Heureka!: Lukians Markt der Philosophen [1 ed.] 3534253450, 9783534253456

Thales, Solon, Anaximander - wer verbirgt sich hinter diesen Personen, deren Ansichten noch heute unsere Weltanschauung

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German Pages 204 [206] Year 2018

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Table of contents :
Cover
Inhalt
Einführung
Persönlichkeiten
Griechische Philosophie: Produkt eines Affekts?
Philosophisches Selbstverständnis
Philosophische Epochen
❖ Sokrates – die Schlüsselfigur
Markt der Möglichkeiten
Erster Teil: Philosophen auf dem Markt
Alles ist Zahl: Pythagoras
Wer war Pythagoras?
❖ Pythagoras: Die Welt ist ein Kosmos
❖ Der Philosoph – ein besonderer Typ
Was lehrte Pythagoras?
❖ Zwei Lebensformen
❖ Grundfiguren des Denkens
Wie lebten die pythagoreischen Lehrmeinungen fort?
Was bleibt?
Provokation durch Verzicht: Die Kyniker
Ein bezaubernder Hund: Diogenes
❖ Sinope am Schwarzen Meer
Wer war das?
Was schrieb er?
Wie wurden die Werke überliefert?
Wie lebten die Werke fort?
❖ Gleichberechtigung kynischer Frauen?
Was bleibt?
Abstecher nach Sparta: Tyrtaios
❖ Tapferkeit oder Frechheit?
Wer war das?
Was schrieb er?
Wie lebten die Werke fort?
Was bleibt?
Macht der Mühsal: Antisthenes
Wer war das?
Was schrieb er?
❖ Herakles: Das Vorbild
Wie wurden die Werke überliefert?
Wie lebten die Werke fort?
Was bleibt?
Erfindung des Hedonismus: Aristipp von Kyrene
Wer war das?
❖ Aristipp schreibt Antisthenes
Was schrieb er?
Wie lebten seine Werke fort?
Was bleibt?
❖ Im Frauenbad
Angsttherapie und Bildungsoptimismus: Demokrit
❖ Abdera und die Abderiten
Wer war das?
Was schrieb er?
❖ Besser Schwein als Mensch
Wie wurden die Werke überliefert?
Wie lebten die Werke fort?
Was bleibt?
Alles im Fluss: Heraklit
Wer war das?
❖ Ephesos
Was schrieb er?
❖ Alles fliesst
Wie lebten die Gedanken und Werke fort?
Was bleibt?
Griechischer Pessimismus: Theognis
Wer war das?
Was schrieb er?
Wie lebten die Werke fort?
Was bleibt?
Wissen des Nichtwissens: Sokrates
❖ Sokrates und das Schöne
❖ Platonische Ideen
Wer war das?
❖ Frauen um Sokrates
Was schrieb er?
❖ Sokratische Ironie?
Wie wurde sein Wirken überliefert?
Wie lebt sein Bild fort?
Was bleibt?
Kuchen für Epikur?
Angepasste Vielseitigkeit: Die Stoiker
❖ Gliederung der Philosophie
Wahrheit durch Logik: Chrysipp
Wer war das?
❖ Müssen Philosophen Könige sein?
Was schrieb er?
Wie wurden seine Werke überliefert?
Wie lebten die Werke fort und was bleibt von den Stoikern?
❖ Apathie ist unmenschlich
❖ Der Weise – ein Gentleman?
Geschichtsschreibung mit philosophischem Anspruch: Polybios
Wer war das?
Was schrieb er?
Wie wurde das Werk überliefert?
Wie lebte das Werk fort?
Was bleibt?
Eupathie statt Apathie: Panaitios
Wer war das?
Was schrieb er?
❖ Eupathie statt Apathie
Wie wurden die Werke überliefert?
Wie lebten die Werke fort?
Was bleibt?
Kosmos und Sympathie: Poseidonios
Wer war das?
Was schrieb er?
❖ Sympathie und ewiger Friede
Wie lebten die Werke fort?
Was bleibt?
Ein stoischer Sokrates: Epiktet
Wer war das?
Was schrieb er?
Wie wurden die Werke überliefert?
Wie lebten die Werke fort?
Was bleibt?
Distanz und Toleranz: Mark Aurel
Wer war das?
Was schrieb er?
Wie wurden die Werke überliefert?
Wie lebten die Werke fort?
Was bleibt?
Im Schatten des Aristoteles: Theophrast
Wer war das?
Was schrieb er?
Wie wurden die Werke überliefert?
Wie lebten die Werke fort?
Was bleibt?
Seelenruhe durch Zurückhaltung: Skeptiker
Skepsis und Gleichgültigkeit: Pyrrhon von Elis
Wer war das?
Was wa ren seine Grundgedanken?
Wie wurden seine Grundgedanken überliefert?
Wie lebten seine Grundgedanken fort?
❖ Skeptizistischer Denkstil
Was bleibt?
Ciceros geheimes Vorbild: Karneades
Wer war das?
Was waren seine Kerngedanken?
Wie wurden die Werke überliefert?
Wie lebten die Gedanken und Vorstellungen fort?
Was bleibt?
Epoché und Ataraxie: Sextus Empiricus
Wer war das?
Was schrieb er?
Wie wurden die Werke überliefert?
Wie lebten die Werke fort?
Was bleibt?
Zweiter Teil: Vom Ursprung bis zu den Sophisten
Am Anfang war das Wasser: Thales
Wer war das?
❖ Bias von Priene und die Sieben Weisen
❖ Zentrum Milet
Was schrieb er?
❖ Thales: Ein philosophischer Kopf?
Wie lebte sein Werk fort?
❖ Anfang der Philosophie?
❖ Staunen: Erfahrung einer Aporie?
Was bleibt?
❖ Was ist ein Philosoph?
Politik und Philosophie: Solon
Wer war das?
Was schrieb er?
Wie wurden die Werke überliefert?
Wie lebten seine Werke fort?
Was bleibt?
Das unerklärbar Andere: Anaximander
Wer war das?
Was schrieb er?
❖ Wodurch unterscheiden sich Thales und Anaximander?
Wie lebte das Werk fort?
Was bleibt?
Aufklärung und Fortschritt: Xenophanes
Wer war das?
❖ Kolophon und das Kolophonium
Was schrieb er?
Wie lebten die Werke fort?
Was bleibt?
Wahrheit und Irrtum: Parmenides
Wer war das?
Was schrieb er?
Wie wurde das Werk überliefert?
Wie lebte das Werk fort?
Was bleibt?
Gedankenspiele: Zenon
Wer war das?
❖ Zenon, der Lieblingsschüler
Was schrieb er?
Wie wurden seine Gedanken überliefert und wie lebten sie fort?
Was bleibt?
Liebe und Hass: Empedokles
Wer war das?
❖ Philosophie aus der Vogelperspektive
Was schrieb er?
❖ Vier Briefmarken
Wie lebten seine Werke fort?
Was bleibt?
Alles in allem: Anaxagoras
Wer war das?
❖ Klazomenai
Was schrieb er?
Wie wurde das Werk überliefert?
Wie lebte sein Werk fort?
Was bleibt?
Mass aller Dinge – der Mensch: Protagoras
Wer war das?
Was schrieb er?
❖ Was ist ein Sophist?
Wie lebten die Werke fort?
Was bleibt?
Ein nihilistischer Magier: Gorgias
Wer war das?
Was schrieb er?
Wie wurden seine Gedanken überliefert und wie lebten sie fort?
❖ Neue Sophisten
Was bleibt?
Unausweichliche Entscheidung: Prodikos
Wer war das?
Was schrieb er?
❖ Über den richtigen Gebrauch
Wie wurden seine Werke überliefert und wie lebten sie fort?
Was bleibt?
Zum Schluss
Anhang
Abkürzungen
Literaturhinweise
Chronologische Übersicht
Herkunftsorte der Philosophen
Philosophische Topografie
Register
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Heureka!: Lukians Markt der Philosophen [1 ed.]
 3534253450, 9783534253456

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R A I N E R

N I C K E L

Heureka!

L U K I A N S

M A R K T

P H I L O S O P H E N

D E R

Heureka!

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Rainer Nickel

Heureka! Lukians Markt der Philosophen

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Inhalt Einführung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erster Teil: Philosophen auf dem Markt Alles ist Zahl: Pythagoras . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Provokation durch Verzicht: Die Kyniker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Ein bezaubernder Hund: Diogenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Abstecher nach Sparta: Tyrtaios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Macht der Mühsal: Antisthenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Erfindung des Hedonismus: Aristipp von Kyrene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Angsttherapie und Bildungsoptimismus: Demokrit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Alles im Fluss: Heraklit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Griechischer Pessimismus: Theognis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Wissen des Nichtwissens: Sokrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Kuchen für Epikur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Angepasste Vielseitigkeit: Die Stoiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Wahrheit durch Logik: Chrysipp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Geschichtsschreibung mit philosophischem Anspruch: Polybios . . . . . . . . . . . 102 Eupathie statt Apathie: Panaitios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Kosmos und Sympathie: Poseidonios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Ein stoischer Sokrates: Epiktet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Distanz und Toleranz: Mark Aurel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Im Schatten des Aristoteles: Theophrast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Seelenruhe durch Zurückhaltung: Skeptiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Skepsis und Gleichgültigkeit: Pyrrhon von Elis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Ciceros geheimes Vorbild: Karneades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Epoché und Ataraxie: Sextus Empiricus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

Zweiter Teil: Vom Ursprung bis zu den Sophisten Am Anfang war das Wasser: Thales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Politik und Philosophie: Solon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Das unerklärbar Andere: Anaximander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Aufklärung und Fortschritt: Xenophanes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Wahrheit und Irrtum: Parmenides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 5

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Gedankenspiele: Zenon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Liebe und Hass: Empedokles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Alles in allem: Anaxagoras . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Maß aller Dinge – der Mensch: Protagoras . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Ein nihilistischer Magier: Gorgias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Unausweichliche Entscheidung: Prodikos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Exkurse v  Sokrates – die Schlüsselfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 v  Pythagoras: Die Welt ist ein Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 v  Der Philosoph – ein besonderer Typ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 v  Zwei Lebensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 v  Grundfiguren des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 v  Sinope am Schwarzen Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 v  Gleichberechtigung kynischer Frauen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 v  Tapferkeit oder Frechheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 v  Herakles: Das Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 v  Aristipp schreibt Antisthenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 v  Im Frauenbad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 v  Abdera und die Abderiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 v  Besser Schwein als Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 v  Ephesos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 v  Alles fließt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 v  Sokrates und das Schöne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 v  Platonische Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 v  Frauen um Sokrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 v  Sokratische Ironie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 v  Gliederung der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 v  Müssen Philosophen Könige sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 v  Apathie ist unmenschlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 v  Der Weise – ein Gentleman? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 v  Eupathie statt Apathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 v  Sympathie und ewiger Friede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 v  Skeptizistischer Denkstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 v  Bias von Priene und die Sieben Weisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 v  Zentrum Milet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 v  Thales: Ein philosophischer Kopf? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 v  Anfang der Philosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

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v  Staunen: Erfahrung einer Aporie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 v  Was ist ein Philosoph? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 v  Wodurch unterscheiden sich Thales und Anaximander? . . . . . . . . . . . . . 154 v  Kolophon und das Kolophonium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 v  Zenon, der Lieblingsschüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 v  Philosophie aus der Vogelperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 v  Vier Briefmarken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 v  Klazomenai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 v  Was ist ein Sophist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 v  Neue Sophisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 v  Über den richtigen Gebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Anhang Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Chronologische Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Herkunftsorte der Philosophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Philosophische Topografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

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Einführung Neben Platon und Aristoteles haben noch andere bedeutende Persönlichkeiten die Phi­ losophie der griechischen Antike geprägt. Sie sind den heutigen Leserinnen und Lesern aus dem Grund weniger bekannt, weil sie entweder selbst nichts geschrieben haben oder weil ihre Werke weitgehend verloren sind. Von den wenigsten der hier vorgestellten Philosophen sind vollständige oder an­ nähernd vollständige Werke erhalten. Und sogar Sokrates, der berühmteste unter ­ihnen, der die Philosophie vom Himmel herabholte und ins Leben der Menschen brachte, wie es heißt, schrieb nicht ein einziges Wort auf. Er befürchtete wohl, das ge­ schriebene Wort könne den freien Gedanken behindern. Aber man verlor diese Philosophen nicht aus den Augen, weil spätere Denker von ihnen geprägt wurden oder ihre Werke noch lesen konnten und sich intensiv mit ­ihnen auseinandersetzten. So blieben ihre Gedanken le­bendig. Der freiheitsliebende Dichter und Theologe Empedokles und der dunkle, schon in der Antike schwer ­zugängliche Heraklit sind bis heute Weg­marken der Philosophiegeschichte. Anti­ sthenes, der eigenwillige Schüler des Sokrates, der bissige Kyniker Diogenes und der heitere Demokrit, der Erfinder einer sehr folgenreichen Atomtheorie, sind als Chiff­ ren für bestimmte Verhaltensweisen und Lebensentwürfe zeitlos aktuell.

Per sönlichkeiten Europäisches Philosophieren setzt zu Beginn des 6. Jh.s v. Chr. mit Thales von Milet ein. Obwohl wir auch von ihm nur verschwindend wenige Fragmente besitzen, ge­ hört der Milesier zweifellos zu den berühmtesten Philosophen. Jeder kannte ihn – nicht nur weil er den Thaleskreis entdeckte, sondern auch aus der wissenschaftlichen Beobachtung natürlicher Vorgänge Kapital zu schlagen verstand und demnach kein weltfremder Gelehrter war. Wer sich darüber wundert – diese Regung hat übrigens schon Platon (427–347 v. Chr.) zu einem Anfang philosophischen Fragens erklärt –, dass hier etwa auch der Geschichtsschreiber Polybios aus dem 2. vorchristlichen Jh. zu den Philosophen gezählt wird, dem sei gesagt: Das zentrale Ziel dieses H ­ istorikers – er gehörte in Rom zusammen mit Panaitios dem sogenannten Scipionenkreis an, den der prominente römische Politiker Scipio Africanus (185–129 v. Chr.) um sich versammelt hatte – ist die Ergründung und Darstellung der Wahrheit, nach der die Philosophie von Anfang an beharrlich sucht. Die Trennung zwischen Philosophie und Geschichtsschreibung ist genauso willkürlich wie die Grenze zwischen Dichtung und Philosophie. Das trifft übrigens auch auf die Beziehungen zwischen Philosophie und Medizin zu, wie sie nicht nur von Hippokrates (geb. 460 v. Chr.) und seinen Schülern vertreten wurde, sondern auch von dem im 2. Jh. n. Chr. ausgesprochen ­produktiven Mediziner Galenos aus Pergamon. Übrigens verdanken wir den medi­ 9

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zinischen Abhandlungen dieses hochgelehrten Arztes wertvolle Zitate und Fragmen­ te aus den Werken griechischer Philosophen.

Gr iechische Philosophie : Produkt

eines

A ffekts?

Gorgias aus Leontinoi veranschaulicht die ganz besondere Bedeutung der Philosophie mit einem Vergleich aus Homers Odyssee: Diejenigen, die sich in den allgemeinen Fächern abmühen, aber die Philosophie ver­ nachlässigen, gleichen den Freiern der Penelope, die sich mit ihren Mägden zu­ friedengaben, weil ihnen Penelope selbst unerreichbar blieb (VS 82 B 28). Dieser Vergleich soll zeigen, dass die Philosophie nicht nur eine Sonderstellung vor allen anderen Wissenschaften hat, sondern auch von einem Affekt getragen ist, der et­ was weit Entferntes und vielleicht Unerreichbares zu gewinnen drängt, und zwar die Antwort auf grundsätzliche Fragen, die sich dem Menschen immer wieder stellen. Selbstverständlich wird auch ein Philosoph die Frau des Odysseus nicht für sich gewin­ nen. Aber er gibt sich wenigstens nicht wie die Freier der Penelope mit einfachen Lö­ sungen zufrieden. Er will die Dinge nicht hinnehmen, wie sie zu sein scheinen, sondern er will wissen, wie sie in Wirklichkeit sind. Diese Absicht ist allen hier vorgestellten Philosophen gemeinsam. In seiner Schrift Über das Wesen der Götter (De natura deorum 1, 11) ­erklärt der römische Staatsmann und Rechtsanwalt Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.), einer der besten Kenner der griechischen Philosophie, das skeptische Fragen zur spezifisch philosophischen Methode, wie sie bereits von Sokrates praktiziert wurde: Die Philoso­ phie sah ihre Aufgabe darin, gegen alles zu argumentieren und keine Sache endgültig zu entscheiden. Cicero betont, diese Methode habe ihre Bedeutung bis in seine Zeit behalten. Damit sagt er zugleich, dass das philosophische Fragen nie aufhört, weil die Antworten nie endgültig sind. Plinius (62–114 n. Chr.), der Zeitgenosse des römischen Kaisers Trajan, erzählt in einem seiner Briefe (7, 27) von einem Spukhaus in Athen, in dem niemand wohnen will. Dennoch hofft sein Eigentümer, einen Käufer zu finden. Da kommt tatsächlich der grie­ chische Philosoph Athenodoros nach Athen und interessiert sich für das Haus. Er stellt aber Nachforschungen an, weil er sich über den niedrigen Preis wundert. Und jetzt wird der philosophische Affekt wirksam: Obwohl er die Wahrheit erfährt, zieht er in das Spukhaus ein. Denn er will den Dingen auf den Grund gehen. Als es Abend wird, lässt er sich Schreibzeug und eine Lampe bringen und bereitet sich wachen Sinnes darauf vor, die Vorgänge zu klären und alles, was geschieht, schriftlich festzuhalten. Die Geschich­ te geht gut aus, weil das Gespenst den Philosophen nicht das Fürchten lehrt, sondern dazu bringt, den im Garten verscharrten Körper des unruhigen Geistes ordnungs­ gemäß bestatten zu lassen.

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Dieser Vorgang ist ein Beispiel für das Funktionieren philosophischer Vernunft: Athenodoros forscht nicht nach der Ursache des Spuks, weil er das Haus gekauft hat, sondern er kauft das Haus, um die Ursache herauszufinden. Das genau ist der philoso­ phische Affekt. Ganz ähnlich handelt der homerische Odysseus. Er will unbedingt den betörenden Gesang der Sirenen hören, obwohl alle Welt weiß, dass diese verführerischen Wesen alle, die sich ihnen nähern, erbarmungslos vernichten. Was tut Odysseus? Er lässt sich fest an den Mastbaum seines Schiffes binden und befiehlt seinen Gefährten, sich die Ohren zu verstopfen. So kann er selbst zwar die unwiderstehlichen Sirenenklänge ­hören, aber seine Gefährten, die ja nichts hören, nicht dazu bringen, ihn loszubinden und zu den S­ irenen zu lassen, was seinen Tod bedeutet hätte. Die philosophische Ver­ nunft des Odysseus ist zwar das gefährliche Risiko des Experiments eingegangen, hat aber – wenn auch unter Qualen – ihr Erkenntnisziel erreicht. Es steht außer Frage, dass der Mut zum Risiko, das man eingeht, um den Dingen auf den Grund zu gehen und sich nicht mit den Mägden der Penelope zu begnügen, nur ein Merkmal der Philosophie ist – aber das wichtigste.

Philosophisches Selbst ver ständnis In seiner von Platon literarisch gestalteten Verteidigungsrede vor einem athenischen Gericht beschreibt Sokrates seine philosophische Tätigkeit. Er habe sein Leben lang eine ihm von Gott auferlegte Pflicht erfüllt: nach der Wahrheit zu suchen und sich selbst und andere zu prüfen und infrage zu stellen (Platon, Apologie 28e). Dieser Auf­ gabe durfte er sich auch unter ­Lebensgefahr nicht entziehen. Den Tod zu fürchten, ist wirklich nichts anderes als zu glauben, man sei weise, ohne es zu sein. Denn glauben bedeutet zu wissen, was man nicht weiß. Niemand weiß zwar etwas über den Tod, nicht einmal ob er vielleicht sogar das größte Gut für den Men­ schen ist. Aber man fürchtet ihn, als ob man genau wüsste, dass er das größte Übel sei (Platon, Apologie 29a). Für Sokrates ist Philosophie offensichtlich keine Privatsache, sondern ein göttlicher Auftrag, den er zum Wohl seiner Mitmenschen ausführt. Ich gehe herum und überrede die Jüngeren genauso wie die Älteren unter euch, dass ihr euch nicht stärker um euer körperliches und materielles Wohl kümmert – und auch nicht so heftig – als um die möglichst gute Entwicklung eurer Seelen. Dabei weise ich darauf hin, dass moralisches Handeln nicht aus materiellem Besitz entsteht, sondern aus moralischem Handeln materieller Besitz und alle anderen Güter für die Menschen, und zwar für jeden Einzelnen wie für die Gesellschaft (30a-b).

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Etwas später vergleicht sich Sokrates mit einer Stechfliege, die ein zwar tüchtiges, aber etwas träges Pferd aus seiner Müdigkeit aufscheucht. Genauso habe Gott ihn, Sokrates, zu den Menschen geschickt, damit er sie antreibe, sie überzeuge und ihnen ihr falsches Verhalten vorwerfe. Sokrates habe d ­ afür alles andere aufgegeben und schon so viele Jahre lang wie ein Vater oder älterer Bruder jedem Einzelnen zugeredet, Anstand und Moral zu verwirk­lichen, wie Platon in der Apologie (30e–31c) feststellt. Die Menschen aber ärgerten sich darüber wie Schlafende, die abrupt geweckt würden und dann er­ schrocken und noch schlaftrunken um sich schlügen. Wenn sie aber Sokrates wie eine Stechfliege zerquetscht hätten, könnten sie weiterschlafen, bis Gott einen anderen Quälgeist schicke. Man sieht, Sokrates hat bei Platon eine klar umrissene gesellschaftliche Rolle, wie sie heute vielleicht von einem engagierten Journalisten gespielt wird, und alle späteren Philosophen waren in diesem Sinne Nachfolger des Sokrates: Sie sahen ihre Aufgabe stets darin, aufzuklären, anzuregen, zu verändern, zu mahnen, aber auch zu lehren, zu helfen, zu heilen und zu trösten.

Philosophische Epochen Bevor man mit den Philosophen weiter ins Gespräch kommt, ist es zweckmäßig, sich einen kurzen Überblick über die Epochen der älteren griechischen Philosophiege­ schichte zu verschaffen: Die vorklassische Epoche der sogenannten Vorsokratiker (600–430 v. Chr.) ist geprägt von Thales, Anaximander, Pythagoras, Xenophanes, Parmenides, Heraklit, Empedok­ les und Anaxagoras, dem Freund des Perikles, und von Demokrits Atomlehre und den Sophisten Protagoras, Gorgias oder Prodikos. Die Vorsokratiker lassen sich als die ­großen Anreger des philosophischen Denkens charakterisieren. Die Philosophie der klassischen Zeit (450–350 v. Chr.) ist Sokrates, Platon und Aris­ toteles zu verdanken. In der nachklassischen Epoche, spielen die Nachfolger der Klassiker die führende Rolle. Zu ihnen gehören nicht nur die Peripatetiker, unter denen Theophrast hervor­ ragt, die Akademiker, die durch den Skeptiker Karneades berühmt wurden, und die Stoiker, unter denen Chrysipp, Panaitios, Poseidonios oder Epiktet und Mark Aurel hervorragten (vom 3. Jh. v. Chr. bis weit in die christliche Zeit). Besondere Beachtung verdienen auch die philosophischen Bewegungen des Kynismus mit Antisthenes und Diogenes und der von Epikur begründete Epikureismus. In der spätantiken Epoche (vom 3. bis zum 6. nachchristlichen Jh.) steht der Neu­ platonismus im Mittelpunkt. Maßgebend sind hier Plotin (geb. 205 n. Chr.) sowie seine Schüler und Nachfolger Porphyrios, Iamblich, Proklos und Simplikios. Dann aber verfügt der christlich-römische Kaiser Justinian im Jahr 529 n. Chr., dass niemand mehr in Athen Philosophie lehren dürfe. Die Platonische Akademie wird endgültig geschlossen, und nach der Eroberung Alexandrias durch die Araber 12

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im ­Jahre 642 verlieren sich auch die letzten Spuren eines von antiker Philosophie ge­ prägten Denkens. Diese Epochen sind zwar nicht scharf voneinander abzugrenzen, unterscheiden sich aber durch die Fragen, die vorrangig gestellt und diskutiert werden: Die Vorsokratiker befassen sich vor allem mit dem Wesen und dem Werden der Welt und weniger mit dem Menschen. Sie fragen nach vernünftigen Gründen, weil ­ihnen die Erklärungsmuster mythologischer Erzählungen über die Herkunft des Seins nicht mehr ausreichen. Als individualistische und selbstbewusste Denker – einige sind zugleich Dichter und Theologen – entwickeln sie unterschiedliche Erklärungsmuster, sodass sie sich in einer oft recht scharfen und polemisch aufgeheizten Konkurrenz­ situation befinden, in der sie zugleich angreifen und angegriffen werden. Der Gegenstand ihres Forschens ist die Vielfalt der Natur (phýsis) in ihrem Werden und Vergehen, ihrer Bewegung und ihrem Wandel. Im Zentrum ihres Interesses steht zwar die Frage nach dem Woher, d. h. nach dem Ursprung und Anfang der Welt. Aber ebenso wichtig ist ihnen die Suche nach dem Gemeinsamen, Stabilen und Unvergäng­ lichen in oder hinter der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Xenophanes und Parmenides wollen vor ­a llem den Unterschied zwischen Sein und Werden, Sein und Nicht-Sein ­k lären. Heraklit stellt die Frage nach der Entstehung und dem Wesen des Kosmos, der periodisch entstehe und wieder vergehe: Es gebe nichts Bleibendes. Alles sei im Fluss und unablässigerer Veränderung ausgesetzt, werde aber von einer höchsten Vernunft (Logos) gelenkt. Empedokles glaubt, im Welt­geschehen wirkten gegensätzliche Urkräf­ te (Liebe und Hass). Pythagoras fragt nach den Gesetzen, die den Dingen zugrunde liegen und nach ­denen diese in Erscheinung treten. Für Thales ist das Wasser der ­Urstoff der Welt, und Anaximander sieht in einem rätselhaften Unbegrenzten den ­Anfang. Demokrit glaubt, in den Atomen die kleinsten Bausteine der Welt gefunden zu haben. Sie existieren im leeren Raum, in dem sie sich zu den unterschiedlichsten For­ men zusammenballen. Seit Anaxagoras befindet sich der Geist als ein von der Materie unabhängiges, aber alles bewegendes Prinzip im Gesichtskreis der Philosophie. Die Sophisten, die Experten für Wissen und Weisheit, Sprachgewalt und Öffent­ lichkeitswirkung, erkannten, dass in ihrer Zeit ein öffentliches Bedürfnis nach Bildung bestand. So hatte auch Perikles, der maßgebende Politiker des 5. Jh.s, die athenische Demokratie mit den Worten charakterisiert: Wir lieben das Schöne, ohne Verschwendung zu betreiben. Wir lieben Bildung und Wissen ohne Weichlichkeit (Thukydides 2, 40, 1). Hier definiert Perikles das Interesse an Bildung und Wissen als Philosophie. Man phi­ losophiert aber nicht in der einsamen Denkerklause, sondern begeistert sich an Vorträ­ gen über vielfältige Themen. Diese Marktlücke füllen die Sophisten, indem sie mit dem Anspruch auftreten, die Tugend, die geistige Virtuosität und Schlagkraft, als Vorausset­ zung für ein gutes Leben zu lehren, das vor allem darin besteht, überlegen zu sein und Erfolg zu haben. Die Philosophie, die die Sophisten propagieren, besteht in einem ge­ konnten Umgang mit der Sprache, im brillanten Formulieren und scharfsinnigen 13

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­ rgumentieren und in der Fähigkeit, den Anspruch auf politische und gesellschaft­liche A Führung durchzusetzen, und weniger in der ernsthaften Suche nach der Wahrheit. Auch Sokrates interessiert sich nicht mehr für die Welt, die den Menschen umgibt, sondern wie die Sophisten für den Menschen selbst. Er sucht nach den Voraussetzun­ gen und Bedingungen des guten Lebens, das von der besonderen Tauglichkeit des Menschen getragen ist. Diese besteht aber nicht in äußerer Machtentfaltung, sondern in einem rational begründeten Handeln, das sich in der Gerechtigkeit verwirklicht. Sokrates ist der maß­gebende Impulsgeber und die Identifikationsfigur aller philoso­ phischen Schulen und Bewegungen nach ihm. Er ist der bis heute am meisten zitierte Philosoph der Antike.

v Sokr ates –

die

Schlüsselfigur

Sokrates scheint mir als Erster die Philosophie – und darin stimmen alle völlig überein – von den dunklen und von der Natur selbst verhüllten Fragen, mit denen sich alle Philosophen vor ihm beschäftigt haben, abgebracht und dem alltäglichen Leben zuge­ führt zu haben. Darauf hat sie nach den Fähigkeiten und den Fehlern der Menschen und überhaupt nach dem Wesen des Guten und des Schlechten gefragt und auf der anderen Seite die Auffassung vertreten, dass alles, was am Himmel passiert, von unse­ ren Erkenntnismöglichkeiten weit entfernt sei oder doch, selbst wenn man etwas darü­ ber erfahren könne, keine Bedeutung für ein gutes Leben habe. Sokrates hat in allen seinen Gesprächen, die von denen, die ihn hörten, auf unterschiedliche Weise und aus­ führlich aufgeschrieben wurden, betont, dass er selbst nichts behaupte, aber andere widerlege, ohne selbst Antworten geben zu können. Er sei jedoch den anderen Men­ schen darin überlegen, dass diese zu wissen glaubten, was sie nicht wüssten. Er selbst dagegen wisse nur, dass er nichts wisse. Deshalb glaube er auch, er sei von Apollon als der weiseste aller Menschen bezeichnet worden, weil dies überhaupt das einzige wirk­ lich verlässliche Wissen sei, dass man nicht glaube, etwas zu wissen, was man nicht wisse (Cicero, Academica posteriora 1, 15–17). Sokrates bestand darauf und hielt daran fest, dass das allein zuverlässige Wissen darin bestehe, nichts zu wissen und sich auch nicht einzubilden, etwas zu wissen. Sein ganzes Reden beschränkte sich darauf, tugendhaftes Handeln zu preisen und die Menschen da­ für zu begeistern, wie man es den Schriften seiner Anhänger und Schüler entnehmen kann. Darauf fährt Cicero fort: Von Platons Autorität, der ausgesprochen vielseitig und gedankenreich war, ging eine zwar weitgehend einheitliche philosophische Strömung aus, die sich unter den beiden Begriffen Akademiker und Peripatetiker profilierte. Denn nachdem Platon seine Philo­ sophie seinem Neffen Speusippos gewissermaßen vererbt hatte, taten sich zwei eben­ bürtige Männer besonders hervor: Xenokrates aus Chalkedon und Aristoteles aus Sta­ geira. Danach wurden die Anhänger des Aristoteles Peripatetiker genannt, weil sie in 14

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der Wandelhalle mit dem Namen Lykeion auf und ab gehend diskutierten, während die anderen in Platons Nachfolge in der Akademie, einem anderen Gymnasium, zusam­ menkamen und Gespräche zu führen pflegten. Diesem Treffpunkt verdankten sie dann eben auch ihre Bezeichnung als Akademiker. Doch beide – Xenokrates und Aristoteles – entwickelten erfüllt von Platons gedank­ lichem Reichtum ihre eigene philosophische Lehre in einem geschlossenen System. Aber jenes sokratische Verfahren, ohne Gewissheit und Hoffnung auf sichere Antwor­ ten über alle Fragen zu diskutieren, gaben sie auf. So entstand, was Sokrates niemals akzeptiert hätte: eine wissenschaftlich begründete Philosophie mit einer systemati­ schen Ordnung. Diese Philosophie bildete zunächst eine Einheit, obwohl sie zwei Na­ men hatte. Denn die Peripatetiker unterschieden sich in nichts von der Alten Akademie. Aristoteles ragte allerdings durch den beeindruckenden Reichtum seines Talents, wie mir scheint, über alle anderen hinaus. Doch beide Schulen hatten denselben Ursprung und dieselbe Vorstellung von dem, was man erstreben und was man meiden muss. v Die Tauglichkeit kommt aus dem Inneren des Menschen und ist das Ergebnis intensi­ ver Denkarbeit. Nur wer am Ende wirklich weiß, was Tauglichkeit ist, wird in ihrem Sinne handeln und wirklich tauglich sein. Darin besteht die von Sokrates postulierte Identität von Tauglichkeit und Wissen. Von den Sophisten aber unterscheidet er sich vor allem darin, dass er die Philosophie nicht im Lehrvortrag, sondern im Dialog realisiert, in dem sich die Gesprächspartner ständig gegenseitig kontrollieren und sich vergewissern, ob sie auf dem richtigen Weg sind. Unter diesem Gesichtspunkt geht es also um ein Wissen, das nur im Austausch mit anderen Menschen Bestand hat. Im Bemühen um Wissen muss ich leben und deshalb mich selbst und die anderen ­prüfen und widerlegen (Apologie 28e). Das Bekenntnis zu dieser Lebensaufgabe ist der Kern der Verteidigung des Sokrates vor dem athenischen Gerichtshof. Im platonischen Dialog Lysis (218a) erklärt Sokrates jeden zu einem P ­ hilosophen, der noch nicht weise sei; denn wer es schon sei, brauche nicht mehr zu philosophieren. Auch im Symposion (204a) definiert er die Philosophie als ein Streben nach Wissen, das man (noch) nicht habe: Kein Gott philosophiert oder begehrt, weise zu werden; er ist es ja, und auch wenn sonst jemand schon weise ist, philosophiert er nicht mehr. Allerdings philosophiert auch der Unverständige nicht (Symposion 204a): Denn das ist eben das Schlimme am Unverstand, dass der Unverständige, ohne schön, gut und vernünftig zu sein, doch ganz zufrieden mit sich selbst ist. Wer aber nicht glaubt, dass ihm etwas fehlt, der will auch nichts haben, wovon er nicht ­annimmt, dass es ihm fehlt. 15

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Platon hat das sokratische Wesen voll und ganz in sich aufgesogen. Das kommt darin zum Ausdruck, dass er in fast allen seinen Werken nicht selbst das Wort ergreift, son­ dern Sokrates sprechen lässt, den er dann auch in seiner Politeia (480a) über den ­Gegenstand der Philosophie sagen lässt, es sei das Wissen vom wirklich Seienden. Mit Platons Schüler Aristoteles, der die Philosophie zu einer alles umfassenden Wissenschaft entwickelt und eine unbeschreiblich große Wirkung auf die spätere ­Philosophiegeschichte entfaltet, geht die klassische Epoche zu Ende. Platons Akademie übernimmt die Aufgabe, das Erbe ihres Gründers weiterzu­ geben. Besonders wichtig wird die Neue Akademie – vor allem unter ihrem Leiter Kar­ neades, dem Begründer des Skeptizismus, der jede Form dogmatischen Denkens ab­ lehnt und die Zurückhaltung des Urteils fordert. Der grundsätzliche Zweifel am Wert menschlicher Erkenntnis führt zur Unerschütterlichkeit oder Unempfindlichkeit ge­ genüber allem Geschehen. Auch außerhalb der Akademie gibt es Verfechter der skeptischen Denkhaltung: So befindet sich beispielsweise Pyrrhon von Elis in ständiger Auseinandersetzung mit den Schulen der Stoiker und der Epikureer, die sich gegenseitig darin überbieten, den bes­ ten Weg zum Glück des Menschen, zur Eudämonie, zu finden, indem sie alles, was dem Menschen nicht verfügbar ist, wie zum Beispiel materielle Güter, radikal entwerten und als bedeutungslos für das Glück betrachten. Alle nachklassischen Philosophenschulen stimmen darin überein, dass die prakti­ sche Vernunft vor dem theoretischen Denken Vorrang hat. Denn Glück ist nur durch Handeln erreichbar. Die Schulen haben allerdings nicht dasselbe Verständnis von Glück. So sehen es die Stoiker in der Freiheit von allen Leidenschaften (Apathie) und in der Verwirklichung der Tugend, d. h. in rational begründetem Handeln. Die Pyrrho­ neer, die Nachfolger des Pyrrhon von Elis, und Epikurs Anhänger, die Epikureer, be­ zeichnen diesen ­Zustand als Ungestörtheit (Ataraxie), die Distanz hält zu allem Unver­ fügbaren oder Unbeeinflussbaren, an das man sein Herz nicht hängen darf, weil es einen nichts angeht. Die skeptischen Pyrrhoneer sind darin besonders konsequent: Denn für sie gibt es nichts, worüber der Mensch frei verfügen kann. Folglich ist alles gleichgültig – auch die Gleichgültigkeit selbst. Dass Philosophie eine unmittelbare Lebenshilfe sein kann, veranschaulicht später Mark Aurel, der sich als römischer Kaiser und griechisch schreibender Philosoph in seinen Selbstgesprächen nicht nur an der stoischen Lehre, sondern auch an Heraklit, Sokrates und Platon, aber auch an dem Kynismus eines Diogenes und sogar an Epikur orientiert. Dem stoischen Sklaven Epiktet bringt der Kaiser höchste Achtung entgegen. Wenn es von Sokrates heißt, er habe die Philosophie vom Himmel auf die Erde herun­ tergeholt und sie gezwungen, nach dem Leben, den Sitten, dem Guten und Bösen zu forschen, kann man von Mark Aurels Philosophie behaupten, sie reduziere den Men­ schen noch auf das ihm zukommende Maß: Die Philosophie lehre seine Bedeutungs­ losigkeit, indem sie ihn immer wieder dazu auffordere, sich selbst in seiner extremen Begrenztheit und Verletzlichkeit zu erkennen. So ist sie am Ende nichts weiter als die Vorbereitung auf einen würdevollen Abschied von der Welt. Hier schließt sich der Kreis zu Sokrates. 16

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Außerdem hat noch keiner von denen, die auf dieser Welt mit Leidenschaft nach der Wahrheit und nach dem Anblick des Seienden streben, sein Verlangen hinreichend stillen können, weil er eben nur eine durch den Körper sozusagen verdunkelte und vernebelte, unzuverlässige und gestörte Vernunft besitzt. Aber wie ein Vogel blicken die Philosophen nach oben, um aus dem Körper hinaus in ein helles und strahlendes Licht zu fliegen, und so machen sie ihre Seele leicht und frei von allem, was vergänglich ist, indem sie die Philosophie zu einer Vorbereitung auf das Sterben werden lassen. So halten sie den Tod für ein großes und wirklich vollkommenes Gut und sind überzeugt davon, dass die Seele dort ihr wahres Leben haben wird, während sie hier nicht wirk­ lich lebt, sondern nur als ob sie träumen würde (Plutarch, Non posse suaviter vivi secun­ dum Epicurum, 28). Mit diesen Worten spielt Plutarch (um 100 n. Chr.) auf eine zentrale Stelle im platoni­ schen Phaidros (249d) an. Mit der These, Philosophieren bedeute sterben lernen, greift er Worte auf, die Sokrates im Phaidon (64a-b) kurz vor seinem Tod spricht, um das letzte Ziel der Philosophie zu formulieren. In dieser nachklassischen Epoche der Philosophiegeschichte hat die Philosophie ein gemeinsames Motiv: Sie ist Psychotherapie. Das ist am deutlichsten fassbar bei den Kynikern, die ihre Hauptaufgabe darin sehen, Menschen zum Umdenken aufzufor­ dern und von seelischen Krankheiten zu heilen. Für die Analogie zwischen Philoso­ phie und Heilkunde ist eine Bemerkung des Antisthenes bezeichnend (D. L. 6, 4): Auf die Frage, warum er seine Schüler so hart anfasse, soll er geantwortet haben: „Die Ärz­ te machen es doch genauso mit ihren Patienten.“ Und als Diogenes einmal gefragt wur­ de, warum er die Spartaner höher schätze als die Athener und es dennoch vorziehe, in Athen zu leben, soll er gesagt haben, auch der Arzt befasse sich nicht mit den Gesun­ den, sondern mit den Kranken (Stobaios 3, 13, 43). Der Kyniker Demonax erklärt ­später, man müsse sich die Ärzte zum Vorbild nehmen, die sich bemühten, die Krank­ heiten zu heilen, ohne den Kranken böse zu sein (Lukian, Leben des Demonax 7). Und auch nach Epikur erfüllt die Philosophie eine therapeutische Aufgabe: Leer ist die Rede jener Philosophen, von der nicht irgendeine Leidenschaft des Men­ schen geheilt wird. Wie nämlich eine Medizin nichts nützt, wenn sie nicht die Krank­ heiten aus dem Körper vertreibt, so ist auch eine Philosophie nutzlos, wenn sie nicht die Seele von den Leidenschaften befreit (Frg. 221 Us.). Der Neuplatonismus, der die spätantike Epoche der Philosophiegeschichte prägte, hat alle philosophischen Schulen beerbt. So wurde zum Beispiel das Studium des Aristo­ teles zu einem wichtigen Inhalt neuplatonischen Denkens. Simplikios betrieb im 6. Jh. n. Chr. die Harmonisierung von platonischer und aristotelischer Philosophie mit ­besonderem Ernst. Die intensive philosophische Arbeit der Neuplatoniker lässt sich vor allem daran ablesen, dass ihre noch erhaltenen Schriften an Umfang alle anderen philosophischen Werke der Antike um ein Vielfaches übertreffen.

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Wie schon die griechischen Großdenker Platon und Aristoteles an dieser Stelle nicht thematisiert werden, unterbleibt auch eine Auseinandersetzung mit dem Neupla­ tonismus. Denn diese würde den Rahmen einer Darstellung weit überschreiten, in ­deren Mittelpunkt Philosophen stehen, die vor allem dadurch bemerkenswert sind, dass sie zwar entweder nichts schrieben oder nur Fragmente ihres Denkens hinterlie­ ßen, aber eine bis heute unbeschreiblich große Wirkung haben.

M ar kt

der

Möglichkeiten

Auf einem Markt der philosophischen Möglichkeiten werden verschiedene Persön­ lichkeiten mir ihren besonderen Überzeugungen und Lebensformen zum Verkauf an­ geboten. Der Satiriker Lukian aus Samosata am Euphrat (etwa 120–180 n. Chr.) hat diesen Markt erfunden: In loser chronologischer Reihenfolge warten Pythagoras, ­Diogenes, Aristipp, Demokrit, Heraklit, Sokrates und Chrysipp auf einen Käufer. ­Außerdem sind noch ein Epikureer, ein Peripatetiker und ein Skeptiker im Angebot. Zuerst wird Pythagoras den kauflustigen Marktbesuchern vorgeführt. Aufgefordert von Zeus und Hermes, den olympischen Organisatoren des Marktes, beschreibt er seine besonderen Fähigkeiten und Überzeugungen, um einen Interessenten für sich und seine Lehren zu gewinnen. Die Philosophen werden übrigens – wie in einem Bewerbungsgespräch – aufgefor­ dert, mehrere Fragen zu beantworten. Fragen zur Feststellung der Qualifikation eines Philosophen auf dem Markt: 1. Was weißt oder kannst du am besten? 2. Woher kommst du? 3. Wo bist du ausgebildet worden? 4. Was hast du gelernt? 5. Was verstehst du besonders gut? 6. Was ist der Kern deiner Weisheit? 7. Was sind deine Eigenschaften? 8. Was hältst du für besonders wichtig? 9. Wie lebst du? 10. Wer ist dein Vorbild? 11. Was kannst du jemandem beibringen? 12. Wie bringst du jemanden auf den richtigen Weg? 13. Wozu kann man dich gebrauchen? 14. Wofür bist du nützlich? Die erzielten Verkaufserlöse sind unterschiedlich hoch. Den höchsten Preis zahlt man für einen vornehmen Peripatetiker, den niedrigsten für einen äußerlich völlig ­verwahrlosten Kyniker. Das äußere Erscheinungsbild ist offensichtlich ein wichtiger 18

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Anhaltspunkt für die Höhe des Preises. Demokrit und Heraklit finden übrigens über­ haupt keinen Käufer, weil sie mit ihrem ständigen Lachen und Weinen jedem auf die Nerven fallen. Das Bild, das der Satiriker Lukian von den Philosophen zeichnet, ist selbstverständ­ lich nicht mit den Maßstäben einer seriösen Geschichtsschreibung zu messen. So trägt das Porträt des Sokrates betont platonische Züge, indem er den Athener als Verfechter der Ideenlehre auftreten lässt und mit seinen angeblich päderastischen Neigungen ­lächerlich macht. Nachdem der Epikureer und der Stoiker verkauft sind, wird zum Schluss noch der Skeptiker Pyrrhon erfolgreich angeboten, der vor allem mit seiner Forderung nach ­einer generellen Zurückhaltung des Urteils (Epoché) karikiert wird. Insgesamt bietet Lukians Dialog einen zwar extrem knappen, aber in vielen Punk­ ten zutreffenden Abriss philosophischer Lehrmeinungen und kann daher als ein Weg­ weiser in die griechische Philosophiegeschichte benutzt werden. Denn Lukian wollte seine zeitgenössischen Leser nicht nur unterhalten, sondern auch über Möglichkeiten philosophischer Reflexion und über entsprechende Lebensformen mit ihren Stärken und Schwächen informieren. Er lässt deutlich erkennen, dass alle Philosophen, die er auf den Markt bringt, in einem wesentlichen Punkt ganz einig sind: Sie leben ihre Lehre. Theorie und Praxis sind deckungsgleich. Obwohl Lukian nicht auf bestimmte Personen zu zielen behauptet, haben schon viele zeitgenössische Leser seine Anspielungen so verstanden; denn fast alle Philoso­ phen werden namentlich genannt. Folglich erklärt Lukian in einer Schrift mit dem Titel Der Fischer und die Wiederauferstehenden, er habe nicht die prominenten Reprä­ sentanten der einzelnen Philosophenschulen, sondern nur die vielen Möchtegern-­ Philosophen in deren Dunstkreis angreifen wollen. Diese Ausrede ist allerdings zu ­fadenscheinig; denn Lukian charakterisiert seine Gestalten mit zahlreichen und gut bezeugten biografischen Einzelheiten, die auf bestimmte Personen zutreffen. Lukian kann an einem einzigen Tag nur eine kleine Auswahl interessanter Perso­ nen auf dem Markt versteigern lassen. Darum ist es zweckmäßig, den Satiriker zu überbieten und einen zweiten Markttag zu erfinden, der Gelegenheit schafft, weitere bedeutende Philosophen vorzustellen, von denen Lukian selbst einige in seinen Wer­ ken erwähnt und treffend skizziert hat: Anaxagoras etwa, den Gegner des Zeus und Schützling des Perikles, Empedokles, das nicht angenommene und nur halbverbrannte Opfer des Vulkans Ätna, Thales, einen der Sieben Weisen, der in der Unterwelt mit dem Gesetzgeber Solon diskutiert, oder Xenophanes, das berühmte Beispiel für Lang­ lebige (Makrobioi). Die fiktive Fortsetzung des Markttreibens am folgenden Tag ist also durchaus legi­ tim. Denn am Ende des ersten Tages locken die Götter Zeus und Hermes die Markt­ besucher tatsächlich mit der Aussicht auf eine Fortsetzung der Versteigerung. Es sind dann zwar nur ganz gewöhnliche Leute, Arbeiter und Händler im Angebot. Aber war­ um sollte der Satiriker nicht außer Thales, der mit seinem klugen Geschäftssinn, seiner Risikobereitschaft und seiner wirtschaftlichen Weitsicht jeden Kaufmann übertrifft, noch einige erfolgsorientierte, geschäftstüchtige, machtbewusste und daher gewinn­ 19

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bringende Sophisten und andere prominente Intellektuelle auf den Markt werfen ­dürfen? Der zweite Tag hat also noch einige Highlights zu bieten. Die Vorstellung der Philosophen wird durch zahlreiche Exkurse erweitert, die zusätz­ liche Informationen bieten, erhellende Ausblicke eröffnen, zur weiteren Klärung und Vertiefung beitragen und Verbindungslinien zwischen den einzelnen Persönlichkeiten sichtbar machen. Die Exkurse erschließen Hintergründe und historische Rahmen­ bedingungen; sie enthalten Kommentare und Analysen. Sie dienen dem Verständnis philosophischer Grundbegriffe und machen auf aktuelle Bezüge aufmerksam.

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Erster Teil: Philosophen auf dem Markt

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Alles ist Zahl: Pythagoras Lukians satirischer Dialog auf dem Markt der philosophischen Möglichkeiten beginnt mit einem kurzen Vorgespräch zwischen den Göttern Zeus und Hermes: (1)

Zeus: Bereite das Podium vor und mach den Platz für die Besucher frei! Die Philosophen sollen sich der Reihe nach aufstellen, aber sich vorher noch anständig anziehen, damit sie gut aussehen und möglichst viele Käufer anlocken. Du, Hermes, betätige dich als Ausrufer und lass die Leute herkommen! Hermes: Mit dem Segen des Himmels sollen die Käufer jetzt auf den Platz strö­ men! Wir werden Philosophen jeder weltanschaulichen Richtung zum Verkauf ausrufen. Wenn aber jemand kein Geld dabei hat, um bar zu zahlen, dann soll er eine Sicherheit hinterlegen und die Rechnung nächs­ tes Jahr begleichen. Z.: Es sind schon ganz viele Leute da. Darum dürfen wir keine Zeit verlieren und die Käufer nicht weiter hinhalten. Wir wollen also mit dem Verkauf beginnen. (2) H.: Wen soll ich zuerst vorführen? Z.: Den Kerl da mit den langen Haaren, den Ionier. Er sieht nämlich ganz gut aus. Du da, du Jünger des Pythagoras, tritt vor und lass dich von den versam­ H.: melten Leuten ansehen! Z.: Biete ihn an! Ich verkaufe euch hier den besten und würdigsten aller philosophischen H.: Entwürfe. Wer will kaufen? Wer will mehr sein als ein Mensch? Wer will die Harmonie des Alls begreifen und wiedergeboren werden? Käufer: Der Mann macht zwar einen ordentlichen Eindruck. Aber was kann er besonders gut? H.: Arithmetik, Astronomie, Scharlatanerie, Geometrie, Musik, Quacksal­ berei. Einen erstklassigen Weissager hast du hier vor Augen. K.: Darf ich ihn etwas fragen? H.: Frag ihn ruhig! (3) K.: Woher kommst du? Pythagoreer: Von der Insel Samos. K.: Wo hast du studiert? Py.: In Ägypten bei den dortigen Weisen. Nun gut. Was wirst du mir beibringen, wenn ich dich kaufe? K.: Ich werde dir nichts beibringen, sondern dich nur erinnern. Py.: K.: Wie wirst du das anstellen? Py.: Zuerst werde ich deine Seele reinigen und sie von ihrem Schmutz befreien. 22

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K.: Py.: K.: Py.: K.: (4) Py.: K.: Py.: K.: Py.: K.: Py.: K.: Py.: K.: (5) Py.: K.: Py.: K.: (6) Py.: K.: Py.:

Stell dir einmal vor, dass ich schon sauber bin, wie wirst du dann vorge­ hen, um meine Erinnerung in Gang zu bringen? Zuerst herrscht Stille, und fünf Jahre lang ist Schweigen angesagt. Mein Bester, du hättest den stummen Sohn des Kroisos unterrichten ­sollen! Denn ich rede gern und will keine Bildsäule sein. Aber – was kommt nach dem Schweigen und nach den fünf Jahren Sprachlosigkeit? Du wirst in Musik und Geometrie unterwiesen. Das ist ja toll, wenn ich zuerst lernen muss zu fiedeln, um P ­ hilosoph zu werden! Du musst außerdem zählen lernen. Aber ich kann doch auch jetzt schon zählen. Wie zählst du denn? Eins, zwei, drei, vier … Pass auf! Was du für die Vier hältst, ist in Wahrheit die Zehn und ein vollkommenes (gleichseitiges) Dreieck und zugleich unser Amtseid. Bei eurem höchsten Eid, bei der Vier also, schwöre ich, noch nie göttli­ chere und heiligere Worte gehört zu haben! Dann, mein Freund, wirst du erfahren, wie Erde, Luft, Wasser und Feuer ineinanderfließen, welche Gestalt sie haben und wie sie sich bewegen. Haben denn überhaupt Feuer, Luft oder Wasser eine Gestalt? Ja gewiss, eine ganz deutliche Gestalt. Denn nichts bewegt sich ohne Ge­ stalt und Form. Und außerdem wirst du erfahren, dass Gott Zahl, Geist und Harmonie ist. Das ist ja großartig. Abgesehen von den erwähnten Erkenntnissen wirst du erfahren, dass du, der du glaubst, eine bestimmte einzelne Person zu sein, in Wirklichkeit ein anderer bist. Wie soll denn das gehen? Ich bin ein anderer und nicht derje­nige, der jetzt mit dir spricht? Jetzt bist du, der du bist. Du musst dir aber vorstellen, dass du früher in einem anderen Körper stecktest und einen anderen Namen trugst. Bald wirst du wieder in einen anderen Körper wandern. Meinst du damit, dass ich unsterblich sein werde, wenn ich mehrere ver­ schiedene Gestalten annehme? Doch das reicht jetzt. Wie steht es mit deiner Lebensweise? Ich esse überhaupt nichts, was eine Seele hat, sonst aber alles andere – ­außer Bohnen. Warum denn das? Oder magst du einfach keine Bohnen? Darum geht es nicht. Sie sind vielmehr heilig und ein Wunder der Natur. Denn erstens entsprechen sie ganz und gar der Anatomie des Menschen: Wenn man eine Bohne aufschneidet, solange sie noch grün ist, wird man sehen, dass ihre Struktur dem Inneren eines Menschen entspricht. Wenn man sie aber kocht und einige Nächte lang dem Mondlicht aussetzt, kann 23

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man Blut aus ihr gewinnen. Aber noch wichtiger ist es, dass die Athener ihre öffentlichen Ämter mit Hilfe von Bohnen auslosen. Du hast das alles sehr schön und würdevoll erklärt. Doch jetzt zieh dich aus, denn ich will dich nackt sehen. (Etwas später) Um Gottes willen, sei­ ne Hüfte ist ja aus Gold! Er scheint mir ein Gott und kein Mensch zu sein! Darum werde ich ihn auf jeden Fall kaufen. (Zu Hermes) Was verlangst du für ihn? Zehn Minen. Dafür nehme ich ihn. (Zu Hermes) Schreib den Namen des Käufers auf und woher er kommt. Er stammt anscheinend aus Italien, mein Zeus, aus der Umgebung von Kroton, Tarent oder irgendeiner anderen griechischen Kolonie dort. Aller­ dings ist er nicht der einzige Käufer. Es haben ungefähr dreihundert Leute gleichzeitig für ihn geboten. Gut. Sie sollen ihn mitnehmen. Den Nächsten bitte!

K.:

H.: K.: Z.: H.:

Z.:

Das war das erste Angebot der Verkaufsaktion. Jetzt sind einige seriöse Informationen nachzuliefern, die den fiktiven Verkauf zweifellos rechtfertigen. Danach werden die Vorgänge auf dem Markt wieder in den Vordergrund treten.

Wer

war

P y thagor as?

Pythagoras, der um 530 v. Chr. vierzig Jahre alt war, stammt von der Insel Samos und wandert später nach Kroton in Süditalien aus. Mit seinem Namen verbindet sich der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele und an die Seelenwanderung ebenso wie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Geometrie, Astronomie, Musiktheorie und Zahlenlehre. Schon Aristoteles sieht sich nicht in der Lage, die Gedankenwelt des Pythagoras und die seiner Schüler mit Sicherheit voneinander zu trennen. Daher ist in der Antike weniger von Pythagoras selbst als von den Pythagoreern die Rede, die in den Zahlen die herrschenden Prinzipien der Welt sehen. Ihr Aufbau lässt sich an den quantitativen Verhältnissen ihrer Bestandteile ablesen. So hängt z. B. auch der Ton eines Musikinstruments von der messbaren Länge seiner Saiten ab.

v  P y thagor as : Die Welt

ist ein

K osmos

In Platons Gorgias (507e) erinnert Sokrates den Sophisten Kallikles an die Überzeu­ gung der alten Pythagoreer, dass Gemeinschaft, Freundschaft, Ordnung, Besonnen­ heit und Gerechtigkeit Himmel und Erde, Götter und Menschen zusammenhalten. Deshalb heißt auch das Ganze „Kosmos“.

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Weil die weisen Pythagoreer, lieber Kallikles, der Ansicht sind, dass Himmel und Erde, Götter und Menschen von Freundschaft, Anständigkeit, Besonnenheit und Gerechtig­ keit zusammengehalten werden, bezeichnen sie die ganze Welt, mein Freund, auch als Kosmos und nicht als Durcheinander oder Regellosigkeit. Du jedoch – so Sokrates zu Kallikles – hast das ganz vergessen, und es ist dir entgangen, dass Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit, d. h. die geometrische (und nicht die arithmetische) Gerechtig­ keit, auch unter Göttern und Menschen gelten. Du meinst vielmehr, mit allen Mitteln Überlegenheit erreichen zu müssen, indem du die Verhältnismäßigkeit (Proportiona­ lität) vernachlässigst. Aristoteles befasst sich übrigens später in seiner Nikomachischen Ethik (5, 7) mit dieser proportionalen (geometrischen) Gerechtigkeit, bei der es nicht um Gleichheit, sondern um Angemessenheit geht. v In seiner Jugend soll Pythagoras noch die Philosophen Thales und Anaximander ge­ hört haben. Wegen der Tyrannenherrschaft des Polykrates muss er die Insel Samos im Alter von vierzig Jahren verlassen. Er gründet in Kroton, einer Stadt in Unteritalien, eine philosophische Gemeinschaft, die einerseits das Verständnis der menschlichen Natur zu einer ihrer Hauptauf­gaben erhebt und andererseits eine besondere ethischreligiöse Form der Lebensführung entwickelt, für die Pythagoras – wie Platon (Politeia 10, 600a-b) sagt – besonders verehrt wurde. In der pythagoreischen Gemeinschaft ­sollen die von Pythagoras aufgestellten Lebensregeln auch in die ­Praxis umgesetzt ­werden. Dazu gehören aber auch die Mitwirkung am politischen Geschehen und die Verfolgung entsprechender Interessen. Die Grundlagen dieser Lebensauffassung werden nicht erst von Pythagoras ent­ wickelt. Bemerkenswert bleiben aber die Macht seiner Persönlichkeit, sein Charisma, seine Überzeugungskraft und sein Durchsetzungsvermögen. Sein Vorbild muss so wirksam gewesen sein, dass er schon zu Lebzeiten von seinen Anhängern wie ein Gott verehrt wurde. Empedokles (VS 31 B 129), selbst ein Anhänger des Pythagoras, sagt über ihn: Es gab unter den Pythagoreern einen unendlich klugen und gebildeten Mann, der nun einmal den größten Reichtum an vernünftigen Gedanken besaß und vielerlei kluge Fähigkeiten ganz besonders gut beherrschte. Denn wenn er sich mit all seinen geisti­ gen Kräften reckte, dann war ihm ganz leicht jede Einzelheit aus seinen zehn oder zwanzig Menschenleben gegenwärtig. Eine Gegenposition vertritt Heraklit (VS 22 B 40), indem er Pythagoras Vielwisserei (Polymathie) vorwirft. An anderer Stelle (B 81) bezeichnet er ihn sogar als den Urvater aller Schwindler. Dieses Urteil stützt sich nicht nur auf Berichte über vermeintliche Wundertaten des Pythagoras, sondern ist vielleicht auch auf Konkurrenzneid gegen­ über einem ernst zu nehmenden philosophischen Gegner zurückzuführen.

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Man erzählt, er habe auch Reisen in die Unterwelt unternommen. Einmal habe er nach langer Abwesenheit in der Volksversammlung glaubhaft berichtet, er sei gerade – fast bis zum Skelett abgemagert – aus dem Hades zurückgekehrt (D. L. 8, 41). Aus Ovids Metamorphosen (15, 160 ff.) und ­v ielen anderen Berichten ist zu entnehmen, dass Pythagoras sich daran erinnerte, im troïschen Krieg Euphorbos, der Sohn des Pan­ thoos, gewesen und von der Lanze des Menelaos durchbohrt worden zu sein.

v Der Philosoph –

ein besonderer

Typ

Die Rückführung des Begriffs Philosoph auf Pythagoras mit der Kernaussage, er ­verstehe keine bestimmte Kunst (oder Fachwissenschaft), sondern sei ein Philosoph (Cicero, Tuskulanische Gespräche 5, 8), mag der Legende angehören, ist aber nicht erst seit Cicero bekannt, sondern begegnet schon bei Platon (Theaitetos 172d–177c). Werner Jaeger (Paideia III ³1959, 356 ff.) hat daraufhin das platonische Bild des Philo­ sophen treffend charakterisiert: „Das abgeschlossene und weltferne Dasein der Philo­ sophen in der Akademie … brachte jenen absonderlichen Menschentypus hervor, den Plato in dem Exkurs des Theaitetos mit liebevoller Ironie schildert. Es sind Leute, die weder den Marktplatz noch das Gerichtshaus und die Volksversammlung kennen und über die Stammbäume der vornehmen Geschlechter ebenso mangelhaft unterrichtet sind wie über die Neuigkeiten des städtischen Klatsches. Sie sind so vertieft in mathe­ matische und astronomische Probleme, und ihr Blick ist so ganz auf höhere Regionen gerichtet, dass sie sich in dieser Welt schwer zurechtfinden und selbst über Dinge stol­ pern, die für Menschen mit offenen Augen und gesundem Verstand kein Hindernis sind…“ Platons Bild des Philosophen und der philosophischen Tugend, die im Gegen­ satz zur bürgerlichen Tugend der Mehrheit steht, ist aber keine voraussetzungslose Er­ findung. Die Entstehung des Typus Philosoph ist auf das Bewusstsein eines tiefen ge­ sellschaftlichen Konflikts zurückzuführen. Die Absonderung des Philosophen von der Gesamtheit, die damit auch keine Gesamtheit mehr ist, entspringt dem Willen, dem Leben einen anderen, höheren Sinn zu geben und andere Werte als die Mehrheit anzu­ erkennen. „Der Philosoph macht aus der Not der Minorität eine Tugend. Die realpoli­ tische Gemeinschaft sinkt für ihn zur bloßen Masse herab“ (Jaeger, Paideia III 355). Die Folge ist, dass die Abgesonderten sich zurückziehen und Schulen bilden. v

Was

lehrte

P y thagor as?

Den Kern der pythagoreischen Philosophie bildet die Seelenlehre: Die Seele ist unsterb­ lich. Sie ist einst aus dem Himmel auf die Erde herabgestürzt und wurde zur Strafe für irgendein Vergehen in das Gefängnis des Körpers eingesperrt. Wird sie durch den Tod des Lebewesens wieder vom Körper getrennt, kommt sie nach einer Zeit der Läuterung im Hades auf die Oberwelt zurück. Sie findet einen neuen Körper. Dieser Vorgang ­wiederholt sich viele Male. So wandert sie durch Menschen- und Tierleiber. Darauf 26

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spielt auch Xenophanes (VS 21 B 7) an, um sich über die pythagoreische Seelenwande­ rungslehre lustig zu machen: Man erzählt, Pythagoras sei einmal zufällig vorbeigekommen, als ein Hund geschla­ gen wurde. Da habe er Mitleid gehabt und gesagt: „Hör auf und schlag den Hund nicht. Denn es ist doch die Seele eines Freundes, die ich erkannt habe, als ich ihn winseln hörte.“ Von Empedokles, der zu den bedeutendsten Pythagoreern zählt, ist folgendes Frag­ ment erhalten, das den Zusammenhang zwischen Seelenwanderungslehre und Vege­ tarismus veranschaulicht (VS 31 B 136–137): Die Pythagoreer sagen jedenfalls, wie auch Empedokles und die übrige Gruppe der Italiker, wir Menschen seien nicht nur mit den anderen Menschen und den Göttern verwandt, sondern auch mit den vernunftlosen Tieren. Denn es gebe einen einzigen Lebensatem, der wie eine Seele den ganzen Kosmos erfüllt und uns auch mit den Tie­ ren verbindet. Deshalb werden wir, wenn wir sie töten und ihr Fleisch essen, Unrecht tun und uns an ihnen versündigen, als ob wir unsere Verwandten umbrächten. Daher ermahnten uns auch diese Philosophen, wir sollten uns der beseelten Wesen enthal­ ten, und erklärten, die Menschen frevelten, „wenn sie den Altar der seligen Götter mit warmem Blut rot färbten“. Und Empedokles sagt irgendwo: „Wollt ihr nicht mit dem bösartigen Morden aufhören? Seht ihr nicht, dass ihr euch in eurem Unverstand ge­ genseitig zerfleischt?“ Und dann fügt er noch hinzu: „Ein Vater hebt seinen eigenen Sohn hoch, der nur eine andere Gestalt bekommen hat, schlachtet ihn und spricht auch noch ein Gebet dazu, der Wahnsinnige! Die anderen aber [wissen nicht, was sie tun], wenn sie den um sein Leben Flehenden opfern. Er aber hört es nicht, schlachtet ihn unter lautem Geschrei und bereitet im Haus das furchtbare Mahl. Genauso packt der Sohn seinen Vater, und die Kinder nehmen ihrer Mutter das Leben und essen das eigene Fleisch. Über die Seelenwanderungslehre, die Pythagoras als Erster nach Griechenland ge­ bracht habe, berichtet auch der Geschichtsschreiber Herodot (2, 123): Die Ägypter haben als Erste davon geredet, dass die Seele des Menschen unsterblich sei. Sobald der Körper gestorben sei, gehe sie immer in ein anderes Lebewesen ein. Nachdem sie aber durch alle Lebewesen, die das Land, das Wasser und die Luft bewoh­ nen, hindurchgegangen sei, tauche sie wieder in den Körper eines Menschen ein, der gerade geboren werde. Ihre Wanderung dauere dreitausend Jahre. Mit der Lehre von der Seelenwanderung, der Metempsychose, und von der Wieder­ geburt der menschlichen Seele auch in den Körpern von Tieren und dem daraus sich ergebenden Verbot des Fleischgenusses sind auch noch bestimmte Speiseverbote (zum Beispiel das Verbot des Bohnenessens) verbunden, die sich allerdings weniger religiös27

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magisch erklären lassen als vielmehr mit einer medizinisch-diätetischen Ernährungs­ lehre. Anscheinend sind bei Pythagoras und seinen Nachfolgern rational begründete und medizinisch bewährte Vorschriften für die körperliche und seelisch-geistige Hygi­ ene von großer Bedeutung.

v  Zwei Lebensfor men Ein Vergleich der im platonischen Theaitetos (172c–177c) dargestellten Lebensformen lässt deutliche Unterschiede zwischen einem Normalbürger und einem Philosophen erkennen: Normalbürger halten sich in der Öffentlichkeit auf, leben eigentlich wie Sklaven, sind immer in Eile und haben keine Zeit, sind fremdbestimmt, verstehen es, stets das Pas­ sende zu sagen, können ihren Herren schmeicheln und mit ihren Taten dienen, sind kleinlich und unaufrichtig in ihren Seelen, leben von Jugend an in Knechtschaft, weil sie unfähig sind, zu wachsen und einen geraden und freien Geist zu entwickeln. Sie sind gezwungen, krumme Dinge zu tun, geben sich der Lüge und dem Unrecht hin, verbiegen sich und lassen sich zerbrechen. Ihr Denken ist krank, und sie bilden sich ein, alles zu können und zu wissen usw. Philosophen dagegen gehen als freie Menschen in den Wissenschaften auf, haben ihre Ruhe und ihren Frieden, handeln in eigener Verantwortung, leben selbstbestimmt, re­ den frei und ungebunden, reden niemandem nach dem Mund, sondern wählen ihre Worte ohne äußere Beeinflussung, kennen aber nicht den Weg zum Markt, sehen und hören weder Gesetze noch Volksbeschlüsse, wissen nicht einmal, dass sie nicht wissen, woran die Masse ihr Vergnügen hat. Nur ihr Körper wohnt im Staat, nicht ihre Seele, die sich dafür mit Mathematik und Astronomie beschäftigt und das Wesen des Seien­ v den erforscht. Cicero berichtet in seinen Tuskulanischen Gesprächen (5, 9–10), dass Pythagoras die Begriffe Theorie und Philosophie erfunden habe. Der Neuplato­niker Iamblichos (um 300 n. Chr.) fügt in seiner Lebensbeschreibung des Pythagoras hinzu, dieser habe sich nicht nur als Erster Philosoph genannt, sondern auch verschiedene Typen von Men­ schen nach ihren Lebenszielen unterschieden: Die einen strebten nach Einkommen und Lebensgenuss, die anderen nach Macht und Ruhm, und die Dritten hielten das Anschauen (die Theorie) der schönsten Dinge für erstrebenswert. Pythagoras war anscheinend auch an der Lösung mathematischer Probleme betei­ ligt; er leistete Beiträge zur Theorie der Proportionalität und zur Theorie der geraden und ungeraden Zahlen. Pythagoras opferte eine Hekatombe, nachdem er herausgefunden hatte, dass in e­ inem rechtwinkligen Dreieck der Flächeninhalt des Quadrats über der Hypotenuse gleich der Summe der Quadrate über den beiden Katheten ist (D. L. 8, 12).

