Hermeneutik unter Verdacht 9783110698022, 9783110698084, 9783110698114

This volume compares recent hermeneutic criticism with new perspectives on the art of understanding. It does not just re

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German Pages 247 [248] Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Sinn und Sinnlosigkeit
Hermeneutik der Maschinen und Maschinenalgorithmen
Interpretieren – Lesen – Schreiben
Randnotizen – oder: Wie am englischen Kanzleigericht Entscheidungen hergestellt wurden
Hermeneutik am Ende oder am Ende Hermeneutik?
Sehnsucht nach Eindeutigkeit
Podiumsdiskussion
Biobibliographische Angaben zu den Herausgebern und Autor/innen
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Hermeneutik unter Verdacht
 9783110698022, 9783110698084, 9783110698114

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Hermeneutik unter Verdacht

Text und Textlichkeit

Schriftenreihe des Arbeitskreises „Text und Textlichkeit“ Herausgegeben von Andreas Kablitz, Christoph Markschies und Peter Strohschneider Redaktion: Mark Halawa-Sarholz und Hannelore Rose

Band 2

Hermeneutik unter Verdacht Herausgegeben von Andreas Kablitz, Christoph Markschies und Peter Strohschneider

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung

ISBN 978-3-11-069802-2 e-ISBN [PDF] 978-3-11-069808-4 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-069811-4 ISSN 2626-9767 Library of Congress Control Number: 2021937509 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung nach einem Entwurf von André & Krogel Design, Hamburg Titelbild: Ausschnitt aus einer juristischen Handakte aus dem 18. Jahrhundert, entstanden im Kontext des englischen Kanzleigerichts (© The British Library Board, Add MS 36186, p. 1) Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort  VII Jan Söffner Sinn und Sinnlosigkeit. Die Frage nach der Stellung der Hermeneutik im Zeitalter der künstlichen Intelligenz  1 Gabriele Gramelsberger Hermeneutik der Maschinen und Maschinenalgorithmen  23 Steffen Martus Interpretieren – Lesen – Schreiben. Zur hermeneutischen Praxis aus literaturwissenschaftlicher Perspektive  45 André Krischer Randnotizen – oder: Wie am englischen Kanzleigericht Entscheidungen hergestellt wurden. Eine kleine Fallstudie zu den Grenzen der Hermeneutik in der Rechtsgeschichte  83 Philipp Stoellger Hermeneutik am Ende oder am Ende Hermeneutik? Möglichkeitsbedingungen einer Hermeneutik angesichts ihrer Kritik  115 Christoph Markschies Sehnsucht nach Eindeutigkeit. Chancen und Gefahren einer Hermeneutik nach dem „Ende der Postmoderne“  165 Podiumsdiskussion. Zur Aktualität der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik  199 Biobibliographische Angaben zu den ­Herausgebern und Autor/innen  219 Register  227

Vorwort Welchen Stellenwert hat Hermeneutik in der gegenwärtigen geisteswissenschaft­ lichen Forschung? Fragt man danach, welche Texte in den letzten zwei Jahrzehn­ ten besonders starke Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, gewinnt man den Eindruck, dass die Zeiten, in denen der Hermeneutik im Wissenschaftsbetrieb eine Schlüsselposition zugewiesen wurde, der Vergangenheit angehören. Die herme­ neutische Kunstlehre vom Verstehen spielt zwar bei der Vermittlung elementarer Grundkompetenzen in den Geisteswissenschaften nach wie vor eine besondere Rolle, im Hinblick auf ihre Erklärungs- und Geltungsansprüche werden sowohl in methodischer als auch in systematischer Hinsicht allerdings längst erhebliche Zweifel angemeldet. Die Hermeneutik, so scheint es, hat in etlichen Fachgebieten mitunter massiv an Bedeutung verloren. Vorbehalte gegen die Hermeneutik gibt es inzwischen viele. Ein Grund der jüngeren Hermeneutik-Skepsis ist die Behauptung, dass eine dezidiert hermeneu­ tische Forschungsperspektive insbesondere in ästhetischen Zusammenhängen die Sensibilität für „das unabänderlich Nicht-Begriffliche in unserem Leben“1 ver­ missen lasse. Nun lässt sich gewiss trefflich darüber streiten, ob dieser Vorwurf einer einseitigen Sinnfixierung auf Kosten von nicht-begrifflichen Erfahrungsmo­ menten historisch wie systematisch stichhaltig ist.2 Jedenfalls ist eine ganze Reihe von neueren Ansätzen in den Geisteswissenschaften durch eine erklärte Distanz zur hermeneutischen Tradition geprägt. Ob in der Bildwissenschaft, der klas­ sischen Kunstgeschichte, der Literaturwissenschaft, der Theaterwissenschaft, der Philosophie oder in anderen Disziplinen – vielerorts finden sich prominente Stimmen, die der Auseinandersetzung mit der spezifischen Materialität oder der Präsenz und Performativität der Phänomene und Praktiken eine weitaus größere Relevanz beimessen als der hermeneutischen Praxis des Deutens und Verstehens komplexer Sinnkonstellationen.3 Nicht selten wird zudem die Überzeugung ver­ 1 Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004, S. 163. 2 Kritisch dazu vgl. exemplarisch: David Lauer, „Sinn und Präsenz. Über Transparenz und Opa­ zität in der Sprache“, in: Markus Rautzenberg/Andreas Wolfsteiner (Hrsg.), Hide and Seek: Das Spiel von Transparenz und Opazität, München: Fink, 2010, S. 311–324; Mark A. Halawa, „Wider­ ständigkeit als Quellpunkt der Semiose. Materialität, Präsenz und Ereignis in der Semiotik von C. S. Peirce“, in: Kodikas/Code: Ars Semeiotica 32 (2009), Nr. 1–2, S. 11–24. 3 Vgl. hierzu unter anderem: Dieter Mersch, Posthermeneutik, Berlin: Akademie Verlag, 2010; Gottfried Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin: Berlin University Press, 2007; Monika Wagner, Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München: Beck, 2001; Jochen Hörisch, Die Wut des Verstehens, Berlin: Kadmos, 2011; Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004. https://doi.org/10.1515/9783110698084-201

VIII 

 Vorwort

treten, dass die entschiedene Abkehr von der klassischen Hermeneutik eine wichtige Grundvoraussetzung für eine adäquate Untersuchung des jeweils in den Fokus gerückten Forschungsgegenstandes darstellt.4 Wissenschaftshistorisch lässt sich diese Abkehr als Reaktion auf die Entgrenzung des Textbegriffs verstehen.5 Die einstmals selbstverständliche Gewissheit, quasi sämtlichen Ausprägungen des menschlichen Kulturlebens eine herme­ neutisch deutbare ‘Textlichkeit’ unterstellen zu können, hat sichtlich an Über­ zeugungskraft eingebüßt.6 Der klassische Begriff des Textes als eines durch Wort und Schrift geprägten Bedeutungsträgers verliert durch die Rede von einer ‘Les­ barkeit’ des Bildes, der Stadt oder des Körpers an begrifflicher wie analytischer Schärfe. Die so vorangetriebene Ent-Ontologisierung eines herkömmlichen Text­ begriffs impliziert hermeneutische Universalisierungsansprüche mit erheblichen, nicht immer ausreichend bedachten Konsequenzen.7 Auch an gänzlich anderer Stelle werden Zweifel an der Hermeneutik deutlich: Wenn alte und neue fundamentalistische religiöse Bewegungen auf einem eineindeutigen und für alle Zeit von Gott normierten Wortlaut heiliger Texte beharren oder konservative amerikanische Juristen eine ‘originalistische’ Auslegung der Verfassung fordern, um das Recht auf den Besitz von Feuerwaffen zu verteidigen, gibt es für einen Pluralismus an Deutungs- und Aussageoptionen als Ansatz­ punkt hermeneutischer Reflexion keinen Platz mehr. Die Tendenz zur Ausbildung solcher Wortlautfundamentalismen lässt sich natürlich auch an anderen Stellen gegenwärtiger Gesellschaften beobachten.8 Von einer produktiven Auseinander­ setzung mit den Zumutungen pluralistischer Deutungsmöglichkeiten, wie er für die hermeneutische Tradition weitgehend charakteristisch ist, ist all dies denkbar weit entfernt. Versteht man die Hermeneutik als eine Praxis des reflektierten Umgangs mit der Erfahrung von Ambiguität, liegt es nahe, die inzwischen vielfach konstatierte

4 Prononciert dazu vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Präsenz, hrsg. und mit einem Nachwort von Jürgen Klein, Berlin: Suhrkamp, 2012. 5 Stellvertretend dafür vgl. Doris Bachmann-Medick (Hrsg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1996. 6 Beispielhaft für diese Skepsis vgl. Sybille Krämer/Horst Bredekamp, „Kultur, Technik, Kultur­ technik: Wider die Diskursivierung der Kultur“, in: dies. (Hrsg.), Bild, Schrift, Zahl, München: Fink, 2003, S. 11–22. 7 Vgl. ausführlich dazu Andreas Kablitz, „Die Sprachlichkeit des Textes. Vom Nutzen und Nachteil seiner Metaphorisierung und von deren Ursachen“, in: Poetica  48 (2016), Nr.  3–4, S. 169–199. 8 Peter Strohschneider, Zumutungen. Wissenschaft in Zeiten von Populismus, Moralisierung und Szientokratie, Hamburg: kursbuch.edition, 2020.

Vorwort 

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Zurückdrängung des Viel- bzw. Mehrdeutigen9 auch als Krise der Hermeneutik zu interpretieren. Gibt es in einer Zeit einer potentiell schier grenzenlosen Data­ fizierung von Mensch, Natur und Gesellschaft10 noch einen Bedarf an hermeneu­ tischen Formen der Deutungskunst? Die impliziten wie expliziten Objektivitäts­ versprechen, wie sie nicht nur im Silicon Valley zu vernehmen sind, legen eine negative Antwort auf diese Frage nahe. Wird so geantwortet, ist allerdings ver­ gessen, dass ‘Objektivität’ das Produkt komplexer diskursiver wie auch institutio­ neller Verfahren ist.11 Selbst die ausgefeiltesten algorithmenbasierten Datenver­ arbeitungssysteme können schon deshalb nicht vollends ‘objektiv’ bzw. ‘neutral’ operieren, weil bereits die Form, in der sie Daten mustern, ordnen und auswerten, vorab gesetzten Erkenntnisinteressen folgt – was nichts anderes heißt, als dass diese Form immer schon hochgradig interpretationsgesättigt ist. Ein einmal für ein bestimmtes System aufgesetztes Programmdesign mitsamt seinen Routinen kann sogar deutlich schlechter nachträglich verändert werden als eine klassische Forschungsfrage und die zu ihrer Untersuchung herangezogenen Quellen oder Methoden. Wenn es im Kontext der Digital Humanities heißt, dass die quantita­ tiven Analysemethoden des Distant Reading im Unterschied zur traditionellen philologischen Forschungstätigkeit „keine Interpretationen“12 mehr hervorbrin­ gen, fehlen in dieser zugespitzten Formulierung folglich alle notwendigen inter­ pretativen Schritte beim Design der Analyse und ihrer Auswertung. Mit dem vorliegenden Band will der Arbeitskreis „Text und Textlichkeit“ zum einen die Frage nach der Bedeutung der Hermeneutik verfolgen: Inwieweit sind die gegen die hermeneutische Tradition geltend gemachten Verdachtsmomente berechtigt? Welchen Modifikationen müsste die hermeneutische Praxis unter­ zogen werden, um Zweifel, die ihr verstärkt entgegengebracht werden, aus­ zuräumen? Und wo wäre sogar eine gewisse Renitenz der Hermeneutik gefordert, sprich: eine selbstbewusste Verteidigung ihrer Methoden und des darin aus­ gedrückten vorbehaltlichen Zugriffs auf die Wirklichkeit? Zum anderen widmen sich die Autorinnen und Autoren dieses Bandes den Herausforderungen der Hermeneutik in einer Zeit, die offenbar von einer weitreichenden „Ambiguitäts­

9 Vgl. etwa Zygmunt Baumann, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg: Hamburger Edition, 2005; Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen: Reclam, 2018. 10 Vgl. Steffen Mau, Das metrische Wir. Die Quantifizierung des Sozialen, Berlin: Suhrkamp, 2017. 11 Vgl. Lorraine Daston/Peter Galison, Objektivität, aus dem Amerikanischen von Christa Krüger, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2007. 12 Franco Moretti, Distant Reading, Konstanz: Konstanz University Press, 2016, S. 54, Anm. 22.

