausbuchgedankens J. Grimms. 1. 1. Semantische Schwierigkeiten und Unsicherheiten: Schwierigkeiten und Unsicherheiten dieser Art bilden für jeden Rezipienten historischer Texte, sei er nun bloß interessierter Leser oder beruflich Handelnder, Anfänger oder Fortgeschrittener, die philologische Ursituation schlechthin. Sie können von unterschiedlicher Komplexität sein. (1) Der einfachste Fall ist dann gegeben, wenn im Text eine lexikalische Einheit begegnet, die dem Rezipienten bisher nicht bekannt war und deren semantische Entschlüsselung ihm auch aus dem Kontext nicht möglich ist. Beispiele bilden ahd. âkustîg >mit Fehlern behaftet< (Ahd. Wb. 1, Sp. 96), mhd. wate >Zugnetz< (Lexer 3, Sp. 704), mnd. beriven >einen Pack, eine Tonne mit Band umwickeln< (Mnd. Hwb. 1, Sp. 221), frnhd. berel >Hammer< (FWB 3, Sp. 1401). Punktuelles Nachschlagen im Wörterbuch vermag das Verständnisproblem zu lösen und eröffnet möglicherweise schlaglichtartig weitere Horizonte, etwa etymologische Durchsichten der Art, dass z. B. berel dem Verb beren >schlagen< zuzuordnen ist. Unter der Voraussetzung, dass das aufgesuchte Wort monosem ist, wäre eine Wortlücke75 behoben. Die Notwendigkeit der Behebung von Wortlücken stellt sich bei älteren, also ahd., aengl., asächs. Texten häufiger als bei jüngeren, z. B. solchen des Frnhd. oder des Nl. des 17. Jahrhunderts; ein geringer philologischer Ausbildungsstand müsste zu häufigerem Nachschlagen führen als ein gehobener. (2) Nicht ganz so schnell und nicht ganz so einfach sind Wortbedeutungslücken zu beheben. Sie liegen dann vor, wenn dem Rezipienten eines Textes bei seiner Lektüre eine Einheit begegnet, die ihm als solche zwar bekannt, möglicherweise sogar etymologisch durchsichtig ist, deren Gebrauch im Text ihn aber vermuten lässt, dass er eine ihrer Bedeutungen nicht kennt. Am Beispiel verdeutlicht: In bergbaurechtlichen Texten des 15. und 16. Jahrhunderts kommt immer wieder das Wort abenteuer vor. Es sei als solches aus seinen Schreibungen auf Anhieb (vorausgesetzt wird: richtig) identifizierbar, lässt sich aber nach dem Textverständnis des Lesers und seinem semantischen Assoziationshorizont nicht mit dem bekannten mhd. âventiure >ritterliche Bewährungsprobe< verbinden, muss also in einer spe75
Zu diesem und einigen im Folgenden gebrauchten Termini sowie Unterscheidungen vgl. H. E. Wiegand, zuerst 1977.
56 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen ziellen Bedeutung vorliegen. Beim Nachschlagen (FWB 1, Sp. 67) findet man die Bedeutungsangabe >Bergschatzböse, schlecht< auch z. B. >feige, träge zum Handelnunzüchtig, geilgeizig, habgierig< usw. bedeutet (Ahd. Wb. 1, Sp. 628) oder dass arbeit lange Zeit auch die Geburtswehen und im Frnhd. die Gärung des Weins bezeichnen konnte76 oder dass frnhd. ablas sowohl als Synonym für nhd. Wehr, Schleuse begegnet wie als Bezeichnung des jungen Weins und (metonymisch) der Zeit der Weinabfüllung gebraucht werden konnte (FWB 1, Sp. 208). – Das Nachschlagen zur Behebung von Wortbedeutungslücken erfordert ein ausgeprägteres kritisches Bewusstsein als das Nachschlagen zur Behebung von Wortlücken, da der Textrezipient immer in der Versuchung steht, ein bestimmtes Vorkommen eines Wortes, obwohl es Anlass zu Fragen gibt, nicht im Wörterbuch zu überprüfen, sondern in einem Akt der Horizontverschmelzung irgendwie mit dem bei ihm vorhandenen Bedeutungswissen zu assoziieren. Es kommt hinzu, dass Wortbedeutungslücken im allgemeinen nur durch Einsichtnahme in Wörterbücher behoben werden können, die im Vergleich zu den unter (1) vorausgesetzten einen größeren Umfang haben; solche Wörterbücher stehen zumindest am privaten Arbeitsplatz nur in Ausnahmefällen zur Verfügung. (3) Eine dritte Schwierigkeitsstufe ist dann gegeben, wenn der Rezipient sowohl die lexikalische Einheit wie deren in einem Text begegnende Bedeutung „irgendwie“ kennt, dennoch aber den Eindruck hat, bestimmte semantische Aspekte nicht sicher zu erfassen, wenn er also, wie hier terminologisch fixiert werden soll, eine semantische Differenzierungslücke hat. Die Situation sei wieder an Beispielen erläutert: Angenommen wird, ein beliebiges Wort, z. B. frnhd. bescheidenheit, sei als lexikalische Einheit identifiziert und die interessierende Bedeutung liege im Bereich von >geistiger Fähigkeit zu rationalem Urteildem Menschen von seiner natürlichen Ausstattung her eigene oder von Gott verliehene geistige Fähigkeit zu rationalem Urteil, rationaler Kontrolle seines Handelns, menschliches Unterscheidungs-, Urteilsvermögen, kluge Einsicht, Klugheit, Weisheit, als TugendUnterscheidungWissen, Kenntnis von etw.Erklärungim Besitz der ewigen Gerechtigkeit und damit ‚rechtfertigend‘ [...]< allein aus dem Freiheitstraktat die semantisch ähnlichen Einheiten heilig, wahrhaftig, gerecht, friedsam aufweist. Verallgemeinert heißt dies: Zum semantischen Verständnis eines Wortes in einem anspruchsvollen Sinne gehört die Erkenntnis des Stellenwertes, den das Wort im Feld inhaltlich verwandter und entgegengesetzter bzw. im Frame kompatibler Ausdrücke hat. Die Komplizierungslinie und der Wandel der Wörterbuchfunktion, wie sie unter (3) dargelegt wurde, setzen sich weiterhin fort. Dieser Punkt wird wegen seiner Bedeutung für jede historische Forschung in Abs. 3. 1 erneut aufgegriffen und hinsichtlich einiger Weiterungen expliziert. 1. 2. Fragen zum wortbildungsmorphologischen und syntaktischen Wortverständnis: Man kann der Meinung sein, dass es für Fragen zum wortbildungsmorphologischen und syntaktischen Verständnis lexikalischer Einheiten eine eigene leistungsfähige Textsorte, und zwar die historische Grammatik, gebe. In Werken dieser Textsorte werden ja Regeln formuliert, die sich an mehreren lexikalischen Einheiten vollziehen (innerhalb der Morphologie z. B. an allen Einheiten einer Flexionsklasse) bzw. die mittels ganzer Reihen lexikalischer Ausdrücke realisiert werden können. Das Wörter-
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So J. Trier bereits 1931, danach fortwährend in seinen Artikeln. Auf die Differenzierungen, die Triers Feldgedanke im weiteren Verlauf der Wissenschaftsgeschichte erfuhr, braucht hier nicht eingegangen zu werden.
60 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen buch dagegen sei die für Unikate zuständige Textsorte: Es gibt schon hinsichtlich der Ausdrucksseite nur relativ wenige Einheiten (gedacht ist an Homonyme / Homographe), die sich – übrigens nur bei isolierter Betrachtung – in der Form vollständig gleichen; und es gibt mit dem Blick auf die Semantik und Pragmatik kein einziges Wort, dessen Gesamtbedeutung oder dessen Einzelbedeutungen (Sememe), dessen Syntagmen und dessen Gebrauch in Zeit, Raum, Schicht und Textsorte als absolut deckungsgleich mit den entsprechenden Gegebenheiten anderer Einheiten beschrieben werden könnten, auch wenn sich überlieferungs- und corpusbedingt immer mal wieder der Eindruck hundertprozentiger Kongruenz einstellen mag. Daraus folgt, das der kundige Wörterbuchbenutzer speziell nach lexikalischen Einmaligkeiten, nicht nach grammatischen Regelzugehörigkeiten fragen wird. Syntax und Morphologie fallen damit nicht aus dem Wörterbuch heraus. Immerhin aber ist es vertretbar, ihr Gewicht, das sie als genuin grammatische, d. h. regelbestimmte Disziplinen haben, zu reduzieren und ihre Behandlung von ihrer lexikalischen Leistung, also von ihren in den Texten begegnenden, jeweils einmaligen Füllungen her, aufzuziehen (zu Details vgl. Teil D, Kap. 6 und 11). Dies sei an zwei Beispielen kurz vorgeführt: Das Wort gnade begegnet im FWB (Bd. 7, Sp. 2) in einer ersten Bedeutung (>Zuwendung des liebenden Gottes zum Menschensich abmühen< mit Subjekten wie keiserin, könig, engel, satan, in Ansatz 6 >arbeiten, einem Beruf nachgehen< dagegen mit mensch, knecht, gesinde, bauer usw. (ebd. 2, Sp. 39; 42). Die Tatsache, dass diese Verbindungen möglich sind, scheint mir unter syntaktischem Aspekt zwar erwähnenswert, aber auch nicht besonders aufregend zu sein, da viele andere Einheiten die gleiche Syntagmatik zeigen. Unter inhaltsbezogenem Aspekt dagegen ist aussagekräftig, dass die Reihe der Subjektfüllungen bei arbeiten 1 sich von derjenigen bei arbeiten 6 semantisch signifikant unterscheidet und dass die Prädikate zu gnade 1 großenteils in den Bereich der Sinnwelt ‚Religion‘ fallen. Das heißt: Die Bedeutungsbestimmung mit all ihren Nuancierungen ergibt sich aus der Fülle der im Quellencorpus tatsächlich vorkommenden linearen Verbindungen der Lemmazeichen, aus dem, was wirklich gesagt wurde, nicht so sehr aus den Verbindungsmöglichkeiten. Entsprechend ist für die Wortbildungsmorphologie zu argumentieren: Die Nennung von Syntagmen und Wortbildungen im historischen Bedeutungswörterbuch dient folglich der Angabe und auflistenden Dokumentation derjenigen Inhalts-, Erkenntnis-, Kommunikations- und Handlungseinheiten,
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die tatsächlich – laut Belegbefund – in einer historischen Zeit mit dem Lemmazeichen verbunden wurden und dadurch zu wortübergreifenden, letztlich textlichen Inhaltskonstrukten führten. Ich verstehe dies als einen der Schritte, die die Logik- und Systembasierung von Wörterbuchartikeln zugunsten der Belegnähe reduzieren. Es geht also nicht darum zu sagen, dass ein beliebiges Verb mit Subj. der Person und Akk. der Sache steht, sondern darum, welche Bezugsgrößen im Subj. und welche im Akkusativobjekt standen (zu Details dieser Argumentation vgl. Teil D, Kap. 7. 5, 2, Abs. 7 sowie Kap. 11). 1. 3. Fragen zum pragmatischen Wortverständnis: Pragmatische Verständnisschwierigkeiten sind stark an die Lexik gebunden: Es gibt nicht nur kein einziges Wort, das semantisch genau gleich wie ein anderes gebraucht wurde, sondern es gibt auch kein einziges Wort, das insgesamt oder hinsichtlich seiner Einzelbedeutungen (Sememe) einen genau gleichen Gebrauch in Zeit, Raum, Schicht aufwiese wie ein anderes. Damit sind wiederum78 die sog. Symptomwerte lexikalischer Einheiten angesprochen. Hierzu beachte man: Sowohl das Deutsche wie das Niederländische und Englische wiesen bis zur Phase ihres Ausbaus zur Schriftsprache in der beginnenden Neuzeit (vgl. K. J. Mattheier 2000; O. Reichmann 2003) eine starke räumliche Kämmerung und eine erhebliche sozialschichtige und gruppenbedingte, außerdem natürlich eine ebenso hoch zu veranschlagende situative Varianz auf; sie haben eine im Vergleich zu den heutigen, schriftbasierten und stark vereinheitlichten Hochsprachen ausgeprägtere pragmatische Gliederung. Neben einem Grundstock von Ausdrücken und Bedeutungen, die vielen Varietäten gemeinsam sind oder in vielen Varietäten und Textsorten mit einem hohen Grad von Erkennbarkeit begegnen, existieren also auch umfängliche Wortschatzteile, die je spezifischen Gebrauchsbedingungen unterliegen. Man kann annehmen, dass viele zeitgenössische Sprecher / Hörer und Leser diese Gebrauchswerte erkannten und demnach eine Möglichkeit hatten, den Produzenten (Autor / Schreiber / Drucker) des Textes nach den genannten Gebrauchsdimensionen zu orten. Der Textinhalt konnte damit in geringerem Maße als derjenige eines heutigen hochsprachlichen Schriftstückes als reiner Inhalt aufgenommen werden, er war mehr als Ausdruck eines jeweils spezifischen kommunikativen Handlungsfeldes rezipierbar und in seiner von diesem bestimmten Handlungsbedeutung erfassbar. – Für den heutigen Textrezipienten bietet die Kenntnis der Symp-
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Unter Aufgriff und in Fortführung von Kap. 1, Abs. 2. 1 (4) und Kap. 2, Abs. 2 (4).
62 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen tomwerte historischer Wörter79 entsprechende Möglichkeiten: Man kann historische Texte aufgrund ihrer Symptomwerte in sehr vielen Fällen sowohl hinsichtlich Entstehungszeit, -raum, -schicht, -situation, wie hinsichtlich Überlieferungszeit, -raum, -schicht, -situation und damit auch hinsichtlich ihrer Wirkungsgeschichte, ihres Wirkungsraumes und ihrer Wirkungssoziologie einordnen; man kann z. B. erkennen, ob ein Text grob dialektal ist oder in einer höheren Schicht entstand, ob er vielfach abgeschrieben wurde und insofern gewirkt hat, ob er einer einzigen Zeitstufe angehört oder – etwa in seinen Archaismen – mehrere Zeitschichten spiegelt, ob er in einem Raum a oder b geschrieben und überliefert wurde, ob er im Zuge seiner Überlieferung die Textsorte wechselte. Dies ist für alle mit historischen Texten befassten Disziplinen, die Literaturwissenschaft ebenso wie die Rechtsgeschichte oder die Geschichte der Philosophie, speziell beim Fehlen von Verfasserangaben, bei Unkenntnis des (Ab)schreibers und beim Nichtvorhandensein außertextlicher Zeugnisse von geradezu ausschlaggebender Bedeutung für das Verständnis seiner geschichtlichen Rolle. Weite Teile der Philologie, darunter der Editionsphilologie, waren mit der Bestimmung von Texten unter den genannten Gesichtspunkten beschäftigt80 und werden es weiterhin sein;81 und sie werden Wörterbücher unter pragmatischen Aspekten als Nachschlagewerke benutzen. 2. Schwierigkeiten bei der Produktion gegenwartssprachlicher Übersetzungstexte: Die Rezeption historischer Texte wird in vorliegendem Buch als gesellschaftlich breit basiertes, insbesondere in den Ausbildungsgängen des sekundären und tertiären Bildungsbereiches und den daran anschließenden Berufen angesiedelte kulturelle Tätigkeit verstanden. Einen Teil dieser Tätigkeit bildet die pädagogische Vermittlung historischer Texte. Diese kann sich in verschiedener Weise vollziehen. Hier sollen folgende, ineinander übergehende Vermittlungsformen unterschieden werden: Am häufigsten dürfte die in Schule, Universität und Kirche praktizierte mündlich paraphrasierende Erläuterung z. B. eines Rechtstextes, einer Urkunde, eines literarischen Textes, eines theologischen Traktates, eines Kirchenlie-
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Selbstverständlich spielen auch die Graphie und Phonologie, die Morphologie und die Syntax des Textes unter diesem Gesichtspunkt eine hohe Rolle. 80 Verwiesen sei auf H. Stopp 1978. Sein Beitrag kann als Meisterstück der Raum- und Zeitbestimmung historischer Texte – freilich aus der Graphie und Morphologie, nicht der Lexik heraus – betrachtet werden. 81 Vgl. hierzu R. Bergmann 1989, S. 156f. mit der Überschrift: „Wörterbücher als Hilfsmittel der philologischen Textlokalisierung und Textdatierung“. Analog zu Lokalisierung und Datierung ist die schichten- und gruppensoziologische, ferner die textsortenbezügliche Einordnung zu erwähnen.
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des begegnen. Eine zweite Form der Vermittlung vollzieht sich schriftlich in Form der literarischen Neugestaltung eines Textinhaltes, der freien Übertragung eines Textes oder der strengen, seiner Vorlage hinsichtlich Inhalt und möglicherweise sogar Form verpflichteten Übersetzung. Ich erinnere zur Unterstreichung der Breite dieses Tätigkeitsfeldes nur daran, dass nahezu alle relevanten literarischen Denkmäler des Mittelalters, auch die Leittexte der Theologie und Geschichtswissenschaft, in akademischen Übersetzungen oder Übertragungen vorliegen, dass die kirchlichen Gebrauchstexte (Bibel, Katechismen, Lieder usw.) einer fortwährenden offiziellen Neugestaltung unterzogen werden oder dass weite Ausschnitte der hohen und trivialen Literatur, Volksbücher, Lieddichtungen, Spieltexte, erbauungsliterarische Texte in verneuhochdeutschten Fassungen in hohen Auflagen über effektive Verkaufskanäle Verbreitung gefunden haben und finden (Entsprechendes gilt für die meisten europäischen Sprachen). Hinzu kommt die Gestaltung literarischer Texte (z. B. des Nibelungenliedes, des Parzival) in einer Mischung von archaisierend-volkstümlicher Übersetzung, von Originalteilen und zugehörigen bildungssprachlichen Erläuterungen und ihre Verbreitung über Tonträger.82 Auch die gezielte ausdrucks- und inhaltsseitige Wiederbelebung älteren Wortgutes zu Zwecken der Verlebendigung von ‚Geschichte‘ in einem Zeitalter der Verklärung der Gegenwart (de facto: des 19. Jahrhunderts) aus einer idealisiert-fingierten Vergangenheit wäre zu erwähnen. Insgesamt ist der breite Strom der in allen Stufen der Verneuhochdeutschung auftretenden, teils akademischen, teils institutionell (z. B. kirchlich-offiziell), teils durch normalsprachliches Interesse gesteuerten Tradierung mittelalterlicher und älterer neuzeitlicher Texte angesprochen. 2. 1. Alle gemeinten mündlichen wie schriftlichen Vermittlungsformen bedürfen eines Vokabulars, das je nach Textsorte der Vermittlung zwischen Übernahme der Vorlage (bei archaisierenden Absichten), darstellungsfunktionaler Exaktheit (bei akademischen Übersetzungen) und trivialliterarischen Gestaltungsfreiheiten schwankt. Jede dieser Vermittlungshaltungen kann mit hoher Sorgfalt und ebenso hoher Nachlässigkeit realisiert werden. Wenn das vergangenheitsbezogene historische Wörterbuch die Aufgabe hat, einem heutigen Leser historischer Texte die Bedeutung von deren lexikali-
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Gemeint sind für das Deutsche z. B. die Übersetzung des Nibelungenliedes durch K. Simrock (etwa 31. Aufl.; 1875); vgl. zu diesem Gesamtkomplex: H. Moser 1976; St. Sonderegger 1998; U. Krewitt 1998; S. Grosse 2000 (jeweils mit Literaturangaben); zu beachten sind auch die über Tonträger zugänglichen, teilweise verneuhochdeutschten, teilweise semantisch erläuterten Texte, insbesondere des Mittelhochdeutschen.
64 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen schen Einheiten zu erläutern, dann wird man dazu auch die Aufgabe rechnen müssen, Translationsvorschläge zu unterbreiten. Neben der phrastischen Erläuterung (dazu: Teil D, Kap. 7. 5. 2), die sich in historischen Wörterbüchern eines gewissen Differenzierungsgrades immer finden wird, sollte demnach die Angabe möglichst vieler (partieller) Synonyme stehen, wie es etwa M. Lexer im 19. Jahrhundert praktiziert hat. Wenn er z. B. für ein beliebiges Lemmazeichen, etwa schiht, die nhd. Ausdrücke Ereignis, Begebenheit, Geschichte, Sache, Schickung, Eigenschaft, Art und Weise (u. a.; vgl. Bd. 2, Sp. 735) angibt, dann liefert er – und das ist das in dieser Hinsicht einzig Mögliche für ein Langue-Wörterbuch – dem Vermittler ins Neuhochdeutsche zwar nicht notwendigerweise ein genau passendes Wort für die Übersetzung / Übertragung / Neugestaltung, wohl aber die Chance, innerhalb der Liste eine einigermaßen überzeugende Entsprechung zu finden (hierzu H. E. Wiegand 1994; 2004); und er steckt ihm in jedem Fall den Inhaltsrahmen ab, innerhalb dessen eine solche Entsprechung zu suchen ist. 2. 2. In diesem Sinne versteht sich auch das VMNW bei allem Gewicht der „extensieve betekenisomschrijving“ (Inleiding, Bd. 1, S. XX) bezeichnenderweise partiell auch als „vertaalwoordenboek“ >ÜbersetzungswörterbuchNeu-, Wiederversprachung< (so wörtlich übersetzt) gesprochen (ebd., S. XL). Mit dem allem wird keineswegs gesagt, dass die (partiell) synonymischen Teile der Bedeutungserläuterung (sie zielen auf die Langue) theoretisch als Übersetzungsäquivalente (das sind Parole-Größen) aufzufassen sind, noch soll das Gewicht phrastischer Erläuterungen relativiert werden. – Auch das MED verstand sich ursprünglich als „translation dictionary“ (R. W. Bailey 1990, S. 1450), wich mit seinen sparsamen Synonymenangaben dann aber bald von dem Übersetzungsprinzip ab. 3. Benutzung in texttranszendierender Forschung: Benutzungsanlässe dieser Art begegnen nach der in Kap. 2 (Überschrift) getroffenen Unterscheidung in zwei zumindest analytisch, weitgehend aber auch von der Praxis her voneinander zu unterscheidenden Typen geisteswissenschaftlicher Arbeit, einmal nämlich der eher vergangenheitsbezogenen und zum anderen der eher gegenwartsbezogenen Arbeit. – Ersterer geht es z. B. um die Erkenntnis geschichtlicher Verhältnisse, etwa der Christianisierung im Ahd., des sog. Tugendsystems des klassischen Mhd., der Rechtsterminologie der mnd. Städte, der Sprachideologie des Barock, der Ideen des Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhundert, immer natürlich in ihrer jeweiligen lexikalischen bzw. überhaupt sprachlichen Fassung. Es kann ihr aber auch z. B. um die Wortbildungsverhältnisse im Frnhd. oder um Spezialbefunde
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wie das Genitivobjekt im Mhd., um den Wortschatz der Mystik in der werdenden Hochsprache oder den landschaftlichen Wortschatz des Ostoberdeutschen im 17. Jahrhundert gehen. Bezugsetzungen der Ergebnisse solcher Erkenntnisse auf Probleme der Gegenwart erfolgen zwar fortwährend, sind aber für einen strikt vergangenheitsorientierten Historiker erst einmal sekundär. Träger dieser Bemühungen sind in erster Linie die wissenschaftlichen Einrichtungen. – Der eher gegenwartsbezogenen geisteswissenschaftlichen Arbeit geht es (zwar nicht nur, aber doch auch) um die Herleitung heutiger Verhältnisse aus der Vergangenheit: Die Gegenwart soll durch verfremdende Konfrontation mit der Vergangenheit in ihrer geschichtlichen Gewordenheit bewusst gemacht werden. Die dadurch vermittelte Sicht der Gegenwart als Teil der Geschichte schafft Dispositionen für begründete Traditionspflege und für traditionskritisch begründete Veränderungen. Den institutionellen Rahmen, in dem dies geschieht, bilden außer den wissenschaftlichen Einrichtungen (Universitäten, Akademien) insbesondere die Kulturinstanzen ‚Gymnasium‘, ‚Kirchen‘, ‚Kultusministerien‘, im Prinzip aber auch alle anderen normsetzenden und -vermittelnden Instanzen, darunter die Presse. Sowohl die vergangenheits- wie die gegenwartsbezogene historische Arbeit kann unter verschiedenen Aspekten erfolgen. Am relevantesten dürften semantische Aspekte sein; selbstverständlich spielen aber auch pragmatische, grammatische (flexions- und wortbildungsmorphologische, syntaktische) Gesichtspunkte eine Rolle. 3. 1. Benutzung in texttranszendierender historischer Semantik: Im Mittelpunkt historischer Semantik stehen folgende Forschungsrichtungen: – alle Sparten historischer Wortforschung, insbesondere der Bedeutungsforschung,83 – die literaturwissenschaftlich orientierte Kennwortforschung, wie sie sich in zahllosen Artikeln und Dutzenden von Monographien zu allen historischen Stufen des Deutschen, Niederländischen und Englischen präsentiert, im Deutschen u. a. zu (in mhd. Normalschreibung): arbeit, âventiure, glücke, leit, liebe, minne, muot, sælde, triuwe, trûren, vröude, edelez herze, – damit eng verwandt die literaturwissenschaftliche Fiktionsforschung zu Konzepten wie ‚Gemüt‘, ‚Humanität‘, ‚Melancholie‘, ‚Mitleid‘, ‚Furcht‘, ‚Schrecken‘,
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Genaueres dazu und zu den folgenden Punkten, insbesondere zu deren sprachtheoretischem Rahmen bei O. Reichmann 1998, S. 22 – 24.
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die im Rahmen der Geschichtswissenschaft stehende begriffs-, ideen-, ideologiegeschichtliche84 Forschung (z. B. zu ‚Bauer‘‚ ‚Bürger‘, ‚Arbeiter‘, ‚Staat‘, ‚Emanzipation‘, ‚Öffentlichkeit‘),85 – die theologische Erforschung von Kernbegriffen christlicher Dogmatik (z. B. von ‚Erlösung‘, ‚Freiheit‘, ‚Rechtfertigung, ‚Gnade‘, ‚Leib‘, ‚Glaube‘) sowie solchen der religiösen Volkskultur, – diesen Ansätzen entsprechende Forschungszweige der Rechtsgeschichte, Philosophie, der Geschichte naturwissenschaftlicher Konzepte usw. Unabhängig davon, ob die jeweilige geschichtliche Forschung primär vergangenheitsbezogen oder primär gegenwartsbezogen orientiert ist und welches genaue Anliegen sie haben mag: Sie hat – nach dem in Kap. 2., Abs. 2 (1) Gesagten – als unhintergehbare methodische Vorgabe Texte und außer diesen (fast) nichts. Wie immer man Bedeutungen, Begriffe, Ideen, Vorstellungen, Mentalitäten, Ideologeme oder vergleichbare geschichtliche Entitäten oder wissenschaftliche Entitätensetzungen auch verstehen mag: Sie sind entweder als kognitive Größen an sprachliche Ausdrücke gebunden oder gar sprachinterne Gegebenheiten und lassen sich methodisch zunächst, d. h. vor jeder weiteren theologischen, rechtsgeschichtlichen usw. Fragestellung nur sprachwissenschaftlich und innerhalb der Sprachwissenschaft vor allem lexikalisch (in weiterer Hinsicht syntaktisch, textlinguistisch) erschließen. Dies ist ein von der jeweiligen Zeichentheorie und vom jeweiligen Verständnis historischer Forschung unabhängiges und nicht ernsthaft bestreitbares Faktum. 3. 1. 1. Im Folgenden soll eine Übersichtsskizze gezeichnet werden, wie die „lexikographische Textanalyse als Methode historischer Semantik“86 arbeitet. Die Notwendigkeit, alle angesetzten Wortbedeutungen semasiologisch im Rahmen ihrer Gesamtbedeutung und onomasiologisch im Rahmen bedeutungsverwandter Wörter sowie von Gegensatzwörtern zu behandeln, wird dabei die Grundlage der Skizze bilden. – Ich argumentiere am Beispiel der Darstellung des Substantivs bescheidenheit im FWB.
84 Das Nebeneinander von Kennwort, Begriff, Konzept, Idee, Bedeutung, Fiktion u. a. in dieser Liste spiegelt die in den einzelnen Wissenschaften übliche terminologische Vielfalt; die verwendeten Termini sind unterschiedlich definierbar und definiert; im übrigen sind sie partiell synonym. 85 Hierzu ist vor allem das von O. Brunner / W. Conze / R. Koselleck initiierte, in „Geschichtliche Grundbegriffe“ ( = GG) vorliegende Werk zu nennen sowie die gesamte sog. Begriffsforschung. 86 So der Untertitel der Monographie von A. Lobenstein-Reichmann 1998; vgl. auch dies. 2000.
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Abb. 2: Das Ineinandergreifen semasiologischer und onomasiologischer Verfahren in der historischen Lexikographie
Dem Lemmazeichen bescheidenheit (einer als polysem interpretierten lexikalischen Einheit) werden im FWB die in der linken, senkrechten Spalte 1 der Abbildung in Kurzform aufgelisteten Einzelbedeutungen zugeschrieben. Die Gesamtheit aller Einzelbedeutungen bildet – wie dort kopfständig eingetragen – das semasiologische Feld des Wortes. Zu jeder der eingetragenen Einzelbedeutungen werden rechts daneben (Spalte 2) mehrere, als bedeutungsverwandt (abgekürzt: bdv.; in der Kopfleiste der Abb.) interpretierte, in der lexikalischen Semantik als (partielle) Synonyme bezeichnete Ausdrücke angegeben. Die Gesamtheit dieser Ausdrücke (wohlgemerkt: pro Bedeutungsansatz des Lemmazeichens) ist ein onomasiologisches Feld, anderweitig heißt es auch Triersches Feld, Bezeichnungsfeld usw. In der Skizze zeigen gepunktete Linien diese Felder an; am unteren Bildrand der Spalte 2 findet sich der entsprechende allgemeine Eintrag (in waagerechter Linie). Statt bescheidenheit in Bedeutungsansatz 1 >Unterscheidungsvermögen< hätte man in frnhd. Zeit also auch die Ausdrücke bekentnis 3, erkantnis, kündekeit (u. a.) gebrauchen können und hat dies nach Ausweis der Belege getan. Jeder der in den einzelnen onomasiologischen Feldern genannten Ausdrücke kann nun wiederum (also wie bescheidenheit) als polysem ver-
68 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen standen werden, es können ihm demnach ebenfalls verschiedene Bedeutungen zugeschrieben werden: bekentnis als das erste in den onomasiologischen Feldern aufgeführte Wort (aber auch erkantnis und kündekeit) hat also noch weitere, mit Zahlenindices von 1 bis x angebbare Bedeutungen; sie werden in der Skizze mittels durchgezogener Linien eingeführt. Der darunter stehende kopfständige Eintrag (Spalte 3) kennzeichnet sie jeweils als semasiologisches Feld. – Nun werden die Verhältnisse erst recht kompliziert: Zu jeder Bedeutung des semasiologischen Feldes (Spalte 3) jeder Einheit des onomasiologischen Feldes (Spalte 2) zu jeder Bedeutung eines Lemmazeichens (Spalte 1) kann es wiederum bedeutungsverwandte Wörter geben, zur (in Klammern angedeuteten) Bedeutung 3 von bekentnis z. B. (nach FWB 3, Sp. 1096): unterscheid, vernunft, verstand, verständnis (vgl. wieder die gepunktete Linie mit dem waagerechten Eintrag onomasiologische Felder; Spalte 4; aus Raumgründen nicht gefüllt). In dieser Weise geht es ad infinitum weiter. Das Gesagte in Hauptsätzen, nunmehr in der Blickrichtung von links nach rechts, wiederholend heißt das: Wir haben ein Lemmazeichen bescheidenheit. Diesem werden verschiedene Bedeutungen (1 bis n) zugeschrieben. Zu jeder dieser Bedeutungen gibt es Synonyme (unter bdv.). Jedes dieser Synonyme hat wiederum verschiedene Bedeutungen. Dazu gibt es wiederum Synonyme. Diese haben wieder mehrere Bedeutungen usw. – Aus praktischen Erwägungen wird man je nach Forschungsanliegen (meist zu früh) an unterschiedlichen Punkten der Vernetzung, also sowohl der semasiologischen Differenzierung wie des onomasiologischen Ausgriffs auf verwandte Bereiche, Halt machen. 3. 1. 2. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist nun Folgendes: Wenn ich irgendeinen historischen Ausdruck, also z. B. bescheidenheit, semantisch untersuchen oder eine (in anderer Terminologie) begriffsgeschichtliche Arbeit über ‚geistige Vermögen des Menschen‘ anfertigen will, dann kann ich mich nicht auf die Betrachtung einer einzigen Bedeutung der lexikalischen Einheit, über die ich in die Untersuchung einsteige, beschränken, sondern muss erstens das gesamte semasiologische Feld des zum Einstieg gewählten Ausdrucks untersuchen, dies schon deshalb, weil Wortbedeutungen in allen interessanten Fällen keine scharfen Grenzen haben. Ich habe zweitens (in einer sprachwissenschaftlichen Untersuchung) nach den Bedeutungsverwandten des Ausdrucks zu fragen bzw. (in einer historisch motivierten Untersuchung) festzustellen, mit welchen anderen Ausdrücken man in der jeweiligen historischen Zeit außerdem auf den zur Untersuchung anstehenden ‚Begriff‘ / Bezugsgegenstand (o. ä.) Bezug genommen hat.87 Es 87
In den „Grundsätzen“ (1963, S. 7) zum Marx-Engels-Wb. wird diese Notwendigkeit wie
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ist ja nicht nur denkbar, sondern geradezu die Regel, dass man auf ‚Armut‘, ‚Freiheit‘, ‚kritisches Unterscheidungsvermögen‘, oder welche Beispiele man gerade wählen mag, nicht ausschließlich mit einem einzigen Wort, also etwa mit armut, freiheit, bescheidenheit, möglicherweise sogar nur mit einer seiner Verwendungen / Bedeutungen Bezug genommen hat, sondern mit einer Fülle bedeutungsverwandter anderer Ausdrücke. Wörter haben ja nicht nur innerhalb ihres Bedeutungsspektrums, also von Bedeutung zu Bedeutung, keine scharfen Grenzen, sondern sind mit jeder ihrer Bedeutungen auch von den Bedeutungen anderer Wörter (der – partiellen – Synonyme) unscharf abgegrenzt. Dies wird hier deshalb mit solcher Entschiedenheit vorgetragen, weil sprachhistorische und geschichtswissenschaftliche Untersuchungen allen längst akzeptierten Erkenntnissen über Gestaltwahrnehmung, Strukturen, Begriffsfelder, Frames, kognitive Vernetzungen zum Trotz immer noch dazu tendieren, sich isolationistisch auf einzelwortbezogene oder gar einzelbedeutungsbezogene Untersuchungen zu beschränken. – Auf die Anlage von Wörterbüchern angewendet heißt dies, dass diese neben einer differenzierten semasiologischen Komponente, die im allgemeinen realisiert wird, eine ausgeprägte onomasiologische Komponente haben sollten. Wörterbücher erfüllen ihre Aufgabe, als Instrumente sprach- wie kulturgeschichtlicher Forschung zu fungieren, in dem Maße, in dem sie den von einer Einzeleinheit ausgehenden Forscher in die strukturelle Vernetzung des Wortschatzes zu führen vermögen. Dies ist bei älteren Werken, auch bei den großen Nationalwerken (DWB, WNT, OED) sowie den Sprachstadienwörterbüchern zwar oft irgendwie, versteckt, an verschiedener Stelle des Artikels, aber nicht mit der Systematik geschehen, die die Aufgabe verlangt und die die Arbeitsmöglichkeiten vorgegeben hätten.88 Folglich ist die strukturelle Vernetzung bei allen neuen Projekten zu bedenken und bereits in der Planung vorzubereiten. Das historische Wörterbuch fungiert bei dieser Konzeption vorwiegend als Forschungsinstrument und eher am Rande als Nachschlagewerk. – Die Tatsache, dass in diesem Buch die textliche Komponente auch des Wortverständnisses zwar immer wieder erwähnt wurde und auch weiterhin erwähnt werden wird, aber dennoch in ihrer vollen Bedeutung unterbelichtet bleibt, hängt nicht mit einer etwaigen Gering-
folgt (in realistischer Terminologie) formuliert: Es gehe zwar vom Wort aus, „während sich der Sachverhalt und der ihm entsprechende Begriff fast immer auf verschiedene Wörter erstrecken. Inhaltliche Aussagen zum Begriff der Freiheit sind z. B. nicht nur unter dem Wort „Freiheit“, sondern auch unter „frei“, [...], „emanzipieren“, „Emanzipation“ und selbst in ganz anderen Ausdrücken zu finden“. 88 Differenzierter dazu die einzelnen Kapitel über die Informationspositionen (Teil D).
70 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen schätzung der Rolle der Textlinguistik für die Wortsemantik zusammen, sondern ergibt sich aus der Thematik des Buches. 3. 2. Benutzung im Rahmen anderer texttranszendierender Anliegen: Die Überschrift dieses Abschnittes ist bewusst vage gehalten. Gemeint sind alle nicht direkt semantischen, also mindestens pragmatische und grammatische (flexions-, wortbildungsmorphologische, syntaktische) Fragen texttranszendierender Art, außerdem jede Frage, die überhaupt auf eine der infinit zahlreichen Eigenschaften des Wortschatzes gerichtet ist.89 Gerade letzteres ist besonders hervorzuheben: Im Prinzip kann heute jedermann zu jedem beliebigen Zeitpunkt, an jedem Ort der Erde jede ihm wichtig erscheinende, zünftig akademische Frage oder eine individuelle fixe Idee an ein Wörterbuch herantragen und die darin versteckten Informationen auffinden. Dies ist eine Forschungssituation oder (wenn man so will) eine kognitive Spielsituation, die bis vor einer Generation noch nicht vorhanden war und die zu einem Schub quantitativer und qualitativer Ausweitung unserer Kenntnisse führen müsste. Dabei wird natürlich vorausgesetzt, dass der Wörterbuchtext außer in Buchform in einer digitalisierten Fassung vorliegt. Das Wörterbuch in der herkömmlichen Buchform ist aufgrund der Tatsache, dass es linear nach einem bestimmten obersten Ordnungsprinzip (in aller Regel dem alphabetischen) aufgebaut ist und mit Verweisen sparsam verfahren muss, sehr oft nur über eine einzige Zugriffsstruktur benutzbar. Fragen, die sich diesem Zugriff entziehen, können nicht beantwortet werden, es sei denn, man liest das gesamte Wörterbuch auf eine bestimmte Fragestellung hin durch. Erst das digitalisierte Wörterbuch bietet für die in folgenden Beispielen aufgeführten Fragetypen die Möglichkeit schneller Antworten. 3. 2. 1. Unter pragmatischem Aspekt könnten alle diejenigen Lemmazeichen (und Einzelbedeutungen) von Interesse sein, zu denen Symptomwerte angegeben, also Zeit-, Raum-, Schichten-, Gruppen- und Textsortenangaben gemacht werden. Welche Wörter des Althochdeutschen werden mit welchen ihrer Bedeutungen als fränkisch, welche als bairisch ausgewiesen? Wie liegen die diesbezüglichen Verhältnisse im Mittelhochdeutschen? Welche Ausdrücke dieser Sprachstufe haben mit welchen ihrer Bedeutungen eine Bindung an welche Textsorten? Welche Wortschatzteile des Mittelniederdeutschen begegnen auch im Hochdeutschen? Welcher Teil des
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Um ein Beispiel zu geben: Man kann sich mit bezeichnungsgeschichtlicher Motivation, die in diesem Buch höchstens beiläufig thematisiert wird, die Frage stellen, mit welchen Konsonanten(gruppen) etwa der linke Wortrand der frnhd. Lexik mit welcher Häufigkeit gestaltet sei und wie diese Verhältnisse sich vom Wortrand des Nhd. unterschieden; vgl. zur Sache: P. Eisenberg 1998, S. 99ff.
4. Zur Rezeption historischer Wörterbücher
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Wortschatzes M. Luthers oder W. Shakespeares weist bis dahin unerhörte Bedeutungen auf? Welche Textsorten der frnhd. Zeit haben eine überdurchschnittliche lexikalische Kongruenz mit dem Wortschatz der neuzeitlichen Hochsprache? Man erkennt auf Anhieb, dass die gesamte Varietätenforschung, darunter die historische Sprachgeographie, Sprachsoziologie, Fachsprachenforschung, Registerforschung, insbesondere auch die Erforschung der Hochspracheentstehung, durch Wörterbücher, die Fragen der vorgetragenen Art antizipieren, eine empirische Grundlage von maximaler Breite erhält. Das Wörterbuch wird zum Forschungsinstrument einer pragmatisch aufgezogenen Sprachgeschichte;90 es könnte außerdem zum Forschungsinstrument einer Geschichtsschreibung werden, die ihren Gegenstand, wenn auch nicht ausschließlich, so doch partiell, von der Kommunikationsgeschichte her versteht. 3. 2. 2. Ein Wörterbuch, das systematisch grammatische (morphologische, syntaktische) Angaben enthält, leistet dasjenige, was gerade für die Pragmatik gesagt wurde, für die Systemgeschichte: Die Angabe von Klassen flektierbarer Wörter, Angaben zu deren Syntagmatik und Wortbildungsverhalten überragen, da sie auf den gesamten Wortschatz einer Sprachstufe, einer Varietät dieser Stufe, den Bestand einer Textsorte, ein Autorenwerk bezogen sind, die entsprechenden Angaben einer Spezialmonographie oder von Sprachgeschichten quantitativ in aller Regel bei weitem. Sie lassen sich außerdem leicht auf die analogen Angaben vergleichbarer Wörterbücher beziehen. 3. 2. 3. Zur Demonstration der Fülle der Nutzungsmöglichkeiten historischer Wörterbücher seien einige weitere Beispiele lediglich genannt: Auffindbarkeit jeder Zeichengestalt, jeder beliebigen Buchstabenkombination (z. B. -ss- oder -chs- für -ks-), jedes beliebigen Wortbildungsaffixes, jeder zitierten Belegstelle, jedes angegebenen Vorkommens (ohne Zitat), jedes Erläuterungsausdrucks. Die lexikographische Voraussetzung für all dies lautet: Nur dasjenige, was das Wörterbuch an Informationen, an Informationstypen und Informationsstrukturen enthält, kann in eine digitale Fassung übernommen werden. Umgekehrt: Wenn explizite, an bestimmte Behandlungspositionen gebundene Informationen zu den vorgetragenen Fragetypen fehlen, gibt es nichts zu digitalisieren. Die logische und temporale Priorität der alten, corpusgestützten, jede Einheit Stück für Stück philologisch und linguistisch erschließenden und durcharbeitenden Lexikographie vor der informationstechnischen Aufbereitung ist offensichtlich. 90 In U. Goebel / I. Lemberg / O. Reichmann 1995 werden Vorschläge und Arbeitsverfahren für dieses Anliegen dargelegt.
72 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen
5. Lexikographie in Diensten der Ideologie: Patriotische / nationale, bildungsbürgerliche und volkskundliche Zwecke historischer Wörterbücher 1. Wörterbüchern, vor allem den großen, im Kern einsprachigen Werken, wird in den europäischen Sprachgemeinschaften seit der Barockzeit bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine herausragende Bedeutung zugeschrieben.91 Im deutschsprachigen Raum zeigt sich dies in den aufeinander folgenden Programmen92 eines Stammwörterbuches (17. Jahrhundert), eines gesamtsprachbezogenen Wörterbuches (um 1700), eines literatursprachbezogenen Wörterbuches (18. Jahrhundert), ferner in den unterschiedlichen Plänen und Ansätzen zu einem großen nationalen Wörterbuch des Deutschen (Mitte des 19. Jahrhunderts), im Mundartwörterbuchkartell (1913) 93 der Wilhelminischen Zeit und schließlich im (inzwischen gescheiterten) Plan eines großen Wörterbuchs der deutschen Sprache (70er Jahre des 20. Jahrhunderts).94 Im niederländisch- und englischsprachigen Raum belegt die Geschichte des WNT und des OED einschließlich der Bemühungen um Supplemente, Nachfolge- und Ergänzungswerke eine trotz vieler möglicher Einwände doch vergleichbar hohe, teils sogar eine höhere Relevanz.95 Dieses Interesse ist aus Nachschlagezwecken philologischer Art und der Auf-
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In allgemeiner Fassung lautet diese Aussage: „The lexicon [...] is a mirror of its time, a document to be understood in sociolinguistic terms. It both describes and prescribes the lexis of a language according to (in Karl Jasper’s phrasing) ‚the intellectual situation of time‘. [...] Dictionaries tend to cultivate the heritage (Hervorhebung im Original, O. R.]. [...]. The dictionary serves frequently as a channel for the championing of patriotic attitudes [...]. The dictionary may use language as a tool to political ends“ (H. / R. Kahane 1992, S. 20). Der Nachweis wird für die Zeitspanne zwischen Isidors Etymologien und dem HdG geliefert. – Bei J. A. Fishman heißt es (1995, S. 29): „Dictionaries always tell us something about the characteristics of their compilers, about the characteristics of their intended users and about the characteristics of the society and cultur which their compilers intend to be used“. – F. J. Hausmann (1989, S. 1) spricht von „treibenden gesellschaftlichen Kräften“ der Lexikographie. Dazu gehören außer den hier zur Diskussion stehenden Kräften ‚Bildung / Dichtung‘ und ‚Politik‘ auch die ‚Religion‘. 92 Die folgende Aufzählung stammt im wesentlichen von H. Henne 1968; 1977; vgl. ferner O. Reichmann 1989; speziell zum 19. Jahrhundert: A. Kirkness 1980; J. Dückert 1987; P. Kühn / U. Püschel 1990a; 1990b; U. Haß-Zumkehr 1995. 93 Vgl. dazu die kurze Charakterisierung in O. Reichmann 1989; s. auch H. Friebertshäuser 1983. 94 Hierzu H. Henne / H. Weinrich 1976a; 1976b; H. Henne / W. Mentrup / D. Möhn / H. Weinrich 1978. 95 Man vgl. für den englischen Sprachraum, insbesondere für England, den Doppelband Oxf. Hist. Engl. Lex. (2009), der das vorhandene Interesse bereits durch seine pure Existenz belegt.
5. Lexikographie in Diensten der Ideologie
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fassung des Wörterbuches als beruflich benutzten Arbeitsinstrumentes historischer Forschung (im Sinne der vorangehenden Kapitel 3 und 4) nicht vollständig erklärbar. Etwas Weltanschauliches, den Bereich von Überzeugungen und Bekenntnissen Betreffendes, tendenziell Weihevolles, rationaler Betrachtung nicht in allen Facetten Zugängliches kommt nicht nur hinzu, sondern wird zum Existenzgrund von Lexikographie. Kurzum: Das Wörterbuch ist selbstverständlich ein von Wissenschaftlern produziertes und von Rezipienten professionell genutztes linguistisches, philologisches und geschichtswissenschaftliches Fachbuch.96 Es ist nach den Intentionen seiner Planer, seiner Trägerinstitutionen und der ausführenden Lexikographen sowie nach den Erwartungen seiner Benutzer aber auch bzw. mehr noch ein geschichtstypisches Handlungsinstrument in mindestens dreifacher Hinsicht (vgl. auch Kap. 2, Abs. 3): – Es ist erstens Motor wesentlich literarisch gestützter bildungsbürgerlicher Kulturbemühungen (s. den folgenden Abs. 2), – es ist zweitens gezielt eingesetzter Faktor im Prozess der Konstitution sozialer Großgruppen (vor allem der sich über eine Einzelsprache definierenden Nationen) (s. Abs. 3), – es ist drittens (und dies deutlich weniger) Faktor eines das subnationale landschaftliche Eigenbewusstsein pflegenden volkskundlichen Interesses (s. Abs. 4). 1. 1. Alle drei, hier als Gegensatz zu ‚fachlinguistisch‘ begriffenen und zusammenfassend als ‚ideologisch‘ charakterisierten Instrumentalisierungen hängen eng miteinander zusammen, bilden gleichsam Formen einer sich wechselseitig stützenden Arbeitsteilung: Man hat den Wortschatz als Denkmal, Monument, Heiligtum, Band, Schatz97 der Nation gedacht mit der Nationalliteratur als dem Allerheiligsten und der Nationalbibliothek als adäquatem Standort. Dieses Heiligtum ist vor allem anderen zunächst einmal zu verehren, auch dann, wenn man es gar nicht kennt, also nur von seiner Exis-
96 Man könnte dieses Fachbuch-Verständnis detailliert ausführen. Es findet sich geradezu prototypisch von R. Schützeichel ausgedrückt, wenn er mit dem Blick auf die Glossographie (aber übertragbar auf viele andere Bereiche) deren Gewicht betont und zwar für die „Glossierung antiker und spätantiker Autoren, ihre Verbreitung und kirchengeschichtliche Geltung, [...] das Glossierungsverfahren selbst, die Einbettung der volkssprachigen Einträge in sprachgeographische Zusammenhänge [...], für wortgeschichtliche und namengeschichtliche Problemfelder, für kulturgeschichtliche und textgeschichtliche Belange“ (Glwsch., Bd. 1, S. 3). – Speziell mit dem Blick auf die Philologie vgl. man wieder R. Bergmann 1989. 97 Diese Ausdrücke bilden einen Teil des lexikalischen Ritualwortschatzes; zu Band vgl. E. Ziegler 2002; Schatz tritt selbst im Titel von K. F. W. Wander auf, obwohl dieser sich ansonsten der nationalen bzw. patriotischen Stromlinie entzieht.
74 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen tenz weiß. Es ist zum anderen mit wissenschaftlichen Mitteln, darunter mit dem Objektivitätsprestige der Lexikographie, so darzubieten, dass es als Ergebnis einer lange anhaltenden bis überzeitlichen Konstanz der Geschichte einer (und zwar der eigenen) Sprache erscheint. ‚Fakten‘ dürfen dabei natürlich nicht übergangen werden, was nicht ausschließt, dass man sie auch mal – vielleicht sogar systematisch – „herstellen“ kann. Ich bin mit diesem Zitatwort bei der sog. „monumentalischen Historie“ F. Nietzsches (1873/4, S. S. 258ff.): 1. 2. Diese besagt, dass es nicht die Aneinanderreihung von einzelnem ‚Faktischem‘, sondern der „Glaube an die Zusammengehörigkeit und Kontinuität des Großen aller Zeiten“ ist, der aus „große[n] Momente[n]“ eine dem „Zweifel“ entgegenwirkende „Kette“, einen „Höhenzug“ bildet. Das Hineinzwängen des Individuellen in die Höhenkette bedeutet in der Nietzsche eigenen Radikalität, dass „die monumentale Historie jene volle [ikonische] Wahrhaftigkeit nicht [wird] brauchen können: immer wird sie das Ungleiche annähern, verallgemeinern und endlich gleichsetzen, immer wird sie die Verschiedenheit der Motive und Anlässe abschwächen, um auf Kosten der causae die effectus monumental [...] herzustellen“ (S. 261); in variierender Formulierung: Wenn die Facten (das Einzelne, Kleine, Verschiedene „in seiner genau gebildeten Eigenthümlichkeit und Einzigkeit“) „an allen scharfen Ecken und Linien zu Gunsten der Uebereinstimmung zerbrochen werden“ (ebd.), und wenn dies gleichsam die Weise sein sollte, auf die sich historisches Arbeiten vollzieht, dann wird dessen Produkt eine Größe sui generis mit einem ganz bestimmten, wenn auch nie voll bewusst gewordenen Zweck sein. Dieser Zweck ist ein „Mittel gegen die Resignation“, ein „Protest gegen den Wechsel der Geschlechter und die Vergänglichkeit“, die doch eigentlich der Urgegenstand der Historie ist (dies Letztere meine Einblendung); insgesamt ist er eher Nutzen als Nachteil für das Leben. Bei aller Komplexität, die das ‚Leben‘ im Sinne Nietzsches ausmacht, steht es ebenso gegen ‚Geist, Verstand‘ wie für natürliche, biologistisch gesehene Vitalität und öffnet sich zu ‚Kunst‘ (vgl. C. Zittel in H. Ottmann, S. 269). 1. 3. Entkleidet man diesen Gedanken seines philosophischen Rahmens und wendet man ihn auf die Lexikographie an, dann ergibt sich: Ohne das Zusammenspiel einer eine Höhenkette konstituierenden bildungsbürgerlichen, nationalen98 (bzw. patriotischen) und volkskundlichen Motivation zur Produktion des Heiligtums, zu seiner Finanzierung durch Bürgergesell-
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Der Ausdruck national passte generationenlang nahezu immer. So gesteht selbst K. F. W. Wander, dadurch zu „Freudigkeit und Kraft“ angeregt zu sein, dass sein Sprichwörterlexikon ein „nationales Werk“ genannt wurde (Vorrede, S. XXVIII).
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schaften oder (später) durch bürgerlich besetzte Verfassungsorgane und zu seiner Verehrung durch die rezipierende Sprachgemeinschaft wären die überlangen Planungs- und Bearbeiterzeiten kaum denkbar. Es gäbe keine historische Lexikographie, wie wir sie kennen. Natürlich hätte man dies auch positiv ausdrücken können,99 geht es doch um einen Funktionsbereich, der gesellschaftlich breit motiviert ist, nicht also nur um linguistische oder historische Fachlichkeit. In meinen eigenen Arbeiten (1989; 1990c; 1998; 2000; 2001a) habe ich die von den Autoren historischer Wörterbücher bzw. den hinter ihnen stehenden Interessengruppen geäußerten Intentionen erstens als Ausdruck eines bildungsbürgerlichen, rückwärtsgewandten sprachlich-literarischen Kulturverständnisses und zweitens als Niederschlag des Bestrebens beschrieben, nationale bzw. subnational-landschaftliche Identitäten zu stiften oder zu verstärken, drittens auf die historisch sehr konstant auftretende und von hohem Konsens getragene Verbindung des Bildungs-, des National- und des Volkskundegedankens hingewiesen. 2. Der Bildungsgedanke ergibt sich daraus, dass der jeweils behandelte Wortschatz schon aufgrund der nur partiell deskriptiven Ansprüche historischer Wörterbücher nicht als amorphe Masse von Gleichwertigem, sondern weitgehend als qualitativ-hierarchisch Geschichtetes dargeboten wird. Die dabei gehandhabten Wertungskriterien sind diejenigen des zugleich sprachlich und literarisch wie kulturhistorisch gebildeten Bürgertums. Sie sind so unbestritten, dass die vorgenommenen Wertungen als Qualitäten des beschriebenen Gegenstandes statt als Resultate kulturpädagogischer Zuschreibungen vermittelt werden. Der Wörterbuchbenutzer erhält dadurch qualitativ „nach oben“, auf den gesellschaftlich ausgezeichneten Literaturkanon hin ausgerichtete Orientierungen; er wird – die pädagogische Wirkung des Wörterbuches vorausgesetzt – zur literarischen Sensibilisierung erzogen (was immer dieser jargonhafte Ausdruck auch genau bedeuten mag).100 Dies gilt in zumindest partiell ähnlicher Weise für die Lexikographie des Deutschen wie des Niederländischen und Englischen. Zur Demonstration sei Folgendes angeführt:
99 J. Assmann (1997, S. 133) tut dies, indem er formuliert: „Die Imagination nationaler Gemeinschaft ist angewiesen auf die Imagination einer in die Tiefe der Zeit zurückreichenden Kontinuität. – P. Kühn (1989) operiert im Zusammenhang mit dem hier gemeinten, außerhalb der professionellen Arbeit von Philologen und Historikern liegenden Höheren selbst mit Bezug auf „interessante wie kuriose Spezialwörterbücher“ mit Ausdrücken wie kontemplativ motiviert, ideologisch motivierend, belehrend, erbauend, bildungsidealistisch. 100 In der Rezeption des DWB durch C. F. L. Wurm werden die Sprachgelehrten als Rezeptionsgruppe betrachtet; J. Grimm spricht in seiner Replik von den „Gebildeten aller Stände“ neben den „Gelehrten“ (dokumentiert bei A. Kirkness 1980, S. 136f.; U. HaßZumkehr 1995, S. 291).
76 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen 2. 1. Zentraler Gegenstand des DWB, des WNT und des OED ist nach den programmatischen Verlautbarungen der Wörterbucheinleitungen zwar die Sprache generell (so J. Grimm 1854, passim, für das DWB), im WNT die als algemeen attribuierte taal (passim auch onze taal >unsere SpracheSprache in ihrem kultivierten ZustandSpiegel der LiteraturSeeleohne den direkten Zusammenhang mit anderen Sprachenungezügelte Leichtfertigkeit, die alle Bande kappt und das reine Niederländische einer Sturzflut der Bastardisierung aussetztEinkriechlingezufällig< herausgebildet haben, weil der Punkt, von dem die Entlehnung ausging, „a figurative, transferred, or specialized use“ gewesen sein kann (Bd. 1, 1989, S. XXIX der General Explanations). Diese Gegenüberstellung setzt zwei Wortschatzteile voraus: einen eigentlich englischen (vgl. English itself; ferner: our language und die sonstige Identifizierungsstilistik; dazu: Teil D, Kap. 6, Abs. 3. 9. 3) und einen aus einer als fremd betrachteten Sprache wie dem Lateinischen entlehnten Wortschatzteil. Ersterer habe einen im Durchschnitt höheren Polysemiegrad118 als letzterer, er entwickele sich in der tatsächlich (actual) abgelaufenen Wortgeschichte sowohl rational und logical wie natural (jeweils im Unterschied zu accidental gebraucht); er lasse sich, auch wenn die Überlieferung Lücken
117 Hier wie in weiteren Ausdrücken zeigt sich eine deutliche Aversion gegen den Rationalismus, wie man ihn gerne mit Frankreich verbindet: geestdoovend gezag, schoolmeesterlijke dwang, eenparigheid, doodsche / dodende eenvormigheid, gedachtelooze volgzucht, flikkerende schijnglans auf der Seite des Franzosen / Französischen, auf der Seite des Niederländers / Niederländischen dagegen: vrijheid, rijkdom, scheppingskracht, verscheidenheid, levenskracht, leven en gloed, geest (dies alles und Weiteres auf 2 Seiten; LXXVIf.) 118 Dies gilt nach den Untersuchungen von G. Augst 2000 allerdings auch für das Deutsche, was aber nicht bedeutet, dass diesbezügliche Zählungen und Zählungsergebnisse für das Englische wegen dessen jahrhundertelangen Nebeneinanders mit dem Normannischen nicht anders ausgewertet werden müssten als für das Deutsche.
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aufweise, so darstellen, dass die tatsächliche Bedeutungsentwicklung in der lexikographischen Darstellung gespiegelt werde (ein irriger Glaube, der vom Sprachhistoriker und Lexikographen möglicherweise dennoch als tröstlich empfunden wird). Letzterer Wortschatzteil, durchschnittlich weniger komplex als ersterer, sei dagegen durch alle möglichen Zufälle gekennzeichnet: (oft mehrfache) Entlehnung aus uneigentlichen Verwendungsweisen, aus besonderen Varietäten, entgegen dem primary sense.119 An eine den Wörtern des English itself, des English of its own entsprechende realitätsgerechte, gleichzeitig natürliche wie logische Darstellung sei deshalb nicht zu denken; demzufolge seien zwei Anordnungsprinzipien zu unterscheiden. In vorliegendem Zusammenhang interessiert daran nur die Tatsache, dass auch im OED zumindest in einigen Phasen seiner Grundlegung und seiner Realisierung eine weit in die Geschichte zurückgreifende, (wenn man will:) nationale Funktion des Wörterbuches durchschimmert. Diese wird nicht nur mit den literarischen Leistungen in englischer Sprache, sondern auch mit dem hochgradig ideologischen Konstrukt einer englisch-westgermanischen, im lexikalischen Bereich durch besondere Qualitäten ausgezeichneten Sprachgeschichtslinie begründet. Die für das Englische noch stärker als für das Deutsche und Niederländische bestehende Möglichkeit, die Geschichte einer Sprache in deren Ursprung und in jedem ihrer Entwicklungspunkte als Geschichte des Kontaktes mit Bildungs- und Nachbarsprachen zu sehen, ist im OED infolge von dessen allerdings nur unterschwelligen nationalen Zügen nicht voll genutzt worden.120 3. 4. Die Verbindung des Bildungsgedankens mit dem Gedanken nationaler Identifikation durch sprachgeschichtliche Einsicht ergibt sich aus dem Vorgetragenen. Offensichtlich sind die Träger des sprachhistorisch-romantisch-literarischen Bildungsgedankens zum großen Teil auch die Träger der
119 Vielleicht ist diese Aussage in folgendem Zitat der Vorrede zu J. Grimms Mythologie (1854/ 1968, S. 20) schon vorgeprägt: „in der geschichte europäischer sprachen [müssen] äussere, zufällige und offene einwirkungen vieler untereinander angenommen werden, die [...] von jener verborgener liegenden zu unterscheiden sind: es sei nur an den alten einfluss des lateins [...] erinnert. Vorzüglich darin zeigt sich der unterschied beider arten von berührung, dass, während jene urverwandten sprachstoffe gelenk und durchsichtig bleiben, in den erborgten und um der erborgung willen trübheit der formen und stumpfheit der bewegungen hervorgeht. Alle urverwandten wörter greifen demnach in das wesentliche leben der sprache, über welches die erborgten meist ohne aufschluss lassen: wie leblos [...]“. 120 Einzelne Hervorhebungen des „linguistic patriotism“ oder die Bemühung der „national honour of England“ in der Vorbereitungsphase des OED gehören in den Trickkasten rhetorischer Argumente zugunsten der Realisierung des Wörterbuches in einer Phase seiner drohenden Einstellung; sie lassen nicht auf eine bewusste nationale Motivierung oder gar Anlage des Werkes schließen (Nachweise bei L. Mugglestone 2009, S. 242).
86 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen Auffassung, dass Sprache eine der wichtigsten oder gar die wichtigste Konstituente nationalen Bewusstseins sei. Lexikographie hat beiden Zwecken zu dienen. 4. Es fragt sich, ob sich die bildungsbürgerliche und sprachnationale Sinngebung der Lexikographie auf der Ebene der historischen Dialektlexikographie bzw. auf der Ebene derjenigen Verständigungsmittel wiederholt, die – metaphorisch gesprochen – zum mindesten teilweise zu den „Verlierern“ der Sprachgeschichte gehören. Gemeint sind einmal die Mundarten (Dialekte; hier: nur des Deutschen), darunter das Niederdeutsche (s. Abs. 4. 1), ferner das Schweizerdeutsche als ein aus dem Dachverband deutscher Mundarten zunehmend ausscheidender ‚Nationaldialekt‘ (Abs. 4. 2), schließlich das Schottische (Abs. 4. 3). 4. 1. Für die deutschen Mundarten ist der Bildungsgedanke deshalb nicht zu erwarten, weil bei allen zeitlichen und räumlichen Verschiedenheiten kaum zu leugnen ist, dass sie seit dem 16. / 17. Jahrhundert als der Zeit, seit der die Konstellation ‚Mundart und Hochsprache‘ eine ernst zu nehmende ideologische Rolle spielt, als primär mündliche, außerdem als räumlich gebundene, also im doppelten Sinne ‚nähesprachliche‘ Verständigungsmittel fungierten. Da Bildung entscheidend über Schriftlichkeit erfolgt und sich in Schriftlichkeit vollzieht und da moderne Schriftlichkeit zur Überregionalität tendiert, ergab sich spätestens in der beginnenden Neuzeit eine bildungssoziologische Schichtung in der Weise, dass derjenige Sprecher, der ausschließlich über seine regionale Mundart verfügt, mit höherer Wahrscheinlichkeit (also von Ausnahmen abgesehen) der soziologischen Grundschicht zugerechnet werden muss als derjenige, der über höhere Varietäten bzw. über die Mundart plus höhere Varietäten verfügt. Dem entspricht, dass in den Begleittexten der historischen Mundartwörterbücher keine Argumente für einen wie auch immer gearteten Bildungsgedanken zu finden sind: Der ausschließlich Mundartsprechende ist schreibungewohnt, und der grund- und hochschichtige Varianten Beherrschende und Schreibgewohnte findet seine Identität und seine schichtige Auszeichnung über die Hoch- und Schriftsprache. – Ähnlich ist hinsichtlich des Nationalgedankens zu argumentieren: Die Sprecher deutscher Mundarten, zumindest diejenigen, die innerhalb der Reichsgrenzen von 1871, innerhalb der geschlossenen deutschsprachigen Gebiete der Donaumonarchie oder innerhalb östlicher Sprachinseln lagen / liegen, integrieren sich sprachlich als Hochsprachesprecher. Die einzelne Mundart mag dabei als Stütze fungieren und gewisse Beiträge liefern, rangiert aber – auch in Verbindung mit der Bildungsschichtung – auf einem national kaum noch ins Gewicht fallenden Niveau. Dafür hat man eben die Hoch- und Schriftsprache als ausgezeichnete Variante. Dies gilt
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auch für das Niederdeutsche und die historische Lexikographie dieser Sprachlandschaft. Dennoch sei hier kurz auf den Typ der Reflexe eingegangen, die ich oben mangels eines neutraleren Ausdrucks mit negativierender Absicht als ‚volkskundlich‘ bezeichnet habe. Bei J. H. Schütze, Holst. Id. (1800) wird die Verdrängung des Plattdeutschen durch eine „barbarische Mundart, die weit unreinere oberdeutsche“, als Verderben bedauert (S. IV). Immerhin aber habe sich das reinste Plattdeutsch „ganz vorzüglich bei den Leibeigenen“ gehalten, die einhäusig, der „Scholle anhängend sehr natürlich im Besitz des ursprünglichsten Dialekts“ geblieben seien (S. VII f). Dem entspricht der Gebrauch von Ausdrücken des Typs Geist des Volkes, biedere, rauhe Sprache usw.121 sowie die Nennung von Redensarten, Volkswitz, Gebräuchen, Spielen, Festen bereits im Titel. Dieses Vokabular ist auch für die Einleitung von O. Mensing (Schlesw.-holst. Wb.) typisch: Sprache und Sitte, Volkskunde, Volksmund, Feste, Spiele, heimisch, altehrwürdig, echt niederdeutsch, volkstümlich fungieren als Wortgerippe der Einleitung (1926). Im Meckl. Wb. (Bd. 1, S. V und XI) lautet dieser Wortkanon: Feste, Frische, Kraft, Volksreime, Sage, Sitte, Brauchtum, Märchen, Glaube, Gebräuche. Als Träger werden der norddeutsche Mensch bzw. Menschenschlag, das mecklenburgische Volk ausgemacht. Anflüge von Nostalgie in Richtung auf eine alte, knebelbärtige, eisenbeschuhte, unverdorbene niederdeutsche Identität sind unverkennbar. 4. 2. Einen Sonderfall deutschsprachiger Lexikographie bildet das Schweizerische Idiotikon und, unter gewissen Gesichtspunkten (dazu Teil D, Kap. 2, Abs. 4. 7), auch das Wörterbuch der elsässischen Mundarten von E. Martin und H. Lienhart. Zur Erläuterung des Gemeinten sei hinsichtlich des Schweiz. Id. auf die jüngst erschienenen Beiträge der „Frühjahrstagung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften“ vom Jahr 2008 hingewiesen: Der Beitragsband hat den Titel „Das Idiotikon: Schlüssel zu unserer sprachlichen Identität und mehr“. Das Grußwort von S. Brändli wiederholt (wie auch einige der Tagungsbeiträge) den Titelausdruck Identität und stellt fest, „dass auch politische, sozusagen ‚nationalistische‘ Motive für die Gründung und den jahrelangen Betrieb des Unternehmens“ eine Rolle
121 Den Gipfel der kernig-handfesten Idylle bildet die liebevolle Schilderung der „Schlägereien und Todschläge“, die sich bei Hochzeitsgelagen hätten ereignen können, auf die man früher – freilich nach dem Hörensagen – „Leichentücher und Totenhemde“ mitgenommen habe, weil ja „niemand wissen konnte, wer als Gast hin und als Leiche heim fuhr“ (S. VIII / IX).
88 A. Historische Lexikographie in gesellschaft-/wissenschaftlichen Zusammenhängen gespielt hätten; das wird ausdrücklich als „gut“ beurteilt, denn „anders wäre es auch nicht möglich gewesen, die [...] Mittel“ über eine so lange Bearbeitungszeit zu beschaffen. Suggeriert wird sodann, dass „nationale kulturwissenschaftliche Projekte“, insbesondere zur schweizerischen Volkskunde, Sprach-, Sozial- und Kulturgeschichte generell auslaufen könnten, wenn nicht „nationale Institutionen“ deren finanzielle Absicherung garantieren würden. Die dem Grußwort folgenden Beiträge haben den gleichen Tenor: Es geht um phonologische, semantische, etymologische, ethnologische und sachkulturelle Aspekte, Volksmedizin und Volkspsychologie, populäre Kultur, völkische Kultur, Museen von Wörtern (S. 9f.), sprachliche Monumente usw. Die Adjektive national122 und nationalistisch werden neutral bis positiv gebraucht; selbst hinter rationalen Berichtstönen verbirgt sich eine gewisse Nostalgie angesichts der zunehmenden Relikthaftigkeit bestimmter Ausdrücke; die Mundart- und die mit ihr verbunden gesehene Erbegefährdung werden als etwas die ‚Identität‘ Bedrohendes gesehen. Indem die Brüder Grimm als Ideenlieferanten anerkannt werden und indem der Wortschatz und die Anliegen der Volkskunde immer wieder mal durchschimmern, könnte man geneigt sein, die heutige Werkideologie des Schweiz. Id. in gewisser Parallele zu den oben behandelten nationalen und volkskundlichen Begründungen von Wörterbüchern oder als deren verspätetes historisches Nachzucken zu sehen. Dem widersprechen aber mindestens folgende Fakten: National, nationalistisch, völkisch usw. im Sinne der Beiträge des behandelten Tagungsbandes haben ihre eigene, schweizerische, positive Semantik. – Das Schweizerdeutsche ist eben nicht mehr eine deutsche Mundart in dem Sinne, wie es infolge der hochsprachlichen Überdachung z. B. das Fränkische oder Bairische und selbst die niederdeutschen Idiome sind, sondern ein seit Jahrhunderten zunehmend eigenständiges System von Verständigungsmitteln; es zählt also nicht zu den Verlierern der Sprachgeschichte; insofern verbietet sich jeder undifferenzierte Vergleich. – Die Behandlung des ‚volkskundlichen‘ Wortschatzes mag auch in der Grundlegung wie in der Realisierung des Idiotikons einen herausragenden Stellenwert haben, sie erfolgt aber streng sprachgeschichtlich ohne volkskundetypische Seichtigkeiten. – Fruchtbar scheint mir die im Beitrag von S. Brändli vorgenommene Unterscheidung und Gleichgewichtung von horizontaler und vertikaler Finanzierung zu sein (horizontal: Kantone; vertikal: Bund);
122 W. Haas (1981) führt diesen Ausdruck im Untertitel seiner Publikation: „nationale Institution“; dort auch einschlägige Zitate aus den beiden Aufrufen zum Idiotikon 1845 und 1862.
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die Dominanz des Nationalen wird also überlagert durch die „Lebenskraft des Föderalismus“ (a. a. O., S. 6). 4. 3. Für das Schottische trägt das SND das Attribut national im Titel: Scottish National Dictionary. Die Erwartung, dass damit ‚nationale‘ (im Sinne etwa J. Grimms) Anliegen verfolgt werden, geht allerdings ins Leere. Zwar ist im Preface mit einem gewissen nostalgischen Unterton davon die Rede, das Wörterbuch wolle „a kaleidoskop of dissolving vieuws of Scottish life and character“ präsentieren und damit einen „direct appeal to all Scots or folk of Scottish descent [verbinden] who take a pride in the language and history of their country“. Und zwar kann man außerdem, wenn man will, in Ausdrücken wie deep, heartfelt (mit Bezug auf ‚character‘, ‚feelings‘, ‚life‘ Schottischsprachiger) gewisse Parallelen123 zu dem soeben für einige Wörterbücher des Niederdeutschen zusammengestellten Leitvokabular ‚volkskundlicher‘ Idealisierungen sehen (Preface, S. I; R. Bailey 2009, 317); und es gibt auch einige weitere Kennzeichen eines national motivierten Sprachgeschichtsmodells (etwa die Betonung des Sprachraumes, das Reden von „Decline of Scottish literature“ (S. XIII). Dies alles aber sind im Grundtenor des Textes eher Beiläufigkeiten. Störend wirkt allerdings die schwer nachvollziehbare Aneinanderreihung von Scots, folk und Scottish descent in obigem Zitat.
123 Solche Parallelen begegnen übrigens auch im EDD (Bd. 1, Preface, S. VI): „neither time nor trouble has been spared in order to obtain accurate information about popular games, customs, and superstitions“.