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Manche Pythagoras-Legenden überliefern, dass die Pythagoreer an den besonderen Wert der Musik für die Förderung der Gesundheit glaubten: Sie nahmen an, dass die Musik auch für die Gesundheit eine sehr große Bedeutung habe, wenn man sie nur in der richtigen Weise anwende (Iamblich, De vita Pythagorica 183). Zur Zeit des Pythagoras stellte man sich vor, die Welt bestehe aus Urgegensätzen. So über­ liefert Aristoteles (Metaphysik A 986a22) für die Pythagoreer zehn prinzipielle Gegensät­ ze: Grenze-Unbegrenztes, ungerade-gerade, Einzahl-Mehrzahl, rechts-links, männlichweiblich, ruhend-bewegt, gerade-krumm, Licht-Dunkel, gut-schlecht, Quadrat-Rechteck. Diese Gegensätze sind aber nicht in dem Sinne aufeinander bezogen, dass sie sich gegenseitig ausschließen. Es handelt sich vielmehr um Denk­figuren, die nach Heraklit eine Palíntonos Harmonía, ein ausgewogenes Spannungsverhältnis, eine Einheit durch und im Gegensatz, bilden. Denn nur in ihrer Spannung sind die Elemente eines Gegen­ satzpaares denkbar. Parmenides (B 9) bezieht sich ebenfalls auf das durch paarweise Anordnung figurierte Denken, indem er dem Urgegensatz Licht und Nacht alle anderen Paare zuordnet und diese aus dem Urgegensatz herleitet. Auch für Aristoteles gehört später das Feststellen und Erläutern von Gegensatzpaaren zu den Grundfiguren des Denkens. Dabei ist zu fragen, in welchem Verhältnis die Gegensätze zueinander stehen: Handelt es sich um ein kontradiktorisches (kalt-nicht kalt), konträres (kalt-heiß), polares (Mann-Frau), relatives (Vater-Sohn) oder privatives (sehend-blind) Verhältnis?

v  Grundfigur en

des

Denkens

Während die Pythagoreer zehn Gegensatzpaare identifizieren, aus denen die Welt be­ steht und die in dieser wirksam sind, berichtet Aristoteles (Metaphysik A 5 986a32 ff.), der Arzt Alkmaion von Kroton, der im letzten Drittel des 6. Jh.s lebte und nach D. L. (8, 83) ebenfalls Schüler des Pythagoras war, habe zwar auch erklärt, die meisten menschlichen Dinge bestünden aus Zweiheiten. Aber ihn interessierten anscheinend nur die Gegensätze, die ihm aufgrund seiner medizinischen Erfahrung wichtig er­ schienen. Denn die Gesundheit beruhe prinzipiell auf dem Gleichgewicht bzw. der Ausgewogenheit entgegengesetzter Kräfte und Qualitäten wie z. B. süß-bitter, warmkalt, feucht-trocken. Krankheit entstehe dadurch, dass eine dieser Qualitäten die Ober­ hand gewinne (VS 24 B 4). Nach Alkmaion sind die Gegensätze in den Stoffen wirksam (Aristoteles, Meta­physik A 5 986b2 ff.), aus denen alle Dinge bestehen. Es bleibt darüber hinaus bemerkenswert, dass der pythagoreische Arzt empirische For­ schung betreibt, indem er Sektionen an Tierkörpern vornimmt und das Gehirn als das Zentralorgan der Sinneswahrnehmung und damit als die substanzielle Grundlage des geistigen Lebens entdeckt (darauf macht Capelle I 46 ff. aufmerksam).  v

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Wie

lebten die py thagoreischen

Lehr meinungen

fort?

Die Pythagoreer – unter ihnen vor allem Philolaos, der erster Pythagoreer, der etwas Schriftliches hinterließ – befassten sich seit dem 5. Jh. v. Chr. vor allem mit Mathematik und Astronomie. Sie vertraten die Auffassung, dass die Planeten bei ihren Kreisläufen Klänge erzeugten, die in der sogenannten Sphärenharmonie aufeinander abgestimmt seien. Schon für Pythagoras gab es keine Bewegung ohne Ton und keinen Ton ohne Bewegung. Platon und Aristoteles haben das heutige Bild des Pythagoras entscheidend geprägt. Platon soll nach Unteritalien gereist sein, um sich dort alle pythagoreischen Lehren anzueignen (Cicero, Tuskulanische Gespräche 1, 39). In seiner Staatsschrift berichtet Cicero (De re publica 1, 16): Platon reiste nach dem Tod des Sokrates zuerst nach Ägypten, um zu lernen, und später nach Italien und Sizilien, um die Entdeckungen des Pythagoras kennenzulernen, und dort war er oft mit Archytas von Tarent, dem engagierten Politiker und gelehrten An­ hänger des Pythagoras, und mit dem Historiker Timaios von Lokroi zusammen und stieß auf die Schriften des Pythgoreers Philolaos. Weil zu dieser Zeit und in dieser Ge­ gend der Name des Pythagoras große Bedeutung hatte, beschäftigte er sich sowohl mit den Pythagoreern selbst als auch mit deren Studien. Daher verknüpfte er, weil er Sok­ rates wie keinen anderen liebte und auf ihn alles zurückführen wollte, (in seinen Dia­ logen) die Anmut des Sokrates und den Scharfsinn seiner Gesprächsführung mit der Dunkelheit des Pythagoras und dem üblichen Ernst der meisten Wissenschaften. Die berühmte pythagoreische These, dass die Zahl das Prinzip der seienden Dinge sei, überliefert Aristoteles (Metaphysik A und N). Stobaios (1, 21, 7b) berichtet, für den ­Pythagoreer Philolaos (um 400 v. Chr.) sei alles, was erkannt werde – und dazu gehörten auch Eigenschaften und Zustände –, durch Zahlen definiert. Denn es sei unmöglich, ohne Zahlen und Zahlenverhältnisse überhaupt etwas zu erkennen, zu verstehen und zu definieren. Wirklichkeit werde erst durch das Zähl- und Messbare beschreibbar: Und tatsächlich hat alles, was erkannt wird, Zahl. Denn es ist unmöglich, dass wir ohne diese irgendetwas denken oder erkennen können. Das heißt eben auch, dass nur diejenigen Dinge gedanklich erfasst werden, deren Struktur sich in Zahlen und Zahlenverhältnissen ausdrücken lässt. Diese Einsicht, die auch Aristoteles (Metaphysik A 985b23–986a12) ausführlich ­referiert, drückt sich nicht zuletzt in der Zahlensymbolik der Pytha­goreer aus: Die Elemente der Erkenntnis und des Seins sind in den ersten vier Zahlen der Zahlenreihe, der sogenannten Tetraktýs, enthalten: Die Eins bedeutet Anfang und Ursprung, aus der die gesamte Zahlenreihe hervorgeht. Die Zwei ist das Symbol der Verschiedenheit und der Nicht-Identität. Als Summe der Eins und der Zwei ist die Drei das Symbol der ­Synthese und der Ganzheit. Die Vier ist die Wurzel der Welt und das ursprüngliche 30

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Zeichen der Proportionalität (a:b = c:d). Die Bedeutung der Vier zeigt sich auch an den vier Jahreszeiten, den vier Elementen, den vier Säften des Körpers, und die Vier ist die erste Quadratzahl. Die Tetraktýs lässt sich grafisch mit Hilfe von zehn Zählsteinen als gleichseitiges Dreieck darstellen:





 

 

 





Die Zehn, der Hauptträger des Zahlensystems, ergibt sich aus der Addition der Zahlen 1, 2, 3 und 4. Die Sieben ergibt sich aus der Summe der Vier und der Drei. Sie entspricht nicht nur der heiligen Zahl des Orients, sondern ist auch der Kairos, der glückliche Augenblick. Diogenes Laërtios (8, 1–50) sind viele anekdotische und legendäre Nachrichten zu verdanken. Der Neuplatoniker Porphyrios (vor 300 n. Chr.) schreibt über das Leben des Pythagoras. Iamblichos (um 300 n. Chr.) berichtet über die Pythagoreïsche Lebens­ form (De vita Pythagorica). Es handelt sich hierbei nicht um eine Biografie, sondern um Werbung für die Vita Pythagorica. In dieser Schrift werden zahlreiche pythagoreische Lebens- und Verhaltensregeln (Symbola) wiedergegeben. Beispiele: Beim Anziehen der Schuhe beginne mit dem rechten Fuß, beim Waschen der Füße mit dem linken. Uriniere nicht in die Richtung der Sonne. Iss keine Bohnen. Betrachte dich nicht beim Schein einer Lampe im Spiegel. Iamblichos (82) überliefert in diesem Zusammenhang auch eine Reihe von Sprüchen, die auf die Fragen „Was ist?“ und „Was ist am meisten?“ antworten: Was ist das Weiseste? Die Zahl. Danach kommt das, was den Dingen ihre Namen gege­ ben hat. … Was ist das Schönste? Die Harmonie. Was ist das Mächtigste? Die Einsicht. Der römische Dichter Ovid (43 v. Chr.–17 n. Chr.) widmet Pythagoras in seinen Meta­ morphosen mehr als vierhundert Hexameter (15, 60–478). Er rühmt den Griechen als unermüdlichen Forscher, der alles, was die Natur dem menschlichen Blick entzieht, klar durchschaut. Er greift in den Metamorphosen den oben erwähnten pythagore­ ischen Kerngedanken auf und lässt Pythagoras das Verbot des Fleischgenusses in latei­ nischen Hexametern ausführlich begründen. Die Natur biete zahlreiche andere ­Nahrungsquellen. Es sei also gar nicht notwendig, dass ein beseeltes Wesen vom Mord an einem anderen beseelten Wesen lebe. In einer längst vergangenen goldenen Zeit sei man mit den Früchten der Erde zufrieden gewesen und habe seinen Mund nicht mit Blut besudelt. 31

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Aber abgesehen von der Barbarei des Fleischgenusses nennt Ovids Pythagoras auch den wichtigsten Grund, der das Töten und Verzehren von Tieren grundsätzlich verbie­ tet: Wenn der Körper vergeht, bleibt die Seele zwar vom Tod unberührt. Aber durch die Vernichtung des Körpers, wird sie gewaltsam aus ihrer Behausung vertrieben und muss sich eine neue Wohnung suchen. Alles verändert sich nur und nichts geht zugrunde. Unser Geist wandert von hier nach dort und geht in alle möglichen Körper ein, gelangt aus einem tierischen in einen menschlichen und aus einem menschlichen in einen ­tierischen Leib ein und wird nie­ mals vernichtet. … Unsere Seele bleibt immer dieselbe. Aber sie wandert in unter­ schiedliche Körper. Daraus folgt: Damit ihr nicht eure mitmenschliche Verantwortung (pietas) der Gier des Bauches opfert, hört auf damit, verwandte Seelen durch schänd­ lichen Mord aus ihren Behausungen zu vertreiben. Blut darf sich nicht von Blut ernäh­ ren (Ovid, Metam. 15, 165–175). Ovid geht aber über die Pythagoreer, die nur behauptet hatten, dass die ­Seele von ­einem Körper in einen anderen übergehen kann, weit hinaus. Er glaubt nicht an ein individu­ elles Fortleben in einem anderen Körper, sondern an eine überindividuelle Unvergäng­ lichkeit: Nichts geht zugrunde. Alles verändert sich nur. Im unendlichen Prozess der Verwandlung bleibt der überindividuelle Wesenskern des verwandelten Wesens in ­seiner neuen Gestalt erhalten. Das ist das zentrale Thema der Metamorphosen. Der Verwandelte behält in seiner neuen Gestalt zwar seinen Charakter in verstärkter Aus­ prägung, nicht aber seine individuelle Seele. Er erkennt sich in seiner neuen Gestalt nicht mehr als Subjekt. Im 2. Jh. n. Chr. entsteht das Carmen aureum, das Goldene Lied, ein ­pythagoreisches Lehrgedicht in 71 Hexametern mit Mahnungen zur Frömmigkeit, Mäßigung und Selbstprüfung. Im 5. Jh. wird der Text von Hierokles aus Alexandria kommentiert. Im Mittelalter und in der Renaissance finden das Gedicht und sein Kommentar großen Anklang.

Was

bleibt?

Pythagoras und die Pythagoreer sind davon überzeugt, dass den Erscheinungen der Dinge Zahlenverhältnisse zugrunde liegen. Nicht der Stoff, aus dem die Dinge sind, sondern ihre Form, die durch Zahlenverhältnisse zum Ausdruck kommt, ist das ­Wesentliche. Nur dadurch, dass die Zahlen unserem Denken zur Verfügung stehen, ist richtige Erkenntnis möglich. Weil das Zahlensystem in unserem Denken dasselbe ist wie in den Dingen, können wir die Zahlenverhältnisse in den Dingen erkennen. Dass Denken, ­Urteilen, Entscheiden und Handeln auf Zahlen (etwa in Form von Mess­ ergebnissen und Schätzungen) angewiesen und mithilfe von Zahlen mitteilbar und überprüfbar sind, haben Pythagoras und die Pythagoreer als Erste bewusst gemacht.

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Provokation durch Verzicht: Die Kyniker (7) H.: Z.: H.:

Soll ich den verwahrlosten Kerl da vom Schwarzen Meer vorführen lassen? Ja, nur zu! Du da, ja – du mit dem Ranzen auf dem Buckel, du erbärmlicher Kerl, komm her und beweg dich ein bisschen im Kreis auf dem Platz! Ich biete hier einen männlichen, einen ausgesprochen tüchtigen, einen ­edlen, einen freien Philosophen an! Wer will ihn haben? K.: Ausrufer, was meinst du damit? Du verkaufst einen freien Menschen? H.: So ist es. K.: Hast du keine Angst, dass er dich auf Menschenraub verklagt oder sogar vor das höchste Gericht zerrt? H.: Ihm ist der Verkauf völlig egal. Denn er glaubt, er sei überall und in jeder Situation ein freier Mensch. K.: Wozu kann man ihn denn gebrauchen, so verdreckt und heruntergekom­ men er ist? Es sei denn – man setzt ihn als Erdarbeiter oder Wasserträger ein. H.: Nicht nur das, sondern auch als Türsteher, und du wirst sehen, er wird zu­ verlässiger sein als deine Hunde. Er hört übrigens auch auf den Namen Hund. K.: Wo kommt er denn her und was hat er gelernt? H.: Frag ihn doch selbst. Es ist nämlich besser, so vorzugehen. K.: Ich habe Angst vor seinen finsteren, angriffslustigen Blicken. Dass er mich nur nicht anbellt, wenn ich ihm zu nahe komme, oder – um Gottes willen – sogar beißt! Siehst du nicht, wie er den Knüppel in seiner Hand wiegt, seine finsteren Brauen zusammenzieht und wie er drohend und wütend um sich schaut? H.: Fürchte dich nicht! Denn eigentlich ist er ganz zahm. (8) K.: Zunächst einmal – woher kommst du eigentlich, mein Bester? Diogenes: Von überall her. K.: Wie meinst du das? Dio.: Du hast einen Weltbürger vor Augen. K.: Wer ist dein Vorbild? Dio.: Herakles. K.: Warum trägst du dann kein Löwenfell um die Schultern? Was den Knüppel angeht, gleichst du jedenfalls Herakles. Dio.: Mein Mäntelchen hier, das ist mein Löwenfell. Ich kämpfe wie Herakles gegen die Lüste, aber nicht im Auftrag eines Herrn, sondern aus freien ­Stücken, weil ich das Leben von seinem Schmutz befreien will. 33

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K.: Dio.: (9) K.: Dio.:

K.: Dio.: K.: Dio.: (10)

Ein wirklich guter Vorsatz! Doch was kannst du am besten? Oder welche Kunst beherrschst du? Ich bin der Befreier der Menschheit und erlöse sie von ihren Leiden. Und überhaupt: Ich bekenne mich dazu, ein Prophet der Wahrheit und der frei­ en Rede zu sein. Sehr gut, lieber Prophet. Aber wenn ich dich kaufe, wie wirst du mich dann auf den richtigen Weg bringen? Zuerst musst du dich ändern und dich von deinem Luxus trennen. Wenn du dich mit Mangel und Armseligkeit abgefunden hast, werde ich dir das Mäntelchen umhängen. Danach werde ich dich dazu zwingen, Mühsal und Erschöpfung auf dich zu nehmen, auf dem nackten Boden zu schlafen, nur Wasser zu trinken und zu essen, was du gerade findest. Falls du noch Geld hast, musst du auf mich hören und es ins Meer werfen. An Ehe, Kinder und Heimat brauchst du gar nicht mehr zu denken. Das alles wird dir wertlos vorkommen müssen. Verlass dein Vaterhaus und such dir eine Unterkunft in einer Grabstätte, einem verlassenen Turm oder einem Fass. Dein Ranzen wird gefüllt sein mit Lupinenkernen und beidseitig beschriebenen Papy­ rusrollen. Wenn du so lebst, wirst du sagen, du bist glücklicher als der per­ sische Großkönig. Wenn dich aber jemand schlägt oder quält, wirst du merken, dass das nichts Schlimmes ist. Wie kannst du denn sagen, dass es nicht wehtut, wenn man verprügelt wird? Ich stecke doch nicht in einem Schildkrötenpanzer oder einer Lan­ gustenschale. Du wirst jenen Satz des Euripides (Hippolytos 612) befolgen – ­a llerdings mit einer kleinen Änderung. Welchen Satz? Dein Herz wird leiden, doch deine Zunge schweigen. Aber was du dir vor allem angewöhnen musst, ist Folgendes: Du musst schamlos und frech sein, alles und jeden beschimpfen, Könige und einfa­ che Leute gleichermaßen. Denn so werden sie zu dir aufschauen und dich für tapfer halten. Deine Sprache muss barbarisch klingen, deine Stimme misstönend sein und sich natürlich wie Hundegebell anhören. Dein Ge­ sicht muss verkrampft sein, deine Bewegungen müssen dazu passen, und überhaupt muss das Ganze tierisch und wild aussehen. Schamgefühl, Zu­ rückhaltung und Maß sind fehl am Platz. Du darfst kein bisschen rot ­werden. Such aber die Plätze auf, wo besonders viele Leute sind, und dort sollst du allein und für dich sein wollen, ohne einen Freund oder einen Fremden zu grüßen. Denn so etwas würde den Verlust deiner Herrschaft über dich selbst bedeuten. In aller Öffentlichkeit musst du tatkräftig alles tun, was man gewöhnlich nicht einmal für sich allein tun würde. Entschei­ de dich für die lächerlichste Form der Befriedigung deiner Lust. Und wenn du am Ende, falls du Appetit darauf hast, rohen T ­ eufelsfisch oder Tinten­ fisch ­gegessen hast, stirb daran! Dieses Glück vermitteln wir dir.

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(11) K.: Dio.:

K.: H.:

Fort mit dir! Denn das Leben, das du beschreibst, ist scheußlich und un­ menschlich. Aber es ist sehr leicht, Mensch, und ohne Schwierigkeiten zu verwirk­ lichen. Denn du wirst keine Bildung, keine Wissenschaft und kein leeres Geschwätz nötig haben, sondern der Weg zum Ruhm wird dir leichtfallen. Auch wenn du ein ungebildeter Kerl bist, ein Gerber, Fischhändler, Tisch­ ler oder Geldwechsler, wird dich nichts daran hindern, bewundert zu wer­ den, wenn du nur schamlos und frech genug bist und tüchtig zu schimpfen verstehst. Dazu brauche ich dich nicht. Aber vielleicht könntest du dich bei Gelegen­ heit als Matrose oder als Gärtner bewähren, allerdings geht das nur, wenn dich dieser Mann hier für höchstens zwei Pfennige verkauft. Er gehört dir! Nimm ihn bloß mit! Wir sind doch froh, wenn wir ihn end­ lich loswerden. Denn er ist uns lästig, schreit herum, beleidigt alle ohne Ausnahme und pöbelt jeden an.

Offensichtlich findet Diogenes einen risikobereiten Käufer, der dies nicht zu bereuen braucht. Dass der provozierende Auftritt auf dem Markt viele gute Eigenschaften dieses seltsamen Mannes verdeckt, wird der Käufer recht bald merken.

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Ein bezaubernder Hund: Diogenes Name: Diogenes von Sinope Lebensdaten: 410–323 v. Chr. Literarische Gattung: Dialog, Brief und Tragödie Werke: Er schrieb unter anderem – heute verlorene – Dialoge, Briefe und Tragödien (Lesedramen). D. L. (6, 80) erwähnt zwei unterschiedliche Listen mit Titeln der Werke, die der Kyniker verfasst haben soll.

v Sinope

am

Schwar zen M eer

Die im 7. Jh. v. Chr. von Milet aus gegründete Kolonie liegt an der Südküste des Schwarzen Meeres auf einer Halbinsel. Sie entwickelt sich zu einer mächtigen Han­ delsstadt. Von Sinope aus werden weitere Kolonien gegründet. Durch Kyros kommt die Stadt unter persische Herrschaft. Im 2. vorchristlichen Jh. ist sie Residenzstadt des Königs Mithridates VI. von Pontos. Der Feldherr und Feinschmecker Lucullus erobert sie im Jahre 70 v. Chr. für das römische Imperium und bringt von dort – die Kirsche mit nach Rom.  v

Wer

war das?

Schon in der Antike ist Diogenes der Held zahlreicher Anekdoten, die ihn als respekt­ los, frech, unverschämt, unanständig, unmoralisch, furchtlos, individualistisch, unab­ hängig, bedürfnislos, anspruchslos, selbstgenügsam, asketisch, aber auch stolz und selbstbewusst, geistesgegenwärtig, schlagfertig und gebildet darstellen. Sein Handeln ist unkonventionell und provozierend. Er soll auch eine außerordentliche Überzeu­ gungskraft und ein gewinnendes Wesen gehabt haben. Seine Reden waren von einem magischen Reiz; er war wie ein wirklicher Zaubervogel (D. L. 6, 76). Sein Vater war Finanzbeamter in Sinope und wurde aufgrund finanzieller Unregel­ mäßigkeiten in die Verbannung geschickt. Diogenes soll das delphische Orakel gefragt haben, was er nun tun solle. Er bekam zur Antwort, er solle die Münze (Nómisma) – was auch heißen kann: die Konvention – umwerten. Überliefert ist aber auch, dass Diogenes selbst Geld gefälscht habe. In Athen geriet er unter den Einfluss des Sokrates­ schülers Antisthenes, der ihn aber zuerst abwies. Doch Diogenes setzte schließlich durch, Antisthenes hören zu können. Denn er bewunderte ihn aufrichtig, während er andere prominente Zeitgenossen wie Platon und Aristipp verachtete. Die Anekdoten über Diogenes hatten sehr wahrscheinlich einen wahren Kern. Das gilt etwa für die Nachricht, er sei auf See von Piraten entführt worden, habe aber trotz schlechter Behandlung sein Schicksal mit großer Würde und menschlicher Größe 36

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e­ rtragen. In Kreta wurde er dann auf dem Sklavenmarkt zum Verkauf angeboten. (Es ist also im wirklichen Leben passiert, was der Satiriker Lukian mehrere hundert Jahre später in Szene gesetzt hat.) Als der Ausrufer ihn fragte, was er könne, soll er ohne zu zögern gesagt haben: „Menschen führen.“ Dann habe er auf einen vornehmen Mann namens Xeniades gezeigt und gesagt: „Verkauf mich an diesen da! Er braucht einen Herrn.“ Xeniades kaufte ihn tatsächlich und brachte ihn nach Korinth. Dort vertraute er ihm seine Kinder und seinen gesamten Haushalt an. Diogenes erfüllte seine Pflich­ ten so gewissenhaft, dass sein Herr überall erzählte, mit Diogenes sei ein guter Geist in sein Haus eingezogen (D. L. 6, 74). Es wird weiterhin berichtet, er sei ein hervor­ ragender Lehrer auf allen Fachgebieten gewesen. Er brachte den Kindern seines Herrn das Reiten, Schießen und die Anfangsgründe des Ringens bei. Außerdem mussten die Kinder vieles aus den Werken der Dichter und Geschichtsschreiber und aus seinen eigenen Schriften auswendig lernen. Er lehrte sie, möglichst einfach und bescheiden zu leben (D. L. 6, 30–31). Seine Anspruchslosigkeit war die natürliche Folge seiner Armut, die er als Flüchtling zu ertragen hatte. In diesen Zusammenhang gehört auch das Fass, in dem er wohnte. Als man ihn einmal fragte, wie er zu dem Beinamen Hund gekommen sei, er­ widerte er (D. L. 6, 60): Für diejenigen, die mir etwas geben, wedle ich mit dem Schwanz, diejenigen, die mir nichts geben, belle ich an, und die Bösen beiße ich. Diogenes nahm sich nicht nur den Hund, sondern auch andere Tiere zum Vorbild. Plutarch berichtet in seiner Schrift Wie man feststellt, dass man Fortschritte in der ­Tugend gemacht hat (77E-F), Diogenes habe einmal am Rande des Marktplatzes in seinen Mantel gerollt schlafen wollen und sich mit dem Gedanken gequält, warum er eigentlich ein so entbehrungsreiches Leben führe. Da soll eine Maus herangehuscht sein und mit den Krümeln seines Brotes gespielt haben. Daraufhin hellten sich – wie es heißt – seine Gedanken wieder auf, und er sagte zu sich selbst: Was willst du denn Diogenes? Deine Brotreste sind für die Maus hier ein Festessen. Du aber, du edler, gebildeter Mensch, jammerst herum und beklagst dich darüber, dass du nicht betrunken auf weichen, gemusterten Polstern liegst? Die berühmte Anekdote über die Begegnung zwischen Alexander dem G ­ roßen und Diogenes in der Nähe von Korinth mag erfunden sein, veranschaulicht aber eine viel­ fach bestätigte Eigenschaft des Philosophen: seine Unbestechlichkeit. Als sich die Griechen auf dem Isthmos versammelt und beschlossen hatten, mit ­A lexander gegen die Perser zu Felde zu ziehen, wurde der Makedone zum Führer ­gewählt. Da kamen viele Politiker und Philosophen zu Alexander, um ihn zu beglück­ wünschen; er erwartete, dass auch Diogenes aus Sinope, der in der Gegend von Korinth lebte, dasselbe tun werde. Weil er sich aber überhaupt nicht um Alexander kümmerte 37

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und in einem Garten seine Ruhe genoss, ging dieser selbst zu ihm hin. Diogenes lag zufällig in der Sonne; er richtete sich nur ein wenig auf, als so viele Menschen zu ihm kamen. Er sah zu Alexander hinüber, der ihn freundlich begrüßte und fragte, ob er vielleicht irgendeinen Wunsch habe. Diogenes aber antwortete nur: „Ja, einen kleinen; geh mir ein bisschen aus der Sonne.“ Die Überlegenheit und die Größe dieses Mannes sollen Alexander so tief beeindruckt haben, dass er, während die ­Leute um ihn herum lachten und spotteten, nur sagen konnte: „Ja, wäre ich nicht ­A lexander, dann wäre ich Diogenes“ (Plutarch, Alexander 14). Auch sein Tod war Anlass für unterschiedliche Legenden, die allesamt von großem Respekt vor diesem im wahrsten Sinne des Wortes ungewöhnlichen Menschen zeugen. Er soll an demselben Tag in Korinth gestorben sein wie Alexander der Große in Baby­ lon (D. L. 6, 79). Über die Todesursache werden unterschiedliche Versionen verbreitet: So soll er einen Polypen roh verschlungen und daraufhin an einer Gallenkolik gestor­ ben sein. Andere sagen, er habe sich einen Polypen mit einigen Hunden teilen wollen; im Streit darum hätten ihn die Hunde so tief ins Bein gebissen, dass er daran starb. Es wird auch erzählt, er habe Selbstmord begangen, indem er einfach die Luft anhielt oder sich selbst erstickte oder von einer Brücke stürzte. Erzählt wird auch, Diogenes habe einen rohen Ochsenfuß benagt und die Cholera bekommen; daran sei er mit etwa 90 Jahren gestorben. Ein ordentliches Begräbnis habe er immer abgelehnt. Er wollte vielmehr, dass man seinen Körper in einen Fluss werfe oder einfach irgendwo liegen lasse, sodass auch noch die Tiere etwas von ihm hätten. Diogenes sagte, es werde eine hyrkanische Bestattung geben, wenn ihn Hunde zer­ reißen würden, oder eine baktrianische, wenn dies den Geiern überlassen bleibe: Wenn sich aber niemand an ihm zu schaffen mache, dann werde die Zeit die schönste Bestat­ tung mit den einfachsten Mitteln ermöglichen, die es gibt: mit Hilfe von Regen und Wind (Stobaios 6, 55, 11). Während Diogenes hiermit den Überlebenden jeden Aufwand für seine Bestattung ersparen und zum Ausdruck bringen wollte, dass einem einfachen Leben auch ein ein­ facher Tod entsprechen solle, greift er in der folgenden Nachricht den überflüssigen Luxus der Reichen an: Diogenes sagte, die Reichen ließen sich schon lebendig verfaulen, indem sie sich in ­ihren Bädern aufweichen und in ihren Liebesorgien hinschmelzen würden. Wenn sie aber tot seien, dann reibe man ihre Leichen mit Duftmitteln oder Honig ein, damit sie nicht so schnell verfaulten (Stobaios 3, 6, 36).

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Was

schr ieb er ?

In den Nachrichten über seinen Aufenthalt als Sklave im Haus des Xeniades heißt es bei D. L. (6, 31), er habe die Kinder seines Herrn auch Texte aus seinen eigenen Schrif­ ten auswendig lernen lassen. Dazu passen die Schriftenverzeichnisse (6, 80), in denen aber auch Titel unechter Schriften aufgeführt sein dürften. Angeblich verfasste er ­sogar eine Schrift mit dem Titel Staat (Politeia), aus dem einige Themen bei seinem Namensvetter (6, 71 f.) erhalten sind: (1) Gütergemeinschaft. (2) Gesetzliche Ordnung als Grundlage des Staates. (3) Prinzip der Gleichheit. (4) Die irdische Staatsordnung entspricht der kosmischen Weltordnung. (5) Ablehnung der Ehe, dafür Frauen- und Kindergemeinschaft, wenn der Mann die Frau dazu überredet, mit ihm zusammen zu sein. – Auch in seinen Tragödien verbreitete er seine provozierende Weltanschauung. So rechtfertigte er in seinem Thyestes – schon Sophokles und Euripides schrieben (wie später Seneca) Tragödien über den mythischen Vater, der seine eigenen Kinder ver­ speiste – sogar den Verzehr von Menschenfleisch; das sei nicht gottlos, weil es auch bei anderen Völkern vorkomme und weil sowieso alles in allem enthalten sei. Anschei­ nend hat Diogenes in seinem Thyestes den drei großen Tragikern (auch ­Aischylos er­ wähnt in seinem Agamemnon 1590 ff. das grauenvolle Mahl) widersprochen und den Verzehr von Menschenfleisch gerechtfertigt, ohne jedoch Verständnis für das Verbre­ chen des Atreus gehabt zu haben, der die Kinder seines Bruders Thyestes geschlachtet und sie den ahnungslosen ­Vater hat essen lassen.

Wie

wur den die

Werke

über liefert?

Das Denken und Handeln des Diogenes wurde vor allem durch die anekdotische Be­ richterstattung in der antiken Philosophiegeschichtsschreibung überliefert, und in der späteren Literatur ist Diogenes bei jeder passenden Gelegenheit präsent. Beispiele ­liefern nicht nur Plutarch, Lukian und Diogenes Laërtios, sondern auch Cicero und Seneca. Erwähnenswert ist auch eine aus dem 2. oder 1. Jh. v. Chr. stammende anony­ me Sammlung von Briefen des Diogenes und seines Schülers Krates.

Wie

lebten die

Werke

fort?

Ein wichtiger Helfer beim Fortleben des kynischen Denk- und Lebensstils war der um 368 v. Chr. geborene Krates von Theben, einer der bedeutendsten Schüler des Diogenes. Dieser hatte sein Vermögen verschenkt, weil er meinte, mit der Besitzlosigkeit beginne die Freiheit. Er führte darum ein Leben in Bedürfnislosigkeit und – Schamlosigkeit. Hipparchia, ein Mädchen aus ­einem wohlhabenden Haus, folgte ihm. Das Paar heira­ tete, und Epiktet (3, 22, 76) sagte darüber, es sei eine echte Liebesheirat gewesen: Krates habe durch die Heirat einen zweiten Krates bekommen.

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v  Gleichber echtigung

k ynischer

Fr auen?

Die Gleichheit von Mann und Frau ist für die Kyniker unstrittig. Sie ist Teil ihres Welt­ bildes. In einem der legendären Briefe der Kyniker schreibt Krates an Hipparchia (Brief Nr. 28): „Frauen sind von Natur aus nicht schlechter als Männer.“ Dann schreibt er weiter (Brief Nr. 29): „Führe also ein kynisches Leben mit uns – du bist ja nicht schwä­ cher als wir, ebenso wenig wie Hündinnen nicht schwächer sind als ­Rüden“ (zit. nach Bernhard Lang 2010, 94).  v In einem Gespräch mit einem jungen Mann setzt sich der Stoiker Epiktet (3, 22) später gründlich mit dem Kynismus auseinander und gibt eine auf Diogenes passende Cha­ rakterisierung eines echten Kynikers: Aber wie ist es möglich, glücklich zu leben, wenn man nichts hat, nackt, ohne Haus und Herd im Elend sein Dasein fristet, ohne Diener und ohne Heimat auskommen muss? Siehe, da hat euch Gott einen Mann gesandt, der durch die Tat gezeigt hat, dass es möglich ist. „Seht mich an: Ich habe kein Haus, keine Heimat, keinen Besitz, kei­ nen Diener. Ich schlafe auf dem blanken Boden. Ich habe keine Frau, keine Kinder, keinen schäbigen Gouverneurspalast, sondern nur die Erde, den Himmel und einen armseligen Rock. Was fehlt mir denn? Lebe ich nicht ohne Leid und Angst? Bin ich nicht frei? Wann hat einer von euch gesehen, dass ich etwas ohne Erfolg ­begehrte oder dass ich dem verfallen bin, was ich ablehnte? Wann habe ich einem Gott oder einem Menschen jemals gezürnt? Wann habe ich jemandem Vorwürfe gemacht? Hat mich etwa einer von euch mit finsterer Miene gesehen? Wie trete ich denen gegen­ über, die ihr fürchtet und bewundert? Etwa anders als einfachen Sklaven? Wer meint nicht, wenn er mich sieht, seinen König und Herrn zu sehen?“ – Ja, das sind die Wor­ te eines echten Kynikers, ja, das ist sein wahres Wesen, ja, das ist sein Lebensplan (Epiktet 3, 22, 45–50). Die folgende Anekdote (D. L. 6, 37) veranschaulicht das Ideal des einfachen Lebens durch Konsumverzicht: Als Diogenes einmal ein Kind sah, das aus der hohlen Hand Wasser trank, riss er sei­ nen Becher aus dem Ranzen und warf ihn weg mit den Worten: „Ein Kind ist mein Meister geworden in der Genügsamkeit.“ Auch seine Schüssel warf er weg, als er eine ähnliche Beobachtung bei einem Knaben machte, der sein Geschirr zerbrochen hatte und nun seinen Linsenbrei in der Höhlung eines Brotstückes barg. Becher und Schüssel sind für Diogenes Symbole eines überflüssigen Luxus, auf den man verzichten kann. Indem er den konsequenten Ausstieg aus der Zivilisation des Überflüssigen fordert und vorlebt, protestiert er gegen die in seinen Augen widernatür­ liche Lebensweise seiner Mitmenschen, die sich zum Sklaven ihrer künstlichen Bedürf­ nisse gemacht und die Selbstbestimmung der Fremdbestimmung geopfert haben. 40

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Seneca verwendet in seinem 90. Brief an Lucilius (14–15) Diogenes als Chiffre für das einfache Leben: Wie – ich bitte dich – passt es zusammen, dass du sowohl Diogenes als auch Dädalus bewunderst? Beide scheinen dir weise zu sein? Derjenige, der sich den Riegel ausdachte, oder jener, der sofort seinen Becher aus dem Ranzen nahm und zerbrach, als er gesehen hatte, wie ein Junge aus der hohlen Hand Wasser trank, und sich selbst vorwarf: „Wie lange schon hatte ich Tor überflüssiges Gepäck bei mir?“, dann sich in einem Fass zu­ sammenrollte und dort schlief? Wen hältst du denn heute für weiser? Denjenigen, der entdeckte, wie man safranfarbenes Wasser aus verborgenen Röhren in eine gewaltige Höhe pressen kann, der Kanäle durch plötzlichen Wasserdruck füllt oder trocken wer­ den lässt und bewegliche Kassettendecken von Speisesälen so zusammenfügt, dass sie ihr Aussehen nach und nach wechseln und sich so oft verändern wie die Gänge des Gelages? Oder denjenigen, der anderen und sich selbst zeigt, wie die Natur uns nichts Hartes und Schwieriges auferlegt hat, sodass wir ohne Marmorkünstler und Bauhand­ werker wohnen können, dass wir uns anziehen können ohne Seidenhandel, dass wir besitzen können, was für unsere Bedürfnisse notwendig ist, wenn wir uns nur mit dem begnügen, was uns die Erde auf ihrer Oberfläche zur Verfügung gestellt hat? Wenn das Menschengeschlecht auf diesen Philosophen hört, dann wird es wissen, dass bei ihm der Koch genauso überflüssig ist wie der Soldat. Diese Einstellung wird später wieder bei Diogenes Laërtios (6, 104) zum Ausdruck ­gebracht: Den Kynikern gefällt es, einfach zu leben. Sie nehmen nur bescheidene Speisen zu sich und tragen nur schlichte Kleidung. Von Reichtum, Ruhm und guter Familie halten sie nichts. Zuweilen ernähren sie sich nur von Kräutern und trinken grundsätzlich nur kaltes Wasser. Sie benutzen den erstbesten Unterschlupf und auch Fässer wie Diogenes, der zu sagen pflegte, es sei göttlich, nichts zu benötigen, und gottähnlich, wenn es ­wenig ist. Im 2. Jh. n. Chr. zeichnet Lukian in seiner Schrift Das Leben des Demonax das Bild ­eines kynischen Philosophen, das seine Leser dazu anregen konnte, einen philosophi­ schen Lebensweg einzuschlagen. Demonax, so Lukian, stammte aus einer angesehenen Familie auf der Insel Zypern. Er fühlte sich aber zu Höherem berufen, und es zog ihn zur Philosophie: Doch Demonax wurde von niemandem dazu ermuntert. Er tat dies aus eigenem An­ trieb zum Guten und aufgrund seiner ihn von Jugend an beseelenden Liebe zur Philo­ sophie. Er verachtete alles, was die Menschen sonst für gut hielten, widmete sich ganz der Freiheit und Offenheit und führte ein aufrechtes, gesundes und einwandfreies ­Leben. Mit seinen Überzeugungen und seiner philosophischen Gradlinigkeit war er für alle, die ihn sahen und hörten, ein Vorbild. … Er war gebildet und mit der Literatur 41

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vertraut. Mit den philosophischen Lehren hatte er sich intensiv auseinandergesetzt. Er trieb auch intensiv Sport und härtete seinen Körper ab, um Ausdauer zu haben und unabhängig zu sein. … Er legte sich nicht auf eine bestimmte philosophische Richtung fest. Aber mit Sokrates schien er besonders vertraut zu sein, und Diogenes war in s­ einem äußeren Erscheinungsbild und mit seinem einfachen Lebensstil sein Vorbild. Aber an­ sonsten lebte er unauffällig (Lukian, Demonax 3–5). Demonax war nach Lukian ein rundherum angenehmer, bescheidener, hilfsbereiter und liebenswürdiger Mensch. „Das Wesen seiner Philosophie war freundlich, mensch­ lich und heiter“ (9). Allerdings hatte er sich durch seine Unabhängigkeit und Offenheit (eleuthería und parrhesía) ebenso viel Hass zugezogen wie Sokrates, ohne dass er je­ doch dasselbe Schicksal erleiden musste wie dieser. Er wurde fast hundert Jahre alt. Die Menschlichkeit und Leichtigkeit dieses Kynismus zeigt sich besonders deutlich in der Antwort des Demonax auf die Frage, welcher Philosoph ihm am meisten gefalle: Alle sind gewiss bewundernswert. Ich aber verehre Sokrates, bewundere Diogenes und liebe Aristipp (62). Moderne Schlagworte wie Konsumverzicht, Widerstand gegen den Konsumismus, As­ kese, Comeback des einfachen Lebens verweisen zweifellos auf den antiken Kynismus und scheinen einen aktuellen Neo-Kynismus zu begründen. Allerdings dürfen die tief­ greifenden Unterschiede zwischen antiken und modernen Lebensbedingungen nicht übersehen werden. Wenn Diogenes das Ideal des einfachen Lebens vertritt und vorlebt, dann geht es ihm nicht um die Beendigung eines umweltzerstörenden Konsumverhal­ tens. Im 4. vorchristlichen Jh. waren die Möglichkeiten zu einem exzessiven Konsum ungleich geringer als in unserer Zeit. Die antike Gesellschaft war keine Überflussge­ sellschaft von existenzbedrohendem Ausmaß auf dem Weg in die Katastrophe. Das einfache Leben wurde nicht aus ökologischen Gründen angestrebt. Vielmehr war die Erwartung, durch Konsumverzicht und einfaches Leben Freiheit und Selbstbestim­ mung zu gewinnen, die Grundlage der kynischen Askese. Diogenes ist zwar nicht un­ ter dem ökologischen, aber doch unter einem psychologischen Aspekt als Vorläufer oder sogar als Leitfigur eines modernen Anti-Konsumismus anzusehen. Wer auf überflüssigen Besitz verzichtet und sich mit dem unbedingt Lebensnotwen­ digen begnügt, entzieht sich nicht nur den Zwängen ökonomischer Verfügungsgewalt und Fremdbestimmung. Er leistet auch einen Beitrag zur Schonung natürlicher Lebens­ grundlagen. Wer sein Leben lang nur einen einzigen Mantel trägt und diesen zugleich als Bettdecke und Matratze benutzt (D. L. 6, 22), ist für die entsprechenden Industrien ein ökonomisches Nichts. Wer kein Haus baut, sondern in einem Fass lebt, ist für Kreditinsti­tute uninteressant. Wer sich im Sommer auf glühend heißem Sand umher­ wälzt und im Winter schneebedeckte Säulen umarmt, um sich abzuhärten (D. L. 6, 23), ist ein für die Arzneimittelindustrie uninteressanter Zeitgenosse. Wer selbst im Winter mit nackten Füßen herumläuft (D. L. 6, 34), dürfte, wenn dieses Verhalten Schule mach­ te, die Schuhindustrie ruinieren. 42

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Raffael hat schon in vorindustrieller Zeit die Anstößigkeit und Respektlosigkeit des kynischen Lebensstils in Szene gesetzt: In dem monumentalen Gemälde der Schule von Athen (1509) rekelt sich Diogenes demonstrativ auf den Treppenstufen vor ­Platon, Aristoteles und den anderen würdigen Herrschaften. Nicht zu vergessen sind auch Diogenes und die bösen Buben von ­Korinth. In dieser lustigen Bildergeschichte erzählt Wilhelm Busch die ­Geschichte eines friedlich in ­seinem Fass ruhenden Philosophen. Zwei Knaben, die ihn zu ärgern versuchen und sein Fass zum Rollen bringen, finden ein erbärmliches Ende: Diogenes der Weise aber kroch ins Fass und sprach: „Ja, ja, das kommt von das!“ Peter Sloterdijk ist in seiner Kritik der zynischen Vernunft (1983, 302) auch auf Diogenes und den antiken Kynismus eingegangen. Als Antitheoretiker, Antidogmatiker, Antischolastiker sendet er einen Impuls aus, der überall wiederkehrt, wo Denker sich um eine „Existenz für freie Menschen“, auch frei von Schulzwängen, bemühen. … Es ist eine Linie des Philosophierens, die den Esprit de serieux aufhebt. Die Anekdote von der Begegnung zwischen Alexander und Diogenes ist das Urbild der Emanzipation der Philosophie von der Politik, des Geistes von der Macht. Diogenes in der Tonne lebt bis heute in der politisch-gesellschaftlichen Karikatur weiter, um gegen die Leere des „Schöner Wohnens“ und die Nichtigkeit des Komforts zu demonstrieren.

Was

bleibt?

Wie viel Selbstbewusstsein, wie viel Verzichtbereitschaft und wie viel Mut gehören dazu, so frei und unangepasst zu sein wie Diogenes, der die grandios überbewerteten materiellen Werte des normalen Menschen für nichtig erklärt und ihre Wertlosigkeit mit der Art seiner Lebensführung demonstriert! Diogenes versteht es, die falschen ­Gewichte abzuwerfen, die ihm die Beweglichkeit rauben könnten. Es sei dahingestellt, ob die kynische Lebensform auch heute noch eine philosophi­ sche Option ist.

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Abstecher nach Sparta: Tyrtaios Man kann es durchaus begründen, wenn man nach dem Porträt des kynischen Philo­ sophen Diogenes den Blick auf ein Porträt des spartanischen Dichters Tyrtaios wirft. Es ist zwar nicht bekannt, ob Diogenes die Überzeugungen des Spartaners kannte. Aber eine Gegenüberstellung der beiden so unterschiedlichen Persönlichkeiten trägt dazu bei, die kynische Position besser zu verstehen.

v Tapferkeit

oder

Fr echheit?

„Du musst schamlos und frech sein, jeden und alles beschimpfen, Könige und einfa­ che Leute gleichermaßen. Denn so werden sie zu dir aufschauen und dich für tapfer halten …“ Diese Empfehlung lässt der Satiriker Lukian den Kyniker Diogenes auf dem Markt verkünden. Dass der Kyniker mit dieser Einstellung nicht das allgemeine Wohlgefallen hervorrufen konnte, zeigt ein Blick auf Tyrtaios, einen berühmten früh­ griechischen Dichter. Der Gegensatz zwischen Diogenes und diesem Spartaner könn­ te nicht größer sein, ist aber philosophisch bedeutsam, weil er eine in der griechischen Philosophie ebenso häufig wie unterschiedlich reflektierte Tugend (neben Weisheit, Selbstherrschung oder Besonnenheit und Gerechtigkeit) betrifft: Tapferkeit (Andreía). Cicero (De officiis 1, 62 f.) knüpft an die Auffassung der Stoiker an und definiert die Tapferkeit als eine Tugend, die für Recht und Billigkeit kämpft. „Folglich fand bisher noch niemand Anerkennung, der den Ruhm der Tapferkeit in Verbindung mit Heim­ tücke und Bosheit gewonnen hat; nichts kann moralisch sein, was ohne Gerechtigkeit ist. Vorzüglich passt dazu jenes Wort Platons (Menexenos 242e und Laches 197a): ‚Man muss nicht nur ein Wissen‘, sagte er, ‚das ohne Gerechtigkeit ist, eher Schlauheit als Weisheit nennen, sondern auch der Mut, der sich den Gefahren stellt, möge eher Frechheit als Tapferkeit heißen, wenn er durch Selbstsucht und nicht durch den Nut­ zen für die Allgemeinheit angetrieben wird.‘ Deshalb wollen wir, dass tapfere und mutige Männer zugleich anständig und ehrlich, wahrheitsliebend und keinesfalls heuchlerisch sind; das sind Eigenschaften, die besondere Anerkennung finden, weil sie dem Wesen der Gerechtigkeit voll und ganz entsprechen.“  v Name: Tyrtaios aus Sparta Lebensdaten: Mitte des 7. Jh.s v. Chr. Literarische Gattung: Elegie Werke: Elegien politisch-philosophischen Inhalts, nur in Fragmenten ­erhalten

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Wer

war das?

Tyrtaios gehörte dem spartanischen Adel an. Er war ein politischer Führer und Feld­ herr. Daraus erklärt sich auch die Weite des Blickes, von der seine Appelle und Paräne­ sen (Mahnungen) zeugen.

Was

schr ieb er ?

Tyrtaios erwähnt in seinen Gedichten zwei Kriege. Im ersten hatten die Spartaner die Messenier unterworfen; im zweiten (Mitte des 7. Jh.s v. Chr.) mussten sie sich gegen die Messenier wehren. Die Gedichte entstanden zur Zeit des zweiten Messenischen Krie­ ges, der 17 Jahre lang dauerte. Die erhaltenen Texte sind radikale Appelle zum Kampf in einem für die Spartaner existenzbedrohenden Krieg. Dieser Geist spricht z. B. aus folgendem Text (Frg. 9, 1–17 D.), der im Übrigen eine hohe Bedeutung für das philosophische Verständnis von Tauglichkeit (Areté) hat, indem er einen bestimmten Aspekt besonders stark und ein­ seitig hervorhebt: Ich würde an einen Mann nicht erinnern oder von ihm reden wegen der Schnelligkeit seiner Füße oder seiner Ausdauer im Ringkampf, selbst wenn er die Größe und Kraft des Kyklopen besäße und den thrakischen Boreas im Laufen besiegte, auch nicht wenn er schöner als Tithonos und reicher als Midas und Kinyas, königlicher als der Tantalide Pelops wäre und eine angenehmere Sprache hätte als Adrastos, auch nicht wenn er ­a llen Ruhm besäße – ohne den Mut des wehrhaften Kriegers. Denn er wird sich nicht als tapferer Mann im Krieg erweisen, wenn er es nicht erträgt, das blutige Morden vor Augen zu haben, und nicht das leidenschaftliche Verlangen fühlt, im Schlachtgetüm­ mel die Feinde zu erschlagen. Das ist Tapferkeit, das ist der herrlichste und schönste Preis, den man unter Menschen als junger Mann davontragen kann. Das ist ein edles Gut für die Gemeinschaft, für die Stadt und das ganze Volk, wenn ein Mann losmar­ schiert und in vorderster Linie standhält, ohne zu wanken, und sich jeden Gedanken an schändliche Flucht aus dem Kopf schlägt.

Wie

lebten die

Werke

fort?

Die Haltung, die Leonidas und seine dreihundert Spartiaten im Kampf an den Ther­ mopylen (480 v. Chr.) bewiesen, hätte Tyrtaios in seinen Elegien s­ icherlich gerühmt. Denn auch in den Perserkriegen (wie Herodot 7, 101–233 sie schildert) hatten die Grie­ chen insgesamt ebenso um ihre Existenz zu kämpfen wie die Spartaner in ihrem Krieg gegen die Messenier. Unter diesem Aspekt ist auch das Distichon des Tyrtaios zu sehen:

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Sterben ist schön, in vorderster Front zu fallen, als tapferer Mann, für sein Vaterland kämpfend (6, 1–2 D.) Ob Pindars Worte (Frg. 110 Snell) „Süß aber ist der Krieg nur für diejenigen, die ihn nicht kennen; wer ihn aber kennt, der fürchtet sich vor ihm, wenn er kommt, im Her­ zen übermäßig“ auf Tyrtaios anspielen, sei dahingestellt. Dass Horaz (Ode 3, 2, 13) die beiden zitierten Tyrtaiosverse aus dem Zusammenhang genommen und umgedeutet hat, ist sehr wahrscheinlich: Dulce et decorum est pro patria mori („Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben“). Diese Ideologisierung des ursprünglichen Sinnes durch Horaz hat bis in die jüngste Vergangenheit gewirkt. Vielleicht aber basiert die verhängnisvolle Rezeptionsgeschichte auf einem Missverständnis. Möglicherweise geht es Horaz im ersten Teil der sogenannten Römerode nur um die heroischen Phan­ tasien eines unreifen Knaben, der sich in seiner Unerfahrenheit den Tod für das Vater­ land als süß ausmalt; im zweiten Teil der Ode hingegen wird die wahre Tapferkeit (virtus) des Mannes dem Verhalten des unreifen Knaben gegenübergestellt: Horaz ­verwirft ein knabenhaftes, unerfahrenes Heldentum und empfiehlt die Besonnenheit eines reifen Mannes. Diese Deutung Dieter Lohmanns (Schola Anatolica, 1989, 336– 372) bestätigen auch die beiden letzten Strophen der Ode 4, 9: „Nicht den, der viel besitzt, könntest du wohl wirklich glücklich nennen; mit höherem Recht beansprucht den Namen des Glücklichen derjenige, der mit Weisheit (sapienter) die Gaben der Götter zu nutzen und die harte Armut zu dulden versteht und mehr als den Tod die Schande fürchtet; jener Mann hat keine Angst, für seine lieben Freunde und für sein Vaterland zu sterben.“ Das ist die Haltung eines Mannes, der fest auf der Grundlage altrömischer Sittlichkeit steht und aus der Überzeugung vom Wert des einfachen ­Lebens zu höchster Hingabe an das Vaterland bereit ist. Mit diesen Versen (Ode 4, 9, 45–52) wird bestätigt, dass wahres Heldentum nicht den Heldentod sucht, aber in der furchtlosen und unpathetischen Bereitschaft besteht, das Letzte, wenn es nötig ist, für Freunde und Vaterland hinzugeben. Dass sogar der epikureische Weise (D. L. 10, 121) unter Umständen bereit ist, für einen Freund in den Tod zu gehen, bestätigt dieses Verständnis der Horaz-Strophen: Aber sein Leben für andere hingeben zu wollen setzt ein Höchstmaß an Weisheit und Reife voraus.

Was

bleibt?

Der römische Dichter Martial (1, 8) hat im 1. Jh. n. Chr. den entscheidenden Satz ge­ sagt: „Ich will nicht, dass ein Mann mit leichtfertigem Blutvergießen Ruhm erwirbt, ich will, dass ein Mann gelobt wird, den man ohne Heldentod preisen kann.“ Vergleich­ bar ist die Kernaussage des Agricola in der gleich­namigen Abhandlung des Tacitus (42, 4) über das Verhalten eines Menschen unter einem gewalttätigen Herrscher: „Die­ jenigen, die Widerstand zu bewundern pflegen, mögen wissen, dass es auch unter schlechten Herrschern große Männer geben kann und dass Gehorsam und Zurück­ haltung, wenn Fleiß und Kraft vorhanden sind, zu dem gleichen Ruhm führen, wie ihn 46

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die meisten durch einen trotzigen und auf Wirkung zielenden, aber für die Gesellschaft völlig nutzlosen und sinnlosen Tod errungen haben.“ Ohne behaupten zu wollen, dass Martial oder Tacitus mit dem Kynismus sympathi­ siert hätten: Aber das vom jüdischen Kynismus geprägte biblische Buch Kohelet = Pre­ diger Salomo (ca. 200 v. Chr.) enthält einen ähnlich klingenden Satz: „Ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe“ (melior est canis vivus leone mortuo). Die innere Verwandtschaft zwischen dem Mann, der „losmarschiert und in vor­ derster Linie standhält, ohne zu wanken, und sich jeden Gedanken an schändliche Flucht aus dem Kopf schlägt“, wie Tyrtaios ihn rühmte, und Herakles, dem heroischen Vorbild des kynischen Sokratikers Antisthenes, kann nicht übersehen werden, auch wenn die Tapferkeit eines spartanischen Kriegers dem Kampfgeist eines Herakles nicht gleichzusetzen ist. Das folgende Porträt wird die spezifisch kynische Erscheinungs­ form der Tapferkeit weiter verdeutlichen.

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Macht der Mühsal: Antisthenes Name: Antisthenes aus Athen Lebensdaten: 450–365 v. Chr. Literarische Gattung: Rede, Predigt, populärphilosophische Abhandlung Werke: Mehrere Werke über Herakles (u. a. Herakles oder über Geist und Körperkraft) und politische Schriften (z. B. Kyros oder über die Königsherrschaft); er verfasste Abhandlungen über die Hauptfiguren der ­homerischen Epen (wie z. B. Helena und Penelope; Kyklop oder über Odysseus; Aias; Kirke), über Probleme des mensch­ lichen Zusammenseins (über Kinderzeugung und Ehe), über ethische Fragen (u. a. über das Gute, über Freiheit und Knechtschaft, über Leben und Tod).

Wer

war das?

Er war Sohn eines Antisthenes aus Athen und einer thrakischen Sklavin – wie die Frau, die Thales, den ersten Philosophen, auslachte, als er bei der Betrachtung des Himmels in einen Brunnen fiel (Platon, Theaitetos 174a). Diese Herkunft erleichterte Antisthenes vielleicht auch den Bruch mit den geltenden religiösen und sozialen Konventionen ­seiner Zeit. Er war Sokratiker, ein Schüler des Sokrates also, wurde aber auch von den Sophisten beeinflusst. Wie Platon im Phaidon (59b) erwähnt, war Antisthenes in der Sterbestunde seines Lehrers anwesend. In einer öffentlichen Sporthalle, dem Gymnási­ on Kynósarges, begann er kurz nach dem Tod des Sokrates (399 v. Chr.) seine Lehrtätig­ keit. Herakles war der Schutzpatron dieser Schule in Athen. Hier hielt Antisthenes zunächst Vorlesungen über Rhetorik, Ethik, Erkenntnistheorie und Logik, bis er sich später ganz auf populärphilosophische Predigten verlegte. Sein einziger namentlich genannter Schüler war ­Diogenes aus Sinope.

Was

schr ieb er ?

Er entwarf in seiner nur fragmentarisch erhaltenen Darstellung Herakles das Ideal ­eines Menschen, der über alle nur denkbaren Tugenden und Vorzüge verfügt und alle Mühen erträgt und überwindet – wie Herakles, der mythische Held, der sich mit ­seinen zwölf Taten bewusst für Arbeit, Leid und ­Anstrengung entscheidet, um Tugend zu ­verwirklichen.

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v Her akles : Das Vorbild Die mythische Gestalt des Herakles ist eine Schlüsselfigur des philosophischen Den­ kens: Er wird nicht nur als Gott angerufen (beim Herakles), sondern dient auch der Veranschaulichung philosophischer Gedankengänge. Das ist bei dem Sophisten Prodi­ kos ebenso der Fall wie bei dem Sokratiker Antisthenes und dem Kyniker Diogenes. Auch Krates, der Schüler des Diogenes, nimmt sich Herakles zum Vorbild. Wie dieser im Kampf gegen bedrohliche Ungeheuer seinen Mut bewies, so kämpft der philosophi­ sche Herakles, wie Apuleius (Florida 22) mitteilt, gegen menschliche Leidenschaften. Herakles gehört zweifellos ebenso wie Sokrates oder der Gott Apollon zum Inventar des philosophischen Denkens.  v Die Fragmente deuten an, dass Antisthenes den Helden einen Besuch in der Höhle des weisen Kentauren Cheiron machen lässt. Der Autor ist davon überzeugt, dass Tugend als Tat, nicht als Theorie lehrbar sei: Die Tugend reicht aus für die Glückseligkeit; sie braucht nichts weiter als die sokrati­ sche Kraft. Sie besteht im Handeln und benötigt weder viele Worte noch Belehrungen. Der Weise ist selbstgenügsam; denn alles, was andere besitzen, besitzt er auch. Das Fehlen äußerer Anerkennung ist ein Gut und hat denselben Rang wie die ­Anstrengung. Der Weise lässt sich in seinen öffentlichen Tätigkeiten nicht von den gegebenen Geset­ zen leiten, sondern vom Maßstab der Tugend (D. L. 6, 11). Der Hinweis auf die sokratische Kraft bringt zum Ausdruck, dass Tugend nicht nur eine Sache der Vernunft, sondern auch des Willens ist, der auf Stärke beruht; diese ist durch Übung, Anstrengung und Abhärtung ununterbrochen zu erhöhen: Diejenigen, die tüchtige Männer werden wollen, müssen ihren Körper durch entspre­ chende Übungen und ihre Seele durch Bildung trainieren (Antisthenes bei Stobaios 2, 21, 68). Die früheste Quelle für die Ethik des Antisthenes ist das Symposion (2, 34), an dem Xenophon ihn teilnehmen lässt: Sokrates wandte sich an Antisthenes und sprach: „Sag du uns, mein Antisthenes, wie du bei einem so kleinen Besitz eine so große Meinung über deinen Reichtum haben kannst.“ – „Weil ich eben glaube, ihr Männer, dass die Menschen ihren Reichtum und ihre Armut nicht in ihrem Haus, sondern in ihren Seelen haben.“ In seinem Herakles erklärt Antisthenes, dass das Leben im Sinne der Tugend das Ziel sei und dass Glück und Tugend identisch seien (D. L. 6, 104). Außerdem versteht es sich für ihn von selbst, dass Mann und Frau in gleichem Maße tugendhaft sein können (D. L. 6, 12). Andererseits lehnt er die Lust entschieden ab. Er soll ständig gesagt haben, 49

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er wolle lieber wahnsinnig sein als Lust empfinden (D. L. 6, 3). Wenn die Tugend aus­ reicht, um Glückseligkeit zu gewährleisten, dann erweist sich jede weitere wissen­ schaftliche Forschung als überflüssig. Denn wonach soll man noch forschen, wie ­Diogenes, sein Schüler, meint (D. L. 6, 51), wenn man im Besitz der Tugend ein Eben­ bild Gottes ist? Antisthenes vertritt einen entschiedenen Materialismus, lehnt jede verborgene Wahrheit ab und spricht nur den Dingen eine Existenz zu, die man mit seinen Händen greifen kann. In seinem Dialog Theaitetos (155e) lässt Platon im Blick auf Antisthenes und seine Anhänger Sokrates zu dem jungen Theaitetos sagen: Pass gut auf und sieh dich um, dass uns nicht einer von den Uneingeweihten zuhört. Das sind diejenigen, die glauben, dass nichts anderes existiert als das, was sie direkt mit den Händen greifen können, aber von dem Handeln, dem Entstehen und allem Un­ sichtbaren nicht annehmen, dass es am Sein teilhat. In seinen logischen Überlegungen geht Antisthenes von der Untersuchung der Wörter und Begriffe der natürlichen Sprache aus. Bei dem Stoiker Epiktet (1, 17, 12) heißt es: Sagt dies nicht auch Antisthenes? Oder wer war das, der geschrieben hat: „Die Grund­ lage der Bildung ist die Untersuchung der Begriffe“? Aber meint das nicht auch Sokra­ tes? Und von wem schreibt Xenophon, dass er von der Untersuchung der Begriffe aus­ ging und fragte, was jeder einzelne Begriff bedeutet? Antisthenes meint, mit dem Wissen über die Bedeutung der Wörter könne man klären, was die Dinge sind, an denen man sich für die tatkräftige Verwirklichung der Tugend zu orientieren habe. Er schrieb auch ein Werk Über die Bildung oder über die Begriffe (D. L. 6, 17). Darin soll er behauptet haben, es könne nur identische Urteile geben: Man könne nur sagen, „der Mensch ist ein Mensch“, nicht aber „der Mensch ist gut“. Kein Subjekt könne mit einem von ihm selbst verschiedenen Prädikat verbunden werden. Dieser Auffassung widerspricht Platon (obwohl er Antisthenes nicht namentlich nennt), indem er Sokra­ tes im Theaitetos (201e) sagen lässt: Es kommt mir so vor, als ob ich von einigen gehört hätte, dass die Urbestandteile, aus denen wir selbst und alles andere zusammengesetzt sind, keine Bedeutung haben. Man könne nur eine Sache als solche benennen, darüber hinaus könne man über sie nicht aussagen, wie sie ist und wie sie nicht ist. Antisthenes will also keine Allgemeinbegriffe oder Begriffsbestimmungen bilden. Denn jede Definition hat eine weitere zu Folge. Und es ist kein Ende absehbar. Er sähe sich also genötigt, die Definitionskette willkürlich abzubrechen. Antisthenes verfasst auch zahlreiche politische Schriften (D. L. 6, 15–18), darunter auch einen Politikos (Athenaios 5, 220d). Die Tendenz dieser Schriften ist die Ablehnung 50

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der Tyrannenherrschaft, aber auch der athenischen Volksherrschaft. In seiner Politik (3, 13, 1284a15) hält Aristoteles es für absurd, dass alle Menschen, die nun einmal unglei­ che Voraussetzungen und Fähigkeiten besitzen, gleiche Rechte haben, und beruft sich ­dabei auf Antisthenes: Daraus ergibt sich, dass sich die Gesetzgebung nur auf die Menschen beziehen kann, die nach Herkunft und Vermögen gleich sind, und dass es für die anderen kein Gesetz geben kann. Denn sie sind selbst das Gesetz. Und man würde sich lächerlich machen, wenn man für diese Gesetze machen wollte. Denn sie würden wahrscheinlich dasselbe sagen, was Antisthenes die Löwen sagen lässt, als die Hasen in einer Volksversamm­ lung die gleichen Rechte für alle forderten. Daher fordert Antisthenes, im Staat müsse der Weise herrschen (Augustinus, Gottes­ staat 18, 41) – so hatte es auch sein Mitschüler Platon gesehen –, und die Schlechten seien von den Tüchtigen zu trennen (D. L. 6, 5), wenn die Staaten nicht zugrunde gehen wollten. Deshalb seien Schurken und Unfähige von der Staatsverwaltung auszuschlie­ ßen (D. L. 6, 6). Antisthenes hatte wie Platon wenig Verständnis für die Realpolitik zur Zeit des Perikles. Sein politisches Denken war von der Frage nach dem Verhältnis von Staat und Individuum bestimmt. Aber sein Engagement hielt sich in Grenzen (Frg. 168 Decleva): Als Antisthenes einmal gefragt wurde, wie man sich zur Politik stellen solle, antwor­ tete er: „Wie zu einem Feuer, weder allzu dicht, damit man sich nicht verbrennt, noch zu weit weg, damit man nicht friert.“ Es sind Fragmente eines Erziehungsromans erhalten, in welchem die Menschenliebe des Kyros thematisiert wird. Antisthenes sieht wie Xenophon in dem Perserkönig den idealen Herrscher: Jeder kann in seinem monarchisch-hierarchischen Staat nach dem Maß seiner Fähigkeit zur Selbstbeherrschung an der Macht teilhaben. Wie im Herakles definiert der Autor Anstrengung und Arbeit als ein hohes Gut. Es ist nicht auszuschlie­ ßen, dass sich der Kyros aus der Kyrupädie des Xenophon rekonstruieren lässt. Der Archelaos oder über die Königsherrschaft ist ein verlorener Dialog über die ­These, dass nicht Geld und Macht, sondern nur die sittliche Tüchtigkeit den Menschen glücklich mache. Der Dialog ist wohl aus der 13. Rede des Dion Chrysostomos (geb. ca. 40 n. Chr.) zu rekonstruieren: Der äußere Anlass für seine Abfassung könnte die Er­ mordung des makedonischen Herrschers Archelaos im Jahre 399 v. Chr. gewesen sein, der von Platon im Gorgias als beispielhaft für den Gegensatz zwischen äußerem (scheinbarem) Glück und moralischer Verkommenheit erwähnt wird. Erhalten sind die beiden in ihrer Echtheit angezweifelten Übungsreden Aias und Odysseus, in denen der Autor die beiden Konkurrenten ihre Ansprüche auf die Waffen des Achill begründen lässt. Der Sathon (Pimmel) oder vom Widersprechen ist eine verlorene polemisch-antipla­ tonische Schrift, deren Titel eine obszöne Verballhornung von Platons Namen darstellt 51

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(bezeugt in der Titelliste bei D. L. 6, 16). In diesem ziemlich umfangreichen Werk kommt auch die Antipathie zwischen den beiden Sokratesschülern zu Ausdruck. Dass Antisthenes Platons Ideenlehre ablehnte, ist damit zu erklären, dass er die Praxis aller Theorie vorzog. Das für den Kyniker Diogenes bezeugte Gespräch über die Ideenlehre (D. L. 6, 53) hätte auch Antisthenes mit Platon geführt haben können: Als Platon einmal über die Ideen sprach und die Begriffe ‚Tischheit‘ und ‚Becherheit‘ gebrauchte, sagte sein Gesprächspartner: „Ich jedenfalls, lieber Platon, sehe zwar einen Tisch und einen Becher; ‚Tischheit‘ und ‚Becherheit‘ sehe ich aber nirgends.“ Da ant­ wortete Platon: „Klar, denn du hast zwar Augen, mit denen man den Tisch und den Becher wahrnimmt. Aber den Verstand, mit dem man ‚Tischheit‘ und ‚Becherheit‘ sieht, hast du nicht.“ In seinem Kommentar (8b25, 208, 28) zur Kategorienlehre des Aristoteles erwähnt Sim­ plikios tausend Jahre nach dem Ereignis (im 6. Jh. n. Chr.) diesen Wortwechsel als Aus­ einandersetzung nicht zwischen Diogenes, sondern zwischen Antisthenes und Platon: Antisthenes sagte: „Ich sehe zwar ein Pferd, eine ‚Pferdheit‘ aber nicht.“ Platon erwi­ derte darauf: „Weil du Augen hast, mit denen man ein Pferd sehen kann, das Organ aber, mit dem man die ‚Pferdheit‘ wahrnimmt, besitzt du noch nicht.“

Wie

wur den die

Werke

über liefert?

In den Werken zeitgenössischer und späterer Autoren lassen sich Spuren des Antisthe­ nes erkennen. D. L. räumt ihm in seiner Darstellung des Lebens und der Meinungen berühmter Philosophen einen umfangreichen Abschnitt ein (6, 11–19). Auch in der ­Anthologie des Stobaios (5. Jh. n. Chr.) ist er vertreten. Zahlreiche Fragmente liefert auch Athenaios von Naukratis (um 200 n. Chr.) in seinen Deipnosophisten.