X 

 Vorwort

intoleranz“13 gekennzeichnet ist. Wo der für das wechselseitige Verstehen nach Ansicht der traditionellen Hermeneutik erforderliche Horizont einer gemein­ samen Lebenswelt in postfaktischen Filterblasen und Echokammern abhanden zu kommen droht, hat es die hermeneutische ‘Arbeit am Sinn’ nicht leicht. Aber ist sie deswegen schon vergeblich oder gar überflüssig? Jan Söffner legt nahe, diese – auf den ersten Blick durchaus plausible – Schluss­ folgerung selbstbewusst umzukehren. Die konstatierte Krise der Hermeneutik, so die seinem Text „Sinn und Sinnlosigkeit. Die Frage nach der Stellung der Hermeneutik im Zeitalter der künstlichen Intelligenz“ zugrunde liegende These, macht die Notwendigkeit einer Sensibilisierung für hermeneutische Sinnfragen nur umso dringlicher. Näher erläutert wird dieses Argument im Rahmen einer insbesondere an Husserl und Heidegger geschulten Auseinandersetzung mit dem Bewusstseinsbegriff. Dieser ist für Söffner insofern von großer Bedeutung, als sich die Kategorie ‘Sinn’ ohne Bewusstsein nicht denken lässt. Neueste KIAnwendungen mögen dazu in der Lage sein, autonom ‘sinnvolle’ Äußerungen zu artikulieren oder Texte im Hinblick auf ‘bedeutungsvolle’ Muster zu analysieren; dem ‘Sinn’ einer Aussage bzw. eines Textes im phänomenologisch strengen Sinne ‘folgen’ können sie indes nicht. Dazu müsste ihre ‘Intelligenz’ eine Eigenschaft aufweisen, die bislang nur dem menschlichen Bewusstsein vorbehalten ist, die Fähigkeit nämlich, sich vom Gesagten bzw. Geschriebenen lebensweltlich involvieren zu lassen. Paradigmatisch zum Ausdruck gelangt diese Fähigkeit laut Söffner in Erzählungen. Anders als die subjektlosen Erzeugnisse automatisierter Textverarbei­ tungsprogramme sind diese niemals nur „gegenstandsgerichtet“, sondern auch und gerade „spannungsgerichtet“ (S. 17). Die in ihnen eröffneten Räume des Sinns lassen sich erst dann adäquat verstehen, wenn ein Bewusstsein die dargebotene Erzählung im Modus einer spezifisch-narratologischen Partizipation bzw. Involviertheit nachvollzieht. Eben diese Sinndimension bleibt selbst den ambitionier­ testen KI-Anwendungen verschlossen. Denn während Erzählungen „jenen Sinn [bündeln], der zu Bewusstsein und nur zu Bewusstsein kommen kann“ (ebd.), und damit das eigentümliche Gebiet der Hermeneutik vor Augen führen, leistet die KI „bislang nur eine Art Nicht-Nicht-Hermeneutik des bloßen Contents“ (S. 10), für die nicht nur eine absolute „Sinnvergessenheit“ (ebd.), sondern auch eine damit korrespondierende „Sinnlosigkeit“ (S. 20) charakteristisch ist.

13 Bauer, Die Vereindeutigung der Welt, S. 27.

Vorwort 

 XI

Sind die technologischen Innovationen im Bereich der Digitalisierung damit voll­ ends ‘a-hermeneutisch’? Gabriele Gramelsberger gibt in ihrem technikphi­ losophischen Beitrag „Hermeneutik der Maschinen und Maschinenalgorithmen“ zu verstehen, dass dies mitnichten der Fall ist  – jedenfalls dann nicht, wenn man zur Kenntnis nimmt, wie sehr der Prozess der Digitalisierung von der Idee „eines Programms der totalen Lesbarkeit der Welt durch Maschinenalgorithmen“ (S. 24) getragen wird. Dieses Programm ‘liest’ und interpretiert die datafizierte ‘Welt’ freilich nicht in dem Sinne, den Söffner für die Hermeneutik reklamiert; gleichwohl produziert es hermeneutische Effekte, denen Gramelsberger inten­ siv nachgeht: So lässt sich zeigen, dass selbstlernende Algorithmen trotz ihrer immer raffinierteren Leistungen mittlerweile derart komplex geworden sind, dass sie selbst von ihren Programmierern nicht mehr in Gänze überblickt und verstan­ den werden können. Die Sortier- und Entscheidungslogiken der Maschinenalgo­ rithmen werden somit selbst zu einer hermeneutischen Herausforderung.14 Wie ernst diese Herausforderung zu nehmen ist, verdeutlicht Gramelsber­ ger weiter durch Rekurs auf die „hermeneutische Gewalt“ (S.  34), wie sie von Scoring-Algorithmen beispielsweise im Versicherungswesen, bei der Kreditver­ gabe oder in der Polizeiarbeit ausgeübt wird. Fälle wie diese erinnern daran, dass Algorithmen „nicht nur spezifische Handlungsvorschriften, sondern […] vor allem Entscheidungsmaschinen [sind]“ (S. 35), die in einer oft völlig intransparenten Art und Weise zu einem tiefgreifenden „Autonomieverlust des Menschen“ (ebd.) führen können. Wie Gramelsberger hervorhebt, ist dieser Umstand nicht zuletzt deshalb höchst problematisch, weil die Ergebnisse algorithmisch generierter Ent­ scheidungen häufig äußerst weit von den Objektivitäts- und Eindeutigkeitsver­ sprechen der großen Tech-Konzerne entfernt sind. Man denke diesbezüglich nur an die ‘irrtümliche’ Kategorisierung von Menschen als mutmaßliche ‘Delinquen­ ten’ oder ‘Terroristen’ bzw. an deren ‘fälschliche’ Einordnung als ‘kredit-’ oder ‘versicherungsunwürdige’ Personen. Neben der Tatsache, dass algorithmenba­ sierte Sortier- und Entscheidungsverfahren mitnichten dazu in der Lage sind, Ambiguitäten vollends auszuschließen, machen Gramelsbergers Ausführungen sodann vor allem eines deutlich: die Notwendigkeit einer algorithmenethischen Regulierung der Maschinenhermeneutik, die die Basis für einen verantwortungs­ vollen Umgang mit Ambiguitäten zu legen vermag.

14 Vgl. dazu auch die Veröffentlichungen der von Christoph Markschies geleiteten interdiszipli­ nären Arbeitsgruppe „Verantwortung: Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz“ in der Reihe „#VerantwortungKI – Künstliche Intelligenz und gesellschaftliche Folgen“, digital zugäng­ lich unter https://www.bbaw.de/publikationen (zuletzt abgerufen: 26.02.2021).

XII 

 Vorwort

Die Möglichkeiten der Digitalisierung spielen auch in dem Aufsatz von Steffen Martus unter dem Titel „Interpretieren – Lesen – Schreiben. Zur hermeneutischen Praxis aus literaturwissenschaftlicher Perspektive“ eine wichtige Rolle. Sie dienen als methodisches Hilfsmittel, um zu klären, ob sich der Eindruck eines weitreichen­ den Bedeutungsverlusts der Hermeneutik empirisch erhärten lässt. Der Befund, zu dem Martus im Rahmen einer statistischen Auswertung aller Beiträge gelangt, die zwischen 1923 und 2018 in der wichtigsten germanistischen Fachzeitschrift im deutschsprachigen Raum, der Deutschen Vierteljahrszeitschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, erschienen sind, fällt bemerkenswert negativ aus – bemerkenswert zum einen, weil sich anhand von quantitativen Titel-, Namensund Schlagwortanalysen belegen lässt, dass im genannten Zeitraum gut die Hälfte aller Beiträge, die sich der Neueren deutschen Literaturwissenschaft zuordnen lassen, als Interpretationen meist klassischer literarischer Werke klassifizieren lassen; hinzu kommt zum anderen, dass das literaturwissenschaftliche Interesse an dezidiert hermeneutischen Textinterpretationen verhältnismäßig spät einsetzt (Ende der sechziger Jahre) und erstaunlicherweise gerade dann einen Höhepunkt erreicht, als die Hermeneutik von poststrukturalistischer wie kulturwissenschaft­ licher Seite her einer fundamentalen Kritik unterzogen wird (in den achtziger Jahren). Zumindest mit Blick auf die für die deutschsprachige Germanistik höchst einflussreiche Zeitschrift lässt sich daher konstatieren, dass sich trotz der großen Prominenz vieler hermeneutikkritischer Stimmen letztlich „keine Indizien für einen Bedeutungsverlust der Hermeneutik [abzeichnen]“ (S. 51). Wie lässt sich dieser Befund erklären? Im weiteren Verlauf seines Textes geht Martus dieser Frage im Rahmen einer praxeologischen Analyse der germanis­ tischen Fachkultur nach. Dabei zeigt er, dass die literaturwissenschaftliche Praxis sowohl in der Forschung als auch in der Lehre weitaus mehr impliziert als die Fähigkeit zur elaborierten Lektüre literarischer Werke; vielmehr zeichnet sich diese Praxis durch ein unauflösliches Zusammenspiel von rezeptiven Lesevorgän­ gen und produktiven Diskurs- wie Schreibaktivitäten aus. Literaturwissenschaft­ lich ‘verständig’ ist eine Person im institutionellen Rahmen der akademischen Literaturwissenschaft erst dann, wenn sie dazu in der Lage ist, durch „spezielle Formen des Redens und vor allem Schreibens“ (S. 56) eine „angemessene“ (ebd.) Lektüre- und Interpretationsleistung öffentlich unter Beweis zu stellen. Für das Thema dieses Bandes ist dieser Aspekt nicht nur deshalb wichtig, weil er die nor­ mativen Interpretationsinfrastrukturen der literaturwissenschaftlichen Praxis eindrucksvoll vor Augen führt; vielmehr rückt er auch deren eminent sozialen Charakter in den Vordergrund – mit der Folge, dass das klassische Bild vom singu­ lären, in sich gekehrten Interpreten eines in kontemplativer Stille gelesenen und verstandenen Textes eine praxeologische Korrektur erfährt.