B. Zur Typologie historischer Wörterbücher 1. Zur Ausgangssituation 1. Die Typologie historischer Wörterbücher war lange Zeit, mindestens bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, kein eigentlicher Gegenstand der bis dahin ihrerseits kaum entwickelten Metalexikographie. Die lexikographischen Praxistraditionen waren so etabliert, dass man der eigenwertigen Frage, in welchen Wörterbuchtypen man vergangene oder gegenwärtige Wortschätze unter diachronem Aspekt behandeln könne, keine besondere Bedeutung beimaß. Man interessierte sich für den Wortschatz der mehr oder weniger eng verstandenen Hochsprache, einiger Fachsprachen sowie der Dialekte, und zwar jeweils unter synchronen wie unter diachronen Aspekten. Unter letzteren kam der etymologischen Lexikographie plausiblerweise ein besonderer Stellenwert zu. Man interessierte sich ferner für den Wortschatz der Sprachstadien und – mit deutlich geringerer Energie, dies besonders im niederländischen und englischen Sprachraum – für den Wortschatz großer historischer Persönlichkeiten, im Einzelfall auch für bestimmte, etwa fachliche und regionale Teilwortschätze unter zeitübergreifenden Aspekten. Aus diesen Interessen folgte, dass das große einzelsprachbezogene (‚nationale‘) Bedeutungswörterbuch, das etymologische Wörterbuch, das historische Dialekt- und Sprachstadienwörterbuch und (abgeschwächt) das Autorenwörterbuch als die vom Interesse her vorgegebenen und deshalb nicht weiter zu diskutierenden zentralen Typen der Lexikographie galten, denen gegenüber alle anderen dann als schwächer beachtete Spezialwörterbücher abfielen. Eine gewisse typologische Aufmerksamkeit fiel seit J. A. Eberhards Synonymik (1795 – 1802) und F. L. K. Weigands Wörterbuch der deutschen Synonymen höchstens noch der Unterscheidung von semasiologischer und onomasiologischer historischer Lexikographie zu. Im allgemeinen wusste man: ‚A‘ ist ein Wörterbuch mit dem leitenden typologischen Kennzeichen ‚x‘, Lexer z. B. ein historisches Sprachstadienwörterbuch. – Diese Aussagen wurden mit dem Blick auf das Deutsche formuliert, sie gelten aber tendenziell auch für die Lexikographie des Niederländischen und Englischen.
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B. Zur Typologie historischer Wörterbücher
2. Heute gehört das Typologieproblem zu den zentralen Gegenständen der Metalexikographie (vgl. H. E. Wiegand 1988) und zu einer der unumgänglichen Vorentscheidungen praktischer Lexikographie bis zur Festlegung des Publikationsmediums hin. Die Gründe dafür bilden: – das größer gewordene wissenschaftliche Interesse an Reflexion und analytischer Durchdringung des eigenen Handelns, – die Tatsache, dass eine analytisch in Module zerlegte lexikographische Information ökonomisch effektiv für die Herstellung vieler Typen von Wörterbüchern genutzt werden kann und in der gegenwartsbezogenen Verlagslexikographie auch so genutzt wird, – die durch die Modularisierung gesteigerten Möglichkeiten der phantasiegesteuerten Kombination von Informationen verschiedenen Typs und des Spielens mit ihnen, – die Möglichkeit, systematische Typologien mit realen zu vergleichen und dadurch Ideen für sinnvolle neue Wörterbuchtypen zu entwickeln, – die Möglichkeit und Notwendigkeit, die oftmals schon mit der Einwerbung von Geldern verbundene Unumgänglichkeit der Digitalisierung, – damit verbunden die vorgängige Ausrichtung lexikographischer Informationsprogramme auf die Vorgaben der Digitalisierung, darunter der Modularisierung und der Bereitstellung lexikographischer Information im Internet, – der sich gerade vollziehende Medienwandel, d. h. der Wandel „des Produktions-, des Speicher-, und des Präsentationsmediums“ (H. Speer 2007, S. 261) sowie des Rezeptions- und Nutzungsusus von Wörterbüchern. 3. Diese Liste lässt eine Reihe kompatibler Interessen, nämlich ‚Analyse‘, ‚Modularisierung‘ und ‚Digitalisierung‘, geradezu ins Auge springen. Die genannte Trias hat zweifellos zu einem in seinem Ausmaß und in seinen Folgen noch kaum abschätzbaren Schub an Neuerungsüberlegungen sowie zu Praxisfolgen geführt. Drei Möglichkeiten scheinen mir auf der Hand zu liegen: Einmal könnte mit dem Blick auf das Spektrum lexikographischer Information ein zwar nicht geschlossener, aber doch so umfänglicher Katalog von Typologisierungskriterien erarbeitet werden, dass jeder im Augenblick denkbare einzelne Informationstyp in ihn eingeordnet und bei Bedarf aus ihm herausgezogen werden könnte (s. Abs. 3. 1). Zum anderen könnte eine Besinnung auf priorisierte Typologisierungskriterien erfolgen, unter denen dann ältere Gesichtspunkte möglicherweise wieder an Gewicht gewinnen würden (Abs. 3. 2). Drittens kann man immer zu einer Kombination verschiedener Möglichkeiten greifen (Abs. 3. 3). – All dies ist jeweils näher zu charakterisieren und zu reflektieren.
1. Zur Ausgangssituation
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3. 1. Erstere Möglichkeit sähe folgendermaßen aus: Vorausgesetzt wird der erwähnte, in Zusammenarbeit von erfahrenen Lexikographen und Informatikern zu erstellende Katalog von Informationstypen, z. B. mit Angaben zu ‚Zeit‘, ‚Raum‘, ‚Phrasem‘, ‚Fremdwort‘, ‚Wortbildung‘ (und sehr vielem Weiteren). Sodann wird – bei Retrodigitalisierung eines vorhandenen Wörterbuches – jede bereits vorliegende oder noch zu gewinnende lexikographische Information, also all dasjenige, was zu einem Lemmazeichen mitgeteilt wird, analytisch so zerlegt, als Einheit so modularisiert und sprachlich so (um)formuliert, dass sie mindestens einem der Kriterien des Katalogs zugeordnet werden kann. Bei der Neugründung eines Werkes wird die gewünschte Information von vorneherein so konzipiert und so verfasst, dass eine ebensolche Zuordnung schon in der Logik des Verfahrens liegt. Man erhielte dadurch die Möglichkeit, die einzelnen Einheiten ein und desselben Informationstyps, also z. B. Informationen zu Zeit oder Zeitspanne, zu Erst- und Letztbeleg, zu Raum, Monosemie, phrasematischen Verwendungen (usw.), unter einer einzigen Überschrift zusammenzustellen und mit jedem anderen Informationstyp zu verbinden. Das Ergebnis hätte die typische Form: Im Jahre 1336 finden sich z. B. 20 lexikalische Zeichen zum ersten Male belegt, davon sind x lateinischer Herkunft, y der Textsorte a und 23 Prozent von x oder y dem oobd. bzw. irgendeinem anderen Raum zuzuordnen. Diese Kombination von Informationen verschiedenen Typs führt zu einem wahren Ozean sinnvoller ausdrucks- und semantikstruktureller, pragmatischer sowie weiterer Verdichtungen. In der herkömmlichen Lexikographie kann man davon nur träumen, obwohl die Information selbst vorhanden sein mag. 3. 1. 1. Diesem positiven Urteil kann allerdings auch mit kritischen Fragen begegnet werden: – Ist die wertvollste lexikographische Information, doch wohl die Bedeutungserläuterung, einigermaßen restfrei auf Module zurückführbar, die sich über digitale Herstellbarkeit und Verwaltbarkeit definieren? Oder ist sie weitgehend bis gänzlich anderer Natur? – Selbst wenn die Modularisierung gelingen sollte, was ja in einfachen (oft uninteressanten) Fällen nicht geleugnet werden kann: Führt die hohe Anzahl von Kombinationsmöglichkeiten einzelner Informationstypen nicht zu einer Reduktion an Übersichtlichkeit und sogar zur Amorphisierung des Wissens? Man halte sich vor Augen, dass die Zahl ‚sinnvoller‘ Kombinationen ja weit unter der Zahl der Spielkombinationen liegt. Zuzugestehen ist allerdings, dass ‚sinnvoll‘ und ‚spielerisch‘ keinen Gegensatz bilden. – Damit zusammenhängend: Welcher Rezipient wird eigentlich zu welcher inhaltlichen Frage angeregt, wenn man ihm die Möglichkeit gibt,
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B. Zur Typologie historischer Wörterbücher
alles mit allem zu verbinden? Immerhin funktioniert Verständigung nach gängiger Auffassung optimal ja insbesondere dann, wenn man nicht informativer als nötig, ferner relevant und kurz ist. Diese (und weitere) Maximen setzen Aspekte voraus. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die korrumpierend hohen Angaben über Nachschlagefrequenzen in der Quantität stecken bleiben. Es gibt keine Untersuchungen darüber, „in welche Richtungen [...] die Funktionalität eines digitalen Wörterbuchs von der ‚scientific community ausgewertet wird und welche Forschungsinteressen hierdurch besser als durch das gedruckte Werk befriedigt werden“ (H. Speer 2007, S. 269). – Führt die Tatsache, dass bisher kein einziges Wörterbuch digital in dem Sinne erarbeitet worden ist, dass es die Bedeutungserschließung (des Lemmazeichens aus den Belegen) und die Verarbeitung von deren Ergebnissen zu Bedeutungskonstrukten als das qualitative und hinsichtlich des Zeitaufwandes auch quantitative Zentrum lexikographischer Tätigkeit maschinell vollzogen hätte, möglicherweise zu der kritischen Frage, dass dies schon von den Voraussetzungen her vielleicht nie oder zumindest nicht restfrei funktionieren wird? – Könnte sich daraus eine schleichende Vernachlässigung eben dieses Zentrums ‚Bedeutungserschließung, -konstruktion‘ als in der Logik der Sache liegend diagnostizieren oder prognostizieren lassen? 3. 1. 2. Bezieht man das mit positiven Urteilen und kritischen Fragen Vorgetragene auf das Thema ‚Typologisierung‘, dann scheinen mir folgende Konsequenzen kaum von der Hand zu weisen zu sein: (1) Es wird bei strenger Durchführung des gerade diskutierten Programms in Zukunft keinen einigermaßen klaren und feststehenden Wörterbuchtyp, etwa ein Autorenwörterbuch vom Strickmuster des Goethe-Wbs., ein semasiologisches Sprachstadien- und zugleich Belegwörterbuch vom Typ des Mhd. Wbs., des FWB, VMNW oder MED oder ein diachrones Fachwörterbuch vom Typ des DRW mehr geben. Speziell der auf eine bestimmte Kulturzeit – gedacht ist an die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts – zurückgehende Wörterbuchtyp, wie er im DWB, im Schweiz. Id., im WNT, auch im OED und im DRW seine sich im Laufe der Zeit freilich verändernde Gestalt gewonnen hat, könnte Vergangenheit sein, zumal ihm abgesehen von seiner schwierigen Anschließbarkeit an oben diskutierte technische Entwicklungen die nationalen, patriotischen und bildungssoziologischen Voraussetzungen weggebrochen sind. Bezeichnend in diesen Zusammenhang ist, dass die Neubearbeitung des DWB nicht über den Buchstaben f- hinaus weitergeführt wird und dass man statt dessen ein ideologisch genau gegenläufiges Wörterbuch der ‚nationalen‘ Unterschiede des Deutschen auf den Weg
1. Zur Ausgangssituation
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gebracht hat (U. Ammon [u. a.] 2004), dass das OED in seiner neuen Phase (seit 2000) ausschließlich digital1 publiziert wird, dass im Deutschen mit dem GWDS2 (s. W. Klein 2004) und dem Mannheimer IdS-Projekt elexiko (s. http://www.owid.de/elexiko /index.html; vgl. auch: U. Haß 2005), im Niederländischen mit dem Folgeunternehmen zum WNT große, ebenfalls nur digital publizierende lexikographische Unternehmen in Arbeit sind, dass das Mnl. Wb. (Verwijs / Verdam) in einer nur leicht überarbeiteten Form im Netz, aber nicht in Buchform erscheinen wird. Inwieweit all diese Projekte den semantischen, philologischen oder auch den bildungssoziologischen Biss ihrer Vorlagewerke aufweisen, scheint mir besonderer Aufmerksamkeit wert zu sein, natürlich unabhängig davon, wie man zur Art dieses Bisses gerade auch stehen mag. (2) Auch wenn man dies alles nicht unbedingt bedauern muss, da einige der genannten Werke vor lauter Monumentalität und Detailverliebtheit schon seit ihren ersten Lieferungen die anvisierten Benutzer nicht erreicht haben, sei hier doch provokativ behauptet: Die Versuche, Bedeutungswörterbücher und andere auf philologischer Interpretation beruhende Werke auf eine die technische Hilfeleistung übersteigende Digitalisierung umzustellen, werden eine Reduktion an semantischer und philologischer Information und eine allmähliche Reduktion entsprechender Kompetenzen bei den Lexikographen und ihren Rezipienten zur Folge haben müssen. (3) In dem Maße, in dem das in (1) und (2) Gesagte zutrifft, wird sich die Tendenz verstärken, vorhandene Wörterbücher zu digitalisieren. Da dies
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2
Ich verweise ergänzend auf die letzten Abschnitte der History of the Oxford English Dictionary (OED, Bd. 1, 1989; S. Lff.) sowie auf E. Weiner (2009) und die einführenden Erläuterungen zum OED 2000 (digital). In letzteren Beiträgen hat die genuin lexikographische Konzeption des OED nach meinem Urteil ein reduziertes Gewicht gegenüber den textanalytischen und technischen Herausforderungen der elektronischen Fassung. Für die deutsche Gegenwartssprache liegt ein Konzept vor, das in die angedeutete Richtung zu weisen scheint: Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS); vgl. dazu W. Klein 2004 und meine bewertende Anm. 24. – Vielfach war die Corpuszusammenstellung mit der parallel oder zeitlich versetzt verlaufenden Anlage eines digitalisierten Textcorpus verbunden. Dies kann erst einmal nur begrüßt werden. Die auf diese Weise neu gefassten (möglicherweise auch ausgeweiteten) Corpora gewinnen leicht einen eigenen, über das lexikographische Anliegen hinausgehenden Wert und sind dann unabhängig von ihrem Anlass hochwertige Grundlagenwerke historischer Forschung (vgl. WBÖ, Beih. 2, zur „Datenbank der bairischen Mundarten in Österreich, S. 181). Sie können die lexikographische Arbeit aber auch verlangsamen; vgl. hierzu mit Bezug auf das EMED und das Dictionary of Old English / DOE: R. W. Bailey 1990, S. 1444f.; M. Adams 2009, S. 327ff.; 347 mit positiver Beurteilung; mit Bezug auf das elektronische OED vgl.: E. Weiner 2009, S. 400; hier ebenfalls hohe Fortschrittsgläubigkeit.
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B. Zur Typologie historischer Wörterbücher
weiterhin mit einigen Gewissensbissen verbunden sein dürfte, rechtfertigt man die Digitalisierung von Information, die andere erarbeitet haben, mit dem Versprechen ihrer Aufbereitung für neuere Erkenntniszwecke. Es wird sich zeigen, ob diese ‚Aufbereitung‘ im wesentlichen als Übernahme des Vorhandenen in einen anderen Schreib- und Zugriffsmodus oder als Uminterpretation bei gleichzeitiger Reflexion der kategorialen Schwierigkeiten erfolgt, die jede Uminterpretation verlangt, und ob die in Aussicht gestellten materialen Ergänzungen des Vorhandenen über interessante Einzelheiten hinausgehen. Noch zugespitzter: Die Digitalisierung vorhandener Information steht unter der ihr inhärenten Gefahr, dass man zum selbstverschuldeten Nachlassverwalter oder -ordner einer wissenschaftlichen Vergangenheit wird und deren Ergebnisse möglicherweise nur quantitativ ins UninterssantRaritätenhafte hinein supplementiert. (4) Mit (1) bis (3) wird keineswegs ein lexikographisches Vakuum prognostiziert. Vielmehr entstünden lexikographische Informationssysteme beliebig erweiterbaren, z. B. sprachgeographisch oder sprachhistorisch ergänzbaren Ausmaßes und im Kern dokumentativen Zuschnitts. Aus diesen Systemen könnte sich dann jeder Benutzer, den man sich eher als Faktenbegeisterten und Informationstechniker, vielleicht auch als Konstrukteur von Geschichtsmonumenten (im Sinne von F. Nietzsche 1873/4) wie als kritisch interessierten Gelehrten vorstellen müsste, nach je eigenen und je wechselnden Fragestellungen sein eigenes Wörterbuch zusammenstellen. (5) Mit der unter (3) zwar vorsichtig geäußerten, aber doch provozierend unterstellten Absenkung des fachlichen Niveaus von Philologie, Semantik, kritischer Reflexion würde das Verhältnis zwischen dem – nach (2) in seiner Kompetenz reduzierten – Lexikographen und seinen Adressaten symmetrischer, sozialer; es tendierte zu gleicher Augenhöhe. Möglicherweise aber wird auch das Spektrum bzw. die Vielfalt der Fragen, die Rezipienten haben, nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ über dasjenige hinausgehen, was ein einzelner sich vorstellt, und damit auch die Arbeit des Lexikographen bereichern. 3. 2. Die oben angedeutete zweite Möglichkeit ergibt sich e contrario aus dem Gesagten. Der Analyse / Modularisierung von allem und jedem steht immer auch das Streben nach Synthese, nach dem geschlossenen, durch Priorisierungen bestimmten Bild, kurz gesagt: nach einer Kulturidee, gegenüber.3 Demnach wird sich der Lexikograph zu Beginn eines Unterneh-
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Ich meine, die hier anklingende Skepsis auch bei B. T. S. Atkins / M. Rundell (S. 239 und öfter) erkennen zu können, wenn sie sagen: „We need to be clear about the difference between doing things just because we can, and doing them because they will
1. Zur Ausgangssituation
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mens fragen, welche Informationen für ihn zentral und demzufolge mit besonderer Gewichtung und Differenzierung in welcher Weise vorzutragen sind, kurzum: die Artikelgestaltung und das gesamte Wörterbuch sprachlich und architektonisch bestimmen sollen. Der Lexikograph als Person, die die textliche Überlieferung einer Zeit sichtet, interpretiert, sein Tun reflektiert und dies in seinen Ergebnissen durchschimmern lässt, der über eine jahrzehntelange Erfahrung, über breiteres, besseres und tieferes Wissen verfügt und dieses vermittelt, träte in den Vordergrund, während der Rezipient als jemand erschiene, der einen geringeren Kenntnisstand hat und sich belehren lässt. Das lexikographische Kommunikationsverhältnis würde im Kern asymmetrisch. – Entscheidender noch scheint mir die Frage zu sein: Welchen Typ des Wissens vermittelt ein Wörterbuch? Ist lexikographische Information modularisierbares, abrufbares, in beliebige Zusammenhänge stellbares Wissen? Oder ist es in einer bestimmten Kulturzeit gewonnene, von dieser her geprägte und für diese gedachte Interpretation von Weltentwürfen einer geschichtlichen Zeit, die methodisch nur über Sprache zugänglich oder gar von ihrer Seinsweise her sprachlicher Natur sind? Diese Fragen sind natürlich rhetorischer Natur, sie geben die Antworten vor. Der Leser wird längst bemerkt haben, dass hier die „alte“ Lexikographie vertreten wird. Das ausschlaggebende Argument dafür betrifft den Status des semantischen, interpretativ gewonnenen und reflektierten Wissens; es lässt sich nicht modularisieren.4 3. 3. Die dritte Möglichkeit ist logischerweise die Verbindung der beiden erstgenannten: Überführung der ‚alten‘ Lexikographie in das neue Zeitalter und Erweiterung um dessen technische Möglichkeiten. Die zentrale Gefahr, diese Kombination zu realisieren, sehe ich in der grassierenden Quantitätsgläubigkeit, die immer noch ein Weiteres und dann noch ein Weiteres will und dabei sowohl den qualitativen Fortschritt der Kompetenz des Lexikographen wie die Rezeptionskompetenz des Wörterbuchbenutzers zu ersticken droht.
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be of real value to the user“. Oder ebd., S. 240: „Don’t assume you can simply give users every fact you know about a word“. Allerdings führen sie in beeindruckender Weise die Leistungsfähigkeit digitaler Wörterbücher vor. Inzwischen ist eine Anzahl historischer Wörterbücher in digitaler Fassung über das Internet zugänglich; die Recherchequalitäten unterscheiden sich qualitativ allerdings erheblich; vgl. A. Lobenstein-Reichmann 2007. Dem kritischen Beobachter der Szene muss erlaubt sein zu sagen, dass die großen synthetischen Erkenntnisse, die sich nach der personalaufwendigen Verlagerung oder Verzögerung der Wörterbuchproduktion auf die Digitalisierung nicht einmal vorhandener Wörterbücher wie von selbst hätte einstellen müssen, ausgeblieben sind.
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B. Zur Typologie historischer Wörterbücher
2. Vorschlag einer Typologie 1. Mit dem in Kapitel 1 Vorgetragenen kommen „alte“ Typologisierungskriterien wieder zu ihrem Recht. Die wichtigsten sind (nach O. Reichmann 1884b): a) auf den Wortschatz der Gegenwartssprache bezogen (= gegenwartsbezogen) b) auf den Wortschatz eines oder mehrerer geschichtlicher Sprachstadien bezogen (= geschichtsbezogen) c) den Wortschatz einer Zeit unter dem Aspekt seines synchronen Funktionierens behandelnd (= synchron) d) einen Wortschatz unter dem Aspekt seiner geschichtliche Entwicklung behandelnd (= diachron) e) alphabetisch angeordnet (= alphabetisch) f) nach nicht alphabetischen, besonders begrifflichen Ordnungskriterien angelegt (= nicht alphabetisch) g) nach Nennung des Wortes in der Lemmaposition semasiologisch auf dessen Inhaltsseite bezogen (= semasiologisch) h) von einem ‚Begriff‘ oder Synonym5 ausgehend auf onomasiologische Vernetzungen bezogen (= onomasiologisch) i) auf phonemische und graphemische Varianten des Lemmazeichens bezogen (= variantenbezogen) j) auf die Flexion des Lemmazeichens bezogen (= flexionsbezogen) k) auf die Syntax des Lemmazeichens bezogen (= syntaxbezogen) l) auf die Bildung des Lemmazeichens bezogen (= wortbildungsbezogen) m) auf die Etymologie des Lemmazeichens bezogen (= etymologisch) n–q) dominant auf eine der in Weiterentwicklung K. Bühlers (1934) anzusetzenden Funktionen der Sprache (Darstellungs-, Erkenntnis-, Kommunikations-, Symptomfunktion) bezogen (= funktionsbezogen); im einzelnen: n) auf die Gegenstandsklasse (im weitesten Sinne) bezogen, auf die bzw. über die Sprecher(gruppen) mittels lexikalischer Einheiten referieren bzw. prädizieren (= darstellungsbezogen) o) auf die kognitive, d. h. weltbildkonstituierende bzw. welt‚abbildende‘ Leistung von Lemmazeichen bezogen (kognitionsbezogen) p) auf die kommunikative Leistung lexikalischer Zeichen bezogen (= kommunikationsbezogen)
5 Die Verbindung von Begriff und Synonym ergibt sich daraus, dass die als Begriff bezeichnete Einheit bei genauem Hinsicht eine lexikalische Fassung des ‚Begriffes‘, damit eine Konstituente eines lexikalischen Ausdrucks ist.
2. Vorschlag einer Typologie
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q) auf die zeitliche, räumliche, sozialschichtige, sozialgruppen-, textsortenspezifische usw. Dimension des Gebrauchs lexikalischer Zeichen bezogen (= symptomwertbezogen) r–x) auf die Existenzformen von Sprache bezogen, und zwar so, daß r) einen maximalen, x) einen minimalen Gegenstandsbereich umfasst, im einzelnen: r) auf ein lexikalisches Gesamtsystem bezogen (= gesamtsystembezogen) s) auf einen dialektalen Wortschatz bezogen (= dialektbezogen) t) auf einen soziolektalen (im sozialschichtigen Sinne) Wortschatz bezogen (= soziolektbezogen) u) auf einen gruppenspezifischen Wortschatz (Fach- oder Sonderwortschatz) bezogen (= gruppenbezogen; spezifisch: fachwortschatzbezogen, sonderwortschatzbezogen) v) auf den Wortschatz einer Textsorte bezogen (= textsortenbezogen) w) auf einen Idiolekt bezogen (= idiolektbezogen) x) auf einen Einzeltext bezogen (= einzeltextbezogen) y) auf einzelne Vorkommensstellen des Lemmazeichens im Quellentext bezogen (= belegbezogen) z) dominant oder ausschließlich auf einen bestimmten Teilbereich des Wortschatzes bezogen (= teilbereichsbezogen), im einzelnen: auf den Erbwortschatz bezogen (= erbwortbezogen), auf den Fremdwortschatz bezogen (= fremdwortbezogen), auf die Idiomatik bezogen (= idiomatikbezogen), auf eine Wortart, wie das Substantiv, das Verb, das Adjektiv, die Funktionswörter bezogen (= wortartbezogen, im einzelnen: substantivbezogen usw.) a‘) dominant oder ausschließlich auf einen inhaltlich als besonders relevant erachteten Teil des Wortschatzes, z. B. auf die Terminologie eines Philosophen, den Zentralwortschatz eines Dichters usw., bezogen (= ausschnittbezogen, z. B. terminologiebezogen usw.) b‘) explizit auf bestimmte Fragen von Wörterbuchbenutzern bezogen (= benutzerbezogen). 2. Die vorgetragenen Kriterien sind unterschiedlich motiviert. Teils betreffen sie, wie c) und d), den Blickwinkel des Lexikographen, teils, wie e) und f), die Anordnung der Lemmata, teils sehr speziell, wie b‘), den Benutzerbezug; zum größten Teil beziehen sie sich auf den Gegenstand bzw. auf bestimmte Gegenstandsfacetten. Diese letzteren Kriterien, aber auch die möglichen Blickwinkel, weisen auf die Prioritäten des Lexikographen: So ist von einem Lexikographen, der ein semasiologisches Wörterbuch schreibt, anzunehmen, dass er die Wortbedeutung und ihre Gliederung als relevant für seine Kulturidee ansieht. Der Autor eines Belegwörterbuches wird seinen Rezipienten Information darüber vermitteln wollen, wie eine lexikalische Einheit regelhaft in Belegen oder in einem bestimmten Beleg gebraucht
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B. Zur Typologie historischer Wörterbücher
wird, und dies als Voraussetzung für ein adäquates Textverständnis ansehen. 3. Die Kriterien sind im allgemeinen miteinander kombinierbar. Einschränkungen gibt es lediglich bei sich logisch widersprechenden Anordnungskriterien (‚alphabetisch‘ versus ‚nicht ‚alphabetisch‘) sowie hinsichtlich der Verbindung von ‚gegenwartsbezogen‘ mit ‚synchron‘ (dies nur für historische Wörterbücher). Eine Reihe von Kombinationen ist praktisch wenig wahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen; es geht dann um Dosierungen. So wird ein reines Languewörterbuch z. B. auf eine erschöpfende Darbietung überlieferter Schreibungen verzichten, die Syntagmen auf ihre Muster zurückschneiden und den Belegteil zumindest nicht ausufern lassen. Umgekehrt wird ein belegbezogenes Wörterbuch die Systembezüge, in denen eine Einheit steht, reduziert behandeln. Die Konzentration auf eine einzelne Gegenstandsfacette und die Beschränkung auf das typenbildende Kriterium können im Extremfall zu reinen Listen (Indices) führen, deren Information dann darin besteht, dass es eine bestimmte Einheit gibt. Kleinere Wörterbücher tendieren zum Glossar in dem Sinne, dass eine Einheit wie das frnhd. Adverb urbering mittels des beschreibungssprachlichen plötzlich erläutert wird (so A. Götze), was für kognitiv schlichte praktische Zwecke durchaus hilfreich sein mag. Umgekehrt heißt dies aber doch, dass historische Wörterbücher, die differenziertere Zwecke (vgl. Teil A, Kap. 4. 3) erfüllen, nicht „typenrein“ sind, sondern einer Kombination von Typenkriterien unterliegen, die sinnvollerweise gewichtet, also nicht kumuliert sein sollten. Am häufigsten und umfänglichsten begegnet und besonders wertvoll ist die Verbindung von semasiologischer Beschreibung und Belegdarbietung. 4. In der Praxis lassen sich die hier zur Beschreibung anstehenden historischen Wörterbücher typologisch wie folgt kennzeichnen:
2. Vorschlag einer Typologie
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B. Zur Typologie historischer Wörterbücher
Abb. 3: Typologische Klassifizierung relevanter historischer Wörterbücher
Zur Erläuterung: Die Eintragungen beziehen sich auf das jeweilige Gesamtwerk, nicht auf einzelne Strecken. Sie sind in der Regel relativ zu verstehen (im Sinne von: eher das eine als das andere); x bedeutet: ‚im allgemeinen zutreffend‘ (was aber Ausnahmen nicht ausschließt); (x) meint ‚partiell zutreffend‘; die Leerstelle zeigt an, dass das Kriterium nicht erfüllt ist. – Die Übersicht zeigt typische Gewichtungen, Kombinationen und Lücken. Sie ist damit auch als erster Hinweis auf die Informationsstruktur der berücksichtigten Werke sowie auffallende Auslassungen zu verstehen.
C. Zum Corpus historischer Wörterbücher und zur Corpusexzerption 1. Zum Corpus 1. Ist die Typologiefrage gelöst, so stellt sich die Corpusfrage.1 Ihre Beantwortung ist sowohl von objektiven wie von institutionell, damit von arbeitsorganisatorisch bestimmten Kriterien abhängig. 1. 1. Zu ersteren, hier als ‚objektiv‘ zusammengefassten Kriterien der Corpusfrage gehören (in Stichworten und ohne weitere Differenzierungen): – der Umfang der Überlieferung: Einige hundert Seiten für Texte des Ahd. (R. Schützeichel, Ahd. Wb.) sind etwas anderes als Zehntausende von Seiten mit mhd. Texten (jeweils nach heutigen Buchumfängen gerechnet), und diese sind wieder etwas anderes als eine ganze Bibliothek voller Bücher (wie seit dem 16. Jahrhundert). Eine entsprechende Quantitätsamplitude besteht für das Englische und Niederländische, – die Art der Überlieferung: Zu unterscheiden sind mediale Aspekte, vor allem Handschrift und Druck, – die Art der Texte: Unter qualitativen Gesichtspunkten gibt es z. B. Glossen und ausformulierte Texte, aber auch gewisse Überlieferungsverdichtungen für bestimmte Landschaften (etwa diejenige für das ‚Vlaams‘ des frühen Mnl.; vgl. VMNW, Bd. 1, S. XXIII – XXV), für bestimmte Textformen oder Sinnwelten, etwa diejenige der Religion, des Rechtes usw. – die Existenzform der Sprache, Varietät oder Textgruppe, die zu behandeln ist: Eine Sprache mit herausgehobenem literatursprachlichem Funktiolekt (wie das Mhd.) ist etwas anderes als eine Sprache ohne Leitvariante, diese etwas anderes als eine Sprache mit Leitvariante (alle mit neu- determinierten Sprachstufen),
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Das vorliegende Kapitel beruht zu erheblichen Teilen auf O. Reichmann 1990f. Für Detailfragen und Literatur sei ausdrücklich auf diesen Artikel verwiesen. – Zu einigen Corpusproblemen in der gegenwartsbezogenen Lexikographie s. Lexicographica 20, 2004.
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C. Zum Corpus historischer Wörterbücher und zur Corpusexzerption
der Status und mit ihm der Umfang des Gegenstandes: Eine einzige Sprachvarietät, etwa das Altkölnische (vgl. A. Wrede), ist sicher etwas anderes als z. B. das Schweizerdeutsche, eine einzige Sprachstufe (etwa Mhd.), eine „ganze“ Sprache (wie Deutsch oder Englisch), eine als gemeinsam verstandene Fachvariante (etwa die Rechtssprache, DRW) einer Gruppe von Verständigungsmitteln, die man heute als Sprachen sieht. 1. 2. Institutionell bestimmte Kriterien sind (wiederum in Stichworten): – der gewünschte Wörterbuchtyp: Nach dem dominanten Typologiekriterium ist z. B. ein historisches Textwörterbuch (und seine Subtypen, darunter das Autorenwörterbuch oder das Belegwörterbuch) von einem Sprachstadienwörterbuch (z. B. dem Ahd. Wb.; dem Mnl. Wb.; dem MED), einem Bedeutungswörterbuch (z. B. dem FWB), einem Wörterbuch zu syntaktischen Konstruktionen (A. Greule 1999), einem etymologischen Wörterbuch, einem historischen Fremdwörterbuch wie dem DFWB zu unterscheiden, – der vorgesehene Umfang des Wörterbuches: Ein Einbänder (etwa Lexer, Twb.), ein Dreibänder (etwa BMZ) und ein Zehnbänder (etwa das Mnl. Wb.) setzen ein je eigens zusammengestelltes Corpus voraus, – die Arbeitsbedingungen: Es gibt z. B. Arbeitsstellen, die auf fünf Jahre begrenzt sind, und solche, die über eine langfristige finanzielle Absicherung verfügen. Solche Unterschiede wirken sich direkt auf die Bildung und Bearbeitung des Corpus aus, – die kulturpolitische und -pädagogische Zielsetzung: Der Stellenwert des Wörterbuches in der Sprachgesellschaft, die Intentionen der Trägerinstanz bestimmen Art und Umfang des Corpus, – die vorgesehene Publikationsform: Nebeneinander stehen die digitale und / oder konventionelle Veröffentlichung, – die Perspektive auf den Gegenstand: Synchronie und Diachronie sind zumindest teilweise corpusrelevant. 1. 3. Verbindet man die objektiven mit den institutionell bestimmten Kriterien, so schließen sich einige Corpuskombinationen aus (z. B. gedruckte Texte des Ahd.); andere erscheinen als nicht besonders ergiebig (z. B. anleitende Texte des Mhd.) oder von vorneherein als nicht realisierbar (z. B. ein von wohlmeinenden Dilettanten gefordertes frnhd. Wörterbuch, das aus den Handschriften und Originaldrucken zu erarbeiten sei). Das Folgende bezieht sich deshalb auf die bekanntesten Wörterbuchtypen, nämlich (kürzer) auf das historische Textwörterbuch und (ausführlicher) auf das mehrbändige, vergangenheitsbezogene, synchrone Bedeutungswörterbuch einschließlich seiner Untertypen, erst recht auf das diachron orientierte gesamtsystembe-
1. Zum Corpus
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zogene Wörterbuch zur Gegenwartssprache.2 Diese Einschränkung erfolgt auch deshalb, weil sich die Corpusfrage hier am schärfsten stellt oder umgekehrt gesagt, weil sie sich für all diejenigen Unternehmen nicht oder nur beiläufig stellt, die mit mehr oder weniger guten Gründen auf die Lemmaliste und die Belege vorhandener Wörterbücher zurückgreifen können. Dies Letztere gilt etwa für etymologische Wörterbücher, für onomasiologische Wörterbücher (z. B. das LsG), für Wortfamilienwörterbücher zu Corpus- (J. Splett 1993) wie zu Informantensprachen (Splett 2009; Augst 1998) sowie für alle kleineren, speziell für einführende pädagogische Zwecke gedachten Wörterbücher (A. Götze). Die Erarbeitung dieser Typen aus einem eigenen Corpus lohnt sich in dem Maße weniger, in dem Mehrbänder hoher Qualität oder hochwertige Einbänder vorliegen.3 2. Unter arbeitsorganisatorischem Aspekt sind Primärcorpora und Sekundärcorpora zu unterscheiden. Erstere bestehen aus zeitgenössischen (z. B. ahd., mnl., mengl., mnd. usw.) Texten, letztere aus wissenschaftlichen Darstellungen einer späteren Zeit, die ältere Textteile, in der Regel Sätze oder Satzausschnitte, zu einem bestimmten, je eigenen Darstellungszweck erhoben haben und zu diesem Zweck zitieren. De facto sind das teils historische Grammatiken,4 meist aber Wörterbücher der unterschiedlichsten Art: Für das 18. Jahrhundert wären etwa Haltaus 1758 oder Scherzius 1781 zu nennen, für das 19. und 20. Jahrhundert alle gesamtsprachbezogenen (so das DWB, WNT, OED) und alle auf großlandschaftliche Raumvarianten zielenden Werke (Preuß. Wb. / Z.; Schwäb. Wb.; BWB; WBÖ) sowie (national-)dialektal motivierte Unternehmen (von allem das Schweiz. Id.). Sie alle basieren auf primären Corpora, werden aber dadurch zu sekundären Hilfsmitteln, dass man ihre Information, vor allem ihre Quellenzitate usw. nach der in der Lexikographie üblichen Abschreibetradition in jeweils neuere Werke übernimmt. Die Texte der Primärcorpora sind aus arbeitstechnischen Gründen großenteils editionsphilologisch irgendwie (oder auch gar nicht) bearbeitete Drucke der Texte originaler Handschriften oder Drucke bzw. Originaldrucke.
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Eine ausführlichere Auflistung von Wörterbuchtypen, für die sich die Corpusfrage stellt, sowie weitere Differenzierungen finden sich bei O. Reichmann 1990f, S. 1589. Eine eigene Corpusproblematik haben die großen nationalen Gesamtwörterbücher, da sie in nuce dazu tendieren, das gesamte Varietätenspektrum einschließlich ihres historischen Sockels zu ihrem Gegenstand zu rechnen. So folgte z. B. Lexer, Twb. dem (großen) Lexer, J. Splett (1993) und das Et. Wb. Ahd. 1988ff. den vorhandenen Werken zum Ahd.; Augst 1998 dem HdG 1984; Splett 2009 dem Duden, Gr. Wb. in der Aufl. 1992 – 1995; vgl. jeweils die Vorworte. Zu denken ist insbesondere an die Reihe Sammlung historischer Grammatiken germanischer Dialekte.
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C. Zum Corpus historischer Wörterbücher und zur Corpusexzerption
2. 1. Der höhere Wert des Primärcorpus gegenüber dem Sekundärcorpus ist offensichtlich und steht weder theoretisch noch methodisch in Frage: Abgesehen von den in Abs. 1. 3 genannten Ausnahmen werden historische Wörterbücher, sofern sie jedenfalls wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werden wollen, aus einem Primärcorpus erarbeitet. Dann stellt sich die Frage, welchen Stellenwert das Sekundärcorpus in diesem Prozess haben kann. Die Antwort ergibt sich aus Folgendem: Da sekundäre Quellen meist Zitate, somit schwer kontrollierbare zweckbestimmte Ausschnitte, bieten, ist ihre Verlässlichkeit schon aufgrund der Normierungspraxis vieler historischen Wissenschaften für einen anderen, auch für einen neuen lexikographischen Zweck unter graphischen, morphologischen, syntaktischen Aspekten durchgehend fraglich. Vor allem kann ihr äußerer und innerer Schnitt den lexikographisch relevanten Inhalt verfälschen. Dies alles würde auf eine höchstens periphere Beachtung sekundärer Quellen hinauslaufen. Umgekehrt ist aber zu sagen, dass die historische Lexikographie der hier berücksichtigten Sprachen die überlieferten Texte so umfänglich, so systematisch und so zuverlässig aufbereitet hat, dass in den meisten Fällen kein berechtigter Zweifel an ihrer Ergiebigkeit und ihrer lexikographischen Brauchbarkeit möglich ist. Ich würde jedenfalls nicht auf den Gedanken kommen, ein Zitat des Schweiz. Id., des Ahd. Wb., des VMNW oder der neueren Bände des DRW einer eigenen Prüfung zu unterziehen. Dementsprechend können auch in Wörterbüchern, die auf einem Primärcorpus beruhen, immer mal wieder auch Daten aus einem Sekundärcorpus geboten werden (so im DRW, im Mhd. Wb. und sehr vereinzelt im FWB). Kein bearbeitbares Corpus ist quantitativ und qualitativ so angelegt, dass nicht ein anderes, für Spezialzwecke zusammengestelltes Corpus in Einzelfällen zusätzliches sowie zuverlässiges Material liefern könnte. Hinzu kommt der zweifellos hohe Kontroll- oder Vergewisserungswert des Sekundärcorpus. Es ist einfach beruhigend zu erkennen, dass eine nur mit Selbstzweifeln dargebotene Information eine Parallele etwa bei einem der lexikographischen Giganten der Vergangenheit (z. B. bei M. Lexer oder H. Fischer: Schwäb. Wb.) hat. – Diese Sätze besagen noch nicht, wie das Sekundärcorpus in die eigene Arbeit einbezogen wird (dazu das folgende Kap. 2). 2. 2. Das Primärcorpus des historischen Textwörterbuches ist pro Subtyp unterschiedlich zu bestimmen: Für autoren- und für einzeltextbezogene Wörterbücher wird man dazu tendieren, das gesamte Autorwerk bzw. den gesamten Einzeltext, und zwar in der jeweils zuverlässigsten historisch-kritischen Ausgabe, als Corpus anzusetzen. Dies gilt insbesondere für alle Indices verborum, auch für reine Zitatenwörterbücher5 des Typs Dannhauer 5
Literaturzugang speziell zu dieser Art der Lexikographie über Lexicographica 10, 1994.
1. Zum Corpus
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[u. a.] 1983 zu F. Hölderlin. Falls der Umfang der so zustande kommenden Textmenge die gegebenen Arbeitsmöglichkeiten übersteigt, sind Einschränkungen vorzunehmen, die sich vor allem vom Bildungsziel des Unternehmens herleiten lassen. Für Wörterbücher zu einer bestimmten Texttradition (denkbar z. B. zu geistlichen Spielen des Mittelalters, zum idealistischen Drama) oder zu einer sonstwie angesetzten Textgruppe (z. B. zur Artusepik des Mittelalters, zur deutschen Klassik) wird man ebenfalls Vollständigkeit anstreben (Artusepik) oder aber eine Auswahl zu treffen haben, die sehr unterschiedlich begründet sein kann. Die in diesem Zusammenhang zu lösenden Probleme sind insgesamt aber durchschnittlich weniger schwerwiegend als diejenigen, die sich für Werke der langue- und speziell der varietätenbezogenen Lexikographie stellen. 3. Für diese letztere Wörterbuchgruppe gilt bei allen Gestaltungsmöglichkeiten, die sich aus dem oben (unter Abs. 1. 1 und 1. 2) aufgeführten Ensemble objektiver und institutioneller Kriterien ergeben, hauptgewichtig das Kriterium der angemessenen Berücksichtigung der sog. Existenzform der zu behandelnden Sprache: Wenn zum Beispiel die Geschichte einer Sprache, wie des Deutschen, Niederländischen, Englischen, irgendwann, sagen wir mal: im Laufe des 16. Jahrhunderts, einen über normale Detailentwicklungen hinausgehenden Umbruch durchlaufen hat und seit dieser Zeit über eine anerkannte Leitvariante verfügt, dann wird ein Wörterbuch, das über die Zeit nach dieser Wende geschrieben wird, denjenigen Texten eine besondere Berücksichtigung zuteil werden lassen müssen, die der Leitvariante zugerechnet werden. Das schließt nicht aus, dass ein gesamtsprachbezogenes, also auch z. B. dialektale Texte voll in das Corpus einbeziehendes Wörterbuch unter rein akademischen Gesichtspunkten ein gewisses, aber eben rein fachgeschichtliches Interesse finden könnte. Für die Zeit vor dem Umbruch gilt umgekehrt: Solange die Leitvariante fehlt, sind alle Einzelvarietäten als horizontal nebeneinander stehende und deshalb als im Kern gleichwertige Teilsysteme eines größeren Ganzen, das man als Gesamtsprache bezeichnet, zu behandeln. Wenn man dies akzeptiert, dann ist für ein historisches Sprachstadienwörterbuch ein Corpus zusammenzustellen, das die innere Heterogenität, seine Untergliederungen, ausgewogen berücksichtigt und das sich jeder Gewichtung z. B. zugunsten besonderer Beachtung von Fachtexten, Texten der Sinnwelt ‚Religion‘ oder literarischen Texten zu enthalten hat. 3. 1. Die soeben erwähnten Untergliederungen einer Sprache sind nun dingfest zu machen. Dies kann infolge des Spektrumscharakters der Textwelten einer Zeit nur durch Setzungen erfolgen. Als übliche Ausdrücke etwa für das Frnhd. kursieren u. a. Dialekt, Geschäftssprache, Druckersprache,
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C. Zum Corpus historischer Wörterbücher und zur Corpusexzerption
Historiolekt, Soziolekt, Fachsprache, Sondersprache, Literaturidiom, Idiolekt, jeweils Bezeichnungen, die auch für das Mhd. und Mnd. sowie für die mittleren Sprachstufen des Niederländischen und Englischen eine gewisse Gültigkeit haben. Die so bezeichneten Varietäten werden wissenschaftlich handhabbar, wenn man sie einer Reihe von Gebrauchsdimensionen unterwirft, am sinnvollsten der Zeit, dem Raum, der sozialen Schicht und Gruppe. Ein Corpus, das sich als ausgewogen6 versteht, müsste demnach Texte zu diesen Dimensionen aufweisen, also: – zu den verschiedenen Teilzeiten einer Epoche, etwa zum frühen, hohen, späten Mhd. oder Mnl., – zu jedem der Teilräume einer Epoche, also z. B. zur wobd., oobd., nobd., wmd., omd. und norddt. Raumdimension des Frnhd. (bzw. auch zu deren jeweiligen Unterräumen7), – zu den Schichten und Gruppen einer Zeit, wie sie am ehesten über ihre Textsorten greifbar werden. 3. 2. Für alle historischen Sprachstufen des Deutschen, Niederländischen, Englischen liegen Zeit- und Raumeinteilungen vor, auf die man nur zuzugreifen braucht. – Auch für die sog. Textsorten (oder ähnliche Gruppierungen), denen die einzelnen Quellen zugeordnet werden können, gibt es Gliederungen. Das VMNW übernimmt die Einteilung des Corpus Gysseling in 1) lexikographisches Material, 2) amtliche Texte, 3) den Rest der Überlieferung. Als handhabbar für das Frnhd. hat sich folgende, an die Bände der Bonner Grammatik des Frühneuhochdeutschen angelehnte, für das FWB adaptierte Gliederung von Textsortengruppen erwiesen. Diese lautet: – rechts- und wirtschaftsgeschichtliche Texte, – chronikalische und berichtende Texte, – unterhaltende und literarische Texte, – didaktische Texte, – kirchliche und theologische Texte,
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Der Terminus repräsentativ wird hier bewusst vermieden, da er eine Exaktwissenschaftlichkeit suggeriert, die er nicht erfüllen kann. B. T. S. Atkins / M. Rundell (2008, S. 66) fordern aus dem gleichen Grunde ein ‚balanced‘ Corpus. Im Kern hat bereits J. L. Frisch in seinem Tt.-Lat. Wb. (1741) diesen Ausgewogenheitsbegriff gehandhabt: zeitlicher Schwerpunkt im 15. bis 17. Jahrhundert; alle Landschaften; breites Spektrum von Textsorten (s. dazu auch G. Powitz 1977, S. XIIf.). Dazu vgl. man für das Frnhd. die Grammatik des Frühneuhochdeutschen, und zwar die Einzelbände, jeweils unter dem einleitenden Titel Quellenverzeichnis. – Dass die Raumdimension für die Alt- und Mittelstufen des Dt., Nl. und Engl. ein besonderes Gewicht haben, zeigt sich rein äußerlich bereits darin, dass verschiedene Wörterbücher bzw. Wörterbuchpläne in ihren Rahmentexten Sprachkarten bringen: z. B. FWB, Bd. 1, S. 119; VMNW, Bd. 1, S. XVI; MED (s. H. Kurath 1954, S. 8f.).
1. Zum Corpus
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– erbauliche Texte, – Realientexte, – zeitgenössische Wörterbücher. Für die Alt-Stufen des Deutschen, Niederländischen und Englischen wären, falls sich ein Bedarfsfall ergäbe, schon aus Überlieferungsgründen, aber auch aus Gründen der Historizität von Textsorten, je eigene Gliederungen zu entwerfen. 3. 3. Kombiniert man die Gebrauchsdimensionen ‚Zeit‘, ‚Raum‘, ‚Schicht / Gruppe / Textsorte‘, so ergibt sich (am Beispiel des Frnhd.) ein Raster folgenden Aussehens: x Texte des Wobd. (Raum) aus dem älteren Frnhd. (Zeit) und mit der Zugehörigkeit zur Gruppe der Rechts- und Wirtschaftstexte; y Texte des Wobd. (usw. für jeden anderen Raumausschnitt, Zeitabschnitt und jede andere Textsorte). Je nach Art und Absicherung des Unternehmens sind beliebige Feingliederungen möglich, etwa: x Texte des Elsässischen (eines Teiles des Wobd.), aus dem zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts (einem älteren Abschnitt des Frnhd.), aus der Textsorte der Weistümer (einer speziellen Textsorte der Rechts- und Wirtschaftstexte). Aufgrund der Überlieferungslage wird sich die Füllung eines solchen Rasters speziell für die mit alt- und mittel- bezeichneten Sprachstufen als nur partiell realisierbar erweisen. 3. 4. Raster der vorgeführten Art ermöglichen sowohl eine beliebig feine wie eine ausgewogene Berücksichtigung des gesamten Varietätenspektrums einer Sprachstufe. Dies gilt erst recht dann, wenn man jede Zeitund Raum- oder sonstige Gliederungseinheit mit einem je unterschiedlichen Gewichtungsfaktor versieht. Mit anderen Worten: Jedes Rasterkriterium ist der Größenordnung nach zu dosieren. Der Wert des Faktors ergibt sich aus einer ganzen Reihe von Gesichtspunkten, darunter aus dem Umfang des vorgenommenen Raumausschnittes (z. B. des Nobd.), der angesetzten Dauer einer Zeit (z. B. des mittleren Frnhd.), der Überlieferungsdichte des Raumes und der Zeit, der zeitgeschichtlichen Rolle einer angesetzten Textsortengruppe, ferner von den kulturpädagogischen Gewichtungen des Lexikographen und vielem Anderen her. Physikalistische Größen wie ‚Raumumfang‘ und ‚Zeitdauer‘ sind also durch kulturgeschichtliche und lexikographiepragmatische Faktoren zu modifizieren. So wird man den relativ kleinen nobd. Raum des Frnhd. mit einem geringeren Faktor versehen als den größeren wobd. Raum. Zusätzlich wird man letzterem eine besondere Überlieferungs- und Aufarbeitungsdichte im Vergleich z. B. zum Omd. zuschreiben. Für das Mhd. wird die Minnelyrik wegen ihrer literaturgeschichtlichen Bedeutung trotz des geringen Umfangs der Textmasse einen relativ hohen, tendentiell die vollständige Erfassung der Überlieferung sichernden Faktor
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beanspruchen dürfen. Man erkennt an diesen Beispielen, dass der Lexikograph einen erheblichen Gestaltungsspielraum, speziell unter institutionellen Gesichtspunkten, hat. 3. 5. Umso notwendiger ist es, dass er diesen offenlegt. Und hier beginnt ein Klagelied: Die großen historischen Wörterbücher der älteren Sprachstufen des Deutschen, Niederländischen (ausgenommen das VMNW) und Englischen, ferner alle Mundartwörterbücher mit historischer Komponente und die großen nationalen Werke enthalten keine oder nicht hinreichende Überlegungen zur Corpuszusammenstellung und -ausgewogenheit, kaum Aufschlüsselungen, aus denen die Kriterien der Quellenverteilung usw. hervorgehen; sie beschränken sich in ihren einleitenden Begleittexten oder auch in eigenen Begleitbänden auf eine alphabetische Auflistung.8 Die Quellenverzeichnisse mögen unter bibliographischen Aspekten mehr oder weniger gelungen, zum Teil ausgezeichnet sein; den Wörterbuchbenutzer interessierende Angaben zum Entstehungsraum und zur Entstehungszeit der Quelle sind aber oft unzureichend aus den bibliographischen Angaben erkennbar; ein Hinweis auf die Textsorte fehlt systematisch. Falls die Wörterbuchartikel keine Position für Symptomwertangaben haben, geht die Suche nach pragmatischer Information (vgl. Teil A, Kap. 4. 3, dort Abs. 1, 3), die dem Rezipienten als Benutzungsanliegen zugeschrieben wurde und die über die Belegstellenangaben der Zitate und das folgende Nachschlagen im Quellenverzeichnis immerhin, wenn auch nur zeitaufwendig, möglich wäre, ins Leere. Die bloße Angabe (Quellensigle; Verfasser / Herausgeber, Quellentitel, Reihe o. ä., Ort und Jahr der Ausgabe, selbst bei Drucken aber nicht immer Ort und Jahr der Publikation) beraubt den Nichtfachmann der pragmalinguistischen Orientierungsmöglichkeit, es sei denn, er stehe vom Schreibtisch auf, gehe in die Bibliothek, lese die Einleitung zur Ausgabe der Quelle und finde, was er sucht. – Eine gewisse Ausnahme unter diesen Aspekten bildet das FWB, indem es erstens jede Quelle einer Zeit, einem Raum und einer Textsortengruppe zuordnet und zweitens einen quantitativen Verteilungsraster im obigen Sinne vorlegt (s. Bd. 1, S. 52 – 56). 4. Die Corpusproblematik steigert sich noch durch folgende Unterscheidungen: (1) Von allem, was in einer historischen Zeit geschrieben wurde (vom Gesprochenen ganz zu schweigen), ist nur ein bestimmter Teil erhalten. Die-
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Man vgl. zum DWB das erst 1971 als Band 33 vorgelegte Quellenverzeichnis, zum Schweiz. Id. etwa die „dritte, nachgeführte und ergänzte Auflage des Quellen- und Abkürzungsverzeichnis[ses]“ vom Jahre 1980, für das Mnl. Wb. in Band 10 die Tekstcritiek von J. Verdam und die sog. Bouwstoffen von W. de Vreese.
1. Zum Corpus
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ser Teil ist für ältere Sprachstufen relativ klein, für jüngere absolut viel größer, relativ aber kaum bestimmbar. Der Umfang des Erhaltenen kann dadurch bedingt sein, dass (wie besonders in ahd., and., aengl. Zeit) wenig geschrieben wurde oder dass das Geschriebene proportional zur Dauer der Zeit materialbedingten Zerfallsprozessen oder irgendwelchen geschichtlichen Zerstörungen unterlag. Aussagen der Art, dass vom ahd. Schrifttum nur x Prozent, vom mhd. oder mnd. Schrifttum dagegen x + 2, 5 oder 7 Prozent erhalten seien, begegnen zwar, sind aber mit Vorsicht zu behandeln, da nicht bekannt ist, wie viel man in ahd. Zeit nun genau geschrieben hat. Unter relativen Aspekten spricht man im Falle einer kleinen Überlieferungsmenge von einem Kleincorpus, analog dazu von einer Kleincorpusvarietät oder Kleincorpussprache, im umgekehrten Falle von einem Großcorpus (usw.). (2) Das Erhaltene kann in Archiven versteckt und im Ernstfall nicht einmal bekannt sein. Falls es bekannt ist, was man vor allem für die Kleincorpora zu den älteren Sprachstufen aufgrund des nationalen und patriotischen Interesses, das man ihnen entgegenbringt, annehmen kann, so kann es philologisch unzureichend und es kann (wie speziell für ältere Kleincorpora zu erwarten) philologisch ausgezeichnet aufbereitet und dann in der Regel verfügbar sein. – Beispiele für die Kriterien ‚erhalten‘, ‚bekannt‘ und ‚verfügbar‘ finden sich bei O. Reichmann 1990f, S. 1593f. (3) Aus dem unter (1) und (2) Gesagten ergibt sich: Die Texte von Kleincorpussprachen werden mit der Tendenz zur Vollständigkeit in das Corpus eines einschlägigen Wörterbuches aufzunehmen sein. Dies gilt (zumindest theoretisch) ohne Wenn und Aber für die Thesauri. Mit dem Blick auf das VMNW sagt W. J. J. Pijnenburg (1980, S. 149) explizit, dass „all texts“ der Zeit vor 1300 in das Corpus aufgenommen seien. Diese Ankündigung wurde realisiert. Für Großcorpussprachen scheitert der Vollständigkeitsanspruch bereits im Vorfeld, und zwar ebenso an der Quantität der Überlieferung wie an den üblichen Arbeitsmöglichkeiten und -bedingungen. Deshalb werden die philologisch gut aufbereiteten Texte mit erhöhter Wahrscheinlichkeit bei der Corpusbildung berücksichtigt werden. Dies gilt auch unter dem Aspekt, dass diese Texte die Schwerpunkte des Interessespektrums, das man der Überlieferung der eigenen Sprache entgegenbringt, bilden. Ihre Aufnahme in ein Corpus verstärkt diese Interessen und trägt zu den Konturen des jeweiligen patriotischen, nationalen oder bildungsbürgerlichen Kanons bei. 5. Ein besonders quälendes Problem der Corpusbildung – verschärft natürlich mit Bezug auf Großcorpussprachen – ist sein Umfang. Ganz abgesehen davon, dass dieser von sehr vielen Gegebenheiten abhängig ist, die
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C. Zum Corpus historischer Wörterbücher und zur Corpusexzerption
hier nicht behandelt werden können, gibt es doch auch folgenden allgemeinen Gesichtspunkt: Darstellungen von Corpora haben kaum einmal einen selbstkritischen, dagegen oft einen die eigene Quellengrundlage in ein helles Licht rückenden und damit rechtfertigenden Unterton. Dabei gilt vor allem das Quantitätsargument: Je mehr Corpus man hat, als desto überzeugender wird es dargestellt. So führt man regelmäßig an, dass das beschriebene Corpus dank der aufopfernden Mitarbeit zahlreicher Beiträger über anfänglich einige Zig-, dann Hunderttausende und schließlich über x Millionen Wortvorkommen (tokens) aus einer hohen, auf jeden Fall Bewunderung heischenden Menge von Texten9 besteht, dass diese x Millionen Wortvorkommen zu y tausend (also weniger) Wortformen und diese wiederum zu z tausend, einer nochmals kleineren, aber dennoch beeindruckenden Anzahl von Lemmazeichen (types) führen.10 Die Werte für die Anzahl der Texte können in konventioneller Lexikographie bei maximal 20 000 liegen (OED; DWB), die Anzahl der Exzerpte für die großen Unternehmen die Fünf-Millionen-Grenze übersteigen (so das OED, ältere Angabe); das WNT kommt laut P. G. J. van Sterkenburg (1987, S. 142) für die Strecke u bis z auf 1, 3 Millionen, die Neubearbeitung des DWB laut J. Dückert und M. Schlaefer (jeweils 1987) für die Strecke von a bis f auf 5, 5 Millionen Exzerpte. Für ein Sprachstadienwörterbuch mit einem zugrundeliegenden Großcorpus scheint sich eine Größenordnung von 2 bis 3 Millionen Exzerpten aus rund 2000 bis 4000 Texten als Norm eingespielt zu haben (A. J. Aitken 1971, S. 9; R. Bailey 1980, S. 302; MED 1, S. IX). Dies schließt Abweichungen nach oben und unten nicht aus: Das DRW verfügt über 8000, das FWB über knapp 1000 Quellentexte und eine Exzerptzahl von etwa 1, 5 Millionen, das Mhd. Wb. über etwa 700 (nach einem eigenen Überschlag über das Verzeichnis der Primärquellen) bibliographisch erfasste Quellenpublikationen.11 Was Text oder Quelle in diesem Zusammenhang heißt, ist so unterschiedlich, dass eigentlich keine Vergleichbarkeit besteht. Es kann eine zehnbändige Textsammlung, ein Buch von 1000 oder 150 Seiten oder ein Kurztext von 10 Seiten gemeint sein. Auch der Exzerptbegriff wird in der
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Die Quellenverzeichnisse laufen oft über Dutzende oder gar Hunderte von Seiten bzw. erreichen Bandstärke; oft erfahren sie mehrere Ergänzungen. Das Analogon der (auch) historischen Mundartlexikographie liest sich ebenfalls wie eine Erfolgsgeschichte: anfangs einige tausend Karteizettel, dann mehrere Zehnoder Hunderttausende, schließlich bis zu 1 Million oder mehr. Arbeitstellenintern spricht man von rund 1300 Quellen. – Eine weitere Zahl lautet: Das Mnl. Wb. basiert auf „ongeveer 1500 gebruikte bronnen“ (nach J. J. van der Voort van der Kleij, S. VII); s. generell die Zahlenangaben in den einzelnen Artikeln von Proc. RTC II (1980).
1. Zum Corpus
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Regel nicht erläutert. – Für die auf einer digitalen Datenbasis operierenden Werke herrschen ohnehin ganz andere Verhältnisse: Was hier quantitativ möglich ist und insofern natürlich einen hohen bis korrumpierenden Überzeugungswert hat, entzieht sich sehr bald jeder Bearbeitbarkeit. Dann droht die Gefahr der Kompensation, indem man Kompromisse mit der Qualität eingeht, etwa die digital bewältigbaren Informationen laufend erhöht und die interpretationsaufwendigen Informationen reduziert oder gar zentrale Informationstypen gänzlich aufgibt, letztlich – nostalgisch formuliert – das gute alte Wörterbuch als Textsorte durch Werke eher dokumentativen als interpretativen Inhalts ersetzt. 6. Dem kritischen Beurteiler stellen sich angesichts dieser Verhältnisse folgende Fragen bzw. Probleme: (1) Das Zeitproblem: Wenn jedes Wortvorkommen bei seiner lexikographischen Behandlung durchschnittlich 3, 5, 10 Minuten Arbeitszeit verlangt, wie viel Zeit brauche ich dann – zunächst einmal rein rechnerisch unter Anwendung der Grundrechenarten – bei 10, 20, 50, 500, 5000 Wortvorkommen für die Gestaltung eines Wörterbuchartikels? Oder: Zu welchem Zeitaufwand für das fertige Wörterbuch führt ein Corpus von 1, 2, 5, 10 Millionen Wortvorkommen? – Erschwerend ist, dass die Bearbeitung von 30 Belegen nicht einfach die dreifache Zeit der Bearbeitung von 10 Belegen erfordert, sondern dass ein Komplexitätsfaktor in Berechnungen dieser Art einzubeziehen ist. Wie hoch ist er der Größenordnung nach? Klar dürfte sein, dass er für jeden Informationstyp differiert. – Um einen Eindruck vom Gewicht des Zeitproblems zu geben, sei folgendes Beispiel angeführt: J. Bahr (1987, S. 148) gibt für das „bloße Lesen, Verstehen und Klassifizieren (gemeint ist wohl das grammatische Klassifizieren nach Wortart u. Ä.) von nur 1 Million Belegen 30 000 Arbeitsstunden an. Das wären breits knapp 20 Arbeitsjahre. Zu bedenken ist, dass damit nicht einmal das Belegmaterial für ein größeres Sprachstadienwörterbuch erfasst ist und nur einige vorbereitende und eher technische Arbeitsschritte vollzogen sind, denen die eigentliche lexikographische Arbeit erst zu folgen hat. (2) Das Relevanzproblem: Wie gelingt es, diejenigen Wörter, Wortbedeutungen und sonstigen Worteigenschaften, denen der Lexikograph eine ‚objektiv-historisch‘ besondere Relevanz und / oder ein besonderes Eigenund ein entsprechendes Rezipienteninteresse zuschreibt (Typ mhd. arbeit, frouwe, triuwe; frnhd. abenteuer, gnade, gewalt), von denjenigen zu unterscheiden, für die er eine solche Relevanz nicht annimmt und für die er ein solches Interesse nicht entwickelt hat (vermutlich vom Typ gehen, stehen)? Wie schafft man es mit vertretbarem Zeitaufwand, diejenigen Wörter aufzuspüren, die das Verständnis eines ganzen Textes bestimmen oder als Schlüs-
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C. Zum Corpus historischer Wörterbücher und zur Corpusexzerption
sel in die Einführung einer Kulturzeit dienen können? – Das Relevanzproblem kann nicht dadurch gelöst werden, dass man sagt, man behandle jedes Wort des Corpus mit gleicher Ausführlichkeit. Diesen Fall gibt es nicht. Man kommt also um Relevanzsetzungen nicht herum. Statt sich dem Problem zu stellen und seine Entscheidungen auszusprechen, spricht man z. B. vage von ‚literarischem‘ versus ‚gebrauchssprachlichem‘, von ‚allgemeinem‘ (engl. sogar von very / less common words; so A. J. Aitken 1980, S. 34) versus ‚seltenerem‘, von ‚veraltetem‘ versus ‚lebendigem‘ Wortschatz, von ‚kulturbezogenen‘ Ausdrücken usw. und verschleiert somit seine Gewichtungen. (3) Das Reduktionsproblem: Wie schaffe ich es angesichts der hohen Zeitwerte, die sich selbst bei groben Berechnungen der unter (1) angedeuteten Art ergeben, massenhaft belegte Ausdrücke, wie sie in jedem Wörterbuch begegnen,12 von vorneherein auf ein Maß zu reduzieren, das die menschliche Arbeitszeit und die Finanzierung von Wörterbüchern nicht überfordert? Wie ist also schon durch die Corpuszusammenstellung (erst recht durch die Corpusexzerption) zu verhindern, dass der Zeitaufwand für die Reduzierung massenhafter Belegungen auf eine bearbeitungsfähige Menge genau so hoch oder gar noch höher ist als der Aufwand für ihre Erarbeitung? Für diese Frage gibt es keine andere Antwort als: Man hat auszuwählen und zwar nach nicht genannten Kriterien und deren nicht einmal wahrgenommener Operationalisierung. (4) Das Spezialisierungsproblem: Könnte es sein, dass sich die quantitätsfixierte Corpusbildung im Hinblick auf die vorauszusehenden Bearbeitungszeiten verselbständigt, so dass Corpuserstellung und damit Befasste (mit ihrer Quantitätseuphorie) das Eine, die Bearbeitung des Corpusmaterials und die damit Beauftragten (z. B. mit ihrer Relevanzverpflichtung) das Andere wären?13 Führt die Trennung beider Bereiche möglicherweise dazu, dass die Energie der einen in Corpusaktivitäten investiert wird, diejenige der anderen in die ‚eigentliche‘ lexikographische Arbeit? Führt sie zu neuen Spezialisierungen und – infolge der Arbeitsteiligkeit – zu erhöhter Leis-
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Jeder Lexikograph kennt den tötenden Ballast, der sich aus unkontrolliert erworbenen Belegmassen ergibt. Für die Gegenwartslexikographie setzen B. T. S. Atkins / M. Rundell (2008, S. 89f.) voraus, dass der database editor und der dictionary editor verschiedene Personen mit verschiedenen Talenten sind, die selbstverständlich arbeitsteilig vorgehen. Auch der von J. Bahr (1987) stammende „Entwurf eines historischen Wortschatzarchiv[s]“ geht von der Trennung der Lexikographie vom Wortschatzarchiv aus. Das bedeutet natürlich, dass die unter Punkt (1) angegebene, für den Archivaufbau verwendete Arbeitszeit zum Lesen (usw.) von zum Beispiel 1 Million Belegen im lexikographischen Prozess von einer anderen Person vollständig wiederholt werden muss.
1. Zum Corpus
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tung? Oder führt sie zu einem die Bewältigung der gemeinsamen Aufgabe lähmenden spezialistischen Neben- oder gar Gegeneinander mit vielen Wiederholungen? 7. Diese Frageliste scheint mir so schwerwiegend zu sein, dass Überlegungen zur Begrenzung von Corpora einen neuen, und zwar außerordentlich hohen Stellenwert erhalten müssten. Die Frage kann also nicht mit der eingespielten und geradezu rituellen Selbstverständlichkeit lauten: Wie umfänglich (hier der Argumentation halber und sicher überspitzt im rein quantitativen Sinne des Wortes gemeint) muss ein Corpus sein, damit es in die Nähe irgendeines Verständnisses von äußerer und innerer ‚Vollständigkeit‘ sowie von ‚Ausgewogenheit‘ bezüglich irgendeines zentralen Informationstyps kommt? Das Pferd ist vielmehr vom Schwanz her aufzuzäumen: Wie begrenzt kann ein Corpus sein, damit man den gewünschten Grad von Vollständigkeit / Ausgewogenheit mit dem geringst möglichen Zeitaufwand und mit besonderer Gewichtung der Relevanzsetzungen erhält? 8. Mit diesen Problemen steht das Verhältnis von Corpusquantität und -qualität zur Diskussion: Eine lineare Progression in dem Sinne, dass eine Ausweitung des Corpus um den Faktor 2, 5, 10 das Zwei-, Fünf-, Zehnfache an Ausbeute (welchen Inhaltes auch immer) erbringt, widerspricht allen Erfahrungen.14 Vielmehr ist die Ausbeute bei einem aus nur wenigen Texten bestehenden Corpus im Verhältnis zur Belegzahl relativ hoch; im unteren Zahlenbereich bringt im Extremfall jeder Beleg irgendeine neue Erkenntnis. Mit zunehmendem Corpusumfang aber verringert sich die Ausbeute zunehmend, bis schließlich eine Phase erreicht ist, von der an sich selbst eine erhebliche Corpusausweitung in der Quantität gleichsam totläuft und zu einem nur geringfügigen Erkenntnisgewinn führt. Veranschaulicht man sich diese Verhältnisse mit einem geometrischen Darstellungsmittel, so erhält man die sog. lexikographische Erkenntniskurve mit einem relativ starken Anstieg relevanter Information bei geringem Corpus, einem sog. Saturationspunkt an einer vom Lexikographen nach verschiedenen Kriterien15 zu bemessenden Stelle und einer zunehmenden (asymptotischen) Abflachung bei einem fortwährend umfänglicheren Corpus (vgl. Abb. 416).
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J. J. van der Voort van der Kleij (1983, S. VIII) bezeichnet die Exzerption „woord voor woord“ deshalb als waan >WahnVerringerung des Edelmetallgehaltes einer Münze< fragen als nach absaz im Sinne von >TextabschnittWollabfall, schlechte Wolle, die auf dem Streichbaum abgestoßen worden ist< als nach abstossen in der Bedeutung >jn. hinabstoßen< (jeweils FWB s. v.). Ebenso wichtig scheint mir ein Drittes: Ausgabenglossare sind ein Spiegel des Interesses, das die Philologen und Historiker aller Sparten (also z. B. Rechts-, Wirtschafts-, Medizinhistoriker, Theologen) über rund 200 Jahre Editions- und Textgeschichte vermittelt haben. Sie liefern den Kennwortschatz der verschiedenen historischen Disziplinen (für die Germanistik des Mittelalters etwa: held, recke, arbeit, huld, gnade; für die Rechtsgeschichte: dienst, lehen, recht); sie bieten deren je eigene Interpretationsgeschichte; sie stehen in ihrer Gesamtheit für einen wissenschaftsgeschichtlichen Erfahrungsschatz, den kein Einzelner erreicht. Zusammengefasst: Sie haben die gesamte Tradition, auf der sowohl der Lexikograph als auch der Rezipient steht, wenn nicht konstituiert, so doch beeinflusst. – Das FWB verfügt seit 1981 arbeitsstellenintern (1981) auf 13 000 Seiten mit rund 250 000 Einträgen (nicht types, sondern eine Mischung von types und tokens) über eine Zusammenstellung der Lemmata von 400 Ausgabenglossaren zu einer Textmenge von rund 300 000 Druckseiten (= Findebuch A), ferner über eine umfassende Liste lexikalischer Ausdrücke der Bedeutungserläuterungen von 16 zeitgenössischen (also frnhd.) Glossaren und Wörterbüchern (= Findebuch B). Das Findebuch zum mhd. Wortschatz (1992) realisiert die Idee der ein Wörterbuch vorbereitenden Sammlung von Ausgabenglossaren in einer elaborierten gedruckten Form; es dürfte der Größenordnung nach 40 000 – 50 000 normalisierte Lemmata (nicht zu verwechseln mit den „Einträgen“ des FWB) enthalten. – Als Beispiel für ein Ausgabenglossar sei ein Abschnitt aus J. Schatz, Glossar, in: G. Winter, Niederösterreichische Weistümer [...], Bd. 4, S. 631, geboten (Abb. 5). 11. 2. 2. Selbstverständlich ersetzt die Nutzung der Ausgabenglossare nicht die eigene Exzerption der Stichwörter. Ebenso selbstverständlich ist, dass sich ein lexikographisches Corpus wegen der Idiotismenlastigkeit von Ausgabenglossaren nicht auf diese beschränken kann, sondern zur Erfassung des Allgemeinwortschatzes anderer Corpusteile bedarf. Diese sollten genau dasjenige an Erkenntnis bringen, was die Ausgabenglossare nicht zu leisten vermögen. Gemeint sind Texte, die in mehreren Handschriften oder Auflagen vorliegen, die einen hohen Intertextualitätsindex aufweisen und durch eine lange Rezeptionsdauer und eine besondere soziale und geographische Rezeptionsbreite gekennzeichnet sind.