Wie

lebten die

Werke

fort?

Xenophon von Athen, der ebenso wie Antisthenes als Schüler und Anhänger des So­ krates gilt, erwähnt ihn in seinen Memorabilien und setzt ihm in seinem Symposion ein Denkmal. Obwohl Aristoteles in seiner Metaphysik mehrfach äußert, Antisthenes sei einfältig und ungebildet, nimmt er ihn immerhin so ernst, dass er gegen ihn polemisiert (5, 29, 1024b32–34 und 8, 3, 1043b23–27): Deshalb war Antisthenes wirklich einfältig, wenn er behauptete, es werde nur eines über eines ausgesagt, und nur die ihm zugehörige Bezeichnung gelten lässt. Daraus ergab sich, dass ein Widerspruch unmöglich und es fast sogar ausgeschlossen war, eine 52

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falsche Aussage zu treffen. … So ist auch der Zweifel nicht ganz unangebracht, den die Anhänger des Antisthenes und andere, die genauso ungebildet sind, äußerten: Es sei nicht möglich zu definieren, was etwas ist (denn eine Definition bestehe aus einer Mehrzahl von Wörtern), sondern man könne nur bestimmen und lehren, wie beschaf­ fen etwas ist. Obwohl die Stoiker Antisthenes wie überhaupt dem kynischen Lebensstil vieles ver­ danken (wie zum Beispiel die Ablehnung der Lust, die Hochschätzung der Vernunft, den Preis der Bedürfnislosigkeit, die Anstrengung und Askese), haben sie ihn ebenso wenig wie Diogenes als einen Vorgänger betrachtet. Erst Seneca erinnert sich wieder an Antisthenes. Aber schon Cicero hatte ihn als Sokratiker und zugleich als Vorläufer auch der Stoiker erwähnt (De oratore 3, 61 f.): Von ihm, den die Leidensfähigkeit (patientia) und die Härte (duritia) in der Lehre des Sokrates am meisten beeindruckt hatten, gingen zuerst die Kyniker und dann die Stoi­ ker aus. Später erwähnt D. L. (6, 14 f.), dass Antisthenes der geistige Urheber der äußerst männ­ lichen stoischen Schule und der Wegweiser zur Leidenschafts­losigkeit (Apátheia) des Diogenes, der Enthaltsamkeit (Enkráteia) des Krates und der Ausdauer (Kartería) des Zenon war. Von dem Stoiker Kleanthes heißt es, er habe den antisthenischen Begriff der sokra­ tischen Kraft (D. L. 6, 11) besonders ernst genommen und die Tugend als die Spann­ kraft (Tónos) bezeichnet, die die Seele befähige, ihre Aufgaben zu erfüllen (SVF 1, 563): Kleanthes sagte in seinen Physikalischen Abhandlungen: „Die Spannkraft ist ein Schlag des Feuers, und wenn sie in der Seele hinreichend vorhanden ist, um die ihr zufallen­ den Aufgaben zu erfüllen, heißt sie Stärke und Kraft.“ Dann fügt er wörtlich hinzu: „Diese Stärke und Kraft bedeuten Beharrlichkeit, wenn sie in den Situationen, denen man offensichtlich nicht ausweichen darf, vorhanden ist, Tapferkeit, wenn sie in den Situationen bewiesen wird, die man aushalten muss, Gerechtigkeit, wenn sie mit dem, was man zu tun schuldig ist, zu tun hat, Besonnenheit, wenn es um die Entscheidung zwischen Zustimmung und Ablehnung geht.“ Der Stoiker Epiktet (3, 24, 67) und der römische Kaiser Mark Aurel (7, 36) erwähnen Antisthenes mit großem Respekt. Christliche Schriftsteller loben ihn dafür, dass er im Gegensatz zu den Anschauungen seiner Zeit nur einen einzigen Gott anerkannt habe, von dem es auch kein Bild gebe. Augustinus stellt Antisthenes als einen Verfechter der Tugend (Virtus) gegen Aristipp, den Vertreter der Lust (Voluptas). Die AristotelesKommentatoren (z. B. Simplikios) setzen sich im 6. Jh. n. Chr. mit seinen erkenntnis­ theoretischen Auffassungen und Aussagen auseinander.

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„Der von den Kynikern gesäte Same hat vielfältige Frucht hervorgebracht. Seit etwa 200 v. Chr. lässt sich eine jüdische Rezeption des Kynismus nachweisen, und im 1. Jh. n. Chr. finden wir nicht nur Sympathisanten wie Philon von Alexandrien, sondern auch Männer, die das kynische Lebensideal übernehmen und innerhalb des hellenisti­ schen Judentums einen jüdischen Kynismus gestalten. Dazu gehört neben Johannes dem Täufer vor allem Jesus, in dessen früher Überlieferung sich zahlreiche Spuren unmittelbarer Nachahmung kynischer Lebens- und Lehrweise finden. Anders als die griechischen Kyniker, die im Halbgott Herakles ihr Ideal verkörpert sahen, wählen sich die jüdischen Kyniker den durch legendäre Überlieferung bekannten Propheten Elija als Vorbild. Denn Jesus und die griechischen Kyniker der hellenistisch-römischen Zeit haben vieles gemeinsam: Sie verzichten auf Besitz, Ehe und Lebensvorsorge; sie verstehen Gott als Vater aller Menschen; sie empfehlen Nächstenliebe; sie wenden sich anderen seelsorgerlich zu; sie bemühen sich um Friedensstiftung; sie lehnen Vergel­ tung ab und sind bereit zum Leiden; mit traditionellen Geboten und Bräuchen gehen sie unbefangen um. … Aus der Verschmelzung der philosophischen Mentalität mit der prophetischen, von Diogenes und Elija entsteht ein einzigartiges Lebensmodell, das einen Platz in der Philosophiegeschichte verdient“ (Lang 2010, 15 f.).

Was

bleibt?

Es ist ein Grundsatz des Antisthenes, die immer wieder erfahrene Diskrepanz zwi­ schen Denken und Handeln aufzuheben. Tugend bestehe im Handeln und sei nicht auf viele Worte und Lehren angewiesen (D. L. 6, 11). Das Handeln aber verlange sokrati­ sche Stärke, das heißt die Kraft eines Sokrates. Antisthenes verwirft also die Gleichung Wissen = Tugend. Denn nicht aus dem Wissen, sondern aus der Spannkraft (Tonos) und der Anstrengung (­Ponos) entsteht die Tugend. Antisthenes hat in der seelischen Elastizität eine Voraussetzung für die Überwindung von Schwierigkeiten gesehen und damit den modernen Begriff der Resilienz vorweggenommen, die die Fähigkeit bein­ haltet, bedrängende Ereignisse und Situationen durch Besinnung auf vorhandene Kompetenzen zu bewältigen und – gestärkt – zu überwinden. Die antiken Zeugnisse über den Kynismus – vor allem Epiktets Abhandlung über den Kynismus (3, 22) – erwecken den Eindruck, dass der ideale Kyniker eine Präfigu­ ration der biblischen Gestalt Jesu ist.

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Erfindung des Hedonismus: Aristipp von Kyrene (12) Z.: Ruf einen anderen auf, den Kerl aus Kyrene mit dem Purpurmantel und dem Kranz auf dem Kopf. H.: Komm näher! Passt alle auf! Die Ware ist wertvoll und wartet auf betuchte Käufer. Hier habt ihr die angenehmste Philosophie in Person, eine dreimal glückliche Philosophie! Wer wünscht sich ein ü ­ ppiges Leben? Wer kauft den Gipfel des Luxuslebens? K.: Komm zu mir und sag mir, wozu du taugst! Denn ich werde dich kaufen, wenn du mir nützlich bist. H.: Belästige ihn nicht, mein Bester, und frag ihn auch nichts! Er ist nämlich be­ trunken. Folglich kann er dir auch gar nicht antworten, denn er hat seine ­Zunge nicht in seiner Gewalt, wie du siehst. K.: Welcher vernünftige Mensch würde denn einen so kaputten und unkontrol­ lierten Typen kaufen? Wie er nach Myrrhe riecht, wie unsicher er auf seinen Füßen steht und wankt! Aber du, Hermes, musst mir doch sagen können, wel­ che Eigenschaften er hat und worauf er Wert legt. H.: Er ist grundsätzlich zu einem Leben in einer Gemeinschaft bereit. Er ist fähig, gemeinsam zu feiern, und immer in der Lage, im Dienst eines liebestollen Herrn und in Begleitung einer Tänzerin herumzuziehen. Auch sonst ist er ein Experte für höchsten Genuss, ein äußerst erfahrener Koch und überhaupt ein Fachmann für extremes Luxusleben. Er erhielt seine Ausbildung in Athen, diente dann am Tyrannenhof in Sizilien und wurde dort sehr berühmt. Seine Überzeugung gipfelt jedoch darin, dass er alle Welt zwar verachtet, aber jeden Gegenstand für seine Zwecke zu nutzen versteht und in ein Lustobjekt ver­ wandelt. K.: Du würdest wohl besser daran tun, nach einem anderen Käufer unter diesen Superreichen hier Ausschau zu halten. Denn ich sehe mich außerstande, einen so stark auf Lust fixierten Philosophen zu kaufen. H.: Anscheinend bleibt dieser Kerl, mein Zeus, ein Ladenhüter. Unzweifelhaft ist der Kerl aus Kyrene, auch wenn er von Lukian nicht ­namentlich ge­ nannt wird, Aristipp von Kyrene, der darum an dieser Stelle seriös zu porträtieren ist. Name: Aristippos von Kyrene Lebensdaten: 425–355 v. Chr. Literarische Gattungen: Dialog und Sinnspruch Werke: Dialoge, Briefe, Diatriben (philosophische Abhandlungen über ­Themen der praktischen Ethik), Chrien (Sprüche und Sentenzen) 55

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Wer

war das?

Aristipp ist wie Platon ein Schüler des Sokrates; seinetwegen zieht er nach Athen. Dann ist er zeitweilig Gast am Hof des jüngeren Dionysios in Syrakus: Der König zeigt ihm einmal drei besonders hübsche Mädchen und bietet ihm an, sich eines von diesen aus­ zusuchen. Daraufhin nimmt Aristipp alle drei und bemerkt dazu unter Anspielung auf das Urteil des Paris, das die Entführung der schönen Helena mithilfe der Liebesgöttin Aphrodite verursachte und die Katastrophe des Troïschen Krieg auslöste: Es brachte schon Paris kein Glück, dass er sich für nur eine Einzige entschied (D. L. 2, 67). Aber der biedere Berichterstatter beruhigt uns mit der Bemerkung, Aristipp sei zwar mit den drei Schönen abgezogen, weil er das Risiko zugunsten einer Entscheidung für eine der drei Frauen vermeiden wollte. Draußen habe er jedoch alle drei wieder fort­ gehen lassen. Der Philosoph hatte auch kein krampfhaftes Verhältnis zum Geld: Er konnte sich leicht von ihm trennen, wenn die Umstände es erforderten: Mitten in der Libyschen Wüste ließ er einmal seine Sklaven das Geld, das sie bei sich hatten, wegwerfen, damit sie etwas schneller vorankämen (Horaz, Satiren 2, 3, 100–102), vermutlich um eine Wasserstelle zu erreichen. Ähnliches berichtete Bion, der Borysthenite (D. L. 2, 77), in einer seiner Diatriben: Als sich einmal Aristipps Diener mit einem schweren Geldsack abmühte, forderte er ihn auf, alles auszuschütten, was zu viel sei, und nur so viel mit­ zunehmen, wie er könne. Dabei ist allerdings zu fragen, ob diese Aufforderung nicht in einem übertragenen Sinne zu verstehen ist: Befreie dich von allem Überflüssigen! In dieser Hinsicht stimmen Aristipp und Antisthenes überein, und beide werden trotz ihrer Gegensätzlichkeit als Leitbilder des Kynismus angesehen. Aristipp wurde neben Antisthenes tatsächlich zum Lieblingsphilosophen ­jener Kyniker, die zwar auch körperliche Abhärtung und Enthaltsamkeit zu Prinzipien ihrer Lebensweise erklärten, aber doch nicht übertrieben rigoros verwirklichten, sondern sich den jeweiligen Um­ ständen anzupassen wussten.

v  A r istipp

schr eibt

A ntisthenes

„Die große Frage ist: Was für einen Zweck habe ich mir überhaupt für mein künftiges Leben vorgesteckt? Und hier meine Antwort. Ich bin ein frei geborener Mensch, und … als ein solcher sollte jeder Mensch betrachtet und behandelt werden. Dass ich ein gebo­ rener Bürger in Cyrene bin, macht mich nicht zum Sklaven von Cyrene; ich bin auch als Bürger der allgemeinen menschlichen Gesellschaft geboren, und in dieser großen Kosmopolis ist C ­ yrene nur ein einzelnes Haus. Da mir der Zufall Vermögen genug für meine Bedürfnisse zugeworfen hat, warum sollt’ ich dies nicht als eine Erlaubnis anse­ hen, in Erwählung einer Lebensart und Beschäftigung bloß meinem innern Natur­ triebe zu folgen? In meinen Augen ist es noch mehr als Erlaubnis; es ist ein Wink, ein 56

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Gebot des Schicksals, mich zu der edelsten Lebensart zu bestimmen, und die edelste für mich wenigstens (denn von mir ist jetzt bloß die Rede) ist nach meiner Überzeugung, als Weltbürger zu reden, das heißt, ohne Einschränkung auf irgendeine besondere Ge­ sellschaft, mich den Menschen bloß als Mensch so gefällig und nützlich zu machen als mir möglich ist. In dieser Gesinnung und mit diesem Zweck ging ich aus Cyrene in die weite Welt, um vor allen Dingen die Menschen kennenzulernen, unter denen ich leben will, und mir so viele Kenntnisse und Geschicklichkeiten zu meinem und ihrem Nut­ zen und Vergnügen zu erwerben, als Fähigkeit, Zeit und Umstände nur immer gestat­ ten werden. Der Ruf des weisen Sokrates zog mich zuerst nach Athen; aber wahrlich nicht in der Meinung, mich einer Schule oder Sekte zu verpflichten oder einem einzel­ nen Menschen mehr Recht und Macht über mich einzuräumen, als ich ihm entweder freiwillig zu überlassen geneigt oder jedem andern zuzugestehen schuldig bin. Ich kam als ein schon ziemlich gebildeter und keineswegs unwissender Jüngling nach Athen, und machte mir die Erlaubnis, welche Sokrates allen gutartigen und lernbegierigen jungen Leuten gibt, ihn zu besuchen und um ihn zu sein, so viel zunutze, als mir zu der Absicht, weiser und klüger in seinem Umgange zu werden, nötig schien; ohne darum andern nützlichen und angenehmen Verhältnissen auszuweichen, in welche ein junger Fremdling meiner Art in einer Stadt wie Athen zu kommen so viele Gelegenheit findet“ (Chr. M. Wieland, Aristipp und seine Zeitgenossen (um 1800), 124 f.).  v

Was

schr ieb er ?

Aristipp verfasste zahlreiche Schriften, und zwar meist Dialoge, die mit den Memora­ bilien des Xenophon vergleichbar sind, obwohl dieser den Hedoniker, den Philosophen der Lust, nicht besonders mochte. D. L. hob Aristipps Aussprüche auf, welche die Geis­ tesgegenwart und Schlagfertigkeit des Sokratesschülers veranschaulichen. Ob man diese Aussprüche kaufen konnte? Die Frage ist berechtigt, weil Aristipp der Erste unter den Sokratikern war, der für seine Lehrtätigkeit ein Honorar forderte. Allerdings schickte er auch einmal seinem Lehrer Sokrates einen größeren Geldbetrag, den dieser aber nicht annahm: Denn seine innere Stimme, das Daimonion, verbot es. Als Aristipp einmal von einem Vater, der seinen Sohn von ihm ausbilden lassen wollte, ein hohes Honorar verlangte, soll dieser empört ausgerufen haben: „Für das Geld könnte ich mir ja sogar einen Sklaven kaufen.“ Es ist nicht bekannt, ob der Vater bezahlte, als er hörte, was Aristipp erwiderte: Tu das, dann wirst du zwei haben! Als man ihm einmal sein Verhältnis mit der Hetäre Laïs vorhielt (D. L. 2, 75), er­ widerte er: Ja, ich habe Laïs, sie aber nicht mich; denn es ist das Beste, die Lust zu beherrschen und sich ihr nicht willenlos auszuliefern; man muss nur vernünftig mit ihr ­um­gehen. 57

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Aristipp ließ sich auch nicht beeindrucken, als ihm einmal eine Hetäre ­erklärte, sie bekomme ein Kind von ihm; er sagte nur: Wenn du durch eine Hecke gehst, weißt du doch auch nicht, welcher Dorn dich ­verletzt hat (D. L. 2, 81).

Wie

lebten seine

Werke

fort?

Der römische Dichter Horaz ist ein großer Verehrer des Aristipp. Er zitiert ihn mehrfach und spricht von einem Rückfall in die Lehren des Aristipp, indem er erklärt, er versuche, sich die Dinge und nicht sich den Dingen zu unterwerfen (Horaz, Briefe 1, 1, 18–19). Manches von dem, was Aristipp über die Bedeutung der Lust für das Leben äußer­ te, schob man allerdings auch seinem gleichnamigen Enkel zu. Der Kirchenvater Euse­ bios tat dies. Wie dem auch sei – ohne Aristipp kein Epikur! D. L. berichtet von seinen zahlreichen Nachfolgern und Schülern. Man nennt sie die Kyrenaïker, die Leute aus Kyrene in Nordafrika. Sie haben – nicht ganz ohne Schmerz – vor allem um die Definition der Lust gerungen. Zunächst einmal bestehe zwar ein Un­ terschied zwischen Lust und Schmerz, aber nicht zwischen Lust und Lust. Lust sei ein­ fach nur Lust. Alle Lebewesen strebten danach und versuchten, Schmerz zu vermeiden. Die körperliche Lust bedeute aber nicht die bloße Abwesenheit von Schmerz, wie es später Epikur meinte, der sich mit einer „bewegungslosen“ Lust, das heißt einem Zu­ stand der Ungestörtheit, begnügte und diesen zum höchsten Ziel erklärte. Für einen Kyrenaïker war nicht die Schmerzlosigkeit als solche schon Lust, wie auf der anderen Seite die Abwesenheit von Lust nicht als schmerzhaft empfunden wurde. Abwesenheit von Lust und Schmerzlosigkeit seien höchstens „mittlere Zustände“; sie hätten mit Schmerz oder Lust nichts zu tun. Noch in einem anderen Punkt wollten sich die Kyrenaïker von Epikur distanzieren: Die Erinnerung an etwas Gutes oder die Vorfreude erzeuge noch keine Lustgefühle. Diese Distanzierung von Epikurs Lusthaushalt ist darauf zurückzuführen, dass die Ky­ renaïker die körperliche weit über die seelische Lust stellten – genauso wie seelischer Schmerz weitaus weniger spürbar sei als körperlicher Schmerz. Horaz (Briefe 1, 17, 23–32) hebt hervor, Aristipp habe in jeder Situation seine Würde bewahrt. Obwohl er nach Höherem strebte, begnügte er sich mit dem Gegebenen. An­ ders der Kyniker Diogenes, den seine vermeintliche Genügsamkeit zu dem groben Phi­ losophenmantel habe greifen lassen. Er, Horaz, frage sich aber, was passiere, wenn es ernst werde: Aristipp brauche keinen Purpurmantel; er ziehe an, was er gerade habe, um über die belebtesten Straßen zu gehen. Denn er habe es nicht nötig, eine unpassen­ de Maske zu tragen. Der Kyniker hingegen fühle sich gezwungen, seine Bedürfnislosig­ keit stets zur Schau zu stellen, sodass er auch bei grimmiger Kälte einen kostbaren Zwirn aus Milet zurückweise und lieber erfriere, wenn man ihn nicht seinen schäbigen Mantel anziehen lasse. In einem antiken Kommentar zu der Horaz-Stelle heißt es: Man erzählt sich, Aris­ tipp habe einmal Diogenes eingeladen, mit ihm gemeinsam ein Bad zu besuchen. Dann 58

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habe er darauf geachtet, dass alle vor ihnen das Bad verließen; Aristipp aber habe un­ bemerkt das primitive Hemd des Diogenes an sich genommen und wollte diesem sein eigenes, teureres überlassen. Diogenes war aber nicht bereit, diesen für ihn günstigen Tausch zu akzeptieren. Daraufhin hielt ihm Aristipp vor, er lege doch nur Wert darauf, seinen Ruf als Kyniker nicht zu verletzen und lieber zu frieren, statt mit einem wertvol­ leren Kleidungsstück in die Öffentlichkeit zu gehen. Der undogmatische Aristipp ent­ larvt hier sehr wirkungsvoll die Verbissenheit des strengen ­Kynikers, der wie festge­ nagelt jede Flexibilität vermissen lässt. Dagegen lässt der liebenswürdige Kyniker Demonax im 2. nachchristlichen Jh. durchblicken, dass er die Dinge nicht mehr so eng sieht. Er kann sogar Aristipp lieben! So sieht ein Kyniker, der dem Lebensgenuss nicht abgeneigt ist, in dem freundlichen Aristipp ebenso sein Leitbild wie in dem mitunter irritierenden Diogenes.

Was

bleibt?

Befreie dich von allem Überflüssigen, verzichte auf übertriebene Strenge g­ egen dich selbst und genieße dein Leben mit Vernunft!

v Im Fr auenbad „Kaum bin ich einige Tage in Korinth, und schon hat mir meine leichtsinnige Unbefan­ genheit ein Abenteuer zugezogen, welches vielleicht Folgen von Bedeutung hätte haben können, wenn mir der Zweck meiner Reise einen längern Aufenthalt erlaubte. Indem ich nach Vollendung einiger Geschäfte in den Straßen dieser großen und präch­ tigen Stadt umherirre, fällt mir eines von den vielen öffentlichen Bädern, womit sie versehen ist, in die Augen, dessen zierliche Bauart mir Lust macht, mich darin abzu­ waschen. Ich gehe hinein und … öffne ich auf Geratewohl eine der Badekammern und treffe gerade den Augenblick, da eine junge Frauensperson, die sich ganz allein darin befand, im Begriff war, aus dem Bade zu steigen. Dies war das erste Mal in meinem Leben, dass ich vor einem schönen Anblick zusammenfuhr; gleichwohl weiß ich nicht, wie es kam, dass ich, anstatt zurückzutreten, und die Tür, die ich noch in der Hand hatte, vor mir wieder zuzuziehen, sie hinter mir zumachte und meine Verlegenheit ­dadurch vermehrte. Die Dame, die bei meiner Erblickung plötzlich wieder untertauch­ te, schien sich an meiner Bestürzung zu ergetzen. Wie? (sagte sie lachend mit einer Stimme, deren Silberton meine Bezauberung vollendete) fürchtest du das Schicksal Aktäons, dass du vor Schrecken sogar zu fliehen vergisst? Da ich weder so schön wie Artemis noch eine Göttin bin, darf ich auch weder so stolz noch so unbarmherzig sein wie sie. Du bist ein Fremder, wie ich sehe, und hast vermutlich die Überschrift über der Pforte dieser Thermen nicht gelesen. … Indem sie dies sagte, traten zwei junge Sklavinnen herein, die in zierlichen Körben alles, was zum Dienste des Bades erforderlich ist, auf ihren Köpfen trugen. Sie schienen 59

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v­ erwundert, einen Unbekannten hier zu finden. … Was für eine Strafe, sagte die Dame, hat dieser junge Mensch verdient, für die Verwegenheit, in ein fräuliches Bad einzudrin­ gen, das gewiss noch von keinem männlichen Fuße betreten worden ist? – Die gelindeste wäre wohl, ihn anzuspritzen und in einen – Hasen zu verwandeln, sagte die jüngere. Das wäre eine zu milde Strafe für ein so schweres Verbrechen, versetzte die ältere, ich weiß eine andere, die dem Verbrechen angemessener ist; ich würde ihn dazu verdammen, so lange, bis wir unseren Dienst verrichtet haben, hier zu bleiben, und dann die Tür hinter uns zuzuschließen. – Meinst du? Sagte die Dame, indem sie sich erhob, und … aus dem Wasser stieg, und sich, ebenso unbefangen, als ob sie mit ihren Mägden allein wäre, ab­ trocknen und mit wohlriechenden Ölen einreiben ließ. Und mich, schöne Gebieterin, sagte dein unverschämter Freund mit der ganzen edlen Dreistigkeit, die du an ihm be­ neidest, mich, den du in einem Augenblick zu deinem Sklaven gemacht hast, wolltest du hier müßig stehen lassen? Erlaube mir, deinen Nymphen zu zeigen, dass ich geschickter bin, als sie mir zutrauen; und indem ich dies sagte, machte ich eine Bewegung, als ob ich einer der Mägde ein Tuch von der schneeweißesten Wolle, womit sie ihre Gebieterin abzureiben begriffen war, aus der Hand ziehen wollte. Aber die Dame warf mich mit ­einem zürnenden Blick auf einmal wieder in die Schranken der Ehrfurcht zurück. … Wenn du mein Sklave bist, sagte sie wieder lächelnd, sobald sie mich in gehöriger Entfer­ nung sah, so erwarte schweigend meine Befehle und rühre dich nicht! Ich gehorchte, wie einem wohlerzogenen sittsamen Jüngling zusteht, und erhielt dafür die zweideutige ­Belohnung, dass man die Mysterien des Bades mit der größten Gelassenheit vollendete, ohne sich um meine Gegenwart oder wie mir dabei zumute sein möchte, im Geringsten zu bekümmern“ (Chr. M. Wieland: Aristipp und einige seiner Zeit­genossen, 18–20).  v Es ist schon seltsam, dass niemand sich traut, einen Menschen wie Aristipp auf dem Markt zu kaufen. Hermes versteht die Welt nicht mehr. Dass er ausgerechnet auf Aris­ tipp sitzen bleibt! Doch das Geschäft muss weitergehen. Zeus jagt den Unverkäuflichen von der Bühne. (13) Z.:

H.: K.:

Demokrit: K.:

Fort mit ihm! Bring einen anderen her! Oder halt! Lieber erst diese beiden da: den Abderiten, der ununterbrochen vor sich hin lacht, und den Epheser, der nicht aufhört zu jammern. Ich möchte sie ­beide am liebsten im Doppelpack loswerden. Tretet vor, ihr zwei. Ich verkaufe jetzt die beiden bedeutendsten und weisesten Philosophen der ganzen Welt. Was für ein Gegensatz, mein Gott! Der eine kann nicht aufhören zu lachen, der andere steckt offensichtlich in tiefster Trauer. Denn er flennt die ganze Zeit. (Zu Demokrit) Was ist denn bloß los mit dir, Mann? Warum lachst du dauernd? Was für eine Frage! Weil mir euer ganzes Leben total ­lächerlich vorkommt, und ihr selbst seid es auch. Wie meinst du das denn? Du lachst uns alle aus und hältst unser Treiben für lachhaft?

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Dem.:

Ja, sicher. Denn da ist nichts Ernsthaftes zu erkennen. Alles ist nur ein großer Hohlraum und darin ein unendliches Gewusel von Atomen. K.: Das stimmt doch nicht. Du selbst bist vielmehr ein Hohlkopf und unendlich dumm. Was für ein Jammer! Kannst du denn nicht auf­ hören zu lachen? (14) (Zu Heraklit): Und du, mein Bester, warum hörst du nicht auf zu flennen? Ich den­ ke aber, ich kann dich trotzdem ansprechen. Heraklit: Ich glaube wirklich, Fremdling, die menschlichen Dinge sind bejam­ mernswert und tränenreich. Denn es gibt nichts, was nicht der Ver­ nichtung anheimfällt. Deshalb beklage und bejammere ich die Men­ schen. Im Augenblick halte ich ihre Lage allerdings noch nicht für besonders schlimm. Was aber bald noch kommt, wird in jeder ­Hinsicht unendlich leidvoll sein. Ich meine, dass die ganze Welt ver­ brennt und alles zusammenbricht. Das beklage ich, und dass nichts fest und beständig ist und alle Dinge wie in einem Eintopf zusam­ mengerührt werden und dann alles eins ist: Freude und Freudlosig­ keit, Wissen und Dummheit, Groß und Klein wirbeln von oben und nach unten und verändern sich im willkürlichen Spiel der Ewigkeit. K.: Was ist denn Ewigkeit? Her.: Ein scherzendes Kind, das mit Steinchen spielt, sich streitet und wieder versöhnt. Was sind Menschen? K.: Sterbliche Götter. Her.: K.: Was sind Götter? Unsterbliche Menschen. Her.: K.: Du sprichst in Rätseln, Mann. Oder ist das ein Witz? Denn wie der Gott Apollon machst du nur dunkle Andeutungen. Ihr seid mir alle völlig egal. Her.: K.: Dann wird dich aber kein vernünftiger Mensch kaufen. Her.: Ich fordere euch aber alle auf zu jammern und zu klagen, ob ihr mich nun kauft oder nicht. Diese unglückliche Einstellung ist fast schon Wahnsinn. Ich werde K.: keinen dieser beiden Kerle hier kaufen. H.: Gut, dann bleiben sie also unverkäuflich. Ruf einen anderen auf! Z.: In dem gescheiterten Verkaufsgespräch blieb allerdings einiges unberücksichtigt. Wäre es etwas gründlicher geführt worden, hätten der Abderite und der Epheser – vielleicht sogar im Doppelpack – wahrscheinlich einen Käufer gefunden. Die Götter bewiesen als Verkaufsstrategen keinen besonderen Weitblick, indem sie den lachenden und den ­weinenden Philosophen als Paar verkaufen wollten. Hermes und Zeus haben den Reiz des Gegensatzes offensichtlich überschätzt. Einzeln wären sie die beiden vielleicht los­ geworden! 61

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Angsttherapie und Bildungsoptimismus: Demokrit Name: Demokritos aus Abdera an der thrakischen Küste Lebensdaten: 460–390 v. Chr. Literarische Gattung: Philosophische und fachwissenschaftliche Abhandlungen auf unterschiedlichen Gebieten (z. B. Medizin, Landwirtschaft, Militärwissenschaft) Werke: Große und Kleine Weltordnung und eine ethische Schrift Über die Heiterkeit des Herzens

v  A bder a

und die

A bder iten

Wie der Geschichtsschreiber Herodot (1, 168) berichtet, legten ionische Griechen aus Klazomenai im Jahre 656 v. Chr. an der thrakischen Küste des Ägäischen Meeres eine Siedlung an, die allerdings von den Ureinwohnern wieder zerstört wurde. Sie wurde später aber (ca. 540 v. Chr.) von Ioniern aus Teos neu errichtet. Die Siedler aus Teos waren vor der persischen Besatzungsmacht geflohen, weil sie sich nicht unterwerfen wollten. Als der persische Heerführer Harpagos die Mauern der Stadt über einen ­Erdwall erstieg – so Herodot –, begab sich die gesamte Bevölkerung auf Schiffe, um Thrakien zu erreichen und die künftige Heimatstadt des Protagoras und des Demokrit neu zu gründen. Die Bewohner von Abdera, die Abderiten, galten später als beschränkte Kleinbürger (so etwa bei dem römischen Dichter Martial und dem Satiriker Lukian). Fast schon sprichwörtlich ist eine Zeile aus einem Epigramm Martials (10, 25): „Du hast so wenig Verstand wie das Volk von Abdera“ (Abderitana plebs). In seinem satirischem Roman Die Abderiten (1774–1780) stellt Christoph Martin Wie­ land die Torheiten und Albernheiten der Menschheit an den Einwohnern von Abdera exemplarisch dar. Die Abderiten sind nicht einmal von dem weisen Demokrit dazu zu bewegen, über ihren Kirchturm hinauszublicken und ihren engen Horizont zu erwei­ tern. Der Philosoph sollte sogar mithilfe eines ärztlichen Gutachtens, für das man den berühmten Arzt Hippokrates zu gewinnen suchte, für verrückt erklärt werden. Eines Tages verlassen die Abderiten ihre Stadt, weil sie den überhandnehmenden Fröschen weichen mussten, die sie als heilige Tiere der Göttin Latona verehrten und darum nicht töten durften.  v

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Wer

war das?

Demokrit war wie seine Zeitgenossen, die Sophisten, auf vielen Wissensgebieten zu Hause; er befasste sich nicht nur mit Naturwissenschaft, sondern auch mit Astrono­ mie, Mathematik, Ethik, Dichtkunst, Medizin und Militärwissenschaften. Er wollte mit öffentlichen Vorträgen ein interessiertes, aber nicht unbedingt wissenschaftliches Publikum erreichen. Er wird in der antiken Tradition als ein Gelehrter dargestellt, der sich besonders mit der Erklärung der Ursachen der Phänomene beschäftigte. Er be­ klagt sich aber auch darüber, dass ihn, als er nach Athen kam, niemand erkannte. Nicht einmal Sokrates habe ihn bemerkt. Auch Platon erwähnt ihn nicht; er soll seinen Schü­ lern sogar befohlen haben, die Schriften des Demokrit zu sammeln und zu verbrennen. Das ist gewiss darauf zurückzuführen, dass Platon in Demokrit einen ernsthaften Kon­ kurrenten sah. Weil aber Demokrits Schriften schon weit verbreitet waren, erweist sich diese radikale Maßnahme als sinnlos. Bekannt ist auch, dass Demokrit zahlreiche ­Reisen nach Ägypten, in den Orient und nach Persien unternahm.

Was

schr ieb er ?

Im Mittelpunkt der naturphilosophischen Schrift Große Weltordnung steht die Lehre von den Atomen, die Demokrit als die nicht mehr teilbaren Elemente einer materiellen Welt versteht. Nach Plutarch (Adversus Coloten 1110F–1111A) meint Demokrit, im ­leeren Raum bewegten sich unendlich viele Substanzen, die unteilbar, unterschiedslos, empfindungslos und ohne eine bestimmte Qualität seien. Wenn sie sich aber einander näherten, zusammenstießen oder miteinander verknüpften, dann erscheine ein Teil dieser Verbindungen als Wasser, ein anderer als Feuer, ein weiterer als Pflanze und wieder ein anderer als Mensch. Alles bestehe aus Atomen, die Demokrit auch als Ge­ stalten bezeichne, und sonst gebe es nichts. Der Aristoteleskommentator Simplikios stellt fest, Demokrit vertrete die Auffassung, die Atome seien so klein, dass man sie sinnlich nicht wahrnehmen könne; sie hätten aber unterschiedliche Gestalten, Formen und Größen. Die den Augen sichtbaren Massen entstehen nach Demokrit durch Zu­ sammenballung dieser Atome und vergehen wieder, indem sie sich in ihre kleinsten, unteilbaren Bestandteile auflösen. Diese mechanistische Erklärung der physikalischen Welt dient aber auch als Er­ klärungsmodell für physiologische und psychologische Vorgänge. Auch die Seele des Menschen besteht aus besonders feinen und leichten ­Atomen. Manches spricht dafür, dass Demokrit mit diesem Modell den Widerspruch zwi­ schen der Ewigkeit des Seins und der sichtbaren Abfolge von Werden und Vergehen überbrücken sollte: Die Atome, die Bausteine, sind ewig, ihre Zusammenballung und ihre Trennung voneinander veranschaulichen Werden und Vergehen. Demokrit war also der Ansicht, dass sich trotz sichtbarer Veränderungen in Wirklichkeit nichts än­ dere; denn die festen und massiven Bausteine seien ewig.

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Die Atome sind mit Legosteinen vergleichbar, wie Jostein Gaarder in S­ ophies Welt (1993, 54–60) erzählt: Sie haben ungefähr alle Eigenschaften, die Demokrit den Atomen zugeschrieben hat, und gerade deshalb kann man so gut mit ihnen bauen. Zuerst einmal sind sie unteilbar. Sie unterscheiden sich in Form und Größe, sie sind massiv und undurchdringlich. Legosteine haben außerdem Haken und Ösen sozusagen, mit denen sie sich zu allen möglichen Figu­ ren zusammensetzen lassen können. Diese Bindung kann später aufgelöst werden, und dann werden wieder neue Gegenstände aus denselben Klötzchen gebaut. Gerade dass sie immer wieder verwendet werden können, hat die Legosteine so beliebt gemacht. Weiterhin beruht Demokrits Wahrnehmungslehre auf der Auffassung, dass die sinn­ lich wahrnehmbaren Qualitäten der Dinge subjektiv sind und nicht den Dingen selbst gehören. In der objektiven Welt gibt es demnach keine Farben oder Geräusche. Die Welt, wie wir sie erleben, entsteht also erst im Kopf. Demokrit verwirft gelegentlich, was den Sinnen erscheint, und behauptet, nichts sei wirklich, sondern nur der Meinung nach vorhanden. Was wahr sei, existiere nur in Hinsicht darauf, dass es die Atome und das Leere gebe. Er sagt nämlich, dass etwas nur aufgrund von Vereinbarung süß oder bitter, warm oder kalt sei oder eine bestimmte Farbe habe. Dass wir in Wirklichkeit nicht erfahren, wie etwas in Wahrheit ist oder nicht ist, ist hinreichend klar (VS 68 B 9–10). Auch heute bestreitet niemand, dass der Mensch nur einen winzigen Ausschnitt dessen wahrnehmen kann, was existiert. Es gibt Lebewesen, die über Sinne verfügen, mit de­ nen sie Vorgänge wahrnehmen, die der Mensch nicht wahrnimmt. Fledermäuse oder Bienen haben Sinne, mit denen sie Ultraschall oder ultraviolettes Licht wahrnehmen. Bestimmte Schlangen spüren im Dunkeln warme Beutetiere auf. Der Mensch kann elektrischen Strom nicht sehen, sondern nur fühlen. Unsichtbar sind für uns auch ­Radiowellen und Röntgenstrahlen. Ein Hund hört Geräusche in anderen Frequenzen als der Mensch – von der Schärfe seines Geruchssinnes ganz zu schweigen. Unter ­diesem Aspekt hat Demokrit völlig recht, wenn er meint, es gebe mehr als fünf Sinne, und zwar bei den vernunftlosen Tieren, bei den Weisen und bei den Göttern (VS 68 A 116). In der nur in Fragmenten und Nachrichten erhaltenen Kleinen Weltordnung entwickelt Demokrit auch eine Kulturentstehungslehre, die dem Kulturentstehungsmythos in Platons Protagoras ähnelt. Um zu seinen Einsichten zu gelangen, geht er nach der auch von Anaxagoras angewandten Methode vor, Unbekanntes aus Bekanntem herzuleiten: Kultur entsteht aus dem Kampf gegen die Not und bleibt so lange bestehen, wie die Einsicht in das, was notwendig ist, die Oberhand behält. Daraus erklärt sich, was ­Demokrit unter Recht und Unrecht versteht: 64

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Recht bedeutet, das Notwendige zu tun. Unrecht bedeutet, das Notwendige nicht zu tun, sondern sich abzuwenden (VS 68 B 256). Auch die Tiere haben ein Recht auf Leben. Sie sind sogar in vielem Vorbilder des Men­ schen. Denn wie Plutarch (De sollertia animalium 20, 974A) überliefert, vertritt Demo­ krit (VS 68 B 154) die Ansicht, dass wir Menschen unsere kulturelle Entwicklung der Nachahmung der Tiere verdanken. In den wichtigsten Dingen seien wir Schüler der Tiere gewesen: So lernten wir von der Spinne das Weben und Nähen, von der Schwalbe den Hausbau, von den Vögeln, wie dem Schwan und der Nachtigall, den Gesang – und zwar durch Nachahmung. Dass diese Sicht den Respekt vor den Tieren einschließt, steht außer Frage.

v Besser Schwein

als

M ensch

In dem Dialog Gryllos oder die Vernunft der unvernünftigen Tiere (985D) zwischen dem homerischen Helden Odysseus und seinem Gefährten Gryllos, der von der Zauberin Kirke in ein Schwein verwandelt worden war, beschreibt Plutarch ganz im Sinne De­ mokrits die Vorzüge der tierischen vor der menschlichen Existenz. Gryllos lehnt es daher ab, wieder Mensch zu werden. Er zieht das unbeschwerte Glück des Schweins dem dauernden Unglück des Menschen vor. Denn das Schwein ist von allem unbe­ rührt, was dem Menschen das Leben schwermacht. Ein Ausschnitt aus dem Gespräch zwischen Odysseus, Kirke und Gryllos: Odysseus: Wie soll ich ihn denn anreden, Kirke? Oder wer war er als Mensch? Kirke: Was hat das mir deiner Absicht zu tun? Aber nenne ihn ruhig, wenn du willst, Gryllos. Ich werde mich aber vor euch zurückziehen, damit er sich nicht entschließt, etwas gegen seine eigene Überzeugung zu sagen, um es mir recht zu machen. Gryllos: Hallo, Odysseus. Odysseus: Hallo auch du, beim Zeus, Gryllos. Gryllos: Was willst du mich fragen? Odysseus: Ich weiß, dass ihr einmal Menschen wart, und ich habe Mitleid mit euch allen, wenn ich euch so sehe, die ihr doch als Griechen in dieses Unglück geraten seid; deshalb habe ich Kirke gebeten, dass sie jeden von euch, der es will, erlöst, wieder in Menschen verwandelt und dann mit uns zusammen nach Hause lässt. Gryllos: Hör auf, Odysseus, und sprich nicht weiter, damit wir alle dich nicht dafür verachten müssen, dass du den Ruf, besonders klug zu sein und die anderen Menschen an geistiger Kraft zu übertreffen, nicht verdienst. Du hast Angst vor dem Übergang von einem schlechteren zu einem besseren Dasein be­ kommen, ohne etwas zu verstehen. Denn wie die Kinder die Medikamente der Ärzte fürchten und das Wissen über die Vorgänge meiden, die sie 65

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v­ erändern, gesünder und vernünftiger werden lassen, so bist du vor jeder Veränderung davongelaufen, und jetzt hast du, wenn du mit Kirke zusam­ men bist, furchtbare Angst davor, dass sie dich, ohne dass du es merkst, in ein Schwein oder einen Wolf verwandelt. Und nun willst du uns, die wir unbeschreiblich glücklich sind, dazu überreden, die Frau zu verlassen, die uns dieses Glück ermöglicht, mit dir wegzufahren und wieder zu Men­ schen, den erbärmlichen Lebewesen, zu werden. Odysseus: Ich fürchte, Gryllos, du hast durch den Zaubertrank nicht nur deine Ge­ stalt, sondern auch deinen Verstand verloren (986B-E). Gryllos, das Schwein, versucht dann, Odysseus klarzumachen, dass sogar die Seele der Tiere vollkommener sei als die menschliche Seele. Die Tiere besäßen von Natur aus die vielfach gepriesenen Tugenden der Menschen und überträfen sie sogar darin: Tapfer­ keit, Selbstbeherrschung, Enthaltsamkeit, Vernunft und Einsicht. Seinen ernsthaften Respekt vor den Tieren bekundet Plutarch übrigens auch in ­seiner Schrift Über das Fleischessen, indem er das Verhalten der Menschen beklagt: Aber nichts weckt in uns die Scham – weder das blütenfarbene Aussehen des Fleisches noch die überzeugende Wirkung einer melodisch klingenden Stimme noch die Un­ schuld ihrer Lebensweise noch das ausgeprägte Mitgefühl für unglückliche Lebewesen. Wir rauben ihnen wegen eines kleinen Fleischstückchens die Sonne, das Licht und ­einen großen Teil ihres Lebens, wofür sie doch auf der Welt sind (994E).  v In seinen Ethika geht Demokrit von der Voraussetzung aus, dass moralisches Verhalten auf der durch Erziehung zu vermittelnden Einsicht des Menschen basiert. Denn im ­Gegensatz zur traditionellen Adelsethik stellt er fest: Mehr Menschen werden durch Übung statt aufgrund natürlicher Anlagen tüchtig (B 242). Dazu passt das folgende Fragment, das möglicherweise aus der Tritogeneia (Die Drei­ geborene) stammt, in der die aus dem Kopf des Zeus geborene Göttin Athene allego­ risch als Quelle der drei spezifisch menschlichen Fähigkeiten – des richtigen Denkens, Redens und Handelns – interpretiert wird: Weder Kunst noch Wissen ist etwas Erreichbares, wenn man nicht lernt (B 59). Die schönen Dinge schafft sich das Lernen, wenn man sich anstrengt (B 182). Es gibt doch wohl Verstand bei jungen wie Unverstand bei alten Menschen. Denn nicht die Zeit lehrt, Verstand zu haben, sondern frühzeitige Förderung und Naturanlage (B 183). Demokrits Ethik stützt sich nicht auf die Androhung von Strafen im Jenseits oder auf die Furcht vor grausamen Göttern. In seiner religionskritischen Schrift Über die Dinge 66

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im Hades hat er vielmehr die Menschen von den überlieferten Schauergeschichten be­ freien wollen. Manche Menschen, die von der Auflösung der sterblichen Natur in ihre Atome ­keine Ahnung haben, aber sich dessen bewusst sind, dass sie in ihrem Leben Böses taten, leiden ein Leben lang an Unruhe und Angst, weil sie sich falsche Geschichten über die Zeit nach ihrem Ende ausdenken (B 197). So kann Demokrit auch die Bildung des Menschen mit seiner Atomlehre veranschau­ lichen, indem er sie als Umgestaltung (Metarhysmós) der Atome versteht, und die ­Leidenschaften als schädliche Atom-Bewegungen aus großen Entfernungen erklären; dagegen bedeutet die gute Struktur, d. h. die gute Anordnung der Atome, den Idealzu­ stand des Menschen. In der von Stobaios überlieferten Schrift Über die Heiterkeit des Herzens schildert ­Demokrit, wie der Mensch zur Heiterkeit des Herzens, zur Euthymie, gelangt: durch Mäßigung, Bescheidenheit, Genügsamkeit und durch das Vergleichen des eigenen Le­ bens mit dem Unglück anderer. Das Ziel ­(Télos) sei nicht die höchste Lust, sondern ent­spreche einem friedlichen und ausgeglichenen Zustand der Seele, die von keiner Furcht, keinem Aberglauben und keiner anderen Leidenschaft aus der Ruhe gebracht werde (D. L. 9, 45). Laut Seneca (De tranquillitate animi 13,1) beginnt Demokrit seine Abhandlung mit diesen Worten: Wer die Heiterkeit des Herzens gewinnen will, soll nicht vielerlei Dinge treiben im privaten wie im gesellschaftlichen Leben.

Wie

wur den die

Werke

über liefert?

Thrasyllos von Mendes, der auch den römischen Kaiser Tiberius in die A ­ strologie ein­ geführt hatte, soll im 1. Jh. n. Chr. eine Gesamtausgabe der Werke Demokrits veran­ staltet haben. Diese ist bis auf wenige Fragmente und das Inhaltsverzeichnis verloren. Zahlreiche Demokritfragmente hat Johannes Stobaios (5. Jh. n. Chr.) in seiner für ­seinen Sohn zusammengestellten Anthologie erhalten. Er überliefert auch die Sinn­ sprüche (Gnomen) des Demokrit unter dem Namen eines Demokrates; es ist nach wie vor umstritten, ob diese Sprüche Demokrit zu verdanken sind. Plutarch (Perì euthymías 465C) zitiert die gleichnamige Schrift des Abderiten.

Wie

lebten die

Werke

fort?

Demokrits Lehren gingen in doxografische Handbücher ein, in denen die Erkenntnisse der Philosophen gesammelt und geordnet wurden und aus ­denen spätere Leser ihre Kenntnisse bezogen. Das gilt auch für Epikur und Lukrez, die Demokrits Kampf gegen 67

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Aberglauben und Angst fortsetzen. Beide übernehmen auch seinen Ansatz einer wis­ senschaftlichen Welterklärung mithilfe der Atomlehre. In Ciceros Werken ist vielfach von Demokrit die Rede. Aus Cicero gewinnen die lateinischen Kirchenväter allerdings auch ihre Argumente gegen Demokrit und vor allem gegen seine materialistische Welt­ erklärung. Dass die Einwohner von Abdera, die Abderiten, in dem Ruf standen, beschränkte Kleinbürger zu sein, ist gewiss nicht auf den weltoffenen und weit gereisten Demokrit zurückzuführen.

Was

bleibt?

Man soll sich vor sich selbst genauso schämen wie vor anderen Menschen und genauso wenig Böses tun, wenn niemand davon erfährt, als ob alle Menschen davon erführen (Demokrit B 264).

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Alles im Fluss: Heraklit Name: Herakleitos von Ephesos Lebensdaten: um 550–480 v. Chr. Literarische Gattung: Philosophisch-aphoristische Prosa Werk: Über die Natur

Wer

war das?

Heraklit stammte aus einer angesehenen und seit Generationen in Ephesos lebenden Familie. Er war der Sohn eines Mannes mit Namen Bloson und soll ungewöhnlich ­arrogant gewesen sein, wie man seinen Schriften entnehmen könne (D. L. 9, 1). In ­späterem Alter habe er sich zum Misanthropen entwickelt, einsam in den Bergen ­gelebt, sich von Gräsern und Kräutern ernährt und sei davon krank geworden. Er ­polemisierte gegen Homer und Hesiod, gegen Xenophanes und den Dichter Archi­ lochos, gegen Pythagoras und den Historiker Hekataios – vor allem wegen ihrer angeb­ lich vernunft­losen Vielwisserei, die nur in einem Sammeln von Wissen, nicht in Origina­lität und Souveränität bestanden habe.

v Ephesos Die Stadt an der kleinasiatischen Mittelmeerküste wurde von Athen aus gegründet. Der lydische König Kroisos erzwang im 6. Jh. v. Chr. die Zerstörung der Befestigungs­ anlagen. Später schloss sich Ephesos dem Ionischen Aufstand gegen den Perserkönig Dareios nicht an und blieb daher verschont. Heraklit (VS 22 B 121), der berühmteste Sohn der Stadt, empfahl seinen Mitbürgern, sie sollten sich wegen ihrer politischen Unfähigkeit alle zusammen aufhängen und den Kin­ dern die Stadt überlassen, weil sie den tüchtigen und erfolgreichen Politiker Hermodoros hinausgeworfen und dabei gesagt hätten: „Keiner von uns soll ein nützlicher Mensch sein, wenn aber doch, dann wenigstens woanders und nicht bei uns.“ Cicero hat diese Geschichte in seine Tuskulanischen Gespräche (5, 105) aufgenommen, um zu veran­ schaulichen, dass wirklich hervorragende Leute überall gehasst und vertrieben werden. Nach den Perserkriegen trat Ephesos dem Attischen Seebund bei. Im Peloponnesi­ schen Krieg stand die ionische Stadt aber auf Seiten Spartas. Das Artemision, der mit Mitteln des Königs Kroisos im 6. Jh. erbaute Tempel der Arte­ mis von Ephesos, gehört zu den Sieben Weltwundern der Antike. Aus christlicher Zeit ist Ephesos als mittlerweile bedeutende römische Stadt durch die Briefe des Apostels Paulus an die Epheser bekannt.  v

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Was

schr ieb er ?

Heraklit stellte seine Weltanschauung in einer Schrift dar, der später der ­Titel Über die Natur gegeben wurde. Es heißt, er habe das Buch im Artemis­tempel von Ephesos auf­ bewahren lassen, um seine Unsterblichkeit zu sichern. Die erhaltenen Fragmente legen die Annahme nahe, dass das Werk aus einer Sammlung von Sentenzen bestand, die in keinem systematischen Zusammenhang standen. Heraklit wurde wohl deshalb auch als der Dunkle bezeichnet. Cicero (De finibus 2, 15) hält es für möglich, dass er seine Ausführungen absichtlich verdunkelt hat: Wenn man jemanden nicht versteht, liegt es teilweise vielleicht auch an demjenigen, der so spricht, dass man ihn nicht versteht. Das geschieht in zwei Fällen, ohne dass man ­daran Anstoß nehmen kann: wenn man es entweder absichtlich tut wie Heraklit, der den Beinamen „der Dunkle“ bekam und dessen Ausführungen über die Natur allzu unver­ ständlich waren, oder wenn die Unverständlichkeit der Themen, nicht der Worte dazu führt, dass man die Darstellung nicht versteht, wie es in Platons Timaios der Fall ist. Heraklit hält das Feuer, das er als eine Metapher für den ewigen Wandel begreift, für den Urgrund des Seins. Mit dem Bild des Feuers veranschaulicht Heraklit seinen Wi­ derspruch gegen die Auffassung von einem Sein, das man als Konstante im Werden und Vergehen zu entdecken versucht. Es gibt aber kein Sein im Wandel. Es gibt nur den ewigen Wandel. Daraus erklärt sich vielleicht auch Heraklits Polemik gegen die Viel­ wisserei (B 40): Wissen besteht allein in der Einsicht, dass sich alles in unablässiger Veränderung befindet (B 41). Diese ist durch das gleichzeitige Vorhandensein des Ge­ gensätzlichen möglich, durch die Einheit der Gegensätze; so ist z. B. im jungen Men­ schen der alte und im alten Menschen der junge zugleich vorhanden: Es ist zugleich in uns: Lebendes und Totes, Wachendes und Schlafendes, Junges und Altes. Denn dieses wird in jenes umschlagen und jenes in dieses (B 88). Das gilt auch für die Gegensätze gut-schlecht, hinauf-hinab, Leben erhaltend-Leben vernichtend. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Gut und Böse sind das Gleiche: Wenn die Ärzte schneiden und brennen und auf jede nur erdenkliche Weise die Kranken furchtbar quälen, fordern sie von ihnen auch noch ein Honorar, obwohl sie es nicht wert sind, etwas zu bekommen; denn sie bewirken dasselbe wie die Krankheiten: Schmerzen (B 58). Der Weg hinauf und hinab ist derselbe (B 60). Das Meer hat das reinste und das schmutzigste Wasser: Für Fische ist es trinkbar und lebensrettend, für Menschen aber untrinkbar und tödlich (B 61). Heraklit behauptet, dass die Menschen üblicherweise die Einheit des Gegensätzlichen nicht verstehen, die er als Palíntonos Harmonía, als Spannungsverhältnis oder als Ein­ heit durch und im Gegensatz, bezeichnet. Er veranschaulicht die Zusammengehörig­ 70

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keit der Gegensätze und die zwischen den Gegensätzen herrschende Spannung mit dem überzeugenden Bild des ­Bogens und der Leier: Die Sehnen eines Bogens und die Saiten einer Leier erhalten ihre Spannung dadurch, dass sie an zwei gegenüberliegen­ den Punkten befestigt und in beide Richtungen hin gedehnt sind. Die Menschen verstehen nicht, wie sich Widerstrebendes miteinander vertragen kann: Der Grund ist die „Verklammerung des Gegensätzlichen zur Einheit“, wie es beim ­Bogen und der Leier der Fall ist (B 51). Die Vernunft, der Logos, ist ebenso wie die Sprache – sie ist auch Logos – ­a llen denken­ den und verstehenden Wesen gemeinsam, was aber nicht heißt, dass alle auch wirklich vernünftig denken; denn der Akzent liegt nicht darauf, dass alle vernünftig denken, sondern dass alle vernünftig Denkenden Vernunft besitzen: Gemeinsam ist allen Menschen vernünftiges Denken. … Alle haben Anteil am Erken­ nen und besonnenen Denken (aber nur dann, wenn sie erkennen und besonnen den­ ken) (B 113 und 116). Im Fluss aller Dinge sieht Heraklit den Grund für die Koexistenz der gegensätzlichen Kräfte. Diese führen unaufhörlich miteinander einen produk­tiven und darum keines­ falls zerstörerischen Kampf, der das Prinzip allen Geschehens ist (B 53): Krieg ist der Vater von allem und das alles beherrschende Prinzip; die einen lässt er als Götter, die anderen als Menschen, die einen als Sklaven, die anderen als Freie in Er­ scheinung treten. Dieses Prinzip ist die ordnende Kraft, die jedem Wesen seine Position und Rolle in der großen Natur wie im Menschenleben zuweist. Die unablässige Auseinandersetzung zwischen entgegengesetzten Prozessen bewirkt eine ­ a lles umgreifende Harmonie. ­Darum bezieht sich auch Aristoteles (Nikomachische Ethik 8, 2, 1155b4) im Rahmen seiner Ausführungen über die Freundschaft auf Heraklit (B 22): Das Gegensätzliche passt zusammen, und die Unterschiede bilden eine harmonische Einheit. Man müsse wissen (B 80), dass Krieg Zusammengehörigkeit und Recht Auseinander­ setzung bedeute und dass sich alles in spannungsreicher Gegensätzlichkeit abspiele. Mit dem schöpferischen Kampf der Gegensätze ist die unaufhörliche Veränderung verbunden. Plutarch (Über das delphische E 18, 392B) über­liefert im Zusammenhang mit seinen Überlegungen über den ewigen Wandel der Dinge folgendes Heraklit-Zitat, um zu begründen, dass die sterbliche Natur keinen Anteil an einem (ewigen) Sein hat, sondern sich permanent in einem Prozess zwischen Werden und Vergehen befindet:

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Denn es ist unmöglich, zweimal in denselben Fluss zu steigen und nicht zweimal eine vergängliche Substanz in demselben Zustand vorzufinden, sondern durch die Heftig­ keit und Schnelligkeit ihrer Veränderung verteilt sie sich und sammelt sich wieder (wie das zu Tropfen aufspritzende Wasser), sie nähert sich an und entfernt sich (B 91). Platon beruft sich ebenfalls (Kratylos 402a) auf den Philosophen aus Ephesos. Mit der Feststellung Alles geht fort, und nichts bleibt zitiert er den berühmten, aber nicht sicher überlieferten Satz: Alles fließt.

v  A lles

fliesst

Aristoteles (De caelo 3, 1, 298b29 ff.): „Bestimmte Leute behaupten, alles sei ununterbro­ chen im Werden und im Fluss, und nichts sei dauerhaft. … Das wollen anscheinend viele andere zum Ausdruck bringen, besonders aber Heraklit aus Ephesos.“ Auch in seiner ­Metaphysik (1, 6, 987a33 f.) stellt Aristoteles fest, alles Wahrnehmbare sei unablässig im Fluss. Die Kurzfassung des Gedankens „Alles fließt“ findet sich zum ersten Mal in dem Kommentar des Simplikios zur aristotelischen Physik (8, 8, 265a2 ff.). Aristoteles selbst distanziert sich von den Naturwissenschaftlern, die behaupten, alles befinde sich unab­ lässig in Veränderung und im Fluss. Später formuliert Ovid (Metamorphosen 15, 177 f.): „Nichts auf der ganzen Welt ist beständig: Alles fließt (cuncta fluunt).“ Das ist auch der Grundgedanke des römischen Dichters in den Verwandlungssagen der Metamorphosen (15, 165): ­„Alles ändert sich dauernd. Nichts geht zugrunde.“  v Auch das Göttliche konstituiert sich aus einer Vielzahl von Gegensätzen, die sich auf­ einander beziehen und seinen Wandel begründen (B 67): Der Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Sattheit und Hunger (alles besteht aus Gegensätzen; das ist der Sinn). Er wandelt sich aber wie das Feuer, wenn ihm Duftstoffe beigemischt werden und es dementsprechend duftet. Wenn man sich Gott als die höchste Form des Wandels oder der Wandelbarkeit vorzu­ stellen hat, dann ist er auch die allumfassende Möglichkeit: Gott veranschaulicht, dass alles möglich ist. Wenn Heraklit die Vernunft, den Logos, absichtlich verhüllte, wie man schon in der Antike behauptete, muss der Grund nicht darin liegen, dass er sie vor der ungebildeten Masse schützen wollte. Er wollte sich nur nicht festlegen und in ein System einbinden lassen. Seine Auffassung vom Logos ließ ein statisches Verständnis von Welt und Natur nicht zu, sondern beruhte auf dem ewigen Wandel der sichtbaren Welt. Das besagt auch die später geprägte Formel „Alles fließt (pánta rheî)“. 72

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Wie

lebten die

Gedanken

und

Werke

fort?

Die weit verstreuten Herkunftsorte der Fragmente veranschaulichen, dass Heraklits Gedanken durch diejenigen überliefert (und interpretiert) wurden, die sie im Laufe vieler Jahrhunderte aufgegriffen und zur Verstärkung ihrer jeweils eigenen Argumen­ tation verwendet haben. Sophokles ist Heraklits Erbe und Fortsetzer, wenn er seine Helden auf die Notwen­ digkeit von Konflikt und Katastrophe verweist. Die stoische Philosophie beansprucht ihn als ihren Ahnherrn, indem sie den Logos als Gestalter der Welt interpretiert. ­Zenon, der Begründer der Stoa, hält den Logos einerseits für die schöpferische Macht, die die Materie zum Kosmos gestaltet, und andererseits für den Führer des Menschen auf sei­ nem persönlichen Lebensweg. Die Stoiker orientieren sich im Rahmen ihrer EkpyrosisLehre, die das periodische Aufgehen der Welt in das Feuer beinhaltet, an Heraklits Gleichsetzung von Logos und Feuer. Heraklits Rezeption durch die Stoa trägt ganz we­ sentlich dazu bei, dass der „dunkle“ Philosoph nicht vergessen wird. Die Kyniker schätzen ihn vor allem wegen seiner Verachtung der Masse. Heraklits Weltanschauung erhält in Ovids Metamorphosen, die bilderreich veranschaulichen, dass nichts zugrun­ de geht, sondern sich alles nur verändert, eine dichterische Form. Sein Einfluss auf das philosophische Denken reicht bis in die Neuzeit. Hegel, Nietz­ sche und Heidegger setzen sich intensiv mit ihm auseinander. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie sagt Hegel: „Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen.“ Auch auf Goethes Denken hat der Epheser stark gewirkt.

Was

bleibt?

Die Welt in ihrem unaufhörlichen Wandel zu sehen, kann ebenso eine pessimistischverneinende wie eine optimistisch-bejahende Lebenseinstellung zum Ausdruck brin­ gen. Dass sich alles wandelt, kann gleichermaßen tröstlich sein, wie zur Verzweiflung führen. Aber die stets aufeinander angewiesenen und dadurch sich gegenseitig in Span­ nung haltenden Gegensätze ­gehören zu Heraklits realistischem Bild von der Welt. Wenn der Logos G ­ esetzmäßigkeit und Ordnung in der Welt bedeutet, ist sein Gegensatz ­Gesetz- und Ordnungslosigkeit. Was spricht dagegen, alles Weltgeschehen als harmo­ nisches, aber spannungsreiches Miteinander von Ordnung und Ordnungslosigkeit zu verstehen?

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Griechischer Pessimismus: Theognis Auf dem Markt war Heraklit unverkäuflich, weil niemand sein ständiges Klagen hören wollte. Lukian lässt ihn in ein tiefes Jammertal blicken: Alles falle der Vernichtung anheim. Die Zukunft werde in jeder Hinsicht leidvoll sein. Alles werde verbrennen. Das grenzenlose Durcheinander in der Welt sei unerträglich. Die Welt gleiche einem riesigen Eintopf, in dem alles unterschiedslos zusammengerührt sei: Freude und Freudlosigkeit, Wissen und Dummheit. Diese extrem depressiv-pessimistische Ein­ stellung teilt der ­philosophische Dichter Theognis mit Heraklit. Name: Theognis von Megara Lebensdaten: um die Mitte des 6. Jh.s v. Chr. Literarische Gattung: Elegie und Epigramm Werke: Etwa 700 elegische Distichen in zwei Büchern, allerdings ohne i­ nneren Zusammenhang

Wer

war das?

Theognis entstammte dem reichen dorischen Adel der griechischen Stadt Megara. Durch demokratische Umwälzungen verlor er sein Vermögen und seinen Einfluss; er musste in die Verbannung gehen und lebte längere Zeit auf Sizilien. Aber wahrer Adel – so Theognis (147–148) – beruht nicht auf materiellen Werten, sondern auf mora­ lischer Überlegenheit: In der Gerechtigkeit ist die Tugend vollständig enthalten, und jeder ist ein Mann von Adel, Kyrnos, der gerecht ist.

Was

schr ieb er ?

Die überlieferten Distichen stellen kein zusammenhängendes Gedicht dar. Es handelt sich um Lebensregeln, wie sie schon lange vor Theognis in Kreisen des Adels kursier­ ten. Die Sammlung wurde durch Sprüche und Gedichte verschiedener späterer Dichter erweitert und hat erst im 4. oder 3. Jh. v. Chr. seinen heutigen Umfang erreicht. Hauptinhalt ist die Verteidigung der aristokratischen Ideale gegen das aufstrebende Bürgertum. Der Form nach handelt es sich um die lehrhafte Unterweisung eines Kna­ ben namens Kyrnos, der vielleicht gar nicht wirklich existierte. Die Verse waren als Lieder komponiert, die unter Flötenbegleitung in geselliger Runde vorgetragen wur­ den. Am Anfang der Sammlung weist der Autor ausdrücklich darauf hin (19–23), dass 74

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er seinen Versen mit dem Namen des Kyrnos sein Siegel aufgedrückt habe, damit sie nicht gestohlen werden könnten. Die Sammlung besteht aus vier Hauptteilen: aus (1) einem Gebetsteil, (2) einem „Kyrnos-Block“, der eine Einheit mit Prolog und Epilog bildet und wohl auch von Theognis selbst stammt (19–254), (3) aus Exzerpten aus griechischen Elegikern (255– 1022), die bis auf Solon und Tyrtaios meist anonym bleiben, und (4) aus weiteren Ex­ zerpten (1023–1220). Hinzu kommt eine Zusammenstellung von Versen zum Thema Knabenliebe (1231–1389), die erst im 9. Jh. n. Chr. – als anstößig (?) – aus dem übrigen Text herausgenommen und in einem Anhang, dem heutigen Buch 2, untergebracht wurden. Formal gehören die Elegien derselben Gattung an wie die Bauernweisheit der Werke und Tage des Hesiod: Wie bei diesem die Arbeitsethik des Bauern aus dem ­a ktuellen Erlebnis des Streits zwischen ihm und seinem Bruder Perses entsteht, so ent­ springen die Lehren des Theognis der geistigen Auseinandersetzung um die Adelsethik der Vergangenheit in einer Zeit des politischen Umbruchs. Theognis’ Schilderung der sozialen Zustände seiner Zeit (39–52) ist von Solon geprägt. Der Dichter wollte die Erziehungsweisheit und das Bildungsideal des Adels bei allen Menschen verbreiten und in bewusstem Gegensatz zu Hesiod die Grundzüge der Adelserziehung, die bisher nur mündlich überliefert waren, vor dem Vergessen bewah­ ren. Er versuchte, seinem Kyrnos zu zeigen, dass die derzeit herrschende Klasse für edel und unedel, gut und schlecht keine brauchbaren Maßstäbe mehr habe; denn diese ­könne man nur besitzen, wenn man auch Tradition habe. So vermittelt er seinem ­Adressaten ein Menschenbild (133–142), das von philosophischer Reflexion geprägt ist und in seinen Grundzügen von namhaften Philosophen – vor und nach Theognis – immer wieder erörtert wurde: Niemand, mein Kyrnos, ist selbst verantwortlich für Schaden und Vorteil, sondern die Götter verteilen beides: Kein Mensch handelt im Wissen darum, ob sein Handeln am Ende gute oder schlimme Folgen hat. Denn wenn er glaubt, etwas Schlechtes zu bewir­ ken, hat er oft schon etwas Gutes getan, und wenn er glaubt, etwas Gutes zu bewirken, hat er oft schon etwas Schlechtes getan. Keinem Menschen wird zuteil, was er wirklich will. Denn er stößt immer an die Grenzen seiner verhängnisvollen Unfähigkeit. Wir Menschen haben viele törichte Gedanken, weil wir nichts wissen. Die Götter aber voll­ enden alles nach eigenen Vorstellungen. Vielleicht greift Goethe mit seinem Satz „Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende“ (Maximen und Reflexionen VI 378) diesen Gedanken des Theognis auf. Denn Goethes Gewissenlosigkeit bedeutet nicht Boshaf­ tigkeit oder Verantwortungslosigkeit, sondern ist die existenzielle Unfähigkeit des Menschen, die Folgen seines Handelns wirklich umfassend vorauszusehen. Das ist auch der Grund für den Zynismus, den der Dichter in folgendem Epigramm zum Ausdruck bringt: Für Erdenbewohner ist es das Allerbeste, nicht geboren zu sein und das Licht der hellen Sonne nicht gesehen zu haben, wenn man aber nun einmal geboren ist, mög­ 75

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lichst schnell die Tore des Hades zu durchschreiten und da zu liegen bedeckt mit viel Erde (425–428). Ganz im Sinne der alten Adelsethik beschreibt Theognis die Lebenssituation eines Menschen (441–446), der in Leid und Unglück Haltung bewahren soll: Niemand ist nämlich in jeder Hinsicht vollständig glücklich. Aber der Edle erträgt das Leid, wenn es ihn trifft, ohne es sich anmerken zu lassen, der Erbärmliche kann weder dem Leid noch dem Glück mutig standhalten. Die Gaben der Götter kommen gewiss in vielfältiger Gestalt auf die Menschen zu. Doch es ist notwendig, alles ­geduldig hinzu­ nehmen, was von den Göttern kommt.