Vorwort 

 XIII

Eine praxeologische Erweiterung der Hermeneutik unterbreitet auch André Krischer, der in seinem Text „Randnotizen – oder: Wie am englischen Kanzleigericht Entscheidungen hergestellt wurden“ eine „kleine Fallstudie zu den Grenzen der Hermeneutik in der Rechtsgeschichte“ präsentiert. Am Beispiel des (heute nicht mehr existierenden) Londoner Kanzleigerichts („Court of Chan­ cery“) zeichnet er dabei nach, welch komplexes Bündel materieller Praktiken im England des 18.  Jahrhunderts am Prozess der Rechtsfindung beteiligt war. Die Besonderheit dieser Gerichtsform bestand Krischer zufolge darin, dass der dem Gericht vorstehende Lordkanzler („lord chancellor“) seine juristischen Entscheidun­gen im Zuge sogenannter Sitzurteile zu verkünden hatte: Er konnte sich vor der Urteilsverkündung nicht in einen separaten Raum zurückziehen, um dort die während der Verhandlung gesammelten Fakten und Argumente noch­ mals sorgfältig zu prüfen und gegeneinander abzuwägen. Stattdessen hatte er sein Urteil unmittelbar nach der Anhörung aller Streitparteien im Gerichtssaal selbst öffentlich zu verkünden. Lässt sich der Lordkanzler angesichts solcher Rahmenbedingungen als ein ‘einsamer Entscheider’ begreifen? Obwohl zeitgenössische Gemälde genau dies suggerieren und damit den auch in der rechtswissenschaftlichen Hermeneutik lange Zeit kultivierten Topos des subjektivistischen Verstehens widerspiegeln, lässt sich diese Sichtweise laut Krischer historisch nicht stützen. Weit davon ent­ fernt, Rechtsurteile vollkommen individuell bzw. autonom zu fällen, bereitete der Lordkanzler seine Entscheidungen stets mithilfe vielfältiger Schreibpraktiken vor, an deren Durchführung gleich mehrere Akteure beteiligt waren. Als wohl wich­ tigstes materielles Substrat hebt Krischer in diesem Zusammenhang neben den vom Lordkanzler während der Verhandlungen persönlich angefertigten Notizbü­ chern die im Vorfeld des Gerichtsprozesses von höheren Juristen („Barristers“) und Rechtsberatern („Solicitors“) erstellten Schriftstücke vor. Wie eine Analyse dieser Quellen belegt, erzeugten die verschiedenen Prozessparteien in einer büro­ kratisch genauestens festgelegten Schreibordnung ein überaus umfangreiches Textkonvolut, welches nicht nur alle relevanten Prozessinformationen enthielt (Klageschriften, Zeugenaussagen usw.), sondern auch zahlreiche Annotationen, Markierungen, Ergänzungen und Modifikationen seitens der juristischen Ver­ fahrensteilnehmer aufwies. Auch wenn diese in der Regel unter hohem Zeitdruck erarbeiteten Konvolute dem Lordkanzler in der eigentlichen Verhandlung gewis­ sermaßen als Urteilspräparate dienten, waren sie nach Krischers Überzeugung weit davon entfernt, lediglich die Basis für ein rein individuell hervorgebrachtes Rechtsurteil zu bereiten. Weitaus plausibler ist es für ihn, sie als Artefakte anzu­ sehen, die zunächst und vor allem das Ergebnis einer kooperativen und damit dezidiert sozialen Schreibpraxis sind und insofern keinen singulären Autor und Interpreten besitzen. Krischer spricht in diesem Zusammenhang von einer „Her­

XIV 

 Vorwort

meneutik der Praxis“ (S. 111), die die klassische Hermeneutik praxistheoretisch zu ergänzen vermag. Kennzeichnend ist für sie der Impuls, den Gegenstand des hermeneutischen Erkenntnisinteresses „nicht nur als Sinn-, sondern auch als Materialverbund“ (S. 108) zu verstehen. Wer verfolgt, wie Krischer der performa­ tiven Dimension kooperativer Entscheidungspraktiken auf den Grund geht, kann erkennen, welche Bedeutung der Aspekt der „soziomaterielle[n] Koproduktion“ (S. 110) für eine praxeologisch erweiterte Hermeneutik besitzt. Was aber veranlasst die hermeneutische Praxis des Verstehens überhaupt? Was sind die Bedingungen ihrer Möglichkeit? Philipp Stoellger gibt in seinem Aufsatz „Hermeneutik am Ende oder am Ende Hermeneutik? Möglichkeits­ bedingungen einer Hermeneutik angesichts ihrer Kritik“ auf diese Frage eine Antwort, die vor allem in einem Punkt von traditionellen Hermeneutikkonzep­ tionen abweicht: Für ihn markiert nicht das Verstehen, sondern das Nicht-Verstehen den Entstehungspunkt hermeneutischer Praxis. Verstehen ist demnach niemals ein Selbstzweck, vielmehr handelt es sich um einen Prozess, der durch die ereignishafte Erfahrung der ‘Differenz’, des ‘Bruchs’, des ‘Unverfügbaren’ bzw. des ‘Widersprüchlichen’ überhaupt erst initiiert wird. Die hermeneutische Praxis beginnt demzufolge erst dann, wenn es einen erfahrungsbezogenen Anstoß zum Verstehen – genauer: zum Verstehen-Müssen – gibt. Und das bedeutet wiederum: Sie ist nicht einfach nur ein intellektuelles Unterfangen, sondern auch und gerade ein existenzielles Geschehen. Von besonderer Relevanz ist Stoellgers emphatisches Hermeneutikver­ ständnis insofern, als es zugleich mit einem alternativen hermeneutischen Kom­ petenzverständnis einhergeht. Wenn das Nicht-Verstehen den Ausgangspunkt der Hermeneutik markiert, gibt sich hermeneutische Kompetenz zuallererst als ausgeprägte „Differenzkompetenz“ (S.  155)  – im Gegensatz zu einer reinen „Reflexionskompetenz“ (S. 125) – zu erkennen. Widersprüchliches ‘beieinander zu halten’, die Koexistenz von Widersprüchen ‘auszuhalten’, einen ‘Sinn’ für das Unmögliche, Inkohärente zu entwickeln, sind für Stoellger Kennzeichnen einer ausgeprägten hermeneutischen Kompetenz. So betrachtet, erweist sich das Ver­ stehen gerade nicht als hermeneutischer Normalfall; viel eher ist dieser Normal­ fall der grundlegende Verstehensmangel. Einen solchen Mangel anzuerkennen und produktiv zu nutzen, anstatt ihn als unwillkommenen Störfall zu diskreditieren, lehrt laut Stoellger vor allem eine hermeneutische Auseinanderset­ zung mit dem Phänomen des Bildes. „Bilder“, so Stoellger, „sind in eigener Weise kompetente Medien der Differenzdarstellung und -bearbeitung“ (S. 160) – und damit in besonderem Maße dazu geeignet, eine Differenzkompetenz zu kultivieren, die davon absieht, „alles auf das Verstehen konvergieren zu lassen“ (ebd.).

Vorwort 

 XV

Christoph Markschies ergänzt den Band mit dem Text „Sehnsucht nach Ein­ deutigkeit. Chancen und Gefahren einer Hermeneutik nach dem Ende der Post­ moderne“ um einen Beitrag, der den besonderen Hintergründen und Funktio­ nen einiger ausgewählter theologischer Vereindeutigungsbemühungen auf den Grund geht. Ausführlich erörtert werden diese Bemühungen anhand von drei theologiehistorischen Beispielen, die in besonderer Weise dazu geeignet sind, naheliegende Vereindeutigungsversuche von solchen zu unterscheiden, die aus gesellschaftlicher, politischer wie auch theologischer Sicht als hochgradig pro­ blematisch einzustufen sind. Das erste Beispiel bezieht sich auf die vom evan­ gelischen Systematiker Gerhard Ebeling (1912–2001) angestellten Überlegungen zur Bibelhermeneutik Martin Luthers. Namhafte Fachkollegen erkannten darin irrtümlich eine Fortsetzung der in der Theologiegeschichte bereits vielfach geäußerten These, wonach die klassische Lehre vom vierfachen Schriftsinn von Luther gänzlich überwunden worden sei. Für Markschies steht hingegen fest, dass Ebeling eine hochgradig situationsbedingte Verwendung der Allegorese bei Luther nachzuweisen versuchte: An bestimmten Stellen wurde von ihr Gebrauch gemacht und die Idee eines mehrfachen Schriftsinnes angewendet, an anderen Stellen wurde diese Idee durch das Konstatieren eindeutiger Auslegungsmöglich­ keiten strategisch preisgegeben – beispielsweise dann, wenn sich Luther theolo­ gischen Gegnern gegenübersah, die seine Lehre unter Verweis auf den vierfachen Schriftsinn zu entkräften versuchten. Die Geste der Vereindeutigung erweist sich demnach mindestens auch als eine den damaligen Zeitumständen geschuldete rhetorische Strategie. In eine deutlich andere Richtung weisen die Überlegungen zur antiken Bibel­ auslegung des französischen Jesuiten Henri de  Lubac (1896–1991), die Mark­ schies als zweites historisches Beispiel dienen. Sichtbar werden hier keine her­ meneutischen Vereindeutigungstendenzen, sondern ganz im Gegenteil intensive Bemühungen um eine pluralismusoffene Bibelexegese. Vom „geschichtlichen Charakter“ (S. 181) des Christentums fest überzeugt, entwickelte de Lubac insbe­ sondere in Auseinandersetzung mit dem antiken christlichen Universalgelehrten Origenes eine theologische Hermeneutik, für die die Lehre vom multiplen Schrift­ sinn ein Wesensmerkmal des christlichen Glaubens darstellt. Wie Markschies hervorhebt, war dieser Aspekt für de  Lubac nicht nur aus akademisch-theolo­ gischen, sondern gerade auch aus politischen Gründen von großer Bedeutung. So lässt sich dessen Verteidigung einer pluralistischen Bibelexegese als Versuch lesen, der in der Zeit des Vichy-Regimes und der „Diktatur der neuthomistischen Neoscholastik“ (S. 185) vorherrschenden Starrheit eines einstimmigen, auf Ein­ deutigkeit pochenden Denkens kritisch entgegenzutreten. Pluralisierung fungiert bei de Lubac als strategisches Mittel gegen den Prozess einer totalitären Verein­ deutigung der Gegenwart.