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C. Zum Corpus historischer Wörterbücher und zur Corpusexzerption
Abb. 5: Beispiel für ein Ausgabenglossar (kurzer Auszug)
11. 3. Eine gewisse Möglichkeit gezielter Corpusvermehrung innerhalb der konventionellen Lexikographie19 ist die Nutzung sog. Verschiebebelege. Ein Beleg, der wegen eines bestimmten vorgesehenen Lemmazeichens (z. B. gleichheit) exzerpiert wurde, kann in so vielen Fällen für die Behandlung anderer Lemmazeichen verwendet werden, wie er Wortvorkommen enthält; man braucht ihn gleichsam nur alphabetisch weiterzuverschieben, was allerdings nur in der Richtung von a auf z hin möglich ist. Voraussetzung ist natürlich, dass das Belegwort in einem so umfänglichen Textzusammenhang steht, dass auch andere – davor oder dahinter stehende – Lemmazeichen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit interpretierbar werden. Nachteilig könnte sich auswirken, dass man mit zunehmendem Fortschreiten im Alphabet immer mehr Belege enthält, dabei die Relationen verzerrt und sich ein Massenproblem eigener Art auflädt. Dennoch soll das Verfahren kurz veranschaulicht werden:
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Bei digitaler Erschließung des Corpus herrschen andere Verhältnisse, da einerseits jede zwischen zwei Blanks stehende Schreibeinheit auffindbar ist, sich andererseits aber wieder das Massenproblem ergibt.
1. Zum Corpus
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Abb. 6: Corpusvermehrung über Verschiebebelege (aus: Belegarchiv des FWB) Zur Erläuterung: Der hier abgebildete Beleg wurde für das Lemmazeichen gleichheit exzerpiert; er findet sich demzufolge unter gleichheit, und zwar zu Bedeutungsansatz 6 (Beleg Illing), zitiert. Die eckigen Klammern markieren den äußeren Schnitt; auf einen inneren Schnitt wurde verzichtet. Außer für das Lemmazeichen (im Kreis) ist der Beleg für mindestens folgende Artikel verwendbar: heilig, speise, vereinung, speisen, natürlich, leiblich. Im übrigen zeigt der Beleg die typische Anlage des FWB-Karteizettel, darunter einige handschriftliche Annotationen.
12. Zum Abschluss des Kapitels Corpusproblematik ist zu betonen, dass weder der Umfang, schon gar nicht Zahlen über die Menge von Wortvorkommen, noch die Qualität des Corpus etwas über die Corpusexzerption, und nur gebrochen etwas über die Qualität des Wörterbuches aussagen: Man kann über ein umfängliches und maximal ausgewogenes Corpus verfügen und dennoch infolge fehlgesteuerter Exzerption ein kritikwürdiges Wörterbuch weitab von jedem begründeten Vollständigkeitsgedanken und jeder vernünftigen Relevanzsetzung schreiben; und man kann umgekehrt aus einem relativ kleinen Corpus, falls es ausgewogen zusammengestellt ist, bei kompetenter Nutzung der Exzerptionsmöglichkeiten ein relativ gutes Wörterbuch (mit hoher Vollständigkeit, mit nachvollziehbaren Relevanzsetzungen) schreiben. Als wichtiger Schlüssel, gleichsam als Stellschraube für das eine bzw. das andere, wird hier die Exzerption verstanden. Sie ist Gegenstand des folgenden Kapitels.
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C. Zum Corpus historischer Wörterbücher und zur Corpusexzerption
2. Zur Corpusexzerption 1. Exzerpte, falls sie in das Wörterbuch eingehen, Belege oder Zitate genannt, sind Ausschnitte aus Quellentexten, die das vorgesehene Lemmazeichen in seiner assoziativ-paradigmatischen und linear-syntaktischen Umgebung enthalten. Solche Ausschnitte werden bei herkömmlicher Lexikographie abgeschrieben oder aus dem Quellentext herauskopiert. Sie liegen dem Lexikographen auf Karteikarten gleicher, deshalb gut verwaltbarer Größe (etwa DIN A 5 oder 6) vor und sind für den konventionellen lexikographischen Prozess so kennzeichnend, dass man die mit Karteizetteln arbeitende Lexikographie auch als Karteikarten- oder auch als Zettelkastenlexikographie bezeichnet und gleichzeitig suggeriert, dass es neuere und zwar bessere, die Karteikarte ersetzende Verfahren gibt. Der Umfang des Exzerptes kann stark schwanken: Längen zwischen 1 und 10 Zeilen werden das Übliche sein. Auf jeden Fall wird man bestrebt sein, die Ränder der Karteikarte nicht zu überschreiten. Die Praxis der Anlage von Karteikarten zeigt, dass der Lexikograph, der einen Textausschnitt abschreiben muss, eher zur Kürze und zu mehr inneren Schnitten, teilweise sogar nur zur Aufnahme des Belegwortes tendiert, der Lexikograph dagegen, der über einen Kopierapparat verfügt, den Textausschnitt eher großzügig bemisst. – Karteikarten haben – bei allen Unterschieden im einzelnen – das Aussehen, das aus Abb. 6 ersichtlich ist. Verfügt der Lexikograph über eine digitale Datenbank, so kann es die Karteikarte als materiale Größe nicht mehr geben. Damit ist aber die qualitative Einheit ‚Exzerpt‘ oder ‚Beleg‘ nicht hinfällig geworden: Jeder Lexikograph bedarf zur Herstellung eines Wörterbuchartikels einer Anzahl von Belegen, unabhängig davon, ob er diese materialiter auf seinem Schreibtisch vor sich liegen hat oder ob er sie in einer aussagekräftigen Länge aus seiner Datenbank herauszieht und dann in irgendeiner Weise auf seinem Bildschirm rangiert. Insofern unterliegen die mit Karteikarten arbeitende und die computergestützte Lexikographie einer Reihe analoger Aufgaben. 2. In einem Wörterbuch, darunter bereits in der Quellenexzerption, können sich ganze Lebensgeschichten (wissenschaftliche Biographien) spiegeln. Zur Erläuterung dieses Falles sei die Datenerhebung, die zum Mhd. Wb. von BMZ führte, in Stichworten angegeben: – insgesamt 30jährige Arbeit, beginnend mit Exzerpten aus Textausgaben der Zeit um 1820 sowie von Minnesängertexten (durch G. F. Benecke nach Scherzius / Oberlin), – nach 1822 Änderung des Verfahrens (zu Zwecken des eigenen Gebrauchs),
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allmähliche Ausweitung des Quellencorpus und der Exzerption nach Bedingungen individueller und zufälliger Art, – dabei Entstehung mehrerer, verschieden (un)fertiger Fassungen als Vorstufen eines Wörterbuches, – schließlich Entwicklung einer Publikationsabsicht (durch G. F. Benecke), – 1844 Übernahme des Benecke-Nachlasses durch W. Müller, – weitere Ergänzungen und Entwicklungen, dabei auch Rückgriff auf eigene Vorarbeiten.20 Geschichten vergleichbarer Art entsprechen den Arbeitsmöglichkeiten des 19. und der ersten beiden Drittel des 20. Jahrhunderts. Es kamen zustande: z. B. Schmeller / F, Lexer, Wander 1867 – 1880, Schwäb. Wb., Teile des Schweiz Id. Das ist eine Reihe, die sich sehen lassen kann. – Für das Niederländische und Englische wären ähnliche Geschichten zu erzählen. 3. Die Exzerption verläuft im Prozess wie im Ergebnis pro lexikographisches Unternehmen und oft auch innerhalb jedes einzelnen Unternehmens außerordentlich unterschiedlich. Einige ihrer Umstände sollen kurz aufgelistet werden: – Sie kann sich in irgendeiner Weise mechanisch vollziehen: Sie kann z. B. jedes Wortvorkommen eines Quellentextes betreffen; sie kann sich aber auch auf z. B. 10 wie auf nur 1 Wortvorkommen pro Seite einer Quelle beschränken. Der äußere Schnitt kann auf z. B. 10 Wörter vor und 10 Wörter hinter dem Suchwort beschränkt sein. – Die Exzerption kann im Gegensatz dazu aber auch der Eigenverantwortlichkeit des Exzerptors überlassen werden, so dass die Dichte und der Schnitt (usw.) des Ausschnitts dem einzelwortgebundenen Urteil des jeweils damit Befassten unterliegen. Dieser Fall müsste sich eigentlich mit besonderer Exzerptionssorgfalt verbinden, aber auch das Gegenteil ist denkbar und belegt. – Exzerption und Artikelredaktion können in einer Hand liegen. Wenn der Exzerptor und der Artikelautor also zumindest der Absicht nach identisch sind, ist anzunehmen, dass es bei der Exzerption mehr individuelle Gewichtungen in Richtung auf das spätere Ergebnis gibt, dass man unbearbeitbare Beleghalden zu vermeiden sucht, dass man die Exzerpte mit zweckdienlichen Annotationen versieht. Im umgekehrten Fall droht die Gefahr, dass der Exzerptor nie ein Ergebnis seiner Tätig-
20 Man vgl. dazu die Vorrede von W. Müller im Bd. 1 des Werkes, ferner: O. Reichmann 1990f, S. 1601.
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keit sieht, also geradezu ins Leere arbeitet und jede Motivation verliert.21 Die akademische Leitung eines Unternehmens kann ausgefeilte Exzerptionsrichtlinien vorgeben. Aber auch dann können unterschiedliche Praktiken entstehen: Wie etwa ist die Vorgabe22 sachlich begründet? Welche persönliche Autorität steht dahinter? Wie wird sie überwacht? Welches arbeitsstelleninterne Gewicht hat die Exzerption? Ist sie als leichtgewichtete Vorbereitungstätigkeit oder als eines der schwergewichtigen Konstitutiva von Lexikographie konzipiert? Wie viele Exzerpte sind pro Stunde zu liefern? 5 oder 15 oder 25? Wie umfänglich werden diese geschnitten? In welcher arbeitsrechtlichen Situation befinden sich die mit der Exzerption Beauftragten? Welche Freiheiten haben sie? Falls sie begründet gegen die Vorgaben verstoßen, etwa die Exzerptionsdichte für bestimmte Texte hoch- oder herunterschrauben, wie wird dann verfahren? Dass je nach Beantwortung dieser Fragen unterschiedliche Exzerptionsquantitäten und -qualitäten zustande kommen, dürfte auf der Hand liegen. Von Relevanz in dem gerade umrissenen Rahmen ist die textgeschichtliche, semantische, syntaktische und überhaupt allseitige lexikographische Kompetenz sowie der Grad des Interesses, die / das erstens dem Leiter eines Unternehmens, zweitens den Ausführenden der Exzerption, darunter studentischen Hilfskräften, aufgrund ihrer lexikographischen Ausbildung und / oder aufgrund persönlichen Engagements zukommt: Je kompetenter und je interessierter der Exzerptor, desto dichter und hochwertiger die Exzerption. Man kann gebildete Laien23 an der Exzerption beteiligen. Dies war im Falle vieler großer, oft gesamtsprachlicher Werke, z. B. des DWB oder
Einen Eindruck von den Hindernissen, denen sich selbst größere lexikographische Unternehmen wie das MED bereits bei der Exzerption zu stellen haben, liefert H. Kurath 1954, S. IXf. 22 Der Typ solcher Vorgaben kann lauten: 5, 10, 12 Exzerpte pro Seite, oder 5, 10, 12 % aller Wortvorkommen, jeweils entweder mechanisch (etwa jedes 20. Wortvorkommen) oder nach Ermessen des Ausführenden. 23 Diese werden wie folgt benannt: Ausziehende, Sammler, Verzettler, collectors, contributers, (willing) helpers, voluntary oder generous readers, volunteers (vgl. z. B. DWB 1, Vorwort, Sp. XXXVI; DRW, Bd. 1, S. XIII, OED 1, Sp. XXXVIf.; DOST, Preface, S. VIII; H. Kurath 1954, S. IX). Die Anzahl der „Ausziehenden“ kann sich auf einige Dutzend bis auf mehrere Hunderte belaufen (z. B. rund 250 für das DRW, rund 460 für das EMED).
2. Zur Corpusexzerption
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des MED, OED, DOST, aber auch z. B. des DRW, zeitweilig üblich und ohne Alternative.24 4. Ich versuche, im Folgenden anhand einer Zitatmontage und eines Zitates die ältere Exzerptionspraxis zu veranschaulichen. 4. 1. Jacob Grimm spricht in der Einleitung zum DWB (Bd. 1, Sp. XXXVIf.) hinsichtlich der ihm abgelieferten Zitate von „unordentlich zusammengerafte[n], unbeglaubigte[n], unbeeidigte[n] zeugen“. Er moniert weiterhin, dass natürlich nicht „alle belegstellen [hätten] aufgebracht werden“ können, dagegen seien Belege aufgenommen worden, „denen die bewährung abgeht“. Ein bestimmtes Zitat sei „versäumt“ worden oder „abhanden gekommen“; umgekehrt scheint er hinsichtlich M. Luthers und J. W. von Goethes ein schlechtes Gewissen wegen der für diese sehr hohen Exzerptionsdichte zu haben, beruhigt dies aber mit Luthers „einflusz auf die sprache“ und mit dem „eignen reiz [...] goethescher lieblingswörter“, mit dem „eindruck“, den sie machen, so dass die „häufung“ bei „einer menge von wörtern“ mit allem „bedacht“ geschehen sei. Im weiteren ist z. B. von der „überlegenheit der protestantischen poesie und sprachbildung“ die Rede, was aber nicht bedeute, dass man nicht auch „aus katholischen werken, so viel man ihrer habhaft“ habe werden können, zitiert habe. 4. 2. Im OED 1989 (Bd. 1, History, S. XLI) lautet der 1879 erteilte Aufruf zur Beleggewinnung wie folgt: „Make a quotation for every word that strikes you as rare, obsolete, oldfashioned, new, peculiar, or used in a peculiar way. – Take special note of passages which show or imply that a word is either new and tentative, or needing explanations as obsolete or archaic, and which thus help to fix the date of its introduction or disuse. – Make as many quotations as you can for ordinary words, especially when they are used significantly, and tend by the context to explain or suggest their own meaning“.25 4. 3. Übersetzt man diese Aussagen in heutige Fachsprache, dann wird man wohl urteilen müssen, die einzelnen Exzerptoren hätten hinsichtlich Auswahl, Anlage, Dichte, Schnitt, Quellen- und Belegstellenangabe, vorbe-
24 Angaben zur Exzerption: DWB 1, S. XXXVf.; MED, Preface, S. XI – XII; DOST 1, S. VIII – X; DWB 1, S. XXXVIf.; EDD 1, S. V – VI; Bailey 1980, S. 202. 25 Für eine bestimmte Exzerptionsphase des DOST beschreibt A. J. Aitken (1980, S. 36) die Anweisung an seine „volunteer receptors“ wie folgt: „rare words, words used in an unusual way, Scotticisms, especially when the word, form or meaning, seemed to be localised, unusually early examples of words and uses, self-defining examples and words of ‚cultural‘ or antiquarian interest“ seien zu exzerpieren. Dies ist an die OEDAnweisung angelehnt und läuft auf Intuition, Sprachgefühl o. ä. hinaus (so Aitken selbst, S. 38).
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reitender Interpretation usw. so ziemlich getan, was sie wollten.26 Man vergleiche bei J. Grimm Urteile wie zusammengerafft, unbeglaubigt, unbeeidigt, aber auch seine Klagen hinsichtlich desjenigen, was er erhalten hat, und desjenigen, was er gerne erhalten hätte, aber nie zu Gesicht bekam. Das OED 1989 (Bd. 1, History) singt (mit kaum freundlicherem Unterton) ein ähnliches Klagelied: Viele Exzerpte seien „in an indigested state“, „obviously defective“, „inadequate“; „commoner words“ seien schwach vertreten (so S. XL). 5. Nun sind Mängel von Exzerptsammlungen, die man in die Hände letztlich nicht regierbarer Interessierter auslagert, das eine und weltanschauliche Prägungen und Vorlieben des Lexikographen das andere. Gemeint ist die Tatsache, dass auch jeder Fachexzerptor – Ausgewogenheit hin oder her – seine Quellen in Abhängigkeit von seiner Bildung, vom Grad und von der Ausrichtung seines kritischen Bewusstseins, von seinen ideologischen Wertungen mehr oder weniger geprägt / beeinflusst / bestimmt ausziehen wird. Das klingt schon in der konfrontativen Nennung protestantischer und katholischer Quellentexte bei J. Grimm, erst recht in seinem einseitigen Urteil über deren unterschiedliche Qualität an. Hinzu kommen offensichtlich ideengeschichtlich motivierte Verzerrungen: Wenn etwa vor lauter Luther, Sachs, Fischart, Gryphius, Goethe, Treitschke als „mächtigsten und gewaltigsten zeugen der sprache“ (DWB, Bd. 1, S. XXXV), als Autoren mit Sprachbegabung und Sprachgewalt, bereits Lessing und Schiller in den Hintergrund rücken und erst recht M. Mendelssohn, Heine, Gutzkow, Freiligrath, Ruge, Börne, mit ihnen ganze Texttraditionen (s. auch U. Haß-Zumkehr 1995, S. 307 – 335) unberücksichtigt bleiben oder ausgedünnt, peripherisiert werden, dann droht das kritische gesellschaftliche Wechselspiel kultureller Wertungen aus den Fugen zu geraten. Auch die generelle Poesiebzw. Literaturlastigkeit, die lange Zeit auch für die Lexikographie des Englischen galt, wäre in diesem Zusammenhang zu nennen. – Im übrigen soll hier nicht suggeriert werden, dass es ideologiefrei zusammengestellte und ideologiefrei exzerpierte Corpora gäbe. Das in der Luft liegende mögliche Gegenbild der mechanischen, sich Schreibeinheit für Schreibeinheit vollziehenden Exzerption stößt – wie schon gesagt wurde – bereits bei sehr wenig Text auf seine Grenzen, so dass es nicht realisierbar ist. Das Problem J. 26 L. Mugglestone (2009) berichtet ebenfalls von schlechten Erfahrungen, kommt aber doch zu einem positiveren Urteil. Dies scheint bei ihr dadurch motiviert zu sein, dass ein ‚großes‘ Wörterbuch einer Sprache keine Aufgabe einzelner, sondern der Sprachgemeinschaft als ganzer sei und folglich eines breiten Kreises von Beiträgern bedürfe. – A. J. Aitken (1980) beschreibt die Exzerption auffallend freundlich, kann aber klagende Untertöne nicht vermeiden.
2. Zur Corpusexzerption
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Grimms war also schon das Problem G. F. Beneckes; es ist das Problem aller im Augenblick erarbeiteten und in Zukunft anstehenden historischen Languewörterbücher, auch wenn dies geleugnet werden dürfte; und es ist das Problem jedes Autors eines Ausgabenglossars, jedes Fach- und jedes Textlexikographen. Dass die Ausgabenglossare aufgrund ihrer langen Geschichte und ihres breiten Interessespektrums als Teil des Quellencorpus unter diesem Aspekt eine besondere Relevanz erhalten, liegt auf der Hand. 6. Die soeben erfolgte problematisierende Zusammenstellung von Bedingungen, unter denen eine Corpusexzerption erfolgen kann, beruht auf Bewertungen, die meist auf die Unterstellung erheblicher Defizienzen hinauslaufen, aber auch neutral gemeinte und vereinzelt anerkennende Momente enthalten sowie einige Unumgänglichkeiten betreffen. Alle Bewertungen, offene wie versteckte, positive wie kritische, setzen ein von mir angenommenes Idealkonzept der Corpusexzerption (diesseits aller Unumgänglichkeiten) voraus, das sich aus Folgendem ergibt: 6. 1. Die Corpusexzerption ist integraler und hoch zu gewichtender Teil des lexikographischen Prozesses; sie bereitet die Artikelgestaltung im zeitlichen und im systematischen Sinne vor. Es gibt keinen Inhalt irgendeines Wörterbuchartikels, der nicht auf das Corpus und die Auswahl, die Dichte und die Art seiner Exzerption zurückginge. (1) Unter Zeitaspekten kann sich das Verhältnis von Exzerption und Artikelformulierung unterschiedlich gestalten: Falls der Artikelformulierung eine Zentralexzerption des gesamten Corpus vorausgeht, liegen zwischen Vorbereitungs- und Ausarbeitungsphase mindestens einige motivationshemmende Jahre oder gar einige motivationstötende Jahrzehnte, ohne dass dies zu vermeiden wäre. Falls die Exzerption dagegen aufgrund besonderer Vorbereitungen eines Unternehmens pro vorgesehenes Lemmazeichen oder (sinnvoller) pro Wortfamilie erfolgt, weil man etwa über eine Lemmaliste mit Belegstellenangaben oder über eine digitale Datenbank verfügt, verringert sich der Abstand zwischen Exzerption und Artikelformulierung auf einige Wochen oder Tage, was nur motivationsfördernd sein kann. Der Exzerptor kommt dann nämlich auch als Artikelautor in Betracht und kann die während der Exzerption angesammelten Fragen, alle begleitenden Formulierungs- und Gestaltungsüberlegungen und alle Einsichten in die Tat umsetzen, bevor sie vergessen werden. Außerdem wird verhindert, dass die kognitive Energie, die er in seine Exzerption investiert hat, später von einem anderen, dem Autor des Artikels, in irgendeiner Weise wiederholt, also zeitaufwendig gedoppelt wird. (2) Die systematischen Aspekte sind noch entscheidender. Die Exzerption erreicht ihre maximale Effizienz nur dann, wenn der Exzerptor auch
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C. Zum Corpus historischer Wörterbücher und zur Corpusexzerption
Artikelautor ist oder wenn er sich einen solchen konstant vor Augen hält und wenn er außerdem die Struktur des Wörterbuches gleichsam wie im Schlaf so internalisiert hat, dass er sich ohne kognitive Belastung durch Strukturfragen auf den Inhalt und die sprachlichen Gegebenheiten des Exzerptes konzentrieren kann. Dabei muss er auf all dasjenige achten, was für jeden der Informationstypen seines Wörterbuches relevant sein könnte. Dies heißt: Beschränkt sich ein Wörterbuch auf nur drei Informationstypen a, b, c (z. B. Lemma, Morphologie, Bedeutung), so verzeichnet er auf seinem Karteizettel nur die für sie relevanten Beobachtungen; hat es 10 Informationstypen, so richtet sich sein Interesse auf eben 10 Gegenstandsfacetten. – Im Schema ergibt sich: Wörterbuch mit den Informationstypen:
Eintrag auf der Karteikarte
a., z. B. Lemma b., z. B. Morphologie c., z. B. Bedeutung d., z. B. Phraseme e., z. B. syntaktische Konstruktion f., z. B. nicht lexikalisierte Wortbildungen g., [...] [...] n., [...]
Lemma(hypothese) z. B. Genusangabe Bedeutungsangabe (belegbezogen) Phrasemangabe Konstruktionsangabe Angabe der Wortbildung [...] [...] [...]
Abb. 7: ‚Ideale‘ Anlage lexikographischer Karteikarten
(3) Wie dies alles auf der Karteikarte eingetragen wird oder ob die Zahl der Einträge durch Konzentration auf das Relevante beschränkt, durch kleinere technische Mittel rationalisiert27 oder durch Kürzel, Markierungen28 o. ä. im Belegtext realisiert wird, ist eine technische Frage. Entscheidend ist, dass bei der Exzerption nicht nur ein Belegtext übernommen wird, sondern dass der Exzerptor jede Karteikarte bzw. jeden Belegtext mit genau denjenigen (und nur diesen) Typen von Information versieht, aus denen der Lexikograph die entsprechenden Positionen der Artikel füllt.
27
So wird man z. B. jede Quelle vorgängig zur Exzerption (soweit möglich) mit Angaben zur Entstehungszeit und zum Entstehungsraum versehen, so dass diese technisch verwaltet werden können und bei jedem Zitiervorgang in genau gleicher Form abrufbar sind. 28 In Frage kommt etwa die einfache Unterstreichung, die das Wortvorkommen innerhalb eines z. B. zehnzeiligen Exzerptes auf den ersten Blick heraushebt.
2. Zur Corpusexzerption
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(4) Dieses Verfahren ist nur vollziehbar, wenn man bestimmte Kompetenzen nicht nur beim Exzerptor, sondern bei allen am Wörterbuch Beteiligten voraussetzt: Der Leiter eines lexikographischen Unternehmens sollte schon zur Sicherung seiner Autorität über den gesamten Grundstock auch an technischer Erfahrung (im vorliegenden Zusammenhang also an Exzerptionserfahrung) wie seine Mitarbeiter verfügen. Besitzt er diese aus bestimmten biographischen Gründen, infolge besonderer Bedingungen bei der Besetzung der Leitungsposition oder aufgrund wörterbuchgeschichtlicher Fakten nicht, so hat er sie nachträglich zu erwerben und Lexikographie zu seinem Interessengebiet zu machen. Er benötigt ferner wie alle Mitarbeiter, unter ihnen die Exzerptoren, eine allgemein- und eine fachphilologische, eine sprach- und textgeschichtliche sowie eine linguistische (darunter semantische, syntaktische, pragmatische) Qualifikation. – Speziell hinsichtlich des Exzerptors schreibt A. J. Aitken (1971, S. 6): Die Exzerption „ideally [...] demands of the excerptor, among other things, much knowledge of the language, so that he has a feeling for the likely distributional range and frequency of incidence of particular forms and usages at different points in the corpus. Only thus can he predict what […] may safely be assumed as already adequately represented“. 7. Die Exzerption kann linear am Text entlang und sie kann pro gerade zu bearbeitendes Wort (oder pro Wortfamilie) von diesem (bzw. dieser) ausgehend in der Weise erfolgen, dass man punktuell auf die verfügbaren Stellen der Texte des Corpus zugreift. 7. 1. Die lineare Exzerption ist nur dann realisierbar, wenn man sie zentral für das Gesamtcorpus und mit einem Zeitabstand zur Artikelformulierung durchführt und wenn man ferner davon ausgeht, dass der Exzerptor in der Regel nicht der Bearbeiter sein wird. Sie vollzieht sich wie folgt: Man liest eine Quelle a eines Corpus von vorne bis hinten durch, markiert bei der Lektüre diejenigen lexikalischen Einheiten, die einem für ein Exzerpt tauglich erscheinen, und schneidet sie auf irgendeine Weise (manuell oder digital) aus dem Textkontinuum heraus.29 Die Gewinnung der zu exzerpierenden Einheiten kann auch über ein Ausgabenglossar (falls es Stellenangaben hat) erfolgen.30 Der Vorteil besteht in beiden Fällen darin, dass sie tendentiell auf einer Lektüre des Gesamttextes und damit auf dessen guter Kenntnis
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Dies entspricht ungefähr dem unter Abs. 2 für das Mhd. Wb. von BMZ und unter Abs. 4. 2 für das OED geschilderten Verfahren. 30 Dies setzt voraus, dass bei Exzerptionen, die aus Ausgabenglossaren erfolgen, zunächst die Karteikarten mit der Angabe der Belegstelle angelegt und vor dem Exzerptionsgang linear geordnet werden.
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C. Zum Corpus historischer Wörterbücher und zur Corpusexzerption
beruht. Der Exzerptor weiß dann zum Beispiel, ob ein Wortvorkommen x im eigentlichen oder tropischen Sinne zu verstehen ist, in welchen Isotopielinien (textlichen Linien gestaltähnlicher, bedeutungsverwandter, antonymischer usw. Ausdrücke) es 2, 5, 7 Seiten nach rückwärts und vorwärts steht, ob es Teil einer fiktionalen oder realistischen Textpartie ist. Die Einträge auf dem Karteizettel werden insofern qualitativ besser sein als bei punktueller Exzerption und damit die Qualität des Wörterbuchartikels zu heben erlauben. Es kommt hinzu, dass die Informationserschließung, die aus dem Wissen um den Textzusammenhang hervorgeht, weniger zeitaufwendig und damit kostengünstiger ist als die punktuelle. Allerdings ist zuzugestehen, dass der Artikelautor, da er ja in der Regel nicht der Exzerptor ist, dessen Interpretationstätigkeit von seinen Voraussetzungen her nachvollziehen, dabei teilweise wiederholen muss. – Ein Gesichtspunkt ganz anderer Art betrifft die Lexikographie als kulturpädagogische Disziplin. Wenn man dem Programm, das in diesem Schlagwort steckt, zustimmt, dann sollte seine Realisierung systematisch mit der Ausbildung der Studierenden philologischer Fächer verbunden werden und damit an die Universität gehören. Mit anderen Worten: Es wird wohl eher die Exzerption als die Corpusbildung und die Artikelformulierung sein, mit der man Studierende betraut. Meine Erfahrungen mit Hilfskräften am FWB (1990 – 1998) liefen ohne Einschränkung darauf hinaus, dass diese hoch motiviert waren, dass sie ihre Tätigkeit mit dem Erwerb von Leistungsscheinen und Laufbahnarbeiten verbinden konnten und dass sie sich am Ende ihrer Hilfskraftzeit als Philologen, d. h. hier als gute Kenner frnhd. Texte sowie des Handwerks der Lexikographie, erwiesen. 7. 2. Für die punktuelle Exzerption gilt in vielem das genaue Gegenteil: Der Exzerptor, der selbst Artikelautor sein kann, geht von einer gerade zu behandelnden lexikalischen Einzeleinheit, sagen wir mal: frnhd. geschichte oder von dem Wortbildungsfeld mit geschichte, aus. Er weiß aus seiner Datenbank, dass geschichte in den Texten (z. B. in Nr. 3; 7; 245; 398) des Corpus und dort etwa für Text 245 an den Stellen x, y, z vorkommt und wird durch den Computer automatisch dorthin geführt. Dann schneidet er wie bei der linearen Exzerption den ihm relevant erscheinenden Abschnitt aus dem Quellentext heraus. Er greift damit punktuell an verschiedenen Stellen auf den Text zu, lernt diesen aber nicht als Gesamttext kennen. Er verfügt insbesondere nicht über die für die Bedeutungsbestimmung relevanten Bezüge links und rechts des Wortvorkommens und ebenso nicht über die ebenso relevante Kenntnis von fiktionalen, tropischen, bildlichen, uneigentlichen Textzusammenhängen der Vorkommensstelle. Bemüht er sich, all diese Kenntnisse zu gewinnen, so wird er – zeitaufwendig – mehrere Zeilen bis
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mehrere Seiten vor und nach dem Wortvorkommen prüfen und dies an anderer Textstelle für ein anderes Wortvorkommen wiederholen müssen. Dabei hat er gegenüber dem Linearexzerptor aber auch gewisse Verstehensvorteile: Er verfügt im Gegensatz zu diesem nämlich über die Kenntnis aller Belege, die er aus den Quellentexten (z. B. aus Nr. 3 und 7) unter seinem Suchwort (dem späteren Stichwort / Lemma) bereits ausgeschrieben hat. Das Ergebnis der Prüfung und seine Richtigkeit hängen deshalb von der Kenntnis der sich pro Suchwort ansammelnden Belege ab (also nicht wie beim Linearexzerptor von der Kenntnis des gerade zusammenhängend exzerpierten Textes), von seiner vorauszusetzenden (wenn auch vagen) Übersicht über das Quellencorpus insgesamt und von seiner formalen Fähigkeit, historische Texte zu verstehen. Den Erweb dieser letzteren Kompetenzen verhindert die punktuelle Exzerption ja geradezu systematisch. Ein zeitaufwendiges häufiges Zurückgreifen des (späteren) Artikelautors auf den Textzusammenhang während der Formulierung des Artikels wird die Folge sein, vor allem dann, wenn man aufgrund einer geringen Belegmenge auf jeden Beleg angewiesen ist und wenn dieser semantische oder formale Nuancen liefert, die man bei der Exzerption wegen ihrer Punktualität nicht erahnte. Außerdem ist der philologische Ausbildungswert gegenüber demjenigen der linearen Exzerption deutlich reduziert. Dies kann als Teil der Verlagerung wissenschaftlicher Kompetenzen gesehen werden: von der Textkompetenz weg, auf isolierte Verstehenskompetenzen hin. 8. Die unter Abs. 1 vage angedeutete Länge eines Exzerptes (1 bis 10 Zeilen als orientierende Angabe) impliziert sowohl für die lineare wie für die punktuelle Exzerption, dass sich der Exzerptor auf einen Teil einer satzähnlichen Aussage (minimal auf ein Satzglied) oder auf eine in sich verstehbare geschlossene Aussage (praktisch oft auf einen Satz) beschränken kann. Er kann seinen Ausschnitt aber auch auf ein Satzgefüge, eine Satzreihe, einen Absatz oder entsprechend umfängliche Texteinheiten ausdehnen. Die Entscheidung über die Länge des Schnittes hängt von verschiedenen Gegebenheiten ab. Bietet ein Wortvorkommen auch ohne längeren Kontext nach dem Ermessen des Exzerpierenden keinerlei Probleme, so kann der Schnitt kurz gehalten werden. Dies bedeutet für den (späteren) Artikelautor insofern eine Reduzierung von Zeitaufwand, als er keine 10 Zeilen Kontext zu lesen hat. Die Tatsache aber, dass der Exzerptor, der den Text – speziell bei linearem Verfahren – besser kennt als der Autor des Artikels, seinen Schnitt immer wieder zu kurz31 bemisst, weil er sich in Kennt31
Diesen Fall erwähnt auch H. Kurath (1954, S. IX) für das MED: „[...] quotations (many rather too short)“.
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nis des Textzusammenhanges während der Exzerption nicht vorstellen kann, dass man diesen Zusammenhang und damit den Bedeutungsansatz 2 oder 5 Jahre später nicht mehr versteht, infolgedessen zeitaufwendig zur Quelle greifen muss, lässt einen eher längeren Schnitt angeraten erscheinen: Je länger der Schnitt, desto sicherer die Erkenntnis, desto höher aber auch der Zeitaufwand bei der Abfassung der Artikel. 9. Dem sog. äußeren Schnitt steht der innere gegenüber. Das ist die Ausblendung derjenigen Teile aus einem nach außen geschnittenen Exzerpt, die der Exzipierende als wenig relevant für das Verständnis eines Wortes erachtet. Er kann solche Ausblendungen bereits bei der Anlage seines Karteizettels vornehmen und z. B. durch Textmarker kennzeichnen; er kann sie aber auch dem Artikelautor überlassen. Für erstere Möglichkeit spricht wieder die Tatsache, dass der Exzerptor (bei linearem Verfahren) den Text besser kennt als der Artikelautor; letztere hat wieder den Vorteil der Kenntnis der gesamten Belegmenge zu einem Lemmazeichen durch den Artikelautor. Am sinnvollsten ist ein Verfahren, das beide Beteiligte einbezieht: Vorschlag eines inneren Schnittes32 durch den Exzerptor, Entscheidung über Annahme oder Ablehnung des Vorschlags durch den Bearbeiter des Artikels. Dabei existiert für letzteren selbstverständlich die Möglichkeit eigener innerer Schnitte. 10. Die Exzerption (sowohl die punktuelle wie die lineare) ist, wenn rein quantitative Steigerungen der Belegzahlen vermieden werden sollen, an dem Punkt eines Textes abzubrechen, an dem der Exzerptor zu erkennen meint, dass – bei linearer Exzerption: pro Text, bei punktueller Exzerption: pro Lemmazeichen bzw. dessen Wortbildungsfeld – weder neue lexikalische Einheiten noch sonstige relevante Informationen gewonnen werden. Dies setzt – bei der linearen Exzerption – voraus, dass sie pro Quelle in einer nicht unterbrochenen Zeiteinheit ausgeführt wird. Bei der punktuellen Exzerption gilt Entsprechendes, allerdings mit dem Unterschied, dass die geschlossene Zeiteinheit für das zu exzerpierende Lemmazeichen bzw. Wortbildungsfeld gilt. 11. Dem Leser des vorliegenden Kapitels wird nicht entgangen sein, dass die Corpusexzerption als ein Teil des lexikographischen Prozesses verstanden wurde, der sich in der konventionellen Lexikographie wie in heutiger computergestützter Lexikographie in systematisch durchaus ähnlicher Weise gestaltet: Man hat zu entscheiden, wie ‚dicht‘ man exzerpiert und wie man ‚auswählt‘. Nennungen von Zahlen (wie: 3 Exzerpte pro Seite) mögen 32
Dies kann technisch auf verschiedene Weise erfolgen: durch Textmarker, Bleistiftstriche, Klammern usw.
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arbeitsintern nicht zu umgehen sein und die Einheitlichkeit des Verfahrens garantieren, nicht aber die Qualität oder den Grad der gewünschten ‚Vollständigkeit‘ der Ergebnisse zu sichern. Qualität garantiert, soweit die Exzerption dazu beitragen kann, nur die Kompetenz des Exzerptors im Rahmen aller am Wörterbuch Beteiligten. Kompetenz zu fordern ist aber letztlich dasselbe wie den perfekten Menschen zu fordern, und doch kommt man daran nicht vorbei. Das heißt hier: Jeder Beleg ist in jeder Lexikographie vom Exzerptor sinnvoll zu schneiden; er ist aus der Kenntnis der Belegumgebung mit genau den Typen von Annotationen zu versehen, die das Informationsprogramm des jeweiligen Wörterbuches im Sinne von Abs. 6. 1 (2) vorgibt. Dies ist zeitaufwendig, weshalb immer auch die Effizienz der einzelnen Arbeitsvollzüge im Auge zu behalten ist. Dabei kann wiederum den Ausgabenglossaren, da sie die Interessengeschichte der Philologien spiegeln und Inhaltstraditionen gebildet haben, ein hoher Stellenwert zukommen. Insgesamt ist dieses Bündel von Aussagen ein Plädoyer für Lexikographie als philologisch bestimmte Tätigkeit. 12. Am Ende der Exzerption liegt folgendes Ergebnis vor: Sowohl die in der Regel konventionell und linear durchgeführte Zentralexzerption wie die eher mit digitalen Verfahren gekoppelte punktuelle Exzerption liefert pro vorgesehenes Lemma eine bestimmte Anzahl mehr oder weniger kompetent aus einem Text ausgeschnittener und mit bestimmten, die Artikelformulierung vorbereitenden Annotationen versehener Belege. Aus dieser Belegmenge ist der Artikel zu bearbeiten.
D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information 1. Zum Rahmen der behandelten Gegenstände 1. Das Substantiv Typen in der Überschrift des vorliegenden zentralen Teils dieses Buches steht ohne bestimmten Artikel. Dies ist als Aussage zu verstehen, dass es nicht „die“ Typen lexikographischer Information schlechthin gibt, die dann jeder Lexikograph der Reihe nach abzuhandeln oder aus denen er für sein Wörterbuch eine bestimmte Auswahl zu treffen hätte. Tatsächlich herrscht hinsichtlich der Typen der Information, die in den einzelnen lexikographischen Werken, auch den größeren, begegnen, eine erhebliche Spannbreite: Man kann sich auf einige wenige beschränken, und man kann ihre Anzahl in die Dutzende gehen lassen. Dennoch gibt es bestimmte Konventionen darüber, welche Informationen üblicherweise geboten werden. Im Mittelpunkt dürfte die für jedes ernsthafte Unternehmen zumindest der Bedeutungslexikographie eingespielte Trias ‚Lemmazeichen‘, ‚Bedeutung(en)‘ und ‚Belege / Beispiele‘ stehen. In einem weiteren Behandlungskreis wären zu nennen: Schreib- und sonstige Formvarianten des Lemmazeichens; seine Flexionsmorphologie (falls das Lemmazeichen keine Partikel ist); seine Syntax; die Wortbildungen, in die es eingegangen ist; die Phraseme, in denen es vorkommt; seine Symptomwerte, d. h. seine pragmatische Verteilung über Sprachräume, Zeiten, soziale Schichten und Gruppen sowie über Textsorten; die Ausdrücke, zu denen es bedeutungsverwandt oder gar synonym ist oder zu denen es in einem Gegensatzverhältnis steht. In einem nochmals weiteren Rahmen bzw. bei speziellen Behandlungsanliegen käme vor allem die Etymologie des Wortes in Betracht, schließlich die Belegstelle, die Vorlage, aus der zitiert wird, Stellen, an denen es in der Sekundärliteratur behandelt wurde. Letztlich ist der Kreis möglicher Gegenstände offen. 2. Im Folgenden werden einige Einschränkungen und Gewichtungen vorgenommen. Beides ergibt sich erstens aus eigenen Überzeugungen, zweitens aus den linguistisch und philologisch üblichen Annahmen, die man allgemein über lexikalische Einheiten unabhängig von ihrer theoretischen Fas-
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
sung macht, die also nicht gut bestreitbar sind und die jeder Lexikograph erst einmal anzuerkennen hat, und zwar unabhängig davon, ob er auf Papier oder elektronisch arbeitet und publiziert. So dürften etwa die Annahmen, dass jedes Vorkommen eines lexikalischen Zeichens eine bestimmte Gestalt hat, dass es Bedeutung hat oder zur Bedeutung einer höheren Einheit beiträgt, dass es in einer linearen (syntaktischen) Umgebung auftritt, nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden können. Durchaus aber ließe sich etwa darüber diskutieren, ob eine der wechselnden Vorkommensgestalten in der Lemmaposition stehen oder ob man eine eigene Gestalt konstruieren solle. Ebenso ließe sich fragen, was Bedeutung haben eigentlich heißt, welche Größe überhaupt ‚Bedeutung‘ habe (das Vorkommen oder die lexikalische Systemeinheit), welcher Status ihr je nach Antwort auf diese Frage zukomme, wie man dies alles, falls man es denn geklärt zu haben meint, in der Fachsprache von Wörterbüchern am besten ausdrückt. Schließlich könnte man fragen, was das obige, auf den ersten Blick eindeutige lineare Umgebung genau besagt. Mit diesen Beispielen ist die Reihe weiterer Fragen nur angedeutet. 3. Hier wird für die historische Bedeutungslexikographie, auf die ich mich konzentriere, folgender, aus insgesamt 16 Positionen bestehender Gegenstandsrahmen angesetzt (für andere Wörterbuchtypen wären analoge Rahmen zu konstruieren): A. Das Lemmazeichen: Dazu gehören mindestens bzw. damit kommen ins Beschreibungsspiel: a. seine Gestalt, b. Schreibungen (Schreibvarianten), c. Wortbildungsvarianten, d. die Frage der Gestaltgleichheit mit anderen Zeichen (die Homonymiefrage), e. die Morphologie, f. die Etymologie. B. Die Bedeutung des Lemmazeichens: Vorausgesetzt wird, dass ein lexikalisches Zeichen eine Gesamtbedeutung hat. Diese kann man sich – so besagt schon das Bestimmungswort Gesamt- – im Normalfall als zusammengesetzt denken. Damit wird das Zeichen als mehrdeutig interpretierbar konzipiert und „ist“ dann (ontologistisch gesprochen) mehrdeutig (polysem). Wenn aber Mehrdeutigkeit (Polysemie) als Normalfall gesehen wird, dann muss es – schon um die Charakterisierung mehrdeutig / polysem zu rechtfertigen – erstens einen davon abweichenden Fall geben. Dieser soll substan-
1. Zum Rahmen der behandelten Gegenstände
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tivisch als Eindeutigkeit (Monosemie) bezeichnet, adjektivisch als eindeutig (monosem) charakterisiert werden. ‚Polysemie‘ heißt zum anderen, dass auf irgendeine beschreibungssprachlich erkennbare Weise pro Lemmazeichen mindestens zwei, oft weitere Einzelbedeutungen anzusetzen sind. Diese werden meist Sememe genannt. Sie müssen in irgendeiner Weise behandelt, d. h. voneinander abgegrenzt und dadurch bestimmt, außerdem in eine Ordnung gesetzt, z. B. einfach gereiht, hierarchisiert oder auf eine sonstige Weise aufeinander bezogen werden (zu diesen Problemen vgl. man die späteren Diskussionen, speziell in Kap. 7). Außerdem müssen jedem Semem bestimmte sprachstrukturelle Vernetzungen und pragmatische Verteilungen zugeschrieben werden. Dann erhält man für die Bedeutung insgesamt und für die – z. B. aneinander gereihten – Einzelbedeutungen folgenden Gegenstandsrahmen: Gesamtbedeutung, etwa: Einzelbedeutung 1 (= Semem 1); a. diese Einzelbedeutung wird als sprachlicher Inhalt verstanden, b. das Lemmazeichen steht systematisch mit jedem seiner Sememe (also etwa mit Semem 1) in einem Ähnlichkeits-, damit auch in einem Unterscheidungsverhältnis zu mindestens einem seiner anderen Sememe, c. es kann pro Semem systematisch in einem Gegensatzverhältnis zu mindestens einem Semem mindestens eines anderen Lemmazeichens stehen, d. es steht systematisch pro Semem in Bedeutungsverwandtschaft (in Synonymie oder partieller Synonymie) zu mindestens einem Semem mindestens eines anderen Lemmazeichens, e. man kann ihm bestimmte Symptomwerte zuschreiben, d. h. es kann insgesamt oder mit einzelnen Sememen z. B. eine bestimmte räumliche Verbreitung haben und in weiteren Gebrauchsdimensionen stehen, f. es kommt in Phrasemen vor, g. es steht in einer linearen (syntaktischen) Relation, h. es geht in Wortbildungen ein, i. es kommt in Texten vor, j. die Texte lassen sich zu Textsorten und Textsortengruppen zusammenfassen. k. [...]. Einzelbedeutung 2 (= Semem 2); gleicher Gegenstandsrahmen, wie für Einzelbedeutung 1 angegeben, usw. [...] Einzelbedeutung n (= Semem n) usw.
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
3. 1. Aus diesem Rahmen ergibt sich: Bestimmte Gegenstände lexikographischer Behandlung betreffen eher das Lemmazeichen als ganzes, andere betreffen ausschließlich oder eher je eine Einzelbedeutung. So gelten die Gestalt, die Schreibungen, mögliche Homonymieindices, in der Regel auch die Flexions- und Wortbildungsmorphologie sowie die Etymologie für das Lemmazeichen in all seinen Bedeutungen. Es sind diejenigen Gegenstände, die im allgemeinen aus den Wortvorkommen ohne größere Probleme abgelesen oder aus ihnen dank anerkannter Methoden festgestellt werden können. Sie sind insofern eher objektiv beschreibbar oder festsetzbar, falls objektiv überhaupt eine sinnvolle Kennzeichnung ist. Der Inhalt eines Semems, seine zeicheninterne und seine zeichenübergreifende Vernetzung mit bedeutungsverwandten Wörtern sowie die gesamte Gegenstandsliste bis zu k [...] hin gelten hingegen jeweils großenteils oder eher pro Einzelbedeutung. Diese, auf die Einzelbedeutungen bezogenen Gegenstände sind im Vergleich zu den auf das Lemmazeichen bezogenen oft Interpretationstatbestände; mit Charakterisierungen wie ‚richtig‘, ‚falsch‘ usw. wird man deshalb einerseits zwar arbeiten müssen, andererseits aber vorsichtig umgehen. Es empfiehlt sich damit gleichsam aus einem doppelten Grund, die auf das Lemmazeichen beziehbaren Gegenstände im sog. Kopf1 des Artikels, die die Einzelbedeutungen betreffenden Gegenstände in Artikelteilen eigener Struktur und Funktion, am besten in sog. integrierten Mikrostrukturen, zu behandeln, die dem Kopf unabhängig von ihrer internen Struktur linear von oben nach unten nachgeordnet sind. Daraus ergibt sich die Gegenstandsstruktur des Artikels. 3. 2. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die im vorangehenden Absatz vorgenommene Unterscheidung von Behandlungsgegenständen, die das Lemmazeichen als ganzes, und solchen, die das Semem betreffen, mit relativierenden Ausdrücken versehen wurde. Man beachte: eher (mehrmals), meist, gelten, mehrfaches -bar >kann werden< (muss dies aber nicht), großenteils. Es gibt also durchaus Beispiele dafür, dass sich etwa die meist auf das Lemmazeichen bezogene Schreibvarianz in Richtung auf Polysemiedifferenzierung entwickelt (vgl. wider / wieder), dass Pluraldifferenzierungen vorgenommen werden (wort / worte / wörter) und aus Kasusdifferenzen neue Einheiten entstehen (fart / färte; stat / stätte). Hinsichtlich der Symptomwerte ist festzustellen, dass sie sich auch auf mehrere bis alle
1
Der ‚Kopf‘ des Artikels erscheint in der Lexikographie des Deutschen meist unter der Bezeichnung Formteil und steht dann im Unterschied zum Bedeutungsteil; vgl. etwa J. Bahr 1985, S. 101.
1. Zum Rahmen der behandelten Gegenstände
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Sememe beziehen können. Zusammengefasst: Es gibt überall Unsicherheiten, Überlappungen, Vagheiten. 4. Dem angesetzten Gegenstandsrahmen entspricht ein weitgehend parallel geschalteter, also in der Größenordnung2 auf eine ähnliche Anzahl von Positionen zu veranschlagender Behandlungsrahmen, hier Behandlungsstruktur genannt. Deren fachsprachliche Einheiten sollen Angaben heißen.3 Wenn es also ein ‚Lemmazeichen‘, eine ‚Gestalt‘ und ‚Schreibungen des Lemmazeichens‘ oder eine Reihe von ‚Einzelbedeutungen‘ als ‚Gegenstände‘ gibt, dann entsprechen diesen jeweils spezifische ‚Angaben‘ als Einheiten ihrer Behandlung. Spielt man dies durch, dann erhält man für das Lemmazeichen die Lemmazeichenangabe, speziell für seine Gestalt die Lemmazeichengestaltangabe, für die Einzelbedeutung (das Semem) die Einzelbedeutungs- oder Sememangabe usw. bis hin zur Phrasemangabe, Symptomwertangabe oder zur Text- bzw. Textsortenangabe. Da diese Fachwortbildungen stilistisch unschön sind, wird man vor allem die Mehrfachkomposita mit Ausdrücken des Typs Angabe des Lemmazeichens, der Gestalt des Lemmazeichens, der Einzelbedeutung usw. variieren. Eigens zu betonen ist, dass der Gegenstand jeder Angabe in der Praxis der Lexikographie nicht nur explizit (also in einer als solche ausgewiesenen Formulierung), sondern auch implizit behandelt werden kann: Man kann z. B. auf eine Sememangabe, eine Symptomwertangabe oder die Angabe von Syntagmen verzichten, wenn man der Meinung ist, dass sie sich durch die Belege erübrigen. Das sind allerdings Behandlungsreduktionen, die nicht nur die Darstellung, sondern auch konzeptionelle Gewichtungen betreffen. Ein Wörterbuch, das z. B. auf die explizite Angabe bedeutungsverwandter Ausdrücke (Synonyme) zu den angesetzten Sememen verzichtet, mutiert dadurch zu einem Werk, das primär auf die Einzelwortsemantik (statt auch auf die onomasiologische Vernetzung) ausgerichtet ist, also insofern eine isolationistische Ausrichtung hat. Verzichtet es auf die Explizitangabe von Symptomwerten, wird ihm unterstellt werden, höchstens nachgeordnet an der Verteilung des Wortgebrauchs über Zeiten, Räume, Textsorten interessiert zu sein. 5. Die Liste der ‚Angaben‘ kann durch eine der Möglichkeit nach ebenso lange Liste von Behandlungsteilen ergänzt werden, die hier (in meiner Terminologie) Kommentare genannt werden sollen. Das sind all diejenigen
2 3
Hier wird bewusst Größenordnung gesagt, weil es niemals eine Deckungsgleichheit zwischen Gegenstand und Behandlungseinheit geben kann. Vgl. H. E. Wiegand in mehreren seiner Arbeiten, zuletzt im WLW (Bd. I, S. 350; mit Literaturangaben).
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
Einblendungen des Lexikographen in die Artikelstruktur, die Einstellungen, Fragen, Zweifel, Gewichtungen, Unsicherheiten, Verweise zum Ausdruck bringen und im Unterschied zu den Angaben indirekt gegenstandsadressiert sind (Genaueres in Teil D, Kap. 14). 6. Gegenstands- und Behandlungsrahmen einschließlich der Kommentare führen zu folgender Logik und damit Anlage des Wörterbuchartikels:
Gegenstandsstruktur
Behandlungsstruktur
Kommentare
Lemma(angabe) Angabe der Lemmazeichengestalt weitere Angaben dazu Angabe von Schreibungen Angabe von Wortbildungsvarianten morphologische Angaben Angaben zur Etymologie
-kommentar -kommentar jew. -kommemtare -kommentar -komentar -kommentar etym. Kommentar
II. Bedeutungsteil
z.B. integrierte Mikrostruktur
Kommentare
Inhalt von Semem 1 Phraseme onomasiologische Vernetzung Gegensatzausdrücke syntagmatische Vernetzung Wortbildungen Symptomwerte Texteinbettung [...] Inhalt von Semem 2 [Wiederholung des Programms]
Sememangabe Phrasemangaben Angabe (part.) Synonyme Angabe von Gegensatzausdrücken Angabe von Syntagmen Angabe von Wortbildungen Angabe von Symptomwerten Angabe von Belegen
Sememkommentar -kommentar -kommentar -kommentar -kommentar -kommentar -kommentar -kommentar
wie oben unter Semem 1 [...]
wie unter 1 [...]
I. Kopf Lemmazeichen Gestalt des Lemmazeichens Schreibungen Wortbildungsvarianten Morphologie Etymologie [...]
Abb. 8: Logik der Anlage von Artikeln historischer Wörterbücher
7. Die gesamte folgende Behandlung der Informationstypen des historischen Wörterbuches richtet sich nach dieser Skizze. Die Ausführlichkeit der einzelnen Punkte spiegelt Gewichtungen konzeptioneller, aber auch persönlicher Art.
2. Das Lemmazeichen I: Probleme der Auswahl
143
2. Das Lemmazeichen I: Probleme der Auswahl 1. Das Kompositum Lemmazeichen soll mit seinem Grundwort explizit herausheben, dass es sich um ein Zeichen, genauer um ein lexikalisches Zeichen, und zwar (in diesem Zusammenhang) um ein Zeichen mit Systemstatus, oft mit Languestatus,4 handelt, nicht also z. B. um die Wiedergabe einer einzelnen Schreibform. Diese Einheit (einer Sprache, einer Sprachvarietät, einer irgendwie bestimmten Textgruppe usw.) ist in einer lexikographischen, also behandlungssprachlichen Gestalt zu nennen, die Lemma heißen soll. Das Lemma hat mehrere Aufgaben zu erfüllen: Es muss vor allem garantieren, dass der Wörterbuchbenutzer das von ihm gesuchte Zeichen schnell und mit maximaler Sicherheit, mindestens aber mit hoher Wahrscheinlichkeit, auffindet; es muss außerdem so angesetzt sein, dass sich der Lexikograph mit seinen Behandlungsabsichten sinnvoll auf das gemeinte Sprach-, also Lemmazeichen, beziehen kann. Es gibt demnach mindestens ein (eher praktisches) Findeproblem und ein (eher wissenschaftliches) Behandlungsproblem. 2. Eine der schwerstwiegenden Cruces der Lexikographie ist die Auswahl derjenigen Einheiten, die im Wörterbuch unter einem Lemma angegeben und behandelt werden. Auswahl setzt eine viel umfänglichere, aber quantitativ nicht exakt bestimmbare Menge als solcher in Betracht kommender Einheiten voraus. Die Entscheidung über die Auswahl hängt einmal von Gegebenheiten ab, die der Lexikograph und / oder die Planer des Wörterbuches anfänglich selbst festsetzen oder die sie in einem gewissen Maße mitbestimmen, über die sie aber danach durch Umstände verschiedenster Art die Kontrolle verlieren können. Umgekehrt kann durchaus der Fall auftreten, dass sich während der Exzerptions- und Redaktionsphase Bedingungen ergeben, die die oft am grünen Tisch getroffenen Auswahlfestlegungen nachträglich obsolet machen und dann zur Revision drängen. Es gibt in der Geschichte der Lexikographie kaum eine gerade, ungestörte Linie zwischen der initialen zündenden Idee eines Sprachhistorikers, Verlegers, Kulturpolitikers und dem fertigen Produkt, darunter der Lemmaauswahl. Wie das Zusammenspiel zwischen Planung und Ausarbeitung sich auch gestalten mag: Auswahlrelevant sind vor allem der gewünschte Umfang und der Typ
4
Die hier vorgenommene Unterscheidung von ‚System-‘ und ‚Languestatus‘ besagt, dass unter ‚System‘ der übergeordnete, unter ‚Langue‘ also ein untergeordneter Begriff verstanden werden soll. Langue bezieht sich auf die Abstraktionsebene der Einzelsprache, etwa des Deutschen; ‚System‘ dagegen hat natürlich auch die Lexik von Varietäten, Textsorten, Einzeltexten.
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
des Wörterbuches, indirekt auch die Anzahl und Art der vorgesehenen Informationspositionen der Artikel sowie das primäre pädagogische Anliegen des jeweiligen Unternehmens, schließlich die finanzielle Absicherung. In der Planungsphase eines Unternehmens sind die Verantwortlichen bzw. die als Ausführende vorgesehenen Lexikographen zwar in der Lage zu sagen: Wir wollen einen Einbänder für Lernzwecke mit reduziertem Behandlungsprogramm; wir wollen ein im Ernstfall 30bändiges gesamtsprachliches Wörterbuch; wir wollen ein semantisch oder ein syntaktisch aufgezogenes Wörterbuch; wir wollen nur diejenigen Ausdrücke aufnehmen, die sich semantisch von der Gegenwartssprache unterscheiden. Im Detail setzt sich diese Reihe fort; sie lautet dann z. B.: Wir wollen nur 3 oder aber 15 Informationspositionen; wir füllen aus Gründen einer kontrastiv oder vergleichend angelegten Semantikgeschichte nur die differenzsemantisch oder -syntaktisch interessanten Positionen. Im Falle solcher Freiheiten setzt die Entscheidung über die Aufnahme einer Einheit jeweils ein Urteil darüber voraus, ob die Einheit, wie man gerne sagt, wörterbuchwürdig ist. Dieses Urteil erfolgt jeweils mit Bezug auf die Relevanzsetzungen des in Arbeit befindlichen Projektes, unter Beachtung seiner Eignung für bildungs- und nationalideologische Zwecke, in Abwägung zur Wörterbuchwürdigkeit anderer Einheiten, unter Nutzung der Urteilsamplitude kontrastiver historischer Semantik, mit Bezug auf die Möglichkeiten der Raumersparnis, die das Behandlungsprogramm bietet. Es ist aber nicht zu leugnen, dass in einer signifikanten Anzahl von Fällen auch Festlegungen, die in der Planungsphase vorgenommen wurden, gegen Abschluss des Unternehmens kaum noch erkennbar sind: Ein falsch eingeschätzter Umfang, eine unerwartete Ergiebigkeit des Materials, die chronische Unterschätzung der Arbeitsintensität, eine veränderte Wörterbuch‚ideologie‘, neue Einsichten fachlicher Art usw. können dem Projekt eine weitestgehend neue Gestalt geben; und sie können es als nicht durchführbar erweisen. 3. Auf jeden Fall wird sich jedes „große“ Wörterbuch vom Typ des DWB, WNT, Schweiz. Id., OED, MED, DOST, aber auch jedes größere Sprachstadienwörterbuch, die Frage zu stellen haben, wie man mit dem ‚Sockel‘ und den mannigfachen ‚Anbauten‘ von Varianten der Sprache verfährt, die man heute als Deutsch, Niederländisch oder Englisch bezeichnet, unter der Hand aber gerne mit ihren herausgehobenen, für Bildungs- und Nationalideologien aller Art leicht instrumentalisierbaren Hochvarianten in eins fallen lässt. Diese Frage betrifft insbesondere die um oder gar über 1000 Jahre alten geschichtlichen Sprachstufen sowie die Dialekte und Soziolekte, darunter die Wissenschafts- und Techniksprachen, insgesamt also einen Gegenstandsbereich, der hinsichtlich seines Umfangs und seiner
2. Das Lemmazeichen I: Probleme der Auswahl
145
Relevanz für historisch und für soziologisch interessierte Sprachgesellschaften dem Umfang bzw. der Relevanz des Gegenstandes eines ‚allgemeinen‘ gegenwartsbezogen-synchronen Wörterbuches gleichkommt oder ihn gar übertreffen dürfte. Alle oben genannten Wörterbücher ringen in ihren Vorwörtern um Begründungen ihrer Entscheidungen. Der Anspruchsskopus lässt sich wie folgt veranschaulichen (Abb. 9):
Abb. 9: Der Anspruchsskopus der großen gesamtsprachlichen Wörterbücher (aus O. Reichmann 1990c, S. 1395, dort Abb. 1)
Die Realisierung zeigt (mit Unterschieden im einzelnen, selbst innerhalb desselben Wörterbuches) folgende Realisierung (siehe Abb. 10). 3. 1. Der Typ der Argumentation und die Aporie von Begründungen der hier zur Diskussion stehenden Thematik soll am Beispiel des WNT kurz vorgeführt und analysiert werden. Einerseits will man ein (in diesem Fall:) ‚National‘wörterbuch des Niederländischen. Dieses erfordert zur Untermauerung der Glaubwürdigkeit seiner Ideologie eine das Staunen seiner Benutzer hervorrufende historische Tiefe, einen relativ zum Möglichen maximal bemessenen Umfang des Sprachgebietes5 und eine sozial sowohl allgemeine wie hochschichtige Gültigkeit der behandelten Sprache, damit eigentlich die
5
Diese Aussage braucht für das Deutsche nicht belegt zu werden, da der überwiegende Teil der Geschichtsschreibung die Grenzen des Deutschen im Nordwesten und im gesamten Osten mit einiger Großzügigkeit zieht, s. dazu O. Reichmann 1998, S. 7 – 10. – Für das Nl. sei folgender (ältere) Beleg angeführt: „[Het is] vooral aan de kant van Frankrijk dat het Westvlaamsch veel grond verloren heeft. Tegenwoordig afgepaald aan
Abb. 10: Priorisierte Gegenstandsbereiche gesamtsprachbezogener Wörterbücher (aus: O. Reichmann 1990c, S. 1401)
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2. Das Lemmazeichen I: Probleme der Auswahl
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volle Berücksichtigung aller seiner Varietäten in Zeit, Raum und Sozialität. Ein Nationalwerk wird sich vor allem unter den Bedingungen des späten 19. Jahrhunderts ja nicht auf Kurzfristigkeit, Kleinräumigkeit und soziale Eingeschränktheit seines Gegenstandes gründen können. Zusätzlich wird das Faktum bemüht, dass es in diesen Varianten natürlich eine Vielzahl lexikalischer Einheiten gibt, die ein ebenso helles wie überraschendes wissenschaftliches Licht auf die vielen verborgenen Winkel der Sprache zu werfen vermögen.6 Weitere Argumente für den Einbezug des Varietätensockels und seiner Ausbauten ergeben sich aus romantischen Organismusvorstellungen, wie sie im Gebrauch von Wörtern wie groei >Wachstumwurzelnontaarding, verval, degeneratieAusprießsel< in morphemgetreuer Übersetzung) aufscheinen. Ihre Außerachtlassung würde als Vergehen gegen „aard en wezen“ der Sprache gelten müssen. Vor allem aber ist anzuerkennen, dass die Sprache ein „historisch gewrocht“ >Gebilde< (wörtlich >Gewirkeraumgebundene Wörter< in einem „ruimeren kring“ bekannt sein können. Folglich kann die Regel nur lauten: Auch wenn die „hedendaagsche taal“ >heutige Sprache< der Gegenstand ist, sind zugleich doch „de rechten van het verledene“ >die Rechte des Vergangenen< angemessen zu würdigen (eerbiedigen). Über raumgebundene Ausdrücke wird je nach ihrer Verbreitung entschieden. Zur Erhöhung des Überzeugungswertes des Gesagten werden einige hoch idiomatische Beispiele besprochen, die ohne jeden Zweifel aus einem Wörterbuch mit dem Gegenstand ‚heutige, kultivierte‘ Sprache herausfallen.7 – Es dürfte klar geworden sein, dass in diesem Buch eine radikal andere Auffassung vertreten wird: Begründungen der gerade am Beispiel des WNT vorgeführten Art sind erstens so vage (vgl. das bemühte ‚Recht‘ des Vergangenen, das Verbreitungskriterium), dass nahezu jede Entscheidung gerechtfertigt werden kann. Sie sind zweitens handlungslogisch überflüssig, da in ihrem Kern vorgängige ideologische Entscheidungen eher der Mitteilung, weniger der Begründung, bedürfen. Falls man doch eine Begründung geben zu müssen
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7
de A en de Leie, beheerschte het eertijds al de uitgestrekte landen, die over de rivieren liggen, van Rijsel [Lille, O. R.] tot Boulonje“ (Wvl. Id. 1892, S. IV). Dieser Gedanke findet sich latent an mehreren Stellen: „op menig duister punt in onze taalkunde [kann aufgrund des Reichtums der Sprache] een even helder als verrassend licht“ fallen (S. XLIV); ein ähnlicher Gedanke findet sich aus anderen Gründen schon bei J. Chr. Adelung (1793, Bd. 1, Vorrede, S. IV): Er habe selbst „den ganzen Wust des niedrigen Lebens“ gelegentlich angeführt, nämlich „zur etymologischen Erläuterung“, die er seinerseits zur Bedeutungsbestimmung zu brauchen meint (ebd., S. VI). Alle Zitate und Allusionen zu diesem Punkt aus dem WNT, Bd. 1, S. XLII – LIII.
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
meint, sollte sie ehrlicher als nachgeordnet charakterisiert werden. – Analoges wäre über das DWB und (eingeschränkt) für die großen Wörterbücher des Englischen zu sagen. – Im übrigen ist das Problem auch in der Gegenwart nicht obsolet geworden. Allerdings sind es nicht mehr die Wortschätze der Imker, der Jäger, der Heilkundler im Mittelalter (usw.), sondern funktionale Randvarianten aller Art sowie natürlich die Neu- und Fremdbildungen im Englischen / Niederländischen der ehemaligen Kolonialgebiete. 3. 2. Der Zwang zur Entscheidung gilt (natürlich in anderer Weise) auch für „kleine“ Wörterbücher zu Großcorpusvarietäten, also z. B. für den Typ des Mittelhochdeutschen Taschenwörterbuches von M. Lexer. Angenommene 80 000 lexikalische Einheiten (für das überlieferte Mhd.) würden die Belastbarkeitsgrenze bereits der Makrostruktur eines Einbänders übersteigen (und tiefgehende Einschränkungen des Behandlungsprogramms vorgeben). Folglich ist eine Auswahl nicht nur unumgänglich, sondern vermag auch die jeweilige Zielsetzung schärfer zu konturieren. Der Auswahl könnten bei besonderer Gewichtung der Rolle kontrastiver, etwa mhd.-nhd. Semantik vorwiegend diejenigen Einheiten zum Opfer fallen, die in ungefähr gleicher Zeichengestalt und zusätzlich in ungefähr gleicher Bedeutung in der heutigen Hochsprache vorliegen8 und deren Behandlung insofern kaum auf ein Nachschlageinteresse stoßen würde. Bei dieser Aussage ist mir durchaus bewusst, dass ihre Belegung nicht leicht fallen muss.9 Je genauer man sich nämlich die folgenden, hier als Beispiel gedachten Bedeutungsangaben etwa M. Lexers (in seinem Taschenwörterbuch) ansieht, desto mehr Bedenken ergeben sich hinsichtlich der Auswahl. Deshalb wird man immer nur komparativ und aspektuell entscheiden: „eher dies als das“, „unter Aspekt a anders als unter Aspekt b“. So würde man orgel, ôrient >Orient, OstenNutzen; Benutzung, Nutznießung< würde man hinsichtlich des zuletzt angegebenen Synonyms, also >NutznießungMutterbruder, Oheim; Schwestersohn, Neffe; Verwandter überhaupt; in vertraulicher Anrede< wäre nicht nur die Weglassung des ja durchaus geläu-
8
9 10
Diesen Gedanken äußert bereits W. Müller in seiner Vorrede (1853, S. V) zu Band 1 von BMZ: Die Rede ist von „häufig vorkommende[n] wörter[n], [...], welche mit dem jetzigen sprachgebrauche stimmen“; sie können weniger beachtet oder ganz übergangen werden. Natürlich bindet Müller diesen Gedanken an eine bestimmte „art ein wörterbuch anzulegen“ und behandelt ihn als Denkmöglichkeit. Kurze, rein interessebedingte Versuche, für einige Seiten des FWB auszuprobieren, wie sich ein Dreizehnbänder wohl auf einen Einbänder reduzieren ließe, führten zu vollendeter Verzweiflung. Ich bin sicher, dass gegen diese Aussage bereits Einwände erhoben werden.
2. Das Lemmazeichen I: Probleme der Auswahl
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figen Lemmazeichens, sondern auch jedes Teiles der Bedeutungsangabe ein Übergehen der Bedeutungsinkongruenz zwischen Mhd. und Nhd., also gegen das Programm historisch-kontrastiver oder vergleichender Semantik, das man jedem Proseminarteilnehmer zu vermitteln sucht. Im übrigen zeigt der Vergleich der Lemmaliste des ‚kleinen‘ mit dem ‚großen‘ Lexer, wie schwer sich der Verfasser mit dem ‚Weglassen‘ getan hat. 3. 3. Bei Textwörterbüchern, darunter den Autorenwörterbüchern (z. B. zu M. Luther oder J. W. von Goethe), ferner bei den ausschnittbezogenen (vgl. Typologiekriterium a‘; Teil B, Kap. 2, Abs. 1) Wörterbüchern, etwa zu einer literarischen Epoche wie der Klassik, zum Recht, zur Philosophie, zur Medizingeschichte, stellt sich die Auswahlaufgabe (sofern man in der Textund Autorenlexikographie überhaupt auswählen will), wie folgt: Die Einheiten bestimmter morphologischer Wortklassen (vor allem Konjunktionen, Präpositionen) stehen generell unter dem Generalverdacht, weggelassen werden zu können. Sie lassen sich vor allem dann mit einer gewissen Berechtigung aus der Lemmaliste ausschließen, wenn sie sich (nun wiederum in der vagen Formulierung von Abs. 3. 2) in „ungefähr gleicher“ Gestalt und Bedeutung in der allgemeinen Sprache der Zeit eines Autors vorfinden und außerdem in einem der allgemeinen Wörterbücher zu dieser Zeit hinreichend behandelt sind. Alle anderen Beschränkungen aber unterliegen einer selektierenden Beurteilung, von der aus dem Vorangehenden deutlich wurde, dass sie prinzipiell nicht zu nur einer einzigen möglichen Entscheidung führen kann. 3. 3. 1. Diese Problematik soll kurz am Beispiel11 des Goethe-Wbs. und des DRW veranschaulicht werden. Für ersteres wurde in seiner Gründungsphase einmal festgelegt, dass man sich auf die sog. „Grund- und Wesenswörter“12 beschränken wolle; für das DRW geht es um das „Rechtswort“, das „rechtsrelevante Wort“, also um Einheiten, die irgendwie mittels Rechtzu bestimmen sind.13 Im einzelnen ergaben sich innerhalb und bezüglich 11 12
13
Das Gesagte gilt entsprechend für die gesamte hier diskutierte Gruppe von Wörterbüchern, so etwa für die ‚historischen Grundbegriffe‘ von O. Brunner / W. Conze / R. Kosellek (= GG), für die Einheiten des Hist. Wb. Phil., des Hist. Wb. Rhet., der RGG. Das sind diejenigen Wörter, die das „Panorama der Goetheschen Sprache“, „die Welt seiner Ideen und Gedanken als der Elemente seiner Weltanschauung“ erfassen, das Sachgerechte, das Seinsgemäße zum Ausdruck bringen. Für diese Einheiten werde Vollständigkeit erstrebt. Interessant ist die Aussage, dass diese Wörter gegenüber dem „Wort der Wissenschaft nicht so sehr exakt und eindeutig als komplex, bildlich, reich an Schattierungen“ seien und dass sich Goethe-Lexikographie deshalb als Kunst bestimme, „als ein gestaltendes und nicht lediglich erkennendes Verfahren“ (so W. Schadewaldt in Bd. 1, S. *8ff.). In der Einführung (Bd. 1, S. IX) heißt es: „Was ist ein Rechtswort? [...]. Rechtsterminus ist jeder Ausdruck für eine rechtlich relevante Vorstellung [...]“. Es folgen weitere
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
beider Unternehmen endlose Diskussionen mit dem Ziel, dass es doch irgendwann einmal möglich sein müsse zu definieren, was ein ‚Grund- und Wesenswort‘ oder was ein ‚rechtsrelevantes Wort‘ „ist“ (hier bewusst indikativisch formuliert). Dementsprechend gab es Definitionen in Fülle, die auch durchaus logisch und wohlbestimmt sein konnten, die aber den Nachteil hatten, zweckgerichtete Festsetzungen zu sein und deshalb nicht auf empirisch vorliegende Wortgebräuche der Sprache Goethes oder der Rechtssprache passen zu wollen. Deshalb sei hier ganz apodiktisch gesagt: Die Bestimmung des Grund- oder Wesenswortes bzw. des Rechtswortes ergibt sich nicht aus festen, für jedermann erkennbaren Eigenschaften einer objektiv vorgegebenen Funktionsklasse von Wörtern, sondern sie hängt von der allseitigen Intelligenz, dem Geschmack, der Kultur, der Einsicht, dem Fachinteresse des Lexikographen und seinem Eingelesensein in seine Corpustexte ab: Nur derjenige, der von Goethe und von Recht nichts versteht, ist in der glücklichen Lage, keine Probleme zu haben; derjenige, der über eine hohe diesbezügliche Kompetenz verfügt, erkennt in tendenziell allen Ausdrücken Goethes irgendetwas ihn Kennzeichnendes und in tendenziell jeder Einheit des Wortschatzes einer Sprache irgendetwas Rechtsrelevantes, und er weiß dies dann in seiner Bedeutungserläuterung so auszudrücken, dass die Einmaligkeit Goethes bzw. die Rechtsrelevanz eines Ausdrucks überzeugend und vorhandenes Rezeptionsinteresse verstärkend vermittelt wird. Auf jeden Fall gibt es einen außerordentlich breiten Grenzbereich zwischen ‚Grund- und Wesenswort‘ bzw. ‚Rechtswort‘ einerseits und einer als ‚grundwesensentlastet‘ bzw. ‚rechtsirrelevant‘ konzipierten Gegengröße andererseits; und es gibt ihn deshalb, weil die sich damit befassenden Menschen Mehr-oder-Weniger-Unterscheidungen vornehmen und sich Skalen mit einer sehr langen Mitte schaffen. Diese Skalen, verstanden als Unterscheidungsund Gleichsetzungsspektrum denkend-interessierter Menschen, sind ein relevanteres Faktum als ein vermeintlich sprachontisch diskret vorhandenes Goethe- oder Rechtswort. Sie sind deshalb nicht widerwillig anzuerkennen, sondern positiv als Stimulans in die Diskussion der Auswahl von Lemmazeichen einzubringen. 3. 3. 2. Diese Ausführungen sollen nun nicht suggerieren, dass man ein Goethe- oder ein Rechtswörterbuch im Grunde nur als ein Allgemeinwörterbuch schreiben könne. Sie besagen lediglich, dass man eine gewisse Wahlfreudigkeit hinsichtlich seiner Gegenstände braucht, dabei die zu treffenden Entscheidungen aus der Sprachontologie heraus- und in den InterZusätze mit dem Ergebnis: „Die Grenzen des Begriffs Rechtswort [sind] keine scharfen“ (Bd. 1, S. X).