Wie

lebten die

Werke

fort?

Die Sentenzen und Lebensweisheiten des Textes sollten den Leser oder Hörer über die Stellung des Menschen in der Welt belehren. In seiner Tragödie Ödipus auf Kolonos (1224–1227) zitiert Sophokles den pessimistischen Kerngedanken des Theognis: Nicht geboren zu sein, übertrifft jeden Gedanken, wenn man aber lebt, dann ­möglichst schnell dorthin zu kommen, woher das Zweitbeste kommt. Platon erwähnt in seinen Nomoi (810d ff.) die Existenz vieler Gedichtsammlungen, die die Bildung und Erziehung von Heranwachsenden unterstützen sollten. In diesen ­Zusammenhang gehört auch die Sammlung des Theognis. Platon (Nomoi 630a ff.) ver­ gleicht Theognis mit Tyrtaios und gibt jenem den Vorzug vor diesem, weil er meint, dass sich in einem Bürgerkrieg die Tugend als ganze bewähre, während im Krieg mit feindlichen Mächten nur die persönliche Tapferkeit erforderlich sei. Platon zitiert Theognis (77 f.): Ein Mann verdient es, aufgewogen zu werden mit Gold und Silber, wenn er seine ­Zuverlässigkeit in einem schlimmen Bürgerkrieg beweist. Eduard Mörike veröffentlichte in seiner Classischen Blumenlese von 1840 eine Auswahl von Theognis-Epigrammen in deutscher Übersetzung.

Was

bleibt?

Bei aller Sinnlosigkeit und Unberechenbarkeit der menschlichen Existenz empfiehlt der Dichter, geduldig hinzunehmen und mutig zu ertragen, was auch immer geschieht. Wer dies schafft, beweist wahren Adel, der nicht auf Herkunft und materiellen Werten, son­ dern auf moralischer Überlegenheit beruht. Denn jeder Gerechte ist ein Mann von Adel. 76

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Wissen des Nichtwissens: Sokrates (15) H.: Z.: H.: K.: Sokrates: K.: Sokr.:

Soll ich jetzt diesen geschwätzigen Athener da holen lassen? Ja, tu das. Komm her du! Wir haben hier einen tüchtigen und verstän­digen Philoso­ phen! Wer will diesen Heiligsten der Heiligen k­ aufen! Erzähl mir, was du am besten kannst! Ich liebe Knaben und verstehe viel von Erotik. Warum soll ausgerechnet ich dich kaufen? Denn ich brauche einen Erzie­ her für meinen hochbegabten Sohn. Wer dürfte geeigneter sein als ich, um mit einem schönen Knaben zusam­ men zu sein? Aber ich interessiere mich nicht für schöne Körper, sondern es geht mir nur um die Seele, die ich für schön halte. Sei unbesorgt. Auch wenn sie mit mir zusammen unter derselben Decke liegen, wirst du nicht behaupten hören, dass sie etwas Schlimmes von mir erfahren haben ­(damit spielt Lukian auf Platon, Symposion 216d–219d an).

v Sokr ates

und das

Schöne

(1) Im platonischen Gorgias führt Sokrates aus (474c–476e), dass echte Schönheit ­wahre Lust und wirklichen Nutzen schafft. Nur was Lust und Nutzen erzeugt, ist schön. Das ist das Kriterium. Schönheit muss also als lustvoll und nützlich wahrge­ nommen werden. Sokrates macht dies mit folgender Feststellung besonders deutlich (475a): „Wenn von zwei schönen Dingen das eine schöner ist, dann überragt es das andere entweder durch eines von diesen beiden, d. h. durch Lust oder Nutzen oder durch beides, d. h. durch Lust und Nutzen.“ (2) Im Phaidros (249d–253c) wird Schönheit durch Wiedererinnerung (Anámnesis) an die Idee des Schönen erkannt, die die Seele in ihrer vorkörperlichen Existenz ­gesehen hat. (3) Im Phaidon (100c-d) erklärt Sokrates: „Wenn mir jemand sagt, etwas sei darum schön, weil es ein schönes Äußeres habe, dann nehme ich das so hin und halte mich ganz einfach daran, dass nichts anderes etwas so schön macht wie die Anwesenheit des Schönen an sich oder die Teilhabe an diesem.“ Demnach beruht die Schönheit eines Menschen darauf, dass das Schöne in ihm ­vorhanden ist. Wenn man das Schöne sucht, dann will man aber nicht wissen, aus ­welchen materiellen Bestandteilen es besteht, sondern was das ist, was einen als beson­ ders schön anrührt: Hier geht es also um das Wesen, das Eigentliche, das sich nicht aus dem Sichtbaren ableiten und vom Sichtbaren her beschreiben lässt. Man will ebenso wenig wissen, welche psychologischen oder physiologischen (materi­ ellen) Vorgänge beim Anblick des Schönen ablaufen, sondern worin die Schönheit 77

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­ esteht, die an einem schönen Menschen zur Wirkung kommt. Man möchte wissen, b was das Unvergängliche, das Gültige, das Eigentliche des Schönen im Gegensatz zum empirisch Wahrnehmbaren ist – und das ist die Idee des Schönen. Doch unter diesem Gesichtspunkt wird das sinnlich Wahrnehmbare nicht abgewertet, im Gegenteil: Es wird enorm aufgewertet. Denn wenn man annimmt, dass das Schöne an sich aus der sinnlich wahrnehmbaren Schönheit hervorstrahlt, geht man davon aus, dass diese am Glanz der Idee des Schönen teilhat. Wenn man davon überzeugt ist, dass die Idee des Schönen in der schönen Erscheinung anwesend ist, gesteht man dieser keinen geringeren, sonder eher einen höheren Wert zu. In der Naturgeschichte (34, 55) des Plinius heißt es übrigens, dass der berühmte bildende Künstler Polyklet im 5. Jh. v. Chr. eine Statue anfertigte, die man als Muster für die ­Beurteilung sichtbarer Schönheit verwenden sollte. Er verfasste darüber auch eine ­Abhandlung mit dem Titel Kanon. Spätere Künstler leiteten daraus die Kriterien der Schönheit ab (z. B. die noch heute für Schönheitswettbewerbe maßgebende Proportio­ nalität des weiblichen Körpers). Das männliche Schönheitsideal wurde übrigens von Leonardo da Vinci in Anlehnung an den Homo bene figuratus des r­ ömischen Architek­ ten Vitruv (84–27 v. Chr.) geprägt (De architectura 3, 1). Auf der italienischen Ein-EuroMünze ist die Idealfigur abgebildet, die Leonardo etwa 1492 gezeichnet hatte. (4) Im Symposion gewinnt man den Anblick des Schönen an sich nach langem und mühevollem Umgang mit dem sinnlich wahrnehmbaren Schönen. Nur die intensive sinnliche Erfahrung führt zur Schau der Idee des Schönen. Die treibende Kraft ist der Eros, den der platonische Sokrates als das Verlangen nach dem Schönen und nach einer Zeugung im Schönen definiert. „Wer nämlich diese Sache richtig anfangen will, muss schon als junger Mensch beginnen, auf schöne Menschen zuzugehen, und wenn er es richtig machen will, einen einzigen Menschen lieben und dabei schöne Gedanken ha­ ben und hervorrufen. Später wird er erkennen, dass das Schöne an der Schönheit bei allen Menschen gleich ist und dass es eine große Dummheit wäre, wenn er sich nur zu einem äußerlich schönen Menschen hingezogen fühlte, statt die Schönheit aller Men­ schen für ein und dieselbe zu halten. Wenn er dies erkannt hat, wird er zu einem Lieb­ haber aller schönen Menschen, der dann den heftigen Drang nach einem einzigen Menschen für wenig bedeutend hält. Darauf wird er schließlich die seelische Schönheit für herrlicher halten als die körperliche“ (210a-b). Diotima, die unbekannte Frau aus Mantineia, auf die sich Sokrates beruft, beschreibt den weiteren Aufstieg zum Schönen. Er beginnt mit der Liebe zu einem einzelnen Menschen und erreicht das Ziel, wenn er die absolute, ewige und immer mit sich selbst identische Schönheit sieht, an der alles andere teilhat, was schön ist, und dem es seine Schönheit verdankt. Erst dann ist das Leben lebenswert. Diotima erklärt Sokrates, dass dies ganz plötzlich geschieht (210e): „Wer nämlich auf diese Stufe der Liebe zum Schönen gelangt, während er schrittweise und richtig manches Schöne betrachtet, wird ganz plötzlich das Ziel seiner Liebeskunst erreichen und ein wunderbares wesenhaft Schönes erblicken – eben das Ziel, lieber Sokrates, dem alle ­früheren Anstrengungen galten.“ (5) Einen ganz anderen Begriff von Schönheit vertritt Xenophon, der Schüler des Sokra­ tes: Je besser ein Gegenstand im Gebrauch seinen Zweck erfüllt, desto wertvoller, nütz­ 78

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licher und zugleich schöner ist er. Darum ist selbst ein Mistkorb wertvoll und schön, wenn er zweckmäßig ist (Memorabilien 3, 8). Für Xenophon besteht also die Schönheit einer Sache in ihrer Brauchbarkeit; sie ist kein von einem Nutzen unabhängiges, rein ästhetisches Phänomen. Der ökonomisch denkende Athener stellt damit seinen Sokra­ tes als Vertreter eines konsequenten Utilitarismus dar. Auch in Xenophons Symposion setzt Sokrates das Schöne mit dem Brauchbaren und Nütz­lichen gleich (5, 4). Sokrates will damit sagen, dass sogar er, der scheinbar Hässliche, schöner ist als der schöne Kri­ tobulos. Denn er gebraucht seine Glieder und Organe geschickter als dieser. In den Memorabilien (3, 19, 9–15) steht die Euchrestie (die gute Brauchbarkeit) im Mit­ telpunkt des Gesprächs, das Sokrates mit dem Panzerschmied Pistias führt: Wenn der Panzer seinem Besitzer passt, erfüllt er das Kriterium der Euchrestie. Daher sollte man sich auch keinen bunten oder vergoldeten Panzer kaufen, der nur dann wirklich schön wäre, wenn er im Kampf seinen Zweck erfüllte.  v K.:

Es ist kaum zu glauben, dass du, Sokrates, ein Knabenliebhaber, dich aus­ schließlich für die Seele interessierst, noch dazu, wenn du die Gelegenheit zu körperlicher Liebe hast und unter der­selben Decke liegst. (16) Sokr.: Ich schwöre es dir, beim Hund und bei der Platane, dass es so ist. (Sokrates schwört beim Hund auch in Platons Gorgias 461a und anderswo.) Beim Herakles, was sind das für verrückte Götter! K.: Sokr.: Wie meinst du das? Glaubst du nicht, dass der Hund ein Gott ist? Siehst du denn nicht, welche Bedeutung Anubis bei den Ägyptern oder Sirius am Himmel und Kerberos in der Unterwelt haben? (17) K.: Du hast recht. Ich habe mich geirrt. Aber wie lebst du überhaupt? Sokr.: Ich lebe in einer Stadt, die ich mir selbst geschaffen habe. Ich bediene mich einer unbekannten Verfassung (Anspielung auf Platons Politeia) und befol­ ge meine eigenen Gesetze. K.: Ich würde gern ein Beispiel deiner Gesetze hören. Sokr.: Hör dir das Wichtigste an, das bei mir für die Frauen gilt: Keine Frau soll einem einzigen Mann gehören, sondern mit jedem zusammen sein, der ihr Partner sein will. K.: Meinst du, dass damit die Gesetze über den Ehebruch überflüssig sind? Ja, wirklich, beim Zeus, und überhaupt das ganze kleinliche G ­ erede über Sokr.: dieses Thema. K.: Was hältst du von hübschen Knaben? Sokr.: Ihre Küsse sollten eine Belohnung für die Besten sein, die eine herrliche und verwegene Tat vollbracht haben. (18) K.: Bemerkenswert! Was für eine Großzügigkeit! Was aber ist für dich der Kern deiner Weisheit? Sokr.: Die Ideen, d. h. die Grundformen des Seienden. Denn was du siehst, die Erde, die Dinge auf der Erde, den Himmel, das Meer – von allen diesen Dingen existieren unsichtbare Urbilder jenseits unserer Welt. K.: Wo befinden sich diese denn? 79

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Sokr.: K.: Sokr.:

Nirgendwo. Denn wenn sie irgendwo wären, dann gäbe es sie nicht. Ich kann diese Urbilder, die Ideen, von denen du sprichst, nicht sehen. Selbstverständlich nicht. Denn das Auge deiner Seele ist blind. Ich aber sehe Bilder von allem: also auch ein unsichtbares „Du“ und ein unsichtba­ res „Ich“. Das heißt: Ich sehe alles jeweils ­doppelt.

v  Platonische Ideen Aristoteles (Metaphysik A 987b1–10) hatte schon auf die gedankliche Nähe zwischen dem Allgemeinen, für das sich Sokrates interessierte, und den platonischen Ideen hin­ gewiesen: „Sokrates befasste sich nur noch mit ethischen Themen und überhaupt nicht mehr mit der ganzen Natur. Allerdings interessierte er sich im Bereich der Ethik für das Allgemeine und richtete sein Denken vor allem auf Begriffs­bestimmungen. Platon griff diesen Gedanken auf und nahm an, dass es eine allgemeingültige, unveränder­ liche Begriffsbestimmung nur von etwas anderem als von sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen geben könne. Denn diese veränderten sich fortwährend. Was sich nun im Bereich des wirklich und dauerhaft unveränder­lichen Seienden befindet, nennt er ‚Ideen‘. Das sinnlich Wahrnehmbare gehöre nicht zum Seienden und werde nur nach diesem bezeichnet. Denn das sinnlich Wahrnehmbare werde nach den Ideen benannt, an denen es teilhabe.“ Durch die Ideen ist es möglich, das sinnlich Wahrnehmbare zu erfassen, zu definieren und auch zu kommunizieren.  v K.: H.: K.: (19) H.: K.: H.:

Dann muss ich dich kaufen! Denn du bist so weise und scharfsinnig. Lass hören, Hermes: Welchen Preis verlangst du für ihn? Gib mir zwei Talente! Er ist für den geforderten Preis gekauft. Allerdings wirst du das Geld erst später bekommen. Wie heißt du denn? Dion von Syrakus. Dann gehört er dir – mit meinem Segen.

Dass Sokrates dem Käufer Dion von Syrakus so überraschend schnell zugesprochen wird, hat einen einfachen Grund: Der historische Dion (geb. 409 v. Chr.) war bei Pla­ tons erstem Aufenthalt in Syrakus (388 v. Chr.) dessen Schüler und später Mitregent des Tyrannen Dionysios II. Platon hatte vergeblich gehofft, mit Dions Hilfe seine poli­ tischen Vorstellungen verwirklichen zu können. Lukian nimmt es aber mit der historischen Wirklichkeit nicht ganz so genau. Denn der historische Dion hätte allenfalls Platon, nicht aber Sokrates auf dem Sklavenmarkt kaufen können. Die Vorstellung des Sokrates durch Hermes lässt aber noch viele andere Fragen of­

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fen, die zu klären sind, wenn man noch einige andere Eigenschaften und Fähigkeiten des berühmten athenischen Philosophen zur Sprache bringt. Name: Sokrates aus Athen Lebensdaten: 469–399 v. Chr. Quellen: Die Schriften seiner Schüler sind maßgebende, aber nicht immer überein­ stimmende Zeugnisse seiner Persönlichkeit. Xenophon zeichnet sein Bild des ­Sokrates in seinen Memorabilien, im Symposion, im ­Oikonomikos und in der ­Apologie. Platon stellt sein Verständnis des Sokrates in allen seinen Dialogen dar. Die Biografien und Lehrmeinungen berühmter Philosophen des Diogenes Laërtios (3. Jh. n. Chr.) ent­halten ein Kapitel über Sokrates (2, 18–47), für das der Autor unter ­anderem auch Platons und Xenophons Schriften verwendet hat – von vielen anderen Nachrichten über Sokrates ganz zu schweigen.

Wer

war das?

Sokrates wurde 469 v. Chr. als Sohn des Bildhauers Sophroniskos und der Hebamme Phainarete in Athen geboren. Er hat das Handwerk des Steinmetzen gelernt und soll an Marmorfiguren auf der Akropolis mitgearbeitet haben. Es heißt, er habe die Redekunst gelernt und gelehrt. Die Dreißig Tyrannen, die 404/403 v. Chr. ein Gewaltregime in Athen errichteten, haben ihm aber ein Berufsverbot erteilt. Er verbrachte sein Leben fast ausschließlich in Athen, leistete aber seinen Militärdienst als Hoplit während des Peloponnesischen Krieges zwischen Athen und Sparta (431–404 v. Chr.) und nahm am Feldzug der Athener nach Amphipolis (422 v. Chr.) teil. In der Schlacht bei Delion (424 v. Chr.) rettete er Xenophon das Leben, als dieser vom Pferd ­gestürzt war. Bei der Niederlage der Athener fiel er durch seine Ruhe und Gelassenheit auf und trug zu ­einem geordneten Rückzug bei. Auch an dem Feldzug nach Poteidaia (432 v. Chr.) war er beteiligt. Dort erhielt er eine Kriegsauszeichnung, gab diese aber an Alkibiades wei­ ter, mit dem er befreundet war. Für seine Tapferkeit rühmt ihn dieser im platonischen Symposion (219e–220e). Er verweigert Befehle der Dreißig Tyrannen, weil er sie für rechtswidrig hält, und verlangt den Freispruch der zu Unrecht verurteilten Feldherren, die man für die Niederlage der Athener in der Schlacht bei den Arginusen (404 v. Chr.) verantwortlich macht. Platon schildert Sokrates (Symposion 215d–216a) als eine unwidersteh­liche, charis­ matische Persönlichkeit: Gute Musiker sind in der Lage, Menschen zu verzaubern und mitzureißen. Du aber, Sokrates, unterscheidest dich dadurch von einem Musiker, dass du ohne ein Instru­ ment, sondern durch bloße Worte dasselbe erreichst. Wenn wir jedenfalls einen ande­ ren reden hören, mag es auch ein sehr guter Redner sein, dann bedeutet uns das gar nichts, um es deutlich zu sagen. Wenn aber jemand dich selbst hört oder einen anderen, der von deinen Worten erzählt, mag auch der Erzählende ganz bedeutungslos sein, sind 81

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wir alle, die wir zuhören, Frau, Mann und Kind völlig hingerissen und verzaubert. … Denn wenn ich dich – so Alkibiades bei Platon – höre, dann klopft mir das Herz heftiger als denen, die von einem religiösen Rausch ergriffenen sind, und unter dem Eindruck deiner Worte schießen mir die Tränen in die Augen. Und ich sehe, dass es auch sehr vielen anderen genauso geht. Wenn ich dagegen Perikles und andere ausgezeichnete Redner hörte, dann glaubte ich zwar, dass sie gut redeten, aber ich habe niemals so ­etwas erlebt, und meine Seele geriet auch nicht in Unruhe und hatte keinen Grund, sich darüber zu ärgern, völlig hilflos zu sein. Aber dieser Satyr hier hat mir oft genug be­ wusst gemacht, dass ich mein Leben ändern muss. Man erzählt auch, Sokrates habe zwei Frauen gehabt: Myrtho und Xanthippe; einige behaupten sogar, er sei gleichzeitig mit den beiden Frauen verheiratet gewesen. Sicher ist, dass er drei Söhne hatte.

v Fr auen

um

Sokr ates

Soll man heiraten? Auf die Frage, ob man heiraten soll oder nicht, antwortete Sokrates: „Du wirst beides bereuen“ (D. L. 2, 33). Xanthippe war eine zänkische Ehefrau. Als sie Sokrates wieder einmal heftig aus­ schimpfte und ihm sogar noch schmutziges Wasser ins Gesicht goss, sagte dieser ­seelenruhig: „Es ist doch klar, dass Xanthippe, wenn sie donnert, auch Regen bringt“ (D. L. 2, 36). Das Leben mit einer widerspenstigen und eigentlich unausstehlichen Frau verglich ­Sokrates mit der schweren Arbeit eines Dompteurs: Wenn dieser mit besonders schwie­ rigen Tieren fertig werde, dann seien gefügigere kein Problem mehr für ihn. So sei es auch mit einer zänkischen Frau. Wenn er mit ihr auszukommen lerne, dann komme er auch mit allen anderen Menschen gut zurecht (D. L. 2, 37).  v Sokrates soll betont anspruchslos gelebt haben. Immer wieder wird hervorgehoben, dass er sich durch nichts korrumpieren ließ und von niemandem Geld annahm. Aber seine Popularität in Athen war auch sein Verhängnis. Im Jahr 399 v. Chr. wur­ de er als Siebzigjähriger vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und durch den Gift­ becher hingerichtet. Die Anklageschrift warf ihm vor, er habe die vom Staat anerkann­ ten Götter geleugnet, neue Götter erfunden, die Jugend verführt und verdorben und sie der athenischen Demokratie entfremdet.

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Was

schr ieb er ?

Die Antwort ist lapidar: nichts. Sokrates hinterließ keine einzige Zeile. Es ist unbe­ kannt, ob er auf schriftliche Äußerungen und Lehrvorträge verzichtete, um sich von den Sophisten, den kommerziellen Wissensvermittlern ­seiner Zeit, zu distanzieren. Aber schon seine Zeitgenossen bezeugen seinen Einfluss und seine Wirkung; er war also keine literarische Kunstfigur, sondern eine historische Persönlichkeit. Alles, was er geäußert haben soll, ist in den Schriften Späterer enthalten, die sich als seine philo­ sophischen Nachfolger sahen. Für das Verständnis des Sokrates wäre die Antwort auf die Frage aufschlussreich, warum er nichts geschrieben hat. Wer nichts Schriftliches hinterlässt, hat entweder kein Interesse daran, anderen Menschen seine Meinungen und Ansichten mitzuteilen, oder er zweifelt daran, schriftlich fixierbares Wissen zu besitzen und vermitteln zu können. Auf den ersten Blick dürfte dies nicht für Sokrates gelten. Denn laut unbestrit­ tener Überlieferung hatte ihm der Gott Apollon in einem Orakelspruch verkündet, dass er der weiseste Mensch auf Erden sei. Dazu soll er vor Gericht gesagt haben ­(Platon, Apologie 21a): Ihr wisst doch wohl, wie mein Freund Chairephon war, wie heftig in allem, was er an­ packte. So hat er es auch einmal gewagt, nach Delphi zu gehen und das Orakel darüber zu befragen – regt euch nur nicht auf, bitte, ihr Männer; denn er fragte nur, ob jemand weiser sei als ich. Da verkündete die Pythia, niemand sei weiser. Und das kann euch sein Bruder hier bezeugen, denn Chairephon selbst lebt nicht mehr. … Nachdem ich dies gehört hatte, überlegte ich bei mir: Was meint denn wohl der Gott und was will er damit sagen? Denn es ist mir doch völlig klar, dass ich keine Spur von Weisheit an mir entdecken kann. Was also meint er, wenn er behauptet, ich sei der Weiseste? Denn er lügt doch wohl nicht; das darf er nicht. Um das Orakel zu widerlegen, sucht Sokrates jemanden auf, der offensichtlich weiser zu sein scheint als er; dieser Mann habe sich selbst zwar für weise gehalten, aber im Gespräch mit ihm habe Sokrates entdeckt, dass er es in Wirklichkeit gar nicht war. Dadurch habe er, Sokrates, sich unbeliebt gemacht und bei sich im Stillen gedacht: Ich bin wirklich weiser als dieser; denn keiner von uns beiden scheint etwas Schönes und Gutes zu wissen; doch dieser Mann glaubt etwas zu wissen, obwohl er nichts weiß; ich aber glaube wenigstens nicht, etwas zu wissen, da ich ja auch tatsächlich nichts weiß. Offensichtlich bin ich also in diesem winzigen Punkt weiser als er, dass ich, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube (Platon, Apologie 21d). Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass Sokrates mit einer anderen Absicht weitere Gespräche mit scheinbar Weisen führte. Er wollte nur für sich selbst klären, was der Gott mit seinem Spruch meinte. Dieser – so Sokrates – gebe ihm anscheinend nur zu

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verstehen, dass menschliche Weisheit wenig oder gar keinen Wert habe. Apollon habe Sokrates nur als ein Beispiel zur Veranschaulichung dieser Tatsache ausgewählt: Unter euch Menschen ist derjenige der weiseste, der wie Sokrates erkannt hat, dass er in Bezug auf die Weisheit nichts wert ist (Platon, Apologie 22b). Sokrates interpretiert diese Aussage als den Auftrag des Gottes zu prüfen, ob jemand, der in dem Ruf steht, weise zu sein, wirklich weise ist; wenn er herausfinde, dass dies nicht der Fall sei, helfe er dem Gott, indem er dem Betreffenden zeige, dass er nicht weise sei. Das Handeln des Sokrates im Sinne des delphischen Orakels führt also nicht zur Feststellung oder gar zur Vermittlung von Wissen, sondern nur zur Aufdeckung von Nichtwissen. Weil So­k rates den Gott Apollon ernst nimmt, verzichtet er folgerich­ tig auch auf die schriftliche Fixierung und Mitteilung eines Wissens. Mit dem apollini­ schen Orakel legitimiert und inszeniert er lediglich seinen Impuls zur Selbstaufklärung und Selbsterprobung, die im Wissen des Nichtwissens ihr Ziel erreicht. Unerklärlich bleibt, dass Sokrates sein Todesurteil hinnimmt und alle Rettungsver­ suche durch seine Freunde ablehnt. Aber er begründet sein Verhalten mit seinem Dai­ monion, seiner inneren Stimme, die ihm nie sagt, was er tun soll, sondern immer nur abrät, ein Vorhaben zu verwirklichen. Ich hatte von Kindheit an eine innere Stimme, die jedes Mal, wenn sie sich hören lässt, mich von dem abbringt, was ich zu tun vorhabe, aber mir niemals zuredet. … Jetzt aber hat sie mir im Zusammenhang mit diesem Gerichtsverfahren nicht ein einziges Mal widersprochen. … Also muss das, was mir hier passiert, etwas Gutes sein (Platon, ­Apologie 31d und 40b). Das sokratische Daimonion ist also eine verneinende, warnende, verbietende Kraft wie schon die Mehrzahl der Zehn Gebote der Bibel. Sie hält davon ab, nicht alles zu tun, was man tun kann. Im Kriton erklärt Platon, Sokrates habe die Flucht aus dem Gefängnis abgelehnt, weil er nicht gegen das Gesetz habe handeln wollen und dieser Institution seinen Respekt nicht habe verweigern dürfen. Denn sie bestehe länger als ein Menschen­ leben und dürfe im Interesse eines Einzelnen nicht gefährdet werden; sie schütze den Menschen dauerhaft vor dem Menschen und vor allem möglichen Unrecht. Bei aller Fragwürdigkeit und Ungewissheit im Einzelnen – die Institution als solche sei nicht verhandelbar.

v Sokr atische Ironie? In Platons Politeia (1, 337a) erklärt Sokrates, er wisse nicht, was Gerechtigkeit sei. Dar­ auf ruft der Sophist Thrasymachos belustigt aus: „Beim Herakles, da ist sie wieder, die vorgespielte Naivität des Sokrates; er sagt etwas anderes, als er denkt! Ich wusste es 84

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ganz genau und sagte es auch den Anwesenden voraus, dass du nicht die Absicht hät­ test, wirklich zu antworten, sondern Unwissenheit vortäuschen würdest und alles ­andere lieber tätest als zu antworten, wenn dich jemand etwas fragte.“ Cicero urteilt darüber später (Brutus 292) folgendermaßen: „Ich halte jene ‚Ironie‘, über die Sokrates verfügt haben soll und die er auch in Platons, Xenophons und Aischi­ nes’ Dialogen praktiziert, für ausgesprochen geistreich. Denn es ist Zeichen eines sehr gebildeten und taktvollen Menschen, wenn man über Gerechtigkeit diskutiert, diese sich selbst abzusprechen, aber sie denen zum Schein zuzugestehen, die sie für sich be­ anspruchen, wie es Sokrates bei Platon tut, der Protagoras, Hippias, Prodikos, Gorgias und die anderen über den grünen Klee lobt, sich selbst aber als völlig unwissend und ungebildet darstellt.“  v

Wie

wur de sein

Wir ken

über liefert?

Die bedeutendsten Berichte und Anekdoten über Sokrates stammen von Platon und Xe­ nophon, die als seine Schüler gelten. Soweit die Nachrichten in Dialogform über­liefert sind, vermitteln sie den Eindruck besonderer Wirklichkeitsnähe. Das Bild des Sokrates wurde aber auch wesentlich geprägt von den Dichtern der griechischen Komödie und vor allem von Aristophanes, der Sokrates in seinen Wolken als Naturphilosophen dar­ stellt, während andere bezeugen, Sokrates habe eine tiefgreifende Wende herbei­geführt, indem er die Naturphilosophie ablehnte, die Philosophie vom Himmel herabholte und ins Leben der Menschen brachte (Cicero, Tuskulanische Gespräche 5, 10).

Wie

lebt sein

Bild

fort?

Aufgrund des Fehlens überlieferungsfähiger Schriften des Sokrates selbst kann die Frage nur sein, wie sein Bild fortlebt. Sokrates ist bis heute die Leit­figur der europäischen Phi­ losophie. Seine Werke sind seine Worte, die in den Werken seiner Schüler, Nachfolger und Bewunderer sein Bild geformt haben. Nach seinem Tod entstanden unterschiedliche Philosophenschulen, die sein philo­ sophisches Erbe verwalteten. Sokrates selbst gründete zwar keine Schule, aber alle nach ihm entstandenen philosophischen Schulen wurden von einem seiner Anhänger oder Verehrer gestiftet oder ins Leben gerufen: Platon gründete die Akademie, die längere Zeit dem Skeptizismus eines Karneades huldigte und die fast tausend Jahre lang bis 529 n. Chr. existierte, und Aristoteles den Peripatos. Aristipp inspirierte die Kyrenaïker. Antisthenes wurde die Leitfigur des sogenannten Kynismus. Hundert Jahre nach dem Tod des Sokrates wurden Zenon aus Kition und Epikur, angeregt durch Antisthenes und Aristipp, die Stifter zweier Schulen von nachhaltiger Wirkung. Die epikureische war geprägt durch die Freiheit des Denkens, durch den Kampf gegen Aberglauben und Fanatismus und durch eine Ethik, die ein schmerzfreies und heiteres Leben ohne An­ strengung versprach; die stoische hingegen arbeitete rastlos an der Vervollkommnung 85

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menschlicher Weisheit und Tugend. Nicht zuletzt zelebrierte der römische Stoiker Seneca, den Kaiser Nero zum Selbstmord zwang, seinen Tod nach dem Vorbild des Sokrates (Tacitus, Annalen 15, 62–64).

Was

bleibt?

Wer begründetes Wissen von dem hat, was gut ist, wird auch richtig handeln. Es gibt keinen Gegensatz zwischen Tugend und Wissen. Diese Auffassung wird Sokrates zuge­ schrieben. Aber bezweifelt Sokrates nicht auch, dass Wissen überhaupt möglich ist?

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Kuchen für Epikur? (19) H.: Jetzt rufe ich dich auf, ja dich, den Jünger Epikurs. Wer will ihn kaufen? Er ist ein Schüler des Demokrit, jenes lachenden Philosophen, und des Aristipp, des ewig Betrunkenen. Wir haben beide eben gerade angeboten. (Epikur hat die Lehre von den Atomen von Demokrit und die Vorstellung, dass die Lust das höchste Gut ist, von Aristipp übernommen.) In einer bestimmten Hinsicht ist er jedoch klüger als diese beiden, weil er sie an Gottlosigkeit wohl noch über­ trifft. K.: Was soll er denn kosten? H.: Zwei Minen. K.: Hier hast du das Geld. Aber ich möchte noch etwas wissen: Was isst er beson­ ders gern? H.: Süßigkeiten, Honigkuchen und vor allem Feigen. K.: Kein Problem. Denn wir werden ihm Kuchen aus gepressten karischen Feigen besorgen. Der Verkauf des Epikureers oder gar des Epikur selbst (341–270 v. Chr.) wird nicht weiter inszeniert. Dabei hätte dieser Philosoph Stoff für eine Satire ­geliefert. Die Ab­ sicht, ihm ein Stück Kuchen zu servieren, wäre ein Ansatzpunkt gewesen. Warum sich Lukian diese Gelegenheit entgehen lässt, ist nicht bekannt. Es lohnt sich aber, einen Blick auf Epikurs therapeutische Philosophie zu werfen und anzudeuten, dass Epikur mehr ist als ein Kuchenfreund. Denn für ihn ist Philoso­ phie eine Bemühung um Aufklärung, die den Menschen mit argumentierender Rede aus Unwissenheit und Unmündigkeit, den Quellen seelischer Not, herausführt. So ist die Aufgabe, die Epikur der Philosophie zuweist, vor allem Psychotherapie. Demokrit soll bereits gesagt haben: „Medizin heilt die Krankheiten des Körpers, Weisheit befreit die Seele von den Leidenschaften“ (VS 68 B 31). Diese Instrumentali­ sierung der philosophischen Vernunft zu therapeutischen Zwecken ist in der Antike weit verbreitet. Kein antiker Philosoph aber hat nach Sokrates die Wirkung der Philo­ sophie für die Heilung der menschlichen Seele so entschieden vertreten wie Epikur: Leer ist die Rede jenes Philosophen, von der nicht irgendeine Leidenschaft des Men­ schen geheilt wird. Wie nämlich eine Medizin nichts nützt, wenn sie nicht die Krank­ heiten aus dem Körper vertreibt, so ist auch eine Philosophie nutzlos, wenn sie nicht die Leidenschaften aus der Seele vertreibt (Epikur, Frg. 221 Us.). Auch in seinem Briefe an Menoikeus (122) sagt Epikur, man müsse in jedem Lebens­ alter philosophieren; denn es sei nie zu früh oder zu spät, sich um die Gesundheit der Seele zu kümmern.

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Gesund aber ist die Seele nur dann, wenn sie von vier Ängsten befreit ist: (1) vor himmlischen Erscheinungen, (2) vor einem Leben nach dem Tode, (3) vor der Gren­ zenlosigkeit von Schmerz und (4) vor der Unendlichkeit des Begehrens. Dass eine psychotherapeutische Philosophie auf die Kenntnis natürlicher Vorgänge angewiesen ist, hebt Epikur in seinem Katechismus hervor: Es wäre unmöglich, die Furcht vor den bedeutendsten Dingen zu beseitigen, wenn man nicht erkennen würde, was die Natur des Ganzen ist, sondern in Angst vor den Ge­ schichten lebte, die einem die Mythen erzählen. Folglich wäre es unmöglich, ohne ­Naturphilosophie ungetrübte Freude zu empfinden (Nr. 12).

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Angepasste Vielseitigkeit: Die Stoiker (20) Z.:

Ruf den Nächsten auf: den Kerl da mit dem kahlen Schädel und dem fins­ teren Blick – den Stoiker! H.: Geht in Ordnung. Anscheinend wartet schon eine große Menge von Käu­ fern auf ihn. Mit ihm habe ich die Tugend in Person und die vollkom­ menste aller philosophischen Schulen im Angebot. Wer hat den Wunsch, als Einziger allwissend sein? K.: Wie meinst du das? H.: Dass er in allem einzigartig ist: weise, gut, gerecht, tapfer, König, Redner, reicher Mann, Gesetzgeber – und was es sonst noch alles gibt. K.: Dann ist er also auch der einzige Hahn und – beim Zeus – der einzige Gerber, Zimmermann und so weiter? H.: So sieht es aus. (21) K.: Komm her, du Einzigartiger! Und sag mir, deinem Käufer, was für einer du bist, und vor allem, ob du dich nicht darüber ­ärgerst, verkauft zu wer­ den und ein Sklave zu sein. Chrysipp: Auf keinen Fall ärgere ich mich. Denn das liegt nicht in der Macht des Menschen. Was aber nicht in unserer Macht liegt, ist irrelevant für uns. K.: Ich verstehe nicht, was du meinst. Chr.: Wieso? Du verstehst nicht, dass manche Dinge bevorzugt, manche wiede­ rum abgelehnt werden? K.: Ich verstehe immer noch nichts. Chr.: Klar. Denn du bist mit unserer Begriffswelt nicht vertraut und hast auch keine „begreifende Vorstellung“. Wer zudem die logische Theorie be­ herrscht, kennt nicht nur diese Begriffe, sondern weiß auch, was ein ­Vorgang und ein Nebenvorgang ist und wie sie sich voneinander unter­ scheiden. K.: Im Namen der Weisheit – weigere dich nicht, mir zu erklären, was ein Vorgang und was ein Nebenvorgang ist. Denn ich bin wie betäubt vom zauberhaften Klang der Begriffe. Chr.: Ich werde mich auf keinen Fall weigern, dies zu tun: Wenn zum Beispiel ein Hinkender mit seinem hinkenden Fuß an einen Stein stößt und einen unverhofften Schmerz spürt, dann hat sein Fuß einen Vorgang verur­ sacht, sein Schmerz aber kam dann noch als ein Nebenvorgang hinzu. (22) K.: Wie feinsinnig! Was behauptest du sonst noch besonders gut zu wissen? Chr.: Die Wortfallen, in die ich meine Gesprächspartner verstricke, sie ver­ stummen lasse und unweigerlich wortlos mache. Diese Macht trägt den berühmten Namen Syllogismus. K.: Beim Herakles, du erwähnst ein unüberwindbares, mächtiges Instrument! 89

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Chr.: K.: Chr.:

Sieh es dir selbst an! Hast du ein Kind? Was soll die Frage? Wenn ein Krokodil dein Kind am Ufer des Flusses spielen sieht, es packt und dir dann verspricht, es dir zurückzugeben, sobald du dem Krokodil wahrheitsgemäß sagst, was es hinsichtlich der Rückgabe des Kindes vor­ hatte – welche Absicht wirst du ihm dann unterstellen? K.: Das ist eine äußerst knifflige Frage. Denn ich weiß nicht, was ich dem Krokodil sagen sollte. Aber beim Zeus, von dir kann ich es hören, um mein Kind zu retten und zu verhindern, dass es verschlungen wird. Chr.: Lassen wir das! Ich werde dich andere Dinge lehren, die noch erstaun­ licher sind. K.: Um was handelt es sich denn? Es geht um die Figuren der logischen Schlüsse: den „Schnitter“, den Chr.: „Meister“ und vor allem um die „Elektra“ und den „Verhüllten“. K.: Was meinst du mit dem „Verhüllten“ und der „Elektra“? „Elektra“ ist die berühmte Elektra, die Tochter des Agamemnon, die das­ Chr.: selbe gleichzeitig wusste und nicht wusste. Denn als Orest, bevor sie ihn wiedererkannt hatte, neben ihr stand, wusste sie zwar, dass Orest ihr ­Bruder war, aber nicht, dass der Mann, der neben ihr stand, Orest war. Was den „Verhüllten“ betrifft, so wirst du ein ganz erstaunliches Argu­ ment hören. Beantworte mir zuerst die Frage, ob du deinen eigenen Vater kennst. K.: Ja, natürlich. Chr.: Wenn ich einen Verhüllten neben dich stellen und dich fragen würde, ob du diesen kennst, was wirst du dann sagen? Dass ich ihn natürlich nicht kenne. K.: (23) Chr.: Aber es stellte sich heraus, dass der Verhüllte dein eigener Vater wäre! Wenn du also den Verhüllten nicht kennen würdest, hättest du offensicht­ lich behauptet, deinen eigenen Vater nicht zu kennen. K.: Das stimmt so nicht. Denn wenn ich die Gestalt enthülle, werde ich be­ stimmt die Wahrheit wissen. Doch weiter: Was ist der Zweck deiner Weis­ heit? Oder was wirst du tun, wenn du den Gipfel der Tugend erreicht hast? Chr.: Dann werde ich mich mit den wichtigsten natürlichen Gütern befassen. Ich meine nämlich Reichtum, Gesundheit und anderes. Aber zuvor muss ich viele vorbereitende Arbeiten durchführen und meine Sehkraft an eng beschriebenen Büchern üben, gelehrte Kommentare sammeln, mich voll­ stopfen mit schlechten Formulierungen und ungewöhnlichen Worten. Und was die Hauptsache ist: Man kann nicht weise werden, bevor man nicht dreimal hintereinander den Nieswurztrank als Heilmittel gegen den Wahnsinn zu sich genommen hat. K.: Dein Vorgehen ist ausgesprochen edel und mutig. Aber was hat es zu be­ deuten, ein gewerbsmäßiger Wucherer zu sein – ich sehe nämlich, dass dies auch bei dir der Fall ist? Ist das etwa das Kennzeichen eines Mannes, 90

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Chr.:

(24) K.: Chr.:

K.: Chr.: K.: Chr.: (25) K.: Chr.: K.: Chr.: K.: Chr.: K.: Chr.: K.: Chr.: K.: Chr.:

der schon seine Nieswurzbehandlung hinter sich und den Gipfel der ­Tugend erreicht hat? Ja. Auf jeden Fall dürfte das Verleihen von Geld ganz besonders gut zu einem Weisen passen. Denn er sieht es als seine besondere Aufgabe an, Schlussfolgerungen zu ziehen. Geld zu verleihen und Zinsen auszurech­ nen, ist zweifellos mit dem Verfahren verwandt, Schlussfolgerungen zu ziehen. Denn das eine wie das andere dürfte nur einem Weisen gelingen. Und da geht es nicht darum, einfach Zinsen zu nehmen, wie es sonst üb­ lich ist, sondern auch Zinseszinsen. Oder weißt du etwa nicht, dass man von den ersten die zweiten Zinsen unterscheidet, die gewissermaßen die Abkömmlinge der ersten sind? Und du siehst sicherlich nun auch, was Logik ist: Wenn man die ersten Zinsen bekommt, wird man folglich auch die zweiten Zinsen bekommen. Aber man wird die ersten Zinsen bekom­ men, also wird man auch die zweiten bekommen. Demnach werden wir dasselbe auch über das Honorar sagen können, das du von den jungen Leuten für deine Weisheit bekommst. Wird dann nicht allein der Schüler ein Honorar für seine Tugend bekommen? Ganz richtig. Denn ich nehme kein Geld um meinetwillen, sondern um des Zahlenden willen. Denn der eine zahlt, der andere empfängt das Geld. Ich übe mich selbst darin, Empfänger zu sein, den Schüler, Zahlender zu sein. Da stimmt doch etwas nicht: Müsste nicht der junge Mann Empfänger sein, du allein dagegen, mit all deinem inneren Reichtum, Zahlender? Du machst Witze, Mann! Pass gut auf, dass ich dich nicht mit einer uner­ warteten Schlussfolgerung durchbohre! Und was verursacht ein solches Geschoss? Ausweglosigkeit, Sprachlosigkeit, Verwirrung. Aber was das Größte ist: Wenn ich will, kann ich dich umgehend in ­einen Stein verwandeln. Wie soll das gehen? Denn du bist doch offensichtlich kein Perseus, mein Bester. Pass auf! Ist ein Stein ein Körper? Ja. Und weiter? Ist nicht auch ein Lebewesen ein Körper? Ja. Bist du ein Lebewesen? Ja. So scheint es. Folglich bist du ein Stein, weil du ein Lebewesen bist. Auf keinen Fall! Um Gottes willen! Lass mich wieder ein Mensch werden! Das ist nicht schwierig. Sei wieder ein Mensch! Sag mir, ist jeder Körper ein Lebewesen? Nein. Und dann? Ist ein Stein ein Lebewesen? 91

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K.: Chr.: K.: Chr.: K.: Chr.: K.: H.: K.: H.: K.: H.:

Nein. Bist du ein Körper? Ja. Aber als ein Körper bist du doch ein Lebewesen. Ja. Dann bist du als ein Lebewesen kein Stein. Das hast du sehr gut gemacht. Denn meine Beine sind schon ganz kalt und fest geworden wie die Beine der versteinerten Niobe. Ich werde dich jedenfalls kaufen. (zu Hermes) Wie viel muss ich für ihn bezahlen? Zwölf Minen. Da hast du das Geld! Bist du sein einziger Käufer? Nein, sondern all die Leute, die du da siehst. Viele haben auch kräftige Schultern und können den „Schnitter“ (eine schwierige logische Schlussfolgerung) durchaus verkraften.

Lukians satirische Darstellung lässt die Logik als ein zentrales Thema der stoischen Philosophie in den Vordergrund treten. Sie war in der Stoa tatsächlich nicht nur ein Hilfsmittel des Argumentierens, sondern ein gleichberechtigter Forschungsgegenstand neben Physik und Ethik.

v  Gliederung

der

Philosophie

Die Stoiker lehnen es ab, die Logik nur als ein Werkzeug oder einen beliebigen, unter­ geordneten Teilbereich der Philosophie anzusehen; vielmehr bestehen sie darauf, dass sie als ein selbstständiger Bereich gilt. … Die Logik hat nicht denselben Stoff und das­ selbe Ziel (wie Ethik und Physik). Denn ihr Stoff sind die Aussagen, ihr Ziel ist die Kenntnis der Beweismethoden; denn darauf läuft bei ihr alles andere hinaus: auf die wissenschaftliche Beweisführung. Daher kann sie auch keinem anderen ­Bereich der Philosophie untergeordnet werden. Wenn sich auch die Logik mit den menschlichen und den göttlichen Dingen beschäftigt (wir gebrauchen sie nämlich, wenn wir mit­ einander über göttliche und menschliche Dinge reden), so befasst sie sich doch nicht allein mit den menschlichen Dingen wie die einzelnen Teilbereiche des praktischen Handelns und auch nicht allein mit den göttlichen Dingen wie die einzelnen Teil­ bereiche des theoretischen Denkens. Daher ist die Logik kein untergeordneter Teil­ bereich, sondern (neben Physik und Ethik) der dritte selbstständige Bereich der Philo­ sophie (SVF II 49). Mitunter vergleichen die Stoiker die Philosophie auch mit einem Garten, in dem viele Pflanzen wachsen, wobei die Naturphilosophie der Höhe der Bäume, die Ethik der Reichhaltigkeit der Früchte und die Logik der Festigkeit der Mauern entsprechen. Man­ che meinen auch, die Philosophie gleiche dem Ei: Die Ethik entspreche dem Eigelb, von 92

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dem manche sagen, dass es schon das Küken sei, die Naturphilosophie dem Eiweiß, das dem Eigelb als Nahrung diene, die Logik schließlich der nach außen hin schützenden Eierschale. Weil aber die Teile der Philosophie nicht voneinander zu trennen sind, Bäume aber etwas anderes sind als Früchte und Mauern mit Bäumen eigentlich nichts zu tun ­haben, besteht Poseidonios darauf, die Philosophie lieber mit einem Lebewesen zu verglei­ chen: mit Blut und Fleisch die Naturphilo­sophie, mit Knochen und Muskeln die Logik und mit der Seele die Ethik (SVF II 38).  v

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Wahrheit durch Logik: Chrysipp Name: Chrysipp aus Soloi Lebensdaten: 281–208 v. Chr. Literarische Gattung: Philosophische Schriften Werke: u. a. gegen die gewohnheitsmäßigen Anschauungen, Untersuchungen über Logik, etymologische Erklärungen, die Schicksalsordnung, die Affekte, die Vor­ sehung, die Heilung der Seele

Wer

war das?

Der Denker aus Soloi in Kilikien war nach Zenon und Kleanthes Leiter der stoischen Schule in Athen. Nach D. L. (7, 180) verfasste er in dieser Eigenschaft über siebenhun­ dert Schriften. Wichtig waren seine zahlreichen logischen Abhandlungen, aber sie sind in nur wenigen Fragmenten erhalten. Chrysipp entwickelte u. a. eine Lehre von den Schlussfolgerungen (Syllogismen) und spielte angeblich auch gern mit Fehl- oder Fang­ schlüssen. In seiner Naturlehre vertrat er die Auffassung, dass alles, was geschieht, von der Heimarméne, dem Schicksal, bestimmt wird. Über sein Ende erzählt D. L. (7, 184 f.) eine Anekdote: Als er im Odeion Unterricht hielt, wurde er von seinen Schülern zu einem Opferfest eingeladen. Da soll er süßen ungemischten Wein getrunken haben. Es soll ihm davon schwindlig geworden sein. Fünf Tage darauf sei er mit dreiundsiebzig Jahren gestor­ ben. Das war in der 143. Olympiade (208–205 v. Chr.) … Manche behaupten aber auch, er sei an einem Lachkrampf gestorben. Denn als ein Esel seine Feigen aufge­ fressen hatte, soll er seine alte Dienerin angewiesen haben, den Esel ungemischten Wein saufen zu lassen; an seinem übermäßigen Lachen sei er dann gestorben. Er soll so selbstbewusst gewesen sein, dass er, als jemand ihn fragte: „Wem soll ich meinen Sohn anvertrauen?“, antwortete: „Mir. Denn wenn ich annähme, ein anderer sei besser als ich, dann würde ich selbst bei ihm Philo­sophie studieren.“ Darum, so heißt es, habe man auch einen Vers aus der Odyssee (10, 495) auf ihn bezogen: „Er allein hat es verstanden; die anderen aber flattern wie Schatten umher.“ Und so ist denn auch bei D. L. (7, 183) der ­folgende Satz überliefert: Wenn es Chrysippos nicht gäbe, dann gäbe es die Stoa nicht.

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v  Müssen Philosophen K önige

sein ?

Chrysipps Selbstbewusstsein erinnert an die von Platon (Politeia 5, 473d-e) gestellte Frage, ob Philosophen Könige sein sollten. Denn auch wenn sie sehr selten Könige ­waren, heißt das nicht, dass sie sich nicht als solche fühlten. Allerdings ist es schwer vorstellbar, dass es dazu kommt: Wenn nicht entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt so­ genannten Könige und Machthaber angemessen und tüchtig philosophieren und bei­ des also zusammenfällt, die politische Macht und die Philosophie, … dann gibt es kein Ende der Übel für die Staaten und auch nicht für das menschliche Geschlecht … Aber dies ist es eben, was mich seit Langem zögern lässt, es anzusprechen, weil ich sehe, dass es sehr im Gegensatz steht zur öffentlichen Meinung. Platon hatte diese paradoxe Konstellation einer Philosophendiktatur folgerichtig aus seinen Ausführungen über den gerechten Staat abgeleitet, an dem er das Wesen der Gerechtigkeit beispielhaft demonstrieren wollte (Politeia 5, 472c). Gerecht ist der Staat, wenn jeder leistet, was er kann, und bekommt, was ihm zusteht. Dann ist der tugend­ hafte Staat realisierbar, in dem der einzelne Mensch ein Höchstmaß an Gerechtigkeit und Glückseligkeit erfahren wird, und wenn der Mensch von Natur aus unvollkom­ men und fehlerhaft ist, müssen wenigstens die Herrschenden über ein Höchstmaß an Weisheit verfügen und untadelig sein.  v

Was

schr ieb er ?

Plutarch (ca. 45–120 n. Chr.), ein scharfer Kritiker Chrysipps, charakterisiert den Phi­ losophen in seiner Schrift Über die Selbstwidersprüche der Stoiker (Kap. 2) folgender­ maßen: „Gemessen an der für ihn typischen Kürze schrieb Zenon viel, Kleanthes eben­ falls, am meisten aber Chrysipp über den Staat, über das Dienen und Herrschen, über das Richten und Reden; aber in keinem ihrer Lebensläufe findet sich ein militärisches Kommando, eine Mitarbeit an der Gesetzgebung, eine Funktion im Rat, eine Verteidi­ gerrolle vor Gericht, die Teilnahme an einem Feldzug für das Vaterland, eine diploma­ tische Mission, eine Spende zum Wohle der Gesellschaft. Vielmehr genossen die Stoi­ ker in einem fremden Land den berauschenden Lotus der politischen Tatenlosigkeit und verbrachten ihr ganzes Leben, das beileibe nicht kurz, sondern überaus lang war, mit Gesprächen, Büchern und Herumschlendern in ihren Schulen. Offensichtlich leb­ ten sie mehr in Übereinstimmung mit den Schriften und Reden anderer als mit ihren eigenen. Sie verbrachten genau dasselbe Leben der Ruhe und Zurückgezogenheit, wie Epikur und der Peripatetiker Hieronymos es empfahlen. Chrysipp selbst meint jeden­ falls in seinem vierten Buch Über die Lebensweisen, dass sich das stille Leben eines Gelehrten nicht vom Leben eines Genussmenschen unterscheide: Ich werde ihn wört­ lich zitieren: ‚Alle, die meinen, dass das Gelehrtenleben für Philosophen besonders 95

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typisch sei, begehen meiner Meinung nach von Anfang an einen schweren Fehler, ­indem sie unterstellen, dass man das tue, um sich ­irgendwie zu zerstreuen oder eine ­vergleichbare Absicht zu verwirklichen, und sein ganzes Leben in diesem Sinne ver­ bringen müsse; das aber bedeutet, wenn man es genau betrachtet, ein lustvolles Leben zu führen. Wir sollten nämlich ihre wahre Absicht nicht übersehen, weil viele dies zwar offen zugeben, aber auch einige es weniger deutlich sagen.‘ Gab es denn überhaupt schon einmal jemanden, der sein ganzes Leben in höherem Maße der wissenschaft­ lichen Arbeit widmete als die Stoiker Chrysipp, Kleanthes, Diogenes, Zenon und Anti­ pater, die sogar ihre Heimatstädte verließen, nicht weil sie irgendwelchen Geschäften nachgingen, sondern um in aller Stille in einem Musiksaal oder auf einer entlegenen Insel ihre Zeit mit Lesen und Studieren zu verbringen? … So nun war Chrysipp, der Alte, der Philosoph, der Mann, der einerseits das Leben eines Königs und Staatsman­ nes verherrlichte und andererseits die Ansicht vertrat, dass sich ein wissenschaftliches von einem lustvollen Leben nicht unterschied.“

Wie

wur den seine

Werke

überliefert?

Die Rezeption stoischen Denkens durch antike Autoren sollte nicht vergessen lassen, dass wir von den Stoikern keine vollständig überlieferten Texte besitzen. Die Texte an­ derer Autoren vermitteln allenfalls einen Eindruck von stoischer Philosophie. Weder die Schulgründer Zenon, Kleanthes und Chrysipp noch Poseidonios und Panaitios sprechen unmittelbar zu uns. „Es ist nur ein getrübtes und unvollständiges Bild, das uns die späteren Zeugnisse von der Geistesarbeit dieser Männer bieten“ (Max Pohlenz). ­Damit wird der hohe philosophiegeschichtliche Rang der Quellenautoren nicht ge­ schmälert. Zu den bekanntesten gehört Cicero, der sich in verschiedenen Schriften mit der Stoa auseinandersetzte (Über das höchste Gut und das größte Übel, Tuskulanische Gespräche, Über die Pflichten, Stoische Paradoxien). Wichtige Überlieferer stoischen Denkens sind auch der römische Philosoph Seneca, der Geograf Strabon, der Philosophiehistoriker Diogenes Laërtios und der Skeptiker Sextus Empiricus, ferner der Arzt Galenos, der gelehrte Stobaios (und viele andere), und obwohl die Bedeutung der Stoa auch für die christliche Theologie und Morallehre der Spätantike sehr groß ist und die frühchristliche Literatur eine intensive Auseinan­ dersetzung mit stoischem Denken bezeugt, kann man auch hier keine Fragmente im engeren Sinne des Wortes, sondern lediglich Spuren einer mehr oder weniger tief ­greifenden Rezeption stoischen Denkens finden. Bei der Kritik der Quellen darf auch nicht außer Acht bleiben, dass schon in der Rezeption stoischen Denkens durch die Gebildeten der römischen Oberschicht das In­ teresse weniger auf die Aneignung des philosophischen Systems als auf die Übernahme moralischer Prinzipien gerichtet war, die römischem Selbstverständnis entsprachen. Das hatte zur Folge, dass ethische Reflexionen Logik und Physik in den Hintergrund treten ließen. Daraus folgte, dass stoisch immer weniger als Kennzeichen eines Ange­ hörigen der stoischen Schule verstanden wurde, sondern eine Lebenseinstellung 96

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c­ harakterisierte, die vor allem auf die rigorose Kontrolle der Affekte durch die Ver­ nunft und auf die tapfere Hinnahme eines unabwendbaren Schicksals zielte. Das be­ zeugen z. B. nicht nur das Cato-Bild des Plutarch, sondern auch die Porträts des stoi­ schen Weisen in den Satiren des Horaz (2, 2), des Juvenal (Satire 2) und des Persius (Satire 3). Selbst Seneca, Epiktet und Marc Aurel vertreten weniger das stoische System als vielmehr ein als stoisch verstandenes Lebensideal oder eine stoische Haltung. Um die Vermittlung stoischer Fragmente hat sich Plutarch in zwei seiner Schriften sehr verdient gemacht. In der Schrift über Stoische Selbstwidersprüche charakterisiert er Chrysipp als einen Mann, der einfach alles sagt, wie es ihm in den Sinn kommt (Kap. 28 Ende), und sich dadurch in Selbstwidersprüche verwickelt. An zahlreichen Beispie­ len versucht Plutarch, diesen Vorwurf zu begründen. Sein Ausgangspunkt war die ver­ breitete Behauptung der Stoiker, dass ihr System in sich völlig stimmig sei und dass auch Lehre und Leben bei ihnen übereinstimmten, wie Epiktet (Encheiridion 49) be­ tont. In einer zweiten Schrift Über den Widerspruch zwischen öffentlicher Meinung und Philosophie legt Plutarch dar, dass die stoischen Theorien mit den Meinungen des ­gesunden Menschenverstandes nicht zu vereinbaren seien. Plutarch nimmt mit dem Begriff der öffentlichen Meinung einen stoischen Terminus auf, um zu zeigen, dass viele stoische Positionen im Widerspruch dazu stehen.

Wie

Werke Stoiker n?

lebten die

von den

fort und was bleibt

Die stoische Lehre hat in der Antike eine außerordentlich starke und bis ­heute aktuelle Wirkung. (1) Zunächst ist die stoische Apathie mit ihrem rigorosen Verzicht auf eine Berück­ sichtigung des Unverfügbaren ein Versuch, mit den zwangsläufigen Schwierigkeiten und Anfechtungen des Alltags so umzugehen, dass man sich ihnen nicht vollständig ausgesetzt sieht. Denn Apathie ist eine Strategie zur Bewältigung von Störung und Druck jeder Art. Allerdings bleibt sie aus mindestens zwei Gründen angreifbar: Einer­ seits ist die Grenze zwischen dem Verfügbaren und dem Unverfügbaren nicht zuver­ lässig zu ziehen; außerdem ist subjektive Willkür in der Ausweitung des Unverfüg­ baren und in der Einschränkung der Handlungsverantwortung nicht auszuschließen; andererseits verengt die der Apathie immanente Tendenz zur Mitleidlosigkeit den ­moralischen Handlungsspielraum. Das war schon in der Antike der entscheidende Einwand.

v  A pathie

ist unmenschlich

Die Anhänger Epikurs bekämpfen die Stoiker, die das Trauern, Weinen und Seufzen über den Tod geliebter Menschen ablehnen, und sagen zugleich, dass der bis zur Emp­ findungslosigkeit getriebene Verzicht auf Trauer auf ein anderes und viel schlimmeres 97

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Übel zurückzuführen sei: auf Unmenschlichkeit, maßlose Eitelkeit und Geisteskrank­ heit. Darum sei es besser, ein wenig zu leiden, sich dem Schmerz hinzugeben und, bei Gott, auch Tränen fließen zu lassen, zu trauern und all die Gefühle zu zeigen, die sie sonst empfinden und beschreiben und mit denen sie sich als zartfühlend und liebens­ würdig erweisen (Plutarch 1101A).  v (2) Ein natürliches Hindernis für eine Radikalisierung der Apathie ist jedoch die Lehre von der Oikeiosis: Der Mensch hat von Natur aus eine positive Einstellung zu sich selbst und zu seinen ersten Bezugspersonen. Oikeiosis (lateinisch: conciliatio) bedeutet, durch Selbstwahrnehmung und Selbstliebe sich selbst und andere anzunehmen: Sie mo­ tiviert dazu, das eigene Ich zu erhalten und zu entfalten, alles zu suchen, was das eigene Ich fördert, und das Gegenteil zu meiden. Daraus erwachsen die positiven Einstellun­ gen gegenüber anderen Menschen, die sich dann zu Wechselbeziehungen zwischen den Individuen weiterentwickeln. So erweist sich die Oikeiosis als die elementare Befind­ lichkeit, auf die jede Moral und jedes normgerechte Handeln zurückzuführen sind. (3) Wenn die (gemäßigte) Apathie den richtigen Umgang mit dem Unverfügbaren und mit der Unausweichlichkeit von Leid und Unglück gewährleistet, stellt sich aller­ dings auch die Frage nach der Reichweite des freien Willens, der nicht nur von einem unbeeinflussbaren Schicksal, stoisch: der Heimarméne, der göttlichen Vorsehung und den natürlichen Bedingungen des Menschseins, sondern auch von neurowissenschaft­ lich zu beschreibenden Determinanten eingeschränkt ist. Denn je umfangreicher das Unverfügbare und Unausweichliche ist, desto kleiner ist der Spielraum des freien Wil­ lens. Es könnte sich herausstellen, dass wir im Extremfall überhaupt nicht in der Lage sind zu tun, was wir wollen, sondern nur als gewollt definieren, was wir tun. Dennoch dürfte die Annahme der Willensfreiheit die Voraussetzung dafür sein, über die Selbst­ bestimmung des eigenen Handelns und Verhaltens wenigstens zu reflektieren und auch Verantwortung übernehmen zu wollen. Die Stoiker haben sich mit ihrer Unter­ scheidung zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem in das unberechenbare Grenz­ gebiet zwischen menschlicher Freiheit und Determination begeben. Aber in ihrer Ziel­ beschreibung eines stimmigen Lebens fanden sie eine Formel, mit der sich ihr Verständnis von Freiheit wenigstens annähernd fassen lässt: Das stimmige Leben er­ wächst aus der freien Entscheidung des Menschen zu ­einer umfassenden Entwicklung und Entfaltung seiner natürlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten und beruht auf der Zustimmung zu den naturgegebenen Bedingungen des Menschseins. Wenn dem Men­ schen dies gelingt, erreicht er seine Höchstform, die traditionell mit dem Begriff der Areté bezeichnet wird. Da der Mensch Teil der Natur des Ganzen ist, bedeutet das stimmige Leben ein Leben im Einklang mit dem eigenen Wesen und der Natur des Ganzen, wobei man nichts tut, was das gemeinsame Gesetz der Vernunft verbietet. Wenn diese Stimmigkeit gelingt und man die Übereinstimmung zwischen den Bedin­ gungen und Absichten, den Ansprüchen und Möglichkeiten, den (auch unbewussten) Antrieben und Pflichten verwirklicht, kann man annehmen, die beste Form seines ­Lebens gefunden zu haben. Auf diese Weise wird das Ärgernis eines unausweichlichen Schicksals deutlich verringert. Es bleiben allerdings die weitgehend unverfügbaren 98

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und unkalkulierbaren Handlungsfolgen, die wiederum die Grenzen der Selbstbestim­ mung ebenso deutlich wie schmerzlich einengen. Was die Stoiker dem modernen Men­ schen in diesem Zusammenhang vermitteln, ist die Aussicht darauf, dass man sein Leben möglicherweise besser und freier führen kann, wenn man sich immer wieder Klarheit darüber verschafft, was einfach nicht zu ändern ist. (4) Ein weiterer noch heute relevanter Lehrinhalt ist die auf Sokrates zurückgehende Unterscheidung von Schein und Sein. So ist „nach stoischer Auffassung“ – mit dieser Formel werden übrigens in zahlreichen Quellen Berichte über stoische Lehrmeinungen transportiert – das Gut-Scheinen, d. h. die Anerkennung durch andere, für das Gut-Sein unerheblich. Was andere von jemandem halten, muss mit seiner moralischen Persön­ lichkeit nichts zu tun haben. Auch dieser Gedanke hat etwas Tröstliches für denjenigen, der sich missverstanden glaubt oder über mangelnde Anerkennung beklagt. Wenn man davon überzeugt ist, dass die moralische Qualität vom Urteil der Mitmenschen unab­ hängig ist, darf man nicht enttäuscht sein, wenn die Anerkennung ausbleibt. Man be­ gnügt sich damit, Tugend oder Tauglichkeit unbemerkt und unauffällig zu besitzen und zu verwirklichen. Wichtig ist nur die Selbstachtung, die aus der Tugend hervorgeht. So ist es auch nur konsequent, wenn die Stoiker eine differenzierte Tugendlehre entwickelt haben, die allen Anforderungen des Lebens entspricht, affektbestimmtes Handeln zu vermeiden sucht und rationale Handlungsgründe zur Geltung bringt.

v Der Weise –

ein

Gentleman?

Zur Veranschaulichung ihres Verständnisses von Tugend konstruieren die Stoiker das fiktive Persönlichkeitsbild des Weisen, der ein gelingendes Leben führt. Der Weise lässt sich von Gründen, nicht von Wünschen, leiten, wie es Julian Nida-­Rümelin im Blick auf die stoische Philosophie ausgeführt hat (Strukturelle Rationalität, Stuttgart 2001): Jede seiner Handlungen setzt das Akzeptieren von Gründen voraus, sonst wäre sie keine Handlung. Diese Gründe legen Strukturen in sein Leben. Damit es ein gutes Leben ist, müssen viele Wünsche erfüllt, aber auch viele Wünsche frustriert werden. Gut ist es, wenn es in sich stimmig ist. Ist es nicht stimmig, sind einige der leitenden Gründe keine guten Gründe. Selbst unter der Voraussetzung, dass der Mensch keinen absolut freien Willen hat, kann ihm die fiktive Figur des Weisen ein Leitbild sein, wie es zum Beispiel auch im Erziehungs- und Bildungsideal des Gentleman in Erscheinung tritt. Das hat Martin Scherer (Der Gentleman. Plädoyer für eine Lebenskunst, München ³2004) sehr feinsin­ nig dargestellt. Die Tugenden des modernen Gentleman sind nahezu identisch mit den Tugenden des stoischen Weisen. Gerade wenn der Weise sein Leben in Übereinstimmung mit sich selbst und seiner (göttlichen) Vernunftnatur führt, braucht er nicht auf alle Annehmlichkeiten des ­Lebens zu verzichten, zu denen etwa Gesundheit und Wohlstand gehören. Aber der stoische Weise unterscheidet sich vom Durchschnittsmenschen dadurch, dass er ­seine innere Unabhängigkeit gegenüber diesen Vorzügen bewahrt, die er als indifferent, als 99

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Adiaphora, versteht, weil sie in der Regel unverfügbar und weder gut noch schlecht sind, aber bei richtigem Gebrauch durchaus angenehm und hilfreich sein können.  v (5) Trotz seiner inneren Unabhängigkeit ist sich der Mensch seiner besonderen Wür­ de erst dann voll bewusst, wenn er erkennt, dass seine begrenzte Vernunft mit einer höheren Vernunft zwar nicht identisch, aber doch verwandt ist. Angesichts der Unvoll­ kommenheit der menschlichen Natur muss es etwas geben, das über den Menschen ­hinausweist und ein Höchstmaß an Vollkommenheit verkörpert. Die Grenzen des Menschen zeigen sich darin, dass er nicht nur Leid und Unglück ausgesetzt ist, sondern auch weder die Welt als solche noch alles, was in der Welt ist, zu erschaffen fähig ist; es muss also etwas geben, das über diese Macht verfügt und darum dem Menschen über­ legen ist. So hat der vernunftbestimmte Mensch ein quasi natürliches Verständnis von einer allmächtigen Gottheit, einer schöpferischen Urkraft, einer ersten Ursache des Seins, einem göttlichen Pneuma, einer weltimmanenten Seele, die alles durchdringt und überall gegenwärtig ist. Das ist der Kerngedanke der stoischen Physik. Aber wenn Gott ein unsterbliches, vernunftbegabtes Lebewesen ist, das für alles Schlechte unzugänglich ist, muss er auch für seine Schöpfung sorgen und diese lenken und gestalten. Daraus folgt die stoische Überzeugung von der Wirksamkeit einer ent­ sprechenden Vorsehung, die die Welt regiert. Die Vorsehung lässt aber auch Leid und Versagen zu, um den Menschen zu veranlassen und herauszufordern, seine Apathie zu beweisen und zu stärken. Das Böse in der Welt ist für den Menschen gewissermaßen eine Trainingsmöglichkeit auf dem Weg zur Vervollkommnung seiner Tugenden im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten. Damit haben die Stoiker eine philosophi­ sche Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, entworfen, die auch eine Abwehrstrategie gegenüber dem Leid darstellt, dem der Mensch auch bei voller Entfaltung seiner Ratio­ nalität aufgrund seiner unvollkommenen Natur ausgesetzt bleibt. (6) Die Überzeugung, dass Gott die erste Ursache ist, rechtfertigt zudem die An­ nahme einer geschlossenen Kausalität. Alles hat seine Ursache und ist wiederum Ursa­ che, und so lässt sich auch das Schicksal, das Fatum, die ­Heimarméne, als eine unun­ terbrochene Kette der im Kosmos wirksamen und sich gegenseitig bedingenden Prozesse verstehen. Diese veranschaulicht den lückenlosen Zusammenhang in der Welt. Alles ist mit allem durch Symphyie und Sympathie verbunden, die Poseidonios in den Mittelpunkt seiner Welterklärung gestellt hat. Die Fragen, die Cicero in seiner Schrift Über die Weissagung aufgeworfen hat, zeigen übrigens sehr deutlich, dass auch dieser stoische Lehrinhalt trotz seiner Attraktivität nicht unwidersprochen blieb. Wenn es aber eine lückenlose Kausalverkettung, eine Sympathie des Kosmos, geben sollte, dann muss es einen Zusammenhang nicht nur innerhalb der Gegenwart und zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch zwischen Gegenwart und Zu­ kunft geben. Es muss also grundsätzlich möglich sein, Prognosen über die Zukunft anzustellen. Diesem Zweck diente der Versuch einiger Stoiker (vor allem des Universal­ gelehrten Poseidonios), zuverlässige Indizien für Prognosen zu sammeln und eine quasi-empirische Wissenschaft von der Zukunft, die Mantik, in ihr philosophisches Programm aufzunehmen. 100

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(7) Aus dem Bewusstsein der menschlichen Vernunftnatur und der neben der ­ hysis grundlegenden Bedeutung des Logos, der nicht nur Vernunft, sondern auch P Sprache bedeutet, entsteht der Wunsch nach einer Klärung der Gesetzmäßigkeiten und der f­ ormalen Regeln des Denkens. Darin sehen die Stoiker die Aufgabe ihrer Logik und Erkenntnislehre. Obwohl die Ethik mit ihren Begründungen, Forderungen und Strate­ gien für ein vernunftbestimmtes Handeln das eigentliche Ziel der Philosophie ist, kommt doch auch der Logik eine hohe Bedeutung zu, weil sie die wissenschaftliche Beweisführung ermöglicht, in der richtiges Denken und Sprechen unlösbar miteinan­ der verknüpft sind. Denn etwas zu wissen bedeutet für die Stoiker, eine Aussage treffen zu können, die dem Kriterium der Wahrheit entspricht. Dass die Stoiker zudem mit ihrer Logik die europäische Sprachwissenschaft begründet und die Grammatik als dif­ ferenziertes Sprachbeschreibungssystem entwickelt haben, veranschaulicht nicht zu­ letzt die Praxisnähe ihres Denkens. Mit der Unterteilung der Logik in Dialektik und Rhetorik unterscheiden die Stoiker die Wissenschaft Dialog als dem Wechselspiel von Frage und Antwort und die Lehre vom guten Sprechen in der fortlaufenden Rede. Insgesamt befasste sich die stoische Logik mit einer Fülle von Themen: mit Etymologie, Semantik, Grammatik, formaler Logik, Stilistik, Poetik, Philologie. Mit der Unterscheidung des Bezeichnenden vom Bezeichneten wird die sprachliche Form von der außersprachlichen Wirklichkeit nachvollziehbar abgehoben, obwohl immer wieder auf eine Korrelation zwischen Form und Inhalt hingewiesen wird. Wenn die stoische Logik die Formen untersucht, in denen sich das Denken voll­ zieht, und die sachliche Erkenntnis der Außenwelt als Ziel vor Augen hat, muss als Ergänzung eine Untersuchung hinzukommen, wie diese Erkenntnis funktioniert. Die stoische Erkenntnistheorie geht davon aus, dass die sinnliche Wahrnehmung den ­Zugang zur Außenwelt ermöglicht und zu einer sensualistischen Welterklärung führt. Aber trotz dieser sensualistischen Grundlage behält der Logos seine erkenntnis- und handlungsleitende Rolle: Denn er muss zu allem Wahrgenommenen seine Zustim­ mung geben und die jeweilige Vorstellung als gültig anerkennen, damit sie als Wissen (in der Seele) gespeichert werden kann. Diese Zustimmung ist ein freier Akt des ­Denkens; auf ihr beruhen seine Unabhängigkeit gegenüber der Außenwelt und die Freiheit des Menschen.