XVI 

 Vorwort

Das dritte Beispiel bei Markschies bezieht sich auf die 1982 veröffentlichte „Zweite Chicago-Erklärung“ des „Internationalen Rats für biblische Irrtums­ losigkeit“  – und damit auf eine fundamentalistische Vereindeutigungsstrate­ gie. In dieser von Markschies ausgiebig zitierten Erklärung findet sich unter anderem die Behauptung, dass die Heilige Schrift als „Tatsachenbericht“ (S. 188) zu betrachten sei und der „grammatisch-historische Sinn“ (S. 189) der Bibel die einzige Grundlage für deren Auslegung darstelle. Diese Position ist für Mark­ schies vor allem aus folgendem Grund interessant: Seines Erachtens lässt sich an ihr eine Sehnsucht nach Eindeutigkeit demonstrieren, die aus der Sicht von vehe­ menten Hermeneutik-Kritikern wie Jochen Hörisch angeblich für die Tradition der Hermeneutik insgesamt typisch ist, in Wahrheit aber nur für einzelne Episoden der hermeneutischen Praxis zutrifft. Der Hermeneutik eine allgemeine Tendenz zur Vereindeutigung zuzuschreiben, greift demnach zu kurz – zumal solch eine Zuschreibung aus dem Blick verliert, dass es in gewissen historischen Momenten (siehe Luther) durchaus geboten sein kann, auf rhetorische Vereindeutigungs­ strategien zurückzugreifen. Abgeschlossen wird dieser Band mit der (überarbeiteten) Transkription einer Podiumsdiskussion, die die Mitglieder des Arbeitskreises „Text und Textlichkeit“ im Juli 2019 zum Abschluss eines Kolloquiums, auf das sämtliche der hier ver­ sammelten Beiträge zurückgehen, mit Julika Griem und Christoph König über die Aktualität der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik führen konnten. Fort­ gesetzt wurde darin eine Debatte, die die beiden bereits im Jahr 2015 in zwei breit rezipierten Meinungsbeiträgen innerhalb der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die Aufgabe philologischer Forschung angestoßen hatten.15 Griem nutzte dabei ihre Wortbeiträge für eine fundamentale Kritik eines tiefenhermeneutischen Heroismus, wie er sich in ihren Augen beispielsweise in einem Aufsatz des klas­ sischen Philologen Jürgen Paul Schwindt wiederfinden lässt.16 Beschrieben wird die literaturwissenschaftliche Praxis darin als wagemutiger ‘Tauchgang’, dessen Zweck einzig und allein darin zu bestehen scheint, unterhalb der Oberfläche eines bestimmten Textes eine Reihe von ‘Sinn-Schätzen’ zu finden, die ohne diesen ‘heroischen’ Akt womöglich niemals entdeckt worden wären. Problematisch ist diese philologische Selbstbeschreibung für Griem nun insofern, als sie ihres Erach15 Vgl. Christoph König, „Achtung vor den fremden Werken. Zuerst lesen wir hingerissen, dann lesen wir analytisch. Über die philologische Aufgabe, den Sinn schwieriger Texte zu verstehen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.09.2015, S.  N3; Julika Griem, „Philologen  – heute ohne Aura“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.10.2015, S. N3. 16 Vgl. Jürgen Paul Schwindt, „Die Philologie von unten. Das athematische Lesen und der ­retour sur soi-même“, in: Dictynna  13, 2016, https://journals.openedition.org/dictynna/1311 (zuletzt abgerufen: 26.02.2021).

Vorwort 

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tens in erheblichem Maße vollkommen unkritisch von „männliche[n] Selbst­ stilisierung[en]“ und „Durchbruchsphantasien“ (S. 202) durchzogen ist. Hinzu kommt, dass die materielle Oberfläche des Textes – all jene Faktoren also, die unter anderem aus praxeologischer Sicht für die philologische Arbeit elementar sind – von solchen tiefenhermeneutischen Selbstüberhöhungen pauschal abge­ wertet wird. Wie Griem mit Blick auf den angelsächsischen Forschungsdiskurs erläutert, gerät damit die soziale, politische wie auch institutionelle Dimension der philologischen Praxis gänzlich aus dem Blick. Auch Christoph König zeigt sich davon überzeugt, dass das Postulat einer tiefenhermeneutischen Analyse die schriftliche Oberfläche eines Textes zu Unrecht abwertet. Gegen diese von ihm als „alte Hermeneutik“ (S. 204) bezeich­ nete Sichtweise macht er indes eine skeptische hermeneutische Ausgangshaltung stark, derzufolge es in der philologischen Praxis primär zu verstehen gilt, „wie verstanden worden ist“ (ebd.). Eine solche „Erkenntniskritik des Verstehensvor­ ganges“ (ebd.) ist nach König in doppelter Hinsicht vorzunehmen: zum einen in Bezug auf die Instanz des Autors sowie zum anderen in Bezug auf die des Philologen, der sich in seiner hermeneutischen Reflexion immer auch selbst zu beobachten habe, um über sein eigenes Tun Klarheit zu erhalten. Zudem meint König, dass eine ästhetisierende Engführung des Textverstehens nach Möglich­ keit vermieden werden sollte. Der Ausgangspunkt des Verstehens ist für ihn stets die „Schwierigkeit“ (S. 206) eines Textes, und zwar ungeachtet der Textsorte, auf die sich die hermeneutische Analyse jeweils bezieht. *** In Gestalt dieser Publikation präsentieren die Herausgeber den zweiten Band ihrer gemeinsam verantworteten Schriftenreihe „Text und Textlichkeit“ der Öffentlich­ keit. Möglich gemacht wurde dies durch das große Engagement gleich mehrerer Personen, denen wir im Folgenden ganz herzlich danken möchten. Zu nennen sind natürlich zunächst die einzelnen Autoren. Herzlicher Dank gebührt ebenso den an der erwähnten Podiumsdiskussion beteiligten Akteuren – allen voran Julika Griem und Christoph König – für die nochmalige Durchsicht ihrer jeweiligen Wort­ beiträge. Heinrich Schupelius ist für seine Transkription der Podiumsdiskussion herzlich zu danken, Mark Halawa-Sarholz und Hannelore Rose für die sorgfältige Redaktion des gesamten Bandes. Ein besonderer Dank gilt der Fritz Thyssen Stif­ tung, die nicht nur die Drucklegung dieses Buches abermals großzügig gefördert hat, sondern bereits schon das diesem zugrunde liegende Kolloquium. im Frühjahr 2021 Andreas Kablitz, Christoph Markschies, Peter Strohschneider

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 Vorwort

Verzeichnis der zitierten Literatur Bachmann-Medick, Doris (Hrsg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1996. Bauer, Thomas, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen: Reclam, 2018. Baumann, Zygmunt, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg: Hamburger Edition, 2005. Boehm, Gottfried, Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin: Berlin University Press, 2007. Daston, Lorraine/Peter Galison, Objektivität, aus dem Amerikanischen von Christa Krüger, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2007. Fischer-Lichte, Erika, Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004. Griem, Julika, „Philologen – heute ohne Aura“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.10.2015, S. N3. Gumbrecht, Hans Ulrich, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004. Gumbrecht, Hans Ulrich, Präsenz, hrsg. und mit einem Nachwort von Jürgen Klein, Berlin: Suhrkamp, 2012. Halawa, Mark A., „Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose. Materialität, Präsenz und Ereignis in der Semiotik von C. S. Peirce“, in: Kodikas/Code: Ars Semeiotica 32 (2009), Nr. 1–2, S. 11–24. Hörisch, Jochen, Die Wut des Verstehens, Berlin: Kadmos, 2011. Kablitz, Andreas, „Die Sprachlichkeit des Textes. Vom Nutzen und Nachteil seiner Metaphorisierung und von deren Ursachen“, in: Poetica 48 (2016), Nr. 3–4, S. 169–199. König, Christoph, „Achtung vor den fremden Werken. Zuerst lesen wir hingerissen, dann lesen wir analytisch. Über die philologische Aufgabe, den Sinn schwieriger Texte zu verstehen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.09.2015, S. N3. Krämer, Sybille/Horst Bredekamp, „Kultur, Technik, Kulturtechnik: Wider die Diskursivierung der Kultur“, in: dies. (Hrsg.), Bild, Schrift, Zahl, München: Fink, 2003, S. 11–22. Lauer, David, „Sinn und Präsenz. Über Transparenz und Opazität in der Sprache“, in: Markus Rautzenberg/Andreas Wolfsteiner (Hrsg.), Hide and Seek: Das Spiel von Transparenz und Opazität, München: Fink, 2010, S. 311–324. Mau, Steffen, Das metrische Wir. Die Quantifizierung des Sozialen, Berlin: Suhrkamp, 2017. Mersch, Dieter, Posthermeneutik, Berlin: Akademie Verlag, 2010. Moretti, Franco, Distant Reading, Konstanz: Konstanz University Press, 2016. Schwindt, Jürgen Paul, „Die Philologie von unten. Das athematische Lesen und der retour sur soi-même“, in: Dictynna 13, 2016, https://journals.openedition.org/dictynna/1311 (zuletzt abgerufen: 26.02.2021). Strohschneider, Peter, Zumutungen. Wissenschaft in Zeiten von Populismus, Moralisierung und Szientokratie, Hamburg: kursbuch.edition, 2020. Wagner, Monika, Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München: Beck, 2001.

Jan Söffner

Sinn und Sinnlosigkeit Die Frage nach der Stellung der Hermeneutik im Zeitalter der künstlichen Intelligenz

1 Die ozeanische Oberflächlichkeit der ­künstlichen Intelligenzen In einem der vielen, oft überhitzten Gespräche zu den Möglichkeiten und Un­ mög­lichkeiten künstlicher Intelligenz vertrat kürzlich ein Machine-Learning-Pro­ fessor (der Name sei verschwiegen) dem Verfasser dieses Aufsatzes gegenüber die Ansicht, dass das menschliche Bewusstsein für eigentlich überhaupt keine kognitive Leistung maßgeblich sei. Ihm sei auch nicht klar, ob es ein solches über­ haupt gebe; und er untermauerte diese Skepsis mit der Frage, wie ich denn wissen könne, ein bewusstes Wesen zu sein. Selten hatte ich mich mit René Descartes so verbunden gefühlt wie in diesem Moment. Vermutlich hatte er eigentlich die übliche Turing-Test-Frage stellen wollen, wie ich sicher sein könne, dass er – nicht ich – mit einem Bewusstsein begabt sei. Aber bezeichnend ist dieser Lapsus gerade als Lapsus; denn er zeugt von einem Denk-Automatismus, nämlich von der Selbst­ verständlichkeit, mit der nur ‘evidence based’ Objektivität als Wissen akzeptiert wird, während bewusstseinsgebundene Formen der Evidenz, die immerhin einst Grundlage aller Wissenschaftlichkeit waren, bestenfalls noch als Privatsache und persönliche Meinung angesehen werden. Die Haltung, die sich in solchen Aussprüchen äußert, betrifft nicht nur Infor­ matiker, ja nicht einmal nur die empirischen Wissenschaften. Sie zieht sich auch in einen lebensweltlichen Alltag, in dem mehr und mehr Bereiche, für die einst bewusster Sinn, gutes Gespür, subjektive Urteilskraft gefordert waren, digital quantifiziert, in Information verwandelt und damit der bewussten Subjektivität entzogen werden, wodurch auch der „Alltag der Auslegung“1 sich in einen Alltag der Information verwandelt. Während der Corona-Pandemie trat zudem hervor, wie mächtig auch eine Art evidenzbasiert-objektivierender Politikstil geworden ist, der sich zumindest in Krisenzeiten auf Kosten einer demokratischen Herme­ neutik, einer Hermeneutik von Entscheidungsträgern und mündigen Bürgern,

1 Vgl. Hans-Georg Soeffner, Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziolo­ gi­schen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt/M: Suhrkamp, 1987. https://doi.org/10.1515/9783110698084-001