2. Das Lemmazeichen I: Probleme der Auswahl
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esse- und Differenzierungsskopus von Menschen hineinhebt. Die Vielfalt möglicher Interpretationen ist dabei als Raum qualitativer Besonderungen von Lexikographie zu begreifen und positiv zu bewerten. – In einem gewissen Sinne liegen die oben am Beispiel des WNT und M. Lexers veranschaulichten Beurteilungsprobleme auf einer ähnlichen Linie. 4. Eine andere Dimension der Gestaltung der Makrostruktur ergibt sich aus der Interpretation eines Wortvorkommens in einer Wortbildung (also insbesondere als Basis einer Ableitung oder als Teil eines Kompositums) und in einer sog. Mehrworteinheit. In ersterem Falle läge möglicherweise eine lexikalisierte Einheit vor, in letzterem möglicherweise ein Phrasem und damit ebenfalls eine eigene lexikalische Einheit. Daraus ergibt sich eigentlich die Notwendigkeit von Definitionen, und zwar erstens des Wortes, zweitens der lexikalisierten Wortbildung und drittens des Phrasems. Die Definition jeder dieser Gegebenheiten ist ein Dauerproblem der Linguistik, auf das ich hier nicht eingehe, weil es in der Lexikographie weniger auf leicht herstellbare, akademisch klare Diskussionen ankommt, als auf handhabbare Regeln und deren einerseits beleg- und andererseits adressatenbezogene Anwendung. Es sei nur gesagt: Zum ‚Wort‘ gehören Einheiten wie Gegebenheit, Diskussion, Regel, auf, ich, weil, deren Erscheinen in Wörterbüchern, die sich nicht als ausschnittbezogen verstehen, nicht in Frage steht. Die Wortbildung ist im hier interessierenden Zusammenhang der Prozess und das Ergebnis der Bildung von Einheiten höherer Sprachränge aus niedrigeren, und zwar in der Regel aus mehreren Wörtern oder aus Wörtern und Morphemen und / oder gewissen Konstruktionsindikatoren und / oder aus alledem. Beispiele wären frnhd.: augen >auf etw. blickenGauklerSchmeichlerei< usw. (FWB 2, Sp. 843 f.). Als Phraseme sollen Einheiten gelten wie frnhd. auf seinen fünf augen verstokt sein >mit all seinen sinnlichen und geistigen Vermögen verstockt seinjn. täuschen, übers Ohr hauenjm. die Augen öffnen< (FWB 2, Sp. 835 f.). 4. 1. Die Frage lautet demnach (zunächst für die Wortbildungen, in Abs. 5 für die Phraseme): Welche Bildungen kommen als Kandidaten einer Lemmaliste in Betracht? Die übliche Antwort lautet ihrem Aussagetyp nach: Sie kommen dann in Betracht, wenn sie folgende Bedingungen erfüllen: – wenn ihre Bedeutung nicht vollständig dekomponierbar ist, sich also gar nicht oder nicht vollständig aus den Bedeutungen ihrer Bestandteile und den Regeln ihrer Verknüpfung ergibt: Das gerade gebrauchte Kompositum Lemmaliste wäre also als vollständig dekomponierbar / moti-
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
viert nicht aufnahmewürdig, da es als Liste von Lemmata auflösbar ist; frnhd. grosmächtig 1 >mit großer Herrschaftsgewalt ausgestattet [...]< wäre dagegen als teilweise demotiviert diskutabel, und grosmütig 1 >hochherzig, hochgemut< würde als weitgehend demotiviert mit hoher Sicherheit in der Lemmaliste erscheinen müssen (s. FWB, jeweils s. v.); – wenn sie in einer festen Form und in einer Häufigkeit auftreten, die darauf schließen lassen, dass sie als Einheit im Gedächtnis von Sprechern gespeichert sind. Frnhd. grosman >Wichtigtuer< (FWB 7, Sp. 500) würde eher als nur einmal belegt aus der Liste herausfallen (vgl. dazu auch Schweiz. Id. 4, Sp. 258), grosmütigkeit 1 dagegen, da dicht belegt, trotz inhaltlicher Nähe zu grosmütig erscheinen; – wenn sie den Regeln der Syntax nicht vollständig entsprechen, – wenn sie Gelegenheit zu bedeutungs- oder kulturgeschichtlich relevanten Erläuterungen geben. Dies ist (zusätzlich zu dichter Belegung) etwa der Fall bei frnhd. gotförmig >gottähnlich, gottebenbildlich; Gottes Willen als eigenen Willen vollziehend, von der Gnade Gottes gerechtfertigt [...]graphischer Unterschiedeentspricht keiner einzelnen / einzigen mnl. RealitätVocabularius Ex quo< (K. Grubmüller, Hrsg., 2001, S. VII – XI) spiegelt sich der Lemmakampf wie folgt: einerseits strukturelle Aspekte wie Lemmatisierung mittels eines „konstruierten Graphemsystems“ auf „eine normalisierte Grundform hin“, andererseits „kein künstliches Produkt“, sondern eine sprachsoziologisch und -historisch motivierte Orientierung „an den sprachlichen Realitäten“, zu denen auch eine „dominante sprachhistorische Entwicklung“ auf einen „Zielpunkt“ hin – vgl. obiges Anliegen von Abs. 3. 3. – gehört, dies alles in explizit ausgesprochener „Anlehnung an die Lemmatisierungsgrundsätze“ des FWB und zum Zwecke der „Schaffung eines Ordnungs- und Orientierungsgerüstes“, also zusätzlich mit dem Blick auf das Findeproblem. Die Gratwanderung zwischen dem philologischen Misstrauen gegenüber linguistischen ‚Kunst‘produkten (trotz deren mediävistischen Ursprungs) und „sprachlicher Realität“ zeigt sich dann in folgenden Formulierungen: „Systematisch [wird] jene Schreibung aus der handschriftlich belegten Vielfalt als stellvertretend ausgewählt [...], auf die die im Ansatz erkennbaren sprachlichen Ausgleichsbewegungen zusteuern [...]; die Normalisierung [...] wählt aus den nachweisbar geschriebenen Formen nach sprachgeschichtlichen Kriterien eine als Repräsentationsform aus“. Dies wird „in den meisten Fällen, aber keineswegs immer eine ostoberdeutsch / ostmitteldeutsch geprägte Form sein, und häufig wird diese mit der Form der neuhochdeutschen Schriftsprache zusammenfallen, ohne dass deswegen neuhochdeutsch normalisiert würde“. Dies Letztere ist teilweise meine eigene Auffassung. Der Gegensatz liegt aber darin, dass bei mir ein Konstrukt ohne schlechtes lexikographisches Gewissen anerkannt wird, dass bei den Kollegen, die den Index erstellt haben, aber „eine Schreibung“, „eine [Kursivierungen von mir] nachweisbar geschriebene Form“ ausgewählt und in die Lemmaposition gehoben wird. Diese Form soll hier als Beleglemma bezeichnet und als Gegensatz zu Konstruktlemma verstanden werden (s. dazu auch J. Splett 1993, Bd. I, 1, S. XXIX). Die Ausführung des Index-Programms zeigt, dass es nicht so vollzogen wurde und auch gar nicht so vollzogen werden konnte, wie es formuliert ist. So haben nur 5 von 21 Lemmata der Seite 2 des Index eine Gestalt, die in einem der Belege begegnet. Der Rest findet sich also in keiner der aufgeführten Schreibungen wieder, sondern von wenigen Ausnahmen abgesehen (abgott, ablass; mit
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
finaler Doppelschreibung) in Ansätzen, die denjenigen des FWB entsprechen:38 Das Lemma abenteuerlich etwa erscheint graphisch nur unter auenturlick, auenturlich, euenturlick, ebenturlich, ebentürlich, ewentewrleicher, abentúrlichen, abentuerlich. – Auch bei E. Bremer – um ein weiteres Beispiel anzuführen – wird der Konflikt zwischen Beleg- und Konstruktlemma nicht entschieden. Sein „oberstes Prinzip“ ist der Satz: „Die Form muss belegt, sie darf nicht idealisiert sein“ (Bd. 1, S. 195), in der graphematischen Form (einem nach- oder höhergeordneten Prinzip?) will er aber dem FWB folgen (ebd., S. 196). Das Ergebnis sind in den allermeisten Fällen nicht belegte, also Konstruktformen. 4. 7. Einen besonderen Weg der Lemmatisierung beschreitet das Schweizerische Idiotikon. Nach rückwärts auf A. Schmellers Bayerisches Wörterbuch zurückgreifend und seinerseits dem Elsäss. Wb. (Wörterbuch der elsässischen Mundarten von E. Martin / H. Lienhart) als Vorbild dienend entscheidet es sich für „eine Form [des Stichwortes], welche aus der Zusammenfassung der betreffenden einzelnen landschaftlichen Aussprachen abstrahiert ist, also ein allgemeines Alemannisch darstellt und willkommen, aber ungesucht dem Hochdeutsch (zunächst dem Mhd.) sich nähert“ (Bd. 1, 1881, Sp. XII). In vorliegendem Zusammenhang interessiert daran nicht das konsonantische Gerippe als Grundlage der Lemmatisierung, auch nicht die Höhergewichtung der Konsonanten vor den mundartlich stärker wechselnden Vokalen oder die Art der Alphabetisierung, ebenfalls nicht das StammPrinzip, sondern allein die Tatsache, dass mit all dem Lemmazeichen zustande kommen, die als Rückführung „verschiedene[r] Wortformen“ der einzelnen Mundarten „auf eine Grundform“ hin verstanden werden und sich in dieser „vereinigen lassen“. Damit wären sie als Konstrukte zu sehen. Im weiteren Verlauf des Satzes aber werden sie als „ältere und richtigere Form“ des Schweizerdeutschen sowie (laut obigem Zitat) als „allgemeines Alemannisch“ ontologisiert (Schweiz. Id. 1881, S. XII; XIV), nehmen also eine andere Existenzform an. – Auch im Elsäss. Wb. wird Entsprechendes zum Ausdruck gebracht: „Die Wörter“ decken sich „vielfach mit der Wortgestalt in der neuhochdeutschen Schriftsprache, noch mehr aber mit der mittelhochdeutschen“ (S. VI). Auch hier schimmern Ontologisierungen durch: Einerseits hat die „Anführungsform [...] nur einen Ordnungswert“, anderer38
H.-J. Stahl (1985, S. 117f.) schreibt mit Bezug auf das FWB-System: „In der Tat haben Robert R. Anderson, Ulrich Goebel und Oskar Reichmann die Schwierigkeiten einer graphemischen Repräsentation des Frühneuhochdeutschen fast beängstigend plastisch vorgeführt; der Komplexität des Gegenstandes war wohl nur mit strengem Formalismus beizukommen. Immerhin: die modellhafte Beschreibung eines idealisierten frühneuhochdeutschen Graphemsystems ist gelungen“.
3. Das Lemmazeichen II: seine Schreibgestalt
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seits suggeriert „Grundform“ wieder eine Realität (S. VII). – Man wird in Formulierungen dieser Art einmal eine Fernwirkung des Normalmittelhochdeutschen, ferner die Evozierung eigener alemannischer Bezüge, damit wohl auch einen Reflex der Konstituierung des Schweizerdeutschen als Nationaldialekt mit langer und vornehmer Geschichte bzw. der Abgrenzung des Elsässischen vom damals (1899) herrschenden Hoch- und Schriftdeutschen sehen können. 4. 8. Das Nsächs. Wb. hat als Perspektive für die Lemmagestalt die Arbeitshypothese, „die älteste Form, so weit die Untermundarten diese gemeinsam haben, zu erschließen“. Zustande käme dann eine Art niederdeutscher Hochform, die vom Status her derjenigen der nhd. Schriftsprache entspräche und auf einen Traum von der Eigensprachlichkeit des Niederdeutschen hindeuten könnte. Diese ‚Hochform‘ erscheint dann auch unter dem Terminus Konstruktion; sie wird bezeichnender Weise als blutleer charakterisiert; im Folgesatz variiert die ‚Konstruktion‘ dann stilistisch mit „überlandschaftliche[r] Form“. Unter der Reihe Arbeitshypothese, älteste Form, zu erschließende Hochform, Konstruktion und überlandschaftliche Form steht ein Zeiten, Räume, Schichten und die Tätigkeit des Linguisten übergreifendes Gebräu mit kaum nachvollziehbarem theoretischem Status (vgl. W. Jungandreas 1965, Bd. 1, S. V f. im Vorwort). 5. Der Ansatz normalisierter Lemmagestalten, der hier als Regel historischer Lexikographie dargestellt und vertreten wurde, kann allem Gesagten zufolge das Findeproblem nicht lösen, sondern höchstens in dem Maße relativieren, in dem man dem Nachschlagenden die oben definierte Identifikationskompetenz (s. Abs. 3. 6.) zuschreibt. Wenn man trotzdem an der Normalform festhält, dann bedeutet dies auch das Bekenntnis, dass alle Bemühungen um alternative Ansätze scheitern müssen. Gemeint sind Versuche der Art, eine bestimmte Belegform, etwa die am häufigsten begegnende, die am weitesten verbreitete, die als sozial ausgezeichnet beurteilte oder auch eine spätere (im 19. oder 20. Jahrhundert als orthographisch ‚richtig‘ festgelegte), als Lemma anzusetzen. Kriterien dieser Art mögen für Einzelfälle begründbar sein. Sie öffnen aber allen Zufälligkeiten der Überlieferung historischer Schreibungen sowie heutiger Setzungen Tür und Tor und würden zu vollkommener Desorientierung des Nachschlagenden führen, damit auch das Problem der Auffindung von Schreibabweichungen nicht beheben (dies letztere auch nicht bei Umsetzung in heutige Orthographie, die ja das Überleben des Lemmazeichens bis in die Gegenwart voraussetzt). Das Konstruktlemma wird also die Lösung bleiben. 5. 1. Das ist – wie in Abs. 3. 1. 2 und 4. 6 gesagt – eine Gestalt, auf die alle belegten Schreibungen bezogen werden können und auf die sich auch
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
weiter auftauchende Schreibungen projizieren lassen. Die Formulierung eine statt die Schreibgestalt ist dabei bewusst erfolgt: Man kann für das Ahd. zum Beispiel eine bair. oder fränk., für das Mnd. eine nordniedersächsische und für das Frnhd. eine rip., eine nobd. oder halem. Idealgestalt konstruieren; man kann frnhd. Schreibungen mittels der Lautgesetze auf mhd. und nhd. sowie – wenn man dies denn unbedingt wollen sollte – sogar auf germ. und idg. Gestalten projizieren. Man kann dies deshalb, weil jede dieser Gestalten geographisch in jeden anderen landschaftlichen Schreibdialekt und historisch in jedes andere, ein vorangehendes wie ein nachfolgendes, Stadium einer Sprache oder gar in jede Sprache einer genetischen Sprachgruppe umsetzbar ist. Die strukturalistische Argumentation, die gerade oben formuliert wurde, lässt also keine Entscheidung darüber zu, wie man die Idealgestalt historisch, räumlich und sozial ortet, in welcher Sprachvariante man sie ausrichtet, kurzum: wie man sie substantialisiert. Wir haben also das in Abs. 3. 1. 3 bereits angesprochene Problem, wie der strukturell hergeleiteten Gestalt eine sinnvolle sprachsoziologische und -historische Anbindung gegeben werden kann. Damit treten die unter Abs. 3. 2 ff. genannten sprach- und allgemeingeschichtlichen, teleologischen, aufklärerischen Interessen, Raumorientierungen usw. wieder auf den Plan. – Ich schlage folgende generellen Verfahrensweisen vor: – Für Sprachstadienwörterbücher substantialisiere / konstruiere man auf die Sprachstufe hin, deren Wortschatz man behandelt, d. h. für das Ahd., Mhd., Frnhd. auf ein ahd., mhd., frnhd. Ideal hin, nicht also etwa bei einem ahd. Gegenstand auf das Germ. oder Mhd., bei einem frnhd. Gegenstand nicht auf das Mhd. bzw. auf das Nhd. hin.39 – Bei gegenwartsbezogen-diachronen, darunter bei den Fach- und Dialektwörterbüchern wähle man die Lemmagestalt der zur Zeit der Erarbeitung des Wörterbuchs gültigen Schriftsprache, also des Nhd., Nnl.,
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Diese beiden letzteren Möglichkeiten finden sich oftmals bei den Ausgabenglossaren; dabei sprechen die Üblichkeit des Normalmhd., die Funktion des Nhd. für alle nicht primär philologisch Interessierten sowie die uneinheitliche Periodisierung des Mhd. (bis etwa 1350 oder bis 1500) und des Nhd. (seit 1650 oder seit 1500) sogar für dieses Verfahren; man vgl. die Glossare von A. Koppitz, Göttw. Trojanerkrieg (mhd. Normalschreibung, mit Zusätzen); G. Buchda, Register zu der Schöffenspruchsammlung der Stadt Pössneck (grundsätzlich nhd. Lautform, aber Ausnahmen; s. Bd. 4, S. 16). In der Ausführung herrscht vielfach allerdings ein chaotisches Nebeneinander von mhd., frnhd. und nhd. Konstrukten sowie von Konstrukten und Belegformen. – Die gerade erschienene Ausgabe des Ständebuches von H. Sachs / J. Ammann (1568) setzt die Lemmata ihres Wortformenregisters in nhd. Form an (s. H. Blosen / P. Bærentzen / H. Pors, Bd. 2, S. 89).
3. Das Lemmazeichen II: seine Schreibgestalt
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Nengl., wie dies ja auch etwa vom DWB, WNT und OED, auch vom DRW (jeweils freilich mit Zusatzregelungen40) gehandhabt wird.41 – Sobald eine Sprachvariante gleichsam auf dem Sprung steht, sich aus dem Dachverband einer Schrift- und Hochsprache zu lösen (möglicherweise das Schweizerdeutsche) oder sich als eigene Sprache zu deklarieren (so jüngst das Letzeburgische), wähle man die Phonem- und Graphemgestalt, die innerhalb der Varianten des ‚neuen‘ (d. h. des mit neuem Status versehenen) Verständigungssystems sprachpolitisch präferiert wird. Die Befolgung dieser Empfehlung wäre dann bereits ein Zeichen für den Vollzug der Konstituierung einer neuen Sprache. – Innerhalb eines Sprachstadiums konstruiere man auf diejenige Variante hin, die nach geltender sprachhistorischer Einsicht als herausgehoben, ausgezeichnet, soziologisch höherschichtig beurteilt wird, für das Mhd. also auf das klassische Mhd. hin, für das Frnhd. auf das gehobene Oobd. / Nobd. / Omd. des 16. Jahrhunderts hin, für das Mnd. auf das Lübische hin, für das Nl. und Engl. auf deren je eigene Vorbildvarianten hin. 5. 2. Ob man die Ausrichtung der Sprachgeschichte des Ahd. auf das Fränkische als gehobene Variante oder des Asächs. auf den Heliand- und Genesisstand hin mit Kriterien wie ‚soziologisch ausgezeichnet‘ fassen kann oder auf Kriterien ganz anderer Art, insbesondere die Überlieferung, stützen muss, sei hier nicht weiter diskutiert. 6. Ein die Lemmagestalt von Wortbildungen betreffender, für sich selbst sprechender und deshalb nicht weiter diskutierter Sonderfall ist dann gegeben, wenn die Grenze zwischen den an der Bildung beteiligten Morphemen nicht in der gewünschten Weise durchsichtig ist. In diesem Falle empfiehlt sich ein Indikator zur Angabe der Morphemgrenze nach folgendem Muster: ab|erbitten zwischen aberbestand und aberchrist; vgl. ferner aber|dar, aber|falge usw.
40 Solche Zusatzregelungen können durchaus beachtliche Eigenheiten aufweisen; sie stellen aber auch dann die gültige Graphie nicht in Frage. Teils betreffen die Zusatzregeln lexikalische Einheiten, die es in der Schriftsprache der Beschreibungszeit nicht mehr gibt. 41 Eigens zu erwähnen ist, dass P. G. J. van Sterkenburg (1980, S. 237) selbst für das damals geplante VMNW, also für den nl. Wortschatz des 13. Jahrhunderts, einen Lemmaansatz nach nnl. Schreibung in die Diskussion bringt. F. de Tollenaere widerspricht ihm in einem Diskussionsbeitrag ebd., S. 244, im Sinne meiner Empfehlung unter dem obigen ersten Spiegelstrich. Inzwischen hebt die Inleidung des VMNW das „verwachtingspatroon“ >Erwartungsmuster< des Benutzers hervor und normalisiert innerhalb bestimmter Grenzen tatsächlich nach „modern gebruik“ (S. XXVIf.).
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
4. Das Lemmazeichen III: seine Ordnung 1. Hat man im Sinne von Kapitel 2 bestimmt, ob ein Lemmazeichen in das Wörterbuch aufgenommen werden soll, danach seine graphische Gestalt im Sinne des vorangehenden Kapitels 3 festgelegt, so ergibt sich die Aufgabe der lexikographischen Ordnung der Zeichen. – Dabei stellt sich zunächst die Vorfrage, was es denn nun genau sei, das da geordnet werde. Die Größe, die hier in Betracht kommt, ist – normalsprachlich ohne Wenn und Aber ausgedrückt und von allen theoretischen Problemen und Differenzierungen abgesehen – das ‚Wort‘. Genauer gesprochen und auf die lexikographische Praxis bezogen kann man es noch zugespitzter (und natürlich noch angreifbarer) fassen: Es ist das Simplex, das die Speerspitze des lexikographischen Tagesbetriebes bildet. Dies schlägt sich in verschiedener Weise nieder. Zu erwähnen ist z. B., dass die Bildungen mittels der überaus fruchtbaren und semantisch differenzierten Präfixe in der Lemmaliste lexikographischer Werke immer wieder hinter den Simplizia verschwinden (so bei M. Lexer, vgl. dort etwa abe-; s. auch T. Starck / J. C. Wells 1990, S. XIX: Alphabetisierung „nach dem Stamm, nicht nach dem Präfix). 2. Nun treten Simplizia aber nicht nur als freie lexikalische Einheiten auf, sondern gehen systematisch in Wortbildungen und Mehrworteinheiten aller Art (vor allem in Phraseme) ein. In vorliegendem Zusammenhang soll nicht interessieren, ob man diese Einheiten unter ein eigenes Lemma stellt und sie dem vollen, einem reduzierten oder gar keinem Behandlungsprogramm unterzieht. Interessieren soll vielmehr die Tatsache, dass man das Simplex in seiner Qualität, Kombinationseinheit sein zu können und tatsächlich sehr oft zu sein, gleichsam als Kern eines ganzen Feldes weiterer, in irgendeinem Sinne lexikalischer Einheiten betrachten kann. In diesem Fall wird man es mit einer irgendwie begründeten besonderen Würde ausstatten und ihm zusätzlich zu seiner faktischen Zentralstellung auch eine lexiktheoretische und -ideologische Vorzugsbehandlung welcher genauen Art auch immer einräumen. – Dies führt zu der Ordnungsfrage, allerdings über einige Umwege. 3. Zwei Möglichkeiten der Heraushebung des Simplexes scheinen mir auf der Hand zu liegen: (1) Man kann der Einheit – zutreffend oder nicht – ein herausragend hohes, am liebsten belegbares Alter zuschreiben und sie dann, versehen mit einer so gewonnenen Qualität, auch mit einem besonderen Ausdruck bezeichnen. Ich sehe diesen Weg in Termini wie Wurzel, Stammwort42, Sip42
So schon J. G. Schottelius 1663, S. 1270; vgl. ebd. auch die Kapitelüberschrift: Tractatatus [...] Qui continet Radices Seu Primitiva linguae Germanicae.
4. Das Lemmazeichen III: seine Ordnung
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penlemma, Sippenleitwort (diese bei R. Trüb 1985, S. 254), Sippenaufhänger (einer Ad-hoc-Bildung von H.-P. Schifferle 2011, S. 136) beschritten: Stamm- und Sippe- rufen die ganze Vorstellungswelt von Urvätern, Stammbäumen, Genealogien, historischen Konstanzen usw. hervor; -leit- suggeriert eine geschichtliche Steuerung in eine bestimmte Richtung. Es bleibt unbenommen, derartig leitende und oft alte Einheiten auch mit religiösen Auszeichnungen (etwa mit ‚Eigentlichkeit‘, besonderer Welt‚gemäßheit‘ usw.) zu versehen, wie dies in der Barockzeit üblich war und von da aus weiter gewirkt hat.43 In die Bildlichkeit passen auch Ausdrücke wie Ursinn, Urbegriff, Grundbedeutung. Gemeint ist teils die Zeichengestalt (etwa bei -wort), teils der Zeicheninhalt (bei -sinn, -begriff, -bedeutung), in der Regel beides. Aus heutiger Sicht könnte man – beide Seiten meinend – von Etymologemen sprechen. Ein ‚Etymologem‘ wäre dann diejenige lexikalische Einheit, die sowohl ausdrucks- wie inhaltsseitig gerne mit ‚Alter‘ konnotiert wird und nach bestimmten Regeln in neue lexikalische Bildungen44 eingegangen ist und weiter eingeht, ohne dass dies dem heutigen Sprachteilhaber erkennbar sein müsste. (2) Man kann eine solche Einheit auch ohne jede Konnotation mit ‚Alter‘ (usw.) in ihrer synchronen Funktion betrachten und sie dann als Morphologem bezeichnen. Ein ‚Morphologem‘ wäre dann diejenige Einheit, die ausdrucks- und inhaltsseitig nach bestimmten Regeln systematisch in größere lexikalische Einheiten eingeht, dabei aber in ihrer Ausdrucksgestalt und ihrem Inhalt erkennbar bleibt und das größere Gebilde, oft ganze Wortfamilien, dadurch durchsichtig macht. 4. In Wirklichkeit spielen ‚Alter / Zeit‘ und ‚Funktion‘ gerne zusammen, so dass im einzelnen nicht entschieden werden kann, ob eine lexikalische Einheit, die nicht Simplex ist, eher als Etymologem oder als Morphologem im vorgetragenen Sinne zu bezeichnen ist. Dementsprechend sollen alle in den nun folgenden Beispielen getroffenen Zuordnungen als komparativ im Sinne von ‚eher dies‘ als ‚eher das‘ verstanden werden. 5. Das Vorgetragene bedeutet lexikographisch die Möglichkeit, alle – wie dargestellt – herausgehobenen Einheiten unter irgendeinem Aspekt
43
Zur Veranschaulichung sei ein Zitat aus der (freilich späteren) Preisschrift von J. G. Meusel (1776; S. 1 der Einleitung) zitiert: Es geht „um das ganze System vom Ursprung der Wurzeln und ihren Grundbedeutungen; von ihrer Ausbreitung in die Aeste der untergeordneten Begriffe, und ihren Verwandschaften unter sich; wie auch die allgemeine Verbindung ihrer aller untereinander, samt ihrer Natur und Eigenschaften“. 44 Die Gesamtheit solcher Bildungen heißt sinnvollerweise Wortbildungs- bzw. Phrasemfeld; auch Wortfamilie (für ersteres) ist gebräuchlich und im beschriebenen Sinne motiviert.
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
zusammenzufassen und als Größe sui generis und eigener Würde in die Lemmaposition eines Wörterbuches aufzunehmen. Ideologisch könnte man in derartigen Bemühungen ein wortbildungsmorphologisches Analogon zu den oben (in Kap. 3, Abs. 3) immer wieder bemühten historisch und systematisch „richtigen“ gesamtsprachlichen bis einzelsprachenübergreifenden Schreibgestalten sehen, hinter denen natürlich Lautgestalten stehen. Dieser Fall läge bei all denjenigen Unternehmen vor, die einer der herrschenden Stammwortwortauffassungen zugeordnet werden können. Es geht mir hier nicht um eine Diskussion des Sinns oder der Geschichte des Stammwortbegriffes, der in mannigfachen Instrumentalisierungen seit der Barockzeit begegnet und im Kern sogar jeder Simplexorientierung auch der heutigen Lexikographie zugrunde liegt. Entscheidend ist vielmehr die Tatsache, dass man die Einbindung freier Morpheme in höherrangige Einheiten, besonders häufig in Wortbildungen und Phraseme, dazu nutzen kann, die Gesamtheit solcher durch mindestens 1 lexikalisches Morphem gekennzeichneter Bildungen zu einer eigenen Größe mit eigenen Gestaltkennzeichen und einer spezifischen, oft mittels Urbegriff, Ursinn, Grundbedeutung charakterisierten Basissemantik45 und mit besonders hohem Identifikationspotential erheben kann. Solche Einheiten bedürfen entweder eines eigenen linguistischen Ansatzes in einer bestimmten sprachgenetischen Form (in einem Etymologem) oder in einer Langue-Einheit (in einem Morphologem), die sie repräsentiert. Diese Repräsentationseinheit ist nichts anderes als ein Lemmazeichen; sie heißt – wie oben in Abs. 3 (1) gesagt wurde – in der Arbeitsstelle des Schweiz. Id. denn auch das Sippenleitwort oder Sippenlemma, bei E. Seebold (ChWdW8, S. 73) Grundwort46, bei J. Splett 1993 und 2009 sowie bei G. Augst 1998 (passim) Kernwort. Generell im Schwange ist weiterhin das barockzeitliche Stammwort. (1) Etymologeme konstruiert E. G. Graff in seinem Althochdeutschen Sprachschatz. Sie sind die primären Ordnungseinheiten und haben folgendes Aussehen: AB [zusätzlich zum Fettdruck durch die Schriftgröße herausgehoben], eine Wurzel, die dem sanskr. âp, adipisci [...] zum Grunde zu liegen scheint und auch wohl in einigen von den ahd. Wörtern, die in ihrer Stammsilbe ab, eb, ib, [...] enthalten, zu finden ist. [...] (Bd. 1, Sp. 69). – Dann folgt in Sp. 89 in etwas kleinerer Schrift: ABUH, (ab-uh, angels. awoh, torte, injuste, male,
45
Urbegriff begegnet bereits bei J. F. Kremsier 1822, S. 4, regelhaft bei J. Grimm (dazu: O. Reichmann 1991f) und weiterhin. 46 Die Bestimmung lautet: „bevorzugt ein tatsächlich belegtes Wort“.
4. Das Lemmazeichen III: seine Ordnung
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noch in Süddeutschland abich, abech; cf. ubil [...]. Bedeutung und Gebrauch: asper, [...], protervus [...], improbus [...]. (2) Morphologeme finden sich bei J. Splett 1993, und zwar auch dann, wenn zwar eine Wortbildung belegt ist, nicht aber ihr autosemer lexikalischer Bestandteil: -SCILBEN (nur in biscilben belegt); -SCÎZAN (nur in biscîzan und scîzwurz belegt); -SCÔDI (nur in obarscôdi belegt). Die Gestalt der Morphologeme deckt sich substantiell mit den Ansätzen des Ahd. Wb. (3) Repräsentationseinheiten (im hier gebrachten Beispielfall für ein Wortbildungsfeld) haben folgendes Aussehen: Kremsier 1822, S. 21: Band [...], zugeordnet werden: bintan >bindenverderbenFahnenzwangich habeeigen, was ich habeEigentumpatrimoniumeigen, was man selbst hatEigentümlichkeitEigenthum< [u. a.], eigene >[ich] spreche zu, mache eigen[ich] gebe zu eigenjn. abkanzelnDonnermacher im TheaterLob, Lobpreis< [...], zugeordnet finden sich z. B. (und zwar mit jeweiliger Wiederholung des Lemmas / Grundwortes): Ɨbandlob >Abendgebet< [...], lobhaft >lobenswertlobenswert, rühmlichLobloben, gutheißenSchutz gewähren, beschirmenSchirmwand(Schutz)schildSchutz(wehr), Schirm< fungieren Schutz und Schirm als Erläuterungsklammern. – Bei Splett 2009 (aus Raumgründen hier nicht aufgelistet) bildet >Aufmerksamkeit schenken< zu achten 2 eine von mehreren solcher Verklammerungslinien: Das bedeutungsindizierende Substantiv Aufmerksamkeit und / oder das Adjektiv aufmerksam erscheint wieder unter beobachten 1, Acht 1 und 2b, Achtung 2, achtsam 1 und unachtsam 1. – Im Schweiz. Id. gestaltet sich die Basissemantik teils – wie bei Donner – in einfacher, unmittelbar einsichtiger Weise, oft als lockeres, mal mehr, mal weniger explizites Gefüge inhaltlicher Anspielungen. So werden die Wortbildungen mit Wer I (aus Raumgründen nicht aufgeführt) immer wieder mittels Ausdrücken erläutert wie: Gewähr, Sicherheit, Garant, Garantie, -leitung, verbürgen usw. (s. H.-P. Schifferle 2011, S. 140); die Bildungen zu wachs (Bd. 15, Sp. 262 ff.) werden teils zusammengehalten durch behandlungssprachliches wachs (z. B. in mehrfachem Wachstum, in heranwachsen, Wuchs) oder durch framezugehörige Ausdrücke wie Pflanzung, Aufzucht, (An)bau, Wiese, Grasland, Getreide, Wald usw. Das Gleichgewicht zwischen derartigen Klammerungen einerseits und Ausklammerungen andererseits garantiert ebenso die Nachzeichnung vorhandener wortbildungsmotivationeller und sachlicher Zusammenhänge wie die bis zu völliger Demotivation reichende Lexikalisierung andererseits. Motiviert wäre dann eine Einheit so lange und in dem Maße, wie ihre Beschreibung auf Mittel wie die genannten (etymologisch identischen sowie framezugehörigen) Ausdrücke zurückgreift; demotiviert wäre sie in dem Augenblick, in dem solche Klammern nicht begegnen (man vgl. auch hier wieder Splett 2009). – Ohne weitere Erklärung einsichtig ist die semantische Klammer bei Seebold (mittels -lobund einiger Synonyme, etwa rühm-). 5. 2. Einige Sonderfälle, die in den vorliegenden Zusammenhang gehören, sollen lediglich angeführt, nicht weiter reflektiert werden: (1) Zunächst sei die Behandlung des Präfixes ab- in der Neubearbeitung des DWB erwähnt: Nach weit über 1000 Spalten einer Wortbildungsstrecke von abackern bis abzwitschern folgt (Bd. 1, Sp. 1337 ff.) ein in Petit gesetzter eigener Artikel mit ab- als Lemma und einer systematischen, auf abbezogenen Behandlung seiner wortbildungsmorphologischen Nutzung.
4. Das Lemmazeichen III: seine Ordnung
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(2) Immer wieder sind auch gebundene Morpheme Gegenstand lexikographischer Behandlung. So erscheinen bei BMZ etwa die Wortbildungsaffixe -ach, -ah, al-, -ære, -eht, -ei, -it usw. in der Lemmaposition; sie sind aber durchaus randständig. – J. Splett 1993 führt die Präfix- und Suffixwörter, also z. B. alle Einheiten mit den Präfixen sin- oder ubar(i)- bzw. mit den Suffixen -lîch oder -ing in eigenen Listen auf (in Band 2). 6. Das Alphabet ist die seit eh und je üblichste49 Ordnung der als wörterbuchwürdig befundenen Lemmazeichen, Etymologeme und Morphologeme, zusammengefasst: der Stichwörter. Es garantiert außerdem den sichersten Zugriff auf die lexikographische Information. Selbstverständlich gilt für jede Einzelsprache die für diese gültige Form des Alphabetes. Dessen hohe Rolle hatte schon Jacob Grimm im Auge, als er das Wörterbuch mit der „alphabetische[n] verzeichnung der wörter einer sprache“ (DWB 1, S. IX) gleichsetzte. Wenn er daraus allerdings folgerte, dass sie dem Wörterbuch „nothwendig“ sei, und sich dann über die „verderbliche“, da „die folge der wörter“ (ebd., S. XI) trübende Ordnung nach Wurzeln äußert, übersieht er, dass auch BMZ, auf die er seine Kritik bezieht, alphabetisch sortieren. – Entscheidend im Hinblick auf Grimms Kritik ist zweierlei: (a) Das alphabetische Ordnungsprinzip wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass verschiedene Lexikographen verschiedene Typen von Einheiten zum Gegenstand der Ordnung machen, auch nicht dadurch, dass man die Konsonanten als Gerippe nimmt und danach erst die Vokale einreiht (Schweiz. Id. und andere), auch nicht dadurch, dass man bestimmte Typen von Einheiten mittels besonderer graphischer Möglichkeiten (s. o. Anm. 43) gegen andere abgrenzt und dann zwei Alphabetschichten erhält, schließlich nicht dadurch, dass man nach bestimmten Motiven final- statt initialalphabetisch verfährt. (b) Da es im Wortschatz einer Sprache oder in den Köpfen ihrer Sprecher, mithin in keiner wie auch immer verstandenen Sprachontik eine Ordnung nach dem Alphabet gibt, hat die nach ihm erfolgende Anordnung keine sprachontische Adresse, sie leistet damit keinen Beitrag zur Behandlung (insbesondere nicht zur Beschreibung) von Wortschätzen, sie ist vielmehr ausschließlich ein Mittel, das der sicheren Auffindung lexikographischer Information dient, also im Handlungsrahmen von Lexikograph und Wörter-
49
Auf den möglichen Einwand, dass nur semasiologische Wörterbücher der alphabetischen Ordnung unterlägen, sei geantwortet, dass historische onomasiologische Wörterbücher kaum existieren und dass auch deren Stichwörter alphabetisch geordnet sein können.
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buchbenutzer, nicht dagegen im Beschreibungsrahmen (zwischen Lexikograph und Gegenstand) zu verorten ist. 7. Ein besonderer metalexikographischer Terminus für die Ordnung der Stichwörter hat lange Zeit nicht existiert. Man behalf sich mit Stichwortliste, Reihenfolge, Ordnung und ähnlichen normalsprachlichen Ausdrücken. Neuerdings spricht man vielfach von Makrostruktur, befindet sich also sowohl mit -struktur wie mit Makro- im Bereich einer fremdwortgestützten Terminologisierung mit irreführender Wirkung, da Struktur dazu tendiert, einen strukturierten objektartigen Gegenstand zu evozieren.
5. Das Lemmazeichen IV: seine Schreibungen 1. Gegenstand des vorliegenden Kapitels ist die lexikographische Behandlung der Schreibungen des einem Wörterbuch zugrundeliegenden Corpus. Dabei soll der Findeproblematik, d. h. der Schwierigkeit, eine Belegschreibung eines Lemmazeichens in einer Einheit der Lemmaliste eines Wörterbuches wiederzuerkennen, erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Insofern ist ein unmittelbarer Anschluss an Kap. 3 gegeben. Das Kriterium, dass der variierenden graphischen Gestalt des Lemmazeichens im Wörterbuchcorpus auch andere, eigenwertige lexikographische Interessen entgegengebracht werden können, tritt dann notwendiger sowie zugestandener Weise in den Hintergrund. Gemeint ist etwa, dass Schreibungen als Quelle historischer Graphiesysteme, als Indikatoren geschichtlicher Mündlichkeit50 (im Unterschied zu Schriftlichkeit), als Wegmarken für Entlehnungsvorgänge51 usw. fungieren können. Die Rechtfertigung für die hier vorgenommene Perspektivierung liegt in meiner Überzeugung, dass es für Schreibungen eine eigene Textsorte, nämlich den Laut- / Graphieteil historischer Grammatiken, gibt, die auch Antworten auf Fragen der angedeuteten Art zu geben vermag. 2. Die obige Diskussion über die Gestalt des Lemmazeichens (s. Kap. 3) kann unter skeptischer Perspektive auch wie folgt interpretiert werden: Ausgerechnet die Beschreibungseinheit, die das Auffinden lexikographischer Information garantieren soll (die linguistischen und ideologischen Funktionen bleiben hier außer Betracht), vermag diese Aufgabe nicht mit der Sicherheit zu lösen, die insbesondere der sprachgeschichtlich weniger Versierte
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Erinnert sei an die informell(er)en, der gesprochenen Sprache nahen / näheren ‚Vorakte‘ zu den formelleren Fassungen ahd. Urkunden (St. Sonderegger 1961). Hierzu am Beispiel poke >bag, sackeingeschlichen< hätten. In solchen Fällen – sie sind randständig – setzt man den gesunden Menschenverstand ein und teilt die diesbezüglichen Entscheidungen mit. (3) Die Redeweise, „alle“ Vorkommen zu dokumentieren, ist immer auf die Schreibungen des Corpus zu beziehen. Beim Nachschlagen, das von Texten außerhalb des Corpus ausgeht, sind zusätzliche, je eigene Schreibungen zu erwarten und teilweise die Regel. Der Quantor „alle“ gilt also höchstens bei Thesauri zu Kleincorpussprachen für die gesamte Überlieferungsmenge. Eine hinter der Überlieferung stehende sog. ‚historische Schreibrealität‘, verstanden als ersehnte Belegrealität, kann nie erreicht werden. Immer dann, wenn Überlieferungsmenge und Corpus differieren (also mindestens bei allen Großcorpussprachen), ferner bei allen neuen Textfunden und drittens immer dann, wenn man am handschriftlichen Original eines Corpustextes arbeitet, stellt sich also das Findeproblem: In diesen drei Falltypen trägt die Auflistung aller Originalschreibungen und aller Editionsschreibungen kaum etwas zur Entschärfung des Findeproblems bei. (4) Die Anzahl der Originalschreibungen kann, insbesondere bei mehrsilbigen Wörtern, so hoch sein, dass die Gewichtung der Informationen (z. B. auf Semantik, Grammatik) durch den Raumaufwand von Schreibungen unterlaufen werden kann.54 Ich sehe die Schmerzgrenze eines akzeptablen Umfangs des Schreibformenteils spätestens dann erreicht, wenn er mehr als ein ungefähres Viertel des Artikelumfangs einnimmt. – Extreme Ausmaße erreichen die Schreibungslisten bei R. Schützeichel, Glwsch., wo z. B. das ahd. Lemma agalstra mit nahezu 4 Spalten Schreibungsdokumen-
54 Eine sinnvolle Regelung zur Reduktion der Vielfalt, ohne dass Informationsverlust eintritt, findet sich im VMNW (Bd. 1, S. XXXVIII). Bezeichnend für das Problem ist auch die Aussage in der Einleitung von Sehrt / Starck 1955, S. X, dass die Beibehaltung allein „der Akzentuation der Handschriften die Unübersichtlichkeit der Belege ins Groteske gesteigert“ hätte.
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tation (allerdings einschließlich zugehöriger Belegstellenlisten und Weiterem) versehen ist und die Bedeutungsangabe sich auf Elster beschränkt.55 Aber auch das Ahd. Wb. und das WMU bieten – nach meinem Urteil quer zu ihrem insgesamt doch prioritär (oder nicht?) semantischen Anliegen umfängliche Schreibformenlisten.56 (5) Wenn diese Listen (insbesondere mit ihren in den einzelnen Wörterbüchern begegnenden Zusatzinformationen, Kürzeln) so umfänglich sind, wie aus dem gerade Vorgetragenen hervorgeht, dann bedürfen die einzelnen Einheiten ihrerseits der Überschaubarmachung durch eine feste Ordnung, in der Regel durch Alphabetisierung, wie im übrigen auch die im Folgenden, unter Abs. 2. 2 und 2. 3 genannten Möglichkeiten. Dies wiederum verlangt Druckraum. Für digitale Fassungen eines Wörterbuches gilt das Raumargument unter technischem Aspekt nicht, unter Rezeptionsgesichtspunkten aber ebenfalls. 2. 2. Man wählt aus der Masse der Schreibungen diejenigen aus, die das Spektrum originaler oder, falls diese nicht zugänglich sind, editionsphilologischer Schreibungen „sinnvoll“ repräsentiert. Als Kriterien könnten die Vorkommenshäufigkeit57 sowie die Raum-, Sozial-, Zeit- und Textsortenverteilung in Betracht gezogen werden. Die so zustande kommenden Auswahlschreibungen würden Vorkommensstatus (im oben diskutierten doppelten Sinne) haben, sich in der Praxis aber sowohl substantiell wie strukturell einem Konstruktlemma annähern, ohne ein solches zu sein. Für frnhd. haus kämen neben dieser Graphie mindestens hus, vielleicht auch haws in Betracht, für baum zusätzlich etwa boum, bawm, poum, pawm. Diese Beispiele zeigen, dass das Repräsentationskriterium in den allermeisten Fällen genau die geographischen und historischen Regelschreibungen beträfe, die keinem Nachschlagenden ein Auffindungsproblem bereiten dürften. – Im WMU wird offensichtlich ein Kompromiss zwischen drei Möglichkeiten angestrebt, erstens der Dokumentation des Gesamtbefundes im Sinne von 2. 1, Punkt (1), zweitens Schreibungen im Sinne des vorliegenden Absatzes und drittens dem im Folgenden (in Abs. 2. 3) behandelten Kriterium der
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Die Fairness gebietet anzuerkennen, dass R. Schützeichel ein anderes Anliegen hatte: die Dokumentation der Breite und Ergiebigkeit der Glossenüberlieferung. Auch hier sind Vorentscheidungen im Spiel: Der Thesaurusgedanke wurde auch auf die Schreibungen angewandt. – In www.oed. com., S. 12, heißt es zu den spellings des OED online: „The OED aims [!] to show every [Kursive im Original] form in which a word has occurred throughout its history“ (s. auch E. Weiner 2009, S. 399). Das OED spricht hinsichtlich seiner Formenlisten von „principal [...] forms“ (Bd. 1, 1989, S. XXVII); deren genauer Status scheint mir nicht geklärt zu sein, aber in den hier diskutierten Zusammenhang zu gehören. – Das DFWB nennt „geläufige, speziell fachsprachliche, orthographische Varianten“ (Bd. 1, S. 29*) als Schreibformen.
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Regelabweichung. So heißt es einmal, dass „in Einzelfällen, bei Wörtern mit besonders großer Varianz [...] der gesamte Belegbefund präsentiert [wird], um die Relation zwischen Norm und Abweichung zu verdeutlichen“; zum andern sei das aber nicht die „Regel“. Für den Fall, dass „Graphie, Wortbildung und Flexion“ von den Normen der Grammatik des Mittelhochdeutschen „abweichen“, würden diese „breiter dargestellt“. Es gibt also einen offensichtlich weiten Entscheidungsspielraum. Im einzelnen können die Schreibungen eines Lemmazeichens (Beispiel: acker, Bd. 1, Sp. 33 f.) einschließlich der eingestreuten (philologisch und graphiegeographisch hochkarätigen) Klassifizierungen, Raumzuschreibungen und Kommentare etwa die Hälfte des Artikels erreichen; die oben in Abs. 2. 1 (4) angesprochene Schmerzgrenze wäre nach meinem Ermessen überschritten. – Zu einem ähnlichen Urteil tendiere ich im übrigen auch hinsichtlich der Auflistung von Aussprachevarianten in sprachraum- sowie in dialektbezogenen historischen Wörterbüchern. Wenn etwa das Schweiz. Id. für Tansen >Rückentraggefäß< eine volle Spalte (Bd. 13, Sp. 722) oder für Schu(e)poss sogar eine ganze Seite (Bd. 8, Sp. 1041/2) für die systematische Dokumentation von Aussprachevarianten (und von Wortbildungen mit syntagmatischem Status) braucht und wenn dies in einer (zweifellos schwer vermeidbaren) mit Abkürzungen durchsetzten typographischen Form erfolgt, dann gerät die Funktion von Wörterbüchern hinsichtlich der Rezipierbarkeit einiger ihrer Inhaltspositionen auf den Prüfstand. – In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die Dokumentation von Schreibungen zeitaufwendig ist und insofern eine der Ursachen für überlange Bearbeitungszeiten von Wörterbüchern darstellt. 2. 3. Man wählt nicht im Sinne von Abs. 2. 2 irgendwie „repräsentative“ Schreibungen aus, sondern umgekehrt gerade diejenigen, die sich der Regelhaftigkeit entziehen, die von einer vorausgesetzten (z. B. nhd. oder mhd.) Bezugsschreibung stark abweichen, die nur schwach frequentierten, also nur wenige Einzelfälle abdeckenden Regeln zugeordnet werden können oder die aufgrund sonstiger Überlegungen als sinnvoll erscheinen. Auch wenn in den Wörterbucheinleitungen oder in lexikographischen Rahmentexten immer wieder suggeriert wird (so auch in meiner Einleitung zum FWB, Bd. 1, S. 75 – 76), dieses Verfahren sei methodisch kontrolliert und garantiere eine gewisse Beschreibungssystematik und damit Findesicherheit, so ist zu sagen, dass es weder hinsichtlich der Häufigkeit seiner Anwendung noch hinsichtlich seiner Anwendungsregeln so formulierbar und so handhabbar ist, dass der Benutzer Zugriffssicherheit hätte.58 Dennoch seien vorschlagsweise einige Beispiele genannt (jeweils FWB s. v.): 58
Typische Formulierungen lauten: „vielfach [sind] orthographische Nebenformen [sind
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frnhd. abenteuer: „md. auch ebenteuer, im älteren Frnhd. aventüre“. Es folgen kurze Bemerkungen über einzelne Graphien / Lautungen sowie Hinweise auf Literatur; im Hintergrund steht auch das Problem der möglichen Einheit bzw. semantischen Berührung von abenteuer und ebenteuer >Äquivalent, Pfand< (s. DWB, Neub., Bd. 1, 150); es kann auch ein Beispiel für einzelwortgebundene Umlautung vorliegen; ein Hinweis auf ofentüre fehlt aus Gründen, die nachvollziehbar sind, aber nicht nachvollzogen werden müssen, – frnhd. arbeit: „md., nobd. und wobd. auch erbeit“; den Grund bilden einzelwortgebundene Umlaute, – genannt seien weiterhin Metathesen, Hyperkorrekturen, Kontraktionen, Ablautvarianten, sog.59 Deformationen sog. Fremdwörter, alles Schreibungen, die im Alphabet von der Normalform abweichen. Diese Reihe ist offen. Ein Beispiel für Fremdwort„deformationen“ bietet das Lemma abbet im Mhd. Wb. (Bd. 1, Sp. 1), neben dem in Grundschrift auch abbât, abbate, abte angegeben werden; neben abbeteie (Sp. 2) erscheinen abbetîe, abdîe, abtei, diesmal in Halbfett und damit als Teil eines Mehrfachlemmas (beides ohne Verweis). Hier stellt sich natürlich die Frage, inwieweit der Normalisierungsgedanke überhaupt auf Fremdwörter anwendbar ist, da diese im allgemeinen weniger motiviert / durchsichtig sind als Erbwörter und damit einer erhöhten Varianz unterliegen; man vgl. etwa die Schreibungen abczucht, abeczucht, agtot, ayczocht, aytuch, aytzucht für ein aus aquaeductus hergeleitetes, unter 2 abzucht lemmatisiertes Wort (FWB, Bd. 1, Sp. 521). – Auch die weiteren Erscheinungen wären umfänglich belegbar. 2. 4. Ein Problem bildet auch die Reihenfolge der Belegschreibungen, wie ein Blick auf die großen Wörterbücher des Althochdeutschen (bzw. auch des Altsächsischen) ergibt. (1) Im Ahd. Wb. (Bd. 1, Vorwort, S. VI) heißt es: „Das Material ist so geordnet, dass man im allgemeinen von den am weitesten in der Lautverschiebung fortgeschrittenen Formen zu den unverschobenen und innerhalb dieser Ordnung von den altertümlichen zu den jüngsten Formen ansteigt. Man bekommt dadurch eine von Süden nach Norden fortschreitende geographische Gliederung und zugleich einen Überblick über die vom 8. und 9. Jahrhundert zum 11. und 12. [...] Jahrhundert sich hinziehende sprachliche
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das belegte oder halbnormierte Schreibungen?] neben die Normalform des Stichworts gesetzt“ (Mnd. Hwb., Bd. 1, im Vorspann). Ich sage deshalb sogenannt, weil Deformation ein wertender Ausdruck ist, der an der Vielfalt von Wortübernahmen vorbeigeht; er ist aber verständlich.
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Entwicklung“. Es sind also Buchstaben des Corpustextes (welchen genauen Status auch immer), die einer Ordnung unterworfen werden, und zwar in der Weise, dass sich das raumgeographische Prinzip mit dem zeitlichen in höchst ausgeklügelter Weise verbindet. Die Kombination beider Prinzipien scheint mir aber den Nachteil zu haben, höchstens dem Fachmann auf Anhieb verständlich zu sein, zumal noch eine Reihe von Einzelbestimmungen folgt. Zudem liegt sie – und das ist viel entscheidender – quer zur semasiologischen Grundanlage des Wörterbuches. (2) R. Schützeichel, Glwsch., ordnet die Belegschreibungen ebenfalls buchstabenorientiert; allerdings unterwirft er die Buchstaben seiner Belegschreibungen nicht Raum- und Zeitkriterien, sondern zwei Alphabetlinien: Die erste Linie bilden die Schreibung der nhd. Äquivalente: Ähre als Äquivalent von ahd. agana steht also vor Ährenspitze, Granne, Halm usw. Die zweite Linie bilden die ahd. Schreibformen selbst, und zwar pro Äquivalent. Ihre Abfolge wird in dem Augenblick unterbrochen, in dem eine neue Bedeutung angesetzt wird: agana ist also z. B. für den Bedeutungsansatz >Ähre< mit den alphabetisch geordneten Schreibungen agana, agena, agina, agini belegt; für alphabetisch folgendes >Ährenspitze< stehen agen und agene, für >Granne< agana, für >Halm< agan (usw.), weitere für >Streu< und Strohhalm< (Bd. 1, S. 68). Dieses Verfahren führt zu einigen Schreibformenwiederholungen, etwa von agana. Es hätte den Vorteil, mögliche bedeutungsgebundene Schreibdifferenzierungen auf einen Blick erkennbar zu machen, falls solche Differenzierungen in den ahd. und asächs. Glossengraphien tatsächlich angelegt wären. 2. 5. Unabhängig davon, wie stark man den Kopf des Artikels mit der Angabe von Schreibformen be- oder entlastet, gibt es die Möglichkeit eines zentralen Registers. Dieses könnte alle in den Kopf des Artikels übernommenen Varianten bzw. – da diese in der Regel wohl doch einer Auswahl unterliegen – alle Konstrukte und alle pro Lemma in den Belegen begegnenden Schreibungen in alphabetischer Ordnung enthalten; es würde wegen der Schreibvarianz der älteren und mittleren Stufen des Deutschen, Niederländischen und Englischen den Umfang eines dicken Buches erreichen, es sei denn, dass man es – sinnvollerweise – auf digitalem Wege zugänglich mache. Ein solches Register würde die Findemöglichkeiten einer Einheit entscheidend erhöhen, allerdings bei Homographien zu semantischen Irrläufen führen. 3. Die hier teils ausgesprochene, teils unterschwellige Skepsis gegenüber der ausführlichen – gleichgültig, ob selektiven oder vollständigen – Auflistung von Schreibungen unterliegt außer den vorgetragenen Bedenken der folgenden, in diesem Buch durchgehend vertretenen und hier noch ein-
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mal zugespitzt formulierten Überzeugung: Lexikalische Einheiten sind hinsichtlich ihrer Bedeutung (Autosemantica) bzw. ihrer Funktion (Synsemantica) jeweils einmalig, singulär. „Ieder woord moet op zich zelf beoordeeld worden“ (so das WNT, Bd. 1, S. XLIII). Keines dieser in der Größenordnung eine sechsstellige Menge erreichenden Unikate ist einer anderen genau gleich: Keines lässt sich z. B. semasiologisch in genau gleicher Weise in Einzelbedeutungen (Sememe) untergliedern, die damit ihrerseits bereits als Unikate gesehen werden müssen; keine dieser Untereinheiten lässt sich in genau gleicher Weise in ein volles Deckungsverhältnis mit denjenigen einer anderen Einheit bringen, keine hat eine genau gleiche Verteilung über die Muster der Syntax wie eine andere oder geht in genau gleicher Weise in Wortbildungen oder Phraseme ein, und keine trägt in genau gleicher Weise wie eine andere zur Textbedeutung bzw. Texthandlung bei, keine hat schließlich die genau gleiche Pragmatik wie eine andere. Dass dies nicht von jeder Belegsituation bestätigt wird und dass es in bestimmten Zusammenhängen durchaus möglich sein muss, vorbehaltlos etwa von Synonymie zu sprechen oder syntaktische, pragmatische usw. Ähnlichkeiten anzuerkennen, wird damit nicht bestritten. – Für das gemeinte Inventar von Unikaten gibt es eine alte, anerkannte und leistungsfähige Textsorte, das Wörterbuch. Es kann demnach nur die zentrale Aufgabe haben, die Singularität seiner Einheiten zu behandeln. 4. Bezieht man dies auf das potentielle Gewicht von Schreibvarianten, dann ist vorab anzuerkennen, dass der Benutzer einen Einstieg in das Wörterbuch finden muss. Nach allem bisher Vorgetragenen kann dieser nur über ein Konstruktlemma, bei Voraussetzung einer dem Benutzer zugeschriebenen Identifikationskompetenz über diese und zusätzlich vielleicht über regelabweichende Sonderschreibungen des in Abs. 2. 3 angegebenen Typs erfolgen. Es bleiben aber immer Risiken. Für jedes Lemmazeichen rein additiv durchzudokumentieren, in welchen genauen Graphien es original oder editorisch normiert vorkommt, würde einen endlosen Beschreibungsballast verursachen und außerdem unterstellen, dass die Schreibung das eigentlich Relevante an Sprache sei. Demgegenüber wird man aber doch wohl annehmen können, dass Wörterbuchbenutzer lexikographische Werke zur Hand nehmen, um typisch lexikographische Information zu suchen; dann würde die Auflistung von Schreibungen möglicherweise eine gelehrte Darstellung von Graphieverhältnissen sein, aber keinem Benutzerinteresse außer – pauschal gesagt – demjenigen von Graphiehistorikern entgegenkommen. Für deren Anliegen aber gibt es eine eigene Textsorte, und zwar die Graphie- bzw. Lautteile historischer Grammatiken, wie sie etwa in der Reihe Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte vorliegen.
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6. Wortbildungsvarianten, Flexionsmorphologie und Etymologie des Lemmazeichens Die in der Überschrift genannte Trias von Gegenständen wird hier mit unterschiedlicher Ausführlichkeit behandelt. Am stärksten gewichtet ist die Etymologie. 1. Unter Wortbildungsvarianten sollen diejenigen Ausdrücke verstanden werden, die systematischen Mustern und zeit-, raum- oder sozialtypischer Variation unterliegen, ferner in einer bestimmten Zeit neben anderen solcher Ausdrücke vor allem bedeutungsgleich oder so bedeutungsähnlich gebraucht werden, dass – möglicherweise auch aufgrund eines eingeschränkten Belegbefundes – keine semantischen Unterschiede erkennbar sind. Eine schärfere Bestimmung wird hier deshalb nicht vorgenommen, weil sich vorhandene Schreibungen und für sie vorauszusetzende Lautungen, mindestens also Gegebenheiten der etischen (‚realisierten‘) und emischen (‚systemischen‘) Ebene der Sprache, mit solchen der Morphologie in einer derartigen Weise mischen, dass eine empirienahe Typologie in ein lexikographisch irrelevantes und kaum handhabbares Labyrinth führen würde. Mischungen und Überlagerungen dieser Art gelten für natürliche Sprachen generell und für ältere Sprachstufen infolge des Fehlens einer Leitvariante in verstärktem Maße. 1. 1. Gemeint ist – hier demonstriert an einigen Beispielen des Mhd. Wbs. – das Nebeneinander von z. B. – abegründe, abegrund: alte Stammbildungsvarianten erscheinen in einem Doppellemma, – abegrüntlicheit, abegrüntlichkeit: Schreibvarianten des Suffixes bzw. Suffixüberlagerungen erscheinen in einem Doppellemma, – abe|rinnic, aberennec, aberünnec: Bildungen, die als ablautverschieden behandelt werden, erscheinen in einem Mehrfachlemma, – abe|trinne, abetrunne: ebenfalls; für abetrünnede (mit eigenem Suffix) wird ein eigenes Lemma angesetzt, – abetrünne, abetrünnec: suffixverschiedene Adjektive stehen unter je einem Lemma, – abe|troc, abe|getroc, âgetroc: â- und abe sind laut Et. Wb. Ahd. 1, Sp. 2 und 4, etymologisch unterschiedene Einheiten, trotzdem wird ein Mehrfachlemma angesetzt, – abe|wîse, â|wîse (ebenfalls), – ackes, aks, axt: hier sind wohl Erscheinungen der etischen und / oder silbenstrukturellen und / oder schreibästhetischen Ebene für das Mehr-
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fachlemma verantwortlich; das Diminutiv ackeslîn erscheint aber unter eigenem Lemma, – albel, albchen, albling: Diminutive und die -ling-Bildung stehen in einem Mehrfachlemma, – allersamen, allersam, allersamet: verschiedene Kasus als Grundlage der Adverbbildung werden in einem Mehrfachlemma repräsentiert; auch epithetisches -t ist in die Lemmaposition übernommen. 1. 2. Entscheidungen dieser Art begegnen in allen historischen Wörterbüchern. Sie ergeben sich aus der graphischen und wortbildungsmorphologischen Polymorphie und aus der Fülle und Heterogenität der Überlieferung. Beides muss lexikographiepraktisch in irgendeiner Weise bewältigt werden. Dabei kommt es den Wörterbuchautoren offensichtlich nicht darauf an, einer bestimmten Typologie zu genügen, sondern so zu verfahren, wie es der jeweilige Belegbefund gerade als sinnvoll erscheinen lässt. Eine gewisse Improvisation wird somit in Kauf genommen oder gar ausdrücklich anerkannt. Vom Benutzer nimmt man mit Recht an, dass es ihm um Relevanteres geht als um Fragen der hier angesprochenen Art. Er wird sich wohl kaum dafür interessieren, ob man allersamen oder allersamet geschrieben hat, sondern insbesondere etwas über deren semantischen (vielleicht noch den syntaktischen) Gebrauch erfahren wollen. Die in allen aufgeführten Beispielen beachtete Voraussetzung für den Ansatz von Mehrfachlemmata ist bezeichnenderweise denn auch die Tatsache, dass sich die betreffenden Schreibungen und Wortbildungsvarianten semantisch nicht unterscheiden lassen. Der Umkehrschluss, dass je ein eigenes Lemma für eine semantische Differenz steht, gilt dagegen wohl nicht. Faktum ist jedenfalls, dass es einen Überlappungsbereich zwischen etischer / emischer und wortbildungsmorphologischer Ebene gibt, der unterschiedlich, z. B. je nach Belegfrequenz oder sonstigen Praxisgegebenheiten, bewältigt wird und der bei Nutzung aller Möglichkeiten, insbesondere beim Vorliegen funktional gleicher oder ähnlicher, aber ausdrucksverschiedener Wortbildungsmorpheme, zu vielen zusammenfassenden und damit weniger raumaufwendigen Behandlungen unter einem Mehrfachlemma führen kann. Dieses Kriterium der Funktionsgleichheit würde bei strikter Anwendung eine Häufung von Mehrfachlemmata zur Folge haben, tendentiell nämlich all diejenigen Bildungen zusammenbringen, die z. B. W. Henzen (1965) unter den Überschriften ‚persönliche Bildungen‘ (etwa mittels ahd. -o, -aere usw.), ‚Kollektiva‘, ‚Abstraktbildungen‘, ‚Stoffadjektiva‘ usw. behandelt. Offensichtlich sind es die dann auftretenden neuen Probleme, vor allem die Mehrdeutigkeit von Wortbildungsmorphemen, gewesen, die dies verhindert haben. – Im übrigen sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die pragmatische Verteilung der
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jeweiligen Formen, vor allem die Geltung in Zeit und Raum, bei dieser Betrachtung unbeachtet blieb. 2. Die Morphologie (hier eingeengt auf die Flexion; zur Wortbildung s. Teil D, Kap. 12) ist ein Teilbereich der Grammatik, vielleicht sogar derjenige Teil, in dem sich Grammatik am prototypischsten zeigt. Daraus folgt, dass den morphologischen Angaben im Wörterbuch, insofern dieses als ureigentlichste Textsorte zur Behandlung jeweils singulärer lexikalischer Einheiten anerkannt wird, zwar eine Informationsposition eingeräumt werden muss, dass diese aber nur im Sinne der Zuordnung zu einer morphologischen Wortart, zu einer Klasse der Wortart oder zu sonstigen Systemgegebenheiten gefüllt sein sollte. Dazu stehen in allen Lexikographien der hier im Blick befindlichen Sprachen kurze, bei allen Verschiedenheiten im Detail stark konventionalisierte, dementsprechend mehr oder weniger verbindliche Behandlungsmuster bereit. Eine eingehende Darlegung erübrigt sich, da sie pro Sprache und Sprachstufe nur zur Wiederholung von Bekanntem und zur Aufzählung rein materialbezogener Üblichkeiten führen würde. 2. 1. Zur Veranschaulichung des Typs der Angaben wären zu nennen: – Für das Deutsche: z. B. Adv., stM (so bei Lexer und im Mhd. Wb.), m. / f. / n. (Mnd. Hwb.), swv. (schwaches Verb; Lexer), V., unr., abl. (FWB), – für das Mittelniederländische: st. ww. intr. (sterk werkwoord >starkes Verbschwaches SubstantivAdjektivsteigensteigen machensingen< eine Entsprechung hat, dann wird man der Aufmerksamkeit eben so sicher sein wie in dem Fall, dass man im Biergarten einer Gruppe von Englischsprachigen auf ihre diesbezügliche Frage hin mitteilt, dass Weißbier erst einmal nichts mit der Farbe weiß, sondern mit Weizen / Weisse, engl. wheat, zu tun habe und erst bei Annahme eines germanischen Ablautverhältnisses mit weiß in Verbindung gebracht werden könne (W. Pfeifer 2000, Et. Wb., S. 1553). In Situationen dieser Art geht es weniger um Lautgesetze als darum, dass ganze Schichten von Interesse, Tiefsinn, speziell von alten Sprach- und Sachzusammenhängen, von Volkswissen, von wahrer, eigentlicher, da ursprünglicher Bedeutung, von ihrer geschichtlichen Verschüttung (nach einem mindestens barocken Verfallsmodell), von alten historischen Gemeinsamkeiten, von sprachlicher Verortung in der Gegenwart usw. aufgewirbelt werden. Letztlich ist man wieder bei der nationalen oder patriotischen Motivation der Lexikographie (vgl. Teil A, Kap. 5). – Die Volksetymologie hat hier ein reiches Betätigungsfeld, wenn nicht gar der Übergang von Volksetymologie (vgl. H. Olschansky 1996) und wissenschaftlicher Etymologie ohnehin fließend ist (oder zumindest lange Zeit war).
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3. 1. Es entspricht (neben rein wissenschaftlichen Interessen) auch Anliegen der gerade angedeuteten Art, dass es für die Etymologie ein Wörterbuch eines eigenen und mit hohem Prestige aufgeladenen Typs, eben das etymologische Wörterbuch, gibt. Als Beispiele seien genannt: Et. Wb. Ahd.; Kluge / S., Et. Wb.; W. Pfeifer 2000; Duden / Et. (für das Deutsche); J. de Vries 1997; P. A. F. van Veen / N. van der Sijs, Et. Wb. Ned. (für das Niederländische), OED / Et.; W. W. Skeat (für das Englische). Trotzdem stellt sich die Etymologiefrage auch für andere Typen historischer Lexikographie, und zwar sowohl für sprachstadienbezogene wie für gegenwartsbezogen-diachrone Werke unterschiedlichster Art. Sie setzt die im alten Universitätsunterricht anerzogene Ausgangshaltung voraus, dass eigentlich jedes ordentliche historische Wörterbuch die Herleitung der Wörter aus ihren Ursprüngen in die Behandlung einbeziehen müsse.60 3. 2. In den älteren Werken ist dies mit beachtlichem Gewicht, wenn auch in unterschiedlicher Art und unterschiedlichem Umfang der Fall. Je nachdem, ob ein Fremd- oder Erbwort vorliegt, ob das Erbwort etymologisch isoliert ist oder nicht, ob Verwechslung mit ähnlichen Bildungen droht oder nicht, ob es Gelegenheit zu interessanter Information welcher Art auch
60 Es ist angesichts der Existenz des OED und der etymologischen Wörterbücher des Engl. auffallend, dass der Etymologie in den gegenwartsbezogenen Wörterbüchern (z. B. von H. C. Wyld 1961) und selbst in den Sprachstadienwörterbüchern eine hohe Rolle zugesprochen wird. Dies gilt nicht nur für ältere Werke wie F. H. Stratmann, der letztlich auf etymologische Identifizierung zielt (dazu kritisch das Preface von F. H. Bradley 1891), sondern z. B. auch für das MED, das nach dem Plan H. Kuraths (1954, S. 7) zwar (in eckigen Klammern) nur „the immediate source“ der mengl. Einheit angibt, dann aber doch sehr viele inner- wie außerenglische Entsprechungen und differenzierte Entlehnungswege als relevant für die „remoter history“ des Wortes ins Spiel bringt. Im Grunde wird für jedes Lemmazeichen der gesamte Block germ. und rom.-lat. Zusammenhänge, wie er für etymologische Wörterbücher typisch ist, angegeben. Selbst in der Lexikographie engl. Dialekte hat die Etymologie ein erhebliches Gewicht; vgl. EDD, Preface, S. Vf. – Entsprechendes gilt für das Nl.: Dort gibt es eine ganze Serie etymologischer Dialektwörterbücher (z. B. A. A. Weijnen 2003; F. de Brabandere 2007). – Von den historischen Großraum- bzw. Mundartwörterbüchern des Deutschen haben z. B. die folgenden eine eigene Informationsposition ‚Etymologie‘: das BWB (nach dem Bedeutungsteil), das WBÖ, Schmeller / F, weniger systematisch: das Shess. Wb. Das Meckl. Wb. bringt vereinzelt die mnd. Vorstufe des Lemmazeichens und Erklärungen auffallender Lautungen. Ähnlich verfährt das Schles. Wb. Das Osächs. Wb. hat hier und da eher wortgeschichtliche als etymologische Erläuterungen am Ende des Artikels. Ausgesprochen etymologiefreundlich ist dagegen das Schwäb. Wb. Es bringt einen unterschiedlich ausführlichen und je nach Lemmazeichen und Bedeutungsansätzen variierenden etymologischen Hinweis bzw. Verweis am Fußende eines Artikels, im einzelnen mit Nennung der ahd. Vorstufe des Lemmazeichens, mit ausdrucksgeschichtlichen Erläuterungen zur Pluralbildung, zu Kasusformen, Hinweise auf das Vorkommen von Flurnamen usw. Eine Sonderstellung nimmt das Schweiz. Id. ein (dazu Genaueres in Kap. 3, Abs. 4. 7 sowie im folgenden Abs. 3. 4 (3).