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Geschichtsschreibung mit philosophischem Anspruch: Polybios Lukian hatte den Historiker Polybios nicht auf dem Philosophenmarkt auftreten las­ sen. Dennoch wird er hier – inmitten der stoischen Philosophen – porträtiert. Gründe dafür sind die enge Beziehung zu dem Stoiker Panaitios, seine Zugehörigkeit zum ­Scipionenkreis, einer Gruppe von Politikern und Intellektuellen, die vor allem die fruchtbare Begegnung der römischen mit der griechischen Geisteswelt auf dem Gebiet der Philosophie und Literatur pflegten, und schließlich sein schriftstellerisches Ziel: Er will ebenso wie alle Philosophen die Wahrheit erkennen, erörtern und beschreiben. Darum wirft er auch philosophische Fragen auf, deren Beantwortung zur Erklärung historischer Vorgänge herangezogen wird. Name: Polybios von Megalopolis (Arkadien) Lebensdaten: ca. 200–120 v. Chr. Literarische Gattung: Geschichtsschreibung Werke: Geschichte in 40 Büchern, von denen etwa ein Drittel erhalten ist

Wer

war das?

Er stammt aus einer wohlhabenden und einflussreichen Familie, wird von seinem Va­ ter Lykortas, der mehrmals ein hohes Staatsamt innehatte, und von dem Feldherrn Philopoimen für eine politische und militärische Laufbahn ausgebildet und dient als Reiterführer (Hipparch). Das folgenreichste Ereignis seines Lebens ist seine unfrei­ willige Übersiedlung nach Rom: Im Jahr 167 v. Chr. ist er eine der 1000 Geiseln, die die Römer nach ihrem Sieg bei Pydna über Makedonien nach Italien deportieren und de­ ren Überlebende erst nach 17 Jahren die Freiheit zurückgegeben bekommen. In Rom nimmt ihn Lucius Aemilius Paulus, der Vater des P. Cornelius Scipio Aemilianus, in sein Haus auf. Er wird zum Freund und Lehrer des achtzehnjährigen Scipio, den er später auch auf seinem Feldzug gegen Karthago begleitet.

Was

schr ieb er ?

Das auf die römische Geschichte konzentrierte Werk behandelt die Zeit von 264 v. Chr., dem Beginn des Ersten Punischen Krieges, bis zu der für die Römer siegreichen Schlacht bei Pydna (168 v. Chr.) und zur Zerstörung Karthagos und Korinths (146 v. Chr.). Geschichtsphilosophische Überlegungen enthält das 6. Buch. Hier stellt Poly­ bios seine berühmte Lehre vom Kreislauf der Staatsverfassungen und vor allem die 102

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Verfassung des römischen Staates dar. Polybios ist der Auffassung, dass die Kombi­ nation der drei Verfassungsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie in der ­römischen Republik zwar optimale Lebensbedingungen ermögliche, aber nicht auf Dauer Bestand habe. Am Anfang seines Werkes (1, 1, 5) erklärt der Autor, er berichte über ganz außerordentliche Vorgänge, die so bedeutsam seien, dass sich niemand der Lektüre seines Werkes entziehen werde: Denn wer wäre so gleichgültig und oberflächlich, dass er nicht wissen möchte, auf welchem Wege und durch was für eine Art von Einrichtung und Verfassung des Staates fast die ganze Erde in nicht ganz dreiundfünfzig Jahren ausschließlich unter die Herr­ schaft der Römer geraten ist? In Anlehnung an den Historiker Thukydides geht es Polybios weniger um Unterhal­ tung als um Belehrung. Die Geschichtsschreibung dient wie die Philosophie der gründ­ lichen Suche nach der Wahrheit. Der Historiker muss alle ihm erreichbaren Informa­ tionen und Quellen kritisch prüfen, die Ursachen des Geschehens erforschen und seinen auf eigener Erfahrung beruhenden Sachverstand einbringen. Folglich polemi­ siert ­Polybios (2, 56, 10–13) gegen alle historiografischen Richtungen, die diesen Prin­ zipien nicht gerecht werden: Der Historiker soll seine Leser nicht durch Schauergeschichten erschüttern, keine schönen Reden einlegen, die vielleicht so hätten gehalten werden können, nicht das Geschehen mit Nebensächlichkeiten ausschmücken, wie es die Tragödiendichter tun, sondern einzig und allein das wirklich Geleistete und Gesagte berichten, auch wenn es nur ganz unbedeutende Dinge sind. Denn das Ziel der Geschichte und der Tragödie ist nicht dasselbe, sondern beide Gattungen stehen im Gegensatz zueinander. Denn dort geht es darum, durch die eindrucksvollsten Worte die Hörer für den Augenblick zu fesseln und zu erschüttern, hier dagegen, durch die wirklichen Taten und Reden die Wissbegierigen auf die Dauer zu belehren und zu einer richtigen Einsicht zu führen. … In der Geschichtsschreibung geht es um die Wahrheit, denn ihr Ziel ist der Nutzen der Leser, die aus ihr zu lernen versuchen. Über seine Methode äußert sich Polybios auch an anderer Stelle (9, 1, 2 ff.): Er sei sich darüber im Klaren, dass sein Werk etwas Strenges und Abweisendes an sich habe und viele Leser nicht anspreche. Er wende sich eben nur an die politisch Interessierten, die etwas über die Taten und Schicksale von Völkern, Städten und Herrschern wissen woll­ ten. Hier berührt sich Polybios mit Thukydides (1, 22, 4), der nicht auf das Vergnügen, sondern auf den dauerhaften Nutzen zielte. Den Gedanken vom dauerhaften Nutzen der Geschichte hat Polybios zu einem breiten Programm ausgeweitet. Obwohl er den Grundsatz vertritt, der Historiker müs­ se Ursachenforschung betreiben, glaubt er an eine Macht im Weltgeschehen, die sich der rationalen Analyse entzieht: an Schicksal und Zufall, und er will zeigen (1, 4, 1), wie Schicksal und Zufall historisch-politische Prozesse auslösen und bestimmen können. 103

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Das Programm des Polybios kommt in der Schilderung seiner engen Freundschaft mir dem jüngeren Scipio zum Ausdruck (32, 16): Ich bin so ausführlich auf die Lebens- und Denkweise des Scipio eingegangen, weil ich annehme, dass eine derartige Darstellung meinen älteren Lesern Vergnügen bereitet und den Jüngeren nützlich ist. Vor allem aber strebe ich Glaubwürdigkeit an, damit meine Leser sich nicht darüber wundern, wenn ihnen irgendwelche Ereignisse in ih­ rem späteren Leben unglaublich erscheinen werden, und damit sie dem Mann seine mit kluger Überlegung geplanten Leistungen nicht absprechen und dem glücklichen Zufall zuschreiben, weil sie die Gründe nicht kennen, aus denen jedes Geschehen ent­ stand – abgesehen von dem Wenigen, wovon man wirklich nur sagen kann, es sei ­zufällig oder von selbst passiert.

Wie

wur de das

Werk

über liefert?

Die bedeutendste und zuverlässigste Handschrift ist der im Jahr 947 geschriebene Codex Vaticanus 124; er enthält aber nur die Bücher 1–5. In weiteren Handschriften vom 11. bis zum 16. Jh. sind auch viele Fragmente und Exzerpte aus den übrigen Büchern überliefert. Seit dem 16. Jh. erscheinen zahlreiche gedruckte Ausgaben bis in unsere Zeit.

Wie

lebte das

Werk

fort?

Polybios hatte die auf Platon und Aristoteles zurückgehende Theorie einer integrier­ ten Verfassung (6, 3, 7), in der monarchische, aristokratische und demokratische ­Elemente miteinander verbunden sind, auf römische Verhältnisse übertragen. Er war davon überzeugt, dass die Zukunft der Weltmacht Rom auf dem Ausgleich zwischen diesen unterschiedlichen Machtfaktoren und Organisationsformen und ihrer gegen­ seitigen Kontrolle beruhe. Cicero übernimmt für sein Werk De re publica aber nicht nur das Modell der inte­ grierten Verfassung (1, 69: id quod erit aequatum et temperatum ex tribus primis rerum publicarum modis), sondern auch die Beobachtung des Verfassungskreislaufes, der Anakýklosis (Polybios 6, 5, 4 – 9, 10). Der Unterschied zwischen Polybios und Cicero besteht jedoch darin, dass Cicero der römischen Mischverfassung ewige Dauer zu­ spricht, während Polybios auch diese für vergänglich hält. Er war davon überzeugt (32, 8), dass sein Werk vor allem von Römern gelesen werde, weil es die römische Geschichte besonders eingehend behandle. Ein Beispiel ist sein vielfach berücksichtigter Bericht über die Erziehung und den Charakter des jüngeren Scipio (32, 9–16):

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Die enge Freundschaft zwischen Scipio und Polybios war so groß, dass man nicht nur in Italien und Griechenland darüber sprach; ihre äußerst enge Beziehung zu­einander wurde auch in weiter entfernten Ländern bekannt (32, 9). Es ist nicht zu bezweifeln, dass Polybios durch seinen Einfluss auf Scipio die römische Geschichte entscheidend mitbestimmt hat. Seit Machiavelli, Montesquieu und Vico wirkt das Geschichtswerk auf spätere His­ toriker und ist bis heute eine wichtige Informationsquelle für die römische Geschichte von 264 bis 146.

Was

bleibt?

Die von Polybios thematisierte Spannung zwischen Leistung und Glück, Verantwor­ tung und Zufall dürfte die Deutung historischer Prozesse weiterhin bestimmen. Wenn man heute die Auffassung vertritt, dass sowohl der Sozialismus als auch der Kapitalismus verbraucht seien (Eric Hobsbawm) und eine „gemischte Ökonomie“ eine neue Perspektive eröffne, dann wird man auch die integrierte Verfassung des Polybios als ein vielversprechendes politisch-­verfassungstheoretisches Zukunftsmodell betrach­ ten können.

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Eupathie statt Apathie: Panaitios Name: Panaitios von Rhodos Lebensdaten: 180–110 v. Chr. Literarische Gattung: Philosophische Abhandlung Werke: Über die Vorsehung mit einer entschiedenen Ablehnung der ­schicksalhaften Vorbestimmung der Welt und des Menschen und der Kunst des Vorhersagens, der Mantik, Über die Heiterkeit des Herzens, die ­Euthymie, auf die Plutarch in seiner Arbeit zum gleichen Thema zurückgreift, und Über die Pflicht, die Cicero bei der Abfassung seines Werkes De officiis stark beeinflusste. Cicero (De finibus 4, 23) erwähnt auch noch eine Schrift Über das Ertragen des Schmerzes.

Wer

war das?

Panaitios stammt aus einer angesehenen Familie auf Rhodos und konnte antiken Be­ richten zufolge ein unabhängiges Leben führen, das sich allerdings entscheidend ver­ änderte, als er nach Rom übersiedelte – wann und warum, ist unbekannt – und mit dem Kreis um Scipio Africanus in Verbindung kam. Er übte wie der ältere Polybios großen Einfluss auf den römischen Staatsmann aus, mit dem ihn eine enge Freund­ schaft verband. Er begleitete ihn auf einer seiner diplomatischen Reisen in den Osten, wie Plutarch in seiner Schrift Über die Notwendigkeit, dass der Philosoph vor allem mit den Mächtigen ins Gespräch kommt (776A) berichtet. Nach Antipaters Tod im Jahr 129 v. Chr. übernahm er die Leitung der stoischen Schule in Athen; denn er war davon überzeugt, dass allein diese den philosophischen Geist des Sokrates bewahrte.

Was

schr ieb er ?

Panaitios (Frg. 96 Str.) ging davon aus, dass nur ein Leben im Sinne der uns individuell von der Natur gegebenen Veranlagungen, Möglichkeiten und Fähigkeiten (Aphormaí) sinnvoll sei. Diese Aphormaí sind die für jedes Individuum charakteristischen Voraus­ setzungen seiner Höchstform (Areté). In seiner Schrift Über die Heiterkeit des Herzens erklärt Panaitios die völlige Frei­ heit von Affekten, die Apathie, für unerreichbar. Maßstab sollen vielmehr die Möglich­ keiten des Durchschnittsmenschen sein, wie Seneca es veranschaulicht (Briefe an L ­ ucilius 116, 5–6): Panaitios scheint mir einem jungen Mann, der ihn fragte, ob der Weise lieben dürfe, eine geistreiche Antwort gegeben zu haben: „Was den Weisen angeht, werden wir sehen: Wir beide, die wir von einem Weisen im Augenblick noch weit entfernt sind, dürfen es 106

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nicht zulassen, dass wir in eine leidenschaftliche und nicht mehr beherrschbare Lage geraten, in der man einem anderen ausgesetzt ist und die einen selbst erniedrigt. Wenn er uns nämlich respektiert, lassen wir uns durch seine Menschlichkeit verunsichern. Wenn er uns verachtet, regen wir uns über seine Unverschämtheit auf. Leichtfertigkeit in der Liebe ist genauso schädlich wie Sprödigkeit: Von der Leichtfertigkeit lassen wir uns einnehmen, mit der Sprödigkeit geraten wir in Streit. Deshalb wollen wir uns im Bewusstsein unserer Schwäche ruhig verhalten: Wir wollen unsere unsichere Seele ­weder dem Wein überlassen noch der Schönheit noch der Schmeichelei noch anderen Dingen, die uns auf sanfte Weise an sich ziehen.“ Dasselbe, was Panaitios dem jungen Mann antwortete, der ihm die Frage über die Liebe stellte, sage ich über alle Affekte. Panaitios geht es also nicht um das unerreichbare Ideal des stoischen Weisen, sondern nur darum, der Vernunftnatur des Menschen entsprechend zu handeln und seine Pflicht zu erfüllen, soweit es geht. An die Stelle der Apathie, der Freiheit von allen Gefühlen, tritt die Eupathie, die Fähigkeit zu p ­ ositiven Gefühlen. So kann Panaitios auch denjenigen glücklich nennen, der unvermeidbaren Affekten und Schmerzen ausgesetzt bleibt.

v Eupathie

statt

A pathie

Sie sagen auch, dass es drei emotionale Zustände (Eupathien) gibt, die gut sind, näm­ lich Freude, Vorsicht und guter Wille. Die Freude sei das Gegenstück der Lust und eine vernunftgesteuerte Erregung. Die Vorsicht sei das Gegenstück der Furcht und eine vernunftgesteuerte Ablehnung. Denn der Weise werde sich niemals fürchten, aber vorsichtig sein. Das Gegenstück der Begierde sei der gute Wille und ein von der Vernunft gesteuertes Verlangen. Wie nun auch den obersten Leidenschaften bestimm­ te Unterarten zugeordnet sind, so auch den obersten Eupathien. Unter den guten Wil­ len fallen Wohlwollen, Freundlichkeit, Respekt, Zuneigung. Unter die Vorsicht fallen Scheu vor berechtigtem Tadel und Zurückhaltung. Unter die Freude fallen Vergnü­ gen, Fröhlichkeit, gute Stimmung (SVF III 431 = D. L. 7, 116).  v Deshalb hat auch Panaitios, ein besonders edler und ernst zu nehmender Mann, der sich der Freundschaft des Scipio und des Laelius würdig erwies, als er für Tubero seine Abhandlung Über das Ertragen von Schmerz verfasste, nirgends gesagt, dass der Schmerz kein Übel sei, was doch besonders wichtig hätte sein müssen, wenn es ­bewiesen werden könnte. Er habe nur dargestellt, was Schmerz bedeutet, was seine Eigenschaften sind und wie abartig er ist, und dann auch noch, auf w ­ elche Weise man ihn ertragen kann. Diese stoische Meinung (dass Schmerz kein Übel sei) scheint er selbst als hohles Wortgeklingel verurteilt zu haben (Cicero, De finibus 4, 23). Man müsse Schmerz aushalten lernen, dürfe ihn aber nicht ignorieren und völlige Ge­ fühllosigkeit oder Unempfindlichkeit anstreben. Überhaupt seien Affekte jeder Art, wenn sie als maßvolle Leidenschaften (mediocritates) wirksam seien, ausgesprochen nützlich. 107

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Diese Leidenschaften habe die Natur unseren Seelen zu unserem Nutzen gegeben: die Angst, um sich in Acht zu nehmen, das Mitleid und den Kummer, um Nach­giebigkeit zu lernen; sie meinten sogar, der Jähzorn sei sozusagen ein Wetzstein der Tapferkeit (Cicero, Academica priora 2, 135).

Wie

wur den die

Werke

über liefert?

Der wichtigste Gewährsmann für Panaitios ist Cicero, ohne den wir nur w ­ enig über den Griechen wüssten. So ist zum Beispiel nicht nur Ciceros Werk Über das Wesen der Götter (De natura deorum), sondern vor allem auch ­seine Schrift Vom pflicht­ gemäßen Handeln (De officiis) von Panaitios stark geprägt. Ansonsten hat man in der Antike die Werke dieses menschlichsten aller Stoiker vielfach zitiert und so seine Gedanken bewahrt.

Wie

lebten die

Werke

fort?

Die Bücher über die Pflicht habe ich, soweit ich mich auf Panaitios stützen konnte, in zwei Büchern abgeschlossen. Bei ihm sind es drei Bücher. Er hatte zwar das ­Thema zu Beginn folgendermaßen gegliedert: Es seien drei Gesichtspunkte, unter denen die Pflicht zu untersuchen sei. Erstens hätten wir zu überlegen, ob etwas m ­ oralisch oder unmoralisch sei, zweitens ob etwas nützlich oder nutzlos sei, drittens wie man zu ent­ scheiden habe, wenn das eine im Gegensatz zu dem anderen stehe, wie im Falle des Regulus, wo es zwar moralisch war, zum Feind zurück­zu­kehren, nützlich aber, zu ­Hause zu bleiben. Aber dann hat Panaitios nur die ersten beiden Gesichtspunkte vor­ züglich behandelt (Cicero, Ad Atticum 16, 11, 4).

Was

bleibt?

Das Ziel des Daseins (Telos) ist für Panaitios ein Leben in Übereinstimmung mit den Möglichkeiten und Fähigkeiten des Menschen (Clemens ­A lexandrinus, Stromateis 2 p. 129, 1–5) und das Maßhalten im Affekt, die Metriopathie.

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Kosmos und Sympathie: Poseidonios Name: Poseidonios aus Apameia in Syrien Lebensdaten: 135–51 v. Chr. Literarische Gattung: Fachwissenschaftliche und philosophische ­Abhandlung Werke: Unter seinen zahlreichen Werken auf den unterschiedlichsten ­Sachgebieten hatte wohl das nur fragmentarisch erhaltene Geschichtswerk (die Historien) die größte Bedeutung. Besondere Beachtung fand auch das Werk Über die Affekte, worin Poseidonios von den konser­vativen Lehrmeinungen der stoischen Schule abweicht.

Wer

war das?

Poseidonios begibt sich schon als junger Mann nach Athen. Er studiert bei Panaitios die stoische Philosophie, macht sich aber auch mit den Lehren der Akademie und der Epiku­ reer vertraut. Gleichwohl gilt er schon in der antiken Philosophiegeschichte als Stoiker. Nach dem Tod des Panaitios unternimmt er im Zusammenhang mit seinen geografi­ schen, astronomischen und historischen Studien ausgedehnte Reisen (unter anderem nach Spanien und Ägypten). Später – ab 96 v. Chr. – lässt er sich auf Rhodos nieder, er­ hält dort das Bürgerrecht, engagiert sich wie ein echter Stoiker auch politisch und bringt es zu höchsten Ämtern. Im Jahr 86 geht er als Gesandter nach Rom. Als bedeutende wis­ senschaftliche Autorität hat er Kontakt zu namhaften Gelehrten ­seiner Zeit. Aber er will nicht nur ein stoischer Philosoph sein, sondern auch wie ein Stoiker handeln, wie Cicero (Tuskulanische Gespräche 2, 61) sagt: Aber unser Poseidonios war kein missratener Schüler des Zenon. Ich selbst habe ihn oft gesehen und will erwähnen, was Pompeius zu erzählen pflegte: Er beabsichtigte, bei seiner Rückkehr aus Syrien (62 v. Chr.) einen Vortrag des Poseidonios zu hören. Aber obwohl er von der schweren Gicht des Stoikers wusste, habe er den hochberühmten Mann besuchen wollen: Als er ihn gesehen, begrüßt, mit ehrenden Worten angeredet und sein Bedauern darüber ausgesprochen habe, dass er ihn nicht hören könne, habe jener erwidert: „Doch, das kannst du, denn ich werde es nicht zulassen, dass körperli­ cher Schmerz einen so bedeutenden Mann umsonst zu mir kommen ließ.“ Und dann – so erzählte Pompeius – habe Poseidonios im Bett liegend mit würdevollen und ge­ dankenreichen Worten über genau diese These gesprochen, dass nur das Moralische ein Gut sei. Als ihn der Schmerz wie brennende Fackeln marterte, habe er mehrfach gesagt: „Nichts richtest du aus, Schmerz! Obwohl du unerträglich bist, werde ich nie­ mals zugeben, dass du etwas Böses bist.“

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Was

schr ieb er ?

Er verfasst Schriften auf nahezu allen Wissensgebieten seiner Zeit. Dazu gehören na­ turphilosophische, historiografische, theologische, moralphilosophische, sprachwis­ senschaftliche, ethnografische und psychologische Abhandlungen über Schicksal und Schicksalsdeutung (Mantik). Mit seinem Geschichtswerk in 52 Büchern setzt er das Werk des Polybios fort, beginnt also mit dem Jahr 146 v. Chr. Die erhaltenen Fragmente lassen erkennen, dass Poseidonios’ Geschichte bis in die achtziger Jahre des 1. Jh.s v. Chr. reicht. In der Abhandlung Über die Affekte setzt er sich mit altstoischen Überzeugungen auseinander und vertritt grundsätzlich andere Positionen. So führt er z. B. die Her­ kunft des Bösen auf den Menschen selbst und nicht auf äußere Einflüsse zurück. Poseidonios ist darüber hinaus der Meinung, im Konfliktfall müsse man eher die stoische Schule als die Wahrheit verraten: Poseidonios war aber keinesfalls der Auffassung, dass das Böse von außen in die Men­ schen eindringe, als ob es keine eigenen Wurzeln in unseren Seelen hätte, wovon es ausgeht, woher es seine Kraft bekommt und wodurch es sich vergrößert, sondern dass das Gegenteil zutreffe. So liegt denn auch der Same des Bösen in uns selbst, und wir alle brauchen nicht so sehr die Bösen zu meiden wie denen nachzugeben, die uns von der Schlechtigkeit reinigen und daran hindern, das Böse zu vermehren. Denn nicht wie die Stoiker behaupten, kommt alles Böse von außen in unsere Seelen, sondern das meiste gewinnen die schlechten Menschen aus sich selbst; was aber von außen kommt, ist viel weniger, als die Stoiker annehmen (Frg. 35 E.-K.). Poseidonios’ Weltanschauung lässt sich in Anlehnung an Karl Reinhardt (1921) mit dem Begriff einer Sympathie im Kosmos auf den Punkt bringen: Die Welt ist ein ein­ heitlicher Organismus; ihre Teile sind in einem Verhältnis der Wechselwirkung oder der Interdependenz miteinander verbunden. Darauf beruhen die Heimarméne, die schicksalhafte Vorbestimmung, und die Mantik, die Kunst, das Zukünftige aus ­bestimmten Zeichen zu erschließen. Als ein Körper ist die Welt entweder eine Einheit oder besteht aus miteinander verbun­ denen Einzelteilen oder aus voneinander getrennten Einzelwesen. Sie besteht aber ­weder aus miteinander verbundenen Einzelteilen noch aus voneinander getrennten Einzelwesen, wie wir aus den in ihr vorhandenen Wechselwirkungen (sympátheiai) schließen können. Denn im Zusammenhang mit dem periodischen Wechsel von Zu­ nahme und Abnahme des Mondes wachsen und vergehen viele Lebewesen auf der Erde und im Meer, ferner wechseln Ebbe und Flut in bestimmten Teilen des Meeres. Ebenso gibt es auch beim Aufgang und Untergang bestimmter Sterne Veränderungen der ­Atmosphäre und vielfältige Luftbewegungen, manchmal mit guten, manchmal mit verderblichen Auswirkungen. Daraus ist ersichtlich, dass die Welt eine Einheit ist. Bei den aus voneinander getrennten Einzelwesen oder aus miteinander verbundenen 110

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Einzel­teilen bestehenden Einheiten befinden sich die Teile nämlich nicht in einem Ver­ hältnis der Wechselwirkung zueinander; das ist z. B. der Fall, wenn in einem Heer nach der Vernichtung aller Soldaten, falls dies überhaupt möglich ist, der einzige Überleben­ de nicht betroffen zu sein scheint, soweit es ihn persönlich angeht. Bei den organischen Einheiten aber findet eine Wechselwirkung (Sympathie) statt, wenn z. B. der ganze Körper mit betroffen ist, sobald ein Finger abgetrennt wird. In diesem Sinne ist auch die Welt ein organisch einheitlicher Körper (Sextus Empiricus, Adversus mathematicos 9, 79–80 = Frg. 354 Th.).

v Sympathie

und ewiger

Fr iede

Immanuel Kant stellt in seiner Schrift Zum ewigen Frieden fest: „Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhandgenommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phan­ tastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine nothwendige Er­ gänzung des ungeschriebenen Codex, sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffent­ lichen Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der continuirlichen Annäherung zu befinden, nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf (46 f.).“  v

Wie

lebten die

Werke

fort?

Die Schriften werden von bedeutenden Autoren der Antike immer wieder benutzt und zitiert – von Cicero, Seneca, Athenaios, Plutarch, dem Geo­grafen Strabon, dem skepti­ schen Philosophen Sextus Empiricus und dem M ­ ediziner Galenos. Aus den Werken dieser Autoren werden die meisten Fragmente für Poseidonios gewonnen. Auch der Astronom Manilius steht zur Zeit des römischen Kaisers Tiberius (reg. 14–37 n. Chr.) auf dem Boden der stoischen Sympathie-Lehre. Er vertritt einen Determinismus und lehnt die epikureische Philosophie des Lukrez, die den Zufall als Entstehungsursache verherrlicht, entschieden ab. Folglich ist bei Manilius für Freiheit und Selbstbestim­ mung kein Raum. Denn alles ist wie bei Poseidonios durch die Schicksalsmächte, die die Welt regieren, vorbestimmt.

Was

bleibt?

Lebe mit Chrysipp und Poseidonios. Sie werden dir die Kenntnis der menschlichen und göttlichen Dinge vermitteln; sie werden dich auffordern, tätig zu sein und nicht nur klug zu reden und zur Unterhaltung deiner Zuhörer große Reden zu halten, ­sondern deine Seele zu stärken und Drohungen zu widerstehen. Denn es gibt nur einen einzigen 111

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Hafen in diesem stürmisch bewegten Leben: nicht zu achten auf alles, was kommen wird, zuversichtlich mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen, bereit zu sein, den ­Angriffen des Schicksals tapfer entgegenzutreten, ohne sich zu verstecken oder die Flucht zu ergreifen (Seneca, Briefe an Lucilius 104, 22). Poseidonios – so könnte man hinzufügen – wird dich auch davon überzeugen, dass die Welt als Ganze eine organische Einheit ist, in der alles miteinander zusammen­ hängt und alles von allem betroffen ist, und dich veranlassen, in Rücksicht auf das Ganze zu handeln.

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Ein stoischer Sokrates: Epiktet Name: Epiktetos aus Hierapolis (Phrygien) Lebensdaten: 50–120 n. Chr. Literarische Gattung: Philosophisches Lehrgespräch (Diatribe) Werke: Vier Bücher Diatriben und ein Handbüchlein der Moral (Encheiridion)

Wer

war das?

Epiktet war ursprünglich römischer Sklave, d. h. eine rechtlose Sache; sein Herr und Eigentümer, Epaphroditos, war aber nicht nur reich, sondern auch gebildet und groß­ zügig, sodass er Epiktet erlaubte, die Vorlesungen des stoischen Philosophen Musonius Rufus zu besuchen. Vor diesem Hintergrund erhalten Epiktets Reflexionen über die wahre Freiheit und über den Unterschied zwischen den Dingen, die sich in unserer Gewalt befinden, und denen, die unserem Einfluss entzogen sind, ein besonderes ­Gewicht. Denn hier spricht einer, der weiß, wovon er redet. Er hatte sein Verständnis von Freiheit lange vor dem Rechtsakt seiner eigenen Freilassung durch Epaphroditos entwickelt. Er emanzipierte sich bereits dadurch aus seiner Sklavenrolle, dass er die Freiheit nicht auf die rechtliche Stellung eines römischen Bürgers reduzierte. Für den Sklaven Epiktet war Freiheit nicht mehr und nicht weniger als innere Unabhängigkeit von äußerem Zwang, die Souveränität der M ­ oral gegenüber der Niedertracht, das Be­ wusstsein der Menschenwürde auch in der Erniedrigung durch andere. Im Jahr 92/93 n. Chr. wurde Epiktet mit allen übrigen Philosophen von Kaiser Do­ mitian aus Rom verbannt und lebte seitdem bis zu seinem Tod in Nikopolis bei Actium.

Was

schr ieb er ?

Epiktet hatte schon als Sklave gelernt zu unterscheiden, was zu seinem unverzichtbaren und unverlierbaren Besitz gehörte und worüber er trotz äußerer Bedrängnis frei verfü­ gen konnte. Die Identifizierung und Sicherung des Verfügbaren wird folgerichtig zum Leitthema seiner Lehrgespräche und Lehrvorträge. Obwohl er sich selbst nie als Philo­ sophen bezeichnet, steht er mit seiner Lehre auf dem Boden der stoischen Philosophie, und zwar der Ethik der älteren Stoa. Aber im Gegensatz zu den älteren Stoikern befasst er sich nicht mit den traditionellen Themen Logik und Physik, sondern wie Sokrates konzentriert er sich ganz auf den Menschen und seine Möglichkeiten, Wege zum Glück zu finden, das in einem Höchstmaß an innerer Unabhängigkeit und Freiheit gegenüber der Welt besteht. Die Unterscheidung zwischen dem, was wir beeinflussen können und was nicht, ist die Voraussetzung für ein gelingendes Leben.

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Das eine steht in unserer Macht, das andere nicht. In unserer Macht stehen: Annehmen und Auffassen, handeln Wollen, Begehren und Ablehnen – alles, was wir selbst in Gang setzen und zu verantworten haben. Nicht in unserer Macht stehen: unser Körper, unser Besitz, unser gesellschaftliches Ansehen, unsere Stellung – kurz: alles, was wir selbst nicht in Gang setzen und zu verantworten haben (Encheiridion 1). Jeder Mensch ist für sein Glück oder Unglück selbst verantwortlich. Die Vernunft ist das leitende Prinzip, das die richtige Beurteilung der Eindrücke und Vorstellungen von den Dingen ermöglicht, die uns umgeben und die auf uns zukommen. Jeder Wunsch und jede Ablehnung beruht auf einem derartigen Urteil über die moralische Qualität des jeweiligen Gegenstandes oder Vorgangs. Aufgrund seiner Einbindung in soziale Bezüge ist der Mensch zur Solidarität ­gegenüber seinen Mitmenschen verpflichtet. Ihren Fehlern muss er mit Liebe und ­Geduld begegnen. Der Umgang mit den Mitmenschen ist nicht zuletzt eine Übung in moralischem Handeln und Verhalten. Aber es kommt immer auf die Praxis an (Enchei­ ridion 52): Der erste und notwendigste Bereich der Philosophie ist die Anwendung ihrer Lehren, wie zum Beispiel nicht zu lügen. Der zweite handelt von den Beweisen: Hier geht es zum Beispiel um die Frage, aus welchem Grund man nicht lügen darf. Der dritte be­ zieht sich auf die Begründung und Gliederung dieser Beweise; dabei wird zum Beispiel gefragt: Wie kommt es, dass etwas ein Beweis ist? Wodurch ist es denn ein Beweis? Was ist eine logische Folgerung? Was ist ein Widerspruch? Was ist wahr? Was ist falsch? Der dritte Bereich ist notwendig wegen des zweiten und der zweite wegen des ersten. Der wichtigste, mit dem man sich vor allem befassen soll, ist der erste. Wir machen es aber genau umgekehrt. Denn wir verbringen unsere Zeit mit dem dritten Bereich, und ihm gilt unser ganzer Eifer. Den ersten aber vernachlässigen wir völlig. Deshalb lügen wir. Wie man aber beweist, dass man nicht lügen darf, ist uns vertraut. Eine Abkehr von der Welt ist für Epiktet undenkbar. Denn diese ist ein von göttlichem Geist erfüllter und geordneter Kosmos. Daher ist die Welt als Ganze gut. Alles ist wohl­ geordnet. Der Mensch findet sein Glück in der Erfüllung seiner ihm von Gott zugewie­ senen Aufgaben; er wird dadurch zu einem Gesandten und Mitarbeiter Gottes (Diss. 3, 22, 46). Nichts kann ihn von diesem Dienst abhalten. Epiktet dürfte sich durch eine derartige Haltung als ein entschiedener Verfechter eines monotheistischen Gottes­ verständnisses erweisen. Er bekennt sich zu einem väterlichen Gott, der ihn in die Welt gesandt hat, damit er den Menschen Wege zum glücklichen Leben zeige. Was kann ich, ein hinkender alter Mann, sonst noch, außer Gott zu preisen? Wenn ich eine Nachtigall wäre, würde ich wie eine Nachtigall, und wenn ich ein Schwan wäre, wie ein Schwan singen. Nun bin ich aber ein vernunftbegabter Mensch. Also muss ich Gott preisen. Das ist meine Aufgabe. Ich erfülle sie und werde meinen Posten nicht verlassen, solange er mir gegeben ist, und ich fordere euch auf, mit ­einzustimmen (Diss. 1, 16). 114

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Es ist sinnlos, etwas zu wünschen, was man nicht erreichen kann: Verlange nicht, dass alles, was geschieht, so geschieht, wie du es willst, sondern wünsche dir, dass alles so geschieht, wie es geschieht, und du wirst glücklich sein (Ench. 8).

Wie

wur den die

Werke

über liefert?

Flavius Arrianus, Epiktets bedeutendster Schüler, veröffentlichte um 130 n. Chr. auf der Grundlage einer stenografischen Mitschrift die Lehrgespräche (Diatriben oder Dis­ sertationes) und das Handbüchlein (Encheiridon) mit den wichtigsten Gedanken des Philosophen. Wie sein Vorbild Sokrates hat Epiktet selbst keine eigenen Schriften ­publiziert. Von ursprünglich acht sind vier Bücher der Diatriben und das Encheiridion erhalten.

Wie

lebten die

Werke

fort?

Schon in der späteren Antike und dann im 16.–18. Jh. war das Encheiridion ein viel gelesener Lebensratgeber. Sein prominentester Leser und Bewunderer war der römi­ sche Kaiser Mark Aurel.

Was

bleibt?

Man sollte herausfinden und sorgfältig unterscheiden, was man beeinflussen kann und was nicht, um vernunftgemäß, selbstständig und unabhängig zu handeln. Auf dem richtigen Urteil über den Wert oder Unwert der Dinge und Vorgänge und dem daraus resultierenden Verhalten beruht das Glück des Menschen.

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Distanz und Toleranz: Mark Aurel Name: Marcus Aurelius Antoninus Lebensdaten: 121–180 n. Chr. Literarische Gattung: Philosophisch-autobiografischer Aphorismus Werke: Selbstbetrachtungen in 12 Büchern

Wer

war das?

Mark Aurel war ein Sohn des Marcus Annius Verus und der Domitia Lucilla. Nach dem Tod seines Vaters wurde er zusammen mit Lucius Verus von Antoninus Pius, der 138 Kaiser geworden war, als Marcus Aurelius Verus Caesar adoptiert und 145 n. Chr. mit dessen Tochter Faustina der Jüngeren verheiratet. Er genoss anfangs eine gründli­ che rhetorische Ausbildung bei dem Rhetor Fronto, mit dem er einen regen Briefwech­ sel hatte. Fronto bemühte sich sehr darum, Marcus bei der Rhetorik zu halten; aber dieser wandte sich mit fünfundzwanzig Jahren endgültig der stoischen Philosophie zu, die er nicht zuletzt unter dem Eindruck der Lehrgespräche des großen Stoikers Epiktet zum Zentrum seines philosophischen Denkens werden ließ. Mark Aurel wurde aber nicht nur von Epiktet und den Lehren der älteren Stoa, sondern auch von Poseidonios, dem bedeutendsten Vertreter der mittleren Stoa, beeinflusst. Das ist daraus zu ersehen, dass Mark Aurels Gedanken an zahlreichen Stellen seines Werkes mit Senecas Äuße­ rungen übereinstimmen, die ganz offensichtlich auf Poseidonios zurückgehen. Im Jahr 161 n. Chr. wurde er römischer Kaiser und wählte Lucius Verus zum Mit­ kaiser aus, der allerdings schon 169 starb. Mark Aurel hatte bis zu seinem Tod 180 n. Chr. zahlreiche Kriege zur Verteidigung des Römischen Reiches zu führen. Kriegsschauplätze waren u. a. Germanien, Britanni­ en, Vorderer Orient, Oberitalien, Dakien, Rätien, Noricum. Seine Hauptgegner waren die germanischen Markomannen. Während seiner Regierungszeit fand seltsamerweise auch eine Christenverfolgung in Lyon statt. Von seinen Söhnen mit Faustina überlebte nur Commodus, den Mark Aurel zu seinem Nachfolger bestimmt hatte. Die Historiker seiner Zeit erwähnen übereinstimmend, dass Mark Aurel seine stoischen Überzeugun­ gen auch in der Praxis zu verwirklichen suchte. Dazu gehörten seine Milde gegenüber seinen Feinden und Gegnern, sein Einsatz für ­Gerechtigkeit, seine Fürsorge für seine Untertanen und seine materielle Anspruchslosigkeit.

Was

schr ieb er ?

Die Selbstbetrachtungen in 12 Büchern wurden zwischen 170–178 n. Chr. während des Krieges gegen die Markomannen und Quaden verfasst. Der rote Faden, der die Apho­ 116

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rismen miteinander verbindet, ist die Frage: „Wie soll ich mit meiner tief verwurzelten Angst vor dem Leben und dem Sterben umgehen?“ Die Antwort ist ebenso für den römischen Kaiser wie für den griechisch schreibenden Philosophen gleich: Wir stellen uns dieser Angst, wenn wir uns der Philosophie anvertrauen. Denn Philosophieren bedeutet, sterben zu lernen, weil es den Weg zeigt, wie man zu sich selbst kommt und sich selbst in seinem spezifischen Sein erkennt, begreift und annimmt. Die Besonder­ heit des Menschen aber offenbart sich einerseits in der Souveränität seines Geistes, an­ dererseits in der Begrenztheit seiner physischen Existenz und der Unausweichlichkeit des Todes. Philosophieren ist demnach das Aufspüren und Abschreiten der Grenzen des Menschen. Die Texte sind keine abgeklärten Selbstgespräche, sondern Dokumente eines zähen und mitunter leidenschaftlichen Suchens nach dem Sinn individuellen Lebens, das der Vernichtung ausgesetzt bleibt. Mark Aurel ist fest davon überzeugt, dass alle vernünfti­ gen Wesen verwandt sind, eine natürliche Gemeinschaft bilden und sich von Natur aus lieben, dass man seine Mitmenschen in ihrer jeweiligen Besonderheit ertragen,­i­hnen verzeihen oder eines Besseren belehren müsse, wenn sie etwas Böses getan hätten. In diesem Falle solle man aber ihre Meinung und ihr Urteil ignorieren und sich ihre ­Bedeutungslosigkeit vor Augen führen. Dieser Widerspruch ist aufgehoben in einem festen Glauben an die Vernunft der Natur und des Kosmos und an die Vorsehung des göttlichen Schöpfers, der kein sinnloses Sein zulässt. Aber – und das ist eine Erkenntnis, die das ganze Werk durchzieht – der Mensch hat keine Einsicht in die Größe des Schöp­ fungswerkes. Er ist aber von Natur aus zur mitmenschlichen Zusammenarbeit – Mark Aurel verwendet hier (2, 1, 4) den Begriff der Synergie – geschaffen und bereit: Wir sind da, um zusammenzuarbeiten, wie die Füße, Hände, Augenlider oder die Rei­ hen der oberen und unteren Zähne. Gegeneinander zu arbeiten, wäre gegen die Natur. Man arbeitet aber gegeneinander, wenn man ärgerlich ist und sich abwendet. An einer anderen Stelle (9, 31) verwendet der Kaiser den Begriff des solidarischen ­Handelns: Leidenschaftslosigkeit (Ataraxie) angesichts der Ereignisse, die aufgrund einer äuße­ ren Ursache eintreten, Gerechtigkeit in den Handlungen, die entsprechend einer im Menschen selbst liegenden Ursache vollzogen werden. Das bedeutet: Streben und Tun erreichen ihre Ziele im solidarischen Handeln; denn dieses entspricht dem Wesen des Menschen. Trotz dieser menschenfreundlichen Einstellung nahm Mark Aurel die christliche Leh­ re, aber auch den Platonismus seiner Zeit und andere philosophisch-weltanschauliche Richtungen nicht zur Kenntnis. Unter diesem Gesichtspunkt gilt er als ein altmodi­ scher Denker, der sich ganz rückwärtsgewandt nicht nur an der Stoa, sondern auch an Heraklit, an Sokrates und Platon und sogar am Kynismus eines Diogenes und an ­Epikur orientierte. 117

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Mark Aurel schrieb ausschließlich für sich selbst. Denn an vielen Stellen formuliert er nur Stichworte, zitiert nur andeutungsweise und äußert ganz private Gedanken, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt sein konnten. So hat er die folgenden Sätze ­zweifellos an keinen anderen gerichtet (6, 30): Achte darauf, dass du dich nicht zum Cäsar machen und entsprechend einfärben lässt. Denn das kann geschehen. Sorge also dafür, dass du ein einfacher, guter, ehrlicher, ernsthafter, schlichter Mensch bist, ein Freund der Gerechtigkeit, gottesfürchtig, ­gütig, liebevoll und stark für die Leistungen, die du zu erbringen hast. Kämpfe darum, dass du so bleibst, wie dich die Philosophie haben wollte. Achte die Götter, rette die Menschen. Das Leben ist kurz. Die einzige Frucht des irdischen Lebens ist eine from­ me Gesinnung verbunden mit Taten zum Wohle der Mitmenschen. Erweise dich in allem als ein Schüler deines Adoptivvaters Antoninus: in seiner Ausdauer bei der Durchsetzung vernünftiger Maßnahmen, seiner vollkommenen Ausgeglichenheit, seiner Frömmigkeit, seinem heiteren Ausdruck, seiner Freundlichkeit, seiner Freiheit von Eitelkeit und seinem Ehrgeiz beim Erfassen von Tatsachen. Und wie er überhaupt nichts aus den Händen gab, bevor er es nicht völlig durchblickt und klar verstanden hatte. Und wie er diejenigen ertrug, die ihm zu Unrecht Vorwürfe machten, ohne selbst wieder Vor­w ürfe zu machen. In seinen Tagebuchnotizen ist Mark Aurel völlig illusionslos, wenn er hohe Lebenszie­ le mit den menschlichen Möglichkeiten konfrontiert; es ist erschütternd, wie der erste Mann des Römischen Reiches die Wirklichkeit des Alterns schonungslos analysiert: Nicht allein daran muss man denken, dass das Leben mit jedem Tag kürzer wird und ein ständig kleinerer Teil davon übrig bleibt, sondern man sollte sich auch dessen bewusst sein, dass es keineswegs sicher ist, wenn man länger leben sollte, ob auch die geistige Kraft gleich bleiben wird, die für das Verständnis der Vorgänge in dieser Welt und für die auf die Erforschung der göttlichen und menschlichen Grundfragen zielende Denk­ arbeit erforderlich ist. Wenn man nämlich anfängt, albern zu reden, werden sich das Atmen, die Ernährung, die Wahrnehmung, das Streben und Verlangen und anderes die­ ser Art nicht abschwächen. Doch über sich selbst zu verfügen, seine einzelnen Pflichten sorgfältig auseinanderzuhalten, die Phänomene zu unterscheiden, sich vor allem darü­ ber im Klaren zu sein, ob man seinem Leben schon ein Ende machen muss, und was sonst noch einen besonders gut geschulten Verstand voraussetzt – alle diese Fähigkeiten nehmen deutlich ab. Man muss sich also beeilen, nicht nur weil man täglich dem Tod näher kommt, sondern auch die Fähigkeit zum Verstehen und Verarbeiten der Vorgänge in der Welt früher aufhört, als man denkt (3, 2). Vielleicht ist diese Schonungslosigkeit, mit der Mark Aurel seine mensch­liche Existenz analysiert, auch der Grund dafür, dass er sich mit der Beschränktheit und Hinfälligkeit abfand und einen Blick für die eigentümliche Schönheit des scheinbar Unvollkomme­ nen gewann: 118

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Wenn zum Beispiel ein Brot gebacken wird, brechen einige Stellen auf, und diese Risse, die gewissermaßen im Widerspruch zum Zweck des Brotbackens stehen, fallen irgend­ wie ins Auge und regen auf besondere Weise den Appetit an. Auch die Feigen platzen auf, wenn sie überreif sind. Und bei den vollreifen Oliven erhält die Frucht eine ganz eigentümliche Schönheit, wenn die Fäulnis unmittelbar bevorsteht. Die sich nach un­ ten neigenden Ähren, die runzlige Stirn des Löwen, der Schaum, der aus dem Maul des Ebers fließt, und vieles andere, das für sich allein betrachtet alles andere als schön ist, lässt dennoch ein schönes Gesamtbild entstehen und berührt die Seele, weil es die na­ türlichen Erscheinungen begleitet; wenn also jemand ein Gefühl und ein tieferes Ver­ ständnis für das Geschehen im Ganzen der Welt hat, dann wird ihm deutlich werden, dass fast alles gerade durch derartige Begleitumstände eine auf seine Weise angenehme und erfreuliche Wirkung hat. … Vieles dieser Art ist nicht jedem zugänglich, sondern allein demjenigen, der mit der Natur und ihrem Wirken vollkommen eins ist (3, 2). Da die Aufzeichnungen in vielem an die literarische Form der Paränese, der morali­ schen Ermahnung, und der Diatribe, der philosophischen Auseinandersetzung mit praktischen Lebensfragen, erinnern, waren sie für den Autor ein Mittel, sich der Grund­ sätze der eigenen Daseinsbewältigung zu vergewissern. Sein Verhältnis zu seinen Mit­ menschen und zum Menschsein überhaupt lässt sich wohl am treffendsten anhand ­einer seiner zentralen Maximen charakterisieren: Ertrage deine Mitmenschen, nimm ihr Menschsein hin, wie es ist, und lass sie nicht zu nahe an dich herankommen; zieh dich zurück, distanziere dich. Auch wenn er jemanden anzureden scheint, ist er sein eigener Gesprächspartner und Mahner: Erkenne niemals als nützlich für dich an, was dich irgendwann einmal dazu zwingen wird, die Treue zu brechen, den Anstand zu verletzen, jemanden zu hassen, Argwohn zu hegen, jemandem etwas Böses zu wünschen, zu heucheln, etwas zu begehren, das sich hinter Mauern und Vorhängen verstecken muss. Wer seinen eigenen Geist, seine göttliche Kraft und den Dienst an deren Vervollkommnung vorzieht, verursacht keine Tragödie, bricht nicht in Stöhnen aus und wird keine Einsamkeit und keine Menschen­ menge brauchen. Was das Wichtigste ist: Er wird leben, ohne zu verfolgen oder zu fliehen. Ob er aber seine im Körper eingesperrte Seele für einen größeren oder für ei­ nen kleineren Zeitraum zur Verfügung haben wird, ist ihm ­völlig gleichgültig (3, 7).

Wie

wur den die

Werke

über liefert?

Mark Aurels Aufzeichnungen wurden zum ersten Mal 1559 bei Andreas ­Gesner in Zürich gedruckt. Die Druckvorlage war eine heute leider verschollene Handschrift, der Codex Toxitanus, der seinen Namen Michael Toxites verdankt. Dieser hatte die Handschrift für die Drucklegung besorgt. Dem gedruckten Text ist eine lateinische Übersetzung von Guilelmus Xylander, dem Augsburger Humanisten, beigegeben. Die 119

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einzige vollständig erhaltene Handschrift ist der Codex Vaticanus 1950 aus dem 14. Jh., der erst 1774 für eine in Paris gedruckte Textausgabe benutzt wurde. Daneben gibt es zahl­reiche Handschriften aus dem 14.–16. Jh., die nur einzelne Teile des Werkes enthalten, aber für die Herstellung des authentischen Textes mitunter von großer ­Bedeutung sind.

Wie

lebten die

Werke

fort?

Auf die Frage nach seinen Vorbildern antwortete der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt: „Es wird Sie überraschen, was ich zu antworten habe. Eines meiner Vorbilder ist … der römische Kaiser Marcus Aurelius gewesen, er ist es bis heute geblie­ ben. Mark Aurel ist ein Vorbild in zweierlei Hinsicht: einmal wegen seines Verständ­ nisses von Pflichterfüllung, zum anderen wegen seiner Gelassenheit seinem eigenen Schicksal gegenüber“ (Die Zeit: Helmut Schmidt. Würdigungen, Essays und Glück­ wünsche zum 90. Geburtstag. Erster Teil: Der Staatsmann, 2009). In der Rubrik Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt (Die Zeit: Magazin Nr. 2 vom 31.12.2008) antwortet Schmidt auf eine Frage seines Gesprächspartners Giovanni di Lorenzo: „Mark Aurel begleitet mich schon seit 75 Jahren. Als ich 15 war und konfirmiert wurde, hat mir ein Onkel die Selbstbetrachtungen in deutscher Sprache geschenkt. Es war ein ungewöhn­ liches Geschenk, das mich bald fasziniert hat.“ Auf die Frage, was ihn an Mark Aurel so fasziniert habe, erwidert Schmidt: „Die stetige Ermahnung, seine Pflicht zu erfüllen, kombiniert mit der Ermahnung zur inneren Gelassenheit. Offenbar war Mark Aurel von Natur aus nicht unbedingt ein gelassener Mensch, aber er hat sich immer wieder zur Gelassenheit ermahnt.“

Was

bleibt?

Mark Aurels Grundregel für den Umgang des Menschen mit der Welt lautet, dass man sich nicht von den Gegebenheiten und Vorgängen berühren lassen dürfe, auf die man keinen Einfluss und für die man darum keine Verantwortung habe. Wo aber liegt die Grenze zwischen dem Beeinflussbaren und dem Unbeeinflussbaren?

120

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Im Schatten des Aristoteles: Theophrast Lukian hatte zuletzt den Stoiker Chrysipp auf den Markt geschickt. Das war Grund genug, einige seiner Nachfolger zu porträtieren, die auch Lukian gekannt haben könn­ te – einschließlich Mark Aurel, mit dem er zumindest die Lebensdaten (120 /121–180 n. Chr.) gemeinsam hat. Aber es ist unwahrscheinlich, dass der Satiriker seinen promi­ nenten Zeitgenossen als Philosophen wahrnahm, und selbst wenn: Auch auf einem frei erfundenen Markt hätte er einen philosophischen Kaiser niemals zum Verkauf anbie­ ten können. Das wäre kein Stoff für eine Satire gewesen. Aber dann geht es weiter. (26) Z.: H.: K.: H.: K.: H.:

K.: H.: K.: H.: K.: H.:

K.: H.:

K.: (27) H.:

Nicht trödeln! Ruf als Nächsten den Peripatetiker auf! (zu dem Peripatetiker) Ich meine dich, der so gut aussieht und so wohlha­ bend zu sein scheint! Auf denn! Kauft den hochbegabten, superintelligen­ ten Allesversteher! Wie ist er denn sonst? Maßvoll, anständig, ausgeglichen in seiner Lebensführung. Und was das Größte ist, es gibt ihn doppelt! Wie meinst du das? Von außen betrachtet, scheint er der eine, von innen ein anderer zu sein. Wenn du ihn kaufst, dann denk also daran, dass er einerseits ein Exoteri­ ker ist, der die Öffentlichkeit sucht, andererseits ein Esoteriker, der sich nur in einem erlauchten Kreis bewegt. Was versteht er denn am besten? Dass es drei Arten von Gütern gibt: seelische, körperliche und äußere. Er hat also einen gesunden Menschenverstand. Wie viel kos­tet er? Zwanzig Minen. Das ist ein hoher Preis. Nein, lieber Freund. Denn er selbst hat auch ein bisschen Geld in der ­Tasche, sodass du nicht schnell genug zugreifen kannst. Außerdem wirst du sofort von ihm erfahren, wie lange eine Stechmücke lebt, wie weit das Sonnenlicht in die Tiefe des Meeres reicht und wie es um die Seele der Austern bestellt ist. Mein Gott! Ist das interessant! Wie würdest du erst staunen, wenn du hörtest, was noch viel scharfsinni­ ger ist als dies: Er weiß über Zeugung und Empfängnis und über die Ent­ wicklung des Embryos im Mutterleib Bescheid, und wie es kommt, dass ein Mensch lachen kann, ein Esel aber nicht, der ja auch keine Häuser bauen oder Schiffe steuern kann! Du erwähnst sehr wichtige und nützliche Wissensinhalte. Ich kaufe ihn also für zwanzig Minen. Sehr gut. 121

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Von den zahlreichen Angehörigen der peripatetischen Schule sei hier nur ein einziger, aber besonders berühmter Schüler des Aristoteles vorgestellt. Name: Theophrastos von Eresos auf Lesbos Lebensdaten: 372–288 v. Chr. Literarische Gattung: Materialsammlung (Hypómnema), Problem­diskussion (Próblema und Zétema), Beschreibung naturwissenschaft­licher Tatbestände (His­ toria und Aitiologia), Doxografie (Darstellung philosophischer Lehrmeinungen) Werke: Beispiele aus seiner Liste von über 200 Titeln (D. L. 5, 36–57): ­Charakterbeschreibungen, Schriften zur Metaphysik und Physik, eine Sammlung von naturphilosophischen Thesen, eine Abhandlung über die Ursprünge der Pflanzen und eine Pflanzenkunde

Wer

war das?

Theophrast war Schüler und Freund des Aristoteles. Er war diesem nach Platons Tod nach Makedonien an den Hof Philipps II. gefolgt. Dann erwarb er in Stageira, dem Geburtsort des Aristoteles, ein Landgut. Als dieser nach Alexanders Tod Athen verließ, übernahm er die Leitung des Lykeion und war dort ein erfolgreicher Lehrer. Er soll an die zweitausend Schüler gehabt haben. Vielleicht war auch der Komödiendichter Menander darunter, der durch die Charaktere des Theophrast bei der Gestaltung seiner Komödienfiguren Anre­ gungen erhalten haben dürfte. Dass Demetrios von Phaleron, der makedonischer Statt­ halter in Athen von 317–307 v. Chr., sein Schüler war, ist gut bezeugt. Demetrios’ Ablö­ sung veranlasste aber auch Theophrast, Athen zu verlassen.

Was

schr ieb er ?

Theophrast folgt inhaltlich und methodisch seinem Lehrer Aristoteles. Das Maß seiner Abhängigkeit von diesem ist noch nicht hinreichend geklärt. Als wirklich selbstständi­ ger Denker ist er in seinen Charakteren erkennbar, die seinen Ruhm begründen. Dieses Werk besteht aus dreißig Beschreibungen durchweg negativer menschlicher Verhal­ tensweisen. Auf die Definition e­ines bestimmten Fehlers folgt die Darstellung der ­daraus sich ergebenden Verhaltensweisen und Gewohnheiten. Es sind in der Regel Charakterschwächen und keine kriminellen Handlungen – auch nach unserem Rechts­ verständnis. Eine karikierende Tendenz ist erkennbar. Den Misstrauischen (18) cha­ rakterisiert er u. a. so: Das Misstrauen umfasst zweifellos den Verdacht einer unrechten Tat gegen alle Men­ schen. Wenn der Misstrauische einen Sklaven zum Einkaufen schickt, lässt er heimlich einen zweiten hinterhergehen, der feststellen soll, wie viel der Einkauf gekostet hat. Er trägt sein Geld selbst, und nach einer bestimmten Strecke des Weges setzt er sich hin, 122

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um es nachzuzählen. Nachdem er ins Bett gegangen ist, fragt er seine Frau, ob sie die Geldtruhe angekettet hat, ob der Kasten mit den Bechern verschlossen ist, ob der ­R iegel des Hoftores vorgelegt sei, und wenn sie es bestätigt, steht er noch einmal auf. Ohne Kleider und Schuhe nimmt er eine Lampe, läuft überall herum, sieht nach und kommt dadurch kaum zum Schlafen. Menschliches Verhalten entsteht nach antiker Auffassung aus dem Zusammenwirken von natürlicher Anlage, Belehrung, Gewöhnung und Übung. Wie Theophrast zeigt, gilt dies nicht nur für positive Verhaltensweisen (Tugenden), sondern auch für das wei­ te Feld menschlicher Untugenden, denen ein Komödiendichter wie Menander mit Nachsicht zu begegnen empfiehlt.

Wie

wur den die

Werke

über liefert?

Die früheste erhaltene Handschrift der Charaktere stammt aus dem 10. Jh. In einer Münchner Handschrift des 15. Jh.s sind ein aus byzantinischer Zeit stammendes Vor­ wort der Charaktere und moralisierende Kurzfassungen ­einiger Charakterskizzen überliefert.

Wie

lebten die

Werke

fort?

Zahlreiche Schriften Theophrasts wirken in den Werken späterer Autoren fort. Die Charakterzeichnungen regten nicht nur Menander an, sondern lieferten auch Material für spätere Komödien. Eine Schrift Über die Qualitätsmerkmale des Redners ist in ­Ciceros Orator (75 ff.) eingegangen. Ein Goldenes Buch über die Ehe – Theophrast selbst war nicht verheiratet – wirkte über Seneca auf Tertullian, von diesem auf Hieronymus und schließlich auf Hugo von St. Victor. Die Schrift wurde auch von Plutarch und an­ deren benutzt. Theophrasts Doxografie ist heute noch eine Informationsquelle für die ­Philosophie der Vorsokratiker. Eine Schrift Über die Frömmigkeit hat im 3./4. Jh. n. Chr. den Neuplatoniker Porphyrios beeinflusst, wobei dieser vor allem die Ableh­ nung der blutigen Opfer und die Überzeugung von der ­natürlichen Verwandtschaft aller Lebewesen übernahm. Eine Arbeit Über Stilfragen zog der römische Rhetorik­ lehrer Quintilian (9, 27) für seine Erörterungen über Stilbildung heran. Nach Gellius (Noctes Atticae 1, 3, 10 ff.) hielt sich Cicero bei seiner Arbeit an ­seiner Abhandlung über die Freundschaft (De amicitia) an eine Schrift des Theo­ phrast mit gleichnamigem Titel. In diesem Werk ging es laut Gellius unter anderem um die Frage, ob man dem Freund auch gegen das herrschende Gesetz helfen dürfe. Cicero (De amicitia 61) befasste sich in Anlehnung an Theophrast mit diesem schwierigen Problem. Der Titel Charaktere (Prägungen) hat das neuzeitliche Verständnis des CharakterBegriffs wesentlich beeinflusst. Denn bis heute geht man davon aus, dass aus einer 123

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bestimmten Prägung einer Persönlichkeit entsprechende Verhaltensweisen erwach­ sen. Wenn Horaz in seiner Satire den Schwätzer charakterisiert (Sermones 1, 9), ist Theophrast sein Vorläufer. In der späteren Antike wurden die Charaktere bis in ­byzantinische Zeit in der Rhetorikausbildung als Muster für Charakterisierungen von Personen verwendet. In der Renaissance entstanden lateinische Übersetzungen. Isaac Casaubonus verfasste einen 1592 in Leiden erschienenen und mehrfach nachgedruck­ ten Kommentar, der dem neu erwachten Interesse an Charakterskizzen und Porträts entgegenkam.

Was

bleibt?

Angesichts der bis heute anhaltenden Diskussion über die Bedeutung von natürlicher Anlage und gesellschaftlichen Einflüssen auf die Persönlichkeitsentwicklung hat es den Anschein, als ob die Charaktere demonstrieren wollten, dass das Wesen des Durch­ schnittsmenschen unveränderlich und unbeeinflussbar ist und dass Erziehung und Bil­ dung ohne nachweisbare Wirkung bleiben. Das entspricht in der Tat der aristotelischen Denkfigur von Möglichkeit und Wirklichkeit: Nur das als möglich Angelegte kann auch wirklich werden.

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Seelenruhe durch Zurückhaltung: Skeptiker Der erste Markttag geht langsam seinem Ende entgegen. Am Schluss des Tages gibt es noch ein interessantes Angebot: (27) Z.: H.:

K.: Pyrrhon: K.: Pyr.: K.: Pyr.: K.: Pyr.: K.: Pyr.: K.: Pyr.: K.: Pyr.: K.: Pyr.: K.: Pyr.: K.: H.: K.:

Wen haben wir denn da noch? Da ist noch dieser Skeptiker übrig. Komm her, du Rotschopf, und stell dich schnell vor. Denn die meisten rennen schon weg, und nur wenige nehmen noch an der Verkaufsaktion teil. Dennoch: Wer will diesen ­haben? Ich. (Zu dem Skeptiker) Aber zuerst musst du mir sagen, was du kannst und was du weißt. Nichts. Wie meinst du das? Dass meiner Meinung nach überhaupt nichts existiert. Sind dann etwa auch wir gar nicht da? Ich weiß es nicht. Auch nicht, dass du selbst existierst? Darüber bin ich mir noch mehr im Unklaren. Ach, was für eine verfahrene Situation! Was bedeuten dir aber diese Waagschalen? Ich lege die Worte hinein und wiege sie, und wenn ich sehe, dass sie völlig gleich und gleichwertig sind, dann, ja dann weiß ich nicht, welches von beiden wahrer ist. Was würdest du sonst einigermaßen hinbekommen? Alles außer dem Einfangen eines entlaufenen Sklaven. Warum kannst du das nicht? Weil ich, mein Guter, nichts greifen kann. Natürlich. Denn du scheinst ziemlich langsam und träge zu sein. Aber was ist das höchste Ziel deines Könnens? Unwissenheit und weder hören noch sehen zu können. Du meinst also, blind und taub zu sein? Und darüber hinaus, ohne Urteil und ohne Wahrnehmung zu sein und sich überhaupt nicht von einem Wurm zu unterscheiden. Aus diesem Grund muss ich dich kaufen. (Zu Hermes) Wie viel soll er denn bringen? Eine attische Mine. Hier, nimm das Geld. (Zu Pyrrhon) Was sagst du dazu, Mann? Habe ich dich nun gekauft? 125

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Pyr.: K.: Pyr.: K.: Pyr.: K.: Pyr.: K.: Pyr.: K.: H.:

Das ist nicht sicher. Stimmt nicht! Ich habe dich doch gekauft und gleich den Preis bezahlt. Ich halte mein Urteil darüber zurück und denke darüber nach. Dann folge mir, wie es sich für einen Sklaven gehört. Wer weiß denn, ob das, was du sagst, wirklich die Wahrheit ist? Der Verkäufer, das bezahlte Geld und die Anwesenden bezeugen es. Sind denn irgendwelche Leute in unserer Nähe? Ich werde dich jetzt an die Mühle binden und dich davon überzeugen, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes dein Herr bin. Halte dein Urteil darüber zurück! Nein, beim Zeus, das geht nicht mehr; denn ich habe mein Urteil schon gefällt. (Zu Pyrrhon) Hör endlich auf, dich zu wehren, und folge deinem neuen Besitzer! (Zu den Leuten) Wir laden euch aber wieder für morgen ein. Doch dann wollen wir ganz unkomplizierte Leute, Arbeiter und Händler, verkaufen.

Dass man über den Skeptiker Pyrrhon mehr wusste und weiß, als er selbst über sich zu wissen vorgibt, lässt sich gleich zeigen. Das gilt vor allem für seine skeptische Grund­ einstellung, die er in seinem Gespräch mit dem Käufer ein wenig übertreibt.

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Skepsis und Gleichgültigkeit: Pyrrhon von Elis Name: Pyrrhon von Elis Lebensdaten: 360–270 v. Chr. Literarische Gattung: Nach dem Vorbild des Sokrates hat er nichts ­geschrieben, aber viele haben etwas über ihn geschrieben. Werke: Seine Gedanken wurden später von Timon von Phleius aufgezeichnet, der u. a. Spottgedichte auf die dogmatischen Philosophen verfasste. Auch davon sind nur Fragmente erhalten. Die wichtigste Informationsquelle ist aber Sextus Empiricus.

Wer

war das?

Pyrrhon kam aus armen Verhältnissen und war zunächst erfolglos als Maler tätig. Spä­ ter studierte er Philosophie, lebte sehr zurückgezogen und begab sich oft auf Reisen, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Mit einigen Freunden begleitete er Alexander den Großen auf seinem Feldzug nach Indien, wo er auch indische Asketen und Fakire ken­ nenlernte. Nach seiner Rückkehr war er in seiner Heimatstadt Philosophielehrer. ­Leben und Lehre, so heißt es, stimmten bei ihm überein. Erzählt wird auch, er sei einmal dabei gewesen, als Anaxarchos aus Abdera, einer seiner Lehrer, in ein Sumpfloch fiel; er habe ihm aber nicht geholfen und sei einfach weitergegangen. Das brachte ihm man­ chen Tadel ein. Aber Anaxarchos selbst soll ihn später dafür sehr gelobt haben, weil er durch diese unterlassene Hilfeleistung seine Apathie bewiesen habe. Epikur bewun­ derte ihn wegen seiner Lebensweise. Besonders erwähnt werden seine Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber seiner Schwester Philista.