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etablieren lässt. Denn über die verhängten Ausnahmezustände entschied, von populistischen Ausnahmen einmal abgesehen, meist weniger ein Souverän im alten Sinne des Wortes, sondern vielmehr dessen Selbstunterwerfung unter objektivierte Zahlen. Die oftmals auf dünner Basis erstellten Fakten wurden recht unmittelbar – und ohne den Umweg einer an die menschliche Subjektivität und ihre Hermeneutik gebundenen Sinn-Frage – nach reinen Effizienzkriterien in Regeln und Maßnahmen übertragen; oder zumindest wurde der Anschein erweckt, dass auf diese Weise gehandelt würde. Versucht man die umfassende, zugleich epistemologisch wie technologisch induzierte Obsoleszenz hermeneutischer Wissensverfahren in ihrer gegenwärti­ gen Ausprägung auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, bietet sich Yuval Noah Hararis Beobachtung an, derzufolge sich gegenwärtig die Intelligenz vom menschlichen Bewusstsein entkopple und von diesem emanzipiere.2 In der Tat bringt die Technologie die Konsequenzen einer Objektivierungsbewegung auf den Punkt, die in ihrer epistemologischen Gestalt die Genauigkeit der exakten Wis­ senschaften ausmacht, nämlich ihre methodische Ausklammerung der Wissens­ subjekte. Es lohnt sich, dem Gedanken einer solchen Abkopplung nachzugehen, denn im Rahmen der technologischen Entwicklung lässt sich besser nachvoll­ ziehen, was bereits Martin Heidegger einst auf den schönen Satz brachte: „Die Wissenschaft denkt nicht“.3 Zugleich lässt sich auch der beachtliche epistemische Erfolg ablesen, den eine Ausklammerung des subjektiven Bewusstseins mit sich bringen kann. Von der bloßen Algebra der frühen Turing-Bomben, die bereits die Rechen­ kapazitäten des menschlichen Bewusstseins übertrumpften, führt der Weg über algorithmische Mustererkennung und Szenariensimulation inzwischen bis zur Abduktion, also jener weder induktiven noch deduktiven Operation, die Charles Sanders Peirce an die Stelle dessen setzte, was landläufig unter dem Begriff der Intuition lief4 (eine logische Operation, für die AlphaGo und AlphaZero Berühmt­ heit erlangten). Immer wieder gelingt es der Technologie somit, Aufgaben zu erfüllen, die noch vor kurzer Zeit ohne Bewusstsein nicht zu erfüllen gewesen wären – und daraufhin in ihrer Ausführung den menschlichen Verstand in atem­ beraubender Geschwindigkeit hinter sich zu lassen. Selbst als Vorbild für künst­ liche Intelligenz scheint das menschliche Bewusstsein allmählich ausgedient zu

2 Vgl. Yuval Noah Harari, Homo Deus. A Brief History of Tomorrow (2015), New York: Vintage, 2017, S. 356–408. 3 Martin Heidegger, Was heißt Denken? (1951), Tübingen: Niemeyer, 41984, S. 4. 4 Charles Sanders Peirce, „Deduction, Induction, and Hypothesis“, in: Popular Science Monthly 13 (1878), S. 470–482.

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haben – die erstaunlichen Fortschritte der letzten Jahre sind Folge einer Eman­ zipation der Software von den bewusstseinsimitierenden Beschränkungen. Dass eine Abkopplung der Intelligenz vom subjektiven Bewusstsein zu einem derartigen Wissensgewinn führt, muss nicht wundern: Der Experimentalpsycho­ logie zufolge kann ein menschliches Bewusstsein nur sieben (plus oder minus zwei) diskrete Gegenstände gleichzeitig präsent halten5  – ein gewöhnlicher heutiger Arbeitsspeicher hingegen mehr als acht Milliarden. Man könnte dem natürlich entgegenhalten, dass die menschlichen Bewusstseinsgegenstände ungleich komplexer seien und dass das menschliche Bewusstsein  – Descartes und Leibniz zum Trotz – eben gerade nicht auf diskrete Gedankengegenstände spezialisiert ist, sondern stattdessen mit verschiedensten Formen der Latenz und des Impliziten arbeite, so dass es letztlich einer primitiven Logik der Einsen und Nullen entkomme. Doch unterstreicht selbst dieser im Grunde richtige Einwand eigentlich nur die Verschiedenheit von Software und Bewusstsein, die Ersterer in bestimmten, vorwiegend logisch klar definierten Funktionen einen enormen Vorteil beschert. Gerade der Mangel an Latenz und Unschärfe ermöglicht zum Beispiel aufgrund der enormen Ko-Präsenz an Informationen eine schnellere und zuverlässigere Form der Rationalität. Anschaulich wird diese Überlegenheit, wenn man sich ansieht, auf welche Weise die Entwicklung der künstlichen Intelligenz sich dem stellt, was für das menschliche Bewusstsein latent wäre. Das sogenannte Polanyi-Paradoxon der von Menschen beherrschten, aber nicht sprachlich explizierbaren kognitiven Funk­ tionen6 gilt zum Beispiel als weitgehend gelöst  – was bedeutet, dass Bereiche­ der Intelligenz, die bislang nicht konzeptualisiert werden konnten, nunmehr regelhaft prozessiert und explizit analysiert werden. Selbstlernende Computer, die man auf solche Phänomene ansetzt, entwickeln Algorithmen, die gerade dort höhere Zuverlässigkeit als Menschen erreichen, wo Letztere sich aufs Latente verlassen hätten. Kurz: Computer sind teilweise gerade deshalb effizienter, weil die Software im Gegensatz zum Bewusstsein nicht vor dem Problem steht, die im Verborgenen laufenden (für Menschen unbewussten) Prozesse nicht mehr kon­ trollieren zu können. Bezeichnend ist auch die Zeitlichkeit des subjektiven Bewusstseins – bzw. seine zeitliche Beschränktheit. Denn während eine an diese gebundene Intel­ ligenz dem Wechsel von Lernen und Vergessen, Erwarten und Erinnern – kurz:

5 Vgl. George A. Miller, „The magical number seven, plus or minus two: Some limits on our capa­ city for processing information“, in: Psychological Review 63 (1956), H. 2, S. 81–97. 6 Michael Polanyi, The Tacit Dimension (1966), Gloucester, MA: Peter Smith, 1983.

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einer Logik des Nacheinanders – unterliegt, schafft die von Luciano Floridi7 soge­ nannte Infosphäre eine Gleichzeitigkeit von Myriaden vernetzter Rechenoperatio­ nen im Zustand andauernder Aktualisierung. Damit entsteht – zumal im Ange­ sicht exponentiell wachsender Speicher – eine vom Bewusstsein emanzipierte, aber gleichwohl der göttlichen Allwissenheit immer näher kommende Form der Intelligenz, die in ihrer Gleichzeitigkeit eben auch nur von Gott abgerufen werden könnte – oder aber vom Netzwerk selbst, das, von der Subjektivität befreit, zu sich selbst sprechen kann. Im Zuge des Machine Learning werden die Arbeit und Funktionsweise der Algo­ rithmen inzwischen selbst für diejenigen Menschen opak, die sie programmieren. Coder können teils nicht mehr kontrollieren, was eine selbstlernende Software leisten wird, geschweige denn wie; versuchen sie, die Prozesse nachzuvollziehen, dann haben sie kaum eine Chance, mit der sich teils exponentiell steigernden Selbstentwicklung der Software Schritt zu halten.8 Der Versuch, die Logik der Maschinen hermeneutisch einzuholen, scheitert9  – stattdessen weichen deren Urheber im Umgang mit der ihnen selbst unberechenbar gewordenen Berechen­ barkeit auf Verfahren aus, die man eher aus dem Umgang mit grundsätzlich unberechenbaren Phänomenen kennt: Sie greifen auf Simulationen zurück und machen Testläufe, um zu erkennen, unter welchen Bedingungen ihre Software funktioniert und welche Fehler zu befürchten sind. Die hermeneutische Tiefe weicht damit einer Oberfläche von ozeanischem Ausmaß: einer Oberfläche, die von Menschen nicht mehr überblickt, geschweige denn (wie einst die Tiefe) erlebt werden kann. In Anbetracht dieser einer Hermeneutik nicht mehr zugänglichen Oberfläche ist Niklas Luhmanns Beobachtung einer Komplexitätssteigerung durch immer potentere Medien10 zwar nach wie vor treffend. Doch bringen dieselben Medien, die diese Komplexität erzeugen, sie – nimmt man die Position des Subjekts ein – auch gleich wieder zum Verschwinden. Die User überlassen die Informationsflut mehr und mehr einer unbewussten Intelligenz hinter den Platons Höhlenschatten ersetzenden Benutzeroberflächen. Nur im Hintergrund, für die User aber vollkom­ men unzugänglich, erbringen die Algorithmen immer mehr Leistungen, zu denen das Bewusstsein kaum fähig gewesen wäre.

7 Luciano Floridi, The Fourth Revolution. How the Infosphere is Reshaping Human Reality, Ox­ ford/New York: Oxford University Press, 2014. 8 Vgl. hierzu den Beitrag von Gabriele Gramelsberger in diesem Band. 9 Vgl. Nick Bostrom/Eliezer Yudkowsky, „The ethics of artificial intelligence”, in: Keith Frankish/ William M. Ramsey (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Artificial Intelligence, Cambridge: Cam­ bridge University Press, 2014, S. 316–334. 10 Vgl. Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag, 21996.

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Die menschliche Urteilskraft verschmilzt zugleich zunehmend mit Algo­ rithmen, die auf sehr einfachen (z.  B. spieltheoretischen) Prinzipien basieren, während die Ambivalenzen der größeren Welt sich darüber in ein Stadium der algorithmischen Latenz zurückziehen, die die Kehrseite der All-Transparenz der Rechner ist. Gesundheits- und Lebensplanungsapps zeigen, dass eine erstaun­ liche Anzahl von Menschen – oft sogar zurecht – der Software eher zutraut, die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Neigungen, Schwächen, Krankheiten und Launen zu (er-)kennen, als sie selbst. Bewusstes Urteil oder auch ‘nur’ situatives Gespür weichen einer Heidegger’schen Logik der Bereitstellung11 von Daten und Fakten. Man muss kein Freudianer mehr sein, wenn man sich selbst nicht mehr über den Weg traut. Wo ‘Ich’ war, soll ‘App’ werden.

2 Sprache ohne Sinn Vielleicht lässt sich die gesellschaftliche und kulturelle Vereindeutigungs­ bewegung, die Thomas Bauer12 für die Gegenwart konstatiert, auch vor diesem epistemologisch-technischen Hintergrund verstehen. Denn zunächst einmal geht die beschriebene Entwicklung vom hermeneutischen Urteil zur Bereitstel­ lung von Information einher mit einer Emanzipation der Fakten von der stets Ambivalenzen produzierenden Auslegung durch das menschliche Bewusstsein. Gewiss kann auch Auslegung oft das Ziel der Eindeutigkeit verfolgen. Auf dem Weg dorthin erzeugt sie aber meist nur noch größere Mehrdeutigkeit – das gilt für computergenerierten Content nicht. Überlässt man die Lesbarkeit der Welt daher schrittweise einer objektivierenden und subjektlosen Intelligenz, dann liegt eine Abnahme von Ambivalenzen und pluralen kulturellen Perspektiven geradezu auf der Hand. Algorithmen fußen zudem, im Gegensatz etwa zum sprachlichen Denken, auf mathematischen Axiomen – und diese sind von Kulturen wesentlich unab­ hängiger als andere Wissensformen. Setzt man sie nunmehr auf diverse Kulturen und Gesellschaften an, dann wird deren Pluralität durch eine übergreifende (und immer schwerer von Menschen nachvollziehbare) Taxonomie gerahmt. Funda­ mentale Ambiguität und Pluriperspektivität weichen ihrer Klassifizierung in über­ greifenden Rastern der Content-Generierung. Exemplarisch träumt die Welt der

11 Vgl. Martin Heidegger, „Die Frage nach der Technik“ (1953), in: ders., Die Technik und die Kehre, Stuttgart: Klett Cotta, 1962, S. 5–36. 12 Vgl. Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen: Reclam, 2018.