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immer gibt oder nicht, ob andere Anlässe vorliegen oder ob dies nicht der Fall ist, verfährt man nach folgenden Möglichkeiten: – Man geht von einer späteren Sprachstufe (etwa der Hochsprache, einem Dialekt) nach rückwärts in vorangehende Zeitstufen, teils in verwandte germ. Sprachen (besonders in das Got., Aengl., Anord.), teils in andere idg. Sprachen (besonders in das Lat., auch in das Griech. und gerne auch mal in das Sanskrit); – man geht (auch zusätzlich) von einer früheren Sprachstufe (etwa dem Mhd.) nach vorwärts auf Entsprechungen in den heutigen Hoch- und Schriftsprachestufen, teilweise auch in den Mundarten (so das Schwäb. Wb.); – man schaltet mehr oder weniger ausführliche diskursive Teile zur ausdrucks- und inhaltsseitigen Entwicklung, zur Benennungsmotivik, zu zugehörigen Sachgrundlagen, zu Entlehnungswegen61 u. a. in den Artikel, meist in den Artikelkopf oder in seinen Schlussteil, ein; – man konstruiert aus dem so zustande kommenden Befund ein Etymon, also eine möglichst alte (ieur.) Wortwurzel, bestehend aus einer Urgestalt und einer Urbedeutung; – man schließt die Nennung von Einheiten des zugehörigen Wortbildungsfeldes an; – man verbindet diese Möglichkeiten in mehr oder weniger standardisierter Form. Auch wenn Reduktionen einzelner dieser Punkte und Abweichungen bestehen, ergibt sich speziell für das Erbwort ein hintergründiges Pflichtprogramm, das ich als ‚indoeuropäistisch‘ charakterisieren würde: Rückgrat des Artikels ist eine Linie vom Indoeuropäischen zur Gegenwart. 3. 3. In der Fremdwortlexikographie mit Entlehnungen aus nicht ieur. Sprachen kann die indoeuropäistische Argumentationslinie nicht mehr gelten. An ihre Stelle tritt ein anderer Erzählstrang bzw. ein Bündel solcher Stränge: Ein fremdes, z. B. arabisches, Etymon wird in eine Vermittlersprache (VS in Abb. 13), etwa in das Französische, übernommen, von dort aus in eine bestimmte Zielsprache, etwa das Deutsche, sowie in weitere Sprachen entlehnt. Die Zeitlinie von ‚indoeuropäisch‘ zu ‚gegenwärtig‘ verliert ihre
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Der Bezug von Etymologie und Sachgrundlage kann sogar in die Untertitel etymologischer Wörterbücher eingehen. Das diesbezügliche Programm (meist ein unreflektiertes Versatzstück) lautet: „origin of words and their sense development thus illustrating the history of civilization and culture“ (S. Klein 1966). Bei C. H. Richardson herrscht sogar die Gleichung one word – one radical meaning. Da diese letztere ‚sensible objects‘ als Bezugspunkt hat, gerät die gesamte Tropik und mit ihr die gesamte Wortgeschichte in die Abhängigkeit von Sachen.
6. Wortbildungsvarianten, Flexionsmorphologie und Etymologie des Lemmazeichens
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Dominanz; die Etymologie und mit ihr die Wortsemantik weitet sich von ihrer prototypischen Einsträngigkeit in den europäischen Raum hinein aus, gewinnt eine gleichsam quersträngige, horizontale Komponente. Abb. 13 möge dies veranschaulichen.
Abb. 13: Der Artikel Gazelle als Beispiel für ein Fremdwörterbuch mit nicht indoeuropäischer Ausgangssprache (aus: R. Tazi 1998, S. 202)
3. 4. Im einzelnen erfolgt dies alles teils systematisch und in feiner Ausdifferenzierung, teils mit gewissen Prioritäten, teils mit Abtönungen bis zur bloßen Andeutung hin, teils fachlich hochkarätig und teils mit volksetymologischen Zügen, oft nach den gerade geltenden Arbeitsbedingungen, natürlich auch unsystematisch nach dem je einzelnen Urteil des jeweiligen Lexikographen, teils ausführlich (speziell bei isolierten Wörtern), teils reduziert, wenn man nur allzu Bekanntes wiederholen würde, teils konzentriert auf eine ausgewählte Einheit eines Wortbildungsfeldes (die man dann z. B. Stammwort nennen kann), teils wurzelfasziniert (wie bei E. G. Graff 1834; J. Grimm im DWB), teils wurzelskeptisch (wie im OED 2000).62 Generell hat man als Rezipient dennoch eine hohe Wahrscheinlichkeit, direkt oder indirekt an die Etymologie heran- oder wenigstens in den Kreis etymologi-
62
In dessen Vorwort 2000 (http://www.oed.com/about/oed3-preface/etymology.html) heißt es: „References are no longer made to hypothetical reconstructed Indo-European forms. Instead, etymologies refer to recorded cognates formed from the assumed base“.
198
D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
scher Verweisungen hineingeführt zu werden, in den ein Wort gehört und von dem aus man auf ein prototypisches etymologisches Wörterbuch stößt.63 (1) Eine besondere Hilfe in diesem Zusammenhang bildet das ChWdW8 / 9 E. Seebolds (2001; 2008), indem es mit seinem ‚Grundwort‘ (etwa ahd. QUEMAN) und dessen nhd. Entsprechung (>kommenGestade< [...] zu stân (Bd. 2, Sp. 1143), außerdem systematische Verweise auf BMZ, für die etymologische Zuordnungen obligatorisch sind. Das Schwäb. Wb. verbindet seine etymologischen Hinweise (s. Anm. 60) je nach Strecke mit der Angabe des entsprechenden Lemmas und damit seiner Etymologie im Schweiz. Id. Einige nicht primär etymologische, sog. „deutsche“ Wörterbücher erklären die Etymologie zu einem zentralen Bestandteil ihrer Information: „einzig würdig erschien mir die Absicht, zu zeigen, wie heutige Form und Bedeutung unserer Wörter von alten Zeiten her geworden, gewachsen und geändert sind“ (so M. Heyne, Dt. Wb. 1890, Sp. VI); noch deutlicher spricht H. Hirt im Vorwort zu Weigand, Dt. Wb. (1909, S. VI) von einem „unabwendbare[n] Bedürfnis“ nach Etymologie. – Folgender Ausschnitt aus Weigand / Hirt möge die sich daraus ergebenden Gewichtungen veranschaulichen:64
Abb. 14: Etymologie in einem gegenwartsbezogenen historischen Wörterbuch (F. L. K. Weigand 1909, Bd. 1, S. 81) 63 Systematisch erfolgt dies im ÖWB; vgl. Beih. 2, S. 14f. 64 Es geht hier um eine Gruppe von Wörterbuchautoren in der Tradition J. Grimms und des DWB; vgl. die Zusammenstellung von W. Braun in J. Dückert 1987, S. 148.
6. Wortbildungsvarianten, Flexionsmorphologie und Etymologie des Lemmazeichens
199
(2) Ein Gegenbeispiel bildet das Wörterbuch der deutschen Sprache von D. Sanders. Seine Kulturidee ist eindeutig aufklärungsbestimmt, damit auf die Funktion der Sprache in einer Gesellschaft bezogen, die er sich bürgerlich verfasst und national einheitlich sprechend und schreibend wünscht. Wenn er trotzdem nicht auf die Etymologie verzichtet, sie aber im Unterschied zu J. Grimm (DWB) nicht im Kopf des Artikels abhandelt, sondern an dessen Schluss stellt, dann kann das zwar als Zeichen für die Reduzierung des Gewichtes etymologischer Belehrung gewertet werden, aber eben auch dafür, dass man nicht auf sie verzichten zu können meinte. (3) Einige Werke, die in ihrer Entstehung auf die Jahrzehnte um 1900 zurückgehen und die Etymologie als einen relevanten Bestandteil ihrer Artikel konzipiert und realisiert haben, halten hinsichtlich der Rolle der Etymologie – mit welchen Detailveränderungen auch immer – an ihrer zeitbedingten Konzeption fest. Kurz behandelt seien hier das Schweiz. Id. und das Ahd. Wb. – Das Schweiz. Id. bringt am Schluss der Behandlung des Sippenleitwortes oder eines zugehörigen Lemmazeichens Hinweise zum Gesamtkomplex von Etymologie / Bedeutungsbezug / Wort- und Phonemgeographie sowie -geschichte und weiterem im jeweiligen Einzelfall Relevantem. Diese Informationsposition kann im Umfang eine in Petit gedruckte volle Seite65 oder nur wenige Zeilen umfassen. Sie macht inhaltlich jede Vorstellung eines Wortes als einer isolierten Einheit dadurch unmöglich, dass sie es in innersprachliche, auch sprachenübergreifende Zusammenhänge etymologischer und wortbildungsmorphologischer Art stellt. – Das Ahd. Wb. realisiert seine etymologischen Zuordnungen im Kopf der Artikel durch Angabe von Entsprechungen in anderen älteren und mittleren germ. Sprachen sowie durch eine gewisse Anwendung des Stammwortprinzips. Für das Lemmazeichen eitar >Eiter< (Bd. 3, Sp. 235) ergibt sich dadurch folgendes Bild: eitar [...], mhd. eiter, nhd. eiter, asächs. Ɲttar, mnd. etter, mnl. etter, aengl. átar [...], anord. eitr. Durch eine Position ‚Abl[eitungen]‘ am Schluss des Artikels findet man: eitarhaft, eiterîg, eitarlîh, eitarôn, unter diesen dann wieder die außerahd. Entsprechungen.
65
Zusammen mit der etymologierelevanten Dokumentation von Schreibungen; vgl. etwa bei Schu(e)poss; Bd. 8, Sp. 1040f.; s. auch Tansen; Bd. 13, Sp. 731; Trüegel, Bd. 14, Sp. 671; Gewer, Bd. 16, Sp. 978.
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
–
In die gleiche Reihe gehören z. B.: das Mnl. Wb. (mit ausführlichem Etymologieteil im Artikelkopf), auch das DRW (allerdings mit stark reduziertem Programm). 3. 5. Neuerdings konzipierte oder auch einige ältere, aber noch in Arbeit befindliche Werke tendieren66 dazu, die Etymologie auszuklammern bzw. auf besondere Fälle einzuschränken. Als systematisches Beispiel für diese Entscheidung und einige damit verbundene Weiterungen soll zunächst das FWB etwas ausführlicher vorgeführt, danach das Mhd. Wb. kürzer angesprochen werden. Generell sei noch angemerkt, dass die deutschen Mundartwörterbücher mit historischer Komponente in den letzten Jahrzehnten insgesamt zu einer zunehmenden Reduktion der Etymologie neigen, der genannten Tendenz also ebenfalls unterliegen. (1) Die Ausgangsüberlegung zum FWB lautet: Es gibt etymologische Wörterbücher (hier:) des Deutschen, deren Niveau vom Lexikographen historischer Sprachstadien nicht nebenbei erreicht werden kann. Diese Werke sind zudem preisgünstig zugänglich. Ihre Etymologien zu übernehmen, würde nicht nur zeit- und druckraumaufwendig sein, sondern auch die Aufmerksamkeit des Lexikographen von seiner im Beispielfall semantischen Stoßrichtung ablenken. Da andererseits die Identifizierung einer lexikalischen Einheit, das soll hier heißen: ihre Erkennbarmachung und ihre Zuordnung zu einer dem Lexikographen bekannten Inventareinheit, eine stützende Funktion für die Bedeutungserfassung haben kann, ergeben sich die Leitlinien: – Wenn die Identifizierung eines Wortes (etwa von frnhd. abend, abenteuer, arbeit, achse, haus, heim, stellen) jedem Deutschsprachigen leicht möglich ist, wird auf etymologische Angaben verzichtet. – Ist dies nach Einschätzung des Lexikographen nicht der Fall, so wird im Kopf des Artikels in kürzest möglicher Form genau die Menge an etymologischen Andeutungen vorgetragen, von der der Lexikograph meint, dass sie „mit einem Schlage“67 zu dem zugleich wort- wie bedeutungsidentifizierenden Aha führt, das der Nachschlagende als Erfolgserlebnis für die Wortidentifizierung braucht. Diese Regel liegt quer zu der Unterscheidung von Erb- und Fremdwort, da es isolierte68 Erb- und etymologisch fruchtbare Fremdwörter gibt. Dies 66 In vielen Fällen geschieht dies aus arbeitstechnischen Gründen und mit dem Ausdruck des Bedauerns. 67 So sagte J. Grimm in einem vergleichbaren Zusammenhang, nämlich der Verwendung lat. Ausdrücke zur „Worterklärung“ (DWB, Bd. 1, Sp. XLVI). 68 Das Kriterium der Isolierung wird von Ph. Durkin (2009, S. 59) als eines der zentralen Motive für Etymologie generell angesprochen: „our ideal etymological coverage [...]
6. Wortbildungsvarianten, Flexionsmorphologie und Etymologie des Lemmazeichens
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heißt aber nicht, dass der Lexikograph nicht die Möglichkeit hätte, Fremdwörter durchschnittlich häufiger mit Etymologiehinweisen zu versehen als Erbwörter. Aber auch für letztere ist es, etwa im Fall busse, erhellend, wenn mitgeteilt wird, dass es mhd. buozze entspricht, und wenn dies als Besserung erläutert wird. (2) Einen im Rahmen etymologischer Angaben immer wieder diskutierten Sonderfall bilden Homonyme. Man kann Homonyme nach semantischen Kriterien bestimmen, sie also dann ansetzen, wenn eine Ausdrucksgestalt mehrere ‚weit voneinander entfernte‘ Bedeutungen aufweist. Das sollen diejenigen sein, die man assoziativ nur mit besonderem ‚Witz‘ im Sinne der Aufklärung oder gar nicht miteinander verbinden kann. Als Beispiele mögen Schloss >Türschloss< und >Herrschaftsanlage< oder Bart >Haarbüschel im Gesicht< und >Schlüsselbart< gelten. Die Frage, wann hinreichende semantische Differenz vorliegt, ist nicht lösbar, so dass sich die semantisch begründete Möglichkeit der Trennung von Homonymie und Polysemie aufhebt. Wenn man dem zustimmt, dann bleibt nur die Möglichkeit, Homonymie etymologisch zu definieren, sie also einmal dann anzusetzen, wenn in jüngerer Zeit gestaltgleiche Ausdrücke (etwa 1Weide und 2Weide) sich auf Vorstufen zurückführen lassen, die in älterer Zeit gestaltverschieden waren69 oder wenn gestaltgleiche Ausdrücke schon in der ältest möglichen Bezugszeit, also im Indoeuropäischen, gestaltgleich waren, aber eine unbestreitbar unterschiedene Wurzelbedeutung hatten.70 Mir ist bewusst, dass in dieser Formulierung wieder das gerade als nicht handhabbar beurteilte semantische Kriterium durchschlägt. Es findet sich in der Etymologie aber angewandt und ist natürlich ein Ausgangspunkt für unterschiedliche Entscheidungen. (3) Im FWB wird Homonymie dem Vorgetragenen entsprechend nach etymologischen Kriterien bestimmt und dann durch einen sog. Homonymieindikator, eine Hochzahl vor dem Lemma, angegeben. Falls es Wortbildungen zu einem als Homonym angesetzten Lemmazeichen gibt, und falls diese gestaltgleich mit Wortbildungen zu einem seiner Homonyme sind, wird angestrebt, dass die Wortbildungsbasis, also Homonym 1, und die zugehörigen Wortbildungen jeweils die gleiche Hochzahl erhalten und sich so von den Einheiten des Wortbildungsfeldes zu einem Homonym 2 unter-
69 70
will include: [...] any word which has a form which is not explicable by the productive wort-formation processes“. Im Falle Weide gilt das schon für das Mhd: wîde >Weidenbaum< versus weide >Graslandgewiss, sicherGewissheitwissenGewissenGleichheit, dazu 1gleich (Adj.) >gleichähnelnsozusagenGelenkgelenkigsich bewegengelenkig machengelenkigStufung, Ordnung, GradaufschichtenSennhütteVieh auf die Alpweide treibenBahn< und 2 ban >BannLamm< / lam >lahmErz< bezogen werden könne, oder auch Anschlag, das man sich konkret ‚mit Nagel und Hammer‘ (auch auf andere Weise) vorstellen könne (jeweils s. v.).78 Der Zwang, zu einem solchen Urbegriff zu kommen, ist so ausgeprägt, dass Grimm als der Finder relevantester Lautgesetze (u. a. von Grimm’s Law) durchaus auch zu Etymologeleien79 bereit ist, die er dann in Konjunktive, Fragen und ähnliche Mittel der selbstkritischen Abstandnahme kleidet, aber dennoch in zum Teil überlangen Formteilen seines Wörterbuches vorträgt. Beispielhaft wäre hier die Etymologie des Substantivs Arm zu nennen: Zwei Wörter, also das Adjektiv arm und das Substantiv Arm, die „in laut und buchstabe einstimmig“ seien, aber „ganz verschiede-
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Vergleichbare Kennzeichnungen finden sich in der Vorrede von E. G. Graff, Ahd. Sprachsch. 1834, S. IV: sinnlich, anschaulich, eindringlich, unmittelbar, auch schöpferisch. Es sind geradezu Leitwörter der historischen Lexikographie des 19. Jahrhunderts. Parallelen begegnen in der niederländischen und anglophonen Lexikographie; vgl. Teil A, Kap. 5. Es geht mir bis zu diesem Punkt nicht um eine Aussage im Sinne von ‚richtig‘ oder ‚falsch‘; interessanter scheint mir der Vergleich mit den heutigen etymologischen Wörterbüchern zu sein. Dieser ergibt: Weder W. Pfeifer 2000 noch E. Seebold 2002 noch G. Drosdowski 1989 (Duden) setzen die Wurzel im Sinne von ‚Anschaulichkeit‘ an, sondern formulieren relativ generische und abstrakte Inhalte. Eine Untersuchung der Implikationen des Einen (J. Grimm) bzw. der Anderen hinsichtlich der Konzeption von ‚Germanisch‘, ‚Urgermanisch‘ oder ähnlichen Entwürfen sowie hinsichtlich der Frage ‚poetische Gestalt‘ versus ‚Begriff‘ könnte geistes- und speziell sprachgeschichtstheoretisch zu höchst interessanten Ergebnissen führen (vgl. dazu auch Kap. 7. 5. 2, Abs. 6). – Im übrigen ist bezeichnend, dass im OED online (nach längerer Vorgeschichte) eine wurzelskeptische Haltung herrscht; vgl. Anm. 62. Natürlich hat man das schon früh gewusst bzw. hätte man es wissen können: 1873 sah R. Hildebrand offensichtlich die Zeit als reif genug an, J. Grimm einerseits ein Denkmal zu setzen, da er „in seiner grammatik den weg jenes [d. h.: Goethes, O. R.] gegenständlichen denkens auf dem sprachgebiete zuerst [...] betreten habe. Andererseits aber habe er in seinen Etymologien Luft- und Fehlsprünge vollzogen (so im [Vorwort] zu Band 5 des DWB, Sp. IXf.). Der gesamte Duktus des Absatzes hat sarkastische Züge. Eine Reduktion des Gewichtes der Etymologie ist die lexikographische Konsequenz. – Auch L. van Helten hat nahezu gleichzeitig (1874) auf die „Unhaltbarkeit“ vieler Etymologien J. Grimms hingewiesen und eine Liste mit Berichtigungen gebracht. – Heute stehen J. Grimms Etymologien generell unter einem kritischen Stern.
6. Wortbildungsvarianten, Flexionsmorphologie und Etymologie des Lemmazeichens
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nen wurzeln anzugehören scheinen“, werden auf der Suche nach einer Einheit sinnlich-anschaulicher Art zugleich fragend und erbaulich miteinander verbunden: „wie gefühlvoll erschiene die sprache, welcher der arme ein solcher ist, den man mitleidig [...] in die arme schlieszt“ (DWB, Bd. 1, Sp. 553). Hinter diesem Konzept steht die Auffassung, dass ‚Urbegriffe‘ jeweils spezifisch für eine Sprachfamilie, für die zugehörigen Einzelsprachen und Einzelsprachvarianten gültige Gegebenheiten sind, die möglicherweise das Denken der Sprecher dieser Sprachfamilien (usw.) beeinflussen und dann für sie erkenntniskonstitutiv sein könnten, so dass irgendwo am äußeren Horizont seiner Andeutungen80 oder deren Instrumentalisierung durch interessierte Andere die Sprachgemeinschaft als Erkenntnisgemeinschaft dastünde. Die Brücke zur reservierten Behandlung der Fremdwörter ist offensichtlich.81 3. 7. 1. Ich habe dies alles relativ ausführlich vorgetragen, um das volle Ausmaß der mit J. Grimms Etymologien verbundenen Ideologie offenzulegen. Natürlich ist nicht zu leugnen, dass Etymologie eine Fachwissenschaft ist, die zunächst einmal dem Ursprung der Wörter nachgeht, also eine Tätigkeit ausübt, die selbstreflexiv, mit nachprüfbaren Methoden und mit nur schwer anfechtbaren sprachgeschichtlichen Erkenntnissen maximal objektive Ergebnisse erarbeitet. Sie verfolgt aber auch und möglicherweise sogar dominant eine Kulturidee, die der Zeit der Entstehung des DWB und den nationalen Interessen des Bürgertums des 19. Jahrhunderts verpflichtet ist. Es ging nicht primär um ein Wörterbuch, das der Dokumentation des Sprachgebrauchs der Zeit zu Zwecken kognitiver Aufklärung und Sprachkritik oder zu Zwecken der rationalen Kontrolle des eigenen Sprechens und Schreibens dienen sollte und von seiner ganzen Anlage her hätte dienen können, sondern es ging um ein Werk, das dazu gedacht war, alle Deutschsprachigen auf das ihnen gemeinsame Band der Sprache und Literatur zu verpflichten. Es griff dazu tief in die Geschichte, verlängerte das Deutsche 80 Ich formuliere hier bewusst vorsichtig, da das Verhältnis von Sprache und Erkenntnis kein zentrales Anliegen J. Grimms war und niemals mit der theoretischen Tiefe etwa W. von Humboldts oder der frühen Romantik (dazu: J. Bär 1999) diskutiert wurde (Stichwort: ‚Poetizität der Sprache‘). Auch hinsichtlich der Fremdwortfrage zählt J. Grimm nicht zu den Falken (vgl. J. Grimm, [1968], S. XX). 81 Die im Zusammenhang mit der Taschenbuchausgabe des DWB (1984) stehende Auseinandersetzung um den Status des ‚Fremdwortes‘ kann hier nicht nachgezeichnet werden. Ich verweise auf die Bibliographie von A. Kirkness / H. E. Wiegand 1991 unter den Autorennamen W. Böhlich, H. Neumann / Th. Kochs sowie auf H. Brackert (1988); vgl. auch H. E. Wiegand 2006. – Zur Sozialgesetzlichkeit des Zusammenhangs zwischen Patriotismus und Fremdwortideologie s. H. / R. Kahane (1992, S. 20): „the treatment of foreignisms evolves as an effective means to the purpose“ (nämlich: patriotic attitudes, O. R.).
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
über das Althochdeutsche hinaus nach rückwärts und verfuhr dabei so großzügig, dass das Germanische und selbst das ‚Indogermanische‘ (wie man statt Indoeuropäisch sagte) als Vorläufer des Deutschen erscheinen konnten bzw. dass umgekehrt das Deutsche als die historisch zwar vielfältig gebrochene, letztlich aber doch natürliche, nicht durch einen Sprachenwechsel (wie er im romanischen Sprachraum vollzogen wurde) von seinen Ursprüngen entfernte und deshalb als zu pflegende Fortsetzung des Indogermanischen ins kollektive Bewusstsein eingehen konnte. Reichert man sprachbezogene Kontinuitätskonstrukte dieser Art mit der Vorstellung einer wie auch immer gedachten Kontinuität sprachkonstituierter Völker und Kulturen an, dann entsteht eine Größe mit hohem politischem Überzeugungs- und Identifikationspotential: Zeit- und Raumkonstanz, Einheitlichkeit der Sprachträger (eines Volkes, mehrerer verwandter Völker), Gemeinsamkeiten des Schicksals, der Kultur, der Religion wären ihre tragenden Pfeiler, die Anlage und Ausrichtung des Wortschatzes ihr Spiegel. Von hier gewinnt die oben (Kap. 3) beschriebene lautgesetzlich begründete Idealgestalt differierender Schreibungen und Lautungen eines Wortes eine dort bereits angedeutete ideologische Dimension. 3. 7. 2. Im übrigen sei an dieser Stelle exkursartig und in Stichworten ergänzt, dass vieles des gerade Vorgetragenen gewisse Wurzeln in der Barockzeit hat: Genannt seien der Hauptsprachenbegriff (im Gegensatz zum Begriff abgeleiteter Sprachen), das Stammwort, die Bedeutungskonstanz mindestens seit dem Turmbau zu Babel, die Eigentlichkeit usw. (vgl. J. G. Schottelius 1663, Chr. Gueintz 1641; dazu A. Gardt 1994, O. Reichmann 1989). Einer der Kernsätze barocker Sprachtheorie lautet: „[...] Grundsatz ist dieser: Daß die selbige Sprache die allerälteste seyn müsse / welche die allerältesten Wörter / und die eigentlichsten Bedeutungen der Dinge habe“ (J. G. Schottelius 1663, S. 31). 3. 8. Auch im WNT hat die Etymologiefrage laut Inleiding von M. de Vries eine gewichtige Rolle gespielt. Einerseits denkt man – dies unter dem Einfluss der Brüder Grimm und im Geist der Jahrzehnte vor 1900, also kulturzeitentsprechend – in den Geleisen von einem aartsvader >Erzvater< am Beginn der Entwicklung, von afstamming, von taalboom >Sprachbaum< mit vertakkingen >VerzweigungenZweigen< und spruiten >Sprossen< und teilt die Begeisterung, die sich aus den damit verbundenen Vorstellungen ergibt. Dementsprechend will man den „rechten der etymologie“ keinen Abbruch tun; Ursprung, Bildung und Geschichte jedes Wortes sind also zu behandeln. Allerdings hat dies – und hier wendet sich die Argumentation kritisch gegen die etymologischen Spekulationen der Brüder Grimm – kurz und bündig (beknopt en bondig) zu geschehen, jedes breit-
6. Wortbildungsvarianten, Flexionsmorphologie und Etymologie des Lemmazeichens
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spurige Erörtern, Raten und Vermuten, eitles Unterstellen82 sei zu vermeiden und habe bescheidenem Schweigen (bescheiden stilzwijgen) zu weichen. Etymologie könne in einem Wörterbuch vom Typ des WNT sowohl aus Gründen der Darstellung wie aufgrund von Nachschlageinteressen nicht den Status von onderzoek >wissenschaftlicher Untersuchung< haben, sondern nur denjenigen der Mitteilung sicherer Erkenntnisse (zekere kennis), wie sie in einer eigenen, nicht lexikographischen Disziplin zu gewinnen ist (Bd. 1, S. LV – LVIII). Ähnlich kritisch verfährt das VMNW (Bd. 1, S. XXXIX): Man bietet nur dann etymologische Information, wenn diese neu oder genauer als die vorhandene ist. Eine Ausnahme bilden die Entlehnungen aus romanischen Sprachen. – Die gegenwärtige Wörterbuchlandschaft des Niederländischen belässt der Etymologie einen herausragenden Platz. Ich verweise hier (wiederholend) erstens auf die etymologische Lexikographie zu Dialektwortschätzen, darunter A. A. Wijnen 2003 (dialektübergreifend) und F. de Brabandere 2007 (zum Zeeuws / Seeländischen). Zweitens sei die standardsprachliche etymologische Lexikographie hervorgehoben. Innerhalb dieser sind besonders zu erwähnen: das Et. Wb. Ned. 2003f. (3 Bände, bisher: a- bis r-), J. de Vries 1997, P. A. F. van Veen / N. van der Sijs 1997. 3. 9. In der Geschichte der ‚hohen‘ Lexikographie des Englischen beißen sich – ähnlich wie im WNT – verschiedene Gesichtspunkte der Gewichtung der Etymologie. S. Johnson will in seinem Wörterbuchplan von 1747 entsprechend dem Uranliegen jeder Etymologie denjenigen „primitive natural sense“ des semasiologischen Feldes an den Anfang seiner Bedeutungsreihe stellen, der der Ursprungsbedeutung am nächsten kommt, und diesem Ansatz dann alles Weitere, entscheidend durch eine Verbindung von Logik und Abstraktion Bedingte, folgen lassen.83 Sein Wörterbuch (1755) trägt diese Idee noch im Titel: Dictionary of the English Language: in which the Words are Deduced from their Originals […]. Die Praxis der Tagesarbeit stellte sich der Realisierung dieses Programms dann weitgehend entgegen. Außerdem war die stark präskriptiv gesteuerte Belegung der angesetzten Bedeutungen mit Zitaten aus Autoritäten, den best writers vergangener
82 83
Die kritischen Ausdrücke lauten im nl. Text: gissing >RatenSelbstbetrugused as Englishklar unterscheidbar< oder gar >deutlich, mit allen Bestimmungen von Ähnlichem unterscheidbarin gutem Pfluglanda< oder >b< zuordnen soll.103 Hin- und Herentscheidungen, fortwährendes Abwägen im komparativen Sinne von ‚eher das‘ oder ‚eher das andere‘, Zusammenfassungen von Beleggruppen, die man erst einmal getrennt hatte, oder umgekehrt: Tren103 Eine interessante, aber nur zeitweilig diskutierte Möglichkeit, dieser Schwierigkeit gerecht zu werden, besteht darin, innerhalb des Belegblocks eine eigene Rubrik „ambiguous instances“ einzurichten. Ch. C. Fries hat dies für das EMED vorgeschlagen und zusätzlich mit einer wortgeschichtlichen Hypothese verbunden: Ambige Belege seien als „unspecialized meanings“ die Vorstufe für späteren Bedeutungsverlust (= Aufgabe einer Verwendungsweise) oder für eine spätere Bedeutungsspezialisierung. So interessant diese Thesen sein mögen, sie haben bedeutungstheoretische Voraussetzungen, die ich nicht teilen kann: Ambige Belegvorkommen werden als „noch“ defizitärer Zustand der Sprache verstanden, während sie doch nur den Grad der Exaktheit haben, der einem Textverfasser gerade als notwendig erscheint. Es ist wieder das aufklärerische Bild von Wort- und speziell Bedeutungsgeschichte mit seiner Annahme einer Geschichtslinie von ‚verworren‘ über ‚klar‘ zu ‚deutlich‘, das hier interferiert (vgl. R. Bailey 1980, S. 208, mit Abb. des Fries’schen Vorschlags).
7. Zur Bedeutung des Lemmazeichens
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nungen von Belegen, die man im ersten Zugriff zusammengefasst hatte, sind die den lexikographischen Alltag bestimmenden Folgen. So könnte man etwa im Artikel art des FWB einen Teil der Belege unter Position 8. >Abstammung, Geburt; Herkunft< auch unter die Position 9. >Geschlecht, Gattung, Art< oder unter 10. >Nachkommenschaft< stellen. Bei arbeit wäre es ohne weiteres möglich, zumindest einige der Belege, die unter Bedeutungsansatz 1, nämlich >Widrigkeiten, [...], Qual, Not, Anfechtung [...]KriegsbeschwernisseMühe der Gottsuche< oder gar unter 6. >anstrengende Tätigkeit zum Erwerb des Lebensunterhaltes< zu stellen. Fälle dieser Art sind nicht das Resultat langen Suchens im Wörterbuch, sondern finden sich auf jeder Seite. (2) Im übrigen hängt die Einteilung natürlich von praktischen Vorgaben aller Art ab; in einem Einbänder wird man stärker zusammenfassen, zu anderen Erläuterungsformen greifen als in einem Zehnbänder und die Mitteilungsgewichte anders verteilen. (3) Das Ergebnis des Sortierungsganges ist ein Gliederungsentwurf mit folgenden Eigenschaften: Er beruht auf dem Textverständnis eines einzigen Kopfes, nämlich desjenigen des Lexikographen; er ist demnach vorläufig und bedarf der Begründung; er ist auf den Umfang und den Zweck des Wörterbuches abgestimmt. Zu diesem Status gibt es keine Alternative. Selbst wenn man gewisse Absicherungen gegen ausufernde individuelle Züge des Entwurfes, wie sie etwa im Kollegengespräch erfolgen, zugesteht, bleibt die Idiolektalität des Entwurfs unbestreitbar. Es steht des weiteren außerhalb jedes Zweifels, dass auch der spätere fertige, etwa im Druck in die Öffentlichkeit gegebene Wörterbuchartikel zu erheblichen Teilen die Schöpfung einer einzigen Person ist und immer sein wird.104 3. Bisher wurde beschrieben, wie man aus Belegen über eine allgemeine Orientierung, über die darauf folgende genauere Beleginterpretation und Ähnlichkeitsbeurteilungen der dabei entstehenden einzelbelegbezogenen Bedeutungshypothesen zu Zusammenfassungen und Abgrenzungen und mit ihnen zu einem Gliederungsentwurf eines Wörterbuchartikels kommt. Die Gewinnung und inhaltliche Bestimmung der Einheiten dieses Entwurfs, oben als Weg zu systemhaften Bedeutungen (und zwar zu Einzelbedeutungen, Sememen) charakterisiert, war dabei das erklärte Ziel, wurde aber noch nicht im Detail, in ihren einzelnen lexikographischen Praktiken, Entscheidungen, Handlungen, Verfahren vorgeführt. Dies soll Gegenstand der folgenden Absätze werden. Ich gehe dabei so vor, dass ich die Bedeutungs104 Vgl. hierzu wieder die Aussagen über die Rolle der Individuallexikographie: Teil A, Kap. 3, Abs. 12, 1.
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
erläuterungen einiger ausgewählter Wörterbücher auf die Frage hin zu analysieren versuche: Was genau müssen die jeweiligen Lexikographen getan haben, dass sie zu den Erläuterungen und damit zu den Bedeutungen gekommen sind, die man als Ergebnis ihrer Tätigkeit gedruckt im Wörterbuch findet? Als beispieltauglich herangezogen werden: das Ahd. Wb., das Mhd. Wb., das FWB, das DWB, das Mnl. Wb., das OED.105 Dabei wird auch die schon mehrfach angesprochene Horizontverschmelzung wieder zur Sprache kommen, also einerseits die Interferenz der Vergangenheit in das semantische Unterscheidungspotential desjenigen heutigen Wissenschaftlers, der sich jahrelang mit ihr beschäftigt hat, und andererseits das Hineinschlagen von Bedeutungsunterscheidungen des heutigen deutsch-, niederländisch-, englischsprachigen Lexikographen in die Semantik derjenigen Sprachstufen, die er zu behandeln hat. Der Lexikograph, seine Operationen und seine Formulierungen – obwohl Gegebenheiten der Behandlungsgegenwart – werden also als Teil des historischen, etwa mhd. oder mnl., Bedeutungsgespinstes gesehen, das einmal als Gegenstand im Visier des Lexikographen steht, dessen Teil er aber auch selbst ist. – Bei alledem kann es nur um Einzelbeobachtungen gehen. Deren Ziel ist nicht eine systematische Typologie der Gewinnung von Systembedeutungen in den genannten Werken, sondern eine eher impressionistische Zusammenstellung einiger offensichtlich im Kopf des Lexikographen vollzogener Schlüsse, die dann seine Feder leiten und zur Formulierung dessen führen, was man als Systembedeutung zu bezeichnen gewohnt ist (auch wenn man Zweifel an der Angemessenheit dieses Terminus haben kann). Eine besondere Rolle werden bestimmte Ausdrücke seiner Belege (s. die folgenden Absätze 3. 1 bis 3. 3) und einige im Schwange befindliche, sprachliche Identitäten (mit)bestimmende Denkmodelle (Abs. 3. 5 bis 3. 7) finden. Ich versuche also, aus den Formulierungen und identitätenstiftenden Unterscheidungen des Lexikographen, die einen Großteil seiner Tagestätigkeit ausmachen, aber kaum zusammenhängend untersucht wurden, herauszufiltern, wie er zu seinen Bedeutungen bzw. Bedeutungsansätzen gekommen sein muss.106 Im Hintergrund steht dabei immer auch der Gesichtspunkt der Differenz von normalsprachlich verlaufender lexikographischer Praxis und metalexikographischem Anspruch.
105 Aus Raumgründen werden nicht alle Wörterbücher für jeden der folgenden Punkte angeführt; vereinzelt ziehe ich zusätzliche Wörterbücher zu Rate. 106 Mit der Beschreibung dieser Muster kommt man in die Nähe einer Erläuterungstypologie, auch Defi nitionstypologie genannt. Obwohl sich im folgenden einige Erläuterungstypen herausschälen werden, geht es mir hier nicht um eine Typologie (dazu sei auf Vorschläge von M. Schlaefer 2009, S. 95; H. Schmidt 1986, S. 41 – 71 verwiesen), sondern eher um die ganze Vielfalt und Buntheit tatsächlich vollzogener Erläuterungen.
7. Zur Bedeutung des Lemmazeichens
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3. 1. Bedeutungsformulierungen und damit Einzelbedeutungen kommen dadurch zustande, dass der Lexikograph einzelne Ausdrücke der Belege in die Bedeutungsformulierung übernimmt, und zwar solche, die er als synonym mit Ausdrücken der Behandlungssprache interpretiert hat, d. h. hier so viel wie: von denen er annimmt, dass sie sich im Laufe der Geschichte semantisch nicht so stark verändert haben, dass ihm das in seiner Tagespraxis aufgefallen wäre. In ihrem neuen Zusammenhang werden diese Ausdrücke natürlich mit anderen Erläuterungsteilen zusammengeführt, gewichtet, konstruktiv verarbeitet. – Beispiele sind: (a) Ahd. Wb.: Die Erläuterung der Bedeutung 1bĮ von ahd. êuua lautet „[...] Gebote Gottes als Vorschrift [...]“; das erläuterungssprachliche „Gebot“ greift das in einem der ahd. Belege begegnende gibot wieder auf. (b) Mhd. Wb.: „Not, Mühsal, Leid; Anstrengung“ (s. v. arbeit 1) folgt aus belegtem nôt und mehrmals belegtem lîden;107 „Liebessehnsucht“ unter arbeit 1, 2 ergibt sich aus liebet, senelich und mehrmaligem senende der Belege; „leidvolle Mühen des Minnedienstes“ (ebenfalls unter 1, 2) korrespondieren wieder mit leit, mit minne sowie mit dienst und dienen; „Entbehrungen leidend“ (s. v. arbeitsælic) folgt aus lidend. (c) FWB: „Widrigkeiten, [...] Qual, Leid, Not, Anfechtung, Mühe […]“ (s. v. arbeit 6) leiten sich her aus mühe (mehrmals), not, wiederwärtigkeit, leiden (V.) der Belege. – Die „[...] grundlose Tiefe [...]“ in der Erläuterung von abgrund 5 ist vorgeprägt durch grundeloser abgrund eines Belegs. (d) Mnl. Wb.: s. v. aposteme erscheinendes „gezwel“ >Geschwulst< ergibt sich aus belegtem gezwal. – Die Angaben zu arbeit 4 „Moeite, leed, verdriet, smart, pijn“ korrespondieren mit leet, pin, smert der Belege. – Das Verb arbeiden II wird als „pijnigen [...]“ erläutert und mit der Form ghepijnt belegt. (e) DRW: läutern im Sinne von II 1 „e[inen] Rechtsspruch [...] erläutern, klären, erklären aufklären, entscheiden“ ist von der Reihe (normalisiert:) läutern, verklären, bescheiden der Belege her motiviert. 3. 2. Bedeutungsformulierungen und damit Einzelbedeutungen kommen dadurch zustande, dass der Lexikograph Belegausdrücke aus dem Quellentext (etwa aus einer Isotopiekette) eines Lemmazeichens oder aus einer bekannten anderssprachigen (etwa einer lateinischen) Vorlage des Quellentextes herauslöst, sie mehr oder weniger frei, unter Beibehaltung der Wort-
107 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurden in dieser Strecke einige Schreibvereinfachungen in Richtung auf die Normalform vorgenommen. Sie sind inhaltlich irrelevant. Die Unterstreichung signalisiert die gemeinten Korrespondenzen.
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
art oder auf irgendeine phrastische Weise in die Erläuterungssprache übersetzt und das Übersetzungsäquivalent in die Erläuterung übernimmt. Das Äquivalent ist bei sprachinterner Übersetzung ein Synonym, bei sprachenübergreifender Übersetzung ein Heteronym.108 Synonym / Heteronym werden meist ein lexikalischer, können aber auch ein phrastischer Ausdruck sein. Dieses Verfahren unterscheidet sich von dem in 3. 1 beschriebenen insofern, als Belegausdruck und Übersetzung ausdrucksseitig differieren; inhaltsseitig wird aber ein hinreichender Grad an Ähnlichkeit angenommen.109 – Beispiele sind: (a) Ahd. Wb.: Die Attribute in „von edlem vornehmem Geschlecht“ s. v. edili können als Übersetzung des (in der Quellenvorlage für edili belegten) lat. ingenui et nobiles gelten. Wir haben also eine dreiteilige Erläuterungskette: von lat. nobilis zu heteronymem ahd. edili, von diesem zu nhd. synonymem edel und vornehm. – Das Lemma êcht bedeutet „1) Besitz, [...], Eigentum, Vermögen, Hab und Gut, Reichtum“; in lat. Umgebungen der ahd. Belege für êcht finden sich divitiae, possessio und weitere partielle Heteronyme. Hier verläuft die Kette wie folgt: von zwei lat. Ausdrücken zum ahd. Heteronym, von da zu zwei nhd. Synonymen. (b) Mhd. Wb.: verlorniu arbeit erscheint als „vergebliche Mühe“ (s. v. arbeit 1. 3), „Entbehrungen leidend“ folgt aus wetĤnde übungen; mhd. verlorn wird also mit erläuterungssprachlichem vergeblich, mhd. wetĤnde mit leidend übersetzt. 3. 3. Die vorgetragenen Punkte 3. 1 und 3. 2 beziehen sich auf bestimmte, gleichsam mit dem Finger nachweisbare Verfahren der Gewinnung und Formulierung von Wörterbuchbedeutungen mittels der Nutzung von Ausdrücken, die zeitübergreifend als inhaltsgleich oder als so inhaltsähnlich verstanden werden, dass sie als erläuterungstauglich betrachtet wurden. Damit ist nun lediglich die Spitze eines Verfahrensinventars angedeutet, dessen tiefen und breiten Sockel ich generalisierend wie folgt zu kennzeichnen versuche: Bedeutungsformulierungen / -ansätze / Bedeutungen ergeben sich aus Belegausdrücken, – die sich in paradigmatische Bezüge zu behandlungssprachlichen Ausdrücken setzen lassen. Gemeint sind neben den unter Abs. 3. 1 genann108 Beiläufig zur Terminologie: Ein sprachübergreifendes Synonym heißt üblicherweise Heteronym: edili / nobiles. 109 Bei R. Schützeichel, Glwsch. (2004, S. 4) wird die „jeweilige aktuelle lexikalische Bedeutung“ sogar in aller Regel mittels eines Synonyms / Heteronyms angegeben; das kann nur eine Einheit sein, die hinsichtlich ihres Status als Übersetzungsäquivalent zu verstehen ist.
7. Zur Bedeutung des Lemmazeichens
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ten Wortübernahmen und den unter 3. 2. genannten (partiellen) Synonymen / Heteronymen mindestens noch Gegensatzwörter und Tropen jeder Art, – die in ähnlichen Frames, verstanden als sach- und handlungskulturelle Zusammenhänge, stehen, – die sich aus belegtextinternen Isotopielinien ergeben, – die in expliziter linearer (syntaktischer oder textlicher) Folge stehen, – die in irgendeiner Weise aus Anspielungen, Assoziationen, Vergleichen usw. erkennbar sind, – die in etymologische oder wortbildungsmotivationelle Zusammenhänge mit behandlungssprachlichen Ausdrücken gebracht werden können. Exkurs: An diesem Punkt sei die Aufreihung der Verfahren, nach denen Bedeutungen gewonnen werden, unterbrochen und kurz zusammenfassend reflektiert. Dabei ergibt sich: Alle unter 3. 1 bis 3. 3 ins Visier genommenen Ausdrücke der Behandlungssprache werden nach der individuellen semantischen Kompetenz des Lexikographen gewonnen, und zwar dadurch, das er lexikalische Befunde in den Quellentexten erkennt, die er nach seinem persönlichen Verständnis in inhaltliche Nähe (oder in einen Gegensatz) zu Ausdrücken seiner eigenen Sprache bringt und als Bausteine seiner Bedeutungserläuterung verwendet. Dabei geschieht mindestens dreierlei: – Man löst die Ausdrücke aus ihren quellentextlichen Zusammenhängen (also aus Paroleeinheiten) heraus und stellt sie (teils gestuft über Texte historischer Zwischenepochen) in den Erläuterungstext, wohlgemerkt: in einen Text zur Behandlung sog. Systemeinheiten. Man nutzt sie also zu einem völlig anderen, modern-wissenschaftlichen Zweck. – Man springt von einem historisch belegten Ausdruck, etwa des 9. Jahrhunderts, der seinerseits eine Vorlage in einer anderen Sprache haben kann, zu einem gleich- oder verschiedengestaltigen behandlungssprachlichen Ausdruck der Gegenwart, also des Neuhochdeutschen. – Die Unterscheidung von ‚Bedeutungserläuterung‘ (das ist eine Beschreibungs- / Vermittlungsgröße) und ‚Bedeutung‘ (das ist eine als objektsprachlich angenommene Größe) trat in den Hintergrund, blieb unbeachtet oder wurde durch wechselnde Verwendung, teilweise durch Parallelschaltung von Bedeutung, Bedeutungsansatz, Bedeutungsformulierung, so im Spiel gehalten, dass sie als Gegenstand weiterer Diskussion wieder aufgerufen werden kann. Man schreitet also – um es noch einmal herauszustellen – von einem normalsprachlichen zu einem wissenschaftlichen Text, von der Geschichte in die Gegenwart und von der Erläuterung / Formulierung der Bedeutung zur Bedeutung. Die ersten beiden Schritte haben als Voraussetzung die Annahme
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
einer weitgehenden Bedeutungskonstanz bzw. Synonymität von Ausdrücken über den Wechsel der Kommunikationswelten und -zeiten hinaus, sie sind aber unmittelbar einsichtig. Letzterer bedarf der Reflexion, da es dabei um einen zutiefst weltanschaulichen Konflikt geht, dessen Entscheidung die lexikographische Praxis betreffen wird (hierzu insbesondere Abs. 9). – Zunächst aber sei die Reihenfolge der Verfahren der Bedeutungsgewinnung wieder aufgenommen und fortgesetzt. 3. 4. Der Lexikograph gewinnt seine Bedeutungen bzw. gestaltet seine Formulierungen unter Zuhilfenahme von Ausdrücken, die ihm aus dem Gedächtnis als seine eigenen erinnerlich sind oder (wichtiger noch) die er irgendwo in der wissenschaftlichen Literatur gezielt aufsucht oder zufällig findet und dann mit einer gewissen Justierung in die semantische Bestimmung des gerade zu behandelnden Lemmazeichens aufnimmt. Gemeint ist vor allem die Gewohnheit, Formulierungsteile oder ganze Formulierungen aus einem vorhandenen Wörterbuch in ein in Entstehung befindliches Werk zu übernehmen. Sie ergibt sich oft daraus, dass man bei der Artikelbearbeitung in aller Regel mehrere bereits vorhandene Wörterbücher auf dem Schreibtisch liegen hat, deren Formulierungen dann mehr oder weniger kontrolliert in den eigenen Text hineinstreuen.110 Vielfach greift man auch auf Formulierungen aus dem eigenen Wörterbuch zurück. Vor allem dann, wenn man sich an einen ähnlichen Behandlungsfall erinnert, schlägt man nach und übernimmt früher Gesagtes tendenziell gleichsam als Versatzstück. Die Orte, an denen dieses Verfahren systematisch greift, sind der Schnitt der Gesamtbedeutung zu Einzelbedeutungen, damit der Grad der Differenzierung des semasiologischen Feldes, ferner die Anordnung der Einzelbedeutungen und schließlich wortbildungsmotivationell bedingte Bezüge. – Folgende Beispiele mögen das Gesagte veranschaulichen: (a) Mhd. Wb.: aftersprâche [...] ‚Verleumdung, üble Nachrede‘ entspricht der Formulierung „Verleumdung, üble Nachrede, Lästerung“ des FWB, dieses partiell der „nachrede, afterrede“ Lexers, dieses wiederum der „afterrede, nachrede hinter jemandes rücken“ von BMZ. – Das mhd. Lemmazeichen aftersprëchen bedeutet „jmdm. übel nachreden, jndn. verleumden“; im FWB stand vorher „jn. verleumden, jm. übel nachreden“; „verleumden“ erscheint bereits bei Lexer, wenn auch für das substantivierte Verb. Die Formulierungstraditionen außerhalb natürlich immer möglicher zufälliger Übereinstimmung sind offensichtlich. M.
110 M. Schlaefer (2009, S. 75) beschreibt dies als „Verwertungs- und Abschreibetradition“ und zitiert zur Stützung des Faktums das DRW (Bd. 1, 1914, S. XI). Dort heißt es: „Immer wieder muß das spätere Wörterbuch Rat holen bei seinen Vorgängern“.
7. Zur Bedeutung des Lemmazeichens
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Lexer dürfte hier einen der Ecksteine bilden, die Traditionslinie ist aber nicht auf breiterer Basis untersucht. (b) FWB: unter gescheffede 3 heißt es: „Schöpfung als Ergebnis des Schöpfungsaktes Gottes; einzelne Geschöpfe“; dies wird unter späterem geschöpf 2 partiell wieder aufgegriffen, und zwar als „Produkt des Schöpfungsaktes Gottes, Kreatur als Gesamtheit des von Gott Geschaffenen; [...]“. Unter geschöpfede 2 findet sich dann „Schöpfung als Handlung Gottes, Erschaffung der Welt [...]; Schöpfung“. Das Geflecht gestaltgleicher Ausdrücke (mit dem Morphem Schöpf- als zentraler Einheit) verdichtet sich noch durch die Synonymie von (gestaltverschiedenem) Ergebnis und Produkt. – Zu den behandlungssprachlichen Wiederaufgriffen gehört auch die Reihenfolge der Bedeutungsansätze bei Polysemie. So führt das FWB die Erläuterung von gescheffede mit dem Ansatz „Tätigkeit, Tun, Schaffen [...]“ ein und schließt dann (nach einer metonymischen Verwendung unter 2) die der Sinnwelt ‚Religion‘ zugehörige „Schöpfung“ an. Diesem Ordnungsrahmen von ‚Tätigkeit‘ zu ‚Tätigkeitsresultat‘ unterliegt auch die Reihenfolge der für geschöpf, geschöpfede und geschöpft angesetzten Bedeutungen. – Ähnlich verfährt das Mhd. Wb.: Die Reihenfolge der Bedeutungsansätze für arbeit ist in derjenigen des Verbs arbeiten und weiterer Wortbildungen mit arbeit- bis in die Einzelformulierungen hinein in dem Grade wiederzuerkennen, den die je einzelne Semantik zulässt. – Das Verfahren hat außer seinem Gestaltungswert einen erheblichen Orientierungswert. (c) Schweiz. Id.: Insbesondere die neueren Bände verweisen auf Synonymien mit anderen Einheiten; die jeweiligen Formulierungen stützen sich teils direkt, teils assoziativ. So findet sich (in Bd. 15, Sp. 201) unter weich 1 nach der Angabe „wesentl[ich] wie nhd.“, also nach der damit implizierten Einsicht in ein Wörterbuch des Neuhochdeutschen, der Hinweis auf das Synonym lind 1 >weich< (Bd. 3, Sp. 1315). Das Lemmazeichen weich deckt sich semantisch also mit der synonymischen Erläuterung des früher behandelten lind. Die extensionale Angabe, dass weich 1 „von festen Körpern“, darunter von „Erde, Schnee“ gebraucht werde, findet ihre Parallele in lind 1c „vom Erdboden“; die Formulierung „gar gekocht, von Speisen“ wiederholt sich unter lind 1b „von andern Speisen, weich, gar gekocht“. Die motivationelle Vernetzung aller Wortbildungen eines Wortbildungsfeldes mit dem sog. Sippenleitwort ergibt sich aus dem Programm des Idiotikons. Sie findet sich in den jüngeren Bänden durch Verweise inhaltlich wie hinsichtlich der Reihenfolge systematisch berücksichtigt. Sie geht in Einzelfällen so weit, dass unter der Bedeutung >a< einer Wortbildung x nur auf die semantisch entspre-
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
chende Position des Sippenleitwortes verwiesen, damit volle Sememsynonymie angenommen wird (vgl. dazu auch Kap. 12, Abs. 4. 2. 1). Exkurs zu 3. 4: Allen gerade aufgeführten Beispielen liegen folgende kognitive Dispositionen und Schlüsse zugrunde: Der Lexikograph hat beim ersten Blick auf ein Lemmazeichen aufgrund seines allgemeinen und fachlichen Wissens, also bereits vor jeder Belegeinsicht, in aller Regel eine vage Vorstellung über die Bedeutung des Zeichens. So wird sich ihm bei den scheff-, schepf- und schöpf-Bildungen unter (b) sofort eine motivationelle Verbindung zu schaffen und dem diesem sememsynonymen schöpfen einstellen; von da aus wird er das Inhaltsfeld von >Tätigkeit, Schaffen, Gestalten< generell und >Schöpfung< als Handlung sowie als Produkt der Handlung Gottes speziell assoziieren. Findet er diese Assoziationen durch die Einsicht in ein Wörterbuch auch nur lose bestätigt, so wird er dazu tendieren, seine Synonymisierungsakte, und zwar mindestens die semembezogenen, tendenziell aber auch die signifikatbezogenen, als begründet anzusehen. Es geht dabei um Akte der Gleich- oder Ähnlichsetzung des Einen mit dem Anderen, die sogar auf gänzlich andere Etyma ausgedehnt werden können. Das sind jeweils Analogisierungen, die ebenso sehr zur Verstehensbildung wie (unter heutigen Richtigkeitsaspekten) Verstehensverzerrung, damit zur Traditionsbildung wie Traditionsverzerrung führen. In jedem Fall handelt es sich um Prozesse kognitiver Entlastung, da man mittels Gleichsetzung des potentiell Verschiedenen von der Mühe der Befassung mit dem je Einmaligen befreit wird. Der Ort solchen Tuns ist die Praxis. Ihre Reflexion ermöglicht Begründungen der Praxisresultate, die sachlich ihrerseits ebenso zutreffend wie ihrerseits wieder verzerrend sein können. Bei hinreichender Bewusstheit dieser Vorgänge und entsprechender Tätigkeitsskepsis tritt der wissenschaftliche ‚Glaube‘ hinzu und sagt: Die Belege lassen Begründungen (wenn auch mehr oder weniger greifende) zu; sie werden also zur Prüfungsinstanz. Das ist die Hinwendung zu einer neuen, und zwar nicht sachlichen, sondern textlichen metaphysischen Bezugsgröße. 3. 5. Bestimmte Bedeutungsansätze ergeben sich laut lexikographischer Notation und / oder laut expliziter Aussage bzw. anderer erläuterungssprachlicher Mittel durch unterschiedlich weit getriebene sog. Abstraktionen (meist Generalisierungsabstraktionen) aus den Belegen. Jeder nach diesem Verfahren zustande kommende Bedeutungsansatz steht unter dem breit akzeptierten Denkmuster, dass es oberhalb des Formulierten ein unbestreitbar Allgemeineres, über diesem ein nochmals Allgemeineres (usw.) gebe und dass eine entsprechende Stufung auch umgekehrt von oben nach unten bestehe. Der Lexikograph formuliert damit nach einem der Beleginterpretation vorgängigen logischen Rahmen und lässt dies im Resultat seines For-
7. Zur Bedeutung des Lemmazeichens
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mulierens erkennen. Das ist die Angabe eines Genus, möglichst eines Genus proximum, und mindestens einer differentia specifica: Man hat ein ‚m‘, diesem ist ein ‚a‘ über- und ein ‚z‘ untergeordnet. Dieses Muster ist vielfach anwendbar; es ermöglicht klare Unterscheidungen sowohl von oben nach unten und umgekehrt (Hypero-, Hyposemie: A, I, 1, a usw.) wie innerhalb einer bestimmten Abstraktionsstufe (A, I, 1; 2; 3 ... n); und es suggeriert behandlungssprachliche Logik,111 möglicherweise auch eine dieser analoge Logik der Objektsprache und deren Objektes. Man könnte in Parallele zur Unterscheidung von ‚offener‘ und ‚geschlossener‘ Form des Dramas von ‚geschlossener‘ Form einer Bedeutungsformulierung sprechen. Ihre üblichen Notationen sind Buchstaben112 oder Zahlen, die Explizitaussagen lauten oft „allgemein“ im Unterschied zu „speziell, im einzelnen“. Das Verfahren tendiert auch in der Praxis zu entsprechenden Bildern (so fünfstufig im DWB, Neub. unter Abenteuer). In der Regel ist die Stufung natürlich flacher. – Im hier interessierenden Zusammenhang steht die Relevanz des Musters für die Bedeutungsformulierung zur Debatte (noch nicht also für die Bedeutungsanordnung; dazu Kap. 7. 7). – Beispiele sind (jeweils s. v.): (a) Ahd. Wb.: s. v. edili wird der Ansatz 2 >ausgezeichnet, vortrefflich, berühmt“ spezifiziert als „a) von Personen und ihren Äußerungen“, „b) von Unpersönlichem“. – Unter ehir findet sich generisches „1) Ähre“ (ohne Denotatsbezug), dann folgt spezifisches „a) der Fruchtstand des Getreides“, „b) der Fruchtstand der Narde, Nardenähre“. – Das Lemma êht bedeutet „1) Besitz [...]“, und zwar „a) allg[emein]“, dann folgen „b) Landgüter als Eigentum“, „c) (Land-) Besitz, Eigentum, Vermögen der Kirche [...]“ und „d) [...] Besitz als Erbe“, „2) Reichtümer eines Landes“, „3) erworbene, erbeutete Schätze“, „4) kirchliche Einkünfte“ [...]. (b) Mhd. Wb.: arbeit wird erläutert als 1 „Not, Mühe, Leid; Anstrengung“; 1. 1 „speziell Schmerzen, Anstrengung bei der Geburt, auch Wehen, Geburt, Gebären“, 1. 2 „bes. im Minnesang zur Bezeichnung von Liebessehnsucht und Liebeskummer“, 1. 3 „in Wendungen: [...], 2 „‚Tätigkeit, Unternehmung‘ (ohne dass der Aspekt ‚Not, Mühsal, Leid; Anstrengung‘ im Vordergrund steht, oft nicht eindeutig von 1 zu unterscheiden)“, 2. 1 „metonymisch für Ergebnis bzw. Ertrag der arbeit“, 2. 2 „übertr. auf das Wirken Gottes“.
111 Wir sind damit wieder bei dem Punkt, der bereits beim Ansatz einer angeblich abstraktiv gewonnenen Zeichengestalt als Lemma diskutiert wurde; vgl. Kap. 3, Abs. 3. 1. 1. 112 Die Frage, ob diese Gliederungszeichen nur ein logischer Raster zur Herstellung einer Übersicht über das Bedeutungsspektrum sind oder ob sie tatsächlich etwas über sprachontische Logik besagen, wird hier nicht diskutiert; vgl. aber Abs. 6. 2.
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(c) OED 1989: Das Substantiv age wird unter I als „period of existence“ erläutert; dann folgt unter arabisch 1 eine spezifizierende Angabe, nämlich „The time that any animal or vegetable has lived; the length of time that any thing has existed in its present form or state; length of existence. [...]“. II ist im Unterschied zu I eine „period of time“ [man beachte: Genus: period; aber of existence versus of time unter I]. – 8. bedeutet dann wieder speziell „The period of time contemporary with the lifetime of any one; the generation of men to which any one belongs […]“. (d) MED: wildernes(e [...] (a) Wild, uninhabited, or uncultivated territory; trackless, desolate land; a tract or region of wild or inhabited land; a desert“. 3. 6. Auch das Umgekehrte begegnet, und zwar mit vergleichbarer Häufigkeit: Bedeutungsformulierungen werden einfach hingesetzt. Das kann in extremer Realisierung so geschehen, dass man gar keine oder nur ein Minimum an Gliederungsmitteln (Kommata, Semikola) verwendet. Oft allerdings gibt man Zahlen an, nimmt also Reihungen vor, die im Unterschied zu den unter Abs. 3. 5 angedeuteten Ordnungskennzeichen aber kein logisches Verhältnis suggerieren. Der Lexikograph besagt mit ihnen rein additiv nur: Es gibt dieses, das, jenes und noch Weiteres bis zum Schluss der Reihe, deren Glieder von der kategorialen Leistung der Reihe her, möglicherweise nicht von ihrem Inhalt her, umkehrbar sind. Das wäre dann die Parallele zur ‚offenen‘ Form des Dramas. – Beispiele sind: (a) Ahd. Wb.: ehir wird erläutert als „1) Ähre“ „2) stachliges Unkraut“, „3) Glossenwort“. (b) Lexer: s. v. stëchen findet sich in Kursive „stechen, [...], mit dem finger auf ihn zeigen, [...], versuchen, auf die probe zu stellen, [...], erstechen, [...], schlachten, [...], bestechen, [...], absol. turnieren, [...], feuer an etw. bringen, um es anzuzünden, [...], seinem geiste einprägen [...]. (c) Mhd. Wb.: atzunge wird erläutert als „1 ‚Bewirtung (des Grundherrn), Bewirtungsabgabe, Heeresverpflegung‘ [...]“, „2 ‚Weide‘ [...]“, „3 ‚Streitigkeit‘ [...“]“. (d) FWB: Zu baum heißt es: „1. >BaumÜbel< finden sich die Ansätze „1) Kwaad, subjectief als handeling opgevat [...], 2) Kwaad, objectief opgevat, als bejegening [>jn. überkommendes ÜbelTatsache, Faktumaus einem festen Material bestehendes, größeres, längliches Werkzeug zur Übertragung von Kräften auf eine zu bewegende Massefrei, ungehindert< zu sein. Eine ähnlich lange Liste folgt für Verbverbindungen von ledig unter römisch II. Goethe-Wb.: Im Vorspann zu Geschichte ist von einem „sehr ausgeprägten Bewusstsein“ Goethes die Rede, „das alle Bereiche von der Weltgeschichte üb[er] die Geschichte der Wissenschaften u[nd] Künste bis hin zur einzelnen Lebensgeschichte umfaßt“. Hier fällt die Beurteilung besonders schwer, gemeint ist wohl der extensionale Bezugsrahmen. Schweiz. Id.: Extensionale Erläuterungsteile begegnen durchgehend, da man erstens vergleichsweise ausführliche Sachbezüge herstellen will und zweitens auf der Grundlage der Kenntnis des Deutschen davon ausgegangen werden kann, dass Angaben wie „von festen Körpern“, „von Flüssigkeiten“, „von Brillengläsern“ unter dem Lemma weich (Bd. 15, Sp. 201) offensichtlich das Verständnis einer eher intensionalen Bestimmung wie >einem Druck leicht nachgebend< (so Duden, Gr. Wb.) voraussetzen und es deshalb nicht angeben. Dann hat es einen pragmatischen Sinn, das Gewicht der Erläuterungen auf die Nennung all derjenigen Gegebenheiten zu verlegen, die so ‚weich‘ sind, dass sie einem Druck nachgeben. Mnl. Wb.: Hier erscheint das Konkretum boom >Baum< unter 2) als „Sluitboom, slagboom“ >SchlagbaumGabeldeichseldem Durchschnitt gegenüber ausgezeichnet, von diesem abgehoben und positiv bewertetvon edlem Geschlechtreligiös erleuchtethilfreichBesitz< (Ahd. Wb., Bd. 3, Sp. 90) und schließt dem einen Punkt a) „allgemein“ an, dann müsste logisch gesehen ein Punkt b) „spezifisch“ folgen, den man dann wieder in verschiedene Richtungen der Spezifizierung untergliedern könnte. Wenn statt dessen ein Punkt b) „Landgüter als Eigentum“ erscheint, anschließend ein Punkt c) „[...] Eigentum, Vermögen der Kirche“, ein Punkt d) „Besitz als Erbe“, dann steht die Logik mehrfach in Frage: Landgüter als ‚Eigentum‘ sind eigentlich nicht unter ‚Besitz‘ subsumierbar, ‚Eigentum der Kirche‘ (unter c) verlangt eine Unterscheidung von ‚nichtkirchlichem Eigentum‘, ‚Besitz als Erbe‘ lässt eine Absetzung von ‚nichterblichem Besitz‘ erwarten usw. – Für die Erläuterung von mhd. arbeit ließe sich ähnlich argumentieren: ‚Geburtswehen‘ und die Einheit von ‚Liebessehnsucht und Liebeskummer‘ der Minnesänger als Spezialisierung von ‚Not, Mühe [...]‘ zu klassifizieren, entspringt einer leicht gewaltsamen Subsumtionslogik. Diese mag hier von der sprach- und literaturwissenschaftlichen Traditionsbildung her beeinflusst sein. 5. 5. Bezüglich der in 3. 5 genannten Beispiele aus der Lexikographie des Englischen ist zunächst zu beachten, dass das OED bei der Feldgliederung erster Ordnung eine beleghistorisch begründete Reihung anwendet, insgesamt also nicht subsumistisch verfährt. Innerhalb der eigentlichen Bedeutungserläuterungen (der Sememe, indiziert durch arabische Zahlen) herrscht dagegen die Formulierung nach genus proximum und differentia specifica vor; vgl. unter age I. 1. >the time [genus] that [differentia specifica]< usw. Auffallend dabei ist – und dies gilt auch für das MED –, dass unter einem einzigen Bedeutungsansatz oft mehrere, inhaltlich bis zur
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Ununterscheidbarkeit ähnliche, aber eben doch differenzierende Formulierungen nach dem gleichen Muster stehen; so unter I. 1 von age eben nicht nur (nach I. „A Period of existence“): >the time that [...]the length of time that [...]< mit weiteren Differenzierungen. Dabei begegnet das unterscheidende Kriterium für II („A Period of time“), sprachlich ausgedrückt durch time, auch in der Formulierung von Einzelbedeutungen von I: time in I. 1. Wenn außerdem in der ganzen Reihe von I. 1 bis I., 4 typische time-Synonyme (length, duration und years) begegnen, dann stellt sich die Frage: Ist das ein Symptom, das gegen die Anwendbarkeit des Denkmodells, zumindest gegen seine hohe Rolle spricht? 5. 6. Diese Ausführungen, von denen ich übrigens selbst annehme, dass sie nicht jeden Leser in allen Einzelheiten überzeugen werden, dienen nicht kritischen Zwecken, sondern sind deskriptiv gemeint. Ich wollte erstens eine Definitionsideologie vorstellen, die es immer gegeben hat, die seit der Aufklärung Triumphe feiert und die es weiterhin geben wird und geben muss. Wenn sie allerdings eine sozialhistorische Größe aus ihren allseitigen Handlungszusammenhängen heraus in ein subsumtionslogisch motiviertes Schema zwingt, dann kann dies nur dann gerechtfertigt werden, wenn der Status der zu behandelnden Größe nicht affiziert wird. Genau dies ist aber das Problem. Faktum ist erstens, dass das Schema in bestimmten Fällen, etwa den oben als funktional bezeichneten Adjektiven vom Typ edel, gar nicht greift und dass es in vielen weiteren Fällen inhaltlich irgendwie unlogisch, schief gefüllt ist und bei sorgfältigem Hinsehen nicht oder höchstens partiell überzeugt. Das heißt auch, dass der Lexikograph zwar behaupten mag, dass er abstrahiere und subsumiere, und dies auch glauben wird, dass er es aber dennoch sehr viel weniger tut, als ihm bewusst ist. Faktum ist zweitens, dass das Schema ebenfalls in vielen Fällen in derartiger Weise in die Erläuterung hineinschlägt und diese so überformt, dass die Prozessualität, die Schlechtbestimmtheit, die Offenheit, die Nicht-Logik als die zentralen Kennzeichen der Wortbedeutung durch den Subsumtionszwang reduziert und die Wortbedeutung so behandelt wird, als sei sie statisch, als bestünde sie aus 3 oder 5 oder x Sememen, als sei sie logisch gegliedert, als stünde jedes ihrer Sememe durch bestimmte semantische Merkmale in Opposition zu anderen, als gebe es generell Über- und Unterordnungen, als sei sie unabhängig von jeder sozialen und historischen Hermeneutik. Zusammengefasst: Das Subsumtionsschema ist ein behandlungssprachlicher Rahmen, der dazu tendiert, seinem Gegenstand die eigenen Regeln aufzuzwingen, ihn nach seinem Bilde zu gestalten. 6. Man könnte die Erwartung hegen, dass die Interferenz des Beschreibungsrahmens in den Beschreibungsinhalt dann besonders auf der Hand
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
liege, wenn man – wie in der Lexikographie historischer Fachsprachen – ein gegenwartssprachliches subsumistisches System als Vorgabe habe, das dann gleichsam darauf hindränge, bereits in älteren Sprachstadien die Vorstufe seines späteren und entwickelteren Gegenstandes nachzuweisen. Wäre dieser Verdacht noch wertungsfrei zu sehen, jedenfalls dann, wenn man einem teleologischen Standpunkt (Älteres entwickelt sich auf Jüngeres und Besseres hin; und das ist das eigentlich Interessierende) huldigt, so steht eine zweite Möglichkeit von vorneherein unter einem kritischen Aspekt. Ich meine die historische Autoren-, speziell die Dichterlexikographie, sofern sie jedenfalls davon lebt, die text- und personenindividuellen Weltentwürfe, ihre nicht so sehr exakte und eindeutige als komplexe, bildreiche Sprache (vgl. Anm. 12 in Kap. 2, Abs. 3. 2) einer einmaligen Persönlichkeit in ihren idiolektalen Eigenheiten lexikographisch zu behandeln. Für poetische Lexik ist die Subsumtion als dem Sprachgebrauch angemessene Gliederung semasiologischer Felder ja höchstens in Einzelfällen anzunehmen. – Ich diskutiere diese Fragen anhand einiger Lemmazeichen des DRW und des GoetheWbs., nicht um die diesbezügliche Praxis zu beschreiben, sondern um ein Problem zu reflektieren. 6. 1. Das DRW gliedert das partizipiale Adjektiv gesessen mittels römischer Zahlen in 9 Punkte erster Ordnung, was obiger additiver Reihenfolge (Abs. 3. 6) entsprechen würde. Punkt II dieser Reihe wird mittels arabischer Zahlen sechsfach, Punkt III vierfach untergliedert; auch in der relativ langen Liste dieser Untergliederungspunkte kann man das Reihungsprinzip erkennen. Die klaren Abgrenzungen der einzelnen Positionen scheinen – und dies ist mein Verdacht und mein Anliegen – durch heutige rechtswissenschaftliche Unterscheidungen motiviert zu sein: Es gibt erstens eine Fülle von Belegen, die zwar einem der Ansätze II, 1 bis II, 6 bzw. III, 1 bis III, 4 zugeordnet werden, diese Zuordnung aber nicht hergeben.119 Zum andern gibt es viele Belege, z. B. unter II, 4, die mehr oder weniger offensichtlich >ansässig, wohnhaft< bedeuten, aber unter die rechtsrelevantere Bedeutung >im Besitz der Ansässigenrechte (auf Grund eines gewissen Besitzes)< subsumiert, damit verrechtlicht werden. Gleiches begegnet unter Punkt III, wo etwa zwischen III, 1 >Inhaber eines Grundeigentums, selbständiger Hauswirt< und III, 2 dem >als Hintersasse auf fremdem Grund Sesshaften< unterschieden wird. Selbst wenn man annimmt, dass der Lexi-
119 Dies ist ein Punkt, der möglicherweise generell begegnet: Inwieweit trägt der heutige Lexikograph in die ihm vorliegenden Belege eines älteren Sprachstadiums seine eigenen Unterscheidungen hinein?