Was

war en seine

Grundgedanken?

Pyrrhon meint, die Seelenruhe, das Ziel seiner Philosophie, die man später als Skepti­ zismus bezeichnet, beruhe auf vollständiger Gleichgültigkeit (­ Adiaphorie) gegenüber der Welt. Weil der Skeptiker keine Unterschiede zwischen den Dingen sieht, sind sie für ihn gleich gültig und damit auch gleichgültig. Daraus folgt, dass er sich jeder Fest­ legung und Entscheidung enthält und irreversible Handlungen vermeidet. So scheint er eine besonders elegante Philosophie entwickelt zu haben, indem er den Begriff der Unbegreiflichkeit und der Zurückhaltung im Urteil einführte. … Denn er behauptete, dass nichts schön oder hässlich, gerecht oder ungerecht sei; und so existie­ re in Wahrheit überall nichts wirklich, sondern die Menschen handelten stets aufgrund 127

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von Vereinbarung und Gewohnheit. Denn jedes Ding sei ebenso dieses wie jenes. So verhielt er sich auch im täglichen Leben: Vor nichts wich er aus, vor nichts nahm er sich in Acht, alles ließ er auf sich zukommen, ob ihm nun Wagen auf der Straße zufällig entgegenkamen, ob er auf steile Stufen oder Hunde oder auf sonst etwas traf; er verließ sich nicht auf seine Wahrnehmung. Wie Antigonos von Karystos sagt, wurde er aller­ dings immer wieder von seinen Schülern, die ihn gewöhnlich begleiteten, vor einem Unglück bewahrt (D. L. 9, 61 f.). Dass auch Pyrrhon die von ihm empfohlene Gleichgültigkeit nicht vollständig erreichte, zeigt die Anekdote von dem Schrecken, den er bekam, als ihn unerwartet ein Hund ­ansprang. Als man ihm dies vorhielt, soll er erklärt haben, es sei eben schwierig, den Menschen vollständig abzustreifen (D. L. 9, 66).

Wie

wur den seine

Grundgedanken

überliefert?

Seine Schüler und Nachfolger hielten die Erinnerung an Pyrrhon wach: Timon von Phleius wurde schon erwähnt; Antigonos von Karystos schrieb eine Abhandlung über das Leben und die Persönlichkeit Pyrrhons; Ainesidemos, ein Zeitgenosse Ciceros, ver­ fasste Pyrrhonische Erläuterungen, die in einem Auszug aus byzantinischer Zeit erhal­ ten sind, und einen Abriss der Pyrrhonischen Philosophie.

Wie

lebten seine

Grundgedanken

fort?

Sextus Empiricus hat im 2. Jh. n. Chr. vor allem in seinem Grundriss der Pyrrhonischen Philosophie Pyrrhons Lehren aufgegriffen und präzisiert. Nach ihm wurde die skepti­ sche Philosophie als Pyrrhonismus bezeichnet. Seine Schüler, die Pyrrhoneer, haben die Geisteshaltung ihres Meisters verbreitet. Ob Pyrrhon selbst wirklich der radikale Zweifler war, als den man ihn später verstand, ist fraglich. Man bezeichnete die Pyrrhoneer als Aporetiker (Ausweglose), als Skeptiker (Prüfen­ de), weiterhin als Ephektiker (Leute, die ihr Urteil zurückhalten), als Zetetiker, d. h. als Suchende, die sozusagen nach ihrer Lehre suchen, wenn dieses Wort überhaupt hier zutrifft, weil sie dauernd auf der Suche nach der Wahrheit sind: als Skeptiker, weil sie ständig prüfen und nie ein Ergebnis finden, als Ephektiker aufgrund ihrer Einstellung im Anschluss an das Suchen, d. h. aufgrund der Zurückhaltung ihres Urteils, und als Aporetiker, weil nicht nur sie selbst, sondern auch die Dogmatiker manchmal keine Lösung haben (D. L. 9, 69 f.). Pyrrhon war sicherlich nicht der Erfinder der skeptischen Philosophie und des Skepti­ zismus. Denn schon Homer, die Sieben Weisen, Archilochos und Euripides waren von einem entschiedenen Skeptizismus geprägt. Aber Pyrrhon hat wesentlich dazu bei­ 128

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getragen, dass der Skeptizismus bis auf den h ­ eutigen Tag als Grundhaltung und Denk­ richtung lebendig ist. Als philosophische Opposition gegen den Dogmatismus etablier­ ter Systeme besteht Pyrrhon auf der unterschiedslosen Glaubwürdigkeit sich wider­sprechender Aussagen. Aber erst in der akademischen Skepsis (vor allem bei dem Akademiker Karneades) entwickelt sich daraus die Auffassung, dass Täuschung prin­ zipiell nicht ausgeschlossen werden kann. Cicero zitiert in seinem Lucullus 73 den radikalen Skeptiker Metrodoros von Chios (400 v. Chr.): Ich behaupte, dass wir nicht wissen, ob wir etwas wissen oder ob wir nichts wissen, und dass wir nicht einmal diese Feststellung nicht wissen oder wissen, ob überhaupt etwas existiert oder nichts existiert. Als kritische Reflexion der Realität und scheinbar fragloser Deutungen der Wirklich­ keit wird die Skepsis zu einer Konstante der europäischen Philosophiegeschichte. Aus der antidogmatischen und autoritätskritischen Haltung der Skepsis erwachsen Zu­ rückhaltung und Toleranz. Dass der skeptische Denkstil nicht nur eine klärende, ­sondern auch eine therapeutisch-heilende Funktion haben kann, ergibt sich aus der schlichten Gnome des skeptischen Stoikers Epiktet: Nicht die Realität als solche beunruhigt die Menschen, sondern ihre Urteile und Mei­ nungen über die Realität. So ist zum Beispiel der Tod nichts Furchtbares – sonst hätte er auch Sokrates furchtbar erscheinen müssen –, sondern nur die Meinung, er sei etwas Furchtbares, ist das Furchtbare (Encheiridion 5). Zwei treffende Charakterisierungen der skeptischen Denkrichtung aus dem 1. vor­ christlichen und dem 2. nachchristlichen Jh. seien hier zitiert: (1) Cicero beschreibt die akademische Skepsis in seinem Lucullus (7–9): „Da wir aber gewohnt sind, gegen alle zu argumentieren, die etwas zu wissen glau­ ben, können wir uns nicht darüber beschweren, dass andere uns widersprechen. Aller­ dings ist unsere Situation recht einfach: Denn wir wollen die Wahrheit ohne irgendeinen Streit finden und suchen sie mit besonderer Sorgfalt und größtem Eifer. Denn auch wenn alle Erkenntnis von vielen Schwierigkeiten verstellt ist und die Dinge selbst von einer so großen Dunkelheit verhüllt und unsere Urteile so beschränkt sind, dass sogar die ältes­ ten und gelehrtesten Männer daran verzweifelten, finden zu können, was sie finden woll­ ten, haben sie es trotzdem nicht aufgegeben, und auch wir werden uns nicht der Erschöp­ fung ausliefern und die Lust verlieren, weiter zu forschen. Meine Überlegungen haben keinen anderen Zweck, als durch Reden und Zuhören im Sinne eines Für und Wider (in utramque partem dicendo et ­audiendo) etwas hervor­ zulocken und gewissermaßen auszudrücken, was entweder wahr ist oder der Wahrheit möglichst nahe kommt. Zwischen uns und denen, die etwas zu wissen glauben, besteht 129

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nur der Unterschied, dass jene nicht an der Richtigkeit ihrer Position zweifeln, ­während wir vieles höchstens für plausibel (probabile) halten, was wir zwar leicht nachvollzie­ hen, aber wohl kaum beweisen können. Doch gerade dadurch sind wir viel freier und unabhängiger, dass wir frei von Vorurteilen sind und uns nicht gezwungen sehen, alles Mögliche zu verteidigen, was uns von außen vorgegeben und gewissermaßen befohlen wird. Denn die anderen sind erstens schon festgelegt, bevor sie überhaupt urteilen konnten, was das Beste ist; zweitens urteilen sie in einem sehr unreifen Alter oder in Anlehnung an ­einen bestimmten Freund oder eingenommen von einer einzigen Rede, die irgendein Mensch gerade über unverstandene Fragen gehalten hat; und zu welcher Disziplin sie der Sturm gewissermaßen hingetrieben hat, an diese klammern sie sich wie an einen Felsen. Denn wenn sie sagen, sie hätten volles Vertrauen zu dem Menschen, den sie für weise hielten, würde ich dies akzeptieren, wenn sie dies in ihrer fehlenden Bildung und in ihrer Unkenntnis hätten beurteilen können (denn wenn man beurteilen will, wer weise ist, muss man auf jeden Fall selbst weise sein). Aber sie haben es getan, wie sie es konnten. Einige allerdings, die ein wenig besser Bescheid wussten, haben erst geurteilt, nachdem sie sich alles angehört und auch die Ansichten der übrigen zur Kenntnis ­genommen hatten, oder sich der Autorität einer bestimmten Person unterworfen, nachdem sie die Sache einmal gehört hatten. Die meisten Menschen wollen dagegen aus unerfindlichen Gründen ­lieber im Irr­ tum bleiben und die Meinung, die sie einmal liebgewonnen ­haben, verbissen verteidi­ gen, als ganz unvoreingenommen herauszufinden versuchen, was der Kritik am besten standhält.“ (2) Im elften Buch seines essayistisch angelegten Sammelwerkes Attische Nächte (11, 5) beschreibt Gellius die Pyrrhonischen Philosophen, die man auch als Skeptiker bezeich­ ne. Das bedeute etwa dasselbe wie ‚Untersucher und Aufspürer‘ (Investigatoren). „Sie treffen nämlich keine Entscheidungen und legen sich auf nichts fest, sondern sind stän­ dig dabei zu fragen und zu überlegen, was in aller Welt das ist, wofür sie sich entschei­ den und worüber sie eine richtige Aussage treffen können. Außerdem sind sie der An­ sicht, sie könnten überhaupt nichts klar sehen und deutlich hören. Sie bildeten sich nur ein, dass sie etwas sähen und hörten. Sie zögerten und hielten sich mit ihrem Urteil über die Vorgänge zurück, die die Dinge in ihnen hervorriefen. Da die Kenn­zeichen des Wahren und des Falschen bei allen Dingen miteinander vermischt seien, erklären sie, dass Verlässlichkeit und Wahrheit nicht greifbar erschienen. Folglich müsse jeder Mensch, der sein Urteil nicht überstürzt oder voreilig fälle, immer wieder dasselbe ­sagen, was schon Pyrrhon von Elis, der Begründer dieser philosophischen Lehre, ge­ sagt haben soll: ‚Diese Angelegenheit verhält sich so oder anders oder auch völlig an­ ders als vermutet.‘ Denn sie bestreiten, dass man Beweise für irgendetwas und seine tatsächlichen Eigenschaften erkennen und erfassen könne. Sie versuchen, diese Fest­ stellung auf vielfältige Weise zu vermitteln und darzustellen.“ Um kein Missverständnis entstehen zu lassen – die antike Skepsis ist kein aktiver Zweifel im Sinne einer Ablehnung oder eines Bestreitens, sondern lediglich die passive Zurückhaltung im Urteil und das Eingeständnis, etwas nicht zu wissen. 130

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v Skeptizistischer Denkstil Hier sei nur an ein einziges Beispiel für den skeptizistischen Denkstil in der ­Mo­derne erinnert: an Albert Camus’ existenzialistischen Skeptizismus, wie er im ­Mythos von Sisyphos (Paris 1942, dt. Düsseldorf 1956) als ein Versuch über das Absurde erscheint, das sich aus der „Gegenüberstellung des Menschen, der fragt, und der Welt, die ver­ nunftwidrig schweigt“ (Camus, 29), ergibt. Von wem oder wovon kann ich tatsächlich behaupten: Das kenne ich! Das Herz in mir kann ich fühlen, und ich schließe daraus, dass es existiert. Die Welt kann ich berühren, und auch daraus schließe ich, dass sie existiert. Damit aber hört mein ganzes Wissen auf; alles andere ist Konstruktion (zit. aus der rde-Ausgabe, 21).  v

Was

bleibt?

Der antike Skeptizismus bringt eine Konstante der condicio humana zur Geltung: die existenzielle Ungewissheit, der Pyrrhon nach dem Motto „Das eine trifft nicht mehr zu als das andere“ in seinem Leben und Denken zu entsprechen versuchte, um zu erklä­ ren, dass nicht die Dinge, sondern die Vorstellungen von den Dingen die Ursache menschlicher Triebkräfte sind.

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Ciceros geheimes Vorbild: Karneades Name: Karneades aus Kyrene Lebensdaten: 214–129 v. Chr. Literarische Gattung: Philosophischer Dialog, Lehrvortrag Werke: Er hat zwar nichts geschrieben; aber seine Lehren wurden von seinen Schülern aufgezeichnet (D. L. 4, 65).

Wer

war das?

Karneades gilt als der Begründer der Neuen Akademie. Er nahm zusammen mit dem Peripatetiker Kritolaos und dem Stoiker Diogenes aus Seleukeia an der Philosophen­ gesandtschaft 156/155 v. Chr. nach Rom teil (Laktanz, Institutiones 5, 14, 3–5), die mit den Römern über eine den Athenern auferlegte Geldstrafe verhandeln sollte. Karnea­ des erweckte mit seinen beiden Vorträgen, die Cicero im dritten Buch seiner Schrift De re publica seinem Freund Lucius Furius Philus in den Mund legte, einen unauslösch­ lichen Eindruck. Denn er argumentierte nacheinander einmal für und einmal gegen die Gerechtigkeit, um die Unzuverlässigkeit von Bewertungen und Vereinbarungen zu demonstrieren. Er sprach gedankenreich über die Gerechtigkeit. Galba und Cato Censorius, die besten Redner der damaligen Zeit, waren unter seinen Zuhörern. Aber dann stellte derselbe Mensch am folgenden Tag seine Beweisführung auf den Kopf und hob mit einer entge­ gengesetzten Argumentation die Gerechtigkeit wieder auf, die er am Vortag gepriesen hatte, allerdings nicht mit dem Ernst eines Philosophen, dessen Meinung fest und stabil sein muss, sondern sozusagen nach der Art einer rhetorischen Übung im Argumentieren dafür und dagegen. … Er stellte alle Argumente zusammen, die für die Gerechtigkeit aufgeführt wurden, um sie dann wieder aus­zuhebeln (Laktanz, Institutiones 5, 14, 3–5). Karneades tat das aber nicht, um der Gerechtigkeit einen Stoß zu versetzen, sondern um zu demonstrieren, dass ihre Verteidiger nichts vorbrachten, worauf man sich ver­ lassen kann und was wirklich Bestand hat. Er bekämpfte also nicht die Sache als solche, sondern nur die zu ihren Gunsten geäußerten, aber nicht überzeugenden Argumente. Er galt als außerordentlich fleißig. Vor lauter Arbeit kam er nicht dazu, sich seine Nägel und Haare schneiden zu lassen. Er verstand es, seine philosophischen Gedanken so beeindruckend zu vertreten, dass ihn alle Welt ­hören wollte. Cicero (De oratore 2, 161) preist die rhetorische Kraft und die Flexibilität seines Ausdrucks als unglaublich. Er hebt seine geradezu göttliche Geistesgegenwart und ­seinen Gedankenreichtum hervor (De oratore 3, 68).

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Was

war en seine

K er ngedanken?

Er las sehr sorgfältig die Schriften der Stoiker und vor allem die Bücher des Chrysipp. Weil er sich mit ihnen eifrig auseinandersetzte, wurde er so berühmt, dass er nach D. L. 4, 62 gesagt haben soll: Wenn es Chrysipp nicht gäbe, dann gäbe es auch mich nicht. Die Erörterung einer Frage nach beiden Seiten hin (in utramque partem, ­Cicero, Lucul­ lus 7 und De finibus 2, 2) diente ihm dazu, das Wahrscheinliche darzustellen. Dieses Verfahren hatte auch schon Sokrates praktiziert, indem er seine Gesprächspartner dazu brachte, eine Meinung zu äußern, mit der er sich dann auseinandersetzte. Schon Arkesilaos von Pitane, der 268–241 v. Chr. die Akademie leitete, hatte die Überzeugung des Sokrates übernommen: Die Wahrheit ist nicht erreichbar; man muss sich an der Wahrscheinlichkeit als der Richtschnur seines Handelns orientieren. Dieses Prinzip der skeptischen Zurückhaltung ist dann für Karneades die Grundlage seiner Argu­ mentationskunst: Wenn jemand eine bestimmte Behauptung aufstellt, dann entwickelt Karneades den entgegengesetzten Standpunkt, ohne diesen unbedingt selbst zu vertre­ ten; entscheidend sind nur die Gegenargumente, deren Widerlegung dann auch zur Bestätigung der ursprünglichen Behauptung führen kann. Cicero vermutete (Lucullus 78), Karneades sei wohl grundsätzlich weniger dazu bereit gewesen, etwas zu billigen oder anzuerkennen, als ausgiebig darüber zu diskutieren. Nach Sextus Empiricus (Adversus mathematicos 7, 159–165, 401–425) und Cicero (Lucullus 64–90) bestreitet Karneades die Zuverlässigkeit der sinnlichen Wahrneh­ mung und die stoische Lehre von dem „begreifenden Sinneseindruck“, der auf die Be­ stätigung durch die Vernunft angewiesen ist. Das stoische Wahrheitskriterium der Evi­ denz, der unmittelbaren Gewissheit, lehnt Karneades als unzureichend ab; er verwirft die Existenz eines Wahrheitskriteriums und fordert daher die Zurückhaltung des ­Urteils. Denn Objektivität (objektive Wahrheit) sei schon deshalb fraglich, weil alle unsere Wahrnehmungen mit subjektiven Elementen vermischt seien, sodass man Irr­ tümer nie ausschließen könne. Das höchste Ziel (Telos) definiert Karneades als den Genuss der elementaren Güter der Natur, wie Cicero (Tuskulanische Gespräche 5, 84) berichtet, wo er Karneades’ ­Telos-Begriff von den stoischen und epikureischen Vorstellungen abgrenzt.

Wie

wur den die

Werke

über liefert?

Soweit das Denken des Karneades fassbar ist, wurde es durch die Auseinandersetzung mit ihm vor allem bei Cicero, D. L., Sextus Empiricus und dem Kirchenvater Laktanz (um 250 n. Chr.) überliefert.

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Wie lebten die Gedanken Vor stellungen fort?

und

Cicero war ein erklärter Anhänger des Karneades. Das beweisen seine philosophischen Schriften an vielen Stellen. Bemerkenswert ist u. a. sein Bericht (De fato 23 f. und 31 f.) über Karneades’ Verteidigung des freien Willens gegen den stoischen Fatalismus: Wenn alles aufgrund vorausgehender Ursachen geschieht, dann geschieht es zwangs­ läufig und unausweichlich aufgrund einer natürlichen Verkettung von Ursachen. Wenn dies so ist, dann bestimmt alles die Notwendigkeit (necessitas). Wenn dies wahr ist, dann liegt nichts in unserer Macht. Es liegt aber etwas in unserer Macht. Wenn aber alles vom Schicksal bestimmt wird, dann geschieht alles aufgrund vorausgehender Ursachen. Daraus ergibt sich, dass alles eben nicht vom Schicksal bestimmt ist (Cicero, De fato 31). In seiner Schrift Über das Wesen der Götter (De natura deorum 1, 11), wo er sich zur skeptischen Akademie bekennt, erklärt Cicero: Ich vertrete auch nicht die Interessen überholter und längst erledigter Lehren; denn mit dem Tod der Menschen gehen nicht gleichzeitig auch ihre Gedanken verloren. So ist denn auch diese Methode in der Philosophie, gegen alles zu argumentieren und nichts endgültig zu entscheiden, von Sokrates ausgegangen, von Arkesilaos aufgegriffen und von Karneades verstärkt worden. Sie behielt ihre Bedeutung bis in unsere Zeit. Im Rahmen seiner von Cicero im dritten Buch von De re publica erwähnten Reden über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit setzt sich Karneades auch mit der Frage aus­ einander, ob und unter welchen Umständen Kriege als gerechtfertigt zu gelten haben. In Rom war die Frage der Rechtmäßigkeit des Krieges zuvor nicht unter moralischen, sondern (lediglich) unter kultischen Gesichtspunkten betrachtet worden. Wenn die dafür zuständigen Priester (die Fetialen) den Krieg unter Berücksichtigung der vorge­ schriebenen kultischen Handlungen erklärt hatten, galt er als juristisch abgesichert. Karneades verurteilte diese Praxis als Unrecht unter dem Schutz der Gesetze (legitime iniurias faciendo). An dieser Stelle (De re publica 3, 20), die von Laktanz (Inst. 6, 9, 2–4) überliefert ist, heißt es: Wie sehr sich aber der Nutzen von der Gerechtigkeit entfernt, lehrt das römische Volk selbst, das sich, indem es durch die Fetialen Kriege ankündigte und so auf gesetzliche Weise Unrecht beging, ständig fremdes Eigentum begehrte und raubte und schließlich den ganzen Erdkreis in Besitz nahm. Aber wenn die Römer die Gerechtigkeit wiederherstellen wollten, müssten sie in ihre armseligen Hütten auf dem Palatin zurückkehren, wo sie ihre ­Eroberungen begonnen hätten (De re publica 3, 21). Durch Karneades bekommt die ursprünglich rein sakral­ 134

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juristische Frage des gerechten Krieges eine neue Dimension: Die römischen Autoren sehen sich von jetzt an mit der Aufgabe konfrontiert, Roms Kriege auch ethisch zu rechtfertigen. Es ist Karneades zu verdanken, dass er die bis heute nicht abgeschlossene Diskussion über den gerechten Krieg, das bellum iustum, angestoßen hat. Sextus Empiricus bewahrte in seiner Schrift Adversus mathematicos wichtige Lehrin­ halte des Akademikers, wie z. B. die Unterscheidung von drei Stufen einer relativen Gewissheit, um überhaupt Entscheidungen treffen zu können (Adv. math. 7, 176–189): (1) die glaubhafte (plausible), (2) die glaubhafte und unwidersprochene, (3) die glaub­ hafte, unwidersprochene und gründlich geprüfte Vorstellung. So ist Handeln bei aller Zurückhaltung gegenüber einer Welt möglich, die nicht ein für alle Mal so ist, wie sie zu sein scheint. Man braucht für das tägliche Leben keine dogmatische Bestimmung der Wahrheit, keine letzte Wahrheit; es genügt eine begründete Wahrscheinlichkeit.

Was

bleibt?

Der Skeptizismus des Karneades ist keine Lehre, sondern eine Einstellung: Für den Skeptiker ist die Welt nicht so, wie sie zu sein scheint. Es gibt keine absolute, sondern nur eine relative Gewissheit. Skeptische Zurückhaltung ist aber auch gegenüber der eigenen Skepsis erforderlich.

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Epoché und Ataraxie: Sextus Empiricus Name: Sextus Empiricus Lebensdaten: um 170 n. Chr. Literarische Gattung: Philosophiegeschichtsschreibung Werke: Grundriss der Pyrrhonischen Philosophie in drei Büchern, Gegen die Gelehrten (Adversus mathematicos) in sechs Büchern, Gegen die Dogmatiker (Adversus ­dogmaticos) in fünf Büchern

Wer

war das?

Seine Herkunft ist unbekannt. Vielleicht praktizierte er als Arzt einer empirisch-prak­ tischen Ärzteschule; darauf deutet der Beiname Empiricus hin. Unter dem Einfluss des Skeptizismus eines Pyrrhon von Elis (360–270 v. Chr.), der Alexander den Großen auf seinem Indien-Feldzug begleitete, und seines Schülers Timon von Phleius verwarfen die Empiriker dogmatische Überzeugungen und nahmen für die ärztliche Praxis allein die Erfahrung als maßgebend an. Das Sammeln und systematische Nutzen praktischer Erfahrungen wurde für diese Medizin zur vorherrschenden Methode.

Was

schr ieb er ?

Die Schrift Gegen die Gelehrten ist eine Auseinandersetzung mit den Ver­tretern der metrie, Arithmetik, enzyklopädischen Wissenschaften (Grammatik, Rhetorik, Geo­ Naturphilosophie, Astrologie, Musiktheorie) in sechs Büchern. Die Schrift Gegen die Dogmatiker setzt sich in fünf Büchern mit den drei Teilen der dogmatischen Philoso­ phie (Logik, Physik und Ethik) auseinander, das heißt mit den Meinungen der Philoso­ phen, die auf ihrem Arbeitsgebiet mit der Möglichkeit eines sicheren, beweisbaren Wissens rechnen und daher als Dogmatiker gelten. Die theoretischen Grundlagen sei­ ner Apologie der Skepsis legt Sextus Empiricus in seinem Grundriss der Pyrrhonischen Philosophie dar. Als Vertreter der skeptischen Philosophie wurde er erst von Späteren angesehen, die in Anlehnung an Pyrrhon in der Ungestörtheit der Seele, der Ataraxie, das Ziel dieser Philosophie sahen. Ataraxie ist aber nur durch die Freiheit von Über­ zeugungen und Neigungen zu erreichen: Alles Wahrnehmbare und Denkbare ist un­ bestimmt, unbestimmbar und gleich gültig und daher auch gleichgültig. Es kann also die Seele nicht stören und aufregen. Das Hauptmerkmal des Skeptizismus ist die Gegenüberstellung einander wider­ sprechender sinnlicher oder geistiger Eindrücke, die aufgrund ihrer gleichen Gültig­ keit zu einer Zurückhaltung im Urteil führen müssen. Der Skeptiker akzeptiert kein

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Kriterium, das ihm die Erkenntnis der Wahrheit erlaubte; dennoch behauptet er nicht, dass jegliches Handeln im praktischen Leben unmöglich sei. Denn die Hoffnung bleibt, die Ataraxie gegenüber den Vorgängen und Situationen zu gewinnen, die nur bedroh­ lich erscheinen, ohne es wirklich zu sein. Der Grundriss enthält im ersten Buch eine Darstellung der skeptischen Weltan­ schauung, wie sie von Pyrrhon am wirkungsvollsten vertreten wurde. Sextus versucht zu veranschaulichen, was ein Skeptiker ist. Dieser untersucht – wie sein Name sagt – die Meinungen und Erkenntnisse der dogmatischen Philosophie. Zu Beginn seines Grundrisses beschreibt Sextus die Unterschiede zwischen den Philosophenschulen: Das natürliche Ergebnis einer Suche besteht darin, dass die Suchenden entweder den Gegenstand ihrer Suche entdecken oder seine Entdeckung verneinen und einräumen, dass er nicht zu entdecken ist, oder ihre Suche fortsetzen. Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb die einen in Hinsicht auf die philosophischen Untersuchungsgegen­ stände behaupteten, sie hätten die Wahrheit gefunden, während die anderen erklärten, es sei ausgeschlossen, sie zu erkennen, und die Dritten ihre Suche noch weiter fortsetz­ ten. Diejenigen, die glauben, sie gefunden zu haben, sind die Dogmatiker im eigent­ lichen Sinn des Wortes, z. B. Aristoteles, Epikur, die Stoiker und einige andere. Kleito­ machos, Karneades und andere Akademiker halten die Wahrheit für unerreichbar. Die Skeptiker aber suchen noch nach der Wahrheit. Daher scheint es vernünftig zu sein, daran festzuhalten, dass es drei Grundformen der Philosophie gibt: die dogmatische, die akademische und die skeptische (1, 1–4). Der Denkstil der pyrrhonischen Skepsis lässt sich an der Unterscheidung dieser drei philosophischen Positionen konkretisieren: (1) Die Dogmatiker (Peripatetiker, Epiku­ reer, Stoiker) behaupten: Die Wahrheit ist gefunden. (2) Die Repräsentanten der Neuen (radikal skeptischen) Akademie sagen: Die Wahrheit ist grundsätzlich nicht erkenn­ bar. (3) Die Skeptiker stellen zwar prinzipiell alles infrage, befinden sich aber in einem dauernden Zustand des Suchens; für sie gilt das Verharren im Suchen. Denn alle Er­ gebnisse menschlichen Forschens und Argumentierens sind vorläufig und nur vorü­ bergehend legitimierbar. Die Grundlage skeptischer Elenktik (Widerlegung und Beweisführung) bilden die Tropen, die Ansatzpunkte der Widerlegung dogmatischer Posi­tionen. Diese erfolgt durch Nachweis (1) der Diskrepanz, (2) des infiniten Regresses, (3) der Relativität, (4) der Dogmatisierung und willkürlichen Annahme einer Voraussetzung und (5) des Zirkelschlusses, d. h. des Beweises aufgrund von Voraussetzungen, in denen das zu Beweisende schon enthalten ist. Die Skepsis – so heißt es im Grundriss (1, 8) – ist die Kunst, auf jede erdenkliche Weise sinnlich wahrnehmbare und gedachte Gegenstände miteinander zu konfrontie­ ren. Aufgrund dieser Skepsis komme man wegen der Gleichwertigkeit der Gegenstän­ de und Argumente zuerst zur Zurückhaltung des Urteils und danach zur Seelenruhe oder seelischen Ungestörtheit.

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Wir sagen aber bis jetzt, dass die Seelenruhe (Ataraxie) in Bezug auf Gegenstände der dogmatischen Überzeugung und die Mäßigung in den Affekten (Metriopathie) bei den unvermeidbaren und aufgezwungenen Vorfällen das Ziel des Skeptikers ist. Denn nach­ dem der Skeptiker begonnen hatte zu philosophieren, um die Vorstellungen zu beurtei­ len und zu erfassen, welche wahr sind und welche falsch, damit er Ruhe fand, sah er sich verwickelt in den Widerspruch gleich starker Argumente, und weil er diesen nicht auf­ lösen konnte, übte er Zurückhaltung. Als er sich aber zurückhielt, entdeckte er ganz nebenbei die Seelenruhe, die er durch seine Distanz zu dogmatisch vertretenen Ansich­ ten gewann. Wer nämlich (dogmatisch) auf der Meinung besteht, dass etwas von Natur aus gut oder schlecht ist, befindet sich dauerhaft in Unruhe (Grundriss 1, 25–27). Der Einschub bis jetzt signalisiert, dass die Suche des Skeptikers noch nicht zu Ende ist. So bleibt auch die Hoffnung auf Seelenruhe oder auf seelische Ungestörtheit bestehen und ist bis auf Weiteres das Motiv des unaufhörlichen Suchens: Denn die Menschen, die besonders begabt und interessiert waren, ließen sich durch die Widersprüchlichkeit in den Dingen beunruhigen und fanden keine Antwort auf die Frage, welchen von ihnen man eher zustimmen sollte. Dann schickten sie sich an zu untersuchen, was das Wahre und das Falsche an den Dingen ist, um durch eine ent­ sprechende Unterscheidung ihre Ruhe zu finden. Die Grundlage des skeptischen Prin­ zips ist das Verfahren, jeder Aussage eine gleichwertige Aussage entgegenzustellen. Denn auf diese Weise meinen wir zu erreichen, dass wir nicht mehr dogmatisieren (Grundriss 1, 12). In der Formulierung meinen wir kommt zum Ausdruck, dass der Skeptiker durchaus auch Meinungen, genauer: skeptische Meinungen äußern kann. Es genügt nämlich, glaube ich, nach der Erfahrung und durchaus ohne dogmatische Festlegung im Sinne allgemeiner Beobachtungen und Vorbegriffe zu leben, indem man sich in allem, was aus dogmatischem Eifer und besonders aufgrund ­einer gewis­ sen Wirklichkeitsferne behauptet wird, Zurückhaltung auferlegt (Grundriss 2, 246). Auf die dogmatische Überzeugung von der Existenz Gottes reagiert der Skeptiker mit einer nüchternen Empfehlung: Nicht alles, was man sich vorstellen kann, ist auch Wirklichkeit. Man kann sich auch etwas vorstellen, das nicht wirklich vorhanden zu sein braucht, wie zum Beispiel ein Hippokentaur und eine Skylla. Darum wird es nötig sein, nach einer Untersuchung der Vorstellungen von Göttern auch über ihre Existenz grundsätzlich nachzudenken (Adversus mathematicos 3, 49). Etwas später weist Sextus nochmals darauf hin, dass die Gottesbeweise, mit denen sich die dogmatischen Philosophen gegenseitig auszustechen versuchten, so widersprüch­ 138

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lich seien, dass Zurückhaltung im Urteil notwendig sei. Außerdem wichen die Lehren der Gottesbefürworter auch stark voneinander ab, widersprächen sich oder schlössen sich gegenseitig aus (Adversus ­mathematicos 3, 191 f.). Im Grundriss (3, 9–12) zieht Sextus aus den widersprüchlichen Aussagen über Gott und die Götter nicht etwa die Konsequenz, dass es keinen Gott und keine Götter gibt; aber er erklärt ausdrücklich, dass diejenigen, die die Existenz Gottes mit Sicherheit behaupten, möglicherweise einen Frevel begehen, indem sie Gott etwas Falsches unter­ stellen. Das gilt eigentlich für alle dogmatischen Überzeugungen, denen Sextus seine skeptische Meinung gegenüberstellt. So darf man in Übereinstimmung mit der Le­ benspraxis ganz undogmatisch sagen, dass es Götter gibt, die für den Menschen sor­ gen. Zu vermeiden ist nur, dogmatisch voreilig und starrsinnig zu sein (Grundriss 3, 2) und das weitere Suchen abzubrechen und aufzugeben.

Wie

wur den die

Werke

über liefert?

Mit dem Tod des Sextus ca. 210 n. Chr. findet der antike Skeptizismus sein Ende. Auch der Stoizismus, der den Skeptikern viel Material für ihre Gegenargumente geliefert hatte, ist im Niedergang begriffen. Die dominierenden geistigen Strömungen der fol­ genden Jahrhunderte sind ein doktrinärer Platonismus und die Auseinandersetzung mit Aristoteles, ferner die christliche Theologie. Augustinus trägt mit seinem Werk Contra Academicos, das die skeptischen Argumente der Akademiker zurückweist, ganz entscheidend dazu bei, dass das Wissen über die antike Skepsis an die Renais­ sance weitergegeben wird. Im 16. Jh. wird Sextus Empiricus in griechisch-lateinischen Textausgaben ediert. Bemerkenswert ist, dass Sextus Empiricus, der griechisch schrieb, in einer lateinischen Übersetzung aus dem 13. Jh. überliefert wurde, die erst 1888 in einer Pariser Handschrift entdeckt wurde.

Wie

lebten die

Werke

fort?

Sextus Empiricus praktiziert die skeptische Philosophie, indem er die Texte, mit denen er sich auseinandersetzt, ausgiebig zitiert. Auf diese Weise wird er zu einem unersetz­ lichen Quellenautor für ansonsten verlorene Autoren ­(darunter Gorgias, Protagoras und Demokrit). So ist der berühmte Satz des Protagoras, mit dem er sich selbst als Skeptiker ausweist, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist, der seienden, dass sie sind, und der nicht seienden, dass sie nicht sind, durch Sextus Empiricus (Adversus mathematicos 7, 60) überliefert. Die Kirchenschriftsteller zogen bei ihren Versuchen, die christliche Lehre gegen antikes Denken zu verteidigen, erheblichen Nutzen aus den Schriften des Sextus. Sie konnten seine Einwände gegen die heidnischen Dogmatiker einfach übernehmen, ohne christliche Glaubensinhalte in Gefahr zu bringen. So diente der Skeptizismus des Sextus Empiricus letzten Endes auch der Stabilisierung des christlichen Glaubens. Als Fundgrube für Fragmente sonst nicht erhaltener Texte 139

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a­ ntiker Autoren hat Sextus Empiricus bis heute überlebt. Die Denkhaltung des Skepti­ zismus ist bis heute maßgebend. In der „Skeptischen Generation“ (Schelsky) der Nach­ kriegszeit wurde sie zum Lebensgefühl stilisiert. –

Was

bleibt?

Das Ziel skeptischen Philosophierens ist die Ataraxie, die seelische Unerschütterlich­ keit. Der Skeptiker kann sich eben nicht wie das Schweinchen verhalten, das sich in einer Pyrrhon-Anekdote des Poseidonios (D. L. 9, 68) von einem furchtbaren Seesturm nicht beunruhigen lässt, sondern unwissend und ahnungslos seiner Fresslust nachgibt. Der wahre Skeptiker dagegen bleibt sich seiner Affekte bewusst: Er kann sie zwar nicht vermeiden, ander doch durch Metriopathie kontrollieren.

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Zweiter Teil: Vom Ursprung bis zu den Sophisten

Der erste Markttag ist zu Ende. Zeus und Hermes konnten an diesem Tag nur eine kleine Auswahl interessanter Persönlichkeiten versteigern. Aber der zweite Tag wird Gelegenheit geben, weitere Philosophen kennenzulernen. Diese fiktive Fortsetzung des Markttreibens knüpft an Hermes’ Hinweis an, dass die Versteigerung am ersten Tag noch nicht zu Ende ist.

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Am Anfang war das Wasser: Thales Name: Thales von Milet Lebensdaten: 630–560 v. Chr. Literarische Gattung: Naturphilosophische Abhandlung Werke: Über die Ursprünge

Wer

war das?

Thales gilt seit dem 5. Jh. v. Chr. als der erste der Sieben Weisen und seit Aristoteles als der Begründer der ionischen Naturphilosophie. Nach Herodot (1, 74) hat er die Son­ nenfinsternis vom 28. Mai 585 v. Chr. vorausgesagt, die Lyder und Meder dazu brachte, einen Krieg zu beenden: Die Kriegsparteien trugen ihre Auseinandersetzungen schon im sechsten Jahr unent­ schieden miteinander aus. Da trat plötzlich folgendes Ereignis ein: Noch während der Schlacht wurde der Tag plötzlich zur Nacht. Diesen Vorgang hatte Thales von Milet den Ioniern vorausgesagt und schon vorher genau das Jahr genannt, in dem das Ereig­ nis auch wirklich stattfand. Die Lyder und Meder brachen den Kampf ab, als sie sahen, dass aus dem Tag Nacht wurde. Für Thales war die Sonnenfinsternis kein göttliches Zeichen, sondern ein berechenba­ rer naturwissenschaftlicher Vorgang. Folglich ist seine Reaktion auch kein Erschre­ cken, sondern nüchterne Vorhersage, die er zum Vorteil der Menschen nutzte. An die­ ser Episode zeigt sich, was die Sieben Weisen insgesamt charakterisiert: Sie sind als Berater oder Gesetzgeber für die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens tätig. Sie stehen mitten im Leben und sind keine weltabgewandten Denker und Sucher nach der Wahrheit. Ihre Weisheit ist praktisches Wissen und empirisch fundierte Deutungs­ kompetenz. In ihrer geistigen Überlegenheit denken sie selbstkritisch und lassen kei­ nen Gegensatz zwischen Theorie und Praxis zu.

v Bias

von

Pr iene

und die

Sieben Weisen

Die Sieben Weisen sind keine feste Gruppe. Aber vier Namen werden immer wieder genannt: Neben Thales und Solon sind es Pittakos und Bias. Platon (Protagoras 343a) nennt noch drei weitere Persönlichkeiten: Kleobulos von Lindos, Cheilon von Sparta und Myson von Chen, einen einfachen Bauern, der einmal dabei beobachtet wurde, dass er ganz allein für sich schallend lachte. Als er gefragt wurde, warum er lache, da doch kein Mensch in der Nähe sei, soll er geantwortet haben: „Eben des­ 142

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halb“ (D. L. 1, 107 f.). Auch Thales war für seine knappen, aber frappierenden Aus­ sprüche berühmt: Auf die Frage, warum er keine Kinder habe, antwortete er: „Weil ich Kinder gern habe“ (D. L. 1, 26). Der Philosophiehistoriker zählt eine Reihe von Taten und Aussprüchen auf, die er Bias aus Priene (um 570 v. Chr.) zuschreibt: Man erzählt von ihm, er habe kriegsgefangene Mädchen aus Messene freigekauft, sie wie seine Töchter aufgezogen und dann mit ­einer Mitgift ausgestattet zu ihren Eltern heimgeschickt (D. L. 1, 82). Als Priene, die griechische Heimatstadt des Bias an der kleinasiatischen Küste, durch König Alyattes von Lydien belagert wurde, schien die Lage schon aussichtslos zu sein. Da ließ Bias zwei wohlgenährte Maulesel in das Lager des Königs treiben. Dieser fand sich sofort zu Verhandlungen bereit. Denn die Tiere waren ihm Beweis genug, dass die Stadt die Belagerung noch längere Zeit aushalten könne, wenn sogar die Maulesel noch so viel zu fressen hätten. Bevor die Verhandlungen begannen, ließ Bias Sandberge auf­ schütten und deren Oberfläche mit Getreidekörnern bedecken. Der lydische Unter­ händler berichtete seinem König von den scheinbar unerschöpflichen Vorräten, und dieser schloss Frieden mit der Stadt (D. L. 1, 83). Bias befand sich einmal während einer Seereise in der Gesellschaft übler Burschen. Als ein gewaltiger Sturm das Schiff zum Kentern zu bringen drohte, flehten die Kerle die Götter um Hilfe an. Daraufhin forderte Bias sie auf: „Seid bloß still! Sonst merken die Götter, dass ihr da seid!“ (D. L. 1, 86). Cicero (Paradoxa Stoicorum 1, 8) überliefert folgende Anekdote: Der Feind hatte ­Priene, die Vaterstadt des Bias, eingenommen. Die Einwohner hatten ihre Hab­ seligkeiten auf der Flucht dabei. Jemand ermahnte Bias, dasselbe zu tun. Er sagte nur: „Alles schon erledigt, denn ich trage meinen gesamten Besitz bei mir (omnia mecum porto mea).“  v Herodot erkennt die praktische Kompetenz des weisen Thales, indem er die Bedeutung seiner Beobachtungen astronomischer Vorgänge für das tägliche Leben hervorhebt, wie er auch die realistische Weisheit des Solon im Gespräch mit Kroisos veranschau­ licht. Aber in einer bei Platon überlieferten Anekdote wird Thales auch als weltfremd geschildert: Während er seinen Blick nach oben richtet, um die Sterne am Himmel zu betrachten, fällt er in einen Brunnen (Platon, Theaitetos 174a) und wird von einer thra­ kischen Magd dafür ausgelacht, dass er zwar die Dinge am Himmel habe erfahren wollen, aber nicht beachte, was sich direkt vor seinen Füßen befinde. Aber wie lebens­ tüchtig Thales in Wirklichkeit war, zeigen die folgenden Nachrichten (VS 11 A 11): Wie nun die genaue Kenntnis der Zahlen wegen des Handels und des Verkehrs bei den Phöniziern ihren Anfang nahm, so wurde denn auch die Geometrie aus dem genann­ ten Grund erfunden. Als aber Thales zum ersten Mal nach Ägypten gereist war, brach­ te er diese Wissenschaft nach Griechenland mit und erfand selbst noch vieles andere. Außerdem erklärte er seinen Schülern die Ursachen vieler Dinge, indem er sie einigen allgemein verständlicher, einigen anschaulicher darstellte.

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Er verfügte auch über politischen Weitblick (VS 11 A 1): Thales hat auch in politischen Fragen sehr gute Ratschläge gegeben. Als Kroisos die Milesier dazu aufforderte, ein Bündnis mit ihm zu schließen, verhinderte er dies. Diese Verweigerung rettete die Stadt, als Kyros die Macht ergriff. Eine andere Anekdote (Aristoteles, Politik 1259a9–18) schildert seinen ökonomi­ schen Weitblick, der ihn er die richtigen Schlüsse aus seinen astronomischen Beob­ achtungen ziehen lässt: Man hielt ihm nämlich einmal wegen seiner Armut die Nutzlosigkeit seiner Philoso­ phie vor. Er soll dann aber aus seinen astronomischen Beobachtungen geschlossen haben, dass eine reiche Olivenernte bevorstand. Daraufhin habe er noch im Winter seine geringen finanziellen Mittel eingesetzt, um sämtliche Ölpressen in Milet und auf Chios für wenig Geld zu mieten, weil niemand einen höheren Mietpreis zahlen wollte. Zur Erntezeit suchten aber alle gleichzeitig und auf einen Schlag nach Ölpressen. Da vermietete er diese nach seinen Konditionen, verdiente auf diese Weise viel Geld und bewies, wie leicht es für Philosophen sei, reich zu werden, wenn sie nur wollten.

v  Zentrum M ilet Die größte und bedeutendste ionische Stadt an der Mündung des Mäander ist die „Urheimat der Philosophie“ (Capelle I 19). Die Glanzzeit der Hafenstadt mit ihren vier Häfen war das 7. und 6. Jh. v. Chr. Hier lebten nicht nur die drei vorsokratischen Philosophen Thales, Anaximander und Anaximenes und der Historiker Hekataios, sondern etwa auch Aristeides (um 100 v. Chr.), der Autor der Milesischen Geschich­ ten, an die Petronius und Apuleius anknüpfen und die in Boccaccios D ­ ecamerone weiterleben. Von Milet aus sollen im Laufe der Zeit neunzig Kolonien im Mittelmeerraum und am Schwarzen Meer gegründet worden sein. Im 6. Jh. v. Chr. war die mächtige Stadt mit dem lydischen König Kroisos verbündet und geriet mit diesem 546 v. Chr. unter per­ sische Herrschaft. Der Versuch, im Ionischen Aufstand von 500–494 v. Chr. die Perser abzuschütteln, scheiterte. Die Bewohner der zerstörten Stadt wurden versklavt. Für etwa 80.000 Menschen wurde Milet neu gegründet, verbündete sich mit der ­Seemacht Athen und geriet später erneut unter persische Herrschaft. Alexander der Große eroberte die Stadt 334 v. Chr. und entließ sie in die Freiheit. Heute liegt an der Stelle, wo sich einst Milet befand, das türkische Dorf Balad. Ein großes, unter dem römischen Kaiser Mark Aurel (2. Jh. n. Chr.) errichtetes Markttor der Stadt wurde im Berliner Pergamonmuseum wieder aufgebaut.  v

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Was

schr ieb er ?

Simplikios berichtet in seinem Kommentar zur aristotelischen Physik, Thales habe zwar als einer der ersten Griechen Naturforschung betrieben, aber nichts Schriftliches hinterlassen – bis auf eine Sternkunde für die Seefahrt. Auch D. L. (1, 23) weist zwar darauf hin, dass Thales nichts geschrieben habe, verschweigt aber nicht, dass einige behaupten, er habe zwei Schriften verfasst: Über die Sonnenwende und Über die Tagund Nachtgleiche. Es sind zahlreiche Berichte über Thales und seine Leistungen überliefert. So soll er nicht nur die Sonnenfinsternis am 28. Mai 585 v. Chr. vorausgesagt haben, sondern auch dem lydischen König Kroisos die Überquerung eines Flusses ohne eine Brücke ermöglicht haben (Herodot 1, 75). Auch habe er ein Verfahren zur Vermessung der ägyptischen ­Pyramiden entwickelt (D. L. 1, 27): Er hatte keinen Lehrer, abgesehen davon, dass er während seines Aufenthalts in Ägypten seine Zeit bei den Priestern verbrachte. Hieronymos von Rhodos informiert uns darüber, Thales habe die Höhe der Pyramiden mithilfe ihres Schattens gemessen, indem er den Zeitpunkt abwartete, wo ihr Schatten die gleiche Länge hatte wie sein eigener Schatten. Nach Aristoteles (Metaphysik A 3, 983b20 f. = VS 11 A 12) vertrat der Milesier als Erster die Lehre, dass alles Sein eine materielle Ursache habe: Diese Ursache, auf die die Man­ nigfaltigkeit der Natur zurückgehe, sei das Wasser.

v Thales : Ein

philosophischer

K opf?

Sokrates erinnert in Platons Dialog Theaitetos an den Sturz des Thales in den Brunnen und den Spott, den er dafür erntete. Mit demselben Spott begleite man noch immer die­ jenigen, die in und mit der Philosophie lebten. „Denn ein solcher Mensch weiß nichts von seinem Mitmenschen und Nachbarn, nicht nur nicht, was er tut, sondern kaum noch, ob er überhaupt ein Mensch oder ein anderes Lebewesen ist. Was aber ­eigentlich ein Mensch (an sich) ist und was einem solchen Wesen im Unterschied zu den anderen zukommt zu tun und zu leiden, untersucht er und setzt alles daran, es zu erforschen“ (174b). Der Philosoph interessiert sich theoretisch also nicht für den Menschen als Individu­ um, als substanzielles Selbst, sondern für das entpersonalisierte Gattungswesen. Wenn er sich aber mit Alltagsgeschäften befasst, erntet er Gelächter nicht nur bei Thrakerin­ nen, sondern auch im übrigen Volk, weil er in allerlei verlegene Situationen gerät. Seine Ungeschicklichkeit erweckt den Eindruck, er sei völlig lebensuntüchtig. Dann aber lacht er wiederum, wenn er einen Tyrannen oder König preisen hört und sieht, wie stolz jemand auf seinen Landbesitz ist, während der Philosoph es doch gewohnt ist, die ganze Erde im Blick zu haben. Er lacht über die Wertmaßstäbe der Mehrheit. Aber während er darüber spottet, wird er wieder von der Mehrheit ausgelacht (175b). 145

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Ausgehend von der Frage, ob eine einzelne konkrete Handlung ungerecht ist oder nicht, versteigt er sich zu einer Untersuchung über das Wesen der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit (175c). Um herauszufinden, ob ein König glücklich ist, wenn er viel besitzt, stellt er die Frage nach dem Wesen der Königsherrschaft und des menschlichen Glücks und Unglücks – unabhängig vom Einzelfall.  v

Wie

lebte sein

Werk

fort?

Da Thales als Erfinder wichtiger zivilisatorischer Errungenschaften galt, wurde er sehr bald zu einer legendären Berühmtheit. Die Berichte über seine Leistungen sicherten ihm eine dauernde Wirkung. Auch wenn der Satz des Thales, dass alle Peripheriewinkel im Halbkreis 90 Grad betragen, vielleicht gar nicht von Thales selbst formuliert wurde, hat er zu seinem Ruhm beigetragen.

v  A nfang

der

Philosophie?

In Platons Theaitetos rühmt Theodoros die Fähigkeiten seines Schülers Theaitetos. Dieser verfüge nicht nur über eine große mathematische Begabung, sondern besitze auch alle Eigenschaften eines wahren Philosophen. Doch bereits im ersten Teil des Ge­ sprächs mit Sokrates muss Theaitetos zugeben, dass er Sokrates’ Ausführungen nicht mehr folgen könne: „Ach Sokrates, wie muss ich staunen und mich fragen, um was es eigentlich geht! Mir wird ganz schwindlig dabei.“ Daraufhin stellt Sokrates fest, dass Theaitetos von seinem Lehrer ganz richtig eingeschätzt werde. Denn gerade das ­Staunen sei das Erlebnis, das besonders einem Philosophen zuteilwerde: Nichts anderes sei schließlich der Ursprung der Philosophie. Das Staunen des Theaitetos ist eine den Griechen ganz vertraute Empfindung. Der Anfang der Philosophie entspricht dem Staunen des homerischen Menschen über gött­ liche und menschliche Größe und Schönheit. So staunt Odysseus, als er die Prinzessin Nausikaa zum ersten Mal sieht und sich starr vor Staunen ihr nicht zu nähern wagt (Odyssee 6, 160–169).  v Vielleicht ist dieses homerische Staunen noch naiv, weil es sich mit den Erscheinungen begnügt und nicht das Bedürfnis weckt, mithilfe der Vernunft Zusammenhänge ­aufzudecken, sondern nur das Wunderbare an den Phänomenen als etwas Höheres, ­Göttliches begreift. Doch indem Platon dieses Staunen als Beginn höchster geistiger Tätigkeit deutet, lässt er es aus derselben Quelle fließen, die auch die Gefühle des ­homerischen Menschen gegenüber den Göttern gespeist hat. Das Staunen ist aber nicht nur der Anfang der Philosophie, sondern auch der ­Beginn eines erotischen Bezugs zum Objekt des Staunens. Mit dem Staunen beginnt die Wirksamkeit des Eros, der zu einem tieferen Wissen über das bestaunte und ­bewunderte Gegenüber drängt. 146

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v Staunen : Er fahrung

einer

A porie?

Aristoteles greift am Anfang seiner Metaphysik (A 2, 982b12 ff.) auf Platons Staunen als Ausgangspunkt einer philosophischen Reflexion zurück. Anfangs bestaunten die Menschen die nächstliegenden unerklärlichen Erscheinungen. Dann gerieten sie auch über größere Dinge ins Staunen. Wer nämlich staune, zweifle und strebe nach Gewiss­ heit. „Daher ist es deutlich, dass diejenigen, die zu philosophieren begannen, um der Unwissenheit zu entgehen, das Wissen um der Erkenntnis und nicht um irgendeines Nutzens willen suchten.“ Etwas später führt Aristoteles diesen Gedanken weiter: „Es beginnen alle mit dem Staunen und der Frage, ob sich etwas wirklich so verhält, wie man es zunächst sieht und bestaunt.“ Aristoteles stimmt mit Platon darin überein, dass er das Staunen als Erlebnis einer Aporie, eines unerklärlichen Nichtwissens, deutet. Bei ihm wird außerdem deutlich, dass der Staunende zuerst vom Nächstliegenden affiziert wird und erst allmählich auf bedeutendere und schwierigere Fragen kommt. Wer begreift, dass Philosophie aus dem Staunen über das Fragwürdige erwächst und das Bedürfnis weiterzufragen weckt, versteht auch Aristoteles’ These von der Zweck­ freiheit des Philosophierens (Metaphysik A 2, 982b19–21).  v

Was

bleibt?

Muss Wissen nützlich sein? Thales, dem Proto-Philosophen, ist es gelungen, Vita con­ templativa und Vita activa, Wissen und Können, Denken und Handeln miteinander zu verknüpfen. Bei ihm fallen zum ersten Mal Nachdenken und Vorausdenken zusam­ men – wie es die Ölpressen-Legende veranschaulicht. Vermutlich war Thales deshalb so erfolgreich, weil er nicht nur nach Wahrheit, sondern vor allem auch nach nütz­ lichen Lösungen suchte und diese auch fand. Heute wissen wir, dass Wasser (H2O) aus zwei Urstoffen besteht, die n ­ eben Kohlen­ stoff, Stickstoff, Schwefel und Phosphor zu den unverzicht­baren „Zutaten des Lebens“ gehören. Noch unter einem anderen Aspekt ­hatte Thales recht: Wasser ist die wich­ tigste Ressource der Zukunft.

v  Was

ist ein

Philosoph?

Für Platon ist Philosophie nicht etwa Weisheit oder Wissen, sondern das Streben nach Weisheit und Wissen. Sie ist demnach kein Ergebnis und kein Produkt, sondern ein Prozess, der durch ein Bedürfnis, ein Haben-Wollen, ausgelöst wird. In Platons Sympo­ sion (204a) erklärt Sokrates, kein wirklich weiser Mensch strebe nach Weisheit, da er doch schon weise sei. Ein Philosoph hingegen sei ein Sucher der Weisheit, er stehe hin­ sichtlich der Weisheit zwischen dem Toren und dem Weisen. Denn wie der Tor nicht weise werden wolle und nicht nach Weisheit suche, so brauche der Weise nicht mehr 147

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nach der Weisheit zu streben. Der Tor habe die Erfahrung des Staunens, das die Vor­ aussetzung für den Wunsch nach Weisheit sei, noch nicht gemacht, während der Weise schon darüber hinaus sei. Es entspricht aber auch griechischem Sprachgebrauch, dass der erste Bestandteil des Wortes Philosophie nicht nur ein Streben nach einem (noch nicht) Erreichten, sondern auch den vertrauten Umgang mit etwas bereits Vorhandenem bedeuten kann. Unter diesem Gesichtspunkt bedeutet Philosophie die enge Verbundenheit mit Weisheit.  v

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Politik und Philosophie: Solon Name: Solon aus Athen Lebensdaten: 640–540 v. Chr. Literarische Gattung: Elegie Werke: Elegien als Formen politischer Dichtung und praktischer Philosophie

Wer

war das?

Solon war der Sohn eines Exekestides und ein Vetter des athenischen Tyrannen Peisis­ tratos, der Solons Verfassungswerk zuerst wieder in Gefahr brachte, dann aber stabi­ lisierte. D. L. (3, 1) vermutet, Solon sei auch mit Platon verwandt gewesen. Plutarch berichtet von einer regen Reisetätigkeit, die Solon als erfolgreicher Kaufmann unter­ nahm und die ihn auch politische Erfahrungen sammeln ließ. Im Jahr 594 v. Chr. über­ trug man ihm in Athen das Amt eines Archonten mit außerordentlichen Vollmachten; so konnte er zahlreiche Gesetze schaffen, die zu einer tief greifenden Änderung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse führten. Dazu gehörten die Abschaffung der Schuldknechtschaft und die Abschüttelung der Lasten (Seisáchtheia), die den land­ wirtschaftlichen Grundbesitz auf einen Schlag von allen Schulden befreite. Dass Solon nach der Vollendung seines Gesetzeswerkes Athen verließ (Gellius 17, 21, 5), um in die freiwillige Verbannung zu gehen, ist wohl eine Legende. Nach Plutarch (Solon 3) betreibt er seine literarische Tätigkeit anfangs nicht beson­ ders ernsthaft. Erst allmählich bringt er seine politischen Gedanken und philosophi­ schen Überzeugungen in seinen Gedichten zum Ausdruck. Seine Dichtung wird zu einem Mittel der Politik. Unbeirrt vertritt er den Standpunkt, dass eine gute Verfas­ sung auf Solidarität und Gerechtigkeit gegründet ist.

Was

schr ieb er ?

Mit der nur fragmentarisch erhaltenen Salamis-Elegie, die ursprünglich aus hundert Versen bestand, soll Solon seine politische Laufbahn begonnen ­haben. Diese Elegie hatte für ihn dieselbe Funktion wie eine politische Rede. Obwohl der Staat unter An­ drohung der Todesstrafe verboten hatte, die Athener wegen Salamis zum Krieg aufzu­ fordern, setzte sich Solon energisch für den Krieg gegen Megara ein, um die Insel end­ gültig für Athen in Besitz zu nehmen. Vorsorglich hatte er Wahnsinn vorgetäuscht. Plutarch (Solon 8–10) erzählt von Solons Erfolgen in diesem Krieg und zitiert den ­Anfang der Elegie, mit der er die Athener beeinflussen wollte:

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Selbst kam ich als Herold herüber von dem lieblichen Salamis und bringe euch ein schönes Lied statt einer (politischen) Rede. … Los! Lasst uns um die herrliche Insel kämpfen und schlimme Schande abwenden! Die Eunomía – der Titel bedeutet „gute gesetzliche Ordnung“ – gehört in die Zeit des innenpolitischen Kampfes um das Recht, bevor das Gesetzgebungswerk des Solon im Jahre 594 v. Chr. abgeschlossen war. Die Elegie (Frg. 4 West = 3 D.) stellt mit ihren 39 erhaltenen Versen den politisch-moralischen Verfall in Athen um 600 v. Chr. dar und warnt vor den Folgen. Der Ausweg aus der verfehlten Gesetzespraxis (Dysnomía) ist die Rückkehr zu seiner guten gesetzlichen Ordnung, die den Namen Eunomía verdient. Solon bestreitet, dass die politische Gemeinschaft durch das Handeln der Götter ge­ fährdet sei; stattdessen macht er die Menschen selbst für ihr Schicksal verantwortlich. Er stimmt in seinem Appell an die gute gesetz­liche Ordnung mit Hesiod überein. ­Offensichtlich übernimmt er dessen Aufforderung, stets in Respekt vor dem Recht zu handeln. Er entwickelt seine Rechtsidee aus seinem staatsmännischen Wirken heraus, um der Polis-Gesellschaft einen verlässlichen Orientierungsrahmen zu geben. Wie die Eunomía, so stammt auch die Musenelegie aus der Zeit des politischen Kampfes für das Recht und müsste demnach vor 594 v. Chr. entstanden sein. Die aus 38 Distichen bestehende Elegie (Frg. 13 West = 1 D.) fasst Solons Lebensprinzipien und -erfahrungen zusammen. Nachdem der Autor als Gesetzgeber versucht hatte, die Ge­ schicke seiner Heimatstadt zu bestimmen, wollte er auch seine Lebensweisheit in allge­ mein verständlicher Form an seine Mitbürger weitergeben. Die schlichte Sprache ist für ihn offensichtlich ein Mittel der Politik. So hat ihn schon Plutarch (Solon 3) verstan­ den. Mit dem Mittel der Sprache wollte Solon dem Recht zum Sieg verhelfen. Denn er war überzeugt davon, dass das Recht die unabdingbare Voraussetzung für den Aus­ gleich der egoistischen Einzelinteressen ist. Hier ist zum ersten Mal der Gedanke des (demokratischen) Rechtsstaates fassbar. In der Lebensalter-Elegie (Frg. 27 West = 19 D.) unterteilt und beschreibt Solon das menschliche Leben in zehnmal sieben Phasen. Während gewöhnlich die Nachteile und Schwierigkeiten des Alters beklagt werden, wie zum Beispiel von Mimnermos von Ko­ lophon (Mitte des 7. Jh.s v. Chr.), zeigt Solon, dass das menschliche Leben eine innere Ordnung hat, die sich an der Periodisierung zu jeweils sieben Jahren zeigt: Mit viermal sieben Jahren erreicht der Mensch den Höhepunkt seiner körperlichen Leistungsfähig­ keit und zwischen 42 und 56 Jahren den Gipfel seiner geistigen Kraft. Dann nehmen die Kräfte ab, bis das Leben mit 70 Jahren oder bald darauf sein Ende erreicht.

Wie

wur den die

Werke

über liefert?

In seinem Solon-Kapitel (1, 45–67) zitiert D. L. eine große Zahl von Solons Versen. In Aristoteles’ Staat der Athener finden sich darüber hinaus umfangreiche Zitate aus den Elegien. Ende des 19. Jh.s wurden Papyri gefunden, die veranschaulichen, dass sich Aristoteles in seinem Werk über die athenische Verfassung auf Solons Elegien stützte. 150

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Wie

lebten seine

Werke

fort?

Plutarch schreibt eine Biografie, in der er Solon mit dem römischen Konsul Valerius Poplicola (509 v. Chr.) vergleicht, der zusammen mit Brutus die römische Königsherr­ schaft beendet und sich auch als Gesetzgeber zugunsten der Republik verdient gemacht hatte. Herodot (1, 29–32) erzählt von einem Gespräch zwischen Solon und dem lydi­ schen König Kroisos über das Wesen des Glückes. Er war wie Thales und Bias einer der legendären Sieben Weisen, die sich zeitweilig am Hofe des Kroisos aufhielten. Viele Sinnsprüche, die man heute noch zitiert, werden mit Solons Namen in Verbindung gebracht, wie zum Beispiel Nichts zu sehr! (Stobaios 3, 111). In Heliopolis studiert er laut Plutarch unter Anleitung ägyptischer Priester die Ge­ schichte ihres Landes. Sie sollen ihm auch von der versunkenen Insel Atlantis berichtet haben. Er erzählt von Atlantis in einem unvollendeten Epos, das zwei Jahrhunderte später Platon tief beeindruckte. In seinem Timaios (22b) erwähnt Platon einen alten ägyptischen Priester, der zu Solon unter anderem die bedeutungsvollen Worte gesagt haben soll: Ach, Solon, Solon, ihr Griechen bleibt immer Kinder; es gibt keinen alten Griechen. … Jung seid ihr alle in euren Herzen; denn ihr habt keine Vorurteile aus der Vergan­ genheit und kein mit der Zeit alt gewordenes Wissen. Der ägyptische Priester wollte auf diese Weise wohl andeuten, dass die besonderen Leistungen der Hellenen, die er in Solon repräsentiert sieht, auf ihre kreative Anpas­ sungsfähigkeit an jeweils neue Situationen und auf ihre Kraft für den Neuanfang ge­ rade nach katastrophalen Veränderungen und Umschwüngen zurückzuführen sind. Auf die Frage des Kroisos, wen er für den glücklichsten Menschen halte, habe Solon geantwortet: keinen der Lebenden, da er noch nicht sein Lebensende gesehen habe. Denn bis dahin könne noch viel passieren (Diodor 9, 27). D. L. überliefert auch einen Briefroman, in dem Solon und andere Weise eine Rolle spielten, und Ausonius verfasste am Ende des 4. Jh.s n. Chr. ein lateinisches Spiel von den Sieben Weisen. Noch fünf Jahrhunderte nach Solon pries Cicero die Wirkung der Solonischen ­Gesetze. Diese überstehen trotz zahlreicher Änderungen alle politischen Stürme und leben in den neuzeitlichen demokratischen Systemen ­weiter. Die athenische Verfas­ sung gilt als der Ausgangspunkt der modernen demokratischen Entwicklung, um die sich Solon besonders verdient gemacht hat.

Was

bleibt?

Solon gelang es mit seiner politischen Begabung, ohne jede Gewaltanwendung schrei­ ende soziale Gegensätze auszugleichen. Er schuf eine neue gerechtere Ordnung. Was er auslöste, war eine friedliche Revolution, wie sie sich nur sehr selten im Lauf der ­Geschichte ereignet. 151

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Das unerklärbar Andere: Anaximander Name: Anaximandros von Milet Lebensdaten: 610–540 v. Chr. Literarische Gattung: Philosophische Abhandlung in Prosa Werke: Prosaschrift Über die Natur

Wer

war das?

Anaximander war Sohn eines Praxiades, Schüler und Kollege des Thales. Er gab als erster Grieche eine Schrift über die Natur heraus, verfügte über hervorragende astro­ nomische und geografische Kenntnisse, erfand die Sonnenuhr (VS 12 A 1) und stellte sie auf einem geeigneten Platz in Sparta auf. Außerdem konstruierte er einen Him­ melsglobus und zeichnete eine Karte der bewohnten Welt.

Was

schr ieb er ?