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künstlichen Intelligenz von einem post-babel’schen Zustand, in dem die Sprach­ verwirrung einer Omnipräsenz der Ad-Hoc-Übersetzungen gewichen ist. Die Weise, in der solche Übersetzungen mit Sprache und Textlichkeit umgehen, lässt sich zur Veranschaulichung dessen nutzen, was menschliches Sprachverständnis immer schon hermeneutisch macht, während eine bloße Symbolmanipulation gerade nicht hermeneutisch ist. Der technische Vorteil von Programmen wie DeepL und neueren Versionen des Google Translators gegenüber älteren Übersetzungsprogrammen liegt darin, dass eine selbstlernende Software zunächst auf die Einzelsprachen angesetzt wurde, bevor sie an deren Überset­ zung ging: Die Wahrscheinlichkeit einer Wortfolge in einem speziellen Kontext der Zielsprache spielt somit eine größere Rolle – was analog zu dem Umstand zu verstehen ist, dass Texte in der Regel besser von Muttersprachlern der Zielsprache übersetzt werden als von Muttersprachlern der Ausgangssprache. Die Software beherrscht auf diese Weise durchaus den Umgang mit sprachlichen Zeichen; und all dies verläuft ohne Bewusstsein, Verständnis und also Auseinandersetzung mit dem, was für Menschen der Sinn des Gesagten gewesen wäre. Hierin unterscheidet sich die Sprachprozessierung der Software von einer menschlichen Sprachverwendung, die indes gar nicht umhin kann, dem Sprach­ gebrauch (selbst im Aggregatzustand des Nicht-Verstehens) eine Erlebensquali­ tät und somit einen basalen Sinn beizumessen. Gerade der Spracherwerb zeigt dies besonders gut, unterscheidet er sich doch massiv von der Art, wie selbst­ lernende Maschinen eine Sprache zu prozessieren lernen. Kinder beginnen mit Lauten, die schon längst sinnlich und emotional sowie in interaktives Handeln eingebettet sind, bevor sie überhaupt erst in die Ordnung der Phoneme und dann der Wörter überführt werden. Sprache ist für Kleinkinder bereits prosodisch, rhythmisch und ereignet sich in einer zwischenleiblichen Interaktion mit Freude, Drang, Bedürfnis – kurz: mit dem, was sich aus phänomenologischer Hinsicht als Sinn beschreiben­lässt, als Situativität, dynamisch-intentionale Gerichtetheit und Spürbarkeit der Bedeutungen. An die Stelle des sinnlichen, emotionalen, situativen und körperlich ausagierenden Testens der Sprache setzt die Software eine Big-Data-Analyse; und ist im Spracherwerb das prozedurale Gedächtnis ent­ scheidend, das Fertigkeiten, Haltungen und eine Phänomenalität des sich im Handeln ereignenden Gespürs formt und verfügbar macht, so zählen für die Soft­ ware Wahrscheinlichkeitsberechnung und die Regeln der Symbolmanipulation. Damit ist auch das Ergebnis – die ‘Semantik’ – grundverschieden. Weite Teile des Spracherwerbs verlaufen in dem Modus, den Dan Hutto und Eric Myin13 als „Basic

13 Vgl. Dan Hutto/Eric Myin, Radicalizing Enactivism: Basic Minds without Content, Cambridge, MA: MIT Press, 2012.

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Minds without Content“ bezeichnet haben, und so kann auch der Sinn der Wörter im menschlichen Sprachgebrauch niemals auf eine qua Lexikon und Syntax beschreibbare Bedeutungskonstitution reduziert werden – genau dies aber ist bei den Ergebnissen der software-geleiteten Symbolmanipulation der Fall. Gerade vor dem Hintergrund der Funktionen des prozeduralen Gedächtnis­ ses wundert es somit zwar nicht, dass ältere Übersetzungsmaschinen denjenigen Maschinen unterlegen sind, die nach Häufigkeit spezifischer Sprachverwendung ‘lernen’ – entspricht diese Häufigkeit doch besser einem prozeduralen Gedächt­ nis. Doch ist von dessen semantischen Funktionen nur ein kleiner Teil ersetzt – was fehlt, ist das Bewusstsein und somit der Sinn der übersetzten Sprache: Dieser liegt nicht allein in der korrekten Applikation eines Symbolsystems (wie die Maschinen sie ebenfalls beherrschen), sondern im Umgang des lebenden Orga­ nismus mit diesem Symbolsystem. Und es ist umgekehrt die Unfähigkeit dieses Organismus zu völlig neutraler und objektivierbarer Symbolmanipulation, die es ihm unmöglich macht, Sprachverwendung ohne Erlebensqualität zu betrei­ ben – die in ihrer sprachlichen Artikulation ‘semantisch’ wird.14 Aus dieser Form der basalen Hermeneutik, zu der die Übersetzungsprogramme keinen Zugang haben (wodurch sie teils noch absurde Fehler machen), können Menschen umge­ kehrt nicht entkommen; das macht ihre eigenen Übersetzungen im Vergleich so langsam, so subjektiv eingefärbt und so beschränkt durch die eigene, meist als idiosynkratischen Stil eingeschliffene Sprachverwendung.

3 Die Krisis der Hermeneutik Fasst man das Gesagte zusammen, geraten hermeneutische Praktiken damit nicht allein in den Wissenschaften, sondern auch im Alltag und in der Politik unter Druck. An ihre Stelle treten Eindeutigkeiten, die aber ohne Bewusstseins­ qualität sinnlos sind und damit streng genommen auch keinen Erkenntniswert haben. So stellt sich der gegenwärtige Zustand gewissermaßen als technische

14 Eine Sprachauffassung, die diesen Umstand zur Geltung bringt, hat bereits William James vertreten, der in seinen Principles of Psychology behauptete, dass Bedeutungen durchaus in Form von Gespür und nicht von Content vorliegen  – somit nicht allein als syntaktische oder semantische Einheiten, die Computer prozessieren können: Er spricht sogar von einem „feeling of if“ – mit anderen Worten: einer Gerichtetheit auf das „then“ – oder einem „feeling of but“ und also dem Gespür eines Widerspruchs. Sowohl Syntax als auch Semantik sind für ihn mithin Sinn-Formungssysteme. Vgl. William James, The Principles of Psychology (1890), Bd. 1, New York: Dover, 1950, S. 246.

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Übersteigerung derjenigen Krisis dar, die Edmund Husserl bereits vor 86 Jahren als epistemologische Krise ausrief:15 Auch heute wird in einer umfassenden Rationalisierungsbewegung das menschliche Subjekt marginalisiert;16 als Wis­ senssubjekt scheint es angesichts höherer Intelligenzen ersetzbar geworden zu sein, als Alltagssubjekt findet es sich in einem Zustand ständiger Objektivierung. Von dieser Krise ist auch genau diejenige Dimension berührt, die den Geist (den Menschen als in seiner Mentalität immer lebendes und erlebendes Subjekt) und das Humanum (den Menschen als Subjekt und nicht nur objektivierbares Tier) ausmachen, dem Geisteswissenschaften und Humanities ihren jeweiligen Namen verdanken – und es liegt nahe, sich ernsthaft zu fragen, welche Aufgaben diese Wissenschaften fortan noch haben könnten, die nicht auf evidenzbasierte Weise besser zu erledigen wären. Es hilft in diesem Zusammenhang nicht, darauf hinzuweisen, dass die Geis­ teswissenschaften schon sehr viele Krisen ausgerufen haben, ja ihre Existenz­ berechtigung bisweilen sogar aus der eigenen Dauerkrise ableiten konnten. Denn die gegenwärtige Krise äußert sich anders: nicht in einer Abwehrbewegung gegen die objektivierenden Wissenschaften, sondern in einer Angleichung an sie. Auch die Geisteswissenschaften gehen seit langer Zeit – beginnend mit der formalistischen und strukturalistischen, weiterhin mit der kybernetischen und systemtheoretischen Theoriebildung und inzwischen auch im Rahmen der Digital Humanities – zunehmend in eine Richtung, in der sie sich von der Bewusstseins­ leistung der Wissenschaftler und von Fragen des subjektiven Sinns zugunsten objektivierbarer Wissensgegenstände emanzipieren. Mit Wilhelm Dilthey gespro­ chen, kommt damit das ‘Verstehen’ (also der vernunftgeleitete Nachvollzug) aus der Mode; stehen bleibt, was er das ‘Erklären’ (also die objektivierende Kausali­ tätskonstruktion) nannte.17 Es lässt sich somit erkennen, dass die Krise der Geis­ teswissenschaften ihr hermeneutisches Grundanliegen betrifft  – nämlich die Beschreibung von Sinn. Es ist nun an der Zeit, den Begriff des Sinns für diesen Aufsatz klarer zu definieren. Meine Definition folgt nicht Gottlob Freges Definition, die den Sinn zwar von der Bedeutung (also dem zu Deutenden) abgrenzt, aber von der sub­ jektiven Erscheinungsweise unterschieden wissen will, was seine Ausführungen

15 Vgl. Edmund Husserl, Die Krisis des Europäischen Menschentums und die Philosophie (1935), mit einer Einführung von Bernhard Waldenfels, Leipzig: CEP Europäische Verlagsanstalt, 2012. 16 Vgl. ebd., S. 68. 17 Vgl. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1970.

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phänomenologisch nur noch gegen seine Intention brauchbar erscheinen lässt.18 Wichtiger ist diejenige, die ein Wörterbuch leistet: Zunächst benennt das Wort die fünf oder mehr Sinne, mit anderen Worten: die Sinnlichkeit. Zudem erstreckt sich der Begriff ‘Sinn’ auf erkenntnisleitende Fertigkeiten oder Haltungen und das Gespür ihrer Ausübung – etwa wenn man einen Sinn fürs Wesentliche hat. Auch bezeichnet der Begriff das Bewusstsein (etwas ‘im Sinn’ haben), und zwar eben­ falls in einer Einheit von gedanklichem Gehalt und sinnlicher Gerichtetheit (‘der Sinn steht jemandem nach etwas’). Ferner bezeichnet das Wort auch eine Rich­ tung (etwa beim Urzeigersinn), denn althochdeutsch sinnan bedeutete ‘reisen’ oder ‘wandern’ – und der Uhrzeiger-Sinn hat diese Semantik noch erhalten. Und schließlich ist die Bedeutungsdimension des Wortes ‘Sinn’ immer auf die Gesamt­ situation und den Zusammenhang gerichtet – nicht auf partielle Semantik: Wenn ein Vorschlag Sinn ergibt, dann ist das mehr als nur eine Partialangelegenheit. Sinn ist damit ein Bewusstseinsphänomen; aber Bewusstsein lässt sich der sprachlichen Semantik nach umgekehrt auch als Sinnphänomen beschreiben.19 Es scheint auf der Hand zu liegen, dass eine vom Bewusstsein emanzipierte Intelligenz Sinn zwar objektivieren kann (ähnlich wie die Physik Schallwellen objektiviert), aber selbst nicht sinnfähig ist (ebenso wenig, wie die Analyse von Schallwellen etwas mit einer Klangfarbe zu tun hat). Und gerade damit stellt

18 Vgl. Gottlob Frege, „Über Sinn und Bedeutung“, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 100 (1892), S. 25–50. 19 Eine Bestimmung des Bewusstseins nicht als Reflexions-, sondern als basaleres Sinnphäno­ men liegt in der Tat näher, als es zunächst scheinen mag. Evolutionsgeschichtlich entwickelte es sich aus den emotiv-sensomotorischen Steuerungsfunktionen des Organismus; und so wundert es nicht, dass es selbst in seinen basalsten Formen – etwa dem Gespür – situationshermeneutisch und zugleich handlungsorientierend zu wirken scheint (vgl. etwa Matthew Ratcliffe, Feelings of Being, Oxford/New York: Oxford University Press, 2008). Es lässt sich ein entlang der obigen Bestimmungen beschriebener (sinnlich-emotiver und zudem handlungsgerichteter und insofern intentionaler) Sinn für bewusste Wesen zudem gar nicht erst vermeiden – man kann nicht nicht erleben, und dieses Erleben ist immer ein solches des Sinns im oben definierten Wortverständ­ nis; selbst das Gefühl der Sinnlosigkeit ist ein Gefühl, das den Organismus orientiert und seiner Lage eine sehr spezifische spürbare Gestalt verleiht. Auch wenn diese Gestalt diejenige eines Scheiterns von Deutungen ist, hat sie als solche doch ihren Sinn. So spricht auch aus phäno­ menologischer Hinsicht viel für die bereits von Martin Heidegger geäußerte Vermutung, dass Sinn (in seinen Begriffen: „Bedeutsamkeit“) ein primordiales und unhintergehbares Moment des Bewusstseins und Erlebens sei (so bereits in seiner Vorlesung aus dem Kriegsnotsemester 1919: „Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem“, in: ders., Gesamtausgabe, Abt. 2: Vorlesungen, Bd. 56/57, Frankfurt/M.: Klostermann, 1999, S. 3–119, hier: S. 75) – und dass das Bewusstsein insofern tatsächlich allererst ein Da-Sein ist, wenn es sich auch stärker als von Heidegger gedacht als Sinn-Organ verselbständigt und eine kulturell bestimmte Eigendynamik gewonnen hat.