7. Zur Bedeutung des Lemmazeichens
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kograph historischer Rechtstexte über spezifische Fachkenntnisse120 und mit ihnen über feine Unterscheidungen verfügt, und selbst wenn man der Fachlexikographie besondere Ordnungszwänge zugesteht, scheint mir der oben geäußerte Verdacht zumindest nicht unberechtigt zu sein: Jüngeres rechtsgeschichtliches Systemdenken schlägt demnach in die Interpretation der Belege hinein, überformt diese zumindest partiell121 nach dem Bilde einer späteren Zeit, lässt im übrigen eine, – allerdings auch im DRW nicht voll durchgeführte122 – vereinzelte Tendenz zur restfreien Zuordnung von Belegen erkennen. Bezeichnenderweise spiegelt sich dies denn auch im Grad der Fachsprachlichkeit der Bedeutungserläuterung: „im Besitz der Ansässigenrechte“ setzt schon aufgrund des thematischen Bezugs auf Spezialrechte ein ganzes System von Rechtsverhältnissen voraus. Gleiches gilt (abgeschwächt) für den >als Hintersasse auf fremdem Gut Sesshaften< gegenüber dem einfacheren >Inhaber von GrundeigentumZufall< und ist mit âventiure partiell synonym, also mit einer Gegebenheit, der man sich durchaus ergeben kann; dazu passt das Verb ‚jm. widerfahren‘ unter 1. 1. Allerdings ist âventiure über heizen an stiure rückgebunden, und das bedeutet eher >Stütze, gezielte Hilfevon irgendwo herkommende Hilfe< mit im Rennen; ergeben würde dazu ebenfalls passen und würde dann >anheim stellen, -geben< bedeuten. – wer vehten soll, bedarf wol âventiure: Im Hinblick auf den immer unsicheren Ausgang des vehtens kann hier ‚Glück‘ gemeint sein, muss es aber nicht, man könnte auch an mhd. sælde oder kraft, an Gottes helfe oder selbst an rehte minne, also einen weiteren Bereich helfender Kräfte denken. Das würde zu der alternativen Deutung des vorangehenden Belegs passen. – Die Etymologie / Wortbildungsmotivik des Lemmazeichens, sofern diese jedenfalls synchron noch durchsichtig war und deshalb noch berücksichtigt werden kann, läuft über afranz. aventure auf unbelegtes lat. adventnjra, dies auf advenƯre hinaus. Diese Ausdrücke bedeuten >Ereignis< bzw. sich >ereignen< im Sinne von >jn. überkommenSchicksal< als für >HilfeAnfechtungen religiöser Art, Verwirrung aufgrund eigenverantwortlichen, weltzugewandten Lebens und Handelns; Unruhe aufgrund mystischer InnerlichkeitLebenslauf< oder >Geschick< oder >Lebensumstände< bedeuten. Der Beleg wurde dennoch als den anderen Belegen zu geschichte 1 „ähnlich“ beurteilt und deshalb dem ersten Bedeutungsansatz zugeordnet, weil die genannten Alternativen nach meiner Interpretation sonst für geschichte nicht belegt sind. Immerhin hätte aber die Möglichkeit bestanden, eine eigene Bedeutung im Sinne z. B. von >Lebenslauf< anzusetzen und diese dann mit 1 Zitat zu belegen, ein Verfahren, das an anderer Stelle durchaus angewandt wurde. Es gibt demnach keinen Beweis für die Richtigkeit der vorgenommenen Ähnlichsetzung, sondern auf der hier diskutierten Stufe der Artikelbearbeitung (eigentlich auch später) höchstens Plausibilitäten oder bessere Gründe. Der Bedeutungsumfang lexikalischer Einheiten ist eben eher als Spektrum mit kontinuierlichen Übergängen (Stafettenkontinuitäten, Familienähnlichkeiten) wie als Feld mit klaren internen Grenzen zu denken, innerhalb deren dann alle Belege pro Bedeutungsansatz zumindest 1 „gemeinsames semantisches Merkmal“ haben, wie man gerne formuliert. Ähnlichkeiten sind demnach eine Größe, die in hohem Maße der Gestaltungshoheit des Lexikographen unterliegt, und zwar unter mindestens den folgenden beiden Aspekten: (1) Ähnlichkeit kann – quantitativ gesehen – unterschiedlich eng oder weit gestaltet, der Abstraktionsgrad der Bedeutungsansätze also erst einmal (bis zu weiteren Überlegungen) beliebig reduziert oder hochgeschraubt werden. Im einen Fall erhielte man mehr, im anderen Falle weniger Positionen. Es ist also durchaus möglich, statt z. B. 8 Bedeutungsansätze (wie für geschichte) nur 3 oder aber 12 vorzunehmen. Dies kann nicht nur von den Umfangsvorgaben her, sondern auch bedeutungstheoretisch gerechtfertigt werden. (2) Setzungen von Ähnlichkeiten erfolgen immer – qualitativ gesehen – aspektuell; und das ist dem Lexikographen schon beim Orientierungsgang, erst recht beim Sortierungsgang, bei dem wir hier noch sind, fortwährend bewusst. Man kommt also mittels eines Aspektes ‚a‘ oder eines Aspektbündels ‚a bis d‘ zu einem anderen semasiologischen Feld als mittels eines
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Aspektes ‚n‘ oder eines Aspektbündels ‚n bis s‘. Auch diese Aussage gilt wieder bis zu weiteren Überlegungen. 6. 3. Bezieht man das Vorgetragene auf das Beispiel geschichte, so ist offenzulegen, wie man von den einzelbelegbezogenen Bedeutungsansätzen des zweiten Arbeitsschrittes zu einer Anzahl von Bedeutungsansätzen kommt, die quantitativ und inhaltlich derjenigen in der Definitivfassung des Artikels nahekommt. – Hinsichtlich der beim Orientierungsgang gebildeten Hypothese über die ungefähre Anzahl der Bedeutungsansätze und ihre ungefähre inhaltliche Ausrichtung muss klar sein: (1) Der Bearbeiter eines Wörterbuches hat vor allem dann, wenn er gleichzeitig Herausgeber ist, die Größenordnung seines Werkes und damit den ungefähren Grad semantischer Differenzierung akzeptiert und internalisiert. Er wird sich deshalb keine die Vorgaben störenden Entgleisungen leisten. Das ist eine Sache der Arbeitsdisziplin. Es bedeutet mit dem Blick auf den Arbeitsstellenleiter, dass er sich auf die diesbezügliche Disziplin seiner Mitarbeiter verlassen können muss. Es kann nicht seine Aufgabe sein, regelmäßig überlange Artikel von Mitarbeitern um ein Drittel oder die Hälfte des von ihnen vorgelegten Umfangs zu reduzieren. (2) Die Aspekte, unter denen die Belege sortiert und nach denen das Bedeutungsspektrum strukturiert wird, entspringen einem einzigen Kopf, und zwar dem des Lexikographen. Selbst wenn man (wie bei akademiegetragenen Unternehmen) die Entscheidungen des einzelnen Lexikographen einer Diskussion in einer Lexikographengruppe unterziehen sollte, wird man die Vorschläge des Kollegen, der die Sortierung vorgenommen hat, eher akzeptieren als ablehnen, dies schon deshalb, weil man nicht selbst in die Belege eingelesen ist. Die „Idiolektalität“ der Sortierungsaspekte und das Ergebnis des Sortierungsganges stehen insofern außer Frage.130 (3) Angesichts des Stichwortes Idiolektalität muss ich dem gerade Gesagten entsprechend zur Ich-Form der Darstellung übergehen: Als leitenden Aspekt für Bedeutungsansatz 1 habe ich gemeint, die Geschehens-, Ereignishaftigkeit von ‚geschichte‘ annehmen und diese Geschehens-, Ereignishaftigkeit auch in den Belegen erkennen zu können, die zu den Ansätzen 2 und 3 geführt haben und einen Teil von Ansatz 4 abdecken. Dies ist denn auch der Grund, warum die Ansätze 1 bis 4 als ein durch semantische ‚Ähnlichkeiten‘ gekennzeichneter Block in der Darstellung aufeinander folgen und von den Ansätzen abgesetzt werden, die durch einen anderen
130 Die Einschränkung insofern bezieht sich auf das Faktum, dass Lexikographen historischer Sprachstufen eine vergleichbare Bildungssozialisierung und -kulturation haben, die allzu starken Ausschlägen der Idiolektalität entgegenwirkt.
7. Zur Bedeutung des Lemmazeichens
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Aspekt, nämlich >Tat, Handlung< (unter Ansatz 5), >Handlungsfolge< (unter Ansatz 6), bestimmt sind. 6. 4. Im einzelnen leiteten mich folgende Überlegungen: (1) Ansatz 1 fasst die Belege zusammen, in denen geschichte als ein „Geschehen, Ereignis“ gefasst wird, und zwar speziell als ein solches, das in einer „objektartig vorausgesetzten Welt abläuft“ und das ferner „die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zieht“. Die erste dieser beiden Bestimmungen131 von geschichte 1 ergibt sich daraus, dass „Geschehen, Ereignisse“ auch einen textlichen Status in irgendeiner fiktionalen Welt haben können, einen Status, der dann in den später platzierten Ansätzen (in 5, stärker in 6, vor allem in 7) angedeutet oder ausgesagt wird. Die Unterscheidung von ‚objektartig vorausgesetzt‘ und ‚textlich, fiktional‘ entspricht den seit jeher mit Engagement geführten Realitäts- bzw. Textualitätsdiskussionen der bildungssoziologischen Gruppe / Schicht von Historikern, der ich mich wohl selbst zurechnen muss. Ohne die Kenntnis dieser Diskussion hätte die genannte Unterscheidung also nicht getroffen werden können. Auch die Aussage, dass ein Ereignis die Aufmerksamkeit von Menschen finden muss, um als ‚geschichte‘ gefasst zu werden, hat diesen bildungssoziologischen Hintergrund: Was aus dem kontinuierlichen Fluss von ‚Geschehen‘ muss nach meiner Beurteilung der Belege so wahrgenommen worden sein, dass es aus der Nichtbeachtung und damit aus dem Nichtsein herausgeholt wurde, d. h. einen lexikalischen Niederschlag gefunden hat? (2) Ansatz 2 fasse ich als Spezialisierung zu 1 auf: Ein ‚Zufall‘ oder (mit semantischer Nuance) eine ‚besondere Fügung‘ kann als dasjenige ‚Geschehen, Ereignis‘ charakterisiert werden, das menschlichem Urteil nicht voraussehbar ist und in nicht voraussehbare Ereignistypen eingeordnet werden kann. Dieser Ansatz hätte in einem im Umfang beschränkteren Wörterbuch unter 1 gestellt werden können. (3) Mit 3 habe ich alle diejenigen Belege beschreiben zu können geglaubt, in denen geschichte für etwas im Vergleich zu 1 und 2 Generelleres, bei extremer Generalisierung für ein maximal umfängliches ‚Irgendetwas‘ steht. (4) Ansatz 4 behandelt einen ‚rechtsrelevanten Sachverhalt‘. Dieser kann einerseits (wie 2) als Spezialisierung zu 1 aufgefasst werden, also als Geschehen, das mit rechtlichen Weiterungen (als differentia specifica) verbunden ist. Insofern aber, als sich Geschehen dieser Art meist einer ‚Tat, Handlung‘ von Menschen verdanken, habe ich es in die räumliche Nähe zu 131 Man kann sie in Anlehnung an die klassische Definitionslehre differentiae specificae nennen.
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5 gestellt, damit in die Übergangszone von ‚Ereignis, Geschehen‘ (1 bis 3) und demjenigen Bedeutungsblock, in dem es in irgendeiner Weise um Tätigkeiten von Menschen geht. (5) Damit ist zunächst geschichte 5 >Tat, Handlung< angesprochen, und zwar einleitend in einer allgemeinen Variante, danach in zwei Spezialisierungen. Deren erstere betrifft die ‚heilsgeschichtlich relevante Tat‘, die als „Gegenstand in die religiös christliche Tradition eingegangen ist“ und insofern an eine Nuance von Ansatz 1 erinnert, nämlich: „die Aufmerksamkeit des Menschen“; letztere betrifft die „längst vergangene heldenhafte Tat“, die für säkulare Traditions- und Identitätsstiftung in Anspruch genommen wurde, also ebenfalls „die Aufmerksamkeit des Menschen“ auf sich gezogen hat. 6. 5. Man beachte zunächst die bereits als sortierungsrelevant angegebene Unterscheidung von ‚Geschehen, Ereignis‘ (1), ‚Zufall‘ (2), ‚Gegebenheit‘ (3) einerseits und ‚Sachverhalt / Rechtshandlung‘ (4)‚ ‚Tat / Handlung‘ (5), ‚Handlungsfolge‘ (6), ‚Wiedergabe, Akt‘ (7) andererseits. Diese Unterscheidung ist allerdings – wie alles Interessante in der historischen Semantik – nur für 5 einigermaßen astrein begründet. Ansatz 4 bereitet aufgrund von ‚Sachverhalt‘ Zuordnungsprobleme. In 6 ist von einer „zusammenhängenden Geschehens-, Ereignis- und Handlungsfolge“ die Rede, also in einer Formulierung, deren Bestimmungswörter Geschehen- und Ereignis- in 1 eine Entsprechung haben, sich aber mit „Handlungsfolge“ davon absetzen. Außerdem habe ich den ‚Text‘ ins Spiel gebracht, der die so bestimmte Folge behandelt. Mir ist bewusst, dass man dies alles als beschreibungssprachliches Chaos betrachten kann. Zu allem Überfluss wird die Unterscheidung von ‚Geschehen‘ und ‚Handlung‘ noch durch eine andere überlagert, und zwar diejenige, die sich aus einem geschichtstheoretischen Dauerthema,132 nämlich aus dem Komplex mindestens folgender Fragen, ergibt: (1) Lassen die Belege eine Unterscheidung von Handlungen, die unter geschichte fallen, nach den verschiedenen Bedeutungen des Adjektivs geschichtlich zu? Die wichtigsten dieser Bedeutungen sind: 1. ‚historisch abgelaufen‘; 2. ‚in den Gegenstandskanon der Geschichtswissenschaft aufgenommen‘, 3. ‚speziell zur Traditions-, Kultur- und Identitätsbildung genutzt (gesagt von der Teilmenge der Gegenstände von ‚geschichtlich 2‘). (2) Lassen die Belege eine Unterscheidung (und falls ja, welche) zwischen einem realen Ablauf und seiner textlichen Fassung zu?
132 Man vgl. hierzu auch L. Zgusta 1991.
7. Zur Bedeutung des Lemmazeichens
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(3) Seit wann lassen sich die Belege mit geschichte so gliedern, dass man schließen könnte, historische Schreiber hätten zwischen ‚geschichte‘ als Realgegebenheit im Sinne von ‚was geschehen ist‘ und ‚historie‘ im Sinne von ‚Text / Textinhalt‘ bewusst oder unterschwellig unterschieden? 6. 6. Nun kann ein Wörterbuch nicht eine geschlossene, beleggeschichtlich fundierte Beantwortung von Fragen bieten, die die Historiker aller Ausrichtungen seit Jahrhunderten beschäftigen und weiterhin beschäftigen werden, weil sie von ihrer Art her nie abschließend behandelt, geschweige denn gelöst werden können.133 Der Lexikograph kann aber seine Bedeutungsansätze so formulieren und seine Belege so gliedern, dass man bei aufmerksamer Lektüre seiner Artikel erkennen kann, dass er die genannten Fragen im Visier hatte und dem geschichtstheoretisch interessierten Benutzer Quellenmaterial und Interpretationsideen liefern wollte. 6. 7. In den Ansätzen 1 bis 4 wird die Vortextlichkeit von ‚geschichte‘ angenommen; sie ist mit der bereits zitierten „objektartig vorausgesetzten Welt“ (unter 1) explizit ausgesagt. Auch für 5 überwiegt diese Bestimmung, indem von ‚Tat, Handlung (allgemein)‘ gesprochen, dann eine Spezialisierung im Sinne von ‚verbrecherische Tat‘ angesetzt und mindestens auch die säkulare Tradition auf Taten aufgebaut wird, die als „real vollzogen, als real gedacht oder als real beansprucht“ interpretiert werden. Genau in dieser Formulierung aber liegt die Nuance: Wenn gesagt wird, es seien „Spätere“ gewesen, die diese Interpretation vorgenommen hätten, und wenn von der heilsgeschichtlich relevanten Tat prädiziert wird, sie sei „als Gegenstand in die religiös-christliche Tradition“ eingegangen, dann hat dieser ‚Gegenstand‘ einen traditionsinternen und damit textlichen Status. 6. 8. In Ansatz 6 wiederholt sich diese Gratwanderung zwischen Textund Realstatus in der einleitenden Formulierung „als real gesehene [...] Handlungsfolge“. Dann aber wird auf einen als Metonymie aufgefassten Tropus hingewiesen, und zwar auf den Text, der die als faktenwahr beanspruchte ‚Ereignis- und Handlungsfolge‘ fasst, mit ihr also in einer Kontiguitätsbeziehung steht. Genau gesprochen liegt sogar eine Stufung der Tropik vor: von (a) ‚reale Handlungsfolge‘ über (b) ‚deren Entsprechung im Textinhalt‘ (Metonymie) zu (c) ‚Text mit dem Textinhalt‘ (letzteres als Synekdoche auffassbar). Und es wird gesagt, dass zwischen den Realabläufen einerseits und der Metonymie andererseits nur in Einzelbelegen, nicht aber durchgehend unterschieden werden könne. Gleiches gelte auch für die Unterschei-
133 Zur Historizität des Gegenstandes (darunter speziell zu seiner Lingualität / Textlichkeit) sowie zur Historizität der Tätigkeit des Kunsthistorikers vgl. man M. Müller 2007 (Beispiel ist die Kunstgeschichte).
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dung zwischen ‚Geschehen‘ und ‚Tat‘. Ansatz 6 ruft damit die Überlagerung zweier Unterscheidungen, nämlich derjenigen zwischen ‚real‘ und ‚textlich‘ und derjenigen zwischen ‚Geschehen‘ und ‚Tat‘, zwar auf, hebt sie ins Bewusstsein des aufmerksamen Rezipienten, führt aber insgesamt eine nochmals andere Unterscheidung ein, nämlich die zwischen ‚zusammenhängenden‘ Abläufen und solchen, die aus deren Gegensatz heraus als ‚einzeln‘ impliziert, aber nicht explizit als solche charakterisiert werden. Mit „zusammenhängend“ spiele ich wieder auf zwei geschichtstheoretische Fragen an. Sie lauten: (1) Lassen die Belege eine Bedeutung von geschichte im Sinne von ‚Größe kognitiver Existenzform außerhalb, über, hinter und vor allen Einzelgeschichten‘ zu?134 Diese Frage wurde oben als kaum beantwortbar bezeichnet. (2) Lassen die Belege einen der heutigen Gebräuche von Geschichte, nämlich ‚längerfristige Ereignis- und Handlungsfolge‘, erkennen? Zu dieser Frage sei auf folgenden, mit vielen Vorsichtsklauseln gespickten Hinweis verwiesen: „In einigen Belegen, am deutlichsten in der Chron. Köln [...], begegnet geschichte (Sing.) annähernd im heutigen Sinne [...]“. 6. 9. Es liegt in der Logik der Belegsortierung und der mit ihr implizierten Reihenfolge der Bedeutungsansätze, dass auf die heils- und säkulargeschichtliche Tat (Ansatz 5), die von den Zeitgenossen als real angenommen wurde, vom Lexikographen aber der Texttradition zugeschrieben wird, und auf die ununterscheidbar faktenreale wie textinterne ‚Geschehens- und Handlungsfolge‘ (des Ansatzes 6) in Ansatz 7 die mündlich oder schriftlich erfolgende Wiedergabe von Abläufen stehen muss. 6. 10. In Ansatz 8 folgen Belege, die durch ihre besondere sprachliche Struktur zusammengehören und eine besondere pragmatische und zeitliche Verteilung aufweisen, aber außerhalb der hier diskutierten inhaltlichen Linie der Ansätze 1 bis 7 stehen. Sie haben alle Kennzeichen einer Restgruppe und können hier deshalb außer Betracht bleiben. 7. Abschließend ist der Sortierungsgang als ein Stadium der Belegbewältigung zu charakterisieren, das stark von zufälligen Entstehungs- und Bearbeitungsbedingungen eines Wörterbuches, von der Bildungsgeschichte des jeweiligen Lexikographen und sogar von ihn persönlich bewegenden inhaltlichen Aspekten abhängig ist. Damit wird (mit dem Unterton der Rechtfertigung formuliert:) „zugestanden“ bzw. (erkenntnisoptimistisch gesagt:) als Bedingung der Möglichkeit lexikographischen Arbeitens festge-
134 Vgl. hierzu: R. Koselleck 1975 (in: GG), speziell S. 647 – 691.
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stellt, dass ein anderer Lexikograph die gleichen Belege in mindestens teilweise anderer Form sortiert und damit einen mindestens teilweise anderen Artikel geschrieben hätte, als ich es in den vorangehenden Ausführungen für mich geschildert habe. Eine ähnliche Aussage würde für einen Literaturwissenschaftler, für dessen Tätigkeit man wie selbstverständlich eine erhebliche, auch individuelle Gestaltungsfreiheit voraussetzt, kaum Bedenken ausgesetzt sein. Für den Linguisten gelten (warum auch immer) andere Maßstäbe: Das soeben mit Ausdrücken wie zufällig, Individualität, Idiolektalität, Bedingungen usw. Gesagte katapultiert ihn aus der Zunft der strengen Wissenschaftler heraus; schließlich kann nicht jeder Lexikograph (pointiert ausgedrückt) machen, was er will; Doppelwörterbücher gelten eben als etwas Anderes als Doppelinterpretationen; und auch deshalb gibt es sie nicht. 8. Aus dieser Mischung von Konfession und Reflexion folgt die Frage, wie man die trotz möglicher neutraler Formulierung doch als rechtfertigungsbedürftig empfundenen Implikationen des Sortierungs- wie bereits des Orientierungs- und des Interpretationsganges aus ihren zugleich individuellen, sozialen und arbeitstechnischen Verstrickungen heraus- und in die Höhenluft einer Wissenschaftlichkeit135 hinaufhebt, die sozialpragmatisch unverhaftet nur ihren eigenen Gesetzlichkeiten gehorcht. Bei der Prüfung dieser nun meinerseits bewusst spitz formulierten Frage muss klar sein: Einerseits kommt man, solange man sich der Empirie und dem ihr adäquaten induktiven Arbeiten aus den Belegen heraus verschrieben hat, um die drei genannten Arbeitsgänge, so wie sie nun mal vollzogen werden, nicht herum. Andererseits muss alles von 1 Person unter ihren allseitigen Einbindungen Entschiedene, Entworfene, Gestaltete in maximaler Weise nachprüfbar gemacht werden. Dies kann pro Einzelartikel, also im Artikelkopf, aus Gründen der Raumaufwendigkeit nur in besonderen Fällen erfolgen und höchstens angedeutet, kaum ausgeführt werden. Die Sicherung der Nachprüfbarkeit vollzieht sich also nach allgemeinen metalexikographischen Verfahren, so wie sie sich in Kap. 7. 6 dargelegt finden und im Folgenden beispielhaft diskutiert werden sollen. Vorauszuschicken ist, dass Nachprüfbarkeit nur heißen kann, die eigene Gestaltung einer Begründungspflicht zu unterziehen. Begründen wird man in der Regel wohl dasjenige, was man vorher getan hat. Die Devise lautet in der Formulierung des falschesten aller Sprichwortweisheiten zwar: „Erst besinnen, dann beginnen“, die Praxis ver-
135 C. S. Peirce spricht in einem vergleichbaren Zusammenhang von „vagabundierenden Gedanken“, die „ohne eine menschliche Behausung [...] über öffentliche Straßen ziehen“ (CP 8.112; zitiert bei H. Pape 2004, S. 21).
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läuft aber umgekehrt: „Erst beginnen, dann besinnen“, laut Antisprichwort: „Erst beminnen, dann besinnen“.136 Wenn man diese Reihenfolge anerkennt, die Begründung also gegenüber der Orientierung, Beleginterpretation, Sortierung später ansetzt, dann bedeutet dies, dass alles bisher zu den ersten drei Arbeitsschritten Gesagte eine verfahrenslogische Priorität, Unverzichtbarkeit, Würde in der Nähe des normalsprachlichen Handelns erhält und dass alles daran Anschließende und gerne als eigentlich wissenschaftlich Betrachtete in den Geruch kommt, Vorheriges zu legitimieren, zu verifizieren. Man tendiert eben, schon um nicht nach einer bereits weitgehend durchgestalteten Artikelfassung ganz neu anfangen zu müssen, dazu, das Vorläufige (eher normalsprachlich Vollzogene) nachträglich (auf wissenschaftlicher Ebene) als begründet hinzustellen, höchstens partiell zu modifizieren, aber lieber nicht über den Haufen zu werfen. So läuft jedenfalls die lexikographische Praxis; und deshalb steht die Darstellung solcher Verwicklungen hier und nicht in einem der Theoriekapitel. 9. Es ist also in einem eigenen Arbeitsschritt vorzuführen, wie die Ergebnisse der Sortierung der Belege von geschichte (im Ergebnis mit 8 Bedeutungsansätzen) nach der Verfahrensliste Feldprobe, Gegensatzprobe, Syntagmenprobe, Wortbildungsprobe, Symptomwertprobe im Beispielfall intersubjektiv begründet werden können. 9. 1. Ich beginne mit der Feldprobe. Bei allen Problemen, mit denen die Feldprobe137 behaftet sein mag, ist folgender Befund festzustellen (siehe Abb. 16). Die onomasiologischen Felder zu geschichte 1, 2, 4, 5, 6 und 7 haben einen solchen Grad der Verschiedenheit, dass eigene Bedeutungsansätze von onomasiologischer Seite her als begründet angesehen werden können. Die Synopse der Felder zeigt außerdem, dass geschichte 4 nicht nur, wie oben dargelegt, die semasiologische, sondern auch die onomasiologische Schaltstelle des Bedeutungsfeldes von geschichte ist. Offensichtlich „kippen“ hier die bedeutungsverwandten Wörter von einer inhaltlichen Ausrichtung zu einer anderen: Die bedeutungsverwandten Ausdrücke zu den Ansätzen 1 und 2 lassen klar erkennen, dass es um etwas Ereignishaftes geht; nur ding fällt aus diesem Rahmen heraus. – Dann folgen in den Ansätzen 4 und 5 Ausdrücke, deren semantisches Zentrum die ‚Tat‘ sein dürfte. –
136 In diesem Sprichwortspiel klingt natürlich die Problematik an, die J. Habermas in die Formel „Erkenntnis und Interesse“ gebracht hat (seit 1968). 137 Als methodisches Verfahren wird sie wie die anderen Proben in Kap. 7. 6 behandelt; hier wird sie auf das Beispiel geschichte angewandt; Gleiches gilt für die übrigen Proben.
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Bedd. von geschichte
onomasiologische Felder
1. >Geschehen, Ereignis
Zufall< 3. >Angelegenheit, Sache< 4. >rechtsrel. Sachverh.< 5. >Tat, Handlung< 6. >gesch. Handlungsfolge< 7. >sprachl. Fassung< 8. Restgebräuche
Abb. 16: Onomasiologische Felder zu Bedeutungsansätzen von frnhd. geschichte. – Zur Erläuterung: Basis der Zusammenstellung ist der angegebene Artikel. Zwischen verschiedenen Typen onomasiologischer Felder (vgl. Kap. 9, Abs. 4) wird hier nicht unterschieden. Alle Ausdrücke sind in alphabetische Ordnung gesetzt. Einige Ausdrücke und einige Bedeutungsindices sind nachgetragen (entsprechend dem inzwischen erreichten Stand der Bearbeitung des FWB)
In den Ansätzen 6 und 7 scheint dann mit chronicon, historie (unter geschichte 6) und erzälung, [...], zeitung nochmals eine Wendung, und zwar in Richtung auf die sprachliche Fassung eines Realgeschehens. Insgesamt und teilweise bis in die Einzelfälle138 bestätigt diese Verteilung die oben dargelegten semasiologischen Unterscheidungen.139 Auch die Reihenfolge der Bedeutungsansätze, wie sie mit dem Sortierungsgang verbunden wurde und aufgrund der Komplexität obiger Erläuterungen möglicherweise partiell undurchsichtig geblieben ist, erweist sich vom onomasiologischen Befund her als begründet. 9. 2. Die Position ‚Gegensatzausdrücke‘ ist nur für Ansatz 2 gefüllt und gibt deshalb unter der hier zur Diskussion stehenden Gegensatzprobe kaum etwas her. Immerhin passt ins Bild, dass das Phrasem (von) geschichte(n) mit den partiellen Synonymen angefär 2 und unfürsehen Ereignisse, Hand-
138 Dazu gehört etwa die Tatsache, dass in dem sehr allgemeinen Ansatz 3 ‚Angelegenheit‘ bedeutungsverwandte Ausdrücke fehlen. 139 Das Problem, dass alle diese Ausdrücke ihrerseits polysem sind und dass sie mit jeder ihrer Bedeutungen in Synonymie zu anderen Ausdrücken stehen, gehe ich hier nicht ein; dazu: Teil A, Kap. 4, 3, Abs. 3. 1. 1.
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lungen u.ä. charakterisiert, damit im Gegensatz zu bedächtlich 2; 3 und vorsäzlich steht. Diese Vernetzung stimmt zum Bedeutungsblock 1 bis 5 von geschichte: Es sind Ereignisse, die von geschichte, angefär, unfürsehen – passend zu geschichte 2 – geschehen, und es ist eine Tat, die bedächtlich und vorsäzlich – passend zu geschichte 5 – vollzogen wird. 9. 3. Die Syntagmenprobe bleibt aus Darstellungsgründen auf eine Auswahl aus den Syntagmenangaben, und zwar auf diejenigen Fälle beschränkt, in denen geschichte als Akkusativobjekt steht. Aus diesem Ausschnitt ergibt sich folgendes Bild (vgl. Abb. 17): Lemma geschichte
Syntagmen
1. >Geschehen, Ereignis
Zufall< 3. >Angelegenheit, Sache< 4. >rechtsrel. Sachverh.< 5. >Tat, Handlung
gesch.-Handl.folge
sprachl. Fassung< 8. Restgebräuche
Abb. 17: Syntagmen zu den Bedeutungsansätzen von frnhd. geschichte (Ausschnitt)
(1) Eine Reihe von Ausdrücken wiederholt sich bedeutungsgleich in wörtlicher Form, so geschichte aufzeichnen unter Ansatz 5 in 6, geschichte (an) schreiben unter Ansatz 6 in 7. Der Aussagewert ergibt sich daraus, dass aufzeichnen eher als (an)schreiben auf etwas hindeutet, das real abgelaufen ist, und dass (an)schreiben umgekehrt eher als aufzeichnen ein Objekt wie
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Text mit sich führt. Wenn man dem zustimmt, läge Ansatz 6 auch semantisch in der Mitte zwischen 5 und 7. (2) In weiteren Fällen begegnen verbale Wortbildungen mit nur wechselndem Präfix, aber gleicher Basis, so geschichte -zeich(n)en unter 1, 5 und 6, geschichte -schreiben unter 1, 6 und 7. Da die Verben -zeich(n)en und -schreiben im FWB noch nicht behandelt und deshalb nicht mit Bedeutungsindices versehen sind, kommt diesem Befund kein überzeugender Aufschlusswert zu. (3) Oft treten Verben (oder Verbgefüge) mit geschichte als Akkusativobjekt auf, das sowohl als affiziertes wie als effiziertes Objekt aufgefasst werden kann, so bezeichen, erfaren, erzälen, melden, sagen, wissen, ruchbar machen, zu gedächtnis bringen. Aus der isolierten Syntagmenangabe heraus weiß man also nicht, ob eine ‚geschichte‘, die jemand ‚erzält‘, durch das ‚Erzählen‘ nur affiziert wird, also unabhängig vom Erzählen eine reale Existenz hat, die lediglich in gewisser Weise betroffen wird, oder ob ‚geschichte‘ erst im Erzählen entsteht, der Erzählung also ihre Existenz verdankt, eben effiziert, hergestellt, bewirkt wird. Abhilfe hinsichtlich dieser Unterschiedlichkeit kann in einem ersten Schritt möglicherweise der Blick in die Belege bringen. Da hier aus Raumgründen aber nicht alle dem Lexikographen vorliegenden Belege zitiert wurden, zum Teil also nur eine Belegstellenangabe vorgenommen wird, deren Information aber in die Syntagmen eingearbeitet ist, wäre man auf den Griff zur Quelle angewiesen, was sich für den Benutzer aus Zeitgründen allerdings ausschließt. Für den Bedeutungsansatz 1 habe ich deshalb einen syntaktischen Kommentar an die mit Akkusativobjekt begegnenden Syntagmen, nämlich „jeweils affiziertes Objekt“, angehängt. Damit ist für diesen Ansatz klargestellt, dass die Objekte als affizierte eher in den Bereich realer Abläufe gehören. Drei Befunde, der semasiologische, der onomasiologische und der syntaktische, laufen also zusammen. Für die Ansätze 3 bis 7 fehlen derartige syntaktische Kommentare, offensichtlich weil ich bei der Gestaltung des Artikels gemeint habe, dass diese deshalb nicht notwendig seien, weil die Syntagmen aus sich oder aus dem Textzusammenhang, der integrierten Mikrostruktur, heraus interpretierbar seien. (4) Eine weitere Syntagmengruppe lässt die im Objekt stehende Bezugsgröße mehr oder weniger klar erkennen, so z. B. eine geschichte in worte fassen (unter 1), die geschichte klagen, das [...] (unter 3), eine geschichte tun (unter 5), eine geschichte hören, lesen, vernemen (unter 7). Man kann (mit Bezug auf das erstgenannte Syntagma) doch wohl nur ein ‚Geschehen, Ereignis‘ in worte fassen, (mit Bezug auf Letzteres) eher einen ‚Text‘ hören, lesen, vernemen als ein ‚Geschehen, Ereignis‘.
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Im Ergebnis laufen diese Prüfungen darauf hinaus, dass die Sortierung der Belege mittels der Syntagmenangaben in einer Anzahl von Fällen weder begründet werden konnte noch sich als unbegründet erweisen ließ, dass der Gesamtbefund aber einen gewissen Begründungswert hat. Dieser ist allerdings weniger überzeugend als der Wert, der sich aus der Feldprobe ergibt. In anderen Fällen kann dies anders, auch umgekehrt sein. 9. 4. In diesem reflektierenden Stil geht es für die Wortbildungsprobe140 weiter: Die Lemmata geschichtgedicht (ohne Erklärung) und geschichtlich 1 >real< wurden zu geschichte 1 >Geschehen, [...]< gestellt, geschichtlich 2 >zufällig< zu geschichte 2 >ZufallTat, Handlung< und geschichtschreiber zu geschichte 1; 6; 7, geschichtschrift zu geschichte 6 >Geschehensfolge[...] gnädige Bereitwilligkeit Gottes zur Erlösung [...][...] mitleidige Zuwendung zum Nächsten [...][...] mitleidige Haltung gegenüber einem äußerer Hilfe Bedürftigen [...][...] nachsichtiges Erbarmen, [...], Rücksicht [...][...] mitleidswürdiger Zustand[...] lasterhafte Tat[...] Ziergegenstandnachsichtiges Erbarmen [...]< substituieren können; man erhielte dann z. B.: Drumb wirdts jn auch am júngsten tag / Ja mit dem hellschen Fewr gelohnt, / Mit keinr barmhertzigkeit [>nachsichtigem Erbarmen ...sich bekennen vberwunden sein / oder anzeygen den kauff wellen annämenverachtenDaumen< premere >geünstig sein< usw. Bei anderen Lemmazeichen folgt ein Großteil des zugehörigen Wortbildungsfeldes. So finden sich unter dignus >würdig< die Bildungen: indignus, dignitas, indignitas, dignor, dedignor, indignor, dignatio, indignatio. Dem entsprechen die dt. Wortbildungen: wirdig, unwirdig, wirdigkeit, wirdigen, nicht wirdig achten, unwürdigkeit. Indem diese Einheiten ihrerseits wieder in lexikalische Zusammenhänge verschiedener Art Art, auch in die Makrostruktur eingehängt werden (können), entstehen Informationsfelder von hohem sprachpädagogischem Niveau. Ich habe dies auch erwähnt, um zu zeigen, wie heutige akademische Lexikographie mit ihrem Informationsprogramm an alte Praktiken angeschlossen und damit für eigene Zwecke fruchtbar gemacht werden kann. 11. In geometrischer Veranschaulichung könnte man sich hier das Bild eines zentralen Kreises für die Bedeutungsangabe vorstellen, um den sich mehrere konzentrisch angeordnete Kreise für die übrigen bedeutungsrelevanten Informationspositionen herumlagern. Entscheidend ist, dass sich alle lexikographischen Informationen zu einem Gesamtbild von ‚Bedeutung‘ integrieren. – Diese Zeilen haben ein historisches Bedeutungswörterbuch im Auge. Beim Wechsel des obersten Behandlungsanliegens eines Wörterbuches wäre nicht mehr bedeutungsadressiert zu argumentieren, sondern müsste man z. B. grammatik-, speziell syntax- oder wortbildungsbezogen vorgehen. Es ergäben sich erhebliche inhaltliche und formale Umdeutungen des gesamten Adressengefüges; die Argumentationslinien würden sich aber ähneln. – Das gerade suggerierte Kreisbild könnte folgende Form haben:
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Abb. 18: Mögliches Adressengefüge des historischen Bedeutungswörterbuches. – Zur Erläuterung: Die Kreise bedeuten: 1. Bedeutungsangabe, 2. wertende und erläuternde Zusätze aller Art, 3. Phraseme, 4. bedeutungsverwandte Ausdrücke, 5. Syntagmen, 6. Wortbildungen, 7. Belege. Der Pfeil symbolisiert die Adressierung an das oberste Typologiekriterium.
12. Es gibt keine allgemein anerkannte Typologie der Erläuterungstätigkeit des Lexikographen und ihrer Ergebnisse, der ‚Erläuterungen‘ (auch Definitionen, Explikationen, Erklärungen, Beschreibungen usw. genannt). Es
7. Zur Bedeutung des Lemmazeichens
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kann und wird eine solche Typologie auch insofern nie geben, als ihnen allen sprach- und behandlungstheoretische Konzepte unterliegen, die auf eine je spezifische, sowohl ‚gegenstands‘bezogene wie benutzerorientierte Aufgabe ausgerichtet sind und damit eine je bestimmte Funktion zu erfüllen haben. Erläuterungstypologien müssen deshalb von Wörterbuch zu Wörterbuch und von Wörterbuchtyp zu Wörterbuchtyp, von einem ideologischen oder praktischen Anliegen zum anderen (und nach vielen weiteren Kriterien) variieren. Diese Voraussetzungen und Funktionalitäten sind freilich geleitet, auch wenn die leitenden Inhalte nicht bewusst sind und man deshalb der je eigenen Typologie eine Tendenz zu allgemeiner Gültigkeit unterstellt. Es führt – zusammengefasst – also kein Weg daran vorbei zu erkennen und zu akzeptieren, dass jeder Lexikograph innerhalb eines praktischen Rahmens, in einem zeit- und kulturüblichen Geleis, nach einem sozialkognitiv gerade im Schwange befindlichen Konzept tätig ist. Mit diesen Einbindungen korrelieren gewisse Muster der sprachlichen Formulierung, selbstverständlich nicht nach einem Eins-zu-Eins-Verhältnis, sondern nach einem Eins-zu-X bzw. nach einem X-zu-Eins-Verhältnis, auch wenn gewisse Affinitäten zwischen der ‚Einbindung‘ und dem Sprachmuster nicht zu verkennen sind. Beide Gegebenheiten verlaufen natürlich wechselkonstitutiv, nicht also in der Weise, dass hier das Eine und dort das Andere steht, sondern so, dass das Eine Voraussetzung und Konstitut des Anderen und dieses die Veraussetzung und das Konstitut des Einen ist. Außerdem dürfte das Intergral von sozialkognitiver Vorgabe und Formulierungsmuster seinerseits nochmals wechselkonstitutiv mit der Art und Weise der Rezeption (einschließlich der Nicht-Rezeption) des Wörterbuches zusammenhängen. 13. Zur Veranschaulichung, wie Erläuterungstypologien aussehen und wie verschiedenartig sie im Umfang wie nach den sie bestimmenden Kriterien sein können, mögen folgende beiden Beispiele dienen: Beispiel 1 (D. L. Berg 1993, S. 37 f.): a) „pertaining to [...]“ = „explanatory definition“; b) „structural or functional definition“; c) „cross-reference definition“. Beispiel 2 (M. Schlaefer 2009, S. 95 f.): „logische, taxonomische, paradigmatische, morpho-semantische Definition, Funktionsdefinition, Negations- / Ausschlussdefinition, metalinguistische Definition, Rektionsdefinition“. 14. Diesen Typologien stelle ich 3 mir relevant erscheinende, an der Sprachform orientierte Unterscheidungen zur Seite, ohne deren Verhältnis zu ersteren zu diskutieren. Ich argumentiere so weit wie möglich in Gegensätzen. – Zur Sprache kommen:
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– die einfache versus die komplexe Bedeutungserläuterung, – die synonymische versus die phrastische Erläuterung, – die kompakte versus die diffuse Erläuterung. Jeweils in Verbindung damit wird die Funktion der Erläuterungstypen beschrieben und ihre Verteilung angedeutet; darauf folgt die Auflistung und Diskussion einzelner Formulierungsüblichkeiten der Lexikographie der hier im Visier stehenden Sprachen. Dem schließt sich die Diskussion der Abgrenzungsmuster und einiger ihrer lexikographischer Weiterungen an.
7. 5. Zur Bedeutungserläuterung und -vermittlung II: sprachliche Formen 7. 5. 1. Die ‚einfache‘ und die ‚komplexe‘ Bedeutungserläuterung 1. Es gibt ‚einfache‘ und es gibt ‚komplexe‘ Bedeutungserläuterungen. Dies ist nicht im Sinne eines absoluten Gegensatzes, sondern im Sinne eines „Mehr oder Weniger“ zu verstehen. Das „Mehr“ bzw. „Weniger“ hängt dabei entscheidend (aber nicht ausschließlich150) von der Frage ab, wie viel vorgängige Kenntnis der Lexikograph bei dem Benutzer, den er im Auge hat, hinsichtlich einer gerade zur Formulierung anstehenden Einzelbedeutung (eines Semems) eines Lemmazeichens voraussetzt. Nimmt er an, dass der Benutzer das zu Vermittelnde bereits irgendwie oder weitestgehend kennt, dann wird er zu einer weniger ausführlichen und sprachlich kürzeren Erläuterung greifen, als wenn er der Meinung ist, dass sein Adressat überhaupt keine Kenntnisvoraussetzungen hat (so schon H. Paul 1895). Man erklärt ja auch im Alltag niemandem etwas, von dem man vermutet, dass er es bereits weiß. Unter diesem Aspekt kann man die einfache Erläuterung auch als die voraussetzungsreiche, die komplexe auch als die voraussetzungsarme charakterisieren. 2. Damit wird die Ausführlichkeit der Erläuterung nicht auf sog. objektsprachliche Verhältnisse bezogen, sondern nach dem Kenntnisstand bemessen, den man dem Wörterbuchbenutzer zuschreibt. Sie wird also auf der Ebene der lexikographischen Kommunikation angesiedelt. Wenn dies mit der Realität des Wörterbuchschreibens übereinstimmen und überdies sinnvoll sein sollte, dann heißt das zugleich, dass der Lexikograph Sorge tragen müsste, strikt innerhalb des wissenschaftskommunikativen Ortes seiner
150 Zu diesem Vorbehalt s. die Ausführungen zur Thema-Rhema-Verteilung (unter Abs. 6).
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Formulierungs- und Vermittlungstätigkeit zu bleiben, die Antonymie von einfach und komplex also nicht in die historische Welt, weder in diejenige des (z. B. mhd., mnl., mengl.) Wortschatzes, noch in diejenige der Bezugsgenstände hineinzutragen, auf die man mit einem historischen Lemmazeichen referiert hat. Es kann demnach keine sprach- oder sachontischen Unterscheidungen von einfachen oder komplexen Gegenständen, Eigenschaften, Beziehungen geben, sondern immer nur solche, die in der Relation ‚Lexikograph zu Wörterbuchbenutzer‘ als relevant erachtet werden. Folglich können weder Zeichen und Zeichenbereiche genannt werden, in denen einfache oder komplexe Einheiten existieren würden, noch sind sachliche Bezugsbereiche angebbar, von denen dies gesagt werden könnte. Vor allem die immer wieder begegnende Klassifizierung von Konkreta als ‚einfach‘, da jedermann objektiv und wohl unterschieden vor den Sinnen liegend,151 und von Abstrakta als diese Bedingungen nicht erfüllend kann kaum Gültigkeit beanspruchen. Die lexikalische Kategorisierung von Realität verläuft nicht nach Dichotomien wie ‚einfach‘ versus ‚komplex‘, sondern nach einer schwach strukturierten Gesamtheit historisch jeweils wechselnder Unterscheidungen. Es gibt demnach auch nicht einfache und komplexe / schwere – wie man oft sagt – Wörter; und es gibt keine einfachen oder komplexen Bezugsgrößen. Allerdings gibt es zweifellos Ausdrücke und Bezugsgrößen, die dem Wörterbuchbenutzer erläutert werden müssen, und solche, von denen dies weniger bis gar nicht anzunehmen ist. Die Frage, was in diesem Sinne denn nun eher unter ‚einfach‘ und was eher unter ‚komplex‘ fällt und dementsprechend behandelt werden muss, ist nur mit Rekurs auf die Einschätzung des Lexikographen hinsichtlich des Wissens der Rezipienten entscheidbar, für die er zu schreiben meint. Diese Unsicherheit legt es nahe, dass man gut daran tut, seinem Rezipienten eher weniger als mehr Vorkenntnisse zuzuschreiben, also eher komplex als einfach zu erläutern. Dabei wird nicht zu vermeiden sein, dass die soeben unter sprachtheoretischem Aspekt vorgenommene kritische Beurteilung (realistischer) Ontologien in Einzelfällen außer Betracht bleiben muss. 2. 1. Die einfache Erläuterung erfolgt oft in Form der Angabe eines oder einiger weniger Synonyme oder einer kurzen Paraphrase. Für die komplexe finden sich längere Reihungen von Synonymen und ausführliche, syntaktisch vielfach gestaffelte Wortgruppen (die untereinander ihrerseits syno-
151 In diesem Zusammenhang sei etwa an die alte Vorstellung von ‚one radical meaning‘ und ‚one sensible object‘ erinnert, wie es in Kap. 6, Abs. 3. 9 für C. Richardson gesagt wurde, aber auch für J. Grimm gilt.
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nym sein können, aber nicht müssen). – Beispiele für die einfache Erläuterung sind: Starck / Wells, S. 325: kela, [...] „Kehle, Gurgel“. Ahd. Wb. 3, Sp. 647: fastatag, [...]. „Fasttag“. Mhd. Wb. 1, Sp. 422: barmhërzecheit, [...]. ‚Barmherzigkeit, Mitleid‘. – Ebd. 1, Sp. 904: bluot, [...]. ‚Blut‘. Frauenlob-Wb., Sp. 241: minne, […]. „A Geistliche Liebe, [...] D Geschlechterliebe“. FWB 4, Sp. 302: bibel, […]. „>Heilige Schrift, BibelKriegsehre< und engl. ‚moving […] upwards‘ wird man kaum Fragen haben, zu ‚Barmherzigkeit‘, ‚geistliche Liebe‘, ‚Firmament‘ und ‚power‘ oder ‚disposal‘ schon eher, vielleicht auch zu ‚Blut‘, dessen Rolle im Rechtsleben, in der Religion, im Brauchtum, in der Medizin als Gegenstand von Fragen empfunden werden könnte. Im übrigen ergibt sich die einfache Erläuterung oft aus einer schwachen oder defizitären Beleglage. Schließlich ist sie natürlich stark an den Umfang des Wörterbuches gebunden: Je weniger Raum zur Verfügung steht, desto herrschender wird eine kurze Erläuterung sein müssen. Dies ist aber kein Gesetz, wie man daran erkennen kann, dass die einfache Erläute-
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rung z. B. in den großen Wörterbüchern des Englischen durchaus einen Platz hat. Generell hat diese Form der Erläuterung die Funktion, dem Nachschlagenden eine schnelle, punktuelle Auskunft über eine Wortbedeutung zu geben, von der man annimmt, dass sie ihm keine Schwierigkeiten bereitet; vgl. zu diesem Nutzungsanliegen Teil A, Kap. 4. 3, Abs. 1, 1 (1) und (2). 2. 2. Die komplexe Erläuterung stellt sich als das andere Ende einer stufenlosen Skala dar, in vielem als das genaue Gegenteil der einfachen. Sie sei mit folgender Reihe von Beispielen ausführlich belegt152: Ahd. Wb. 3, Sp. 385: êrên, [...]. „1) jmdn., etw. in Ehren, hohem Ansehen halten, wertschätzen, verehren, im Sinne einer Grundhaltung: a) allgem.: Personen: êrên richtet sich meist auf Personen, die sich auszeichnen durch Rang, hohe Stellung, Alter, Würde, aber auch auf Gleichgestellte und Untergebene. Es kann daher (mit oft unscharfer Begrenzung) von dienender unterwürfiger Ehrfurcht bis zu achtungsvoller Verehrung reichen“. Lexer, Twb. (1983), S. 187: schulde, […]. „das verhältnis dessen, der für etwas als urheber einsteht, daher entweder die verpflichtung zu busse, (beichte?), ersatz, strafe oder auch das verdienst; verpflichtung etwas zu geben [...]“. Ebd., S. 193: sicherheit, [...]. „sicherheit, sorglosigkeit, unbesorgtheit, sicherung, schutz; gewissheit, bestimmtheit; sicherstellung durch das gegebene wort: feierliche bekräftigung, zusage, versicherung, gelöbnis (s. geben sich verschwören), verabredung, vertrag, bündnis, spez. das untertänigkeitsgelübde des besiegten u. gefangenen [...]“. Mhd. Wb. 1, Sp. 450: bastart, [...]. „nicht eheliches Kind, außereheliches Kind ständisch ungleicher Eltern (i. d. R. eines Adligen und einer nicht standesgemäßen Frau)“. FWB 3, Sp. 3: barmherzigkeit, [...]. „2. >Barmherzigkeit, die Gerechtigkeit überschreitende mitleidige Zuwendung zum Nächsten, Hilfsbereitschaft eines Menschen gegenüber einem anderen als Auswirkung der Liebe und aus religiöser Motivation, in Analogie zu Gottes BarmherzigkeitArmenbüchse, AlmosenstockGestank, übler Geruchdas Verhältnis [...]“ oder „>Gestank [...]“< usw. bezeichnet werden kann, sondern es heißt jeweils: schulde, stank [Leerstelle] >das Verhältnis [...]Gestank […]< usw. Hier geht es nun nicht darum, dass man mit solchen Gepflogenheiten der theoretisch schwierigen Frage ausweicht, wie die gemeinte Relation generell oder pro Wortart sinnvoll bestimmt werden könnte (als Seins-, Bedeutungs-, Bezeichnungs-, Gebrauchsrelation), sondern nur um ein fachstilistisches Faktum mit semantischen Konsequenzen: Durch die Auslassung des relationierenden Prädikates entstehen syntaktisch vom Lemmazeichen isolierte Wortgruppen, darunter auch einfache, oft aber (und das ist in vorliegendem Zusammenhang relevant) solche komplexer Art mit Zügen der Apposition. Diese Artikelstruktur bedeutet im Vergleich zum vollständig ausgeführten Satz zweifellos eine gewisse Entfernung von der Normalsprache, sie ist aber so sehr Kennzeichen lexikographischer Textverdichtung, so üblich und dem Wörterbuchbenutzer so vertraut, dass sie als fachsprachlicher Stilzug meist keine Verständnisschwierigkeiten bereiten wird. In Ein-
157 Vgl. hierzu P. von Polenz 2008, S. 88: „In diesem Nominalstil wird die direkte Entsprechung zwischen Satzausdruck und Satzinhalt derartig verschoben, dass die Ausdrücke für die hauptsächlichen Prädikate [...] in der Attributhierarchie weit ‚nach unten‘ [...] geraten“.
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
zelfällen allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass Relationsindikatoren158 vermisst werden oder sich aus anderen Gründen einschleichen: Zu Diamant bzw. zu Recht heißt es im DFWB bzw. im DRW, dass es „die Bezeichnung für“ etwas sei. Auch sonst begegnet dieses Muster: So wird das Substantiv blat im Ahd. Wb. (Bd. 1, Sp. 1183 f.) unter Position 2 als „Bezeichnung für ein Stück dünnflächiges Material“, unter 3 als „Benennung für ein organisches Gebilde“ erläutert, unter 1 scheint die Konstruktion sogar zu wuchern: „botanischer Begriff zur Bezeichnung (Kursive von mir) eines Pflanzenteils“159 statt des ebenfalls möglichen „ein Pflanzenteil“. Die Komplexität der Wortgruppe, genau gesprochen die Tiefe der Abhängigkeit der Genitivausdrücke, wird um 1 bzw. um 2 Stufen erhöht. Der grammatische Relator, etwa „ist“, „bezeichnet“ (usw.), fehlt. Letztlich könnte „Bezeichnung für [...]“ für die allermeisten Artikel eingeführt werden; das würde aber ins Leere gehen.160 6. Die aufgeführten Gestaltungsmittel dienen unter dem funktionalem Aspekt der Thema-Rhema-Verteilung161 zunächst einmal wie in jedem anderen Text sowohl dem Aufruf von Bekanntem wie der Mitteilung von Neuem. Es stellt sich aber die Frage nach dem Zusammenspiel von beidem. Dabei gibt es offensichtlich erhebliche Unterschiede. – Folgende Beispiele dienen dem Aufweis eines Problems. (1) Das Ahd. Wb. bringt zum Verb êrên nur Ausführungen, die vom Nachschlagenden als unmittelbar verständliche Mitteilung von Neuem aufgefasst werden dürften. Lediglich in der letztzitierten Angabe, nämlich von unterwürfiger Ehrfurcht bis zu achtungsvoller Verehrung, scheint etwas auf, das ein gewisses kulturelles Verständnisniveau voraussetzt, denn immerhin wird ein Gegenstand angesprochen, der für den Kenner den gesamten Bereich antiker wie mittelalterlicher Würde- und Machtauffassung mit all ihren sozialen, religiösen und psychologischen Dimensionen
158 Solche finden sich systematisch im Alg. Vl. Id. (1865; 1870): woord, waardoor men [...] verstaat; dit woord is gebruikt voor [...]; het woord betekent >bedeutet / bezeichnetüberzeugend, begründet, beweiskräftigrechtskräftig, rechtsgültigernsthaft, inständigwirkungsvoll, erfolgreich, konsequentArbeitArbeitUntergrundGeschäftigkeit; den Menschen belastende und aufzehrende Beschäftigung mit etw., Tätigkeit, in der j. aufgehtGegenstand der Beschäftigungein Mittel, jm. den Weg abzuschneiden, List, Streich, Verrat; niedrige, verachtenswerte oder verräterische Tat[...] GewalttatStab, Stock generell wie als Werkzeug zu verschiedenen Zwecken und in verschiedenen LebenszusammenhängenStütze beim Gehenprimitive WaffeWerkzeug der ZüchtigungStab des Hirten, des PilgersVollmacht, jm. übertragene Machtbefugnis, Ermächtigung, an js. Stelle zu handeln, [...]Jahr< etwas mit der Umlaufzeit der Erde um die Sonne zu tun hat, so wie es wohl auch keinen Anglophonen gibt, der das MED zu seinen Arbeitsmitteln zählt, aber nicht weiß, was ein ‚windou‘ ist, oder der bis dahin ohne die erhellende Einsicht zu leben hatte, dass ein Tal eine niedrigere Höhe als seine Umgebung hat. Entsprechend Kritisches wäre über die zitierte Erläuterung von frnhd. gewalt 7 (aus meiner Feder) zu sagen. Die analytische Definition ist offensichtlich eines der Geleise, in denen der akademische Fachstil, die selbstgefällige Demonstration gelehrter Schreibfähigkeit, immer wieder wuchernd verläuft. 5. 2. Es gibt natürlich auch Möglichkeiten, die Kombination von synonymischer und phrastischer Erläuterung freundlicher zu interpretieren. Ich nutze die Formulierungen von gewalt in den Bedeutungsansätzen 6 und 7 des FWB (in Bd. 6, Sp. 1794 f.) als Beispiel. gewalt [...]. „6. >Recht, Verfügungsgewalt, Handlungserlaubnis, die eine Person oder Instanz nach geltendem Recht, aufgrund natürlicher, sozialer oder religiös begründeter Ordnung im Hinblick auf eine Sache oder Person hatRecht, Verfügungsgewalt< aufgrund irgendwelcher Ordnungsvorstellungen, mag inhaltlich verstehbar sein; die Bedeutung erfährt aber einen Bezug auf die Tagespraxis und damit eine Aufladung mit Anschauungsgehalt, wenn gesagt wird, dass auch das Recht auf die Erteilung der Absolution, die elterliche Gewalt und Weiteres unter die Bedingungen von ‚gewalt‘ 6 fallen. 6. Die Leistung der phrastischen Erläuterung, wie sie oben (in Abs. 2) bestimmt und bereits auf einige Implikationen hin (Rhematik, Fachsprachenwucherung, Stützfunktion, Veranschaulichung) abgeklopft wurde, soll abschließend unter einen weiteren, und zwar teils kritisch fragenden und teils rechtfertigenden Aspekt gestellt werden. Angelpunkt meiner Überlegungen ist der Status der Bedeutungserläuterung und damit der Bedeutung. 6. 1. Ich gehe von der Unterscheidung von ‚Anschauung‘ und ‚Begriff‘ aus und befrage die Lexikographie nach ihrer Stellung zu beiden. Auf der Seite der Anschauung sollen das Wirkliche, das Singuläre jeder einzelnen sprachlichen Handlung, das Nicht- oder Ungleiche, das Einmalige, das Werden, die individuelle Verschiedenheit, die Empfindung, die unmittelbare Sinnlichkeit angenommen werden. Auf der anderen Seite wären der Intellekt, die Herrschaft der Ratio, die wissenschaftliche Strenge, die logische Disziplin, die Bestimmtheit, die Erkenntnis, das Zerlegen durch methodische Fachlichkeit, die mit alldem gerne einhergehende Konstitution des Erkannten als eines nicht (mehr) Werdenden, sondern als eines eher statisch Seienden und als einer gegenüber dem Singulären eigenen kognitiven Größe anzusetzen. Im Hintergrund dieser Unterscheidung steht der Umschlag der Philosophie im 19. Jahrhundert von der letztlich rationalistisch bestimmten Erkenntnisphilosophie weg und zur (in einem sehr weiten Sinne zu verste-
169 Diese Aussagen enthalten wie diejenigen der Bedeutungsformulierungen eine hohe Anzahl von Leerstellen: Was heißt das dauernde eher wirklich? Wie steht es um die Suggestion zeitlicher Dauer oder Kurzfristigkeit, die ja nicht explizit ausgesagt werden? Wie ist das Verhältnis von Person und Instanz? Ein Teil dieser Fragen ist aus den – obwohl sehr reichhaltigen – Belegen nicht beantwortbar; zum Teil ist der Lexikograph unter rechtshistorischen und -systematischen Aspekten (bei anderen Lemmazeichen unter anderen Aspekten) aber auch überfordert.
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
henden) Lebensphilosophie hin. F. Nietzsche hat diesen Gegensatz in seiner Schrift über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne in einem Feuerwerk stilistischer Varianten wie folgt vor Augen geführt: Er spricht von einem „Uebersehen des Individuellen und Wirklichen“ im „Begriff“, von einem Übersehen, „wie es uns auch die Formen giebt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt“. Weiterhin ist die Rede von der „Herrschaft der Abstraktion“, einem „Verallgemeinern“ einzelner Eindrücke zu „entfärbteren, kühleren Begriffen“, einem „Gleichsetzen des Nichtgleichen“, einem „beliebigen Fallenlassen“ „individueller Verschiedenheiten“, einem „Weglassen“, einem „Verflüchtigen“ und einem „Auflösen“ des Bildes im Begriff, des jeweils Einmaligen im „Schema“, dem Aufbau einer „pyramidalen Ordnung nach Kasten und Graden“ (1870/3, S. 880 f.). Da dies alles in einem „bewegliche[n] Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen“ erfolge, die „nach langem Gebrauch einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken“, seien „Wahrheiten“ nichts weiter als „Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind“.170 6. 2. Kehrt man von diesem philosophischen Ausflug in die Lexikographie zurück, dann wird man sich fragen, welche Anknüpfungsmöglichkeiten man hat. Entscheidend ist mindestens Folgendes: (1) Der Mensch kommt um die Begriffsbildung selbst dann nicht herum, wenn man das „einmalige ganz und gar individualisierte Urerlebnis“ mit Nietzsche erkenntnispessimistisch in der „Herrschaft der Abstraktion“ untergehen sieht. Er würde ohne Abstraktion ja „durch die plötzlichen Eindrücke [...] fortgerissen“ (a. a. O., S. 881), „fortgeschwemmt“ (S. 886) werden, sich nicht gegen das Tier abheben (ebd.). (2) Die Bildung von Begriffen und ihre Ordnung zu einer Begriffspyramide sind Handlungen, die „eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Grenzbestimmungen“ konstituieren und die Nietzsche mittels eines Hochwertwortes seiner Zeit, nämlich als Schaffen, bezeichnet. Begriffe treten dann der „anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenüber“, und zwar als „das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulierende und Imperativische“ (ebd., S. 881). Entscheidend dabei ist, dass der Mensch damit „künstlerisch schaffendes Subjekt“ wird, das zwar keine andere Wahrheit als die eigene zu entdecken vermag, dem aber „ästhetisches Verhalten“ eigen sein kann (S. 884). Dabei wird zugestanden, dass selbst bei einer Größe wie dem Würfel „das Residuum einer Metapher übrig bleibt“ (S. 882, allerdings mit dem Zusatz nur)
170 Man vgl. hierzu die Artikel Lüge, Metapher, Wahrheit bei H. Ottmann (Hrsg.) 2000.
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und dass „jede Empfindung“ mit „künstlerische[r] Metapherbildung beginnt“, im übrigen bereits „jene Formen voraussetzt, also in ihnen vollzogen wird“ (S. 886). Th. Böning liest aus Stellen dieser Art heraus, dass „Begriffe bei Nietzsche nur dann sinnvoll sind, wenn sie mit einer Anschauung verknüpft werden“ (1988, S. 178). Das trifft die zwar erkenntnispessimistische, aber handlungsoptimistische Perspektive mit der Kunst als Fluchtpunkt.171 In der Kunst hat dann der Mythos, verstanden als das Denken in Bildern, sowie der mit dem Mythos verwandte Traum, mit dem allem die Anschauung wieder ihren Platz. – Dieser Gedanke findet sich bereits in der Romantik. So heißt es bei A. W. Schlegel: „die bildliche Benennung war eher als die (unbildliche, wesentliche) einfache“; „es bleiben immer poetische Elemente in ihr [der Sprache, O. R.] zerstreut“ (1798/9, S. 10); später: „Die gegenseitige Verkettung aller Dinge durch ein ununterbrochnes Symbolisiren, worauf die erste Bildung der Sprache sich gründet, soll ja in der Wiederschöpfung der Sprache, der Poesie, hergestellt werden“ (1801/2, S. 250). Das sei kein Nothbehelf, sondern „höchste Anschauung“, denn das Innre eines Dinges offenbare sich durch die Erscheinung; die „Thätigkeit, durch welche etwas poetisches zu Stande gebracht wird, wendet sich auf ihr Resultat zurück“ (S. 388). 6. 3. So weit, so gut. Überträgt man das Gesagte auf die Bedeutungserläuterung, dann steht zunächst wieder einmal fest, dass sie nicht in irgendeinem abbildtheoretischen (auch nicht in einem abbildmetaphorischen) Sinne als Spiegelung einer vorausgesetzten sprachlichen Realität gesehen werden kann. Vielmehr rückt das Schaffen, vielleicht auch das ästhetische Verhalten des Lexikographen, konkret gesprochen: der in diesem Band immer wieder betonte Schnitt von Einzelbedeutungen (analog dem objektsprachlichen Sagen „auf bestimmte Weise“) und die Bildung von Zusammenhängen, darunter von Begriffspyramiden ins Zentrum der Aussage, das Schaffen wäre das Konstitutivum der Lexikographie. Wenn Nietzsche die einzige Fluchtmöglichkeit aus dem Erkenntnispessimismus im Zerschneiden, Zerteilen, Anknüpfen, Aufbauen, künstlerischen Schaffen, freien Dichten und Erfinden, Bilden172 sieht und den Menschen (als anthropologisches Wesen) zur Kunst, zum Mythos und Traum berufen erkennt, dann muss dieser Aufruf für jede kulturelle Tätigkeit gelten und dieser ihren Sinn 171 Ich erinnere daran, dass W. Schadewaldt dieses Anliegen in der Einführung zum Goethe-Wb. wie folgt formuliert: „Goethe-Lexikographie [...] bestimmt sich als Kunst, [...] als gestaltendes und nicht lediglich erkennendes Verfahren (Bd. 1, S. 12*; vgl. Kap. 2, Abs. 3. 3. 1, Anm. 12). 172 All diese Ausdrücke erscheinen auf nur wenigen Seiten a. a. O., teils in mehrfacher Wiederholung.
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geben. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Menschen schlechthin erfahren nun dadurch eine Steigerung, dass er immer auch (bei Nietzsche allerdings a. a. O. nur beiläufig anklingend) soziales Wesen ist, das heißt: „Jedes Volk [Kursive von mir] [hat] über sich einen solchen mathematisch zertheilten173 Begriffshimmel“, sucht seinen „Begriffsgott nur in seiner Sphäre“ (S. 882); und er wird dabei das, was ihm „fest, canonisch und verbindlich“ (S. 880) dünkt, das hart und starr gewordene „Columbarium der Begriffe, der Begräbnisstätte der Anschauung“ (S. 886) immer wieder neu auf- und umbrechen. 6. 4. Nietzsche argumentiert hier einerseits mit dem Blick auf ein Konzept, nach dem die Wortbedeutung als Ganze, speziell das einzelne Semem, durch Abstraktion von Anschauungselementen zustande komme, und dass sich die so gebildeten Einheiten in eine pyramidale Ordnung bringen lassen. Dem würde die Erläuterung nach genus proximum und differentia specifica entsprechen. Man käme um diese also bei aller Kritik, die man an ihrem Wuchern und an ihrer nicht überzeugenden Handhabung (vgl. dazu Kap. 7. 2, Absätze 3. 5 und 5) haben mag, nicht herum. Dem schließe ich mich hier an. Andererseits besteht das eigentliche Anliegen Nietzsches darin zu betonen, dass man trotz der Notwendigkeit abstrahierender Begriffsbildung die Anschauung nicht aus dem Auge verlieren sollte.174 Das „Residuum“ von Anschauung, das er selbst im abstraktesten Begriff erkennt, wäre dann stets hervorzukehren, die lexikographieübliche Verbindung von begriffslogischer Erläuterung mit den von mir als extensional bezeichneten, veranschaulichenden, die Brücke von der Abstraktion zum einzelnen und je besonderen Wortgebrauch und zu Gebrauchsweisen wäre bewusst zu halten und fachsprachlich zu pflegen. Die Verarbeitung von Belegen zu einem Bedeutungsansatz, in der sich abstraktives Verallgemeinern mit unterschiedlichen Feineinstellungen, mit interessegebundenen Zusammenfassungen und Trennungen, mit pädagogischen Gewichtungen und vor allem mit anschauungsträchtigen Gesichtspunkten des Nähebereiches verbinden, würde ohne schlechtes wissenschaftliches Gewissen erfolgen können.
173 Es geht hier nicht speziell um Mathematik, sondern um den auch sozialen Status kultureller Tätigkeit. 174 Das ist ein Anliegen, das in der Geistesgeschichte wie eine Wechselgestalt auftritt: Man vgl. etwa die faszinierende Analyse von A. Haas (1996, S. 48ff.) bezüglich der Überblendung genuin theologischer „Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik“ (so der Untertitel) durch „rein intellektuell gewordene Begriffe“ (S. 51) seit Boethius bis weit in die Scholasik hinein. – Von einem ganz anderen Ausgangspunkt her heißt es bei R. B. Brandom (2000, S. 12): „Die Idee [sei], zu zeigen, welche Art des Verstehens und der Erklärungskraft aus der Art und Weise, wie wir reden, zu gewinnen ist, anstatt zu argumentieren, dass man in irgendeinem Sinne rational verpflichtet (obliged) sei, in dieser Art und Weise zu reden“.
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Bezeichnenderweise geschieht dies denn auch viel häufiger, als man denkt. Ich werte dies als ein Unterlaufen der verbreitet herrschenden, logisch-intensional orientierten Semantikideologie durch den Sprachgebrauch. – Dies impliziert, dass die Bedeutungserläuterung zu einer gewissen Komplexität und damit Länge tendiert. – Exkursartig sei hier hinzugefügt, dass auch einige andere Informationspositionen von den vorangehenden Überlegungen betroffen sind: die Angabe bedeutungsverwandter Ausdrücke als Vernetzungshinweise, die Angabe von Phrasemen, Syntagmen und syntaktischen Wortbildungen als Vorführung des Gebrauchsspektrums, die Angabe von Belegen zu dem gleichen Zweck (man vgl. dazu die jeweils einschlägigen Kapitel). Umgekehrt würde ein reines Belegwörterbuch, erst recht die Konkordanz und alle Indices verborum,175 aber auch bereits ein Wörterbuch, in dem die Angabe von Belegen und Belegstellen die lexikographische Aussage überwuchert, in F. Nietzsches ‚Nicht- und Ungleichem‘, in seinem ‚Einmaligen‘ verbleiben und darin ersticken. 7. Man wird sich an dieser Stelle fragen können, wie sich die Polarität von ‚Anschauung‘ und ‚Begriff‘ denn nun konkret in den Wörterbuchartikeln niederschlege. Ich versuche eine Veranschaulichung, und zwar am Beispiel von frnhd. gewürm und seiner mengl. Heteronyme worms, vermin. FWB, Bd. 6, Sp. 2034 s. v.: gewürm, [...]. „1. >neben dem vieh / tier, dem vogel, dem fisch eine unterschiedlich klar abgegrenzte (sich z. B. mit käfer, nater überlagernde) vierte Gruppe von Lebewesen, kriechende lurch- und insektenartige Kleintieredem Menschen unangenehmes, sich urzeugend aus mist, tau, nässung entwickelndes, nicht kontrollierbares Ungeziefermit dem Stechen, Beißen von Insekten o. Ä. verglichene Gewissensbisse, peinigende Gedanken< [...]“. Entscheidend in vorliegendem Zusammenhang ist: Es geht um eine im Frnhd. irgendwie von anderen unterschiedene Gruppe von Lebewesen, und zwar um ‚kriechende, lurch- oder insektenartige Kleintiere‘. Bereits diese Entität ist nur bei sehr viel Wohlwollen als Begriff176 zu verstehen; höchstens das kürzere ‚Kleintiere‘ wäre ein solcher. Immerhin ist der ‚Gegenstand‘ angedeutet (nicht: bestimmt). Sodann – und das kennzeichnet den Artikel – werden nur weitere vage Unterscheidungen, damit fließende Gren-
175 Gemeint ist die Masse aller Werke vom Typ H.-M. Dannhauer [u. a.] zu F. Hölderlin. 176 Zum Problem s. auch Band 8 (hrsg. v. Th. Roelcke als coordinating editor) von Lexicographica, innerhalb des Bandes den zusammenfassenden und urteilenden Beitrag des Herausgebers, sowie J. A. Bär 2000.
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zen und Überlagerungen erwähnt, etwa von ‚gewürm‘ zu ‚vieh‘, ‚fischen‘ usw. Man erfährt dann etwas über Urzeugung und über zeitgenössische Vorstellungen dieser Art der Entstehung von Leben sowie über ihre Bewertung (man beachte: unangenehm) durch den Menschen. Zudem wird eine tropische Verwendung erwähnt: So wie Insekten beißen, so kann das Gewissen beißen und können Gedanken peinigen. – Ich meine, mit Bedeutungserläuterungen dieser Art das Verwendungsspktrum von gewürm anschaulicher und eingängiger vermitteln zu können als mittels begrifflicher Abstraktionen. – Das MED verfährt unter wǀrm ähnlich: „As a generalizing term [Genusandeutung, O. R. ] for any creature that slithers, creeps, or crawls, including reptiles [differentiae specificae], frogs and toads, scorpions, nails, insects, rodents, etc.“ [Beispiele]; sodann: „coll. and pl. such creatures regarded [auch hier Bewertung] as repulsive, noxious, or venomous; vermin, pests; also used of larger animals scavenged for food in famine times […]“; dies ist ein Sachhinweis. Für vermin ergibt sich Entsprechendes. Natürlich lädt die Semantik der ‚Wurm‘-Wörter zu dieser Erläuterungsform ein. Das Anliegen lautet aber generell: Man möge bei der Formulierung von Bedeutungen auf Möglichkeiten achten, die Anschauung, den Gebrauch des Wortes, seinen Sitz im sozialen Leben im Spiel zu halten. Wortbedeutungen sind keine logisch wohlbestimmten Einheiten, sondern sollten als soziale Inhaltsformationen, -gestalten oder gar -schemen mit gewissen Verdichtungen und anschauungshaltigen Orientierungspunkten sowie mit offenen Rändern betrachtet werden; folglich wären sie in dieser Qualität zu vermitteln. – Folgendes Schema (Abb. 19, S. 321) möge die Gewichtung von begriffsund anschaungsorientierter Bedeutungserläuterung und der dahinter Stehenden Bedeutungsauffassung veranschaulichen.