Anaximander entwarf in seinem Werk Über die Natur eine rein physika­lische, das heißt ausschließlich auf rationalen Überlegungen basierende Entstehungsgeschichte des Kosmos, dessen Urprinzip kein bestimmter Stoff, sondern das jenseits aller quali­ tativen Bestimmungen liegende grenzenlos Unbestimmbare (das Apeiron) ist. Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron. Woraus aber das Werden der seienden Dinge hervorgeht, in das hinein geschieht auch notwendigerweise ihr Vergehen; denn Werden und Vergehen zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit (VS 12 B 1). Anaximanders Unterscheidung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit des Seins ist ausgesprochen pessimistisch. Denn wenn das Entstehende die Möglichkeit seiner Ent­ stehung verwirklicht, begeht es ein Unrecht, allein dadurch, dass es entsteht. Dafür wird es mit seinem Untergang bestraft. Denn im Anfang ist immer schon das Ende vorhan­ den. Werden ist als ­solches ein Werden zum Vergehen; dem Unrecht des Entstehens folgt zwangsläufig die Strafe des Vergehens. Diese Vorstellung beschreibt den in der Natur wahrnehmbaren und sich dauerhaft wiederholenden Wechsel von Leben und Tod. Später weist der Neuplatoniker Simplikios (6. Jh. n. Chr.) in seinem ­Kommentar zur Physik des Aristoteles darauf hin, Anaximander habe als Erster das Unbegrenzte als den Ursprung aller seienden Dinge bezeichnet (VS 12 A 9): 152

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Dieser Ursprung sei weder das Wasser noch irgendein anderes der sogenannten ­Elemente, sondern eine bestimmte andere unbegrenzte, undefinierbare Natur, aus der alle Himmel und alle darin befindlichen Welten entstünden. Wenn man davon ausgeht, dass ein substantiviertes Adjektiv des Neutrums (das Unbe­ grenzte) einen allgemeinen Gegenstand des Denkens bezeichnet, ist das Unbegrenzte ein Begriff des abstrakten Denkens. Für dieses ist der Ursprung das unbedingte Bedin­ gende, dem alles aus ihm Hervorgegangene als das Bedingte gegenübersteht. Daher heißt es in dem Fragment VS 12 A 15 (Aristoteles, Physik 3, 4, 203b6–14): Alles ist entweder Ursprung oder aus dem Ursprung. Das Unbegrenzte aber hat ­keinen Ursprung, denn dann hätte es eine Grenze. Außerdem ist es als Ursprung ungeworden und unvergänglich; denn das Gewordene muss ein Ende erfahren, und alles Vergehen hat ein Ende. Daher hat – wie wir meinen – dieser Ursprung auch keinen Ursprung, sondern scheint der Ursprung aller übrigen Dinge zu sein und alles zu umfassen und alles zu lenken, wie diejenigen sagen, die keine anderen Ursachen neben dem Unbe­ grenzten annehmen; … und dies sei das Göttliche; denn es sei unsterblich und unver­ gänglich, wie Anaximander bemerkt. Das Apeiron ist ein verneinender Begriff: Das sogenannte Alpha-Privativum, das die Bedeutung eines Wortes in ihr Gegenteil verkehrt, erlaubt dem substantivierten Adjek­ tiv keine positive Aussage über den Ursprung. Es benennt etwas Unbegreifliches, das die Grenzen des Verstehens überschreitet und nicht mit normalen Maßstäben zu mes­ sen ist. Es teilt nur mit, was es nicht ist: Es liegt außerhalb eines bestimmten Beobach­ tungsraumes, und seine Grenzen sind unerreichbar. Anaximander will mit dem sub­ stantivierten Adjektiv nur vermitteln, dass er keine positive Aussage über den Ursprung für möglich hält. Er ist jedenfalls nicht das, was man sich bisher darüber hatte einfallen lassen. Das Unendliche bezeichnet einfach etwas, was man nicht eingrenzen oder defi­ nieren kann. Als ein Neutrum kann es nicht zuletzt auch keinen persönlichen Schöp­ fergott, sondern nur einen abstrakten Verstandesbegriff meinen. Darin unterscheidet sich Anaximanders Konzeption grundsätzlich von einem Schöpfungsmythos, wie ihn z. B. Hesiod erzählt. Indem Anaximander das Unbegrenzte als den Ursprung bezeichnet, hebt er auch seine Unbegrenztheit hervor, das heißt, der Ursprung hat keine Grenze: Das Apeiron ist also eine Metapher für den Regressus in infinitum, die Verfolgung der Ursachen ins Unendliche. Das griechische Adjektiv ápeiros gehört übrigens (vor und nach Anaximander) zur Umgangssprache; es hat dort die übertreibende Bedeutung einer Hyperbel: So spricht der Dichter der Ilias (24, 776) von einer unendlichen Volksmenge, die Hektors Tod beklagt, oder der erschöpfte Odysseus (Odyssee 7, 286) fällt in einen endlosen Schlaf. Der Gott Hermes erklärt (Odyssee 8, 340), er lasse sich, um mit Aphrodite zusammen zu sein, gern mit dreimal so vielen zahllosen Fesseln binden wie das Lie­ bespaar Ares und Aphrodite. 153

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Erst mit Anaximander verliert das Wort seinen harmlosen Sinn und ­seinen über­ treibenden Charakter, indem es etwas bezeichnet, das es in der empirischen Welt gar nicht gibt. Der neutrale Artikel hat das Adjektiv in einen abstrakten Begriff verwandelt. Anaximander befasste sich aber auch mit den Abständen, der Größe und der Bahn der Gestirne (VS 12 A 11; 18; 19); er sah die Erde, die den Mittelpunkt des Kosmos bildet, als Säulentrommel, das heißt als Zylinder, auf dessen oberer Fläche sich die bewohnte Welt befinde. Er meinte aber auch, unsere Welt sei nur eine von vielen, die aus etwas entsteht und in etwas vergeht, in das grenzenlos Unbestimmbare hinein, das er sich eben als etwas ganz anderes als das Vorhandene vorstellte. Und wenn alles Vorhandene endlich ist, muss das, was davor war, unendlich sein.

v  Wodurch unter scheiden und A na ximander ?

sich

Thales

Thales nahm mit dem Wasser einen sinnlich wahrnehmbaren Stoff als Ursprung des Daseins an. Anaximander suchte den Ursprung in einem sinnlich nicht wahrnehmba­ ren Stoff. Er vollzog „zum ersten Mal die Abstraktion vom Sinnlichen auf das Begriff­ liche“ (Uvo Hölscher, 1968), indem er das Unendliche und Unbegrenzte zum Urgrund erklärte. Dieser muss unbegrenzt und unendlich sein, damit das Werden nicht aufhört und sich erschöpft. Daher nennt er das Unendliche auch unsterblich, unvergänglich und unentstanden. Das Unbegrenzte des Anaximander ist die Voraussetzung für eine unendlich fortschreitende Entwicklung. Später scheint Aristoteles diese Auffassung zu bestätigen, indem er darauf hinweist, dass Zeit, Bewegung bzw. Veränderung und Den­ ken (nicht aber das Gedachte) als solche unbegrenzt sind (Physik 3, 8, 208a20).  v

Wie

lebte das

Werk

fort?

Anaximanders bedeutendster Schüler war Hekataios aus Milet, der die großen Kontu­ ren des anaximandrischen Weltbildes mit zahlreichen Einzel­informationen auffüllte. Der ionische Naturphilosoph hat über Hekataios den Weg zu einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung und Geografie gebahnt. Hier wird wieder erkennbar, dass die Grenzen zwischen Philosophie und Fachwissenschaften fließend sind. Den Ursprung als das Unbegrenzte zu bestimmen, demonstriert metaphorisch die Sinnlosigkeit einer Suche nach dem Ursprung. Es sei dahingestellt, ob sich die von ei­ nem tiefen Pessimismus geprägte Lebenseinstellung des Theognis mit Anaximanders Ursprungstheorie – der Tod ist die Strafe für das Leben – berührt.

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Was

bleibt?

Anaximander hat die Frage nach dem Anfang entmythologisiert. Die Antwort führt zu einem abstrakten Verstandesbegriff. Der Anfang ist nur als solcher ohne empirischen oder spekulativen Inhalt zu denken. Die Frage bleibt allerdings offen, warum der Mensch überhaupt nach dem Anfang fragt. Was ist der Ursprung der Frage nach dem Ursprung, der unfassbar, unbegrenzt und sinnlos erscheint?

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Aufklärung und Fortschritt: Xenophanes Name: Xenophanes von Kolophon Lebensdaten: 570–475 v. Chr. Literarische Gattungen: Elegie, Spottgedicht, Lehrgedicht Werke: Fragmentarisch erhaltene Gedichte in elegischen Distichen, Spottgedichte in Hexametern und Iamben und ein Lehrgedicht in Hexametern

Wer

war das?

Xenophanes, der als junger Mann seine Heimatstadt Kolophon verließ, „als der Meder kam“ (VS 21 B 22), ergriff den Beruf des fahrenden Sängers, des Rhapsoden, um seinen Lebensunterhalt mit dem Vortrag der homerischen Gesänge und seiner eigenen Elegi­ en zu bestreiten. Er kam weit herum in der damals bekannten Welt und schließlich auch gegen 540 v. Chr. nach Elea (lateinisch: Velia), in die von Bewohnern der mittelgriechischen Pho­ kis in der Nähe des heutigen Paestum gegründete Stadt. Aus seinen vielfältigen Erfah­ rungen in der damaligen Welt erwuchs seine kritische Haltung gegenüber verbreiteten Überzeugungen und Konventionen. Er war Skeptiker, indem er die Möglichkeit eines sicheren Wissens bestritt (B 34), aber das Wahrscheinliche akzeptierte (B 35) – wie später der akademische Skeptiker Karneades. Xenophanes hat wohl auch noch Anaxi­ mander gehört und gilt als Lehrer des Parmenides. D. L. erwähnt (1, 23), dass Xenophanes ebenso wie der Historiker Herodot (1, 74) den Milesier Thales bewunderte, weil er eine Sonnenfinsternis voraussagte. Aber gegen Homer und Hesiod polemisierte er massiv. Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass die Kritik an Vorgängern und Zeitgenossen der eigenen Selbstdarstellung und Profilierung diente. Der nicht besonders zimperliche Heraklit hat Xenophanes ebenso wie dem Dichter Hesiod, dem weisen Pythagoras und dem Historiker Hekataios Vielwisserei vorgeworfen, die nicht dazu führe, Verstand zu haben. Am Beispiel des Xenophanes lässt sich besonders gut erkennen, dass sich die soge­ nannten Vorsokratiker in einer oft recht scharfen und polemisch aufgeheizten Kon­ kurrenzsituation sahen, in der sie zugleich einsteckten und austeilten. Dass er sich auch einmal über die Seelenwanderungslehre des Pytha­goras lustig machte, scheint aus der schon oben erwähnten Anekdote vom geschlagenen Hund her­ vorzugehen (VS 21 B 7).

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v K olophon

und das

K olophonium

Die nordwestlich von Ephesos gelegene Stadt rühmt sich nicht nur ihres größten Soh­ nes, des Philosophen Xenophanes. In der Umgebung von Kolophon wurde auch wert­ volles Baumharz, das Kolophonium, gewonnen. Die Stadt war allerdings wegen ihres üppigen Lebensstils verrufen. Xenophanes (VS 21 B 3) beklagt die verweichlichte Le­ bensweise, die ihre Bürger von den Lydern erlernt hätten. Aber nachdem sich die Perser der Stadt bemächtigt hatten, büßte sie ihren Luxus ein. Strabon erwähnt in seiner Geografie (14, 28), dass die Kolophonier bemerkenswerte Seestreitkräfte und eine ausgezeichnete Reiterei besaßen, die in kritischen Situationen den Kampf zu entscheiden wussten. So erklärt sich nach Strabon auch das Sprichwort, dass man „Kolophon zu Hilfe geholt habe“, wenn man ein Unternehmen erfolgreich zu Ende geführt hatte.  v

Was

schr ieb er ?

Eine in 24 Versen überlieferte Elegie für das Symposion (B 1) besteht aus zwei Teilen, einer Beschreibung des Symposions und seiner Atmosphäre und einigen Anweisungen für das Verhalten während dieser geselligen Veranstaltung. Im zweiten Teil der Elegie verwirft der Dichter eine große Zahl traditioneller Mythen, weil sie seiner Meinung nach dem Wesen des Gött­lichen nicht gerecht werden. Eine andere Elegie enthält eine Polemik gegen die olympischen Sportwettkämpfe und die Verleihung staatlicher Auszeichnungen für siegreiche Athleten (B 2): Aber wenn jemand durch die Schnelligkeit seiner Füße einen Sieg erringen würde, als Fünfkämpfer dort, wo sich der heilige Bezirk des Zeus am Pisaquell in Olympia be­ findet, als Ringer, als Fachmann in der Kunst des schmerzvollen Boxkampfes oder als Experte in einer Kampfart, die man als Allkampf (Pankration) bezeichnet, dann hätte er zwar bei den Bürgern ein größeres Ansehen …, wäre aber nicht so wertvoll wie ich. Denn wertvoller als die Stärke der Männer und der Pferde ist unsere geistige Kraft. Im Gegensatz dazu wird die Leistung des Athleten grundlos so hoch geschätzt, und es ist auch nicht gerecht, die Körperkraft höher zu bewerten als ein tüchtiges Wissen. Denn wenn sich auch ein tüchtiger Faustkämpfer unter den Leuten befände, im Fünfkampf oder im Ringkampf sich auszeichnete oder auch durch die Schnellig­ keit seiner Füße – was ja den Vorrang vor allen anderen Wettkampfdisziplinen hat –, dann wäre die Stadt dadurch nicht in einer besseren Verfassung. In seiner Kritik an der Überbewertung sportlicher Leistungen stimmt Xenophanes mit Tyrtaios (9 D.) überein. Er greift massiv in das herkömmliche Wertgefüge ein, indem er der geistigen Kraft den Vorrang vor dem olympischen Körperideal gibt. So konfron­ tiert er die alte Adelsethik mit dem Idealbild des denkenden Menschen, der sich der Leistungsfähigkeit seiner Vernunft bewusst ist. Indem er die geistige Kraft gegen den 157

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athletischen Körperkult ausspielt, wirbt er für ein neues Bildungsverständnis, das eine Verschiebung des Wertvollen vom Körperlichen auf das Geistige, Verstandesmäßige und Rationale intendiert. In einer weiteren Elegie (B 3) tadelt er die Bürgerschaft seiner Heimatstadt Kolo­ phon wegen des kostspieligen und nutzlosen Aufwands, den sie für Bürgerversamm­ lungen zu treiben pflege – eine frühe Verurteilung des Luxus. Er lässt nur solche Be­ strebungen gelten, die die Ordnung und Wohlfahrt der Gemeinde real fördern. Repräsentation lehnt er als ebenso nutzloses wie teures Spiel ab. In den Silloi erweist sich Xenophanes nicht nur als Revolutionär des Geistes, son­ dern auch als Satiriker und Polemiker. Der spöttische Ton der Hexameter und Iamben soll auf die Möglichkeiten menschlichen Erkenntnisfortschritts mithilfe der Vernunft aufmerksam machen. Der Mensch ist imstande, Fortschritt ohne göttliche Hilfe und selbstständig zu schaffen: Sicherlich haben die Götter den Sterblichen nicht von vornherein alles gezeigt, vielmehr finden die Menschen erst mit der Zeit das Bessere, wenn sie danach suchen (B 18). Aus diesen Worten spricht ein intellektuelles Selbstbewusstsein, das von da an zum Grundzug der europäischen Wissenschaft und Philosophie wird. Dieser Haltung ent­ spricht die Überzeugung von der gegenüber allem Menschlichen kategorial andersar­ tigen Qualität des Göttlichen: Es gibt nur einen einzigen Gott. Unter Göttern und Menschen ist er der Größte. Er ist völlig anders, als man es sich gewöhnlich vorstellt. Er ist den Menschen weder in ­seinem Aussehen noch in seinem Denken gleich (B 23). Das Bild, das Homer und Hesiod von den Göttern zeichnen, ist völlig falsch. Die Götter Homers und Hesiods entsprechen auch nicht den bescheidensten moralischen Anfor­ derungen: Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt, was bei den Menschen Schimpf und Schande bedeutet: Diebstahl, Ehebruch und gegenseitigen Betrug (B 11). Daraus hätte Xenophanes dieselbe Konsequenz ziehen können wie Heraklit (VS 22 B 42): Homer sollte man von den Wettkämpfen ausschließen und mit Ruten verprügeln und Archilochos ebenso. Aber wie man Gott nicht erkennen kann, so ist auch wirkliche Erkenntnis grundsätz­ lich unmöglich: Und das Genaue sah kein Mensch und es wird auch niemanden geben, der etwas weiß über die Götter und über alle anderen Dinge, von denen ich spreche. Denn auch wenn 158

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es ihm in höchstem Maße gelänge, mit Worten Vollkommenes aus­zudrücken, weiß er es doch selbst nicht wirklich. Es gibt überhaupt nur Vermutungen (B 34). Vermutungen, die „dem Wirklichen nahe zu kommen scheinen“ (B 35), d. h. plausibel, aber unbewiesen sind, werden zwar nicht ohne Grund, aber ohne Gewissheit ange­ stellt. In diesen Zusammenhang gehört auch das gedankliche Experiment: Aus der sprachlichen Form des irrealen Bedingungssatzes entwickelt Xenophanes neue Mög­ lichkeiten der Argumentation: Wenn Ochsen oder Löwen Hände hätten oder mit ihren Händen malen und Werke schaffen könnten wie die Menschen, dann würden Pferde pferdeähnliche, Ochsen aber ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper abbilden, wie sie jeder Ein­ zelne selbst besäße (B 15). Auch die sinnliche Wahrnehmung ist nicht absolut vorhanden und objektiv messbar, sondern von bestimmten Bedingungen abhängig: Wenn ein Gott nicht den gelben Honig geschaffen hätte, dann würde man sagen, Fei­ gen seien viel süßer (als wir es jetzt empfinden) (B 38). Diese scheinbar so banalen Sätze haben eine exemplarische Bedeutung. Sie veran­ schaulichen die Bedingtheit menschlicher Meinungen, Anschauungen und Empfin­ dungen: Denn jede Erfahrung steht im Zusammenhang mit bereits gemachten Erfah­ rungen und wird dadurch relativiert. Aber abgesehen davon ist ein Nachdenken über das Mögliche (wenn … dann) ein kreativer philosophischer Ansatz: Xenophanes regt mit seinen Gedankenspielen in der sprachlichen Form des Konditionalsatzes zur Bildung von Hypothesen an, die einen neuen Sachverhalt und seine möglichen Konsequenzen bewusst und zugleich etwas bereits Gedachtes – wie zum Beispiel ein Vorurteil – fragwürdig werden lassen.

Wie

lebten die

Werke

fort?

Die Sílloi mit ihren Angriffen gegen überlebte und falsche Traditionen und Wertungen haben die hellenistische Populärphilosophie und die römische Satire beeinflusst. Zahl­ reiche Fragmente überliefert Athenaios (2. Jh. n. Chr.) in seinem Gelehrtengastmahl. Auch der Skeptiker Sextus Empiricus zitiert Xenophanes mehrfach (so auch B 34). Eine gedankliche Nähe zu dem Akademiker Karneades, dem Erz-Skeptiker, ist zu spüren. Karl R. Popper (Auf der Suche nach einer besseren Welt, München/Zürich 61991, bes. 217–229) versteht Xenophanes als den Begründer der skeptischen Denkhaltung, die Wissen als Vermutungswissen begreift und Gewissheit ausschließt.

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Was

bleibt?

Aus der Entrüstung über die stehlenden und hurenden Götter des Epos (B 11) und aus der Verachtung des Anthropomorphismus entwickelt sich eine eigene Gottesvorstel­ lung: Es gibt nur einen einzigen Gott, der den Sterblichen in keiner Weise gleicht. Er ist die denkbar größte Macht, von der wir uns kein Bild machen können. Darum ist es eine grandiose Anmaßung und Lästerung, sich ein Bild von Gott machen zu wollen. Es gibt keine Gewissheiten, allenfalls plausible und akzeptable Hypo­thesen. Wertungen hängen von äußeren Umständen ab und sind demnach nur relativ und vorübergehend gültig. Xenophanes formuliert als Erster die Idee eines Fortschritts, der auf menschlicher Tatkraft beruht. Die sprachliche Form des irrealen Bedingungssatzes, die irreale Hypothese, ermög­ licht das gedankliche Experiment, mit dem alles Gegebene infrage gestellt wird. Die Form Gesetzt den Fall, dass eröffnet das Gedankenspiel, erschließt neue Denkmöglich­ keiten und widerlegt die Gewissheit endgültiger Erkenntnis. Die Annahme des (schein­ bar) Unmöglichen und das Spiel mit dem (auf den ersten Blick) Unglaublichen sind von der Hoffnung auf Veränderung getragen oder lassen das Gegebene als vorüber­gehend annehmbar erscheinen.

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Wahrheit und Irrtum: Parmenides Name: Parmenides aus Elea Lebensdaten: 515–445 v. Chr. Literarische Gattung: Philosophisches Lehrgedicht Werke: Lehrgedicht Über die Natur / Über das Wesen der Dinge in ­daktylischen Hexa­ metern, vergleichbar mit Hesiods Theogonie. Rund 160 Hexameter sind in 18 Fragmenten erhalten.

Wer

war das?

Über seine genaue Lebenszeit gibt es schon in der Antike deutlich voneinander abwei­ chende Annahmen. Die Angaben über sein Geburtsjahr schwanken zwischen 540 und 515 v. Chr. Nach Platon (Parmenides 127a-d) soll er im Alter von 65 Jahren mit dem damals noch jungen Sokrates in Athen zusammengetroffen sein. Platon lässt den Dia­ log Parmenides nicht lange vor 450 v. Chr. stattfinden. Parmenides war in seiner Hei­ matstadt Elea (Velia) in Süditalien auch als Gesetzgeber tätig. Seine Gesetze wurden so gut angenommen, dass sich die Bürger von Elea jedes Jahr von Neuem zu ihnen be­ kannten und ihre Akzeptanz mit einem Eid bestätigten. Xenophanes soll sein Schüler gewesen sein.

Was

schr ieb er ?

Im Proömium seines Lehrgedichts (VS 28 B 1) erklärt der Autor, er spreche im Namen einer Göttin, die ihm die Wahrheit offenbart habe. Der Philosoph wird in rasender Fahrt auf einem Sonnenwagen, von Sonnenmädchen begleitet, zu den Göttern ent­ rückt. Indem er die Gottheit die Wahrheit verkünden lässt, stellt er diese als objektiv gültig und nicht als subjektiv fragwürdig dar. Im sogenannten Wahrheits-Teil des Lehrgedichts (B 2–8) wird dargelegt und argumentativ abgesichert, was ist. Im Mei­ nungs-Teil (B 8–19) wird ausgeführt, was nur zu sein scheint und mit dem, was wirklich ist, von den philosophischen Vorgängern des Parmenides lediglich verwechselt wurde. Von besonderer Bedeutung ist sein Verhältnis zu Heraklit. Was den Weg zur Wahr­ heit betrifft, so stimmt er mit Heraklit überein; in der Bestimmung ihres Inhalts ist er jedoch sein Antipode. Nach Heraklit existieren die unterschiedlichen Dinge nur in scheinbarer Vielheit, nach Parmenides sind es nur erscheinende Dinge und hinter ihrer scheinbaren Vielheit steht die untrennbare Einheit des Seienden als wahre Wirklichkeit. Parmenides will den Dichter Hesiod überbieten: Er hat im Vergleich zu diesem nicht nur die Wahrheit selbst erfahren, sondern auch das bloß Wahrscheinliche als solches identifiziert. Dass es ihm um eine höhere Wahrheit geht, zeigt schon der folgen­ 161

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de Unterschied zwischen beiden: Hesiod wird auf der Erde von göttlichen Mächten aufgesucht, Parmenides unternimmt eine Himmelfahrt; er tritt aus dem menschlichen Daseins- und Erfahrungsbereich heraus und erfährt gewissermaßen eine Ekstase, um zu einer (religiösen) Offenbarung der Wahrheit zu gelangen. Im Gegensatz zu den ­frühen ionischen Naturphilosophen, wie zum Beispiel zu Thales, setzt sich Parmenides über die sinnlich wahrnehmbare Vielfalt der Welt hinweg und sucht die Wahrheit ­jenseits dieser Welt nicht mit den Sinnen, sondern ausschließlich mit der Kraft seines Geistes. Diese Wahrheit besteht in dem einen Seienden, das ungeworden und unver­ gänglich ist und weder Vergangenheit noch Zukunft hat, sondern in reiner Gegenwär­ tigkeit als Gedankenbegriff existiert. Die Wahrheit ist ein unbewegliches Kontinuum, einer Kugel vergleichbar (B 8, 43), das nirgendwo durch das Nichtsein unterbrochen wird, das als Gegenbild des wahren Seins undenkbar und daher auch nicht existent ist. Sein und Denken sind identisch (B 3). Das Seiende ist ein reiner Gedanken- oder Ver­ standesbegriff; als etwas Gegenständliches wäre es undenkbar. Identisch sind Denken und Erkennen und das, worauf Denken und Erkennen gerichtet sind. Denn nicht ohne das Seiende, worin es sich ausdrückt, wirst du das Denken und Erkennen finden. Nichts anderes ist und wird außerhalb des Seienden sein, weil die Moira (das Schicksal) es damit verknüpft hat, sodass es vollkommen und unbeweglich ist. Darum wird alles bloßer Name bleiben und nicht wirklich sein, was die Sterblichen sprachlich erfasst haben, weil sie darauf vertrauen, dass es wahr sei, dass es entstehe und vergehe, dass es existiere und nicht existiere, dass es seinen Platz ändere und seine helle Farbe wechsle (B 7 und 8, 34–41). Den Satz „Nichts ist nicht“ prägt die Göttin dem Philosophen ein; er soll ihn beson­ ders beherzigen. Aber die Feststellung, dass das Nichts unmöglich ist und nicht sein kann – das wäre ja auch ein Widerspruch in sich –, soll nicht nur auf die Darlegungen über das wirklich Seiende vorbereiten; sie soll auch die falsche Vorstellung bewusst machen, die im Denken und Benennen des Nichts besteht. Die gewöhnliche Wahr­ nehmung der Welt ist ein großer Irrtum, weil sie das Nichtseiende als seiend zu ­denken und zu benennen versucht. Zur Zeit des Parmenides war es üblich anzunehmen, die Welt sei eine aus Gegensätzen bestehende Konstruktion. Nach Aristoteles (Metaphysik 986a22) unterschieden die ­Pythagoreer zehn Gegensatzpaare: Grenze und Unbegrenztes, Ungerades und Gerades, Einzahl und Mehrzahl, rechts und links, Männliches und Weibliches, Ruhendes und Bewegtes, Gerades und Gekrümmtes, Licht und Dunkel, Gutes und Schlechtes, Quadrat und Rechteck. Parmenides (B 9) bezieht sich auf diese Gegensätze, indem er annimmt, dass das Denken durch Gegensatzpaare strukturiert ist. Allerdings versteht er den Gegensatz Licht und Nacht als ursprünglich und ordnet ihm alle anderen Paare unter, die aus diesem Urgegensatz hervorgehen. Wenn man die Gegensätze als seiend denkt, dann sind sie, da alles Seiende sich selbst gleich ist, auch als identisch zu denken. 162

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Parmenides identifiziert hier nichts anderes als Figuren und Funktionen des Den­ kens. Da Nacht und Tag der empirischen Welt angehören, dient dieses Gegensatzpaar nur dazu, die Denkfigur anschaulich zu machen. Wenn die beiden Elemente des ­Gegensatzpaares gedacht werden, dann sind sie im Denken als unterschiedslos seiend vorhanden. Demnach ist auch das Helle mit dem Dunklen identisch, eben weil es ist. Dadurch wird dann aber auch ausgeschlossen, dass man etwa die Nacht als ein Nicht­ seiendes versteht: Aber da nun einmal alles als Licht und Nacht gedacht und seinem Wesen entsprechend dieser oder jener Seite des Gegensatzpaares zugeordnet wird, ist auch alles Licht und unsichtbare Dunkelheit. Beides ist also gleich, da alles jeweils eines von beidem ist (B 9). Parmenides unterscheidet zwischen dem gedanklichen Sein und der sinnlich wahr­ genommenen Welt des Scheins, die nur ein Konstrukt mensch­licher Meinungen und ­Benennungen ist: So sind also die Dinge der sinnlich wahrnehmbaren Welt in der Meinung der Men­ schen entstanden, so sind sie auch jetzt vorhanden und so werden sie später wieder vergehen, nachdem sie entstanden sind (B 19). Aber die Frage, in welchem Verhältnis die Welt des Scheins zur Welt des Seins steht, wird nicht geklärt. Vielleicht wollte Parmenides mit seiner Lehre vom Sein des Seins und vom Nichtsein des Nichts folgende Einsicht vermitteln: Wenn es weder Werden oder Vergehen gibt, dann gibt es auch keinen (individuellen) Tod. Parmenides entwi­ ckelte vielleicht, um diesen einen Satz als wahr zu erweisen, seine Ontologie, in welcher der Tod nicht wirklich, sondern nur scheinbar existiert. Was nicht wirklich existiert, ist auch nicht denkbar, und umgekehrt: Was nicht denkbar ist, existiert eben auch nicht.

Wie

wur de das

Werk

über liefert?

Der Kommentator des Aristoteles, Simplikios, hat über die Lehren des Parmenides im 6. nachchristlichen Jh. berichtet und große Partien aus dem Werk des Eleaten zitiert. Er erklärt ausdrücklich (VS 28 A 21), er habe dies wegen der Seltenheit des Buches getan, damit seine Leser die parmenideische Lehre im originalen Wortlaut lesen könnten.

Wie

lebte das

Werk

fort?

Seitdem Parmenides das unscheinbare Wort Sein zum zentralen philosophischen Be­ griff erhoben hat, ist die Frage nach dem Sein in der europäischen Philosophie leben­ dig. Platon lässt es in seinem Dialog Parmenides, in dem es um die Kritik des Eleaten an der platonischen Ideenlehre geht, zu einer Begegnung des noch sehr jungen Sokrates 163

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mit dem alten Parmenides kommen. Für die Platonische Akademie hat Parmenides’ Lehre eine zentrale Bedeutung gewonnen. Der Sophist Gorgias aus Leontinoi meinte allerdings, er habe Parmenides widerlegt und seine Lehre ad absurdum geführt. Wenn es von Sokrates heißt, er habe alle späteren Schulen beeinflusst, so gilt dies trotz der geringen Verbreitung seines Werkes auch für Parmenides. Der Satz, dass nur das Seiende ist und unmöglich nicht sein kann, hat alle philosophischen Richtungen beeinflusst, welche die Argumente des Parmenides allerdings überwiegend als einen Beitrag zur Logik und nicht zur Ontologie oder Kosmologie interpretieren. In neuerer Zeit befassen sich u. a. Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Nietz­ sches Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen und Heideggers ­Heraklit- und Parmenides-Interpretationen mit dem Vorsokratiker aus Elea.

Was

bleibt?

Das Thema des Parmenides ist die Struktur des Denkens. Diese ist von der Paarigkeit bestimmt, die sich unabhängig von allem Sichtbaren und Veränderlichen als solche nicht verändert und immer so ist, wie sie ist. Weil nur die Grundfiguren des Denkens wirklich sind, erscheint die sinnlich wahr­ genommene Welt als ein großer Irrtum. Aber Parmenides hat die wahrnehmbare Welt nicht für nichtig erklärt, um sie – und mit ihr auch sich selbst – zu vernichten. Er ­wollte nur bewusst machen, dass sie nicht so ist, wie sie zu sein scheint. Es ging ihm auch nicht darum, subjektive Einschätzungen und Sichtweisen gegenüber einer objektiven Wahr­ heit abzuwerten. Er wollte aber darauf aufmerksam machen, dass intersubjektive Kom­ munikation nur gelingen kann, wenn man die universalen und immer seienden Ge­ setzmäßigkeiten und Strukturen des Denkens erfasst und respektiert.

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Gedankenspiele: Zenon Name: Zenon aus Elea Lebensdaten: 490–430 v. Chr. Literarische Gattung: Philosophische Abhandlung Werke: Über die Natur

Wer

war das?

Zenon war in Elea der Lieblingsschüler des Parmenides und wurde von ­diesem adop­ tiert. Er war anscheinend auch mit seinem Lehrer in Athen (um 460 v. Chr.), als Sokra­ tes noch sehr jung war. Er hielt dort Vorlesungen (Platon, Parmenides 127a).

v  Zenon,

der

Lieblingsschüler

Über Zenon aus Elea, den Lieblingsschüler des Parmenides, war eine schaurige Ge­ schichte in Umlauf: Zenons Heimatstadt musste unter der grausamen Herrschaft des Tyrannen Nearchos Schlimmes erdulden. Da plante der Philosoph Zenon den Sturz des Regimes. Die Verschwörung wurde jedoch verraten und Zenon verhaftet und gefol­ tert. Er sollte die Namen seiner Mitverschwörer preisgeben, schwieg aber beharrlich und standhaft. Die Folterqualen wurden erhöht. Da tat Zenon so, als ob er die Schmer­ zen nicht mehr ertragen könne und nun bereit sei, die ganze Wahrheit zu sagen, ver­ langte aber, den Tyrannen persönlich zu sprechen. Dieser kam sofort. Zenon gab vor, nur noch flüstern zu können. Nearchos hielt daher sein Ohr ganz dicht an den Mund des Gequälten. Da packte Zenon das Ohr mit seinen Zähnen und biss es ab. Die Folter­ knechte stürzten herbei, verstärkten die Folter, schlugen ihm noch die Zähne aus und brachten ihn endgültig um. Andere erzählen, Zenon habe sich selbst die Zunge abgebissen, um niemanden ver­ raten zu müssen, und sie dann dem Tyrannen ins Gesicht gespuckt (Diodor, Universal­ geschichte 10, 18, 2).  v

Was

schr ieb er ?

In seiner Abhandlung Über die Natur befasst er sich laut Aristoteles (Physik 6, 9) mit verschiedenen Problemen der Bewegung, die hier an drei Beispielen vorgestellt werden: (1) Wenn man eine Strecke im Stadion halbiert, ist auch die Hälfte dieser halbier­ ten Strecke wieder halbierbar usw. Wenn nun ein Läufer das Ziel erreichen will, muss er zunächst die Hälfte der Strecke durchlaufen, dann muss er die Hälfte der Hälfte 165

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durchlaufen usw. Da aber die Strecke auf diese Weise unendlich teilbar ist, ist sie in einer endlichen Zeit nicht zu durchlaufen. Diese Behauptung widerspricht zweifelhaft jeder Erfahrung. Jedermann weiß, dass ein Läufer sein Ziel in einer endlichen Zeit erreicht. Das zeigt, dass die unendliche Teilbarkeit der Strecke für die tatsächliche Bewegung bedeutungslos ist, weil die Rennstrecke nur theoretisch oder potenziell aus unendlich vielen Teilstrecken besteht und nicht wirklich in unendlich viele Teilstre­ cken zerfällt. Das Problem entsteht, wenn man zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit nicht unterscheidet. Die Unerreichbarkeit des Zieles ist nur dann (theoretisch) gege­ ben, wenn man die potenziell unendliche Teilbarkeit zugrunde legt, die aber für die Wirklichkeit der Bewegung ohne Bedeutung ist. (2) Dasselbe gilt für den paradoxen Fall, dass Achill, der schnellste Läufer der Welt, nicht einmal dann eine Schildkröte überholen kann, wenn diese einen Vorsprung von zehn Metern bekommt, obwohl Achill zehnmal schneller ist als die Schildkröte. Denn der Verfolger muss – theoretisch –, bevor er überholen kann, den Startpunkt des Ver­ folgten erreichen. Die Verfolgte ist dann aber bereits ein kleines Stück vorangekom­ men. Während Achill auch diese Strecke durchmisst, ist die Schildkröte wiederum ein kleines Stück weiter usw. Immer wird die Schildkröte eine kleine und zunehmend kleinere Strecke Vorsprung behalten. Diese Paradoxie beruht ebenfalls auf dem Spiel mit einer Möglichkeit, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Es geht auch hier nicht um einen Gegensatz oder Widerspruch, sondern um zwei verschiedene Sicht­ weisen, die nicht miteinander in Verbindung zu bringen sind. Der Schluss, dass Achill das langsame Tier nicht einholen kann, ist nur ein plausibles Gedankenspiel – ver­ gleichbar übrigens mit den Gedankenspielen des Xenophanes. Zenon wollte damit nichts beweisen, sondern nur veranschaulichen, dass bestimmte Annahmen (wenn … dann), wenn man sie konsequent durchspielt, zu paradoxen Schlüssen führen können. (3) Das Paradox vom ruhenden Pfeil soll zeigen, dass der fliegende Pfeil nur dann als unbeweglich anzusehen ist, wenn man eine bestimmte Annahme gelten lässt: Der fliegende Pfeil befindet sich in jedem Augenblick seines Fluges an einer bestimmten Stelle seiner Flugbahn. Wenn er sich dort befindet, dann ruht er unbewegt an dieser Stelle. Aristoteles (Physik 239b5–9) wies bereits darauf hin, dass diese Annahme ein bestimmtes Verständnis von Zeit voraussetzt, dass nämlich die Zeit eine Summe von unendlich ­v ielen Zeitpunkten ist, die ein unendliches Nacheinander von Punkten ­bilden. Der Pfeil ruht in jedem einzelnen Punkt, sodass man nicht sagen kann, er fliege in dem Augenblick, wo er sich an diesen Punkten befindet. Dasselbe gilt für die Be­ schreibung einer Strecke als Aneinanderreihung einzelner Punkte. An jedem der zahl­ reichen Punkte einer Strecke ruht das sich bewegende Objekt, das sich nur fortbewegt, indem es gewissermaßen von Punkt zu Punkt weiterspringt. Zenon hat dadurch allerdings auch bewusst gemacht, dass etwas gedanklich Mög­ liches und in sich Plausibles mit der praktischen Erfahrung unvereinbar ist: Achill wird die Schildkröte in wenigen Schriften überholen, auch wenn dies theoretisch nicht möglich erscheint.

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Wie

wur den seine

Gedanken

überliefert

und wie lebten sie fort?

Platon erwähnt Zenon in mehreren Dialogen (Parmenides 127b, Sophistes 215a, Phaid­ ros 261d). Bei D. L. 9, 72 zählt Pyrrhon aus Elis Xenophanes und Zenon wie auch ­Demokrit – nicht ganz ohne Grund – unter die Skeptiker. Aristoteles setzt sich u. a. in seiner Physik (bes. 6, 9) intensiv mit Zenon auseinan­ der. D. L. bietet in 9, 25–29 seiner Philosophengeschichte einen knappen Bericht über den Eleaten. Bei Simplikios sind zahlreiche Fragmente des zenonischen Lehrgebäudes erhalten.

Was

bleibt?

Das Gedankenspiel unter Berücksichtigung des Wenn-dann-Schemas kann unlösbare Schwierigkeiten produzieren, wenn man den Inhalt des Bedingungssatzes als wirklich und nicht als möglich versteht. So wäre z. B. eine kontinuierliche Bewegung ausge­ schlossen, wenn man sich die Zeit nicht als ununterbrochenes Kontinuum, sondern als Reihung unendlich vieler einzelner Zeitpunkte vorstellte.

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Liebe und Hass: Empedokles Name: Empedokles aus Akragas (Sizilien) Lebensdaten: 500–430 v. Chr. Literarische Gattung: Philosophisch-religiöse Lehrdichtung Werke: Über die Natur und Reinigungen (Katharmoí)

Wer

war das?

Empedokles stammte aus einer vornehmen Familie in Akragas. Er verstand sich als Schüler des Parmenides und als Bewunderer des Pythagoras. Er war ein berühmter Arzt, ein glänzender Redner – Aristoteles (bei D. L. 8, 57) nennt ihn den Erfinder der Rhetorik – und ein demokratisch gesinnter Politiker seiner Heimatstadt. Laut Aristo­ teles (D. L. 8, 63) war Empedokles ein freiheitsliebender Mensch, der auf jede Form von Macht verzichtete und auch die ihm angebotene Königswürde ablehnte, weil er ein einfaches Leben vorzog. Von seinem Tod sind verschiedene Versionen überliefert. Be­ rühmt ist die Behauptung, er habe sich in den Krater des Ätna gestürzt, um den über ihn verbreiteten Glauben zu beweisen, er sei ein Gott. Übrigens soll danach eine seiner Sandalen aus dem Krater wieder herausgeschleudert worden sein (D. L. 8, 9).

v  Philosophie

aus der

Vogelper spektive

Auszug aus Lukians Menippos, der zweite Ikaros oder der Wanderer über den Wolken: Als ich aus der großen Entfernung und aufgrund meiner nur beschränkten Sehkraft die Dinge auf der Erde nicht mehr genau erkennen konnte und sehr betrübt darüber war, da kommt der weise Empedokles auf mich zu. Er sah aus wie ein Köhler, war voller Asche und hatte Brandwunden am ganzen Körper. Ich bekam einen furchtbaren Schrecken und dachte, es sei ein Mondgeist. Empedokles aber beruhigte mich und stellte sich vor: „Ich bin der Naturphilosoph Empedokles. Als ich mich in den Krater gestürzt hatte, riss mich der Rauch des Ätna wieder hoch und trug mich hierher. Jetzt wohne ich auf dem Mond, gehe die meiste Zeit in der Luft spazieren und lebe von Tau. Ich bin hierher gekommen, um dich von deiner augenblicklichen Behinderung zu ­befreien. Denn es quält dich, wie ich meine, die Tatsache, dass du die Vorgänge auf der Erde nicht klar genug siehst.“ „Das ist sehr freundlich von dir, bester Empedokles“, sagte ich. „Sobald ich wieder in Griechenland zurück bin, werde ich dir ein Opfer darbringen.“ Bevor sich Empedokles wieder in Rauch auflöste, gab er Menippos eine erfolgreiche Anleitung zur Verbesserung seiner Sehkraft. Darauf wurde Empedokles allmählich 168

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wieder zu Rauch. Menippos aber konnte tatsächlich alles auf der Erde und vor allem die Menschen mit ihren vielen kleinen und großen Abartigkeiten, geheimen Verfeh­ lungen und ungeheuerlichen Verbrechen viel deutlicher sehen.  v

Was

schr ieb er ?

Aristoteles behauptet, Empedokles sei als Hexameterdichter ein Nachahmer Homers gewesen und habe die Kunstmittel der Dichtung vorzüglich beherrscht (D. L. 8, 57). Aus seinen Schriften Über die Natur der seienden ­Dinge und den Reinigungen oder Läuterungen sind zahlreiche Fragmente erhalten. Das Werk Über die Natur ist ein phi­ losophisches Lehrgedicht über die ­Gestalt und die Dynamik der Welt. Es bietet eine umfassende Kosmologie, verbunden mit einer Lehre von der Natur. Nach Empedokles besteht der Kosmos aus den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde: Zuerst höre von den vier Wurzelstoffen (Elementen) aller Dinge: der schimmernde Zeus (Feuer), die Leben spendende Hera (Erde), Aidoneus / Hades (das Unsichtbare = die Luft) und Nestis (Wasser), die durch ihre Tränen die irdischen Quellen strömen lässt (B 6). Durch die beiden einander entgegengesetzten Grundkräfte Liebe und Hass, die Em­ pedokles in mythischen Bildern beschreibt, werden Verbindung und Trennung der Elemente, d. h. Entstehen und Vergehen, verursacht. Der Vorgang des Verbindens und Trennens hat also keine in den Elementen selbst liegende Bewegungsursache. Er wird durch die beiden äußeren Kräfte ausgelöst: Ein Doppeltes werde ich dir verkünden. Bald ergibt sich nämlich ein einziges Sein aus einer Mehrzahl von Bestandteilen; bald trennt es sich auch wieder, um aus ­Einem in mehrere Bestandteile zu zerfallen. Entstehung und Untergang der sterb­lichen Dinge haben jeweils zwei Seiten: Denn die Verbindung aller Elemente ist Erzeugung und Ver­ nichtung zugleich. Untergang ist Ausdehnung und zugleich Auflösung, wenn sich die Elemente trennen. Und dieser ständige Wechsel hört nie auf; bald vereinigt sich alles zu Einem durch Liebe, bald trennen sich die einzelnen Dinge im Streit des Hasses. Wie nun so das Eine aus einer Vielzahl und wiederum eine Vielzahl aus dem Zerfall des Einen zu entstehen pflegen, so findet Entstehung statt, und ihr Leben bleibt nicht un­ verändert. Aber trotz dieses ständigen Wechsels bleiben die Elemente als solche wäh­ rend ihres Kreislaufes stets erhalten (B 17). Die Liebe lässt aus Vielem Eines und der Hass (Streit) aus Einem Vieles werden. Unter dem Einfluss der beiden Grundkräfte zieht sich die als Kugel gedachte Welt abwech­ selnd zu einem winzigen Punkt, dem Einen, der maximal verdichteten Weltmaterie, zusammen und dehnt sich dann wieder zu umfassender Größe und Vielfalt aus. Der Kosmos entsteht und vergeht in den Phasen der Ausdehnung und Zusammen­ ziehung, in denen sich die materiellen Teilchen der vier Elemente miteinander ver­ 169

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flechten und von­einander trennen. Entstehung und Zerstörung gehören zusammen: Ent­stehung wird nur durch Zerstörung möglich, Entstehung hat wiederum Zerstö­ rung zur Folge. An diesem Weltmodell soll der Hörer/Leser des Lehrgedichts sehen, dass auch der Mensch sein Werden und Vergehen diesem Prozess verdankt und nichts weiter ist als ein „Spezialfall des Universums“ (Heinz Munding), der nur für einen kurzen Augen­ blick im großen Geschehen des Werdens und Vergehens existiert. Aber es gibt – so ­erklärt es Empedokles seinem Schüler – kein Entstehen aus dem Nichts und kein Ver­ gehen in das Nichts (B 8): Etwas anderes will ich dir aber noch sagen: Geburt gibt es bei keinem von allen sterb­ lichen Wesen und auch kein Ende im alles vernichtenden Tod, sondern es gibt nur Mischung und Trennung des Gemischten; das wird bei den Menschen Geburt und Tod genannt.

v Vier Br iefmar ken Die Deutsche Post hat 2011 vier Briefmarken zu 0, 55 € den vier Elementen gewidmet: „Seit Menschengedenken bestimmen die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft das Leben der Menschen. Als unverzichtbare Grundlagen des Lebens sind sie in ihren un­ kontrollierbaren Extremformen als Naturgewalten zugleich aber auch bedrohlich: Das Feuer wärmt und spendet Helligkeit, zerstört aber durch Brand; das Wasser löscht den Durst und ist Lebensraum vieler Tiere und Pflanzen, ist aber durch Flut und Über­ schwemmungen auch bedrohlich; die Erde lässt Pflanzen wachsen, ist bei Erdbeben aber unerbittlich; die Luft brauchen wir zum Atmen, doch bei Sturm entwickelt der Wind seine zerstörerische Kraft. Bereits früh versuchten Menschen, die Erscheinungen unserer Welt zu begreifen und zu erklären. In der Philosophie des antiken Griechenland entwickelten mehrere Den­ ker die Theorie, dass alles Sein auf den vier Elementen beruht. So beschrieb der Philo­ soph Empedokles schon im 5. Jh. vor Christus, dass die vier Elemente ewig existierende und unveränderliche Grundsubstanzen seien, die durch Mischung die Vielfalt der Stoffe bildeten. Die Naturwissenschaften haben neue Grundlagen für unser heutiges Denken geschaffen, aber dennoch sind die vier Elemente weiterhin Teil unserer Vor­ stellungswelt“ (aus: postfrisch. Das Philatelie-Journal 2, 2011, 18).  v Man darf davon ausgehen, dass Empedokles auch eine Art von Evolutionstheorie vertrat. Denn er lehrte, dass die Entstehung der Tiere und Pflanzen keinesfalls auf einmal erfolg­ te. Zunächst entstehen Zufallsgebilde. Die Lebewesen sind unförmige Klumpen, die erst allmählich für ihren Überlebenskampf entsprechende Gliedmaßen entwickelten (B 62): Zuerst kamen noch ganz rohe Klumpen aus der Erde, die an beidem teilhatten, an Wasser und Wärme. Sie trieb das Feuer hervor, das seinesgleichen erreichen wollte. Sie 170

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zeigten noch nicht die liebliche Gestalt von Gliedmaßen noch keine Stimme und auch noch kein Geschlechtsteil, wie es Menschen haben. In den Katharmoí beschreibt Empedokles das Schicksal seiner eigenen Seele und der menschlichen Seele im Allgemeinen, die er als gefallenen Dämon begreift. Weil dieser seinesgleichen Böses angetan hatte – der Streit brachte das Böse in die Welt –, wurde er zu einer Existenz in unterschiedlichen Lebewesen verurteilt. Nach unendlich langer Zeit der Seelenwanderung kann die Seele geläutert (gereinigt) werden und ihr ur­ sprünglich göttliches Dasein wiedergewinnen. Daraus folgt, dass auch die Menschheit insgesamt das ­Goldene Zeitalter der Liebe, der Aphrodite, in dem vollkommene Har­ monie herrscht, wiedergewinnen könnte, wenn sie sich (z. B. durch strenge Askese) besserte. Die Fragmente zeigen, dass Empedokles hier in der Nachfolge des Dichters Hesiod steht. Außerdem ist die Nähe zu Pythagoras und seiner Lehre von der Seelen­ wanderung offenkundig. Die Katharmoí können als Aufruf an die Menschen zu ver­ stehen sein, ein im pythagoreischen Sinne reines Leben zu führen.

Wie

lebten seine

Werke

fort?

Seelenlehre und Ethik des Empedokles haben auf die platonische Philosophie stark eingewirkt (etwa auf Platons Leib-Seele-Dualismus). Der Einfluss des Empedokles auf Aristoteles, den Stoiker Zenon, die Epikureer, auf Poseidonios und den römischen Dichter Lukrez war außerordentlich groß. D. L. 8, 51–83 berichtet über Leben und Werk des Empedokles. Die Überzeugung des Empedokles, dass Gleiches nur durch Gleiches erkannt werden könne, hat Aristoteles (De anima 404b8 ff.) weitergegeben: Denn durch Erde nehmen wir Erde, durch Wasser Wasser, durch Luft göttliche Luft, ferner durch Feuer glänzendes Feuer, durch Liebe Liebe und Streit durch Verderben bringenden Streit wahr. Die Auffassung, dass alles Gegenständliche und Nicht-Gegenständliche durch Gleich­ artiges in unseren Sinnesorganen aufgenommen wird, ist über Platon (Politeia 6, 508b) und Plotin (Enneades 1, 6, 9) zu Goethe (Zahme Xenien III Nr. 152) gelangt: „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt’ es nie erblicken.“ Goethe zitiert hiermit Plotin: Es ist notwendig, dass sich das Sehende dem Objekt des Sehens anverwandelt, angleicht und es dann erst sieht. Nie hätte das Auge jemals die Sonne gesehen, wäre es nicht selbst sonnenhafter Natur; und ebenso wenig könnte die Seele das Schöne sehen, wenn sie nicht selbst schön wäre. Es soll also zunächst jeder gottähnlich und schön werden, wenn er Gott und das Schöne sehen will.

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In der Neuzeit ließ sich Hölderlin von den (anekdotischen) Berichten und Legenden bei D. L. über das Leben des Empedokles zu seiner fragmentarisch gebliebenen Empedok­ les-Tragödie von 1797–1800 anregen.

Was

bleibt?

Im Mittelpunkt seines Denkens steht eine Theorie des Werdens aus unveränderlichen Elementen. Mithilfe der Grundkräfte Liebe, die aus Vielem ­Eines werden lässt, und Hass (Streit), der aus Einem Vieles entstehen lässt, e­ rklärt er das Werden und somit die Veränderung, die er als die ständig wechselnde Kombination unveränderlicher Ele­ mente ansieht. Liebe und Hass sind für die Veränderung der Kombinationen verant­ wortlich und somit auch für Entstehen und Vergehen. Die Elemente sind aber ebenso unvergänglich wie die Grundkräfte Liebe und Hass. Bemerkenswert ist, dass die Liebe das Viele zum Einen zusammendrängt und da­ durch Vielfalt und Veränderung ausschließt, während der Hass zur Auflösung und Ausbreitung des Einen in das Viele drängt. Beide Kräfte ­führen also nicht zu einem dauerhaften Sein. Sie erschaffen und zerstören un­ablässig.

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Alles in allem: Anaxagoras Name: Anaxagoras von Klazomenai Lebensdaten: 500–428 v. Chr. Literarische Gattung: Philosophische Abhandlung Werke: Aus einem Werk Über die Natur sind nur wenige Fragmente ­erhalten (VS 59 B 1–22).

Wer

war das?

Anaxagoras lebte wohl dreißig Jahre lang in Athen und war mit Perikles befreundet. Plutarch berichtet in seiner Perikles-Vita (4–5) über den Menschen, dem der athenische Staatsmann das meiste verdankte: Der Mann aber, mit dem Perikles am meisten zusammen war und der ihm sein Selbst­ bewusstsein und seine außerordentliche geistige Energie bei der Erfüllung s­ einer poli­ tischen Aufgaben vermittelte und überhaupt die Würde seines Charakters besonders nachhaltig beeinflusste und formte, war Anaxagoras von Klazomenai, dem seine Zeit­ genossen den Beinamen Nûs (Geist) gaben, vielleicht aus Bewunderung für seine au­ ßerordentliche und ungewöhnlich tiefe Einsicht in das Wesen der Natur oder weil er als Erster nicht den Zufall und die Notwendigkeit, sondern den reinen und von Materie unberührten Geist, der in der ordnungslosen Mischung ­a ller übrigen Dinge die gleich­ artigen Elemente heraushob, als den Urheber der Ordnung im Kosmos bestimmte. Diesem Mann brachte Perikles größte Hochachtung entgegen; er machte sich sein Wis­ sen von den astronomischen Erscheinungen zu eigen und gewann dadurch selbstver­ ständlich nicht nur sein souveränes Denken und seinen ernsthaften Sprachstil, der frei war von einer primitiven und sich beim Volk anbiedernden Sprechweise, sondern auch seinen beherrschten Gesichtsausdruck …, den ruhigen Klang seiner Stimme und noch viele andere Eigenschaften, für die man ihn überall bewunderte. Wie sehr Anaxagoras auf der anderen Seite unter dem Schutz des Perikles stand, ver­ anschaulicht Lukian in seinem satirischen Dialog Timon oder der Menschenhasser (Kap. 10). Hier klagt Zeus darüber, er müsse sein Blitz­bündel, das er gewöhnlich hin­ abschleudere, um die Menschen zu bestrafen, reparieren. Denn die beiden schärfsten Spitzen seien seit gestern völlig verbogen und stumpf geworden: Ich habe den Blitz ein wenig zu heftig auf den Sophisten Anaxagoras geschleudert, der seine Schüler lehrt, dass wir Götter völlig bedeutungslos seien. Aber ich habe ihn nicht getroffen, weil Perikles seine Hand über ihn hielt. Denn der Blitz setzte stattdessen ­einen Göttertempel in Brand und zerbrach beinahe auf einem Felsen. 173

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Anaxagoras hatte auch Einfluss auf Euripides und Sokrates. In Platons Apologie (26d) will Sokrates von seinem Ankläger Meletos wissen, warum er ihm die Nichtachtung der Götter vorwerfe: Sokrates: Meletos: Sokrates:

Was ist passiert, dass du meinst, ich glaube nicht an die Götter? Dann glaube ich also auch nicht, wie die anderen Menschen, dass Sonne und Mond keine Götter seien? Beim Zeus, ihr Richter, das glaubt er wirklich nicht, da er behauptet, die Sonne sei ein Stein und der Mond etwas aus Erde. Willst du etwa Anaxagoras anklagen, mein lieber Meletos, und schätzt du diese Männer hier so gering ein und meinst, sie seien in der Literatur so unbewandert, dass sie nicht wüssten, wie sehr die Schriften des Anaxago­ ras von Klazomenai von diesen Lehren erfüllt sind?

v K lazomenai Als der Philosoph Anaxagoras in Lampsakos im Sterben lag und seine Freunde ihn fragten, ob er, wenn das Äußerste geschehen sei, in seine Heimatstadt Klazomenai ­gebracht werden wolle, soll er, wie Cicero in seinen Tuskulanischen Gesprächen (1, 104) berichtet, gesagt haben: „Das ist auf keinen Fall notwendig. Denn der Weg in die Unterwelt ist von überall her gleich weit.“ Das von Kolophon aus gegründete Klazomenai liegt in Ionien unweit von Smyrna. Lampsakos liegt übrigens in der Troas an der Ostküste des Hellespont, mehr als 200 Kilometer nördlich von Klazomenai.  v Fünfzig Jahre vor Sokrates war Anaxagoras wegen Gotteslästerung angeklagt worden, hatte sich aber dem Prozess durch Flucht nach Lampsakos entzogen, wo er auch starb (D. L. 2, 12–14). Über dieses Ereignis gibt es keine übereinstimmenden Nachrichten. Nur eine Information wiederholt sich mehrfach: Sein Freund Perikles setzte sich im­ mer wieder für ihn ein und verteidigte ihn. So soll er ihn auch aus dem Gefängnis ge­ holt haben, indem er ihn öffentlich als seinen Lehrer bezeichnete und die Leute fragte, ob sie ihm, Perikles, darum etwas Unrechtes vorzuwerfen hätten. Als die Leute ­daraufhin schwiegen, habe Perikles Folgendes gesagt (D. L. 2, 13): Ich bin sein Schüler. Fallt also nicht auf Verleumdungen herein und bringt den Mann nicht um, sondern gehorcht mir und gebt ihn frei. Zu Beginn des Peloponnesischen Krieges (431–404 v. Chr.) soll Anaxagoras einen ­Meteorfall vorausgesagt haben; das Glühen des Himmelskörpers erklärte er mit der großen Geschwindigkeit des Falles, und aus dem Vorhandensein des Meteors schloss er, dass die Gestirne Steinklumpen seien. Daher habe auch Euripides, der als Schüler des Anaxagoras gilt, in seinem Drama Phaëthon die Sonne als einen goldenen Klum­ 174

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pen bezeichnet (D. L. 2, 10). Seine meteorologischen Fähigkeiten bewies Anaxagoras auch dadurch, dass er einmal für eine Aufführung bei den Olympischen Spielen Regen­ wetter voraussagte, was dann auch eintrat.

Was

schr ieb er ?

In seinem Werk Über die Natur versucht er die Entstehung der Welt zu erklären, in­ dem er eine bereits vorhandene Materie annimmt, in der alle Dinge miteinander ver­ mischt sind. Mit „allen Dingen“ meint Anaxagoras nichts anderes als die Summe aller sinnlich wahrnehmbaren und aller gedanklich vorstellbaren Dinge in der Welt, die einmal existierten und in Zukunft existieren werden. Aber im Zustand der Vermi­ schung sind die Dinge nicht erkennbar. Erst durch die Unterscheidung z. B. von feucht-trocken, warm-kalt, hell-dunkel, d. h. durch die Denkfigur des Gegensatzes, ist dies möglich (VS 59 B 4). Die Stoffe, aus denen alles besteht, sind nicht nur quantitativ, sondern auch qualita­ tiv konstant. Wie es angesichts dieser Konstanz dazu kommen kann, dass z. B. aus dem Wasser des Baches, das die Wurzeln des Baumes einsaugen, Holz, Rinde, Blätter oder Früchte werden, erklärt Anaxagoras mit der Feststellung, dass in dem Wasser, das der Baum einsaugt, schon alle Stoffe enthalten sind, aus denen der Baum besteht. Aller­ dings sind sie in so kleinen Teilchen enthalten, dass sie nicht sichtbar, sondern nur durch Denken zu erschließen sind. Gleiches wird aber nur von Gleichem ernährt. Es muss also unzählig viele und unsichtbar kleine Teilchen geben, die erst durch ihr mas­ senhaftes Auftreten wahrnehmbar werden. Aber in jedem dieser unendlich kleinen und verschiedenartigen, aber unveränderlichen Teilchen sind schon alle Dinge enthal­ ten. Die Unterschiede der sichtbaren Dinge beruhen darauf, dass die alles in sich ent­ haltenden Teilchen in unterschiedlichen Mengen in ihnen enthalten sind. Anaxagoras nennt diese Teilchen die Spermata, die Aristoteles später als Homoioméreiai, d. h. als die einander ähnlichen und zueinanderpassenden Teilchen, bezeichnet. Es sind gewis­ sermaßen „omnipotente Stammzellen“, die in jeweils besonderen Verbindungen mit­ einander unterschiedliche Objekte bilden. Die Mischung der Spermata bewirkt der Nûs (Geist). Diesen hat man sich auch als etwas Körperliches zu denken, das aber feiner als die feinsten Stoffe ist. Der Nûs kann alles durchdringen, unterscheiden und auf diese Weise eine geordnete Welt planen. Er setzt eine Kreis- oder Wirbelbewegung in Gang, bei der das Verschiedene sich trennt und das Gleiche mit dem Gleichem sich verbindet. So entstehen die einzelnen Dinge, die aber nur scheinbar verschieden sind, weil eben alle Dinge in allen Dingen enthalten sind und alles aus allem entsteht (B 6: Alles ist in allem enthalten). Das Übrige hat Teil an allem, der Geist aber ist etwas Unbegrenztes, Unabhängiges und nicht mit anderem Vermischtes, sondern er ist allein und für sich. Denn wenn er nicht für sich allein, sondern mit anderem vermischt wäre, dann hätte er Teil an allen ­anderen Dingen. Denn alles ist in allem enthalten, wie ich schon gesagt habe. Auch 175

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würden ihn die beigemischten Stoffe behindern, sodass er keine Sache gleichermaßen beherrschen könnte wie eine für sich und unabhängig existierende Instanz. Denn er ist das feinste aller Dinge und das reinste, und er weiß alles über alles und verfügt über die größte Kraft (B 12). Man kann es sich vielleicht so vorstellen, dass der Nûs mithilfe der Wirbelbewegung Kräfte erzeugt, die nach außen (zentrifugal) wirken und die Homoioméreiai zueinan­ der schleudern. Man könnte auch an eine Honigschleuder denken, die den Honig aus den Waben schleudert und die Honigteilchen sich mit ihresgleichen verbinden lässt, sodass sich dadurch der Honig bildet. Anaxagoras hätte auch durch folgende Beobachtung zu seiner Theorie kommen können: Die Brandung an einer Meeresküste sortiert die angespülten Kiesel nach ­Größe oder Gewicht, wobei die größeren weiter vom Flutsaum entfernt sind als die kleineren. Dafür, dass sich Gleiches zu ­ Gleichem gesellt, gibt Sextus Empiricus ­(Adversus mathematicos 7, 116–118) folgenden Hinweis: Wie ich oben gesagt habe (7, 92), sind die Naturphilosophen seit Langem davon über­ zeugt, dass nur das Ähnliche das ihm Ähnliche erkennen könne. Demokrit hat diese Überzeugung offensichtlich bestätigt, und auch Platon hat sie anscheinend erwähnt. Aber Demokrit bezieht sich mit seiner Argumentation sowohl auf die beseelten als auch auf die unbeseelten Dinge. „Denn Lebewesen“, sagt er, „gesellen sich zu gleichar­ tigen Lebewesen, wie Tauben zu Tauben, Kraniche zu Kranichen, und das gilt auch für die anderen vernunftlosen Lebewesen. Genauso ist es aber auch bei den unbeseelten Dingen, wie man es beim Sieben von Samenkörnern und bei den Kieseln am Strand sehen kann …, wo durch die Brandung die länglichen Kiesel an dieselbe Stelle gesto­ ßen werden wie andere längliche Kiesel, die runden an dieselbe Stelle wie die anderen runden, als ob die Ähnlichkeit dieser Dinge ihre Verbindung bewirkte.“ Die Philosophie des Anaxagoras ist ein entscheidender Schritt zur Aufklärung, die sich vor allem in seiner Lehre von den Himmelskörpern darstellt. Die Auffassung, dass die Sonne eine glühende Gesteinsmasse sei und der Mond sein Licht von der Sonne habe, führt zu seiner Anklage wegen Gotteslästerung. Anaxa­ goras erklärt aber auch zum ersten Mal die Erscheinung der Sonnen- und Mondfins­ ternis richtig. Seine Vorstellungen von der Größe der Sonne und des Mondes sprechen für eine beachtliche naturwissenschaftliche Beobachtungsgabe. Wie Empedokles geht auch Anaxagoras von der Überzeugung aus, dass nichts aus dem Nichts entstehen und in das Nichts vergehen kann. Ebenso akzeptiert er den Grundsatz des Parmenides, dass das Seiende nicht ent­ standen, sondern unvergänglich und unveränderlich sei. Von Empedokles unterschei­ det er sich dadurch, dass er anstelle der Prinzipien Liebe und Hass den Geist zum ­bewegenden Prinzip erklärt.

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Wie

wur de das

Werk

über liefert?

Die meisten Fragmente aus dem Werk über die Natur sind dem Kommentar des Sim­ plikios (6. Jh. n. Chr.) zur aristotelischen Physik zu verdanken. Dieser interpretiert ­Anaxagoras allerdings als Vertreter einer Zweiweltenlehre: der wahrnehmbaren (die aus der Urmischung entstanden ist) und der intelligiblen Welt (die mithilfe der Ver­ nunft, des Nûs, gedacht wird) vor dem Hintergrund neuplatonischer Theorien. Anaxa­ goras selbst hat aber wohl diese Unterscheidung zwischen materiell und immateriell noch nicht vollzogen; denn er sah das Körperliche nicht in einem Gegensatz zum Un­ körperlichen, sondern zum Unsichtbaren oder Unberührbaren. Auch die Seele war nichts Unkörperliches, sondern wurde als Hauch (pneûma, spiritus) verstanden, der mit dem Tod den Körper verlässt und sich in die Luft erhebt. Man kann Anaxagoras also nicht in dem Sinne als den Begründer des Dualismus im abendländischen Denken ansehen, dass er eine scharfe Trennung zwischen geistigem und physisch-materiellem Sein angenommen hätte.

Wie

lebte sein

Werk

fort?

D. L. (2, 6–15) bereichert die Erinnerung an Anaxagoras mit anekdotischen Nach­ richten, die aber ebenso wie die wenigen Fragmente eine zuverlässige Auskunft über Werk und Persönlichkeit des Philosophen geben. Er hebt etwa seine Megalophrosýne, seine Großzügigkeit, hervor, die darin zum Ausdruck kam, dass er sein ererbtes Ver­ mögen an seine Verwandten verschenkte. Mit dieser Tat wollte er sich aber auch von seinen Pflichten gegenüber dem Staat befreien, und als man ihn dafür tadelte, erklär­ te er, er befasse sich mit nichts mehr als mit seinem Vaterland und zeigte dabei auf den Himmel. Wichtig war die Lehre des Anaxagoras für den Sophisten Gorgias; dieser stützt sich auf die Aussage, dass alles in allem enthalten sei, und schließt daraus, dass unter diesen Umständen jede Wahrnehmung wahr und falsch zugleich sein könne. Mit Demokrit hat Anaxagoras gemeinsam, dass jener mit seinen Atomen ebenfalls materielle Elemente annimmt, die den Spermata des Anaxagoras entsprechen. Darü­ ber hinaus geht Demokrit wie schon Anaxagoras davon aus, dass alles Werden eine mechanische Bewegung ist. Die Gleichsetzung von Entstehung mit Mischung und Ver­ gehen mit Trennung haben die sogenannten Atomisten leicht abgewandelt übernom­ men; sie begreifen das Entstehen als Zusammenballung von Atomen und das Vergehen als Auflösung dieser Zusammenballung. Die Nûs-Lehre hat Platon (Phaidon 97b–100d) zwar beeindruckt, aber er hält ­Anaxagoras vor, er sei in ihr nicht konsequent genug gewesen, weil er keine Antwort auf die Frage nach den Ursachen für das Sosein der Dinge und das Zustandekommen von Werturteilen geliefert habe. Das leisten eben erst die platonischen Ideen. Aristote­ les (Metaphysik A 4, 985a18–21) vermisst bei Anaxagoras eine klare Aussage über die Ursache der Bewegung. 177

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Was

bleibt?

Die Lehre von der Denkfigur der Zweiheit setzt voraus, dass die Welt von jeweils zwei entgegengesetzten, aber aufeinander bezogenen Prinzipien bestimmt wird: Licht und Dunkelheit, gut und böse, Leib und Seele, Subjekt und Objekt, Geist und Materie, Glauben und Wissen, Notwendigkeit und Zufall, Diesseits und Jenseits. Ob sich die Gegensätze in einer Einheit aufheben und Neues hervorbringen, ist wohl im Dialog permanent zu verhandeln und immer wieder neu zu bestimmen. Anaxagoras steht hiermit in der Nachfolge Heraklits, der in der Palíntonos Harmonía die Einheit der Gegensätze verwirklicht sah.

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Mass aller Dinge – der Mensch: Protagoras Name: Protagoras von Abdera Lebensdaten: 480–410 v. Chr. Literarische Gattung: Philosophische Abhandlung in Prosa Werke: Wahrheit oder niederwerfende Reden (VS 80 B 1), Über die Götter (B 4), Antilogien (B 5)

Wer

war das?

Protagoras stammte aus einer wohlhabenden Familie. Er gilt als der Begründer und prominenteste Vertreter der sophistischen Weltanschauung. Die Sophisten erteilten Unterricht in Rhetorik und Politik gegen ein meist üppiges Honorar. Sie waren Wan­ derlehrer und vermittelten ihr Wissen auf ­ausgedehnten Vortragsreisen. Sie erörterten aber auch Grundfragen der menschlichen Existenz und übten heftige Kritik an tradi­ tionellen Anschauungen und Wertvorstellungen. Protagoras kam um 450 v. Chr. zum ersten Mal nach Athen und gewann dort die Freundschaft des Perikles, der ihm den Auftrag erteilte, eine Verfassung für die griechische Kolonie Thurioi auszuarbeiten. Er war auch mit dem Tragödiendichter Euripides befreundet, in dessen Dramen mitunter sophistische Gedanken und Argumentationsformen eine Rolle spielen. Protagoras ist die Titelfigur eines platonischen Dialogs, in dem sich ­Sokrates mit dem Bildungsprogramm der Sophisten und ihren politischen Erfolgsrezepten aus­ einandersetzt. Das Gespräch dreht sich um die Frage, ob entsprechende Qualifika­ tionen überhaupt vermittelbar, lehr- und lernbar sind.

Was

schr ieb er ?

Berühmt ist der Eingangssatz der Wahrheit, den Sextus Empiricus (Adversus mathe­ maticos 7, 60) überliefert: Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, dass sie sind (wie sie sind), der nicht seienden, dass sie nicht sind. Platon zitiert den Satz, den man als Homo-mensura-Satz bezeichnet, in ­seinem Dialog Theaitetos (151e–152c): Sokrates:

Du scheinst mir allerdings keine schlechte Aussage über das Wissen ge­ troffen zu haben, sondern dieselbe, die auch Protagoras vertreten hat. Denn er sagt doch wohl, das Maß aller Dinge sei der Mensch, der seienden, 179

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dass (wie) sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht sind. Du hast dies doch wohl gelesen? Theaitetos: Ich habe es schon oft gelesen. S.: Meinst du nicht, dass er dies irgendwie so meint, dass alles so ist, wie es mir erscheint, und so auch dir, wie es dir erscheint? Sind wir beide nicht Menschen? Th.: Ja, so meint er es wirklich. S.: Wahrscheinlich redet ein kluger Mann keinen Unsinn. Wollen wir ihm also folgen. Dürfte nicht manchmal, obwohl derselbe Wind bläst, der eine von uns frieren, der andere nicht? Und der eine nur ein wenig, der andere sehr? Th.: Ja, ganz recht. S.: Werden wir dann sagen, dass der Wind an und für sich kalt oder nicht kalt ist? Oder werden wir Protagoras vertrauen, dass der Wind für den Frierenden kalt ist, für den nicht Frierenden aber nicht? Th.: Offensichtlich. Scheint es denn auch für jeden Einzelnen so zu sein? S.: Th.: So ist es. S.: Ist dieses „Scheinen“ dasselbe wie das „Wahrnehmen“? Th.: Ja. S.: Erscheinung und Wahrnehmung sind also im Falle des Warmen und aller anderen Zustände dieser Art dasselbe. Denn wie jeder es wahrnimmt, so scheint es auch jedem Einzelnen zu sein. Th.: Das leuchtet ein. S.: Wahrnehmung (Aisthesis) richtet sich also – wie Protagoras meint – im­ mer auf das Seiende und ist als ein Wissen (Episteme) untrüglich. Das scheint so zu sein. Th.:

v  Was

ist ein

Sophist?