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sich die Frage, inwiefern sich eine solche Intelligenz überhaupt als Intelligenz bezeichnen lässt. Für ihre Wirkweise gibt es in der Tat bislang nur Metaphern, die der Sphäre der bewussten Intelligenz entlehnt sind. So haben sich Formu­ lierungen etabliert, die Computern unterstellen zu ‘lernen’, zu ‘erkennen’, zu ‘entscheiden’, zu ‘wissen’ etc. – aber all dies sind eigentlich Tätigkeiten, für die es zumindest eines Bewusstseins bedürfte. Andererseits wäre es angesichts der eben beschriebenen Leistungen dieser Maschinen auch falsch zu sagen, dass die Software all dies nicht täte – und daher bietet sich eine Terminologie der doppel­ ten Negation an: also die Rede vom Nicht-Nicht-Denken, Nicht-Nicht-Entscheiden und so weiter. Der Unterschied liegt jeweils im Sinn und d.  h. im Bewusstsein des kognitiven bzw. nicht nicht-kognitiven Aktes. Der Unterschied zwischen Verstehen und Nicht-Nicht-Verstehen – d.  h. der hermeneutische Unterschied – ist dabei für die Frage dieses Aufsatzes am wich­ tigsten. Künstliche Intelligenz leistet bislang nur eine Art Nicht-Nicht-Hermeneu­ tik des bloßen Contents – und das bedeutet: Sie führt in eine Sinnvergessenheit des Wissens bzw. der von ihr geformten Lebenswelt.

4 Sinnvergessenheit Zum Verständnis der um sich greifenden Sinnvergessenheit und damit der Frage, welche epistemische Form ein solches Nicht-Nicht-Verstehen von Content bedingt (und von was für einer Episteme es umgekehrt bedingt wird), lohnt es sich, JeanFrançois Lyotards La condition postmoderne20 aus dem heutigen Blickwinkel neu zu lesen – einen Text, der am Anfang der sich gegenwärtig durchsetzenden Ent­ wicklung stand und daher eine Frische in seiner Analyse mitbringt, die heute unmöglich wäre; und ein Text, der ebenfalls die epistemologische, metho­ dische, technische und alltagskulturelle Dimension der oben beschriebenen Krisis zusammenbringt in einer allgemeinen conditio – eben nicht mehr humana, sondern postmoderna. Lyotard beschreibt die Folgen, die der Linguistic Turn als Ausdruck eines sich immer weiter auf Zeichenprozesse verschiebenden Denkens umriss; und er kon­ statiert die epistemologischen Parallelen dieses Denkens mit der Kybernetik. So erkennt er die Synergien von wissenschaftlichen Sprachspielen und technischer Informationsverarbeitung, um damit einen Umbruch innerhalb des Textgefüges einer lesbaren Welt ins Auge zu fassen, den er als Ende der Hermeneutik und als

20 Vgl. Jean-François Lyotard, La condition postmoderne, Paris: Seuil, 1979.

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Ende der von ihr gedeuteten Tiefe auf den Punkt brachte. Als Alternative dazu beschreibt er das Aufkommen einer neuen allgegenwärtigen Transparenz der alternativlos gewordenen Zeichenprozesse – mit geradezu allen gegenwärtigen Konsequenzen, inklusive eines möglichen Krieges um die größten Datenmengen. 1979, als Lyotards Buch erschien, waren diese Beobachtungen noch kaum durch konkrete technologische Entwicklungen gedeckt; man konnte sich schwer vorstellen, wie Bedeutung korrekt prozessiert werden konnte, ohne Opazitäten zu generieren – die dem menschlichen Bewusstsein nun einmal unhintergehbar eignen. Streicht man dieses Bewusstsein aber aus der Rechnung, dann verwirk­ licht sich nunmehr die conditio postmoderna auf eine noch viel radikalere Weise als eine conditio post-humana  – und Lyotard wird umso aktueller. Wenn über maschinelle Symbolmanipulation ein weltumspannender Text entsteht, der nicht mehr nur in metaphorischer Hinsicht autonom, subjektlos, intertextuell und dis­ seminierend ist, dann produziert die Episteme des Linguistic Turn ihre eigene, nicht mehr an ein humanum gebundene Wirklichkeit. Dass diese Realität nicht diejenige ist, die postmoderne und frühe posthumane Theoretiker zu beschreiben meinten, tritt dabei ebenfalls zutage: Denn was den nicht nicht-intelligenten Maschinen fehlt, ist erstens jene Proliferation der Ambi­ valenzen, die sie in der Unabschließbarkeit der Zeichenprozesse vermuteten – und zweitens jene Körperlichkeit, Intensität und Sinnlichkeit, die die meisten Pro­ tagonisten der Postmoderne (außer Lyotard) in der Materialität der Signifikanten witterten, die sich nun aber als ebenso sinn-los entpuppt wie der Content der Si­ gnifikate. Zur Veranschaulichung sei ein zweites Mal – allerdings an dieser Stelle weniger zustimmend – auf Yuval Noah Harari Bezug genommen, der die Ähnlich­ keit von genetischem Code und maschineller Codierung sowie die Ähnlichkeit des Gehirns als elektrischem Netzwerk mit den sogenannten Neural Networks der Computerentwicklung (die mit Neuronen als lebenden Zellen nichts und mit dem heutigen Stand der Hirnforschung kaum etwas zu tun haben) zum Anlass nimmt zu glauben, auch menschliches Verhalten sei algorithmisch bestimmt und damit „hackable“:21 So groß das Risiko auch ist, dass die überbordende Information, in die sich die menschliche Existenz mehr und mehr einfügt, gehackt werden kann, und so sehr man ein solches Szenario tatsächlich fürchten könnte: Was sich in Daten abbilden und als Datenrealität hervorbringen lässt, verhält sich doch noch immer zu lebendigem Bewusstsein so reduziert, wie der genetische Code eines Menschen zu der Form, die sein Körper und sein Bewusstsein und sein Leben in der physischen Welt einnimmt. Hararis Hypothese, dass Organismen als Algorith­ men beschreibbar seien, schleppt gerade in seiner Beschreibung der Leistung von

21 Vgl. Harari, Homo Deus, S. 428–462.

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Software den Ballast des Denkens jener vom Linguistic Turn geprägten Jahre mit sich, die sich somit genauer verstehen lassen – nämlich nicht als Konzentration einer Wissenschaftsepisteme auf die Sprache, sondern vielmehr als technisch und gesellschaftlich zur Geltung gebrachte Dominanz eines (per se alles andere als selbstverständlichen) Verständnisses von Sprache und Symbolsystemen, dem die Konstruktion der Wirklichkeit gefügig gemacht wurde. Wenn es für die Frage nach dem heutigen Sinn von Hermeneutik eine Lehre gibt, die sich aus dieser Entwicklung ziehen lässt, dann ist es diejenige, dass sie eine Alternative darstellt. Zwar ist die Episteme des Linguistic Turn und der Kyber­ netik in ihrer technischen Produzierbarkeit durchaus in der Lage, Wirklichkeiten hervorzubringen und zu steuern; doch geht ein hermeneutischer Ansatz davon aus, dass diese hervorgebrachten Wirklichkeiten trotz allem nur zur eigenen Welt aufgeblähte Beschreibungsmodi und Zeichenspiele sind, die man mit der Welt selbst nicht verwechseln sollte – und zwar insofern, als sie für sich genommen sinnlos sind. Auch wenn man andauernd von Software zum Nicht-Nicht-Denken erzogen wird (wofür die Selbstverständlichkeit der Frage, warum ich an mein Bewusstsein glauben könne, nur ein Beispiel ist), bleibt dieser hermeneutische Gestus eine Alternative. Ein Rückgriff auf Gedanken vor allem einer vermeintlich veralteten (weil vom Linguistic Turn noch kaum affizierten) Hermeneutik hilft zu verstehen, was der linguistischen conditio postmoderna als einer Text-Welt fehlt. Das Erkennt­ nisinteresse dieser Hermeneutik lag schließlich nicht in der Analyse von Texten als Zeichengeflechten, sondern in dem Verständnis von Bewusstseinsdynamiken im Umgang mit diesen Texten. Ihre Zentrierung sowohl auf den Sinn als auch auf ein vorgängig gesetztes Bewusstsein wurde der Hermeneutik zwar in den letzten Jahrzehnten zum Problem gemacht, ging sie doch mit einem Mangel an Objektivierbarkeit der Wissensgegenstände einher. Doch bleibt auch eine reine Konzentration der Beschreibung von Textlichkeit auf objektivierbare Zeichen­ konstellationen umgekehrt aus wissenschaftlicher Sicht problematisch: Die oben beschriebenen Eigenschaften einer sinn-vollen Sprachlichkeit sind nämlich ihrer­ seits nicht objektiv, sondern benötigen Verfahren der Einklammerung des sub­ jektiven Erlebens.

5 Die Grenzen der Textanalyse Gerade Verfahren der Textanalyse (denen hiermit ein kurzer Exkurs gewidmet sei) zeigen diesen Umstand auf. Denn solche meditativ-analytischen Einklamme­ rungstechniken sind dort zwar selbst eine hermeneutische Fähigkeit: sie erlauben

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es, die sprachliche Artikulation von spürbarem Sinn in Form einer Konzentration auf Bedeutungserstellung zu Bewusstsein zu bringen; und sie erlauben es damit, Texte daraufhin zu analysieren. Doch muss aus hermeneutischer Sicht auch darauf hingewiesen werden, dass diese Einklammerung des bewussten Erlebens eben nur eine Technik der Konstruktion von Wissensobjekten ist; und dass sie und damit die Trennung vom Wissenssubjekt niemals so konsequent durch­ geführt werden könnte, wie ein Verzicht auf die Beschreibung des subjektiven Sinns es nahe legte. Dies zeigt sich an blinden Flecken der Theoriebildung, die jeweils die Involvierung der Leserinnen und Leser betreffen, wenn es daran geht, einen Text als möglichst von keinem psychologisch bedingten Subjekt kontami­ niertes Forschungsobjekt zu bestimmen. Ausdruck davon sind z.  B. Metaphern für das, was ein Text alles scheinbar wie von Zauberhand tue – ‘thematisieren’, ‘sich reflektieren’, ‘evozieren’, ‘konstruieren’ etc. All diese Termini unterstellen dem Text eine Autonomie, die erstens den Buchstaben allein nie, sondern immer nur einer Lektüre im Vollzug eignen kann, und sie benennen Verfahren, die nur unter Einbezug eines Lesers oder einer Leserin funktionieren können, der oder die den Sinn in der oben beschriebenen Weise bereits mit in den Text einbringt. Der Ein­ druck, dass Texte derlei Aktivitäten selbst vollzögen, basiert indes auf einer vor­ geblichen, aber niemals wirklich vollzogenen Objektivierung. Was es stattdessen bedeuten würde, wenn Texte derlei Dinge tatsächlich selbst und autonom täten, zeigt die digitale Textverarbeitung, die Prozesse der Thematisierung, Reflexion, Evokation, Konstruktion etc. (im Nicht-nicht-Modus) faktisch prozessiert (ein Bei­ spiel dafür sind die oft erstaunlichen Ergebnisse der GPT-2- und inzwischen auch die GPT-3-Software22), dabei aber eben zu keinem Sinn gelangt.