7. 5. 3. Die ‚kompakte‘ und die ‚diffuse‘ Bedeutungserläuterung 1. Die Unterscheidung von ‚kompakt‘ und ‚diffus‘ ist bereits auf den ersten Blick am typographischen Bild der Bedeutungserläuterung zu erkennen. Schaut man z. B. in das OED, dann findet man im Anschluss an den Artikelkopf nach bestimmten Gliederungszeichen (römischen oder arabischen Zahlen, Buchstaben) geordnet die Erläuterung je einer Einzelbedeutung (eines Semems) mit allem, was zu dieser Erläuterung dazugehört, darunter einen in Kleinschrift gesetzten Block von Belegen. Ähnlich verfährt das FWB. Ich bezeichne diese Art der Bedeutungsbehandlung als kompakt:
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Abb. 19. Die Gewichtung begriffs- und anschauungsorientierter Teile der Bedeutungserläuterung
Eine (Zahlwort!) Informationsposition (hier: die Erläuterung eines Semems) bildet einen zusammenhängenden Teiltext innerhalb des Artikelganzen und hat einen einzigen festen Behandlungsort im Artikelaufbau. Alle weiteren Informationen sind auf diesen bezogen und mit ihm kompatibel: FWB, Bd. 3, Sp. 1034: beiten, V. [...]. „1. >warten (absolut); auf e. P., auf etw. in der Zukunft Liegendes warten, dem Kommen e. P. entgegensehen; sich nach jm. sehnenanstrengende Tätigkeit insbes. zum Erwerb des Lebensunterhaltes, berufliche, in der Regel körperliche Arbeit auf allen Gebieten (z. B. im Weinberg, beim Feldbau, im Bergbau, in städtischen Gewerben)Erwerbstätigkeit zur Erzielung von GewinnHandelmühevolles geistiges Schaffen, psychische Anspannung zur Erreichung eines ZielesArbeit von Tieren; >Frondiensthelfen< (Bd. 6, Sp. 526), wird zunächst pro Bedeutungsansatz kompakt belegt. Dann folgt eine längere Reihe semantisch-syntaktischer Nuancierungen, jeweils mit Belegen. Das so zustandekommende Bild sieht (auszugsweise) wie folgt aus: Zu helpen 1): Bedeutungserläuterung, Belege, Nuancierungen aller Art, Syntagmen wie: Iemand iets helpen onthouden >js. Erinnerungen auf die Sprünge helfenabhängig, unfrei, untertan; leibeigen, zins-, abgabepflichtig; den unteren Sozialschichten zugehörig, in ärmlichen Verhältnissen lebend, verelendet; bäuerlich, einfach, gering, klein< [...].“ Es handelt sich – wie schon bei dem in Kap. 7. 5. 3, Abs. 3. 2 (d) zitierten arbeit – zweifellos um eine komplexe, phrastische, kompakte Erläuterung innerhalb einer Reihe von insgesamt 16 mehrenteils ähnlich gestalteten Bedeutungsansätzen. Eine der bei der Vorführung von Artikeln historischer Bedeutungswörterbücher gerne gestellten kritischen Fragen lautet: Warum setzen Sie 16 statt z. B. 5 oder 25 Bedeutungen an. Als Begründung der Frage wird dann ausgeführt, die ganze Formulierung enthalte doch geradezu die Einladung zu weiteren Unterscheidungen; es sei doch merkwürdig, niedere und höhere ‚arme‘ Schichten, ferner Schichten und Gruppen, sodann eigens die Juden unter dem dominanten Kriterium der Abhängigkeit zusammenzufassen und zu allem Überfluss auch noch Tiere unter ‚arm 4‘ (in obigem Zitat aus Raumgründen ausgeblendet) zu subsumieren. Einzelbedeutungsübergreifend wird entsprechend gefragt: Warum nehmen Sie nicht bestimmte Nuancen unter Ansatz 1 oder 5 oder 10 mit dem Abhängigkeitsgesichtspunkt von 4 zusammen und formulieren eine Erläuterung, die sich auf alle Facetten sozialer Unterschichtigkeit bezieht? Fragen dieser Art können zu nahezu jedem Artikel gestellt werden (etwa auch zu obigem arbeit 6). Sie sind nicht immer beantwortbar und können sogar immer mal wieder zu der Einsicht führen, dass man den Schnitt der Gesamtbedeutung besser anders vorgenommen hätte. Es geht also um grundsätzliche Antworten. 3. 1. Zur Standortbestimmung meiner weiteren Ausführungen sei vorausgeschickt (bzw. wiederholt), dass die Antworten an folgender Stelle des lexikographischen Prozesses ansetzen: Der Orientierungsgang ist durchlaufen, die Interpretation der Belege vollzogen, die Sortierung vorgenommen, eine vorläufige Bedeutungserläuterung formuliert. Der Lexikograph ist sich bei aller Routine, die er haben mag, bewusst, dass alle genannten Arbeitsschritte ausschließlich von einer Person, nämlich ihm selbst, ausgeführt wurden. Er wird sich folglich in der kommunikativen Regresspflicht für das Ergebnis seines Mühens sehen, d. h. hier: nach Möglichkeiten einer Begründung suchen. Und hier liegt die Aporie: Die Begründung soll nach unbestreitbaren methodischen Standards erfolgen. Sie kann aber, da sie an die genannten Arbeitsschritte anschließt, nur der Versuch einer Verifikation dessen sein, was die Orientierung ergeben hat, was aus den Belegen herausgelesen wurde und was in die Bedeutungserläuterung eingegangen ist. Man könnte hier einwenden, dass es doch auch die Möglichkeit eines vorgängigen, grundsätzlich auf Analyse beruhenden Verfahrens als einer Alternative
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zur nachgelagerten Verifikation gebe. Dieser Einwand scheitert aber daran, dass alle Arbeitsschritte, schon die Orientierung, erst recht die Beleginterpretation und die Sortierung nicht als Analyse denkbar sind, da sie samt und sonders ein Verstehen der einzelnen Belege voraussetzen (vgl. das in Kap. 7. 3, dort Abs. 8, zum Demonstrationsartikel geschichte Gesagte). 3. 2. Ich unterscheide fünf Verifikationsprozeduren, und zwar die Feldprobe, die Gegensatzprobe, die Wortbildungsprobe, die Syntagmenprobe und die Symptomwertprobe. – Die einzelnen Bestimmungen lauten: 3. 2. 1. Die Feldprobe: Eine aufgrund der vorgängigen Arbeitsschritte vorläufig angesetzte Bedeutung gilt dann als begründet, wenn sich aus den Belegen ein auf diese Bedeutung bezügliches onomasiologisches Feld (= Triersches Feld, Wortfeld) herleiten lässt, das von den entsprechend gewonnenen Feldern zu den anderen angenommenen Bedeutungen unterschieden werden kann. – Dies ist formal wie folgt zu veranschaulichen: 1. 2. 3. 4. 5. [...] n.
a a a
b b b
c c c
d e
f
d d
g g
h i
a
c
d
j
f
Abb. 21: Schema zur Erläuterung der Feldprobe. – Legende: Zahlen von 1 bis n (erste Spalte, senkrecht) = Bedeutungsansätze zu einem beliebigen Lemmazeichen; Buchstaben (in waagerechter Linie) = Ausdrücke onomasiologischer Felder zum Lemmazeichen pro Bedeutungsansatz
Die Durchführung der Feldprobe setzt voraus, dass so viele Belege vorliegen und diese so viele bedeutungsverwandte Ausdrücke (Feldwörter, Synonyme) aufweisen, dass überhaupt Zusammenstellungen der vorgenommenen Art zustandekommen können. Bei hohen Belegzahlen ist beides wahrscheinlicher als bei niedrigen. Absolute Zahlen für eine aussagekräftige Feldprobe zu nennen, ist nicht sinnvoll, da wenige Feldwörter in bestimmten Fällen mehr besagen können als viele Feldwörter in anderen Fällen. Die Methode verdrängt also nicht den Lexikographen. (a) Das Schaubild weist zwei in der Praxis kaum begegnende, theoretisch uninteressante, aber dennoch auffallende und deshalb kurz zu behandelnde Lagerungen auf: Einmal sind zwei onomasiologische Felder ausdrucksseitig deckungsgleich, nämlich in den Fällen 1 und 4. Dies lässt,
7. Zur Bedeutung des Lemmazeichens
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sofern nicht Komplikationen auftreten, auf hochgradige semantische Ähnlichkeit der beiden Bedeutungsansätze schließen. Daraus kann nur folgen, dass die vorgenommene Trennung nicht begründet ist und demzufolge aufgehoben wird. Zum andern weist Ansatz 5 mit i und j zwei Ausdrücke auf, die in keinem der anderen Felder begegnen und dann, wiederum unter der Voraussetzung, dass keine Komplikationen auftreten, für eine Aufrechterhaltung des Ansatzes sprechen. (b) In der Praxis häufiger und theoretisch interessanter ist folgender Fall: Bestimmte Felder, im Schema diejenigen von 1, 2, 3 und 5, zeigen – erst einmal ausdrucksseitig betrachtet und wieder bei Ausklammerung möglicher Komplikationen – neben gewissen Übereinstimmungen auch Differenzen. In solchen tagtäglich auftretenden Fällen ist die Entscheidung des Lexikographen gefordert: Er bestimmt innerhalb seines Arbeitsrahmens, nach dessen dominantem Behandlungsanliegen, oft auch nach Besonderheiten des einzelnen Ausdrucks bzw. Semems, ob er die vorläufigen Bedeutungsansätze beibehält oder sie aufgibt. Auch in diesem Falle ist die Nennung fester Werte nicht sinnvoll, denn bei hoher, etwa 70prozentiger Feldübereinstimmung kann mehr (z. B. einzelfachliches, kulturpädagogisches) Differenzierungsinteresse vorhanden sein als bei 30 %. (c) Die bereits dreimal genannten „Komplikationen“ ergeben sich aus der Nicht-Eineindeutigkeit sprachlicher Zeichen: Ein Ausdruck ist systematisch polysem (mehrdeutig), und er ist systematisch mit anderen Ausdrücken irgendwie synonym. Ich behandle zunächst die Polysemie: Ein bestimmter Feldausdruck, etwa a unter den Ansätzen 1, 2, 4 und n, sei polysem; es herrscht also semantische Verschiedenheit bei Gestaltgleichheit (= Ausdrucksgleichheit). Unter Ansatz 1 kann a also als ‚a 1‘ (= a in der Bedeutung 1), unter Ansatz 4 kann es als ‚a 2‘ (= a in der Bedeutung 2) zu lesen sein (usw.). Der Lexikograph hat demnach bei der Anwendung der Feldprobe anhand bestehender Wörterbücher oder aus dem eigenen Material heraus oder – falls dies zu zeitaufwendig ist – aus seiner allgemeinen Kenntnis der Sprache der Epoche heraus festzustellen bzw. zu entscheiden, ob Polysemie gegeben sein soll oder nicht. Er ist dabei immer wieder auf sein lexikographisches Urteil zurückgeworfen. Nimmt er Polysemie an, so reduziert sich der Deckungsgrad der onomasiologischen Felder; es herrscht mehr semantische Verschiedenheit; es gibt folglich mehr Grund, eine vorläufige Unterscheidung als begründet beizubehalten. Im Falle von Synonymie sieht das Ergebnis umgekehrt aus: Ein bestimmter Feldausdruck, etwa a unter Ansatz 1, ist mit anderen Ausdrücken unter dem gleichen oder unter anderen Ansätzen, also etwa mit c (unter 1), mit b (unter 2) oder mit d (unter 4) synonym. Es herrscht also semanti-
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sche Ähnlichkeit bei Gestaltverschiedenheit (= Ausdrucksverschiedenheit). Der Lexikograph hat demnach auch hier festzustellen bzw. nach seinem Urteilsvermögen zu entscheiden, ob Synonymie vorliegt oder nicht. Liegt sie vor, so erhöht sich der Deckungsgrad der onomasiologischen Felder; es herrscht mehr semantische Ähnlichkeit; es gibt mehr Grund, eine vorläufige Unterscheidung als unbegründet aufzugeben. (d) Alle genannten Prüfungen / Feststellungen / Entscheidungen, die hier unter dem Terminus Feldprobe beschrieben wurden, sind in ihrem Zusammenspiel zu sehen. Sie mögen kompliziert klingen und als zeitaufwendig betrachtet werden. Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass der fachlich versierte Lexikograph oft auf den ersten Blick erkennt, ob die Feldprobe überhaupt etwas hergibt, wie das Verhältnis von Überlappungen und Differenzen aussieht, ob sich die Polysemie- bzw. Synonymiefrage wohl stellen wird oder nicht. Dies letztere ist oft z. B. schon aufgrund der Textsorten einzuschätzen, in denen ein Lemmazeichen belegt ist, oder an der funktionalen Wortart zu erkennen, der es zugehört. Entscheidend ist zweierlei: Der Lexikograph vollzieht dienend ein Maximum an Methodik; er bleibt aber dennoch Herr vieler seiner Entscheidungen und damit Herr des lexikographischen Prozesses. (e) Die inhaltliche Füllung des obigen formalen Schemas kann mit Beispielen von O. Reichmann 1985, S. 282 (zu frnhd. arbeit); 1993, S. 169 (zu frnhd. arm, Adj.); 2006, S. 19 (zu frnhd. bescheidenheit) sowie mit geschichte (in diesem Band, Kap. 7. 3, S. 269) veranschaulicht werden; hier seien die Vernetzungsangaben zu arbeit in anlassgemäß leicht umgearbeiteter Form wiederholt (siehe Abb. 22). 3. 2. 2. Die Gegensatzprobe: Sie beruht auf dem gleichen Prinzip wie die Feldprobe. Ein vorläufiger Bedeutungsansatz kann dann als begründet gelten, wenn sich aus den Belegen unterschiedliche auf diesen Ansatz bezügliche Gegensatzwörter nachweisen lassen. Da Gegensatzverhältnisse vor allem bei Komplenymen, aber auch bei Antonymen oft in weniger lexikalischen Einheiten (im strengen Sinne nur in einer einzigen) erscheinen als Ähnlichkeiten, ist diese Probe ohne größeren Zeitaufwand, also nahezu beiläufig durchzuführen. Trotzdem sind wie bei der Feldprobe die Polysemien und Synonymien zu beachten. – Zur Veranschaulichung mögen folgende frnhd. Beispiele (aus dem FWB, s. v. arbeit) dienen:
7. Zur Bedeutung des Lemmazeichens
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arbeit [...] 1. >Qual, NotKampf, KriegGottsucheTodesnotGeburtswehenberufl. TätigkeitProdukt der ArbeitWidrigkeiten (aller Art)< arbeit 6 >Tätigkeit < gut (Adj.) 1 > Erwartungen erfüllend< gut (Adj.) 3 >eine Qualität bezeichnend< gut (Adj.) 15 >nützlich< arm (Adj) 1 >arm, bedürftig< arm (Adj.) 4 >abhängig< arm (Adj.) 6 >unehrlich
Existenzform, Seinszustand [...]Stellung, Stand in der Gesellschaft [...]Phantasieübertragene Bedeutungenmalerische Redeweisen< vor. Später, mit der Zunahme von beschaving >Kultur< und verstandelijke ontwikkeling, kennis, wetenschap, logica folgte eine Überlagerung der poëzie (stili-
183 Die kursiv gesetzten Ausdrücke sind eine Montage der Formulierungen J. Grimms.
7. Zur Bedeutung des Lemmazeichens
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stisch variiert: natuurlijk scheppingsvermogen >natürliche Schöpfungskraftdie Einbildungskraft arbeitet in voller Freiheit< (Bd. 1, S. LXI). – Ausdrücke wie primitive versus boldly transferred to [...] belegen, dass das Entwicklungsdenken zumindest für die Inhaltslinie auch dem OED zugrundeliegt.
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
Falls aber „the historical record was complete, that is, if we possessed written examples of all the uses of each word from the beginning, the simple exhibition of these would display a […] development“, das als „rational or logical“ angenommen wird, aber den Gedanken von ‚development‘ nicht aufhebt. Wie dem auch sei: Der Fülle von Präsuppositionen185 (primitive sense, gradual extending, eines Anfangs: beginning, einer Entdeckungsprozedur: vgl. discover) entspricht die methodische Zuversicht, dass der „historical record“ vielleicht sogar „complete“, und wenn nicht, doch „usually sufficiant“ sei, „to infer the actual order. In exhibiting this in the Dictionary, that sense is placed first which was actually the earliest in the language: the others follow in the order in which they appear to have arisen“. Da es „many branching lines“ (Verzweigungen der Gesamtbedeutung in Einzelbedeutungen, angezeigt durch römische Zahlen: I, II, III usw.) gibt, werden Gruppierungen sowohl der ‚branches‘ wie (branchintern) der Einzelbedeutungen nötig: Beides erfolgt dem Programm nach und meist auch in der Realisierung chronologisch. Da die Einzelansätze über die einzelnen ‚branches‘ hinweg aber durchgezählt werden, ergeben sich notwendigerweise Zeitüberlappungen. Dass dieses Programm der General Explanations nicht immer eingehalten ist und auch nicht eingehalten werden konnte, da die tatsächliche Belegungsgeschichte und der actual order wohl eher seltener und weniger als häufiger und mehr zusammenstimmen, steht auf einem anderen Blatt186 (man vgl. etwa answer, Subst. und V.). – Dies alles läuft darauf hinaus, dass die Hintergrundideologie des OED ebenso geschichtsorientiert wie diejenige des DWB und des WNT ist, dass sich aber in Kennzeichnungen wie primitive sense im Unterschied zu Grimms Attribut sinnlichanschaulich und dem dichterlijk des WNT eher die Aufklärung als die Romantik verbirgt. 2. 2. Dass man das oben in Abs. 1 (b) zusammengenommene geographische und vor allem das soziologische Kriterium kaum diskutiert und erst recht nicht realisiert hat, mag mit der wissenschaftsgeschichtlich sehr lan-
185 Präsuppositionen dieser Art finden sich auch bei S. Johnson 1755 und C. Richardson 1836 (s. dazu unter dem Aspekt ihrer Konsequenzen für die Rolle der Etymologie auch Teil D, Kap. 6, Abs. 3). 186 Das Lemma A (der Buchstabe) der Ausgabe 1989 zeigt für die Bedeutungsansätze unter ‚branch‘ II die Reihe: 1609; 1866; 1870; 1921; 1927; 1889; 1932; 1962. – Das Lemmazeichen answer (Subst.) reiht wie folgt: 1340ff. (für Ansatz 1); 1534ff. (für 2); a. 800ff. (für 3); ca. 1200ff. (für 4a); 1466ff. (für 5); [...]. – Vgl. D. L. Berg 1993, S. 35, mit einer Darlegung der Komplexität der Anordnungsentscheidungen des OED sowie mit versteckten Hinweisen auf Widersprüche; so etwa: „the headword’s sense development is not straightforwordly linear“ (usw.). Auch einige Formulierungen im OED 1989, Bd. 1, S. XXVIIIf. sind interpretabel.
7. Zur Bedeutung des Lemmazeichens
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gen Ausrichtung weitester Teile der Germanistik, Nederlandistik und Anglistik auf die Zeitdimension der Sprache, umgekehrt ausgedrückt: mit dem relativ dazu niedrigeren Rang der Sprachgeographie und -soziologie, speziell ihrer semantischen Komponente, zusammenhängen. Für diese Gewichtung gibt es ideologische Gründe: Sprach- und damit Wortgeschichtsschreibung wurde über Generationen hinweg so realisiert, dass die Existenz der eigenen Sprache weit nach rückwärts in die Vorzeit ausgedehnt erschien und insofern auf die Vermittlung von Konstanz ausgerichtet werden konnte und entsprechend verstanden wurde. Stark vereinfacht gesagt: Sie funktionierte mit ihrem historischen Konstanzgedanken als Vermittlerin der Vorstellung, dass das Deutsche, Niederländische und Englische je gleichsam natürliche, sehr alte und in ihren Vorstufen „schon immer“ dagewesene Gebilde seien. Für das Deutsche ist dieses Denken schon nach Ausweis des Terminus Indogermanisch sehr verbreitet mit ‚Sprachgeschichte‘ mitgesetzt.187 Da nun die Sprachgeographie generationenlang im Schlepptau der Sprachgeschichte stand, teilt sie mit dieser den nunmehr räumlichen Konstanzgedanken. Die Verbindung von Zeit- und Raumkonstanz mündete dann in der Auffassung des Deutschen (usw.) als eines zeit-räumlichen Blockes von ‚natürlicher‘ Existenz. Er wurde zwar von dem jedermann täglich und von Ort zu Ort offensichtlichen, der Einheitsidee entgegengerichteten Faktum der ‚zersetzenden‘ Untergliederung eines sprachlichen Großraumes in Teileinheiten in Frage gestellt. Das bedingte aber nicht die Historisierung und Soziologisierung des Konstanzgedankens, sondern wurde anders gewendet: Es führte zu seiner Betonung, und zwar so, dass man nicht nur das Niederdeutsche, sondern auch das Niederländische mit teils kanonischer Gültigkeit bis in die Gegenwart zum ‚eigentlich‘ Deutschen rechnete, das Deutsche damit nicht nur zeitlich nach rückwärts verlängerte, sondern auch im Raum ausdehnte. – Für das Niederländische wurde ebenfalls eine im einzelnen wie auch immer modifizierte geschichtliche Konstanz seit ‚altniederländischer‘ (nicht ‚altfränkischer‘) Zeit konstruiert bzw. bewiesen. Die Argumentationspunkte des Konstruktes / Beweises liegen in der Macht, dem Reichtum und der Kultur als wichtigen soziokulturellen Voraussetzungen für ein jahr-
187 J. Milroy (2005, S. 326f.) verbindet dieses Ideologem mit dem genetic / archaizing / etymological purism und stellt auch für die englische Sprachgeschichtsschreibung die Vorstellung einer trotz aller fremden Einflüsse vorhandenen sprachgeschichtlichen Linie seit germanischer Zeit fest. Man vgl. auch sein Kapitel über „the continuity of English“ (S. 336f.) seit ‚angelsächsischer‘, heute als ‚altenglisch‘ gesehener Zeit; die Parallelen zu altniederfränkisch / altniederländisch, altsächsisch / altniederdeutsch und altfränkisch usw. / althochdeutsch liegen auf der Hand. – Generell hierzu: S. Sonderegger 1998; auch H. J. Vermeer 1984.
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hundertelang im Werden befindliches politisches Gebilde, damit auch für einen entsprechenden Raumzusammenhang.188 Das genuine Programm der Sprachsoziologie, nämlich die Differenzierung von Sprechergemeinschaften in Schichten und Gruppen, konnte von der nationalkonservativen Sprachgeschichtsschreibung nicht gewollt sein. Es gibt demzufolge zwar eine Bedeutungsgeschichte (als einzelsprachbezogene Höhenkammgeschichte) des Deutschen, aber keine über Einzelfälle hinausgehende historische Bedeutungsgeographie und -soziologie, erst recht keine Versuche, die Gesamtbedeutung lexikalischer Ausdrücke geographisch oder soziologisch zu gliedern und in ein historisches Bild zu bringen.189 Natürlich ist zuzugestehen, dass dafür auch sachliche Gründe maßgebend sind, von allem die Belegsituation: Schriftlich fixierte Sprache tendiert zur Überregionalität und ist Ausdruck einer Bildungsschicht. Das heißt natürlich auch, dass zumindest die Bedeutungssoziologie nicht einzelsprachbezogen, sondern nur unter europäischen Aspekten realisierbar ist; genau dies aber hat man nie wirklich gewollt. 2. 3. Das Frequenzkriterium (c) hat den Vorteil, auf den ersten Blick maximal objektiv zu sein, fällt dennoch aber bereits aufgrund der Zufälligkeiten des Corpus aus den Ordnungsüberlegungen heraus. Dies besagt aber nicht, dass es in der lexikographischen Praxis nicht in die Bedeutungsanordnung hineinstreuen würde. 2. 4. Die Kriterien (d), (e), (f) in Abs. 1 sind ideengeschichtlich bis in die griechische Antike hinein zurückzuverfolgen; ihren Einzug in die moderne Lexikographie finden sie über die Sprachtheorie der Aufklärung, speziell über das Grammatisch-kritische Wörterbuch J. C. Adelungs: Am Anfang stand – nach Kriterium (f) – das Konkrete, wie auch in späteren Jahrzehnten und Jahrhunderten (vgl. C. Richardson 1867) immer wieder angenommen wurde. Es wurde im aufklärerischen Sprachverständnis aber nicht als poetischer Wurf (wie bei J. Grimm und im WNT) in vollkommener leiblicher Gestalt (o. ä.) verstanden, sondern als Ausdruck einfachen, nicht differenzierten Denkens; insofern konnte die Konkretbezeichnung mit der ‚eigentlichen‘ Bezeichnung – Kriterium (e) – im Sinne der Tropenlehre190 identifiziert werden. Wenn man das ‚Konkrete‘ und ‚Eigentliche‘ mit dem noch Undifferenzierten zusammenfallen lässt, dann ergibt sich die Brücke
188 Hierzu: H. Vekeman / A. Ecke 1992; z. B. S. 73f.; 88f. 189 Zur Nutzung und Problematik geographischer Bedeutungslagerungen für die Artikelgliederung in Wörterbüchern des Spanischen s. R. Werner 1989, S. 921. 190 Der tropische Eigentlichkeitsgedanke ist nicht mit dem Eigentlichkeitsbegriff der Barockzeit zu verwechseln.
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zu der Unterscheidung von ‚generisch‘ und ‚differenziert‘, also zu Kriterium (d), damit immer wieder auch zum Kriterium (a) ‚Geschichte‘. Wo sich also dt. eigentlich, allgemein, konkret, nl. eigenlijk, algemeen bzw. die entgegengesetzten Adjektive speziell, uneigentlich, abstrakt usw. finden, besteht immer der Verdacht, dass geschichtliches Denken im Spiel ist. So üblich all diese Bezugsetzungen auch sind, so anfechtbar sind sie insbesondere wegen ihrer Apriorismen unter sprachhistorischen, sprachtheoretischen und methodischen Aspekten. – Zur Begründungsfrage werden diese Probleme für diejenigen Lexikographen, die – wie K. Spalding in seinem Historical Dictionary of Figurative Usage – einerseits genau wissen, dass oft unklar ist, welches der eigentliche und welches der figurative Gebrauch sei, andererseits aber genau diese Unterscheidung zur zentralen Idee ihres Wörterbuches machen und dabei zu beeindruckenden Ergebnissen kommen. 2. 5. Das wortbildungsmorphologische Kriterien (g) hat eine vor allem motivationssemantische Ausrichtung. Seine Anwendbarkeit kann unter lexiktheoretischen Gesichtspunkten kaum relativiert werden; es gibt aber praktische Gründe, die seiner tatsächlichen Anwendung entgegen stehen: Wortbildungen schwanken auf einer Motivations- und damit partiell verbunden auf einer Lexikalisierungsskala zwischen vollständig motiviert / nicht lexikalisiert und vollständig demotiviert / lexikalisiert. Damit verbindet sich in der lexikographischen Praxis die nahezu immer genutzte Möglichkeit, die Beschreibung wortgebildeter Einheiten zu reduzieren. Je nach dem, wie strikt dies gehandhabt wird, kann Kriterium (g) als Gliederungsmöglichkeit ausfallen. 2. 6. Kriterium (h) ist der semantischen Wortgebrauchstheorie verpflichtet. Seine Anwendung steht erst einmal unter der Einsicht, dass man die angesetzten Sememe nach verschiedenen Aspekten miteinander vergleichen und dementsprechend zu verschiedenen Gruppierungen kommen kann. Will man nicht in einen jedes Arbeiten lähmenden Relativismus verfallen, muss dieser Einsicht dann aber doch die Auffassung folgen, dass viele Ähnlichkeiten (Spezialisierungen, Generalisierungen, Wertungen, Tropisierungen aller Art), seien sie nun Setzungen oder aus der Bezugswelt herzuleiten, für den Lexikographen wie seinen Rezipienten auf der Hand liegen und somit kaum als Problem empfunden werden. Die Sememordnung nach inhaltlichen Ähnlichkeiten ist dennoch ein gewagter Teil der Artikelgestaltung. Er hat stark konstruktivistische Züge, dürfte weniger objektiv begründbar sein als zum Beispiel die Anordnung nach dem Alter der Belege (und auch nach einigen der anderen besprochenen Kriterien). Demgegenüber ist für viele Gegenstände zu betonen: Je objektiver man wird, desto uninteressanter wird man und steigt aus dem Spiel inhaltlicher Gestaltungen aus.
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2. 7. Das syntaktische Kriterium (i) hat den Vorteil, einen Gegenstand, de facto vor allem die Valenz des Verbs, zu haben, der klarer und unbestrittener feststellbar ist als semantische Unterscheidungen; es ist daher erst einmal durchaus orientierend. Sein Nachteil besteht darin, dass es semantische Aussagen auf einen nachgeordneten Rang, also in eine zweite Interesseposition, verweist und auch nicht als belegadäquates Gliederungskriterium fungieren kann, es sei denn, man sehe den Sinn von Belegen in der Wertigkeit des Verbs. 2. 8. Kriterium (k) finde ich nur bei R. Schützeichel in seinen Glwsch. angewendet. Es scheint mir rein technizistisch motiviert zu sein, so dass ich seine lexikographische Zukunft bezweifle. Wenn man es begründen wollte, müsste man wohl zu der Annahme greifen, das lexikalische Bedeutungsfeld (Signifikat, semasiologisches Feld) sei sprachontisch völlig unstrukturiert, oder es sei zwar strukturiert, aber weder ‚richtig‘ noch nach der Dichotomie ‚besser / schlechter beschreibbar‘ zu behandeln. Dann läge es in der Hand des Lexikographen, ihm eine beliebige Ordnung zu geben. Insofern diese allerdings ebenfalls der Begründung bedürfte, wäre man keinen Schritt weiter. 2. 9. Kriterium (l) setzt bei aller Einsichtigkeit zunächst eine praktische Übereinkunft darüber voraus, dass der Lexikograph einer späteren Zeitstufe die Arbeit der Kollegen zu einer früheren Zeitstufe (es ginge auch umgekehrt) als so hoch einschätzt, dass er deren Bedeutungsordnung weitgehend, wenn nicht gar in toto zu übernehmen bereit ist. Diese Voraussetzung dürfte erstens infolge unterschiedlicher Bearbeitungsstände der in Betracht kommenden Unternehmen kaum einmal gegeben sein; sie dürfte ferner die Möglichkeiten des persönlichen Zusammenspiels von Lexikographen überschätzen. Man stelle sich (für dass Deutsche) vor, die Herausgeber / Bearbeiter des Mhd. Wb. würden die Gliederung des Ahd. Wb. oder des Glwsch. R. Schützeichels übernehmen oder sich am FWB orientieren, oder O. Reichmann würde für die noch ausstehenden Strecken des FWB das rasch voranschreitende Mhd. Wb. zum Vorbild seiner künftigen Bedeutungsanordnungen nehmen: ein Lexikographenfrieden, der kaum ausbrechen wird. – Die entscheidenden Argumente lauten natürlich: Jeder Lexikograph schreibt sein eigenes Wörterbuch so wie jeder Literaturhistoriker seine eigene Literaturgeschichte schreibt, selbst wenn die Bedingungen ähnlich wären. Und jedes Wörterbuch hat seinen eigenen Gegenstand und seine eigene wissenschaftliche und kulturpädagogische Funktion. – Trotz alledem ist zu konstatieren, dass die Ausrichtung der früheren Epoche auf die spätere (wenn schon, dann die gegenwärtige) bereits bei der Diskussion der Gestalt des Lemmazeichens eine Rolle spielte (Kap. 3, Abs. 2. 7; Anm. 42), dass das
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teleologische Anliegen der Sprachgeschichtsforschung sich durchaus in Bezugsetzungen früherer auf spätere Bedeutungsfelder spiegeln könnte, dass sich auf diese Weise historische Kontinuitätskonstrukte ergeben würden, die über die üblichen einzellexikalischen Zufälligkeiten hinausgehen würden, sich allerdings dem Ahistorizitätsvorwurf zu stellen hätten. 3. Sofern man sich den vorgetragenen Überlegungen mit ihrem dauernden Wenn und Aber anschließt, folgt daraus, dass man lieber darauf verzichtet, sich auf ein einziges Kriterium der Ordnung von Einzelbedeutungen festzulegen.191 Dies Letztere zu tun, hätte auch folgende, der normalen Vernunft (was das auch ist) widersprechende Gründe: Etwa die Zeitlinie der Belege zur Richtschnur zu machen, kann zu narrativ eingängigen Bildern führen, ist aber von den Zufälligkeiten der Überlieferung abhängig. Es würde z. B. den üblichen Vorstellungen von ‚eigentlicher‘ und ‚tropischer‘ Bedeutung zuwiderlaufen, wenn man eine offensichtlich tropische Verwendung, nur weil sie 100 Jahre früher belegt ist, an den Anfang der Bedeutungsreihe stellen und ihr die ebenso offensichtlich ‚eigentliche‘ Bedeutung folgen lassen würde.192 Es sei aber ausdrücklich gesagt, dass das Denkmuster von ‚eigentlich‘ zu ‚tropisch‘ keineswegs auf eine Realität treffen muss; es gibt ja nicht nur Übertragungen von ‚konkret‘ zu ‚abstrakt‘, sondern auch solche in umgekehrter Richtung und in einzelwortübergreifendem Verband. – Die Wortbildungsfruchtbarkeit anzusetzen, würde bei all denjenigen Wörterbüchern, in denen die Wortbildung peripher oder gar nicht behandelt ist, ins Leere gehen. – Immer eine generische oder eigentliche oder konkrete Bedeutung zu suchen, mag für Wörter wie Katze (1. >Katze generellspeziell: weibliche KatzeReit-, Arbeitstierkräftig entwickelter Menschfleißiger Mensch, Zugpferd< usw.) sinnvoll sein, bei allen interessanten Ausdrücken (Freude, Glück, Liebe, Recht, Gnade) wäre sie das Ergebnis semantischer Nötigung. – Verbbedeutungen nach syntaktischen Kriterien zu untergliedern, übersieht abgesehen von dem oben Vorgetragenen die Querlage von Syntax und Semantik. Und so geht es weiter. Ich plädiere mithin bei historisch-synchronen Wörterbüchern (so dem Mhd. Wb. und dem FWB) trotz der oben ausdrücklich konstatierten Gewagtheiten für eine besondere Beachtung, aber nicht die ausschließliche Gültigkeit des Prinzips (h) ‚inhaltliche Nähe‘, da dieses Kriterium den semantischen Nachschlageanliegen am ehesten entsprechen würde. Bei ent-
191 S. dazu auch, speziell hinsichtlich des Konfliktes von Logik und Geschichte: M. de Vries, in: Inleiding zum WNT, Bd. 1, LXf. 192 Das ist dasjenige, was M. de Vries (a. a. O., S. LXI) diplomatisch als „eisen [>Anforderungensein< (I). Die Häufigkeit, mit der solche Übersichten verwirklicht werden, schwankt von Wörterbuch zu Wörterbuch und wörterbuchintern; später bearbeitete Strecken eines einzigen Werkes tendieren oft, nicht aber z. B. in der Neubearbeitung des DWB, zu einer systematischeren Realisierung als früher bearbeitete. Das hierarchische Gliederungsschema macht unter der Voraussetzung, dass es optisch sofort ins Auge springt (wie beim Ahd. Wb.), eine Übersichtsskizze eher überflüssig als die lineare Bedeutungsreihung (z. B. des FWB). Unter inhaltlichen Aspekten richtet sich die Gliederungsskizze nach dem dominanten Behandlungsanliegen des Wörterbuches, meist nach der Semantik; teilweise kreuzen sich verschiedene Kriterien. – Folgende Beispiele seien zur Veranschaulichung der Gestaltungsvarianz kurz genannt: FWB, Bd. 2, Sp. 100: arm, Adj. [...]. „1 – 3 zur Kennzeichnung der Besitzlosigkeit, der nicht gegebenen Verfügbarkeit über Materielles und Geistiges; 4 – 8 zur Kennzeichnung sozialer Abhängigkeit, ihrer Formen und der mit ihr verbundenen [...] Folgen; 9 eine polare Paarformel, die auf 1 – 3 und 4 beruhen kann; 10 – 14 zur Kennzeichnung allgemeiner und spezieller [...] Mitleidswürdigkeit; [...]“. – Die Skizze ist entsprechend dem typenkonstitutiven Anliegen des FWB rein semantisch angelegt. DRW, Bd. 6, Sp. 784: Kanzlei [...]. „Übersicht: I. ursprüngl. Gewölbe. – II. allg. – 1. kleines (einräumiges?) Haus, [...]. – 2. im (Wohn)haus. [...]. III. insbes. am Hof. [...]“ usw. – Es folgen 32 eng bedruckte Zeilen. Die Gliederung ist semantisch, enzyklopädisch-rechtsgeschichtlich, rechtsgeographisch und rechtssoziologisch ausgerichtet; die Geschichte des Rechtswortes deutet sich in Zeitangaben wie ursprünglich und in zeitbezüglichen Angaben wie „Kaiser, König, Reich“ (unter IV, 3) an; die rechtsgeographischen und -soziologischen Bezüge erscheinen in Formulierungen wie „in Österreich“, „in Preussen“, „Einrichtungen aus d. bürgerl. Bereich“; sie haben in jedem dieser Fälle aber auch einen (teils allerdings vagen) zeitlichen Aussagewert. Dies alles entspricht den dominanten semantischen, rechtsgeschichtlichen (usw.) Anliegen eines historisch-fachsprachlichen Wörterbuches. DWB, Bd. 14, 2, Sp. 204: Willkür [...]. „II. bedeutung und gebrauch. 1) die grundbedeutung ist ‚freie wahl oder entschlieszung‘; [...] alte vorläufer und gleichbedeutend sind willige [...] kür; [...] in der alten sprache deckt es sich noch vielfach mit dem stammwort kür [...]“. – Es folgen noch 6 weitere
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Zeilen, aus denen die jüngeren Bedeutungsumbrüche ersichtlich werden. Hier dominiert entsprechend dem Programm des DWB in knappen und gekonnten Federstrichen die bedeutungsgeschichtliche Linie. Die Artikel des DWB haben abgesehen von solchen dem Bedeutungsteil vorangestellten Orientierungen generell einen auf Etymologie und Morphologie zielenden sog. „Formteil“, der in aller Regel bereits eine Skizze der Bedeutungsgeschichte enthält. Das Schweiz. Id. verfährt in den Gliederungsübersichten generell nach semantischen Kriterien (meist die ‚eigentliche‘ vor der ‚übertragenen‘ Bedeutung), teilweise nach Bezugsbereichen. Im einzelnen kann zugunsten grammatischer Kriterien von der Regel abgewichen werden: Bei der Partikel wie (Bd. 15, Sp. 73) wird der adverbiale Gebrauch (unter A) dem konjunktionalen (unter B) entgegengestellt, bei wider (ebd., Sp. 606) der präpositionale dem adverbialen; in den Unterpunkten zweiter, dritter oder vierter Ordnung mischen sich semantische und grammatische Gesichtspunkte. – Bei dem Verb weiden (Bd. 15, Sp. 529) wird nach ‚transitiv‘, ‚intransitiv bzw. absolut‘ und ‚reflexiv‘ unterschieden, bei weidenlich (ebd., Sp. 541) nach adjektivischem und adverbialem Gebrauch. – Bei wëgen (ebd., Sp. 902) steht unter 1 der intransitive Gebrauch, bei den folgenden Punkten ist die transitive Verwendung aus der Bedeutungsangabe erschließbar. Die großen kulturhistorischen Lexika des Deutschen enthalten im Artikelkopf in der Regel ein orientierendes Zeitgerüst, also etwa: Antike, Mittelalter, Spätmittelalter / Frühe Neuzeit, Neuzeit (so das Hist. Wb. Rhet., Bd. 8, s. v. Roman; Sp. 264); oder: Antike und Mittelalter, Reformation, 18. Jahrhundert, Zeit nach der Reichsgründung (so GG, Bd. 6, s. v. Stand, Klasse). In Gerüste dieser Art sind einzelartikelspezifische systematische Gliederungen eingeflochten. (4) Ein besonderer Orientierungswert bei der Schaffung von Übersichtlichkeit kommt folgendem Verfahren zu: Man setzt möglichst direkt hinter dem Lemma – bei Monosemie – eine meist synonymische und einfache, auf den ersten Blick eingängige Kurzangabe einer Bedeutung bzw. – bei Polysemie – eine durch Semikola getrennte Reihe solcher Kurzangaben an. Dann ergibt sich folgendes Bild (erstere beiden Beispiele aus dem WMU, letzteres aus dem VMNW, jeweils s. v.): torkel [...] Kelter [...]. tôt [...] tot, gestorben; abgestorben, verdorrt; erledigt, ungültig. [...]. ghelden [...] betalen; kopen; vergelden; opbrengen; doen toekomen; inwilligen. [...].
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
Im Bedeutungsteil des Wörterbuches wird jede dieser Kurzangaben dann wieder aufgegriffen und – falls sie nicht schon als ausreichend erachtet und dann bloß wiederholt wird – näher spezifiziert. Für ghelden erhält man unter den transitiven Verwendungen (s. dazu den folgenden Absatz) die ausgedehntere Angabe betalen, voldoen (mit weiteren Untergliederungen); doen toekomen wird mit geven, verschaffen und nochmaligem doen toekomen wieder aufgegriffen, inwilligen mit inwilligen, nakomen usw. (5) Syntaktisch orientierte Gliederungsmarken (innerhalb des Artikels): Sie begegnen (für Verben) systematisch schon bei BMZ, ferner im WMU, im VMNW und mit einer gewissen Häufigkeit im Mhd. Wb. Im einzelnen können sie verschieden gehandhabt werden: Im WMU werden Verben und Konjunktionen, je nach Materialbefund auch Adverbien nach syntaktischen, Substantive und Adjektive nach semantischen Kennzeichen gegliedert, für Präpositionen gilt eine Regelung nach der Wortgruppe, in der sie erscheinen.193 Dagegen werden im VMNW nur die Verben nach syntaktischen Gesichtspunkten, und zwar nach transitivem, intransitivem und reflexivem Gebrauch, gegliedert. Dem entspricht in einer Reihe von Fällen das Vorgehen im Mhd. Wb.; vgl. dort arbeiten 1. intransitiv, 2. reflexiv, 3. transitiv (danach jeweils semantische Angaben). – Es stellt sich natürlich die prinzipielle Frage, ob und inwieweit eine syntaktisch motivierte Gliederung der Gesamtbedeutung dem historischen Wörterbuch (und zwar in seinen beiden Ausprägungen; vgl. Teil A, Kap. A 2) von dessen Anliegen her adäquat sein kann. Dies wäre zweifellos der Fall, wenn das betreffende Werk prioritär syntaktische Verhältnisse beschreiben wollte. In allen Fällen, in denen das nicht beabsichtigt ist – es sind die meisten – könnte Adäquatheit nur dann bescheinigt werden, wenn sich die Syntax schneller verändert und ausgeprägtere Verstehbarkeitsgrenzen (im Sinne St. Sondereggers 1979, S. 185 ff.) bewirkt hätte als die Semantik. Das dürfte nicht der Fall sein. Welche Begründung hat dann aber eine syntaktische Gliederung semasiologischer Felder z. B. für ein Belegwörterbuch? Oder auch für ein semasiologisches Wörterbuch? Für textlexikographische Werke generell? – Diese Frage gilt auch für die Lexikographie des Niederländischen und Englischen. 5. Bei aller „Pragmatik“, hier verstanden als ‚Flexibilität‘, mit der die Herstellung von Bedeutungsordnungen in der lexikographischen Praxis erfolgt, muss die Frage nach der vorrangigen Gültigkeit entweder des hierarchischen Prinzips oder des Reihungsprinzips noch einmal erörtert wer-
193 Bd. 1, S. 9; zur Beurteilung der Regelung vgl. man E. Dittmer 1990, 49 – 53. Dittmers Ausführungen nehmen meine Diskussion (Kap. 11, Abs. 3) speziell im Hinblick auf die nicht vorhandene Isomorphie zwischen Syntax und Semantik vorweg.
7. Zur Bedeutung des Lemmazeichens
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den. Sie lässt sich nicht ‚praktisch‘, nicht von Fall zu Fall, nicht einmal so und einmal anders lösen. Sie ist vielmehr – zumindest auf der obersten Gliederungsebene – prinzipiell zu entscheiden, und zwar deshalb, weil die theoretischen Vorgaben mehr oder weniger versteckt in den lexikographischen Alltag eingehen und schließlich, weil sich der Benutzer leichter orientieren kann, wenn er weiß, welche Artikelstruktur er erwarten kann. Dass der Unterscheidung von ‚hierarchisch‘ und ‚reihend‘ in diesem Buch ein hohes Gewicht zukommt, wurde bereits daran deutlich, dass sie in mehreren anderen Zusammenhängen zur Sprache kam (vor allem in Kap. 7. 2, Abs. 3. 6 f.). Sie soll hier selbst auf die Gefahr einiger Wiederholungen noch einmal aufgegriffen und hinsichtlich ihrer Ordnungsimplikationen etwas ausführlicher erläutert sowie kritisch diskutiert werden. Ich führe die idealtypische Form der hierarchischen Gliederung an einem fiktiven Beispiel, und zwar an frnhd. abenteuer, vor. Das Bedeutungsfeld dieses Substantivs hätte im FWB auch wie folgt gegliedert werden können (s. Abb. 24): 1. Handlung von Menschen 1.1. gegenüber Menschen 1.1.1. gegenüber Gegnern, um diese zu überwinden und/oder um sich als besser zu erweisen 1.1.1.1.im Sinne ritterlich-höfischer Ideologie: ›zum Beweis ritterlicher Tüchtigkeit […] unternommene ritterliche Bewährungsprobe […]‹ [1, Teil] 1.1.1.2. im militärischen Sinne: ›[…] Kampf, Krieg‹ [3] 1.1.1.3. mit Spielabsichten in Wettbewerbssituationen 1.1.1.3.1. im ritterlich-höfischen Bereich: ›Turnier‹ [1, Teil] 1.1.1.3.2. im stadtbürgerlichen Bereich: ›Preis-, Wettschießen‹ [16] 1.1.2. gegenüber Geschäftspartnern: ›Geschäft, Handelsabschluß‹ [12] 1.1.3. gegenüber Mitmenschen allgemein 1.1.3.1. zu Betrugszwecken: ›Unrechtmäßigkeit […]‹ [8] 1.1.3.2. zu Zwecken der Unterhaltung 1.1.3.2.1. sprachlich 1.1.3.2.1.1. neutral: ›Erzählung, Geschichte, Bericht […]‹ [6, Teil] 1.1.3.2.1.2. wertend: ›Lügengeschichte, Ammenmärchen‹ [7] 1.1.3.2.2. mimisch, gestisch: ›Posse […], Mätzchen‹ [9] 1.2. generell in schwierigen Lebenssituationen, um diese zu meistern: ›Wagnis, Risiko‹ [11] 2. Vorgang 2.1. allgemein: ›Ereignis, Begebenheit schlechthin‹ [5, Teil] 2.2. speziell in verschiedenen Hinsichten 2.2.1. mit dem Aspekt des Merkwürdigen: ›merkwürdige […] Begebenheit‹ [5, Teil] 2.2.3. mit dem Aspekt des nicht Erklärbaren: ›Zufall, Glück‹ [14] 3. Implikate der Handlung oder des Vorganges 3.1. das Ergebnis 3.1.1. der Handlung im höfisch-ritterlichen Sinne: ›[…] Trophäe […]‹ [2] 3.1.2. der militärischen Handlung: ›Beute […]‹ [4] 3.1.3. des bürgerlichen Preisschießens: ›der […] Preis‹ [17] 3.1.4. der gefahrvollen Suche nach Bergschätzen: ›Bergschatz‹ [15] 3.2. der Gegenstand geschäftlicher Handlungen: ›minderwertige […] Handelsware […], Kostbarkeit‹ [13] 3.3. die Vorlage einer Erzählung: ›Quelle […]‹ [6, Teil] 3.4. das Mittel mimisch-gestischer Unterhaltung: ›Mittel zur Posse‹ [20]
Abb. 24: Frnhd. abenteuer in idealtypischer hierarchischer Gestaltung (aus: FWB 1, Lexikographische Einleitung, S. 102)
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
Statt der Zahl 1 hätte man auch römisch I, statt 1. 1. auch A, statt 1. 1. 1. auch arabisch 1, statt 1. 1. 1. 1. auch römisch a usw. ansetzen und entsprechend für alle anderen Positionen verfahren können. Man wäre dann in die strukturelle Nähe der Behandlung von Abenteuer in der Neubearbeitung des DWB gekommen; dort hat man I, dann A, dann A1 bis A4 usw.; in einzelnen Unterpunkten erreicht man eine Staffelungstiefe bis zu fünfter Ordnung. – Auch eine graphische Veranschaulichung wäre möglich; sie hätte folgende Form (auf den Strang I, A, 1, a, Į verkürzt):
I A 1 a Į
II B
A
B
C
[…]
[…]
[…] b
[…]
[…]
ß
Abb. 25: Graphische Veranschaulichung des hierarchischen Gliederungsprinzips
Man erhält derartige Ordnungen, wenn man aus inhaltlich zusammengehörigen Bedeutungen einzelne ‚gemeinsame‘ Merkmale ausgliedert und diese den betroffenen Bedeutungen als ‚allgemeine‘ Inhaltsmerkmale erster Stufe voranstellt, dann mehrere dieser allgemeinen Merkmale auf einer zweiten Stufe ihrerseits auf allgemeine Merkmale befragt, diese wiederum voranstellt, und so bis zu dem gewünschten Grad der Gliederung fortfährt. Die auf solche Weise entstehenden Hierarchien haben an ihrer Spitze im Extremfall eine einzige generische Einheit und an der Basis beliebig feine Ausdifferenzierungen. 5. 1. Dieses Verfahren hat unbezweifelbare Vorteile: Es garantiert, sofern es jedenfalls nicht durch eine dilettantische Typographie konterkariert wird, eine geradezu suggestive Übersichtlichkeit. – Die allgemeinen Inhaltsmerkmale können mit den sog. Semasemen (H. Henne 1972, S. 132; s. dort auch S. 148 f.), also einem ‚Begriff‘ der strukturellen lexikalischen Semantik, identifiziert werden; man hat damit den Anschluss an eine relativ langfristig anerkannte Lexiktheorie. – Sofern man bereit ist, linguistische Konzepte
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(wie das Semasem) mit sozialkognitiven Assoziationen zu verbinden, sichern sie die innere Einheit des polysemen Wortes, die als Voraussetzung für tropischen Wortgebrauch betrachtet werden kann. – Die sog. Gesamtbedeutung wird dem Denken nach Generalisierungsabstraktionen unterworfen, einem Denken, in dem Lernende jahrhundertelang sozialisiert wurden und dessen Leistungsfähigkeit für niemanden in Zweifel steht. – Das Bild lässt gleichsam auf Anhieb systematische Relationen im semasiologischen Feld erkennen. Was in obiger Abbildung 24 unter 1. als ‚Handlung von Menschen‘ und unter 2. als ‚Vorgang‘ bezeichnet wird, erscheint unter 3. als ‚Implikat der Handlung oder des Vorgangs‘, so dass sofort Metonymien ins Auge springen, die sich unter 3. 1. dann weiter ausdifferenziert finden. – Das Bild gibt aber auch die oft bemühten lexikalischen Lücken, hier Bedeutungslücken, zu erkennen: Wenn man will (und nur dann), kann man die schmale Ausformung von 1. 2. ‚menschliche Handlung in schwierigen Lebenssituationen‘ und von 2. ‚Vorgang‘ als Indikator von Lücken auffassen, denn warum sollten nicht z. B. auch ein Unwetter, ein Erdbeben, eine Seuche unter abenteuer fallen? Und warum sollte dann nicht bei den Metonymien unter 3. die Überschwemmung, der Einsturz eines Hauses oder eine Verwundung erscheinen? – Unter der Voraussetzung, dass man dies alles akzeptiert, würde man hinzufügen können, dass das Hierarchie-Schema insbesondere auf texttranszendierende Benutzungsanliegen Antworten gibt, und zwar – über die in Teil A, Kap. 4. 3, Abs. 3 beschriebenen Möglichkeiten hinausgehend – schon deshalb, weil potentielle tropische Gebräuche aus dem Schema gleichsam voraussehbar sind und damit nicht belegte, aber in jedem beliebigen Text zu erwartende Metaphern, Metonymien usw. erkennbar und einsichtig werden, oder weil sich variante Bedeutungen oder semantische Nuancen (im Schema: ganze Gebrauchszweige) möglicherweise an Zeiten, Räume, Schichten binden lassen. Der sich daraus herleitenden Erwartung, dass es denn auch die großen gesamtsprachbezogenen und die fachgeschichtlich orientierten Wörterbücher sind, die dem hierarchischen Behandlungsmodell eine gewisse Priorität einräumen, entsprechen zwar das DWB und DRW, auch das Schweiz. Id., kaum dagegen das WNT und das OED. 5. 2. Die Schwierigkeiten beginnen beim Status hierarchischer Ordnungen. Unter diesem Aspekt stehen sich zwei Interpretationen gegenüber. 5. 2. 1. Die erste lautet: Hierarchien sind metasprachliche Gestaltungsmittel ohne irgendwelche versteckten, suggestiven Aussagen über den betroffenen Gegenstand. Sie sind nicht eine Sache der Semantik, sondern der Semasiologie; sie besagen also nicht, dass die Gesamtbedeutung eines Lemmazeichens objektsprachlich nach ‚allgemein‘ und ‚spezifisch‘ gegliedert „ist“, und dass man dies methodisch „entdeckt“, danach „dargestellt,
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
abgebildet“ habe (wie immer die abbildtheoretischen Metaphern auch lauten mögen). Auch wenn in Wörterbüchern besonders häufig, und zwar auf allen Hierarchieebenen, zwischen ‚Allgemeinem‘ und irgendetwas „Spezifischem‘ unterschieden wird, besagt das nur, dass man eine Übersicht zu schaffen versucht hat. Das Darstellungsmuster ist nicht nur nicht die Botschaft, sondern es affiziert diese nicht einmal. Um einen gegenteiligen Eindruck zu verhindern, sind vielleicht bestimmte Anstrengungen der Art, wie sie am Beispiel Geschichte des Goethe-Wbs. (s. Kap. 7. 2, Abs. 6. 2) vorgeführt wurden, notwendig, das hat aber nichts mit dem Schema als solchem zu tun. 5. 2. 2. Die zweite Interpretation lautet genau umgekehrt: Die hierarchische Ordnung prägt die Botschaft mit oder bestimmt sie sogar. Das Schema besagt dann gleichsam als solches, dass die Bedeutung eines Lemmazeichens hierarchisch, also nach der Generalisierungs- und damit Weglassungsabstraktion, geordnet ist, und es wird vom Wörterbuchbenutzer auch so gelesen. Damit ist der in diesem Buch immer wieder betonte Status der Wortbedeutung als Gegebenheit des sozialsituativen Gebrauchs aufgehoben. Die vom Lexikographen als ‚gemeinsam‘ verstandenen Merkmale werden zu ‚allgemeinen‘, und zwar zu ‚tatsächlich allgemeinen‘. Der gesamte Wortgebrauch wird als logikgeleitet, als Ausdruck eines ens rationale (eines Vernunftwesens), wenn auch nicht regresspflichtig ausgesagt, so doch suggeriert. Es wird fixiert, was genus und was differentia specifica „ist“, welchen Strukturplatz jede einzelne Gebrauchsangabe innerhalb der semantischen Pyramide hat, wie nahe oder wie entfernt sie – optisch gesehen – jeder anderen Angabe steht. Noch schärfer ausgedrückt: Dem Wortgebrauch wird nicht nur Generisches und Spezifisches unterlegt, es werden auch – im Bild horizontal gesehen – auf jeder hierarchischen Ebene scharfe Grenzen zwischen den dort angesiedelten Bedeutungen, also etwa zwischen 1., 2., 3. (usw.), unterstellt; und es wird – im Bild vertikal gesehen – der Eindruck vermittelt, dass auch zwischen den verschiedenen Gliederungsebenen, etwa zwischen der höheren von A, B einerseits und der niedrigeren von 1., 2., 3. andererseits, objektiv-logische Abstufungen bestehen. Die Tageserfahrung jedes Lexikographen, nämlich die Schlechtbestimmtheit von Wortbedeutungen, ihre soziale Gestalthaftigkeit (vgl. Kap. 7. 5, 2, Abs. 6. 2 f.) weicht der Suggestion durchgehender Wohlbestimmtheit, die dann dazu drängt, sie auch dort herzustellen, wo sie sich aus den Belegen absolut nicht herauslesen lassen will. In der Tropologie mögen zwar eigentliche von tropischen Wortverwendungen und innerhalb dieser Grenzverschiebungs- (z. B. Metonymien) von Sprungtropen (z. B. Metaphern) deutlich unterschieden werden können (H. Lausberg 1971, S. 66; 78), die lexikographische Praxis wimmelt
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aber geradezu von den Fällen, in denen man nicht weiß, wie man sich zwischen ‚eigentlich‘ und ‚tropisch‘ sowie innertropisch entscheiden soll, und dann lieber unentschieden zu komplexen phrastischen Formulierungen greift. Im übrigen führt die Anwendung scharfer Unterscheidungen – im Bild der Pyramide gesprochen – dazu, dass man etwa Metonymien und Metaphern gleichsam aus ihrer oft engen Verbindung mit der sog. ‚eigentlichen‘ Bedeutung herausreißt: So würde die gesamte in obigem Beispiel abenteuer unter Punkt 3. angegebene Liste von Tropen statt mit Punkt 3. 1. >Ergebnis< oder 3. 2. >Gegenstand< aus der Beziehung zu >Handlung< und >Vorgang< herausgebrochen und an das weiter entfernt stehende Ende des Bedeutungsfeldes gerückt, bei der graphischen Darstellung würde es von weit links nach weit rechts rücken. – Unter benutzerbezüglichem Aspekt kommt hinzu, dass die allgemeineren, also am oberen Ende der Pyramide stehenden Gliederungsaspekte natürlich Allgemeines formulieren, so etwa die Unterscheidung von ‚Sache‘ oder ‚Person‘, oder von ‚Handlung‘ und ‚Vorgang‘, oder von ,Handlung‘ und Handlungsprodukt‘. Unterscheidungen dieser Art sind jedem Lesekundigen in der ganzen Welt aus jedem Text erschließbar; sie treffen auf kein ernst zu nehmendes Nachschlageanliegen, sofern man jedenfalls weiß, ob der ‚Teufel‘, ‚Frau Welt‘ und viele andere sprachlichen Konstrukte Sachen oder Personen sind. 5. 2. 3. Das gerade Diskutierte hat Auswirkungen auf die Informationspositionen eines Wörterbuchartikels im Nähebereich der Bedeutungs‚angabe‘. Ich meine die Informationen in deren Umfeld, etwa Feindifferenzierungen, die aus der Angabe ausgeklammert werden, sachliche Erläuterungen, Angaben zur onomasiologischen Vernetzung sowie die Angabe von Syntagmen und Wortbildungen, möglicherweise auch diejenige von Phrasemen und von Symptomwerten. Könnte es sogar sein, dass man auf diese, speziell auf die gerade als ‚Feindifferenzierung‘ gekennzeichnete Besonderheit, verzichtet, weil sie das Schema stört, sich also nicht dem Genus-Differentia-Prinzip unterwerfen lässt? Alle diese Informationen bedürfen zudem einer Adressierung; das heißt unter dem hier vorliegenden Aspekt (in Ergänzung des in Kap. 7. 5. 3, Abs. 3. 3 f. zur Dichotomie ‚kompakt‘ / ‚diffus‘ Gesagten): Auf welche semantische Hierarchieebene sind die sog. Synonyme beziehbar, auf die Ebene I, oder A, oder 1, oder a (usw.)? Auf welche sind die Syntagmen und alle dekomponierbaren Wortbildungen zu beziehen? Von welcher Ebene her sind Phraseme, falls überhaupt, motivierbar? Für welche Ebene gelten die Symptomwertangaben (zu Zeit, Raum, Textsorte)? Nur falls man all diese Informationspositionen nicht hat, gibt es kein Problem. Wenn man sie aber hat und etwa bis zu fünf hierarchische Ebenen der Bedeutungserläuterung unterscheidet, dann stellt sich die Adressierungsfrage bei jedem Arti-
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kel. Und dann ergeben sich mehrere Antwortmöglichkeiten: Einmal ist es durchaus denkbar und stünde in voller Übereinstimmung mit meiner Betonung des Lexikons als eines systemoidhaft strukturierten Inventars von Unikaten, dass sich ein bestimmtes Synonym auf die hoch abstraktive hierarchische Ebene I und damit auf alle seine Untergliederungen beziehen lässt, ein anderes Synonym dagegen nur auf eine untergeordnete Ebene, sagen wir mal: auf a (in der vierten Ebene). Wenn man dies annimmt, dann muss es sich im Wörterbuchartikel in sehr differenzierter Weise niederschlagen. Dem steht aber das Faktum gegenüber, dass nicht nur die Überlieferungssituation, die Corpusbeschränkungen und die Arbeitsbedingungen des Lexikographen es schwer und oft unmöglich machen, ebenenspezifische Zuordnungen vorzunehmen, sondern dass auch die teilweise spektrumsartigen Vernetzungen eines semasiologischen Feldes dies erschweren. Dann kann eine zweite Möglichkeit greifen, nämlich impressionistisch so zu verfahren, wie es gerade am sinnvollsten erscheint. Eine dritte Möglichkeit bestünde darin, auf die genannten Angabetypen oder eben auf die semantische Pyramide zu verzichten. – Analog zu dem Gesagten würde die Diskussion der Adressierung der anderen lexikographischen Informationen verlaufen. 6. Damit bin ich bei der Reihung von Einzelbedeutungen, im Falle konsequenter Anwendung also bei der geradlinigen Auflistung nach Zahlen oder Buchstaben, wie sie im FWB, auch im OED, im MED und SND (Scot. Nat. Dict.) relativ systematisch und in vielen anderen Wörterbüchern (auch z. B. im Ahd. Wb., im Mhd. Wb. und im DRW) mit jeweils besonderer Verteilung, mit unterschiedlicher Häufigkeit und innerhalb einer flachen hierarchischen Anordnung auf allen Ebenen der Generalisierung geschieht.194 – Die Bedeutungsreihung setzt sprachtheoretisch voraus, dass die Wortverwendung im Extremfall als Spektrum oder in vergleichbaren Metaphern (z. B. in Stafettenkontinuität), nicht also hierarchisch angelegt zu denken ist. Sie setzt damit des weiteren voraus, dass es selbst innerhalb eines Spektrums oder einer sonstigen Kontinuität aber gewisse Verdichtungen „gibt“, dass diese zwar methodisch begründet auf mehrere Weisen, je nach Aus-
194 Es geht in vorliegendem Zusammenhang nur um die Basisanlage; es wird also von der im einzelnen immer möglichen Kombination des hierarchischen Prinzips mit der Reihung (nach dem Muster 1a, b, c; 2; 3; 4a, b, c, d usw.) abgesehen. Auch die Gliederungsschichten des OED nach Großbuchstaben (A, B usw.; entsprechend der Wortartzugehörigkeit einer Einheit) und weiteren Siglen steht hier nicht zur Debatte. Die Basisanlage des SND (Scot. Nat. Dict.) sowie des MED ist im übrigen eng an diejenige des OED angelehnt. Überhaupt scheint die Lexikographie des Englischen (wie auch des Schottischen) die Zahlenordnung zu bevorzugen.
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schöpfung des Methodeninventars aber doch mehr oder weniger begründet, im günstigsten Fall sogar so begründet erfolgen kann, dass ein Angehöriger einer völlig anderen Kultur sie akzeptieren würde (mir ist bewusst, dass diese Aussage anfechtbar ist). Solche Verdichtungen sollen hier als dasjenige verstanden werden, was bisher immer Einzelbedeutung oder Semem genannt wurde. Es sei weiterhin vorausgesetzt, dass diese sich nach Ähnlichkeiten und Differenzen irgendwie aneinanderreihen lassen: Aspektuell Ähnliches zu Ähnlichem, Ähnlichkeitsgruppen zu Ähnlichkeitsgruppen. Man erhält auf diese Weise Auflistungen, die – so fasse ich es jedenfalls auf – vielleicht gewisse (stärkere oder schwächere) Zusammenhänge, aber kein festes Muster erkennen lassen. Sie gelten deshalb denn auch als strukturlos; und sie reichen in der Tat bei den größeren und großen Wörterbüchern von der Zahl ‚zwei‘ über das normalere Maß von ‚um die vier‘ bis zu schwindelerregenden Höhen von ‚um die dreißig‘ und können diese Zahl sogar überschreiten. Spätestens von einer Größenordnung ‚um ein halbes Dutzend herum‘ werden sie selbst bei guter typographischer Textgestaltung unübersichtlich; die inneren Zusammenhänge, also die Stärken der pyramidalen Darstellung, drohen aus dem Blickfeld zu fallen. Die Aussage, dass auch bei hierarchischer Gliederung ähnliche Zahlen zusammenkommen, sofern man jedenfalls alle Unterscheidungen aller Ebenen addiert, mag zwar richtig sein, entkräftet aber nicht das verbreitete Unübersichtlichkeitsargument, das gegen die Reihung vorgebracht wird. – Es ist allerdings einzuräumen, dass es auch eine andere gegen die Reihung anwendbare Argumentation gibt: Die Nennung von Einzelbedeutungen nach Zahlen und ihre Auflistung suggeriere, dass die angesetzten Einheiten „equally distinctive“ und „mutually exclusive“ seien, „clear boundaries“ hätten und dass das Muster sogar dazu einlade, „[to] exaggerate the measure of discreteness“ und „to set clear-cut borders where a closer examination ... reveals only a vague intermediate area of overlapping meanings“.195 Was ich dem Hierarchiemodell vorwerfe, werfen die Autoren dieser Formulierung mit einigem Grund also der Reihung vor. Wie immer man das Muster als solches (kategorial) also auch bewerten mag, es ist Vorsicht geboten. 6. 1. Die Rechtfertigung für die hier trotz aller Bedenken propagierte höhere Eignung der Reihung (gegenüber dem Hierarchiemodell) liegt in folgenden Argumenten: (1) Ein lexiktheoretisches Argument: Die Bedeutungsfelder von Lemmazeichen sind, wie die lexikographische Tagespraxis ausweist, nicht als 195 So B. T. S. Atkins / M. Rundell 2008, S. 249; 272; 274 mit besonderer Deutlichkeit; letzterer Zitatteil dort in Anlehnung an J. D. Apresjan (1973).
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
hierarchisch strukturiert zu denken, sondern als außerordentlich vielfältig verwobenes Netz lexikalischer Inhaltsfacetten und Wertungen; darunter können auch Relationen sein, die man als hierarchisch einstuft. Entscheidend ist, dass diese letzteren die Vernetzung nicht bestimmen, sondern als eine ihrer Formen zu denken sind. (2) Ein lexikographiepraktisches Argument I: Es ist die Umkehrung, die Wendung des unter 5. 2. 3 Gesagten ins Positive. Wenn man auf die Liste der oben genannten Informationen, also auf die Angabe von Symptomwerten, Phrasemen, Synonymen, Gegensatzausdrücken, Wortbildungen und Syntagmen, nicht verzichten will, dann setzt das die Möglichkeit der fachtextlichen Bewältigung dieses Programms voraus. Die sog. integrierte Mikrostruktur ist dafür der nach meinem Urteil geeignetste lexikographische Ort. Diese Struktur ist dann gegeben, „wenn alle artikelinternen Angaben, die nicht zum Formkommentar gehören, im Geltungsfeld einer bestimmten Bedeutungsangabe stehen und zu demjenigen semantischen Subkommentar [...] gehören, zu dem auch diese Bedeutungsangabe gehört“.196 Das Argument lautet: Die erwähnten Informationspositionen lassen sich klarer zuordnen, wenn man die Einheiten eines Bedeutungsfeldes klar schneidet und aneinanderreiht. (3) Ein lexikographiepraktisches Argument II: Die Bedeutungsreihung bietet alle Möglichkeiten, durch die Art der jeweiligen Bedeutungsformulierung, darunter vor allem durch Ausdrucks- und Inhaltsisotopien, die vielfältigen Vernetzungsfacetten offenzulegen, die dem Anliegen des Lexikographen in besonderer Weise entsprechen. Dieses Argument gilt zweifellos auch für die hierarchische Gliederung, allerdings nur eingeschränkt, weil diese immer eine Entscheidung nur nach dem Kriterium der Über- / Unterordnung bzw. der Nebenordnung erzwingt, während jede strikt beleggeleitete Bestimmung von Wortinhalten dazu tendieren wird, sich der Über- bzw. Unterordnung zu entziehen. Da die Möglichkeiten der Vernetzung von Bedeutungserläuterungen durch interne Formulierungsbezüge197 metalexi-
196 So H. E. Wiegand 1989, S. 483; die Definition steht innerhalb einer Gesamtheit von Definitionen zu Mikrostrukturen; einzelne Termini (Formkommentar, Subkommentar, Bedeutungsangabe) sind jeweils im Sinne Wiegands zu lesen. 197 H. Kurath schreibt im MED, PaB, S. 3, im Bestreben, die von ihm gewählte lineare Ordnung zu rechtfertigen: „It must [...] be admitted that the arrangement chosen ist sometimes rather arbitrary. The inevitable unilinear presentation of the meanings obviously cannot reflect their multilinear filiation and interrelations.“ Ich meine, das kann sie eben doch, natürlich nur immer auf eine bestimmte Weise, dies schon deshalb, weil es die „multilinear filiation“ nicht „gibt“, so wie es auch die hierarchische nicht „gibt“.