Die Sophisten, die Weisheitslehrer, gehörten zu den Ersten, die auf die politisch-gesell­ schaftlichen Auflösungserscheinungen nach den verheerenden, aber am Ende sieg­ reichen Kriegen gegen die Perser (490–479 v. Chr.) produktiv reagierten und die Frag­ würdigkeit der noch bestehenden Ordnung aufdeckten. Sie setzten eine Aufklärung in Gang, die vor allem in der Kritik der herrschenden Theologie bestand und traditionel­ le Wertvorstellungen infrage stellte. Sie vertieften das Bewusstsein dafür, dass die Chancen des Menschen, sich in einer unstabilen Welt durchzusetzen, vor allem auf der Beherrschung der Sprache beruhten. Denn mit ihrer Hilfe kann der Mensch begrün­ den, was er vorhat, oder ablehnen, was er nicht will. Die Überzeugung, dass der Mensch durch den zielgerichteten Gebrauch der Sprache durchsetzungsfähig und erfolgreich sein konnte, ließ die Rhetorik, die Wissenschaft von der Verwendung der Sprache zur Durchsetzung politischer und sonstiger Ziele, zu 180

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einem wesentlichen Faktor der Jugenderziehung werden. Sokrates sah allerdings auch die Gefahr des Missbrauchs und machte immer wieder darauf aufmerksam, dass die Rhetorik nicht nur von seriösem Wissen, sondern auch von Verantwortungsbewusst­ sein getragen sein müsse. Das gemeinsame Merkmal der Sophisten war ihr eindeutiges Bekenntnis zum Anthro­ pozentrismus, indem sie den Menschen mit dem Homo-mensura-Satz zum Brenn­ punkt des Weltgeschehens erklärten (VS 80 B 1): „Der Mensch ist das Maß aller Dinge (chrémata).“ Es wurde mit Recht darauf hingewiesen, dass das Substantiv (chrêma) durch seine Ver­ wandtschaft mit dem Verb chrêsthai und dem Adjektiv chrésimos nicht einfach Ding bedeutet. Vielmehr ist es ein Ding, das der Mensch in Gebrauch nimmt. Es handelt sich bei den Dingen des Homo-mensura-Satzes also um die Dinge der Welt in Relation zu dem Menschen, der sie gebraucht. „Dadurch, dass der Mensch den Dingen der Welt gegenübertritt, sie wahrnimmt, erfasst, näherhin im Gebrauch über sie verfügt, formt er sie zu seiner, d. h. zu der auf ihn bezogenen Welt um. Er wird zum Maßstab, zur Instanz über sie. … Dieses anthropogene Weltbild begriff den Menschen … als das Lebewesen, das die ihm vorliegende reale Welt in seinem Sinne zu einer ‚Welt‘ für sich umprägt, indem es von ihr … Gebrauch macht. … Mit dem Gedanken des Gebrauchs als der Kategorie, die das Verhältnis des Menschen zu den Dingen der Welt festlegt und den Status des Menschen als der seine Welt bemessenden Instanz bestimmt, hat Prota­ goras eine zentrale, später von Aristoteles, Xenophon, insbesondere aber von der Stoa und dem frühen Christentum ausgeformte und bereicherte und in der Folgezeit weiter­ gereichte Denkfigur des Anthropozentrismus eingeführt“ (Dieter Lau 2000, 34 f.).  v Die Wahrheit oder die Niederwerfenden ist die Haupt- und Programmschrift des Pro­ tagoras, von der nur Nachrichten und wenige Fragmente erhalten sind. Die Schrift hat­ te einen polemischen Zweck; sie sollte bestimmte Gegner widerlegen. Wahrscheinlich waren Parmenides aus Elea und seine Schüler gemeint. Denn diese hatten die sinnlich wahrnehmbare Welt, wie sie den Meinungen der Menschen erscheint, als Trugbild be­ zeichnet und nur dem im Denken präsenten ewigen und unveränderlichen Sein Wirk­ lichkeit zuerkannt. So lässt sich nachvollziehen, dass die Sophisten mit ihrem Interesse an lebenspraktischem Wissen und Können das in ihren Augen weltferne ­eleatische System ablehnen mussten. In Platons Theaitetos (165e–167d) setzt Sokrates die Interpretation des Homo-mensuraSatzes fort, indem er u. a. Beispiele für die Dinge gibt, für die der Mensch das Maß ist: Es sind sinnliche Empfindungen und sittliche Werte. Protagoras meint keine konkreten (materiellen) Dinge, sondern die Prädikate, die man den Dingen aufgrund von Vorstel­ lungen und Empfindungen zuschreibt. Der Mensch ist kein Maß oder Maßstab für die Dinge als solche, sondern nur für die Einschätzung und Bewertung dieser Dinge. Der Satz des Protagoras besagt also nicht, dass der Mensch über die Existenz oder Nicht­ existenz der Dinge entscheidet („dass sie sind“). Aber er ist in der Lage, ein Urteil über ihre sinnlichen und ethischen Qualitäten zu fällen („wie sie sind“). Der Akzent liegt auf 181

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dem Messen der Dinge, nicht auf einem Urteil über ihr Sein oder Nichtsein. Denn wenn man die Dinge wahrnimmt, existieren sie auch; aber ihre Bewertung ist Sache des wahr­ nehmenden Menschen. Wenn Protagoras den Menschen zum Maßstab erklärt, dann meint er nicht den Menschen als Gattungswesen in einem kollektiven Sinne und auch nicht den bindungslosen Einzelmenschen, sondern den Menschen als Glied einer durch einen spezifischen Nomos (Gesetz, Sitte, Brauch) geprägten G ­ esellschaft. Es ist nicht auszuschließen, dass Platon in seinem Protagoras Gedanken und Beispiele des Sophisten aus der Wahrheit verarbeitet hat: Das könnte z. B. für den Hinweis auf die unterschiedliche Wirkung derselben Sache auf verschiedene Lebewesen gelten (334a-c): Ich kenne viele Dinge, die den Menschen einerseits nutzlos und andererseits nützlich sind. … Andere sind den Menschen weder nützlich noch nutzlos, wohl aber den Pfer­ den, andere nur den Rindern, wieder andere nur den Hunden, noch andere keinem von beiden, sondern nur den Bäumen; einiges ist für die Wurzeln gut, einiges für die Zwei­ ge schädlich, wie z. B. der Mist, wenn man ihn um die Wurzeln legt, für alle Pflanzen gut ist; wenn man ihn aber auf die Triebe und die frischen Zweige legen wollte, zerstört er alles. So ist denn auch das Öl für alle Pflanzen sehr schädlich und auch für das Fell der anderen Lebewesen, aber nicht für die Haare des Menschen, vielmehr ist es für diese sehr gesund wie auch für den übrigen Körper. So ist nun das Gute sehr verschie­ den und vielfältig; demnach ist auch das Öl bei äußerer Anwendung für den Körper gut, wenn man es einnimmt, aber sehr schädlich. Darum verbieten auch alle Ärzte den Kranken, Öl zu sich zu nehmen, bis auf ganz wenig am Essen, soweit es genügt, einen unangenehmen Geruch oder Geschmack der ­Speisen zu beseitigen.

Wie

lebten die

Werke

fort?

Protagoras und auch andere Sophisten wie Gorgias und Hippias spielen als Titelfiguren platonischer Dialoge oder mit ihren Lehrinhalten in Platons Philosophie eine zentrale Rolle. Platons Auseinandersetzung mit den Sophisten begründet aber auch das negati­ ve Image, das sie bis heute besitzen. Vorgeworfen wurden ihnen u. a. die Käuflichkeit ihres Wissens – sie haben eben mit ihrer Lehrtätigkeit Geld verdient – und ihre mora­ lische Unzuverlässigkeit, weil sie den Ehrgeiz hatten, die schwächere oder schlechtere Sache bedenkenlos zur stärkeren oder besseren zu machen und umgekehrt. Ihre Auf­ klärung wurde ihnen als Zerstörung bewährter Ordnungen und Wertvorstellungen ausgelegt. Sie lehrten eine Rhetorik, die nicht auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit zielte, sondern auf Überlegenheit um jeden Preis.

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Was

bleibt?

Subjektivismus und Relativismus führen bei Protagoras keinesfalls zur Leugnung an­ erkannter Wahrheit; aber diese ist verhandelbar. Sie wird in der verantwortungsvollen Auseinandersetzung mit anderen und in gegensei­tiger Achtung gewonnen. Diese Hal­ tung wird durch eine angemessene – vor allem sprachliche – Bildung vermittelt, die Protagoras als Handlungsanleitung versteht. Er ist davon überzeugt, dass Tugend lehr­ bar und lernbar ist, und gibt damit einem aufgeklärten Bildungswesen einen bis heute wirksamen optimistischen Impuls. Vielleicht hat das im Homo-mensura-Satz ausgesprochene Selbstmodell Platons Fokussierung der Philosophie auf das Allgemeine im Besonderen ausgelöst. Denn ­Platon wollte die Überzeugung des Protagoras nicht akzeptieren, dass die wahrnehm­ baren Qualitäten der Dinge subjektiv sind, d. h. den Wahrnehmenden und nicht den Dingen selbst gehören. Wenn es aber gelänge, die Menschen davon zu überzeugen, dass die ­Frage nach dem allgemein Gültigen und dem allgemein Verwerflichen Vorrang hat vor der Frage, was im Einzelfall gültig und verwerflich ist, dann – so Theodoros, der junge Gesprächs­ partner des Sokrates, im platonischen Th ­ eaitetos – gäbe es mehr Friede und weniger Böses auf der Welt.

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Ein nihilistischer Magier: Gorgias Name: Gorgias aus Leontinoi in Süditalien Lebensdaten: 483–375 v. Chr. Literarische Gattung: Reden und Vorträge Werke: Eine Lobrede auf Helena und eine Verteidigungsrede für Palamedes (es handelt sich um rhetorische Musterreden über mythologische Themen). Erwähnenswert ist auch eine philosophische Abhandlung: Über das Nichtseiende oder über die Natur (VS 82 B1–5), die sich mit Parmenides auseinandersetzt.

Wer

war das?

Gorgias, so heißt es, habe ungewöhnlich lange gelebt – 108 Jahre – und sei dauernd auf Reisen gewesen. Dass Gorgias Schüler des Empedokles gewesen sei, berichtet D. L. (8, 58 f.). Er war ein sehr beliebter Redner, der auf Einladung regelrechte Tourneen durchführte, um viele Zuhörer mit seinen Vorträgen zu begeistern. Er war wegen sei­ ner Improvisationskunst berühmt. Denn er konnte über jedes Thema frei reden. Für seine Auftritte erzielte er hohe Honorare. Der Reiseschriftsteller Pausanias (6, 17, 7) erwähnt, dass Gorgias sich selbst ein Standbild in Olympia habe aufstellen lassen. Cicero (De oratore 3, 129) berichtet sogar – bestätigt von Plinius – Folgendes: Gorgias wurde in Griechenland so hochgeehrt, dass ihm als einzigem Menschen in Delphi keine vergoldete, sondern eine massiv goldene Statue aufgestellt wurde. Es ist sicher bezeugt, dass er im Jahr 427 v. Chr. als Gesandter seiner Heimatstadt in Athen war, um dort für Unterstützung gegen Syrakus zu bitten.

Was

schr ieb er ?

In seiner Helena versucht Gorgias, mit vier Argumenten die Unschuld seiner Titelhel­ din zu beweisen. Eines dieser Argumente ist der Hinweis darauf, dass Helena der Über­ redungskunst des Paris zum Opfer gefallen und darum für ihr Handeln nicht verant­ wortlich zu machen sei (8–14). Denn die Rede stelle eine gewaltige Macht dar, welche die Affekte errege und beeinflusse und den Menschen in seinem Denken und Handeln beherrsche. Helena habe demnach unter dem Zwang dessen gehandelt, der die Rede für seine Zwecke missbraucht habe. Die Möglichkeit des Missbrauchs veranschaulicht Gorgias, indem er die Wirkung der Rede auf die Psyche mit der Wirkung von Gift auf den Körper vergleicht. Wie die 184

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Gifte einerseits töten und andererseits heilen können, so haben auch die Reden bösen oder guten Einfluss auf die Menschen (14). Wer mit einer Rede verführt werde, gleiche einem Menschen, der vergiftet werde. Die Schuld daran treffe allein denjenigen, der die Rede oder das Gift missbraucht habe, nicht den Verführten oder Vergifteten. Gorgias ist demnach der Ansicht, dass der Redner für den Gebrauch und die daraus erwachsende Wirkung seiner Rede verantwortlich ist. Durch den Vergleich mit den Giften ist dieser Tatbestand unmittelbar einleuchtend. Wenn sich Gorgias auf die Am­ bivalenz der Gifte bezieht, beruft er sich auf eine in der medizinischen Praxis gewon­ nene Erfahrung mit der relativen Qualität der Mittel, die dem behandelnden Arzt zur Verfügung stehen und die er auch für eine individuelle Therapie verwenden kann. Gorgias’ These vom Gebrauch der Rede zu entgegengesetzten Zwecken erhält ihre Glaubwürdigkeit nicht allein durch das Beispiel aus dem Erfahrungsbereich des Arztes. Heraklit (VS 22 B 61) wies bereits darauf hin, dass Meerwasser entgegen­ gesetzte Wirkungen habe, insofern es für Fische trinkbar und lebenserhaltend, für Menschen aber untrinkbar und tödlich sei. Demokrit (VS 68 B 172) betonte den ­relativen Wert des tiefen Wassers, das einerseits sehr nützlich, andererseits eine gro­ ße Gefahr für Nichtschwimmer sei. Er meinte außerdem (B 173), dem Menschen erwachse ­Ü bles aus Gutem, wenn er das Gute nicht zu steuern und angemessen zu gebrauchen verstehe. Während Gorgias in der Helena die These von der Ambivalenz und dem dadurch möglichen Missbrauch der Rede für Helenas Rechtfertigung benutzt, hat er in dem nach ihm benannten Platon-Dialog Gelegenheit, mit­hilfe dieser These die Redekunst als solche zu verteidigen. Gorgias schickt voraus, die Macht der Rhetorik sei so groß, dass sie das Fachwissen von Spezialisten an Überzeugungskraft übertreffe (Platon, Gorgias 456c, 457a, ­Helena 8). Doch dabei übersieht er die Möglichkeit ihres Miss­ brauchs nicht. Er fordert daher, die Redekunst wie jede andere Kunst, die es mit Kampf zu tun habe, zu gerechten Zwecken einzusetzen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs beginnt Sokrates mit der Kritik an den Ausfüh­ rungen des Gorgias. Dabei behauptet dieser, dass der Redner kein Fachwissen benöti­ ge, wenn er die Masse seiner Zuhörer überzeugen wolle, dass er aber ein Wissen über das Gerechte und Ungerechte, Schöne und Hässliche besitzen müsse. Ferner bestätigt er, dass er den Rhetorikschüler dieses Wissen lehre, falls er es noch nicht habe. Aber Gorgias’ Redekunst bleibt dem Missbrauch ausgesetzt, weil sie als ein rein technisch-formalistisches Können gelehrt und gelernt wird (Gorgias B 29). Für Sokra­ tes dagegen ist rhetorisches Können von einer jeden Gedanken an Missbrauch aus­ schließenden Bildung nicht zu trennen. Diesen Unterschied zwischen gorgianischer und sokratisch-platonischer Redekunst deutlich zu machen, ist offensichtlich Sokrates’ Absicht im platonischen Gorgias. Indem er Gorgias zu einer Apologie der Redekunst veranlasst, provoziert er ihn, die grundsätzliche Schwäche seiner Vorstellung vom We­ sen der Redekunst selbst freizulegen. Was Gorgias als apologetisches Argument an­ führt, nämlich die Möglichkeit des Missbrauchs, ist für Sokrates gerade der Beweis für die Schwäche der gorgianischen Rhetorik: das Fehlen eines moralisch fundierten ­R hetorik-Wissens. 185

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Der Palamedes ist eine Verteidigungsrede für einen unschuldig Angeklagten. Pala­ medes war Ratgeber der Griechen im Troïschen Krieg. Er galt übrigens auch als Erfin­ der der Buchstabenschrift, des Rechnens, des Messens und des Brett- und Würfel­ spieles. Er soll außerdem Odysseus entlarvt haben, als dieser sich wahnsinnig stellte, um nicht am Krieg gegen Troja teilnehmen zu müssen. Odysseus rächt sich dafür, in­ dem er ihn der Bestechlichkeit und des Verrats an den Griechen bezichtigt und Gold im Zelt des Palamedes verstecken lässt. Palamedes wird des Hochverrats angeklagt. Das Gold wird gefunden, sodass seine Schuld bewiesen zu sein scheint. Seine Leistungen für die kulturelle Entwicklung der Menschheit sind das Hauptar­ gument seiner Verteidigung: Sorgfältige geistige Arbeit stärke das sittliche Bewusst­ sein und mache den Menschen zu verbrecherischem Handeln unfähig. Die Argumen­ tation der Verteidigung bezieht sich weiterhin auf drei Voraussetzungen einer Anklage wegen Verrates: (1) die Möglichkeit, das Verbrechen zu begehen, (2) den Willen, es zu tun, und (3) die Vereinbarkeit der zum Entschluss und zur Tat erforderlichen Eigen­ schaften. Das Ziel der Verteidigung ist es, diese drei Voraussetzungen als nicht gegeben zu ­erweisen: (1) Ich, Palamedes, konnte die Tat nicht ausführen, weil es keine Verabre­ dung etwa in Form einer Verständigung mit dem Feind gab, d. h. eine heimliche Kon­ taktausnahme mit dem Feind völlig ausgeschlossen war. (2) Ich hatte auch gar kein Motiv. (3) Selbst wenn ich das Verbrechen hätte ausführen können und wollen, setzte dieses Verhalten Eigenschaften bei mir voraus, die sich nicht miteinander vertragen würden: einerseits außerordentliche Klugheit, andererseits größte Dummheit (z. B. an­ gesichts des großen Risikos). Ich kann aber nicht gleichzeitig klug und dumm sein. Es ist fraglich, ob Gorgias mit dem Palamedes ein Muster für eine Gerichtsrede verfassen wollte. Denn die Rede dürfte ein Gericht keinesfalls überzeugen, da sie ei­ gentlich nur beweisen kann, dass Verrat grundsätzlich ausgeschlossen ist. Das aber widerspricht jeder Erfahrung. Der Palamedes ist vielleicht also nur wie die Helena ein scherzhaft gemeintes Beispiel für die Kunst des Gorgias. Seine Argumente sollen nicht ernst genommen werden. Der Redner will nur zeigen, dass man, wenn man die Sprache beherrscht, alles plausibel machen kann, auch wenn es noch so paradox ist. Die Rede ist eine mächtige Herrscherin, die mit dem kleinsten und unscheinbarsten Körper die göttlichsten Werke vollbringt. Denn sie kann Angst zerstreuen, Trauer be­ enden, Freude wecken und Mitleid steigern (Helena 6). In seiner Schrift Über das Nichtseiende oder über die Natur (VS 82 B1–5) setzt sich Gorgias mit der Seinslehre des Parmenides auseinander und plädiert für einen er­ kenntnistheoretischen Nihilismus. In diesem zwischen 480 und 470 v. Chr. verfass­ ten Jugendwerk will der Autor drei Sätze beweisen: (1) Es existiert nichts. (2) Wenn etwas existierte, wäre es nicht erkennbar. (3) Wenn es erkennbar wäre, wäre es nicht mitteilbar. Mit dem Satz „Es existiert nichts“ versucht Gorgias zunächst, die Unter­ scheidung des Parmenides zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden zu verwi­ schen. Das Seiende kann weder ungeworden noch geworden sein. Es kann aber auch weder Einheit noch Vielheit sein. Wenn also das Seiende weder seiend noch nicht 186

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seiend, weder ewig noch geworden, weder eines noch vieles ist, dann existiert es über­ haupt nicht. Darüber hinaus folgert Gorgias aus der Unmöglichkeit der Bewegung und der Bewegungslosigkeit die Nichtexistenz des Seienden. – Auch den Satz „Wenn etwas existierte, wäre es nicht erkennbar“ leitet Gorgias aus den Erkenntnissen des Parmenides ab, indem er auf das fehlende Kriterium für die Unterscheidung von wahren und ­falschen Vorstellungen hinweist. – Der Satz „Wenn es erkennbar wäre, wäre es nicht mitteilbar“ ist eine Schlussfolgerung aus der scharfen Trennung zwi­ schen sinnlicher Wahrnehmung und Denken bei Parmenides: Man kann zwar Worte mitteilen, aber nicht Dinge. Es gibt keine Brücke zwischen dem Seienden und dem Wort. Unter diesem Gesichtspunkt wäre eine Philosophie, die sich im mitteilbaren Wort verwirklicht, grundsätzlich nicht mehr möglich. Der Sophist Gorgias hätte der Philosophie ihre Existenzgrundlage entzogen.

Wie

wur den seine

Werke

über liefert

und wie lebten sie fort?

Sextus Empiricus (Adversus mathematicos 7, 65) hat die Kenntnis der Schrift Über das Nichtseiende oder über die Natur (VS 82 B1–5) überliefert. Platon setzt Gorgias in ­seinem gleichnamigen Dialog ein Denkmal. Aristoteles benutzt ihn in seiner Rhetorik. Plutarch geht in mehreren Schriften auf ihn ein. Aber seit Platon stehen die Sophisten in einem schlechten Ruf, weil sie Scheinwahr­ heiten produzierten, diese rhetorisch raffiniert präsentierten und das philosophische Suchen nach der Wahrheit vernachlässigten.

v Neue Sophisten Jan Ross (Die ZEIT vom 12. Januar 2002): „Die Sophisten traten gegen Ende des 5. vor­ christlichen Jahrhunderts auf, als Wanderlehrer, die mit großer Publicity von Stadt zu Stadt zogen, um für viel Geld ihren Unterricht anzubieten, in Dichterinterpretation, Grammatik oder Naturkunde. Vor allem aber brachten sie politisch ehrgeizigen jungen Männern Rhetorik bei – in einer Gesellschaft der Mündlichkeit und des Liveauftritts vor einer überschaubaren Bürgerschaft war die Redekunst, was heute die Fernsehtaug­ lichkeit ist, und der Sophist eine Art Media-Consultant und TV-Trainer des klassi­ schen Altertums. Politikberater war er von Zeit zu Zeit auch. So hat der berühmte Protagoras von Abdera für den athenischen Staatsmann Perikles die Verfassung der Stadt Thurioi entworfen, einer auf dem Reißbrett konstruierten Kolonie und Muster­ siedlung in Süditalien. Mit ihrer neuartigen Kombination von Show und Expertise warfen die Sophisten das hergebrachte politische Leben durcheinander, machten sich in den Augen von Tradi­ tionalisten als Verderber der Jugend verdächtig und erreichten in der panhellenischen Öffentlichkeit Star- und Kultstatus. Heute mag man sagen: Mit der Sophistik fing die 187

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Mediengesellschaft an. Denn die Medien sind das Reich der Vermittlung, des Indirek­ ten, auch von Täuschung und Illusion, und die Entdeckung dieser Welt des Scheins war die eigentliche Großtat der Sophisten. … Die Sophisten haben Meinungen und Gefühle als Gegenstände der Manipulation er­ kannt, aber auch als Größen, mit denen man rechnen muss; sie sind die Stammväter der Propaganda wie der Demoskopie. Das moderne politische Marketing, … die pass­ genaue Fertigung von Slogans und Images, das Wechselspiel von Pulsgefühlen und Aufputschen, von Stimmungstests – das alles ist angewandte Sophistik. … Schon ­Platon zeigt sich in seiner Auseinandersetzung mit den Sophisten wie ein moderner ­Kulturkritiker indigniert über die Vermengung von Gedanke und Geschäft, über die Kommerzialisierung des Geistes. … Aber letztlich war Platons ­Kritik weniger mora­ lisch als intellektuell. Sie zielte auf den Schein- und Surrogatcharakter der sophisti­ schen Welt, auf ein Tun und Treiben, das nicht wirklich Erkenntnis, nicht wirklich Politik, nicht wirklich Kunst ist, sondern von allem etwas, ein Wechselbalg aus Ideolo­ gie und Unterhaltung – genau das also, was man erblickt, wenn man heute den Fern­ seher anschaltet. … Platons Urteil über die Sophisten hat ihr Urteil über Jahrtausende hinweg bestimmt; der Begriff ist anrüchig, ja zum Schimpfwort geworden.“  v

Was

bleibt?

Gorgias hat wie kaum ein anderer antiker Autor die Macht des Wortes erkannt und bewusst gemacht. Im Unterschied zu der Kunst, mit körper­lichem Einsatz zu kämpfen und zu siegen, ist der Verzicht auf physische Gewalt ein Grundzug der rhetorischen Praxis. Wirkung und Erfolg der Rede beruhen auf den vielfältigen Möglichkeiten psy­ chischer Beeinflussung (Gorgias, ­Helena 12). Wie die Erfahrung beweist, ist diese von Umständen und Bedingungen abhängig, welche die Griechen unter dem Begriff des Kairos zusammenfassten. Er bezeichnet die passende Stelle in Raum und Zeit und das richtige Maß im richtigen Moment. Der perfekte Gebrauch des Kairos besteht darin, das Notwendige, wenn es notwendig ist, zu sagen oder zu verschweigen, zu tun oder zu lassen (Gorgias B 6). Ist der Kairos gegeben, ist es notwendig, ihn auch zu nutzen (Gor­ gias B 11a, 32). Alle Dinge sind nur in diesem Fall schön oder hässlich. Auch die Qua­ lität einer Tat ist vom richtigen Zeitpunkt abhängig. Seine Erkenntnis ist eine Leistung der Vernunft und des Wissens. Sparsamkeit, Enthaltsamkeit und Aufwendigkeit sind nützlich, wenn der Kairos gegeben ist. Selbst Eigenschaften wie groß und klein oder Mengenangaben wie viel und wenig stehen in Relation zum Kairos. Kleine Wohltaten zur rechten Zeit sind für ihre Empfänger am größten. Hierin stimmen Gorgias und Demokrit (B 226 und 229) überein.

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Unausweichliche Entscheidung: Prodikos Name: Prodikos von der Insel Keos Lebensdaten: um 460 v. Chr. Literarische Gattung: Fachwissenschaftlich-philosophische Abhandlung Werke: Horai (Jahreszeiten) und eine Synonymik

Wer

war das?

Prodikos stammt aus Iulis auf der Insel Keos und war einer der Hauptvertreter der ­Sophistik im 5. Jh. v. Chr. Er war Schüler des Protagoras und einer der Lehrer des Tra­ gödiendichters Euripides. Im einleitenden Gespräch des platonischen Dialogs Protago­ ras (315c–316a) wird er als ein Mann mit einer besonders tiefen und dröhnenden Stim­ me charakterisiert. Als die Gesprächspartner im Haus des reichen Kallias eintreffen, liegt er noch im Bett in seinem Gästezimmer, eingehüllt in zahlreiche Decken und Felle. Um ihn herum sitzen einige junge Männer, die unbedingt mit ihm sprechen wollen.

Was

schr ieb er ?

Die Horai gehören zu den kulturtheoretischen Schriften der Sophistik. Im Gegensatz zu Protagoras stellt Prodikos aber nicht die Technik, sondern den Ackerbau an den Anfang der Kulturentwicklung. So handeln die Horai auch von den Kultur schaffenden Auswir­ kungen der Landwirtschaft. Aus den erhaltenen Fragmenten ist zu entnehmen, dass die Schrift u. a. ein Lob des Ackerbaus, eine Theorie über den Ursprung der Religion und den Mythos von Herakles am Scheideweg enthielt. Zentrales Thema könnten die Anstren­ gungen (Pónoi) des Ackerbaus gewesen sein. In diesem Zusammenhang stand auch eine Güterlehre: Keine Sache ist an sich gut oder schlecht; erst durch den Gebrauch zeigt sie ihre Qualität; daher ist ein (lehr- und lernbares) Wissen notwendig, das den rechten Gebrauch (Orthè chrêsis) der Dinge ermöglicht.

v Über

den r ichtigen

Gebr auch

Nun beziehen sich bei jedem Gerät, bei jedem Lebewesen und bei jeder Handlung Tauglichkeit, Schönheit und Richtigkeit auf nichts anderes als auf den Gebrauch, für den jedes einzelne Ding gemacht oder entstanden ist. Also muss auch der Gebrauchen­ de immer der Erfahrenste sein und dem Hersteller zurückmelden, wie sich das, was er gebraucht, im Gebrauch als gut oder schlecht erweist. Wie z. B. der Flötenspieler dem Flötenbauer über die Flöte sagen muss, ob sie sich gut blasen lässt. Wer die Flöte bläst, 189

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ist also jemand, der weiß, was eine gute Flöte ist. Derjenige, der sie baut, ist jemand, der nur eine Vorstellung davon hat, (dass sie gut ist). Bei demselben Gegenstand hat also der Hersteller nur eine richtige Meinung davon, was gut oder schlecht ist, das Wissen darüber hat hingegen nur der Gebrauchende (Platon, ­Politeia 10, 601d-e).  v Die Theorie, dass die Götter ursprünglich Menschen oder Naturerscheinungen waren, leitete zum Heraklesmythos über: Herakles ist das Vorbild in der Bewältigung eines mühevollen Daseins. Denn für ihn ist der Kampf nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Kultivierung des Landes. Der Kampf schafft die Voraussetzungen für die friedliche Tätigkeit des Bauern. In diesem Sinne muss Herakles im Mythos des Prodikos durch die personifizierte Tugend (Areté) zu einem Leben der Anstrengung veranlasst werden, die das Schlechte und das Böse überwinden hilft. Prodikos hat die Wahl des Herakles, wie sie in Xenophons Memorabilien (2, 21–34) nacherzählt wird, erfunden, um den Helden zum Träger einer bäuerlich-kämpferischen Areté zu stilisieren, die sich in fleißiger Arbeit bewährt. Das Lob der Landwirtschaft in den Horai könnte von der Aufforderung gekrönt gewesen sein, Herakles nachzufolgen und auf diesem Weg ein tüchtiger Landwirt zu werden. Unter diesem Aspekt wäre die Herakleserzählung ein mythisches Argumentationsmittel, mit dem Prodikos die Wir­ kung seines Werkes verstärken wollte. Das Argumentieren mit Gestalten, Schicksalen und Ereignissen der Mythologie war in der Literatur verbreitet. Die Sophisten und So­ kratiker setzen nur eine Tradition fort, wenn sie den Mythos argumentativ verwenden, um ihren Aussagen größeres Gewicht zu geben. Während Prodikos im Anschluss an Hesiod die Bedeutung von Arbeit und Fleiß für die Landwirtschaft hervorhebt und Herakles zum Vorbild erhebt, verwendet Xeno­ phon den Mythos des Prodikos zur Klärung der Frage nach dem Wesen wahrer Freude (Hedoné). Denn er lässt Sokrates erklären, unter welchen Bedingungen ein Höchstmaß an wahrer Freude zu erreichen ist. Seine Antwort ist einfach: Die höchste Freude ergibt sich aus der scheinbaren Paradoxie einer Koexistenz von Anstrengung und Lust. Sokrates benutzt die Prodikoserzählung also nicht zur Demonstration des Gegen­ satzes zwischen Tugend und Lust. Denn die personifizierte Tugend des Prodikosrefe­ rats verlangt keinen Verzicht auf Lust. Sie besteht nur darauf, dass Lust eine wahre Lust sei, wie sie von denen erlebt wird, die sich nach einem anstrengenden Tag dem erquickenden Schlaf hingeben. Hier lässt schon die Zeichnung der beiden um den richtigen Weg des Herakles konkurrierenden Frauengestalten die physisch-diäteti­ sche Ausrichtung des Lust-Begriffs hervortreten. Hinter der negativen Zeichnung der Kakía, der Allegorie einer unmoralischen Leichtlebigkeit, als „wohlgenährt bis zur ­Fülle und Üppigkeit“ steht die in Xenophons Schriften häufig geäußerte Auffassung vom rechten Verhältnis zwischen Nahrungsaufnahme und körper­licher Anstren­ gung. Die Frauengestalt der Kakía gehört also schon aufgrund ihrer äußeren Erschei­ nung zu den „Anstrengungslosen“ (Áponoi), die zu wahrer Lust unfähig sind. Die Areté ist dagegen eine schöne Frau mit einer – modern gesprochen – sportlich-trai­ nierten Figur, die keiner Verhüllung körperlicher Mängel durch raffinierte Kleidung oder Kosmetik bedarf. 190

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In seiner Synonymik versucht Prodikos, bedeutungsverwandte Wörter voneinander abzugrenzen. Nach Platon soll dieses Werk auch Sokrates beeinflusst haben, für den die Prüfung mehrerer Möglichkeiten einer Begriffsbestimmung zur Klärung eines Be­ griffs führt. Am Ende wird jedoch festgestellt, dass keine der erörterten Möglichkeiten zutrifft und das Gespräch anscheinend ohne Ergebnis zu Ende geht. Die sokratische Begriffsanalyse zielt eben weniger auf den Begriff als solchen als auf die Ausschaltung nicht zutreffender Definitionen.

Wie

Werke sie fort?

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und wie lebten

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Informationen über Prodikos finden sich nicht nur in Xenophons Memorabilien, son­ dern auch in den platonischen Dialogen. Spuren der Horen sind in Xenophons Oikono­ mikós und im pseudoplatonischen Eryxías zu entdecken. Das im Heraklesmythos des Prodikos thematisierte Motiv der Entscheidung zwischen zwei Lebensformen oder zwei beruflichen Möglichkeiten begegnet u. a. auch bei Cicero (De officiis 1, 115–118), Ovid (Amores 3, 2) und Lukian (Der Traum).

Was

bleibt?

Die Bemühung des Prodikos um eine Unterscheidung sinnverwandter Wörter dürfte bis heute eine Voraussetzung gelingender Kommunikation sein. Die Lebenswahl ist eine Entscheidung, vor die sich jeder Mensch gestellt sieht. Ihre Veranschaulichung an der Situation des Herakles macht die Bedeutung des Vorgangs bewusst. Entscheidungen zu treffen ist unumgänglich. Sie verwirklichen sich im Akt des Wählens, gehen aber stets von unzureichenden Begründungen aus und sind daher gewissenlos.

Zum Schluss Ob die Götter Zeus und Hermes ihre Philosophen auch am zweiten Markttag gut ver­ kaufen konnten, ist nicht überliefert. Die größten Aussichten auf ein erfolgreiches Ge­ schäft hätten sie gewiss mit den Sophisten Protagoras, Gorgias und Prodikos gehabt. Denn diese hätten ihre Kaufinteressenten von ihrer Nützlichkeit leicht überzeugen können. Auch für Thales und Solon mit ihren lebenspraktischen Fähigkeiten wäre zweifellos ein hoher Preis bezahlt worden. Auf der Suche nach tüchtigen Lehrern für seine Kinder wäre niemand an Anaximander, Xenophanes, Parmenides und Zenon achtlos vorbei­gegangen. Ob sich jemand allerdings Empedokles ins Haus geholt hätte, ist fraglich. Ana­xagoras, den Schützling des großen Perikles, wäre Zeus wahrschein­ lich gern losgeworden. Aber hätte man mit einem solchen Querdenker überhaupt ­etwas anfangen können? 191

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Anhang A bkürzungen Capelle = Wilhelm Capelle: Geschichte der Philosophie I-IV: Die griechische Philosophie, Berlin ²1953–1954. D. L. = Diogenes Laërtios, Leben und Mei­ nungen berühmter Philosophen Frg. = Fragment Pohlenz = Max Pohlenz: Die Stoa. Ge­ schichte einer geistigen Bewegung. 2 Bde., Göttingen 71992. Sloterdijk = Peter Sloterdijk: Kritik der zy­ nischen Vernunft. 2 Bde., Frankfurt 1983.

Stobaios = Johannes Stobaios (5. Jh. n. Chr.): Anthologium, ed. C. Wachs­ muth / O. Hense. 5 Bde., Leipzig 1884– 1923. SVF = Hans von Arnim: Stoicorum Vete­ rum Fragmenta I-IV, Leipzig 1903– 1924. Us. = Hermann Usener: Epicurea, Leipzig 1887. VS = Hermann Diels / Walther Kranz: Fragmente der Vorsokratiker I–III, Zü­ rich / Berlin 111964.

Liter aturhinweise Anaxagoras G. S. Kirk / J. Raven / M. Schofield / K. Hülser: Die vorsokratischen Philoso­ phen, Stuttgart/Weimar 1994, 386–420. Anaximander Uvo Hölscher: Anfängliches Fragen. Studien zur frühen griechischen Philo­ sophie, Göttingen 1968, 9–89. Antisthenes Klaus Döring: Die Kyniker, Bamberg 2006. Bernhard Lang: Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, München 2010. Aristipp von Kyrene Christoph Martin Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Hg. von Klaus Manger, Frankfurt 1988.

Chrysipp Wolfgang Weinkauf: Die Philosophie der Stoa. Ausgewählte Texte, Stuttgart 2001. Maximilian Forschner: Stoa, in: Histo­ risches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10, Darmstadt 1998. Demokrit Jostein Gaarder: Sophies Welt. Roman über die Geschichte der Philosophie, München/Wien 1993. Jaap Mansfeld: Die Vorsokratiker. Grie­ chisch / Deutsch, Stuttgart 1987. Diogenes Bernhard Lang: Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, München 2010.

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Georg Luck: Die Weisheit der Hunde. Texte der antiken Kyniker in deutscher Übersetzung mit Erläuterung, Darm­ stadt 2002. Empedokles Wolfgang Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzun­ gen, Frankfurt 1978, 433–453. Epiktet Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte ei­ ner geistigen Bewegung. 2 Bde., Göttin­ gen 71992. Epikur und die Epikureer Maximilian Forschner: Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant, Darm­ stadt 21994. Maximilian Forschner: Epikur. Auf­ klärung und Gelassenheit. In: M. Erler / A. Graeser (Hg.): Philosophen des ­A ltertums. Vom Hellenismus bis zur antike. Einführung, Darmstadt Spät­ 2000, 16–38. Gorgias Die Sophisten. Ausgewählte Texte. Griechisch und deutsch. Herausgege­ ben und übersetzt von Thomas Schirren und Thomas Zinsmaier, Stuttgart 2003. Heraklit Andreas Graeser: Hauptwerke der Phi­ losophie der Antike, Stuttgart 1992, 29–54. Karneades Willy Hochkeppel: War Epikur ein Epi­ kureer? Aktuelle Weisheitslehren der Antike, München 1984, 117–141. Friedo Ricken: Antike Skeptiker, Mün­ chen 1994. Mark Aurel Joachim Dalfen: Marc Aurel. „Werde so, wie die Philosophie dich haben will“, in: Michael Erler / Andreas Gra­

eser (Hg.): Philosophen des Altertums. Vom Hellenismus bis zur Spätantike, Darmstadt 2000, 128–144. Pierre Hadot: Philosophie als Lebens­ form. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, Frankfurt ³2011. Panaitios Karlhans Abel: Die kulturelle Mission des Panaitios: Antike und Abendland 17, 1971, 119–143. Parmenides Parmenides. Vom Wesen des Seienden. Die Fragmente, griechisch und deutsch. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Uvo Hölscher, Frankfurt 1969. Parmenides. Die Fragmente. Grie­ chisch-deutsch. Herausgegeben, über­ setzt und erläutert von Ernst Heitsch, Düsseldorf ³1995. Polybios Hans Drexler: Übersetzung in zwei Bänden, Zürich/Stuttgart 1961–1963. Klaus Stiewe / Niklas Holzberg (Hg.): Polybios, Darmstadt 1982. Poseidonios Karl Reinhardt: Kosmos und Sympa­ thie, München 1921. Willy Theiler: Poseidonios. Die Frag­ mente. 2 Bände, Berlin/New York 1982. Prodikos Die Sophisten. Ausgewählte Texte. Griechisch und deutsch. Herausgege­ ben und übersetzt von Thomas Schirren und Thomas Zinsmaier, Stuttgart 2003. Protagoras Dieter Lau: Der Mensch als Mittelpunkt der Welt. Zu den geisteswissenschaft­ lichen Grundlagen des anthropozentri­ schen Denkens, Aachen 2000. Die Sophisten. Ausgewählte Texte. Griechisch und deutsch. Herausgege­ ben und übersetzt von Thomas Schirren und Thomas Zinsmaier, Stuttgart 2003. 193

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Pyrrhon von Elis Pierre Hadot: Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie? Berlin 1999, 135–137 und 169–172. Friedo Ricken: Antike Skeptiker, Mün­ chen 1994. Pythagoras Die Vorsokratiker. Band I. Auswahl der Fragmente und Zeugnisse, Über­ setzung und Erläuterungen von M. Laura Gemelli Marciano, Düsseldorf 2007, 100–220. Sextus Empiricus Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus, Skep­ sis, München ²1995, 147–182. Hansueli Flückiger: Sextus Empiricus. Denker ohne Position, in: Michael Erler / Andreas Graeser (Hg.): Philosophen des Altertums. Vom Hellenismus bis zur Spätantike. Eine Einführung, Darmstadt 2000, 145–159. Sokrates Kurt Roeske: Nachgefragt bei Sokrates. Ein Diskurs über Glück und Moral. Text und Interpretation der Apologie Platons, Würzburg 2004. Solon Joachim Latacz: Archaische Periode, in: Herwig Görgemanns (Hg.): Die griechi­

sche Literatur in Text und Darstellung, Stuttgart 1991, 184–209. Thales Albert von Schirnding: Am Anfang war das Staunen. Über den Ursprung der Philosophie bei den Griechen, Mün­ chen 1978. Theognis Hendrik Selle: Theognis und die Theo­ gnidea (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 95), Berlin 2008. Theophrast Theophrast. Charaktere. Griechisch und deutsch. Übersetzt und herausge­ geben von Dietrich Klose, Stuttgart 1970. Tyrtaios Joachim Latacz: Archaische Periode, in: H. Görgemanns (Hg.): Die griechische Literatur in Text und Darstellung. Bd. 1, Stuttgart 1991, 160–177. Xenophanes Xenophanes. Die Fragmente herausge­ geben, übersetzt und erläutert von Ernst Heitsch, München/Zürich 1983. Zenon Christoph Rapp: Vorsokratiker, Mün­ chen ²2007.

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Chronologische Über sicht Tyrtaios um 650 v. Chr. Thales 630–560

Solon 640–560

Anaximander 610–540 Pythagoras 570–480 Xenophanes 570–475 Parmenides Anaxagoras 515–445 500–428 Protagoras 480–410

Gorgias 483–375

Heraklit 540–480 Theognis um 550

Demokrit 460–390

Empedokles 500–430 Zenon 490–430 Prodikos um 460

Sokrates 469–399 Antisthenes [Platon 427–347] 450–365 Theophrast 372–288 Pyrrhon von Elis 360–270

Chrysipp ca. 281–208 Karneades 214–129 Polybios 200–120 Poseidonios 135–51 [Cicero 106–43]

Aristipp 425–355

Diogenes 410–323

[Epikur 341–270]

[Aristoteles 384–322] [Alexander der Große 356–323]

Panaitios 180–110

Epiktet 50–120 n. Chr. Mark Aurel 121–180 [Lukian 120–180] Sextus Empiricus um 170

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Herkunftsorte

der

Philosophen

(in Klammern: heutige Staaten)

Anaxagoras aus Klazomenai bei Smyrna (Türkei) · Anaximandros aus Milet (Türkei) · Antisthenes aus Athen (Griechenland) · Aristippos aus Kyrene ­(Libyen) · Chrysipp aus Soloi (Türkei) · Demokrit aus Abdera an der thrakischen Küste (Griechenland) · Dio­ genes aus Sinope an der Südküste des Schwarzen Meeres (Türkei) · Empedokles aus Akragas auf Sizilien (Italien) · Epiktetos aus Hierapolis in Phrygien (Türkei) · Gorgias aus Leontinoi auf Sizilien (Italien) · Heraklit aus Ephesos in Ionien (Türkei) · Karnea­ des aus Kyrene (Libyen) · Mark Aurel aus Rom (Italien) · Panaitios von der Insel Rho­ dos (Griechenland) · Parmenides aus Elea am Tyrrhenischen Meer (Italien) · Polybios aus Megalopolis in Arkadien (Griechenland) · Poseidonios aus Apameia (Syrien) · Pro­ dikos aus Keos (Griechenland) · Protagoras aus Abdera an der thrakischen Küste (Griechenland) · Pyrrhon aus Elis (Peloponnes) (Griechenland) · Pythagoras von der Insel Samos (Griechenland) · Sextus Empiricus [vielleicht (wie Pyrrhon) aus Elis] (Griechenland) · Sokrates aus Athen (Griechenland) · Solon aus Athen (Griechenland) · Thales aus Milet (Türkei) · Theognis aus Megara, zwischen Attika und der Peloponnes (Griechenland) · Theophrastos aus Eresos auf der Insel Lesbos (Griechenland) · Tyrta­ ios aus Sparta (Griechenland) · Xenophanes aus Kolophon (nordwestlich von Ephesos) (Türkei) · Zenon aus Elea am Tyrrhenischen Meer (Italien)

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Philosophische Topogr afie

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3

4 1

2

6

5

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Orte 1 Ephesos, Hierapolis, Klazomenai, Kolophon, Lesbos, Milet, Rhodos, Samos · 2 Akra­ gas, Leontinoi · 3 Elea · 4 Abdera · 5 Athen, Keos, Megalopolis, Megara · 6 Elis, Sparta · 7 Soloi · 8 Apameia · 9 Sinope · 10 Kyrene · 11 Rom

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R egister Bei besonders häufig vorkommenden Namen werden keine Seitenzahlen genannt. Sie erhalten den Zusatz „pass.“ (= „sehr häufig“). Die Namen der Philosophen mit einem eigenen Kapitel werden im Register nur erwähnt, wenn sie auch außerhalb ihres Kapi­ tels vorkommen.

Abdera 62, 68, 127, 179, 187 Adel 45, 66, 74ff., Adiáphora / Adiaphorie → Gleichgültig­ keit Ähnliches 159, 171, 175f. Affekt → Leidenschaft Akademie / Akademiker 12ff., 26, 85, 109, 129, 132, 137, 139, 156, 164 Alexander 37f., 43, 122, 127, 136, 144 Alkibiades 81f. Ambivalenz 185 Anakýklosis → Kreislauf Anámnesis → Wiedererinnerung Anaxagoras 12, 19, 64 Anaximander 6f., 18, 124, 134 Anfang → Ursprung Angst 33, 40, 46, 62ff., 65ff., 88, 108, 117, 186, Anlage → Veranlagung Anspruchslosigkeit 37, 116 Anstrengung 48ff., 53f., 78, 85, 189f. Anthropomorphismus 160 Anthropozentrismus 181 Antisthenes 9, 12, 17, 36, 47ff., 85 Apeiron 152f. Apathie 16, 97ff., 106ff., 127 Aphorismus 116 ff. Aphormaí → Veranlagung Apollon 14, 49, 61, 83f. Aporie 147 Arché → Ursache Areté → Tugend Aristipp 18, 36, 42, 53, 56ff., 85f., Aristoteles pass.

Arkesilaos 133f. Armut 37, 46, 49, 144 Arzt 10, 17, 29, 62, 65, 70, 96, 136, 168, 182, 185 Askese / Askesis 42, 53, 171 Ataraxie 16, 117, 136ff. Atome 9, 12f., 61ff., 67, 87, 177 Aufklärung 84, 87, 156 ff., 176, 180ff. Augustinus 51, 53, 139 Bedingungssatz 159f., 167, Bedürfnislosigkeit 36, 39, 53, 58 Begriffsbestimmung → Definition Besitzlosigkeit → Armut Bestattung 38 Bewegung 13, 30, 58, 67, 110, 154, 165ff., 169, 175ff., 187 Beweisführung 92, 101, 114, 130ff., 137, 166, 186 Bias 142f., 151 Charakter 32, 104, 122ff., 173 Chrysipp 12, 18, 89, 95, 121, 133, Cicero pass. Daimonion 57, 84 Definition 50, 53, 58, 122, 191 Demokratie 13, 83, 103 Demokrit 9, 12f., 18f., 60, 87, 139,167, 176f, 185, 188 Demonax 17, 41f., 59 Denkfiguren 29, 124, 163, 175, 178, 181 Dialektik / Dialog 15, 19, 30, 36, 55, 57, 81, 85, 101, 132, 167, 173, 178f., 182, 185, 191

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Diogenes 9, 12, 16ff., 33ff., 40, 44, 48ff., 58f., 96, 117, 132 Diogenes Laërtios pass. Dogmatiker / Dogmatismus 16, 43, 59, 127ff., 135ff. Doxa → Meinung Doxografie 67, 122f. Dualismus 171, 177, Einfaches Leben 38, 40ff., 46, 168 Einfluss 28, 36, 48, 73, 83, 98, 105f., 110, 113, 115, 120, 123f. 136, 149, 159, 164, 169 Ekpyrosis → Feuer Elemente 29ff., 63, 104, 133, 153, 163, 169ff., Elenktik → Beweisführung Empedokles 9, 12f., 19, 25, 27, 168, 176, 184, 191, Empirie / empirisch 29, 78, 101, 136, 142, 154f., 163, Enthaltsamkeit 53, 56, 66, 188 Epiktet 12, 16, 39f., 50, 53f., 97, 116, 129, Epikur / Epikureer 12, 16, 18f,, 46, 58, 67, 86ff., 95, 109, 111, 117, 127, 133, 137, 171, Epoché → Zurückhaltung Epochen 12ff. Erfahrung → Empirie Erkenntnistheorie 48, 101 Ethik 25, 48f., 55, 63, 66, 71, 76, 80, 86, 92f., 101, 136, 157, 171, Euchrestie 79 Eudämonie → Glück Euripides 34, 39, 128, 174, 179, 189 Eupathie 106ff. Euthymie → Heiterkeit Evolution 170 Experiment 11, 159f. Fatum → Schicksal Feuer 23, 51, 53, 63, 70, 72f., 169ff. Fluss 13, 38, 71f., 90, 145, Fortschritt 37, 156ff.

Frau 10, 29, 39f., 48f., 56, 59ff., 66, 78f., 82, 123, 190 Freiheit 16, 39, 41f., 48, 86, 98, 101f., 106f., 111, 113, 118, 136, 144, 147, 168, Freude 58, 61, 74, 88, 107, 186, 190 Freund / Freundschaft 12, 24f., 27, 46, 60, 71, 83f,, 102, 104ff., 118, 122f., 130, 132, 174, 179 Freundlichkeit 107, 118, 127 Galenos 9, 96, 111 Gebrauch 33, 79, 92, 100, 180f., 185, 188ff. Gedankenbegriff → Verstandesbegriff Gedankenspiel 159f., 165ff. Gegensatz / Gegensätzliches 13, 26, 29, 44, 51, 53, 56, 60f., 66, 70ff., 78, 86, 95, 103, 107f., 113, 142, 151, 157, 162f., 166, 175, 177f., 190 Gegensatzpaar 29, 162f. Geist 10, 13, 23, 28, 32, 37, 43, 48, 65, 96, 114, 117, 119, 136, 142, 147, 157f., 162, 173ff., 177f., 186 Gelassenheit 60, 81, 120 Gellius 123, 130, 149 Gentleman 99 Gerechtigkeit 14, 24f., 44, 53, 74, 85, 95, 116ff., 132, 134, 146, 149, Geschichtsschreibung 9, 19, 39, 102ff., 136ff., 154 Gesundheit 29, 87, 90, 99 Gewissen 75, 191 Gewissheit 15, 133, 135, 147, 159f., Gleiches / Gleichheit 25, 39f., 49, 51, 54, 70, 73, 78f., 117, 125, 136, 138, 158, 162f., 171, 175f., Gleichgültigkeit 16, 103, 119, 127ff., 136 Gleichwertigkeit 125, 137f. Glück 16, 31, 34, 40, 46, 49ff., 56, 65f., 76, 95, 104f., 107, 113ff., 146, 151 Goethe 73, 75, 171 Gorgias 12, 85, 139, 164, 177, 182 Götter / Gott 10ff., 15, 23ff., 27, 40f., 46, 49f., 53f., 56, 59, 61, 66, 71f., 76, 83f., 199

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100, 114, 117ff., 138f., 143, 147, 153, 158ff., 168, 171, 173f., 190 Gottlosigkeit 87 Großzügigkeit 80, 177 Grund → Ursache Grundfiguren → Denkfiguren Handeln / Handlung 11, 14ff., 28, 32, 36, 39, 49, 54, 66, 75, 86, 92, 97ff., 101, 107, 109, 112, 114, 117, 127, 133, 137, 146f., 150, 183f., 189 Harmonie 22f., 30f., 71, 171 Hass 13, 42, 69, 119, 168ff. Hedoné → Freude → Lust Heimarméne → Schicksal Heiterkeit 62, 67, 106f. Hekataios 69, 144, 154, 156 Heldentum 46 Herakles 33, 47ff., 54, 189ff. Heraklit 9, 12f., 16, 18f., 25, 29, 61, 74, 117, 156, 158, 161, 164, 178, 185 Herodot 27, 45, 62, 142f., 151, 156, Hesiod 69, 75, 150, 153, 156, 158, 161f., 171, 190 Hippokrates 9, 62 Hölderlin 172 Homer 10f., 46, 65, 69, 128, 146f., 156, 158 Homoioméreiai 175f. Homo-mensura-Satz 179ff. Horaz 46, 56, 58, 97, 124 Hund 27, 33f., 36ff., 47, 79, 128, 156 Hygiene 28 Iamblichos 28, 31 Idee / Ideenlehre 19, 52, 77ff., 111, 150, 160, 163, 177 Individualismus / Individuum 13, 32, 36, 51, 98, 106, 117, 145, 163, 185 Ironie 26, 85 Jesus 54 Judentum 54 Justinian 12

Kampf 33, 44ff., 49, 64, 67, 71, 79, 86, 97, 118, 132, 142, 150, 157f., 170, 185, 188, 190 Karneades 12, 16, 85, 129, 137, 156, 159 Kleanthes 53, 94ff. Kolophon 150, 156ff., 174 Konditionalsatz → Bedingungssatz Konsumverzicht → Verzicht Kosmopolitismus 56 Kosmos 13, 24f., 27, 73, 100, 109f., 114, 117, 152, 154, 169f., 173 Kraft, sokratische 49, 53f. Krankheit 17, 29, 70, 87, 98 Krates 39f., 49 Kreislauf 102ff., 169 Krieg 26, 45, 56, 69, 71f., 76, 81, 102, 116, 134f., 142, 149, 174, 180, 186, Kroisos 23, 69, 143ff., 151 Kulturentstehungslehre 64 Kynismus 12, 16, 40, 42f., 47, 54, 56, 86, 117 Kyrenaïker 58, 85 Kyros 36, 48, 51, 144 Lachen 19, 60f., 87, 94, 121 Laïs 57 Laktanz 132ff. Landwirtschaft 62, 149, 189f. Lebensformen 18f., 28, 191 Lebensgenuss 28, 59 Lebenshilfe 16 Lebenspraxis 139 Leidenschaft 16f., 45, 49, 53, 67, 87, 107f., 117 Leidensfähigkeit 53 Leitfigur 42, 85f. Leonardo da Vinci 78 Lernen 17, 23, 30, 37, 66, 103, 107f., 117, Liebe 13, 38f., 41, 51, 54, 75, 77ff., 98, 106f., 117, 153, 168ff., 176 Logik 48, 91ff., 94ff., 113, 136, 164 Logos → Vernunft Lukian 17ff., 37, 39, 41f., 44, 55, 62, 74, 77, 81, 87, 92, 102, 121, 168, 173, 191

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Lukrez 67, 111, 171 Lust 33f., 49f., 53, 55, 57ff., 67, 77, 87, 96, 107, 140, 190 Lykeion 15, 122 Macht 14, 19, 28, 31, 43, 48, 51, 57, 73, 89, 95, 100, 103f., 106, 111, 114, 134, 160, 168, 184ff., 188 Mantik 100, 106, 110 Mark Aurel 12, 16, 53, 115, 121, 145 Markt 18ff. Martial 46f., 62 Maß / Maßstab 16, 19, 25, 34, 49, 51, 75, 78, 95, 98, 100, 106, 108, 113, 121f., 136, 138f., 145, 153, 179ff. Materie / materiell 11, 13, 16, 43, 63, 73f., 76ff., 116, 145, 169f., 173, 175, 177f., 181 Materialismus 50 Maus 37 Medizin 9, 17, 28f., 62f., 87, 136, 185 Meinung 49, 57, 64, 95, 97, 107, 117, 129f., 132, 138f., 159, 161, 163, 181, 188, 190 Menander 122ff. Metriopathie 108, 138, 140 Milet 36, 58, 144 Mischverfassung 104 Misstrauen 122 Mitmenschlichkeit 32, 117 Möglichkeit 18ff., 72, 98, 100, 106ff., 113, 118, 124, 152, 159f., 166, 184ff., 191 Moira → Schicksal Musik 22ff., 29, 82, 136 Musonius 113 Mythologie / Mythos 13, 64, 131, 153, 155, 184, 189ff. Nachahmung 54, 65, 169 Nächstenliebe 54 Natur pass. Naturphilosophie 63, 85, 88, 92f., 110, 122, 136, 142, 154, 162, 168, 176 Neuplatonismus 12, 17f., 28, 31, 123, 152, 177

Nichts, das 14, 32, 63, 72f., 125, 127, 145, 162f., 170, 176, 182, 186f. Nihilismus 186 Notwendigkeit 73, 106, 134, 173, 178 Nûs 173, 175ff. Nutzen 44, 55, 57, 77, 79, 103, 108, 134, 136, 147, 188 Objektivität 64, 133, 159, 161, 164 Odysseus 10f., 65f., 146, 153, 186 Oikeiosis 98 Orakel 36, 83f. Ordnung 10, 15, 24, 39, 63f., 67, 73, 142, 150ff., 158, 173, 180, 182 Ovid 26, 31f., 72f., 191 Paarigkeit → Denkfiguren Palintonos Harmonia 29, 71, 178 Panaitios 9, 12, 96, 102, 109 Paradoxie 95f., 143, 166, 186, 190 Paränese 45, 119 Paris 56, 184 Parmenides 12f., 29, 156, 165, 168, 176, 181, 184ff., 191 Perikles 12f., 19, 51, 82, 173f., 179, 187, 191 Peripatetiker 12, 14f., 18, 95, 121, 132, 137, Pessimismus 73ff., 152, 154 Pflicht 11, 37, 96, 98, 106ff., 118, 120, 177 Philolaos 30 Philosoph / Philosophie pass. Pindar 46 Platon pass. Platonismus 117, 139 Plausibilität 130, 135, 159f., 166, 186 Plinius 10, 78, 184 Plotin 12, 171 Plutarch 17, 37ff., 63, 65ff., 71, 95, 97f., 106, 111, 123, 149ff., 173, 187 Politik 43, 51, 149ff., 179, 188 Polybios 9, 106, 110 Polymathie → Vielwisserei Pompeius 109 Ponos → Anstrengung 201

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Porphyrios 12, 31, 123 Poseidonios 12, 93, 96, 100, 116, 140, 171 Praxis 19, 25, 52, 101, 114, 116, 136, 142, 185, 188 Prodikos 12, 49, 85 Proportionalität 25, 28, 31, 78 Protagoras 12, 62, 85, 139, 189, 191 Psychotherapie 17, 87 Pyrrhon 16, 19, 125f., 136f., 140, 167 Pythagoras 12f., 18, 69, 156, 168, 171 Rede / Redekunst 11, 17, 34, 36, 51, 81, 87, 111, 129, 149f., 179, 184ff. Relativ / Relativismus 29, 135, 137, 160, 183, 185 Resilienz 54 Rhetorik 48, 101, 116, 123, 124, 136, 168, 179ff., 185, 187 Schamgefühl 34ff., 39, 44, 60, 66, 68, 107, Schein / Scheinbares 10, 18, 42, 51, 64, 78f., 83ff., 99, 118, 135, 137, 146f., 160f., 163f., 180f., 187f. Schicksal 36, 57, 94, 97f., 100, 103, 106, 110ff., 120, 134, 150, 162, 171 Schlussfolgerung → Syllogismus Schmerz 58, 70, 86, 88f., 98, 106f., 109, 165 Schöne, das / Schönheit 13, 31, 46, 66, 77ff., 107, 118f., 146, 171, 185, 188f. Scipio / Scipionenkreis 9, 102ff. Seele 11f., 17, 22ff., 26ff., 32, 49, 53, 63, 66f., 77, 80, 87f., 93, 100, 110f., 125ff., 136ff., 156, 171, 177f. Seelenruhe → Ataraxie Seelenwanderung 24, 27, 156, 171 Seiende, das / Sein, das 10, 13, 23, 16f., 28, 30, 80, 139, 152, 161ff., 176, 179f., 186f. Selbstbestimmung → Wille / Willensfrei­ heit Seneca 39, 41, 53, 67, 86, 96, 97, 106, 111, 112, 116, 123, Sextus Empiricus pass. Sieben Weise 19, 128, 142, 151

Simplikios 12, 17, 52f., 63, 72, 145, 152, 163, 167, 177 Skepsis / Skeptizismus 10, 12, 16, 18f., 85, 96, 111, 133ff., 136ff., 156, 159, 167, Sokrates pass. Solidarität 114, 149 Solon 19, 75, 142f., 191 Sonnenfinsternis 142, 145, 156 Sophisten 12ff., 20, 24, 48f., 63, 83,141, 173, 177, 179ff, 187ff. Sophokles 39, 73, 76 Spannkraft 53f. Spermata → Homoioméreiai Sphärenharmonie 30 Sprache 13, 34, 45, 50, 71, 101, 150, 180f., 186 Staunen 146ff., Stechfliege 12 Sterben 17, 46, 117, 174 Stimmiges Leben / Stimmigkeit 97ff., Subjektiv / Subjektivismus 64, 97, 133, 161, 164, 183 Suchen 11, 13f., 98, 103, 108, 117, 128f., 137ff., 142, 148, 154, 158, 187, 191 Syllogismus 89 Sympathie 100, 109ff. Synergie 117 Tapferkeit 44ff., 53, 66, 76, 81, 108, Tauglichkeit 14f., 45, 99, 187, 189 Telos → Ziel Tetraktýs 30f. Thales 9, 12f., 19, 25, 48, 142ff., 151f., 154, 156, 162, 191 Theodizee 100 Theognis 154 Theorie 9, 19, 24, 28, 48f., 52, 89, 97, 101, 104, 136, 142, 154, 170, 172, 176f., 189f., Therapeutische Philosophie → Psychothe­ rapie Thukydides 13, 103 Timon von Phleius 127f., 136

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Tod 11, 17, 26, 32, 38, 46f., 70, 82, 84, 88, 97, 117f., 129, 134, 152ff., 163, 170, 177 Tonos → Spannkraft Tugend 13f., 16, 26, 26, 37, 44, 48ff., 53f., 66, 74, 76, 86, 89ff., 95, 99f., 123, 183, 190 Übung 49, 66, 98, 114, 123, 132 Unabhängigkeit 42, 100f., 113 Unbegrenztes → Apeiron Ungewissheit 84, 131 Unsterblichkeit 24, 70 Unverfügbares / Unverfügbarkeit 16, 97f., 100 Urteil 16, 19, 25, 32, 50, 78, 99, 114f., 117, 125ff., 130, 133, 136f., 139, 177, 182, 188 Ursache 11, 38, 63, 100, 103, 111, 117, 131, 134, 144f., 153, 169, 177 Ursprung 13, 15, 30, 122, 146, 152ff., 189 Vegetarismus 27 Veränderung → Wandel Veranlagung 66, 106, 123f. Verfassung 79, 102ff., 149ff., 157, 179, 187 Verfügbares / Verfügbarkeit 16, 97f., 113 Vergleich 10, 12, 28, 46, 57, 64, 67, 76, 92f., 151, 161f., 184f. Verhältnismäßigkeit → Proportionalität Vermutung 159 Vernunft 11, 13, 15ff., 25, 49, 53, 59, 65f., 69, 71f., 87, 97ff., 107, 114f., 117, 133, 146, 158, 177, 188 Verstandesbegriff 153, 155, 162 Verwandlung 32, 55, 60, 65f., 72, 91, 154 Verzicht 33ff., 40, 42f., 54, 97, 99, 168, 188, 190 Vielwisserei 25, 69f., 156 Vorsehung 94, 98, 100, 106, 117 Wahrheit 9ff., 14, 17, 50, 64, 94ff., 102f., 110, 126ff., 133, 135, 137, 147, 161ff., 179, 182f.

Wahrscheinliche, das / Wahrscheinlich­ keit 133, 135, 156, 161 Wandel 13, 70ff. Wasser 12, 23, 40f., 63, 70, 142ff., 153f., 169ff., 175 Weinen 19, 61, 97 Weise, der 11, 14f., 19, 31, 41, 43, 46, 49, 57, 62, 64, 83f., 89ff., 97, 99f., 106f., 128, 142f., 148, 151, 156, 168 Weisheit 13, 18, 44, 46, 75f., 80, 83f., 86f., 89ff., 95, 142f., 148, 180 Wenn-dann-Schema 167 Wertmaßstäbe / Wertvorstellungen 146, 179ff. Widerlegung 133, 137 Wiedererinnerung 77 Wieland 57, 60, 62 Wille / Willensfreiheit 99, 57, 98f., 107, 134, 186 Wirklichkeit 10, 23, 30, 124, 129, 138, 143, 152, 161, 166, 181 Wissen 10f., 13f., 15f., 28, 44, 50, 54, 65f., 69f., 74f., 77ff., 86, 101, 126, 129ff., 136, 142, 147f., 156f., 159, 178, 181, 185, 190 Wissenschaft pass. Würde → Menschenwürde Xenophanes 12f., 19, 27, 89, 161, 166f., 191 Xenophon 49ff., 79, 81, 85, 181, 190f. Zahl 22ff., 28ff. Zenon (Stoiker) 53, 73, 86, 94ff., 109, 171 Zerstörung 170 Ziel 17, 28, 49, 58, 67, 78f., 84, 92, 98, 101, 108, 117f., 127, 133, 136, 140 Zufall 56, 103ff., 111, 170, 173, 178 Zurückhaltung (des Urteils) 16, 19, 125ff., 133ff. Zweiheit → Denkfiguren

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2012 Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt/Mainz ISBN: 978-3-8053-4452-4 Lektorat: Christoph Nettersheim, Nürnberg Gestaltung: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau Umschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt am Main Umschlagabbildung: Raffael, eigentl. Raffaello Santi 1483-1520. „Die Schule von Athen“, 1508-11. Ausschnitt. Fresko. Rom, Vatikan, Stanza della Segnatura, Bild: © World History ­Archive/IAM/akg Druck: CPI books GmbH, Ulm Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten und zu verbreiten. Printed on fade resistant and archival quality paper (PH 7 neutral) · tcf Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie unter: www.zabern.de Lizenzausgabe für die WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Umschlaggestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Umschlagabbildung: Die Philosophie: Sokrates und seine Schüler (Das Gastmahl des Platon). – Ausschnitt. Fresko, 1883/88, von Gustav Adolph Spangenberg (1828–1891). Aus dem Zyklus ,Die Vier Fakultäten‘. Bild: © akg-images ISBN: 978-3-534-25345-6 www.wbg-wissenverbindet.de Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8053-4502-6 (Buchhandel) eBook (epub): 978-3-8053-4503-3 (Buchhandel) eBook (PDF): 978-3-534-73146-6 (für Mitglieder der WBG) eBook (epub): 978-3-534-73147-3 (für Mitglieder der WBG)

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Philosophen, die sich selbst auf dem Markt anbieten – diese verblüffende Idee von Lukian greift Rainer Nickel in seinem Buch auf. Er nutzt den satirischen Dialog des antiken Denkers, um einen Streifzug durch die griechische Philosophiegeschichte zu unternehmen und verknüpft so eine antike Satire mit einer modernen Einführung in die griechische Philosophie.

Der Altphilologe Dr. Rainer Nickel wurde 1970 an der FU Berlin promoviert und war

von 1985 bis 2005 Leiter des Max-PlanckGymnasiums in Göttingen. Er hat zahlreiche Schriften zur altsprachlichen Fachdidaktik veröffentlicht und ist Mitherausgeber der Zeitschrift »Der altsprachliche Unterricht«. Zuletzt erschien von ihm bei Zabern »Griechische Schriftsteller«.

ISBN: 978-3-8053-4452-4

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