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kographisch weitestgehend unbeachtet geblieben sind, seien sie hier an einem Beispiel (gekürzt) veranschaulicht:198 gewalt [...]. 1. >(einem) Gott, einer Gottheit [...], einer übermächtigen Instanz zugeschriebene Allmacht, Allgewalt, unbegrenzte Macht, Handlungs- und WirkungsmöglichkeitGewalt, Macht der Natur [...]Kraft, Wirkungfaktische Macht einer herrschaftlichen, politischen, militärischen Instanz, einer Person oder eines personal gedachten Wesens (z. B. des Todes, des Teufels), [...]; über das übliche Maß hinausgehende Handlungsfähigkeit, Handlungspotenz, VerfügungsgewaltHeeresmachtSelbstbeherrschung, Eigenkontrollerechtlich und / oder religiös begründete, dem Recht unterworfene [...] weltliche oder geistliche Herrschaft, Obrigkeit, Regiment, Regierung in allen hierarchischen Stufen vom obersten Herrschaftsträger bis hin zu den unteren Rängen der weltlichen, kirchlichen, gerichtlichen AdministrationOrgan der HerrschaftsorganisationVerwaltungStrafgewaltOrdnungsgewaltPolizeiGerichtsherrschaftRecht, Verfügungsgewalt, Handlungsbefugnis, die eine Person oder Instanz nach geltendem Recht oder aufgrund natürlicher, sozialer oder religiös begründeter Ordnung [...] hat; im einzelnen [...] für die kirchliche Berechtigung zur Absolution; für die elterliche Gewalt [...]; die Macht des Herren über das Gesinde, des Besitzers von Wirtschaftseinheiten über die Sachgüter, des Inhabers von Ämtern über Amtsangelegenheiten [...]verletzend gegen eine Sache oder Person [...] eingesetzte Macht; Nötigung; Gewaltanwendung; einzelne GewalttatHäkchenVergebung der Sünden [...]Nachlass oder Erlass der Sündenschuld [...][...] Jahrmarkt, mit dem Ablass verbundener Festtagetwas der mystischen Heiligung Entgegenstehendes ablegen, [...][...] KriegsbeschwernisseTodesnot, [...]; Passion ChristiKindsnöte [...]bestimmteVerfolgung, [...]< in der Reihe 11. Jh., 1160/70, um 1230/40, nach 1240, 2. H. 13. Jh., um 1330/40, 1481, 1502, 1588. Die variablen Formulierungen stehen vorwiegend im Artikelkopf; sie sind dann an das Lemmazeichen als Ganzes adressiert; sie können aber durch innere Differenzierungen auch auf Einzelbedeutungen oder auf lautliche, grammatische usw. Gegebenheiten bezogen sein. Dazu stimmt ihre inhaltliche Varianz: Großenteils handelt es sich um raumbezügliche, teils aber auch um zeit-, textsorten- und sozialschichtige Angaben. – Die folgenden Beispiele (mit meinen Annotationen, in eckigen Klammern) sollen das Spekrum variabler Symptomwertkennzeichnungen im DWB (Neub., s. v.) belegen: Abendbrot (im Artikelkopf): „das wort ist vor allem im norden und osten des dt. sprachgebiets [Raumangabe] üblich – für die der dortigen gewohnheit nach bescheidenere abendmahlzeit, aber nicht auf niedere stilebene [Angabe zu den Gebrauchsschichten] eingeschränkt – der westen und das bair. bevorzugen abendessen [Raumangabe] [...]“. Abendesssen (im Artikelkopf): „zunächst [relativer Zeithinweis] westnd., westmd. u. bair. [Raumangabe, bis hierher auf das Gesamtzeichen bezogen] [...]. – mhd., mnd., frnhd. das häufigste wort für Christi abendmahl und das sakrament [nur auf die Einzelbedeutung 2 bezogen], bevor abendmahl durch Luther [implizit auch Raumangabe] verbreitung [Angabe zu veränderter Raumgeltung] findet. dann von diesem wort verdrängt [Angabe eines zeitlichen Prozesses, auf das Gesamtzeichen oder nur auf die Einzelbedeutung 1 >Abendmahlzeit< bezogen?], doch mdal. noch länger im norden [...] und osten [wieder Raumangabe, aber mit Suggestion von Grundschichtigkeit] bezeugt“. Ache >Gewässer< (im Artikelkopf): „als appellativum in ält. spr[ache] [relative Zeitangabe] geläufig [...], jünger noch [Zeitangabe] mdal. obd. [Raum- und Schichtangabe]; wohl von hier aus im 19. jh. [Zeitangabe] literarisch [Text- und Silhöhenangabe] wieder aufgegriffen“. 4Acht, zu Bedeutungsansatz 3 >Beratung [...]treuhänderischer Verwalter< [...]. 2. „im Deutschen Orden und Johanniterorden“ [...]. 3. „in der bayerischen und teilweise österreichischen Gerichtsorganisation >Verwalter eines Landgerichtsbezirks< [...]. 5. „im städtischen Bereich: Ratsherr, Beamter mit der Aufsicht über Plegschaften [...]“Überlegung< die Zitatsynonyme (hier normalisiert) betrachtung, gedanke, mut, wille. In den Belegen zu II. 1 >Ratschlag< erscheinen als Zitatsynonyme (vor)betrachtung, gehelle, gunst, recht; wort. – Im DWB, Neub. 1 begegnen s. v. Acht A 2 >Erwägung< die zitatsynonymen Gedinge, Sinn, Wille. – Das Schwäb. Wb., Bd. 3 bringt in den Belegen zu Gunst (als monosem interpretiert, aber mit mehreren diffus zwischengeschalteten Nuancen)
214 Zur genaueren Begründung vgl. J. Schröpfer 1987, ferner die bibliographischen Angaben bei H. E. Wiegand 2007 (Nr. 18931ff.), auch A. Hönig 1994. Zur Einordnung s. O. Reichmann 1990c, S. 1412, mit Hinweisen auf Vorläufer (S. Zehetmayr 1879; C. D. Buck 1949). 215 Beiläufig sei gesagt, dass sie oft Bestandteile eines Frames sind.
9. Zur onomasiologischen Vernetzung
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Wille (mehrfach), Liebe, Freundschaft; der Gegensatz lautet Neid. Unter günstig 1 findet sich zitatsynonymes hold, unter günstig 2 gottselig. Aus den Belegen zu günstlich ergeben sich freundlich und gnädiglich als bedeutungsverwandt. – Das Goethe-Wb. bringt unter Grenze (Bd. 4) in den Belegen zu einem Bedeutungsansatz D >Bildgrenze: Randbereich eines optischen Bildes [...]< die Zitatsynonyme Rand, Schatten, Schranke, Umgebung. – Im OED, s. v. arrow I. A. a >missile< führen die Belege zu bedeutungsverwandtem sling, unter 2. „in Surveying, Straight sticks shod with iron“ zu halberd, bill, staffe. 2. 2. Zitatsynonyme werden insgesamt oder in einer nicht durchsichtigen Auswahl vielfach in der Nähe der Bedeutungserläuterung216 (oder auch an entfernterer Stelle, aber mit gleicher Adressierung) genannt. Das heißt: Sie werden von ihrem genuinen Ort, dem Zitat innerhalb des Belegteils, an einen anderen Ort des Artikels, wie gesagt: in die Nähe der Bedeutungserläuterung, hinübergehebelt. Dabei erfahren sie eine Veränderung ihrer Funktion: Im Belegzitat dienen sie der Dokumentation, Veranschaulichung, Vorführung des Gebrauchs des Lemmazeichens, in Verbindung mit der Bedeutungserläuterung erhalten sie eine semantisch erläuternde Funktion. Dazu passt, dass sie oft durch zusätzliche synonymische Einheiten vorerst noch nicht genannter Herkunft ergänzt werden. Die sich dabei ergebenden Möglichkeiten der Verteilung sind: In der Nähe der Bedeutungserläuterung begegnen einmal nur Zitatsynonyme (und zwar einige oder alle), oder dort stehen nur andere, wo auch immer herkommende Synonyme, oder dort mischen sich Synonyme beiderlei Herkunft in nirgendwo dargestellter Weise. 3. Einige Beispiele mögen den Spielraum in der Realisierung veranschaulichen: – Das Goethe-Wb. hat zu Grenze in der Bedeutung D die oben bereits genannten Zitatsynonyme Rand, Schatten, Schranke, Umgebung; es nennt in der Position Syn. (am Schluss des Artikels, an D adressiert) davon noch einmal Rand und Schranke, ergänzt diese aber durch Begrenzung, Beschränkung und Saum (die keine Zitatsynonyme sind). Schatten und Umgebung werden dort ausgelassen. – Das Schweiz. Id. (Bd. 13, Sp. 455) bringt unter zertuen in der Bedeutung a) >zerkleinern< die Angabe: vgl. vermachen 2 [...]; als Synonyme werden chleinen [...], zerschlahen 1Į [...] angegeben. Ein vorhandenes Zitatsynonym, nämlich zetten, bleibt unerwähnt. Unter b) >ausbreiten< 216 Der Fall, dass sie innerhalb der Bedeutungserläuterung stehen, wurde unter anderem Aspekt in Kap. 7. 2, Abs. 3. 1 behandelt, ist hier also als Hintergrund im Auge zu behalten.
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findet sich das Synonym vertuen 1Į; das Zitatsynonym aufreissen wird übergangen. – Unter Ding (Bd. 13, Sp. 472) im Sinne von 1a) >Versammlung< erscheint eine mittels Syn. eingeführte Synonymenliste mit Ding-hof-Recht 2, Gericht II B 2b, Hof-Gericht 1, (Ge)ding-Ge-richt, Täding I 1; nach der Sigle vgl. folgen noch Gemein 2, Gerichtstag b, dingflüchtig, Dinghof, dinghofig und weitere 10 Ausdrücke zum großen Teil mit Verweis auf Band und Seite der Behandlung. Wieder wird auf die Nennung der Zitatsynonyme (gedinge, mandat und landgericht) verzichtet. Ähnliche Beispiele finden sich insbesondere in den späteren Bänden in Fülle; man vgl. die Beschreibungen s. v. WƗg >Wasser in Bewegung< (Bd. 15, Sp. 662), Wal III >Wahlmöglichkeit< (ebd., Sp. 1127), Wall II >wallende Bewegung des Wassers< (ebd., Sp. 1142), Wër II (Bd. 16, Sp. 993; hier werden Verweise gleich auf 4 Bände angebracht). Im DRW, Bd. 11 s. v. Rat I >Überlegung< findet sich im Kopf eine Liste der lat. Ausdrücke, die mittels ahd. rât glossiert werden; es sind consilium, consultum, decretum, iudicium, secretum, senatus. Nach einigen Zwischenbemerkungen folgt dann ein in Petit gehaltener Passus „vgl. bedacht (II), beraten (I 1), Mut (I 2), raten (I)“. Mit Mut wird eines der Zitatsynonyme wiederholt; ansonsten erscheint eine Reihe weiterer Ausdrücke unterschiedlicher Wortart. – Unter II. 1. heißt es: „vgl. Beträchtnis, Gehell, Gunst (IV), Konsens (I), Mut (II)“; die Zitatsynonyme lauten: gehelle, gunst, mut, (vor)betrachtung, wort. Das DWB führt Synonyme an verschiedenen Stellen des Artikels, darunter im Artikelkopf, auf: Vgl. s. v. Woge (Bd. 14): „in der hd. schriftsprache steht nd.-md. woge neben synonymem welle“ (Sp. 984). Ein Zitatsynonym ist Flut. Im Mnl. Wb. enthalten die Zitate unter gonste >Gunst< mindestens die folgenden synonymieverdächtigen Ausdrücke: caritas, dank, eer, genade, genegenheid, genuchte, vrede (in meiner Normierung). Innerhalb der Bedeutungserläuterung erscheint der Passus „vgl. goedertierheit, ootmoet, hulde, genade“; letzteres ist also ein Zitatsynonym. Das VMNW bringt unter leet (II) in der Bedeutung I 3 >smartelijk gevoel [...]< (dt. >Gefühl des Schmerzesbetalen, voldoen< heißt es: „In verb[inding] met verschillende zinverwante ww [werkwoorden >VerbenZuwendung des liebenden Gottes zum MenschenStab, Stock [...]a< des Wortes x, ausgehend auf einen oder mehrere andere Punkte hin, von denen dann weitere Vernetzungslinien ver-
220 Zum Frame-Begriff in der Lexikographie s. K.-P. Konerding / H. E. Wiegand 1994.
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
folgt werden können (vgl. 6. 4. 2). Es gibt nicht, obwohl man mit dem bestimmten Artikel oft so formuliert: „das“ Synonym, nicht „das“ onomasiologische Feld zu einer bestimmten Bedeutung eines Lemmazeichens, folglich auch nicht „die“ onomasiologische Vernetzung des Gesamtwortschatzes, es gibt nur die Interpretation bestimmter Ausdrücke als synonym, Synonymsetzungen, die Herstellung onomasiologischer Bezüge und nur bestimmte onomasiologische Vernetzungen neben anderen; sie sind zu verstehen als Ergebnis der belegbasierten, verstehenden, interpretatierenden Tätigkeit des Lexikographen, mithin als Realisation von mehreren Möglichkeiten.221 Dies gilt der Tendenz nach auch hinsichtlich der Ausweitung des Feldes, wie sie aus dem oben besprochenen Gesamtwissen des Lexikographen möglich ist: Diese Ausweitung kann dazu führen, dass man sich arbeitszeitlich im Bestreben nach Vollständigkeit verzettelt und dass ein Druckraum beansprucht wird, der den durch die Semasiologie grob vorgegebenen Rahmen sprengt. Ich betone aber ausdrücklich, dass alle diese Empfehlungen nicht kategorisch gemeint sind; es muss in Einzelfällen, die im Urteilsbereich des Lexikographen liegen, möglich sein, z. B. auch einmal zu höheren als den lexikalischen Rängen der Sprache zu gehen oder in den Frame zu wechseln. 6. 4. 1. Technisch kann dies Letztere in folgender Form geschehen: „Lemma [...]. – Bdv. (bzw. framezugehörig)“. – Ein hier leicht adaptiertes Beispiel (aus dem FWB) wäre: ablas [...]. 5. >Vergebung der Sünden [...]von Gott dem Menschen eingegebene Ordnungsinstanz mit dem besseren Gewissen< vesteht, dann ist es gleichsam als partielles Synonym (oder framezugehöriger Ausdruck) zu gewissen 1 >Gewissen, moralische Instanz [...]< verstehbar und wäre im Artikel gewissen (Ansatz 1) und auch in einem später zu schreibenden Artikel vernunft als bedeutungsverwandtes Wort zu anzugeben. Ich habe es aus bestimmten Gründen nicht getan. Hier sollte nur die Möglichkeit veranschaulicht werden. 222 Als synonyme bzw. stilistisch variierte Formulierungen bieten sich an: sachbereichszugehörig, im Orientierungsfeld o. ä.
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ablas [...] 6. >Nachlaß der Sündenschuld entsprechend der AblaßpraxisVergebung [...]Bildgrenze [...]Vergebung der Sünden [...]Nachlaß der Sündenschuld nach der AblaßpraxisSchöpfung Gottes< in Synonymie zu himmel 1 (und umgekehrt); das Substantiv stimme 1 >Stimme Gottes< wird als bedeutungsverwandt mit gott 1 >monotheistischer Gott< angegeben; gott 5 >Lehrer< als bedeutungsverwandt mit meister 3 >Jesus / GottRechtfertigung< in M. Luthers Freiheitstraktat in Bedeutungsverwandtschaft zu dienstbarkeit 2, fromkeit 2, genüge, speise, [...], liecht, [...], gnade, glaube, seligkeit, liebe, [...]. – Für J. Bär (1999) ist eines der Kennwörter der Romantik, Poesie 1 >kunstgerechtes Arbeiten mit Spracheschöpferische Tätigkeit überhaupt< wird in eine synonymische Beziehung zu Erschaffung, Schöpfung, Erfindung, Invention, Kunst sowie mit Musik und Tanz gesetzt. In Bär (demnächst) erfolgt Ähnliches für den ‚Geist‘-Wortschatz bei M. Weber. 6. 8. 1. Diese Beispiele sind deskriptiv gemeint; sie führen aber auch zu einem verwunderten Aufhorchen: Vor allem frnhd. ‚erde 1‘ ist (bzw. das Wort erde bedeutet) für mich etwas anderes als ‚himmel 1‘, ‚gott 1‘ erst recht etwas anderes als ‚mild 1‘; aber auch Luthers ‚freiheit‘ ist – weniger offensichtlich – etwas anderes als ‚glaube‘, romantische ‚Poesie 2‘ etwas anderes als z. B. ‚Tanz‘. Dennoch sind Bezugsetzungen zwischen den im Spiel befindlichen Größen möglich. Man könnte diese als framebedingt klassifizieren und damit – in den genannten Fällen sicher fälschlicherweise – unterstellen, dass das Wortfeld- mit dem Framekonzept verwechselt worden sei. Aber selbst dann würde man kaum erklären können, warum onomasiologische Felder in der Textlexikographie mit einer derartigen semantischen Amplitude angelegt werden, wie das recht generell der Fall ist. Die Lösung könnte darin liegen, dass der metalexikographische Beurteiler (hier also: ich, O. R.) bei der Betrachtung einer Relation wie erde und himmel, freiheit und glaube oder Poesie und Tanz eine Perspektive einnimmt, die ungewollt erstens gegenwartssprachlich affiziert und zweitens langueorientiert ist, das
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heißt: nicht der spezifisch zeit- und textbezogenen, müntzer- oder lutherdeutschen oder romantischen Perspektive entspricht, die der Textlexikograph eingenommen hat, um eben das Besondere, von der Erwartung Abweichende seines ‚Gegenstandes‘ herauszuarbeiten. Es würde sich also um einen Perspektivenkonflikt zwischen verschiedenen Ebenen, der langueund der textbezogenen, teilweise auch der lexikographischen und der metalexikographischen, nicht um eine Fehlentwicklung der Textlexikographie handeln. Ob man die onomasiologischen Felder der Textlexikographie dann als kontextuelle Synonyme auffasst, weil die Corpustexte selbst Synonymsetzungen vornehmen (Beispiel: die christliche freiheit, der einige glaube) oder als Frames behandelt, ist großenteils (nicht ganz) eine Frage der Definition. 6. 8. 2. Es passt zu dieser Erklärung, dass einige Textwörterbücher das onomasiologische Feld ohnehin in mehrere Richtungen ausweiten / ergänzen. A. Lobenstein-Reichmann (1998) und J. Bär (1999) setzen als Informationspositionen ihrer Artikel zusätzlich zu dem Feld bedeutungsverwandter Ausdrücke noch die Positionen ‚Paraphrase‘ und ‚Kontext‘ (und Weiteres) ein, die den Frame-Gedanken abdecken. – Hierzu seien wieder veranschaulichende Beispiele gebracht: (1) Auf ‚freiheit 1‘ >Rechtfertigung< wird in M. Luthers Freiheitstraktat nicht nur mittels dieses Substantivs und seiner Kontextsynonyme Bezug genommen, sondern auch mittels Paraphrasen der Art (normalisiert): alles, was wir von Christo haben, und Christus selbs (Beleg: M. Luther, WA 7, S. 28). Zu ‚freiheit 3‘ >innere Unabhängigkeit< findet sich die Paraphrase entbunden von allen geboten und gesetzen (ebd. S. 22). An anderer Stelle hat Luther ‚freiheit 1‘ im Kontext mit auferstehung, evangelische christliche lere, das alte testament aufheben gebraucht (Belege bei A. LobensteinReichmann 1998, S. 453 f.). Beide Informationspositionen (also: Paraphrasen- und Kontextangaben) liefern sowohl endo- wie exozentrische Formulierungen zum Lemmazeichen. (2) Auf ‚Poesie 2‘ >schöpferische Tätigkeit< nehmen die Romantiker auch mittels Paraphrasen Bezug wie: freie schaffende Wirksamkeit der Fantasie, erste Darstellung der Sinnenwelt, bildende Darstellung, bildende Tätigkeit. Kontexte sind: Funken des Enthusiasmus, zündender Funken (J. Bär 1999, S. 459). Das sind wiederum jeweils phrastische, und zwar endozentrische Formulierungen zum Lemmazeichen. 6. 8. 3. Offensichtlich ist mit diesen Gegebenheiten das Kriterium angesprochen, nach dem sich Langue- und Textlexikographie konstitutiv unterscheiden (könnten). Erstere hat eine Sprache (oder eine Sprachvarietät usw.), letztere eine irgendwie, in der Regel durch besondere Aufmerksamkeit des
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
heutigen Historikers aus der Textmasse einer Zeit ausgegrenzte Textmenge zum Gegenstand. Auch erstere mag an ihr Textcorpus rückgebunden sein, sie mag wohldefinierte Bedeutungen und Bedeutungsbezüge zugunsten semantischer Inhaltsgestalten einzuschränken suchen und prototypische Belege zugunsten von Belegen, die die Corpusvielfalt spiegeln, reduzieren. Sie lebt aber unbestreitbar von einer anerkannten allgemeinen Mitte der Sprache, die im OED (1989; Bd. 1, S. XXIV) als well-defined und common ebenso charakterisiert wie propagiert wurde und in der zugehörigen Veranschaulichung bezeichnenderweise als Zentrum eines Gebildes erscheint, das als offener Kreis interpretiert werden kann. Alles Besondere findet seine Veranschaulichung durch Pfeile, die ebenso bezeichnenderweise von der Mitte aus nach außen gerichtet sind, übertrieben gesprochen: gleichsam Fliehkräfte andeuten und die Gefahr der Abweichung von ‚well-defined‘ ins Chaotische suggerieren. Wie auch immer man argumentiert, das Languewörterbuch lebt von der Auswahl, von Abstrichen, von Zusammenfassungen und Verdichtungen, von Prototypischem, auch von der Abstraktion; es tendiert bei aller Betonung anschauungshaltiger Beschreibungsteile doch zum begriffsaffinen Konstrukt, in dem das Einzelne letztlich zurücktritt. Das Textwörterbuch ist differenzorientiert auf dasjenige hin angelegt, das sich vom Allgemeinen seiner Zeit unterscheidet, es tendiert zu besonderer Beachtung des für den Text oder den Autor Typischen und letztlich sogar des Einmaligen. Selbst wenn es dies alles seinerseits zu Regeln oder gar zu einem Konstrukt verarbeiten sollte, so ist dies doch ein gegenüber dem Allgemeinen Engeres, Besonderes, Spezifisches in offenem Übergang zum Kommentar. Genau dies bedeutet, dass der Textlexikograph die onomasiologischen Felder ruhig in der Weise gestalten kann, wie es in obigen Beispielen vorgeführt wurde; der verwunderte Rezipient hat seine Erwartung zu hinterfragen. 6. 8. 4. Zur Demonstration des vollen Spielraumes, der hier besteht, sei kurz noch ein weiteres Beispiel diskutiert. Das Goethe-Wb. zitiert unter Grenze in der Bedeutung D >Randbereich [...]< folgenden Beleg: „dass die Farbe nicht aus einer Theilung des Lichtes entstehe, sondern vielmehr durch den Zutritt einer äußeren Bedingung, die unter mancherlei empirischen Farben, als des Trüben, des Schattens, der Gränze, sich ausspielt“. In den Synonymenangaben findet sich dieser Beleg nicht berücksichtigt. Man erkennt ihn aber in einem Teil der Bedeutungserläuterung wieder. Diese bringt die Formulierung: „Wirkung des Hell-Dunkel-Kontrastes bzw des ‚trüben‘ Mediums“. Hell-Dunkel-Kontrast bezieht sich offensichtlich
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auf Schatten im Beleg; das in einfache Anführungszeichen gesetzte und insofern besonders bewusst gebrauchte flektierte Adjektiv trüb[en] ist zweifelsfrei eine Übernahme des substantivierten Adjektivs Trüb[en] vom Beleg in die Bedeutungserläuterung (im Sinne von Kap. 7. 2, Abs. 3. 1). Es geht mir nun nicht darum zu sagen, das Goethe-Wb. hätte sowohl Schatten wie das Trübe in die Synonymenliste zu Bedeutung D aufnehmen sollen. Ich möchte lediglich sagen, dass dies insofern möglich gewesen wäre, als beide Wörter immerhin in einer Wortgruppe begegnen, nämlich „des Trüben, des Schattens, der Gränze“, die als textlicher Synonymenkumulus gelesen werden kann. Dieser hebt insgesamt, eben als Kumulus, die denkmögliche Entstehung von ‚Farbe‘ durch (wohl als Analyse zu verstehende) ‚Theilung‘ von Licht auf; er stellt sie als ‚sich Ausspielen‘ einer Bedingung, mithin als Prozeß, vor, der schon als solcher nicht scharf umrissen sein kann, sondern als ‚Randbereich‘ zu verstehen ist. Fälle dieser Art, in denen ähnliche Entscheidungen gefordert sind, gehören zu den zentralen Aufgaben des Textwörterbuches. – Das Goethe-Wb. hat sich im übrigen für eine languelexikographische Konzeption seiner Synonymenliste entschieden, indem es die Textsynonymie tendentiell auf das ‚Allgemeine‘ zurückschneidet, eine Entscheidung, die möglicherweise durch den Umfang des Corpus bedingt ist, die aber auch anders hätte getroffen werden können. 6. 9. Der Unterscheidung von Beleg- und Kompetenzsynonymen entsprechen zwei Arten des onomasiologischen Feldes. Das Feld der Belegsynonyme ist textnäher als das Feld der Kompetenzsynonyme. Es listet dasjenige auf, was sich gleichsam mit dem – wenn auch interpretationsgeleiteten – Finger in den Texten zeigen lässt; es spiegelt die inhaltlichen Kategorisierungen, Wertungen, Nuancierungen, Gegensätze der Belegtexte, mit all dem das Unterscheidungssystem des Corpus in relativ direkter Weise. Das Feld der Kompetenzsynonyme hat selbstverständlich ebenfalls das Corpus als Hintergrund, es leitet sich aber weniger direkt, sondern über die Brechung von bereits geleisteten lexikographischen Behandlungen aus diesen her; ihm liegen mindestens auch Rücksichtnahmen auf lexikographische Arbeitszeiten, auf gegenwartskulturell bedingte Interessen, auf Festlegungen der sog. onomasiologischen Ausgangsbegriffe zugrunde, die in der Relation ‚Lexikograph‘ zu ‚Wörterbuchrezipient‘ konsensfähig sind. – Meine These lautet nun: Man kann sowohl in der Langue- wie in der Textlexikographie beide Feldtypen miteinander verbinden, und zwar dadurch, dass man den Belegsynonymen die Kompetenzsynonyme folgen lässt. Die Trennung zwischen beiden kann – wie oben in unter Abs. 2. 1 und 4 dargelegt – durch das einfache beschreibungssprachliche Mittel ‚Semikolon plus vgl.‘ angegeben werden. Im FWB findet sich dies realisiert.
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
6. 10. Die Füllung des Belegfeldes bedarf einiger näherer Bestimmungen. Generell gilt, dass seine Einheiten aus der Umgebung des Vorkommens eines Lemmazeichens gewonnen werden. Besondere Aufmerksamkeit fällt dabei auf folgende systematische Orte (die speziell in Betracht kommenden Zitatteile sind jeweils in Kursive gesetzt): – Doppel- und Mehrfachformeln: „die gemoit ende gepint sijn sere“ (Mnl. Wb. 4, Sp. 1790 s. v. moeyen >mühenAufdeckunggleißnerisch< ist, wenn das ‚gebet‘ ohne aufmerkung erfolgt, wenn gesagt wird, einen Priester in der Beichte zu triegen, sei wie dem arzt in der krankheit zu liegen >ihn zu belügenHöllelandwirtschaftlich Tätigen< wird ja in (z. B.) frnhd. Zeit nicht nur als bauer, sondern auch noch als ackerman, ackerer, bauersman, bauman, dorfman, hintersasse, lehener, meier, pflüger, seldener, taglöner, untertan gesprochen. Entsprechend verhält es sich mit ‚Volk‘; es heißt (z. B.) im Mhd. außer volc mindestens noch bovel, diet, liut, menege. Der Neuhochdeutsche Index zum mittelhochdeutschen Wortschatz (von E. Koller / W. Wegstein / N. R. Wolf; 1990), dem diese Ausdrücke entnommen wurden, kann als (halbe) Antwort auf derartige Anliegen angesehen werden. Der Index „schlüsselt den mhd. Wortschatz, so wie er in der 37. Auflage von Matthias Lexers Mittelhochdeutsche[m] Taschenwörterbuch dokumentiert ist, nach dort [also in Lexers Twb] verwendeten nhd. Interpretamenten in alphabetischer Reihenfolge auf“ (S. VII). Die sog. „nhd. Interpretamente“ werden also aus der Erläuterungsposition eines mhd.-nhd. Wörterbuches herausgehoben und in die Lemmaposition eines neuen Werkes, eben des Index, hineingestellt. Sie sind nichts Anderes als normalsprachliche lexikalische Zeichen der lexikographischen Behandlungssprache, damit nhd. Synonyme229 zu mhd. Zeichen; sie erfahren bei Umstellungen der hier diskutierten Art unter der Hand aber gerne, so auch bei Koller / Wegstein / Wolf, eine Umdeutung zu Begriffen (s. dort S. X: „mhd. Äquivalente eines bestimmten Begriffs“). Auf das Interpretament / den ‚Begriff‘ folgt die Nennung all derjenigen mhd. Lemmazeichen, die M. Lexer mit demselben behandlungssprachlichen Ausdruck erläutert hat. Das ist in anderer Formulierung die Gesamtheit der mhd. Synonyme für einen nhd. Ausdruck. – Mit dieser Publikation ist ein seit 1983 unter der Formulierung „onomasiologische Aufbereitung semasiologischer Wörterbücher“ (oder ähnlich) in der Diskussion befindliches Anliegen aufgegriffen worden, über das kurz zu berichten ist.230
228 In der von R. Koselleck verfassten Einleitung zu den GG heißt es (Bd. 1, 1972, S. XXII), dass „der onomasiologische Aspekt“ [...] „alle Bezeichnungen für einen vorgesehenen Sachverhalt notiert“, sofern diese jedenfalls als „Nachbarbezeichnungen und Synonyma die historische Vielfalt oder [...] soziale und politische Veränderungen indizieren“. Man achte auf den Quantor alle! 229 In Wirklichkeit sind die Verhältnisse etwas komplizierter; außer den ‚Synonymen‘ zählen weitere, aber im Nahbereich von Synonymie liegende Ausdrücke, oft framezugehöriger Art, zu den ‚Interpretamenten‘. 230 Genaueres bei R. R. Anderson / U. Goebel / O. Reichmann 1983; O. Reichmann 1986 a; 1994.
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8. Semasiologische Wörterbücher sichern aufgrund ihrer alphabetischen Anordnung nur dann den Zugang zum Wortschatz einer historischen Sprachstufe, wenn man einen historischen Ausdruck als Einstieg in das Wörterbuch findet. Falls dieses keinerlei onomasiologische Vernetzungen angibt, bleibt man beim Einzelartikel stecken, erfährt also z. B. nicht, dass es für nhd. Bauer nicht nur das mhd. bûre, sondern auch noch einige Dutzend anderer Ausdrücke gibt, die laut Referenzwörterbuch irgendwas mit Bauer zu tun haben, vielleicht synonym mit ihm sind. Man muss also das gesamte Wörterbuch durchlesen, wenn man erfahren will, welche mhd. Synonyme für nhd. Bauer existiert haben. Dies ist ein rein technisches, heutzutage denn auch (zumindest großenteils) auf digitalem Wege bewältigbares Verfahren. Im Ergebnis entstehen Listen, deren Einheiten im günstigsten Fall Synonyme sind. Nun kann man es bei diesem Informationsstand belassen, wie Koller / Wegstein / Wolf es im Kern getan haben, oder man kann einen weiteren und nun sehr zeitaufwendigen Arbeitsschritt anschließen. Dieser besteht darin, die sog. Polysemietrennung durchzuführen: Man untergliedert den nhd. Ausdruck (also ein lexikalisches Zeichen, etwa Bauer, das als Zeichen systematisch mehrdeutig ist, und schon deshalb kein ‚Begriff‘231 sein kann) in seine Einzelbedeutungen (also 1. >LandwirtNachbar< führen würde und bezieht danach den nhd. Ausdruck pro Einzelbedeutung auf den mhd. Ausdruck pro Einzelbedeutung. Es geht also nicht um Signifikatsynonymie (das ist Gleichheit / Ähnlichkeit zwischen von Signifikaten, „ganzen“ Zeichen: bûre / Bauer), sondern um Sememsynonymie (also Synonymie von Zeichen pro Bedeutung: bûre 1 / Bauer 1). Dann ergibt sich folgendes Bild (nunmehr an einem Beispiel aus dem Frnhd. erläutert) (siehe Abb. 28). 9. Der kürzlich erschienene Historical Thesaurus of the Oxford English Dictionary (HTOED; 2009) realisiert das geschilderte Anliegen (und Weiteres) in Fortsetzung einer allgemeineren mittelalterlichen und neuzeitlichen Tradition begrifflich-weltanschaulicher Wörterbücher und entsprechender metalexikographischer Diskussionen232 in einem geradezu monumentalen Wurf: Ursprung und Geschichte eines Wortes zu beschreiben, sei das Eine,
231 Die Häkchen sind hier wieder distanzierend gemeint; sie sollen andeuten, dass das Wort Begriff in der sog. ‚begriffs‘geschichtlichen Fachsprache polysem verwendet wird: Bei R. Koselleck erscheint Begriff innerhalb von 6 Zeilen (Einleitung zu den GG; S. XIV) synonym mit Wort, Benennung, Bezeichnung. 232 Diese Tradition sei hier mit folgenden Angaben nur angedeutet: P. M. Roget 1882; D. Sanders 1873 – 1877; zugehörige Literatur: R. Hallig / W. von Wartburg 1963; P. Kühn 1985; O. Reichmann 1990a.
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D. Der Wörterbuchartikel: Typen lexikographischer Information
beginnen 1 a. ‚mit etw. einsetzen, einen Anfang machen; anfangen‘: anbeginnen 1, anfahen 1; 3, anfängen 1, anfassen 1, angeheben 1, angehen 5, anheben 1; 2, anlassen 2; 3, anmachen 5, ansitzen 4, anstehen 5, antreten 3; 4. 1 b. ‚auf bestimmte Weise tun, unternehmen‘: anheben 7, anlegen 16, anspannen 4. 2. ‚seinen Anfang haben‘: anbrechen 1, angehen 3; 5; 9, anheben 2; 3, ankommen 9, anlangen 2, anspinnen 1, anstossen 12, antreten 1; 3. Abb. 28: Auszug aus einem (nicht publizierten) Fragment eines nhd. – frnhd. Synonymenwörterbuches (dazu: U. Goebel / I. Lemberg / O. Reichmann 1995). – Legende: Halbfett: nhd. Lemma; darunter Numerierung und Bedeutungsangaben (in Häkchen) nach Duden, Gr. Wb.; anschließend in Kursive: frnhd. Synonyme (jeweils mit Bedeutungsindex). Grundlage des Textes ist die Wörterbuchstrecke von a bis ausgang des FWB
die Herculian task „tracing how a meaning emerged and came to be expressed in words“ sei „something else entirely“. Grundlage des Werkes ist eine Taxonomie, die auf einer obersten Ebene zwischen „I The external world“, „II The mental world“ und „III The social world“ unterscheidet. Jede dieser Welten wird dann über mehrere hierarchische Stufen nach ‚categories‘ und ‚subcategories‘ (insgesamt 236 400) untergliedert, so dass z. B. ‚Body‘ unter der Klassifikationsebene 01. 02. 05 als Einheit erscheint, die nach der Ganzes-Teil-Relation ‚digestive / excretive organs‘ aufweist, eine Untereinheit, die ihrerseits ‚digestive organs‘ hat und von da aus über eine Ebene ‚Mouth‘ auf ein spezielles Endglied der hierarchischen Kette, nämlich ‚Tooth / teeth‘, hinausläuft. Die Einheiten am untersten Ende der Hierarchie – es sind 797 120 – heißen sowohl im Foreword R. Quirks wie im Preface der Herausgeber erst einmal meanings, nicht also concepts >Begriffejn. durch Schmeicheleien hinters Licht führen< also unter hälmlein, unter maul oder unter streichen einordnen; man könnte es aber auch – sicher nicht gerade sinnvoll – unter jm. ansetzen. Natürlich ist immer auch die Möglichkeit von Mehrfachnennungen sowie von Verweisen gegeben. 3. 3. 2. Da Phraseme in aller Regel einen Rest ihrer ursprünglichen Motivation erkennen lassen oder aufgrund ihrer Gestalt eine Neumotivation anregen (die ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ sein kann), können sie auch in Verbindung mit demjenigen Bedeutungsansatz genannt und behandelt werden, an den sie assoziativ am ehesten anschließbar sind. Dann würde das gerade als Beispiel gebrachte jm. das hälmlein durch das maul streichen, sofern man es jedenfalls unter halm (und nicht z. B. unter maul) behandelt, eher in die Nähe der Bedeutung 1. >Getreidehalm< als in die Nähe von 2. >Schreibfeder< oder 3. >Stoppel(feld)< gestellt werden (s. FWB 7, Sp. 923). Diese Möglichkeit der Verortung von Phrasemen wird man in Wörterbüchern realisieren, die sich als primär semantisch verstehen. Die zugehörigen Belege können in den Belegblock nach dessen oberstem Anordnungskriterium oder in ein bestimmtes Belegnest gestellt werden. 3. 3. 3. Da Phraseme in aller Regel eine partielle grammatische Regelhaftigkeit erkennen lassen, können sie auch in Verbindung mit derjenigen grammatischen Position genannt und behandelt werden, an die sie am ehesten anschließbar sind. So wird die phrasemverdächtige Mehrworteinheit e.
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S. (Genitiv) kurz bedacht sein im Mhd. Wb. (Bd. 1, Sp. 466) an die Position 3. 2. 1. von bedenken angeschlossen, die unter 3. 2. als „mit Gen[itiv] d[er] S[ache]“ überschrieben ist. Diese Möglichkeit der Verortung hat ihren genuinen Platz in Wörterbuchartikeln, die den syntaktischen Gebrauch (speziell der Verben) als Gliederungskriterium nutzen. 3. 3. 4. Wenn Phraseme im Sinne der gerade gemachten Aussagen eine partielle semantische Motivation zu erkennen geben bzw. eine Neumotivation anregen sowie eine partielle grammatische Regelhaftigkeit aufweisen, dann heißt das, dass sie umgekehrt durch partielle Demotivation und teilweise Abweichung von der grammatischen Regel gekennzeichnet sind. In dem Maße, in dem man diesen letzteren Gedanken besonders betont, ergibt sich die Schlussfolgerung, dass sie nicht in der Nähe eines bestimmten Bedeutungsansatzes oder einer bestimmten grammatischen Konstruktion behandelt werden sollten, sondern – wenn schon nicht als eigene Lemmazeichen – so doch in einer eigenen Position des Artikels, und zwar sinnvoller Weise an seinem Anfang oder an seinem Ende. Die zusammenhängende Positionierung hätte den Vorteil, dass der Phrasembestand mit einem bestimmten Lemmazeichen nicht auseinandergerissen, nicht auf verschiedene Positionen verteilt und damit natürlich auch nicht mehr versteckt, sondern in besonderer Weise herausgehoben würde. Es sei hier dahingestellt, ob die Position ‚Artikelanfang‘ das Gewicht der Phraseme heraushebt und dadurch eine besondere Phrasemtypik einer historischen Zeit suggerieren könnte, und die Position ‚Artikelende‘ so etwas wie Restfälle assoziieren lässt. Zu überlegen ist dies aber doch. Ein weiterer Vorteil der Kopf- oder Schlussstellung eines eigenen Phrasemteils jedes Artikels besteht darin, dass man behandlungssprachlich unaufwendig auf semantische oder syntaktische Anknüpfungspunkte aufmerksam machen kann, etwa wie folgt: jm. das hälmlein [1] durch das maul [x] streichen [y]Getreidehalm< anschließbar. Entsprechend wäre für x und y zu verfahren. In dem sehr häufig begegnenden Falle mehrfacher Motivation, darunter der Remotivation, würde man mehrere Zahlenverweise anbringen können. 3. 4. Die Reihenfolge, in der Phraseme innerhalb der gerade behandelten Positionen stehen, gilt als weiteres Problem. In Betracht kommen verschiedene Möglichkeiten: – semantisch eng zusammengehörige vor semantisch divergierenden Phrasemen (bei beliebiger Anordnung der so entstehenden Gruppen), etwa: nicht ein halm >nichtsin keiner WeiseUnnützes tunetw. völlig umsonst tun< usw.,
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grammatisch in bestimmter Weise zusammengehörige vor grammatisch in anderer Weise zusammengehörigen Phrasemen (wieder bei beliebiger Anordnung der so entstehenden Gruppen), etwa: bei substantivischem Zuordnungslemma erst im Subjekt, dann im Akkusativobjekt stehende, dann mit einer Präposition verbundene Bildungen: was der halm [Subj.] trägt; jm. das hälmlein [Akkusativobjekt] bieten; after halme und haue [Präpositionalgruppe] usw. Einen ausgefeilten Vorschlag mit grammatischen Kriterien dieser Art bietet J. Korhonen (2002) für die Gegenwartssprache, – kürzere vor längeren Phrasemen: nicht ein halm; after halme und haue; einen dürren halm verfolgen usw., – früher belegte vor später belegten Phrasemen (wie die folgenden Möglichkeiten ohne Beispiele, da das Prinzip klar ist; im übrigen spiegelt sich hier die Diskussion um die Reihenfolge der Bedeutungsansätze sowie der Belegfolge; vgl. Kap. 7. 7 und 13. 3), – räumlich in bestimmter Weise verteilte vor räumlich anders verteilten Phrasemen, – soziologisch in bestimmter Weise gebundene vor soziologisch anders gebundenen Phrasemen, – schreibsprachliche vor sprechsprachlichen Phrasemen oder umgekehrt. Die Liste ist erweiterbar. Sinnvoll dürfte eine Anbindung des gewählten Reihungsprinzips an den Zweck des Wörterbuchers sein: bei semantischer Anlage Anordnung nach semantischer Ähnlichkeit, bei syntaktischer Anlage nach syntaktischen Kriterien, bei diachroner Ausrichtung nach der Belegzeit, bei Beachtung der Medialität der Sprache nach dem Kriterium ‚sprech- / schreibsprachlich‘ usw. 4. Die Aufmerksamkeit, die der Behandlung der Phraseme in historischen Wörterbüchern zukommt, entspricht generell nicht dem Stellenwert, den diese Einheiten im Inventar und System einer Sprache haben, auch nicht den oben vermuteten Besonderheiten, nach denen sie in den einzelnen Epochen, Normbereichen, Textsorten usw. der Sprache verwendet werden. – Gängige Formen der Behandlung (falls überhaupt) sind: 4. 1. Phraseme werden in variierender Formulierung angekündigt. Beispiele sind: floskelhaft (so z. B. im Ahd. Wb. 3, Sp. 591 s. v. faran), in der Wendung (oft), phrasematisch (seltener), als einleitende Floskel, als Redeoder Schreibgeste (Mhd. Wb., z. B. s. v. bedecken, bedenken 3. 2. 1, bediuten 2. 1, beerben 3, begân 1. 1. 3), in festeren, oft formelhaft erweiterten Fügungen (Schweiz. Id. 16, Sp. 972 s. v. Gewer II). – In ähnlicher Weise verfährt das DWB; vgl. dort s. v. Gewähr II: formelhafte verbindungen (Bd. 4, 1, 3, 4803); s. v. Gewehr: in einzelnen festen verbindungen [...] (Bd. 4, 1, 3,
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5408). Im dann folgenden Teil des Artikels findet sich mehrfach verbindung ohne nähere Bestimmung; die Beispiele sind aber eindeutig phrasematisch. Weitere Phrasemnester begegnen unter einer offenen Reihe von Kennzeichnungen der Art: in elliptischer wendung (Bd. 14, 2, 1037 s. v. wohl), einzelne fügungen und redensarten (ebd., Sp. 1053), außerhalb verbindlicher präpositionaler fügung, was ein in der regel verbindlich präpositional voraussetzt (ebd., Neub. 1, 151 s. v. Abenteuer). – Im Mnl. Wb. herrscht eine durchaus vergleichbare variable Praxis; vgl. dort s. v. hals eine Fülle phrasematischer Einheiten, eingeleitet durch: in bepaalde uitdrukkingen (>in bestimmten Ausdrückenihn überkam [...]< (Bd. 3, Sp. 53). Das VMNW schreibt in jeweils einer neuen Zeile im Anschluss an eine semantisch passende Einzelbedeutung konsequent in de verb[inding]. Diese Formulierung ist außerordentlich offen; sie ermöglicht den Einbezug verschiedenster unter irgendeinem Aspekt heraushebungswürdiger Mehrworteinheiten, darunter Kollokationen und Formeln aller Art. Offensichtlich sind die fachlinguistischen Probleme zugunsten der leichteren Auffindbarkeit der Erscheinung in den Hintergrund gerückt. – Auch im OED verbergen sich Phraseme hinter variierenden halb normal-, halb fachsprachlichen Einführungen. Die differenzierte, sich in hohen Anzahlen von Bedeutungsansätzen spiegelnde Artikelgliederung lässt aber eine Fokussierung des Interesses auf darstellungsfunktional bestimmte semantische Unterscheidungen erkennen, denen gegenüber die Phrasematik an die Peripherie gedrängt wird. – Ich sehe in den lockeren Klassifizierungen der vorgetragenen Art, da sie außerordentlich verbreitet sind, kein Behandlungsdefizit, sondern einen Ausdruck der Relativierung der oben in Abs. 3 genannten Probleme. 4. 2. Im FWB wechseln – stimmig zu dieser Auffassung – die Formen und der Ort der Phrasembehandlung sehr stark. Zu nennen sind insbesondere folgende Verfahren (sie wurden im Laufe der Erarbeitung zunehmend systematisiert):242 – Verortung mit Angabe einer Nennform vorwiegend an semantisch als passend erachteter Stelle (entsprechend obigem Abs. 3. 3. 2): Phrasem a also z. B. unter Lemma x, in Bedeutungsansatz 1, Phrasem b unter gleichem Lemma in Ansatz 3 usw. Diese Stelle hat in der Artikelarchitektur (genau gesprochen: in der integrierten Mikrostruktur) einen festen Ort,
242 In diesem Zusammenhang sei mitgeteilt, dass ich Phraseme (speziell auch mit dem Blick auf das semasiologische Wörterbuch) zu Beginn meiner Arbeit am FWB als weniger relevant und auch als weniger häufig eingeschätzt habe, als es sich im Laufe der weiteren Arbeit als notwendig erwies.
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und zwar in unmittelbarem Anschluss an die Symptomwertangaben; die fachtextliche Einführung erfolgt nach Bindestrich mittels des Kürzels Phras[em]; in den Fällen, in denen keine überzeugende Anbindung an eine bestimmte Bedeutungsposition möglich erscheint oder wo bestimmte Aspekte herausgehoben werden sollen oder wo eine besondere phrasematische Fruchtbarkeit (Phrasemhäufigkeit pro Lemmazeichen) vorliegt: Ansatz in einer eigenen Artikelposition; vgl. s. v. auge [...], Position 9. „Phraseme, die auf äußeren physiologischen Zuständen des Auges beruhen: ein auge nas machen >weinenetw. in Kauf nehmen< (FWB 2, Sp. 835). Dann folgen unter Position 10 bis 12 Phraseme, die auf je anderen Eigenschaften des Auges beruhen; semantische, teils auch sachgeschichtliche Erläuterungen proportional zu dem angenommenen Grad der Demotivation, ansonsten Vertrauen auf die Verstehenskompetenz des Nachschlagenden (aus dem Artikelzusammenhang heraus), dann keine Erläuterungen; Reihenfolge der Auflistung wechselnd, teils von ‚kurz‘ zu ‚lang‘, teils nach grammatischen Prinzipien in Anlehnung an die Reihenfolgeordnung bei den Syntagmen. Im Ergebnis entsteht folgendes Regelbild: – Phras.: (jm.) den hals (ab)brechen; jm. den strik an den hals legen a) >jm. den Strick anlegen (zur Hinrichtung)jm. Verpflichtungen auferlegensich bescheißen und noch stolz darauf seinjm. das Handwerk legen< (Anspielung auf die Sitte, Hunden einen Holzknüppel um den Hals zu binden, um ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken); jm. sol der hals krachen (Verwünschung); [...] (FWB 7, Sp. 926 f.). – Diese Beispiele lassen im übrigen erkennen, wie verschieden die Herkunft und die Verteilung der Phraseme über die Sinnwelten des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit im Sinne der einleitend unter Abs. 2. 1 bis 2. 6 vorgetragenen Fragen gewesen sein muss.
11. Zu den Syntagmen 1. Lexikalische Zeichen stehen in linear-syntagmatischen Zusammenhängen, die selbstverständlich Gegenstand lexikographischer Beschreibung sein sollten. Zu diesem Zweck müssen lineare Ganzheiten in kleinere Einheiten, hier Syntagmen genannt, zerlegt werden. Unter einem ‚Syntagma‘ soll eine linear organisierte Einheit verstanden werden, die mit bestimmten
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lexikographischen Interessen aus einem Corpusbeleg herausgeschnitten und aus ihrer originalen oder editorisch bearbeiteten Schreibung in eine Normalschreibung umgesetzt sowie technisch in die lexikographieübliche und außerdem handhabbare Grundform überführt wird. Demnach gestaltet sich die Gewinnung der Syntagmen wie folgt: Ausgangspunkt seien Belege mit z. B. gewalt wie: Luther, WA 48, 179, 4: Viel habens, aber haltens nicht, Sondern halten jren Mammon, ehre, gewalt, gunst vber Gottes wort. Ders., Hl. Schrifft. Ps. 49, 16: Gott wird meine Seele erlösen aus der Hellen Gewalt. Aus dem erstgenannten Beleg schneidet man das Syntagma den gewalt über gottes wort halten heraus, aus dem zweiten die sele aus einem gewalt erlösen sowie der gewalt der helle >HölleHölleverletzend gegen e. S. oder P. gerichtete [...] Macht, [...]bekämpfenGüte und Gerechtigkeit< als (a) Qualität Gottes [...] und (b) als eine durch die Rechtfertigung von Gott auf den Menschen übertragene Qualität. [...]. – Präd.244 und Synt.: [...]; etw. (sund) fur etw. (Christus frumkeit) ynn etw. (ynn dem glauben) verschwinden mussen; jm. (dem, der on glauben ist) etw. (keyn gut werck) zu etw. (frumkeit und seligkeit) furderlich sein; [...]; etw. (glaube) etw. (leben, frumkeyt und seligkeyt) sein; [...]. heiter [...]. 1. >hell, leuchtend, [...]angesichtsunbewölkt, licht, freundlich, voll innerer Ruhe und Gelassenheit, guter Launedurch Zerschneiden trennen, durchschneiden< (DWB., Neub. 1, Sp. 846). ontlijcsemen [...]. >van het herkenningsteeken of kenteeken ontdoen< [>des Erkennungszeichens oder des Kennzeichens beraubenvermommen, verkleeden< [>vermummen, verkleidenjmdn. oder etw. ergreifenjmdm. vorangehen< (Ahd. Wb. 3, Sp. 487; 490). antreiten [...]. >etw. ordnen, zurechtmachen< (Mhd. Wb. 1, Sp. 327). berufen [...]. 2. >etw. / jn. [...] als etw., zu etw. ausrufen. [...]. 5. >jn. / etw. beschreien, jn. auf frischer Tat als etw. ausrufen [...]< (FWB 3, 1647; 1549). anschneiden [...]. 2. >etw. beschneiden, stutzen, [...]< (DWB, Neub. 1, Sp. 845). Im Unterschied zu den unter (a) genannten Beispielen ergeben sich in den gerade unter (b) genannten syntagmatisch relevante Informationen außer aus den Belegen auch aus sog. Bereichsangaben innerhalb der Bedeutungserläuterung: Man erkennt auf Anhieb, dass ahd. fâhan obligatorisch mit einem Akkusativobjekt, und zwar entweder der Person (s. jmdn.) oder der Sache (s. etw.), verbunden wurde. (c) Hinsichtlich der gelieferten Information ist folgende Notation mit der in (b) genannten gleichwertig: ane stôzen [...]. 1 tr[ansitiv]. 1. 1 [...] ‚etw. gegen etw. stoßen‘. [...]. 2 intr[ansitiv] 2. 1 ‚angrenzen, an einander stoßen‘ (Mhd. Wb. 1, Sp. 287). jagen [...]. I. trans. >jagen, objagen, najagen< (Mnl. Wb. 3, Sp. 1002). answer [...]. I 1. intr. >to speak in reply< [...]. 9. trans. >to satsfy or to fulfil< [...] (OED 1, 1989, S. 498). (d) In der Terminologie eher grammatisch und informationell etwas differenzierter wird oft wie folgt verfahren: 1antwerten [...]. 1 mit Dat. d. P. und Akk. d. P. ‚jm. jn. übergeben, überantworten, anvertrauen, ausliefern‘. [...]. 2 mit Dat. d. P. und Akk. d. S. ‚jm. etw. übergeben, anvertrauen, zur Verfügung stellen‘. [...]. 4 mit Akk. d. P. und adv. Bestimmung ‚jn. an jn. übergeben, jn. an einen bestimmten Ort bringen‘ (Mhd. Wb. 1, Sp. 331 f.). Der Mehrwert der Information liegt in (d) gegenüber (a) bis (c) darin, dass nicht nur die grammatische Wertigkeit, sondern auch die übliche Art ihrer Füllung deutlicher248 angegeben wird: Unter Position 1 überantwortet man nach dem ersten dort angebotenen Beleg einer Person (im Dativobjekt: jm., etwa einer Mutter) eine andere Person (im Akkusativobjekt, laut Beleg einen Toten, falls dies eine Person ist), unter 2 übergibt man einer Person dagegen eine Sache (einen ‚brief‘). 248 Dies gilt freilich nur unter der Voraussetzung, dass die in (b) verwendeten Bereichsangaben jmdm., jn., etw. als weniger explizit beurteilt werden als Dat. d. P. oder Akk. d. S.
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(e) Nochmals informativer ist das an folgenden Beispielen demonstrierbare Muster: faran [...]. A. sich aus einer Richtung, von einem Ort in eine andere Richtung [...] fortbewegen; im eigentl. Sinne von Personen, als Person Gedachtem, sonstigen Lebewesen (Ahd. Wb. 3, Sp. 573). behalten [...]. 4. >etw., dessen Änderung in der Möglichkeit des Handelns läge, beibehaltenetw. (Konkretes) aufbewahren [...]etw. in seinem Besitz Befindliches (konkrete oder soziale Werte) behalten, festhalten [...](den Sieg / Preis) davontragen [...]; (einen Sieges-, Ehrenpreis) erringen< [...] (FWB 3, S. 706; 709; 715). abblasen [...]. 1 >etw. anhaftendes fortblasen (mit Objektwechsel: durch blasen reinigen)staub von etwas blasen< (DWB, Neub. 1, Sp. 62). answer [...]. I 7 b. >to satisfy (the claim)< […]. 10. >to fulfil or accomplish (an end); to suit (a purpose) […]. II 19 a. >to reply favourably to (a petitioner), or conformably to (his petition)< (OED 1, 1989, S. 498/9). Hier werden Bereichsangaben im Sinne von (b) durch die Nennung typischer Einzelbeispiele oder Beispielfelder spezifiziert. Dies kann in eingefügten Klammern, durch Nebensätze, die in eine Erläuterung eingefügt sind, oder durch andere normalsprachliche Mittel erfolgen. In einzelnen Wörterbüchern gibt es zusätzliche beschreibungssprachliche Differenzierungen. So wird im FWB zwischen einer Form „etw. (Konkretes) aufbewahren“ (s. v. behalten 6) und einer Form, die am Beispiel „(den Sieg / Preis) davontragen“ vorgeführt sei, unterschieden: in letzterem Fall fehlt das sehr allgemeine etw., da das Lemmazeichen behalten in Bedeutung 13 nur einen frnhd. Ausdruck für ‚Sieg / Preis‘ als Objekt haben kann.249 2. 6. Überblickt man dieses Spektrum von Möglichkeiten, dann ergeben sich unter dem Aspekt des Verhältnisses von Grammatik und Semantik einige Beobachtungen faktischer Art und einige problematisierende Fragen.
249 Ich habe weitere Möglichkeiten nirgendwo systematisch dargestellt, da die lexikographische Praxis als im Kern normalsprachlich gesteuerter Sprachgebrauch sich gegen jede Klassifizierung sträubt. Im übrigen müssten Klassifizierungen an die einzelnen Wörterbuchautoren vermittelt werden, was zu endlosen Diskussionen, abweichenden Meinungen, neuen Diskussionen und immer wieder zu neuen Abweichungen führen würde. – Das gleiche Verfahren wendet das VMNW an: Unter dem Lemma betalen (Bd. 1, Sp. 506f.) findet sich nach 1., dem absoluten Gebrauch, unter 2. die Angabe „Met als object het betaalmiddel, het soort betaling [...]“ (also z. B. peneghe). Unter 1. 3. heißt es dann: „Met als object hetgeen tegen betaling verkregen wordt“ (also z. B. garen >Garninnen, invorderen< (dt. >einnehmen, einforderninkrijgen< (dt. >einnehmen, erobernjemanden< die ebeneninterne Angabe, dass diese Bedeutung mit Akkusativ der Person steht. Im Mhd. Wb. steht ane sprëchen 1. 1. 3. 3 eine (Zahlwort) Stufe unter 1. 1. 3, dieses eine Stufe unter 1. 1 „mit Akk. d. P.“, dieses wiederum eine Stufe unter transitiv; es ergibt sich also eine Hierarchie der syntaktischen Kennzeichnungen. 3. Wenn soeben eine Inkongruenz zwischen der syntaktischen Konstruktion und der Einzelbedeutung behauptet wurde, dann ist ein Faktum angesprochen, das aufgegriffen und diskutiert werden soll. Gemeint ist, dass die Semantik einer natürlichen Sprache mit ihrer Syntax im einzelnen zwar sehr oft, systematisch aber nicht in einem Eins-zu-eins-Verhältnis, sondern 250 So E. Dittmer 1990, S. 52; dort eine ausführliche Diskussion des hier behandelten Anliegens mit Bezug auf das WMU.
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in einem Eins-zu-x-Verhältnis bzw. umgekehrt in einem X-zu-eins-Verhältnis steht. Da dieses Faktum im Bereich der Verben systematisch begegnet, ist es an verbalen Beispielen zu exemplifizieren: Ein Verb kann in einer einzigen seiner Bedeutungen syntaktisch verschiedene Konstruktionen bedingen; und eine syntaktische Konstruktion kann semantisch Verschiedenes ausdrücken. 3. 1. Ein Beispiel für ersteren Fall (also: 1 Bedeutung, mehrere Konstruktionen) liefert mhd. bedürfen: Mhd. bedurfen [...]. Es hat laut Mhd. Wb. (Bd. 1, Sp. 472) die Bedeutung >bedürfen, brauchen, nötig habenetw. tun müssen, [...]jn. anfallen, angreifenangreifen< passt. Dem folgt, ebenfalls diffus angeschlossen, eine Bedeutungsangabe >sich auf jn. stürzen (um ihn zu umarmen)jn. angreifen, anfallen< beschrieben wird und zum anderen eine Form des Umarmens meint, die einem >Sich-auf-jn.-Stürzen< als so ähnlich interpretiert wird, dass beides unter einen Subsumtionshut gestellt werden kann. – Unter Position 2. 2 werden die Belege zusammengefasst, in denen das Verb ebenfalls „mit Akk. d. P.“, aber mit „unpersönl. Subj.“ steht; es ergibt sich also eine Konstruktion ‚unpersönl. Subj. + Verb + Akk. d. P‘. Semantisch wird diese wie folgt gefüllt: unter 2. 2. 1 mit >jn. befallen, überkommen< (z. B. von kumber gesagt), wobei wiederum eine Position „mit Ersparung des Obj.“ diffus eingefügt ist; dann unter 2. 2. 2 mit >jm. zukommen (z. B. nôt); jn. betreffenjm. (z. B. als Erbe) zufallenjn. anfallen, angreifen< wird – wie gesagt – mit diffusem Anschluss eine Angabe >sich auf jn. stürzen (um ihn zu umarmen)< angeschlossen. Nun geht es um die Frage: Ist hier tatsächlich ein ‚aggressives Umarmen‘ gemeint, das einem tätlichen körperlichen und sogar militärischen ‚Anfall, Angriff‘ vergleichbar wäre? Oder suggeriert das syntaktische Muster eine Bedeutungsähnlichkeit, die man bei einer semantischen Gliederung nicht angesetzt hätte? Die Prüfung der zugehörigen Belege ergibt eine gewisse Plausibilität für die Interpretation des Umarmens als ‚Anfallen‘, macht das letztere aber doch wahrscheinlicher. Ferner: Im behandelten Artikel führt der Ansatz 3. 4 „mit Akk. d. S.“ zu einer Bedeutungsangabe >über etw. herfallen< (nämlich über golt); man könnte die These vertreten, dass es die Unterscheidung von „Akk. d. P.“ (unter 2) und „Akk. d. S.“ (unter 3) gewesen sei, die die Position 3. 4 ganz an das andere Ende des Artikels habe rücken lassen. Jedenfalls steht >über etw. herfallen< den Inhalten von 2. 1 näher als den Inhalten von 3, die unter 3. 1 mit >zu etw. gehörensich einer Sache zuwenden< und 3. 3 mit >etw. wieder in seinen Besitz bringen< angegeben werden. Fälle dieser Art begegnen häufiger; vgl. etwa auch 1antwerten (Mhd. Wb., Bd. 1, Sp. 331).
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(e) Wenn man Verben syntaktisch gliedert, dann nimmt man die Möglichkeit in Kauf, dass die Bedeutungsangabe in eine Position geraten kann, die den Grad der syntaktischen Untergliederung spiegelt. So erscheinen im Falle von mhd. ane gân ausgerechnet die Bedeutungen, die nach Ausweis der Zitate am dichtesten belegt sind, in Unterpositionen 3. und 4. Ordnung und rücken damit auf Hierarchieebenen, die von ihrem Ort her gesehen auch semantisch als untergeordnet erscheinen könnten. Ähnliches zeigt sich bei 2 ane hœren , ane nëmen, ane sprëchen usw. (s. jeweils Mhd. Wb., s. v.). 4. Das syntaktische Gliederungskriterium führt zu semantischen Zusammenstellungen, die einerseits einsichtig sein können, andererseits aber kontraintuitiv wirken können. Als Beispiel für Letzteres sei das Verb arbeiten im Mhd. Wb. angeführt (Bd. 1, Sp. 344 f.). Unter 1 intransitiv erscheinen: 1. 1 ‚schwere (körperliche) Arbeit verrichten, sich mühen, plagen‘, 1. 2 [...] ‚an etw. leiden, Schmerzen haben an etw.‘, 1. 3 ‚arbeiten, tätig sein, einen Beruf ausüben‘, 1. 4 ‚auf etw. hinarbeiten, nach etw. streben‘, 1. 5 ‚wirken, einwirken‘. Position 2 bringt dann den reflexiven Gebrauch: ‚sich bemühen, Anstrengungen auf sich nehmen‘; unter 3 (transitiv) folgen: 3. 1 ‚etw. (be)arbeiten, erarbeiten‘ mit einigen diffus angeschlossenen Sonderverwendungen wie ‚etw. (z. B. eine Grube) ausbeuten‘ oder ‚etw. (z. B. Farbe) auftragen‘, 3. 2 ‚etw. (ein Handwerk u. a.) ausüben, ausführen, vollbringen‘, 3. 3 ‚(Tiere) bewegen, zur Arbeit einsetzen‘, 3. 4 ‚etw. / jn. einsetzen, beanspruchen [...]‘, 3. 5 ‚auf etw. hinarbeiten, hinwirken‘. Auffallend (und kontraintuitiv, obwohl berechtigt) ist die positionelle Nähe von 1. 2 ‚Schmerzen haben‘ zu 1. 1 ‚Arbeit verrichten‘ sowie die Positionierung von 1. 5 ‚(ein)wirken‘ unter dem gleichen übergeordneten Punkt wie z. B. ‚Schmerzen haben‘. Partiell wörtliche Wiederholungen sind: 1. 3 ‚einen Beruf ausüben‘ / 3. 2 ‚(ein Handwerk) ausüben‘,251 1. 4 ‚auf etwas hinarbeiten, nach etw. streben‘ / 3. 5 ‚auf etw. hinarbeiten, hinwirken‘. Zwischen ‚verrichten‘ (unter 1. 1) und ‚ausüben, ausführen, vollbringen‘ (unter 3. 2) besteht ein Synonymieverhältnis, das ist ebenfalls eine Wiederholung. Meine Aussage lautet nun: Gliederungen dieser Art zeugen nicht von lexikographischer Nachlässigkeit; sie könnten vielmehr als Konsequenzen verstanden werden, die sich daraus ergeben, dass man Lemmazeichen wie 251 Nur bei genauem Hinsehen ist erkennbar, dass Beruf unter 1. 3 zur Bedeutungserläuterung gehört, Handwerk unter 3. 2 dagegen die Angabe eines Akkusativobjektes ist. Verständnissichernd ist zu beachten, dass Angaben wie ‚transitiv‘ oder ‚intransitiv‘ mitzulesen sind, wenn man die Bedeutungserläuterung verstehen will. Außerdem steht ‚einen Beruf ausüben‘ unter 1. 3 nicht allein, sondern in Verbindung mit ‚arbeiten‘ und ‚tätig sein‘, deren letzteres die Intransitivität deutlich anzeigt.
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arbeiten nach seinen syntaktischen Gebräuchen untergliedert und auf diese Weise eine Feldstruktur schafft, die zwar alle relevanten Sememe des Verbs enthält, die die inhaltlichen Zusammenhänge aber Kriterien syntaxeigener Art unterwirft. Diese Struktur ist insofern im strengen Sinne kein Bedeutungsfeld, sondern ein syntaktisches Feld. – Im übrigen bin ich der Meinung, dass die Häufigkeit, mit der nicht nur im Mhd. Wb. diffuse Erläuterungen in eine übergeordnete Einheit eingeblendet werden, mit dem Gliederungskriterium zusammenhängen: ‚Farbe aufzutragen‘ passt zu ‚etw. bearbeiten‘ sofort erkennbar, weil es transitiv ist; semantisch passt es nur, wenn man eine Bezugsgrößenverschiebung annimmt: Ein Untergrund wird dadurch ‚bearbeitet‘, dass man etwas ‚aufträgt‘. Dies ist aber eine semantische Angabe, die bezeichnenderweise fehlt (zur Sache: U. Goebel / I. Lemberg / O. Reichmann 1995, S. 171 – 179). 5. Syntaktische Kriterien der Artikelgliederung zwingen zwar nicht bei allen Angaben, nicht z. B. bei ‚transitiv / intransitiv‘, wohl aber bei anderen, etwa bei ‚Subjekt der Person‘ oder ‚Akkusativobjekt der Sache‘, zu der Entscheidung, ob man in den Bereichsangaben eben Person oder Sache bzw. jemand oder etwas, Bezugsperson oder Bezugsgegenstand oder neutral Bezugsgröße / -gegebenheit usw. sagt. Das ist in den Fällen unproblematisch, in denen man einerseits mit Personen, etwa einer ‚vrouwe‘, einem ‚wîp‘ oder (vielleicht) einer ‚vâlantinne‘ bzw. mit ihren männlichen Gegenfiktionen, und andererseits mit Sachen wie ‚Tisch‘, ‚Stuhl‘, ‚Bank‘ zu tun hat. Nun gibt es aber einen Bereich im Lexikon natürlicher Sprachen, der – metaphorisch gesprochen – zwischen ‚Person‘ und ‚Sache‘ liegt. Dies hat damit zu tun, dass Realität für den Lexikographen immer textlich geprägte Realität ist (deshalb habe ich gerade Fiktion gesagt). Dieser Zwischenbereich ist sehr viel breiter, als man gemeinhin annimmt; jeder Lexikograph begegnet ihm täglich. Gemeint ist schon die natürlich recht radikale Frage, ob z. B. die Abstraktgröße ‚der Mensch‘ (im Gegensatz zu ‚dem Tier‘) als Person oder vielleicht als Fiktion (‚Menschheit‘) und dann als Sache zu klassifizieren ist, ob Geist im Sinne von ‚Gespenst‘ wirklich eine Sache und inwiefern Geist im Sinne von ‚Heiliger Geist‘ eine Person ist. Was mache ich mit ‚Kirche‘, ‚Heer‘, ‚Gesellschaft‘, was mit einem sprechenden Fabelwesen, was mit der Menge all derjenigen Einheiten, die in den Quellentexten für Handelnde stehen oder aufgrund textlicher Zuschreibungen so gekennzeichnet sind, dass sie als Person gedacht werden. Man erkennt, dass der gesamte Raum tropischer Wortverwendungen angesprochen ist. So begegnen, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, in der Pilgerfahrt des Träumenden Mönchs (ripuarisch, 1444) ‚natur‘, ‚redlichkeit‘, ‚grobes verständnis‘, ‚geist‘, ‚gottes gnade‘ usw. in besonderen anthropomorphisieren-
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den Zusammenhängen. Obiges, mit „vielleicht“ apostrophiertes vâlantinne wäre mit der von Lexer (Bd. 3, Sp. 8) angegebenen Bedeutung ‚teuflisches wildes Weib‘ eine Person, mit der Angabe ‚Teufelin‘ eher (oder doch nicht?) eine Sache. Diese Fragen gelten verstärkt für die Textlexikographie, in der die sprachliche Realität, die überall zwischen den beschreibungssprachlichen Üblichkeiten durchquillt, nicht wegabstrahiert werden kann. Dies führt zum folgenden Punkt. 6. Syntaktische Muster des Typs transitiv, mit Subj. d. P. und Obj. d. S. mögen aus den Belegen heraus irgendwie zu füllen sein. Sie verschleiern aber in der vorliegenden Form, wenn man diese denn akzeptiert, systematisch, welche genauen sachlichen oder persönlichen Subjekte bzw. Objekte es sind, die ein Verb üblicherweise fordert. Hier schlägt das bereits mehrfach beschworene inhaltliche Interesse voll durch: Wer genau hat was genau in welcher Situation, gegenüber wem, aus welchem Grund und mit welchem Zeck (usw.) getan; auf was oder wen richtete sich dies; wie sahen die historischen Handlungsrahmen für eine Sprache, eine ihrer Varietäten, und speziell bei einzelnen Autoren oder Texten aus? Die Anerkennung der Relevanz solcher Fragen führt zur semantischen Anlage von Wörterbuchartikeln, damit zu Niederschlägen in der Organisation jeder einzelnen Informationsposition. 6. 1. Man mag gegen diese Auffassung einwenden, dass auch die semantische Artikelanlage Probleme aufwerfe. Man brauche die Argumente zum Teil nur umzukehren und etwa – wie oben ja geschehen – herauszustellen, dass bei semantischer Gliederung nach der Erläuterung einer Einzelbedeutung oft verschiedene syntaktische Muster genannt werden müssten, in denen diese Bedeutung gestaltet sei, und dass sich diese Muster dann für teils mehrere andere Bedeutungen ganz oder teilweise wiederholten. Dann wäre z. B. bei vielen mhd. und frnhd. Verben der geistigen und körperlichen Zuwendung darüber zu informieren, dass sie reflexiv oder nicht reflexiv, außerdem mit verschiedenen, oft dem Genitiv-, Akkusativ- und Präpositional-, aber auch dem Dativobjekt gebraucht werden können (vgl. zu letzteren J. P. Ebert in Frnhd. Gr.; z. B. § S 66). – Als Beispiele mögen begeben und gewarten fungieren (FWB, jeweils s. v.): begeben 2. >auf etw. verzichtenvon etw. ablassenauf etw. / jn. warten [...]e. S. gewärtig seinUnwahrheit< folgende Reihe von Akkusativobjekten: eine lüge sagen, reden, ausstreuen, predigen, stiften, pflanzen, thun. – Das vom WNT verfolgte Muster hat (mit gezielten Abweichungen im einzelnen) folgende diesbezügliche Form: Nach dem Lemma eine nach Zahlen geordnete Reihe von Bedeutungsansätzen; danach (also an das Semem adressiert) mit Tendenz zur Obligatorik die Auflistung von Syntagmen, zumindest bei Verben; dem einzelnen Syntagma dann weiteres folgend. Das führt zu der Realisierung (verkürzt): heffen, [...]. II) A) a) „Iets (zwaars) lichten, tillen“. Dann folgen Syntagmen wie: Aan iets heffen; absoluut; Iets niet künnen heffen noch tillen; Het want >Fischnetz< heffen (Bd. 6, (S. 462 ff.). Mit dieser Struktur ist das WNT seiner Zeit zweifellos weit voraus. 9. In jüngster Zeit liefert das FWB ein handhabbbares Beschreibungsmuster für Syntagmen in einem semantisch konzipierten Wörterbuch. Es gibt pro Semem eine eigene Informationsposition ‚Syntagmenangabe‘, die konsequent unter dem Stern der Semantik steht. Ihre Realisierung wurde bereits in Abs. 2 vorgeführt; sie soll hier hinsichtlich einiger Details noch kurz erläutert werden: – Tatsächlich belegte Komplemente von Verben sowie von Angaben erscheinen in den Syntagmen in runden Klammern nach vorangegangener Bereichsangabe; vgl. stellen 8 >nach etw. [...] streben [...]etw. [...] anhalten, die Bewegung zum Stehen bringennach etw. [...] streben< [...]. – Synt.: nach etw. (z. B. nach demütigkeit [...]) stellen, [...] jm. nach leib und sele stellen, sich zu dem abysse stellen. – Die semantischen Füllungen der Bereichsangaben sind insgesamt so gestaltet, dass die syntaktischen Regeln, und zwar nicht nur die typischen und hoch frequentierten, sondern auch die weniger häufig belegten, nicht nur deutlich, sondern deutlicher erkennbar werden, als dies in Artikeln mit syntaktischer Gliederung üblicherweise geschieht; vgl. nochmals stellen 8 >nach etw. [...] streben [...]dassvon etw. / jm. weg< wie mit in, gen >gegenauf / zu etw. hinHader, Streitzänkische weibliche Personhalsstarrigmit der Todesstrafe zu ahndenTodsündeTodesstrafe< wurde im FWB (Bd. 7, Sp. 936) zwar entschieden, dass sie mit dem Bestimmungswort an hals in der tropischen Bedeutung >Leben< anzubinden seien. Das schließt aber die hintergründige Frage nicht aus, ob sie vielleicht doch eher auf hals in der sog. eigentlichen Bedeutung >Hals< oder an hals in der Pars-pro-toto-Verwendung >Person, Mensch< zu beziehen seien. Damit ist gesagt, dass eine Wortbildung – natürlich mit allen Einzelkonstituenten – semantisch an mehrere Einzelbedeutungen jeder ihrer Konstituenten angeschlossen wer-
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den kann, sollte oder müsste. Ein Beispiel bildet handgetat, das in Bedeutung 1. >Schöpfung Gottes< im FWB (Bd. 7, Sp. 1047) mit seinem Bestimmungswort gleich auf vier Bedeutungsansätze von hand zurückgeführt wurde, nämlich auf: 1. >HandHand als SchaffensorganAutorität< und 8. >Macht, Herrschaft< (s. dort, Sp. 997 f.); auch hinsichtlich -getat ist die Möglichkeit einer Mehrtfachzuordnung gegeben: 1. >Tat generell< oder 2. >ungebührliche Handlung< oder gar 3. >Ruhmestat