22 Es handelt sich dabei um eine recht einfache Open-Source-Software, die automatisch Texte zu von Usern vorgegebenen Themen generiert. Ein vom Verfasser mit der Website „talktotransformer. com“ am 06.05.2020 durchgeführter Versuch ergab zum Thema der Hermeneutik z.  B. in wenigen Sekunden folgendes Ergebnis des Anfangs eines Essays: „There are many meanings to the term ‘hermeneutics’ and scholars of philosophy and religion have a long and distinguished history of looking at the subject. Today, a study of hermeneutics often includes the study of the history of the subject and its various disciplines. Hermeneutics holds some interesting ideas about human history and about our relationship to the material world. […] Hermeneutics is central to the study of religion, but its study also includes that of social and political thought. Certainly a wide range of topics would benefit from a study of the topic, and some of these are discussed below […].“ Gewiss hätte das Ergebnis durchdachter ausfallen können, doch die Software arbeitet teils sogar mit Quellenangaben auf eine Weise, deren Potential – vergleicht man solche Resultate mit der Entwicklung von Online-Übersetzungen aus der Zeit von babelfish.com von 1995 mit der Leistung heutiger Übersetzungsprogramme  – einem Vergleich mit der analytischen und theoretischen Arbeit von Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftlern unter Absehung eben der Sinn-Phänomene durchaus bald standhalten könnte.

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Damit soll nicht gesagt sein, dass die Einklammerung der vereinnahmten und involvierten subjektiven Lese-Erlebnisse nicht eine wichtige hermeneutische Technik darstellte, die das reflexive Potential der Hermeneutik als Auslegungs­ methode auch überhaupt erst ermöglicht; auch die besagten Metaphern erfüllen eine wichtige Funktion bei der Ausbildung einer Haltung und Fertigkeit, die eine subjektive Verstrickung in Texte in die jeweilige kontingente Befindlichkeit eines Bewusstseins zu kontrollieren erlauben. Sie dienen einer Haltung des Deutens als einer sich-herausdenkenden Praxis. Doch sollte nicht vergessen werden, dass sie zugleich das Missverständnis befördern, jenen Text, den sie vorzufinden meinen, überhaupt erst als solchen konstituieren zu helfen. Würde man sie indes zur vollen Konsequenz bringen (und wie gesagt ist die technische Realisierung dieser Konsequenz ein nicht mehr auszuschließendes Szenario), dann stehen sie einer Erkenntnis des Textes auch im Weg, insofern sie einer Sinnvergessenheit ebenfalls im Bereich der Textauslegung Vorschub leisten. Dieser Sinnvergessenheit auf eine neue und umsichtige Weise zu begegnen, erfordert hingegen, das Bewusstsein und Erleben nicht hinter Verfahren der Objektivierung zum Verschwinden zu bringen. Denn in ihrer Abwendung vom Sinn und ihrer Hinwendung zur Bedeutung hat die hermeneutische Praxis nach Gadamer nicht nur das Bewusstsein als ihren blinden Fleck festgeschrieben. Sich dieser Entwicklung entgegenzustellen mag reaktionär erscheinen; eine auf den Sinn und das Bewusstsein der Leserinnen und Leser fokussierte Hermeneu­ tik setzt zumindest rudimentär auf Formen des Erlebens, wird es doch schwer möglich sein, einen Text als wissenschaftlichen Gegenstand auffassen zu können, der sich forschend objektivieren ließe. Doch lässt sich – etwa unter Rückgriff auf Daniel Stern23 – zumindest jene Feier der Ergriffenheit eines edlen Gemüts oder tiefen Geistes vermeiden, für die eine ältere Hermeneutik oft zu Recht in Miss­ kredit geraten ist. Vitalitätsform und Symbolsystem sind nicht dasselbe, genauso wenig wie Sinn und Bedeutung es wären. Sie zu vermitteln ist eine Aufgabe, der sich eine wissenschaftliche Objektivierungsbewegung nicht stellt  – wohl aber eine Hermeneutik. Dieser wieder zu ihrem Recht zu verhelfen bedeutet, sich nicht mehr auf die Suspendierung des Textes als Vitalitätsform einzulassen, sondern diese – und nicht einen vom Subjekt unabhängigen Text – zum eigentlichen Aus­ tragungsort der eigenen Forschung zu machen, mit anderen Worten: den Humanities den Fokus auf das Humane zurückzugeben und den Geisteswissenschaften wieder Geist einzuhauchen.

23 Vgl. Daniel N. Stern, Forms of Vitality. Exploring Dynamic Experience in Psychology and the Arts, Oxford/New York: Oxford University Press, 2010.

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Die distanzierte Analyse wäre damit aber nicht mehr das einzige Ziel der her­ meneutischen Arbeit – auch die erlebende Seite des Lesens würde in einer solchen Hermeneutik in einer Art umgekehrtem, gleichermaßen von der Bedeutung zum Sinn gehenden hermeneutischen Zirkel – eine entscheidende Rolle spielen. Eine Text-Hermeneutik erfordert in diesem Sinne nicht nur analytische Distanzierung, sondern auch den Wechsel von Distanzgewinn und Involvierung: Einen Wechsel, den vor allem erzählende Literatur leisten kann, indem sie ihre Leserinnen und Leser in einen Wechsel von Distanznahme und Immersion, von Reflexion und Involvierung zu schicken vermag.24

6 Die Chancen des Erzählens Die Frage ist nun, ob sich etwas Ähnliches auch für die größeren Fragen der Her­ meneutik behaupten lässt: ob, was für den Umgang mit Texten gilt, auch den Umgang mit einer von symbolmanipulierenden Verfahren generierten Lebenswelt betrifft. Im Folgenden soll daher umrissen werden, wo die Chancen und Grenzen der Hermeneutik in Hinblick auf die größere Sinnvergessenheit liegen. Auch hier hilft Lyotard. Mit demselben Scharfsinn, mit dem er seine Zeit dia­ gnostizierte (und die unsere prognostizierte), machte er das postmoderne Zeitalter weniger am Ausfall der Hermeneutik als vielmehr an demjenigen der grands récits fest. Er begriff diese récits als recht einfache Narrative: maßgeblich waren für ihn eine Organisation des Sinns qua vorbildhafter Helden, eine Organisation der Pragmatik der Rede und also der Sprecher, eine Organisation von Sprachspielen oder Diskursen, die diese Sprecher verwenden, und schließlich eine Organisation der Zeitlichkeit im Plot. Wenn zum Abschluss dieses Beitrags die Frage nach dem Ausfall der Erzäh­ lungen als paradigmatisch für die umrissene Sinnvergessenheit stehen soll, dann bedeutet das nicht, dass den von Lyotard verabschiedeten Narrativen eine triumphale Rückkehr gewünscht oder gar der Marketing-Forderung nach einem ‘Narrativ’ gefolgt werden soll. Auch dürfen die epistemologischen und ideologi­ schen Gefahren nicht heruntergespielt werden, die in einer Hinwendung zum Erzählerischen auf Kosten des Kritischen lauern: Bei ihrer spezifischen Form der Evidenzerstellung können auch Erzählungen zu illegitimen Eindeutigkeiten führen  – und gerade diese hatte Lyotard vor Augen. Allein: falsche Evidenzen und illegitime Eindeutigkeiten sind auch nicht-erzählenden Denkformen alles

24 Vgl. hierzu Jan Söffner, Partizipation, Paderborn: Fink, 2014.

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andere als fremd; und umgekehrt sind Erzählungen nur dann Generatoren täu­ schender Eindeutigkeit, wenn sie in sehr knapper, sehr reduzierter und sehr ver­ eindeutigender Gestalt vorliegen. Das ist aber im Bereich der Erzählformen ein Sonderfall. Die von Lyotard beschriebene ideologische Funktionalität ist insofern nur eine – und zwar eine denkbar unliterarische – Seite dessen, was Erzählungen in epistemologischer Hinsicht leisten. Die vielen Formen narrativ-epistemologi­ scher Komplexität lassen sich gerade durch die Hermeneutik belegen, die schon immer in der Lage war, selbst die größte gefühlte Eindeutigkeit, in dem Moment, da sie in den Status eines gedanklichen Gehalts überführt wird, im Modus der Ambiguität zurückzulassen. Dieser Hang zur Uneindeutigkeit ist nicht etwa die Folge von Überinter­ pretationen oder einer philologischen Berufskrankheit. Er hat viel mehr mit der Unverrechenbarkeit des in Erzählungen gebündelten und im Umgang mit ihnen erlebbaren Sinns als mit den Möglichkeiten eindeutiger Auslegungen zu tun. Die Lebendigkeit einer Erzählung geht fast grundsätzlich aus Konflikten hervor, d.  h. aus der verzeitlichten und subjektiv als Sinn erlebbaren Entsprechung dessen, was in einer Logik des Content Widersprüche, Ambivalenzen oder Zweifel wären. Erzählungen erfordern das Nach- oder Miterleben einer Spannung, nicht den Nachvollzug einer Problemlösung. Qua Erzählen leistet man somit zwar durchaus ebenfalls eine Art von Welt- und Bedeutungsorganisation; aber es ist dies nicht primär eine Organisation von Information als analysierbare Kausalität; vielmehr handelt es sich um eine Organisation von Sinn-Relevanz als (oft spannungsrei­ che) Zeit-Form, die nicht taxonomisch, sondern entlang einer Erlebens-Dynamik funktioniert. Dies führt zu einer anderen Form des Verstehens und Erkennens – einer Form, die das Mit- und Nacherleben erfordert und nutzt und die sich etwa im Unterschied des Verständnisses für das Paris des frühen 19.  Jahrhunderts nach Lektüre eines historiographisch-soziologischen Traktats und eines BalzacRomans niederschlägt: die Relevanzorganisation etwa von sprechenden Details des Dekors, die für den analysierenden Blick von außen sich als etwas anderes darstellt als für den immersiv gewonnenen Blick von innen. Für Letzteren verläuft die Relevanzorganisation entlang der Handlung und der in sie involvierten Sub­ jekte, und das heißt: anhand der Ausarbeitung ihrerseits per definitionem ambiger Konflikte. Erzählungen sind wie kaum eine andere Form der Wirklichkeitskon­ struktion dazu in der Lage, diese beiden Haltungen ineinander zu verschränken und gegeneinander auszuspielen. Und viel häufiger, als zu falschen Vereindeuti­ gungen zu führen, sind Erzählungen diesen gegenüber gerade resistenter als auf Thesen konzentrierte und ihre Relevanz in Kausalitäten organisierende Analysen. Damit bietet sich gerade eine erzählerische Haltung als Alternative zu jener in der digitalen Intelligenz flächendeckend zu beobachtenden solutionis­ tischen bzw. lösungsorientierten Weltsicht der objektivierenden Klasse und der

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informationsverarbeitenden Technologien an, für die zumindest die soziale, wirtschaftliche und politische Welt aus diskreten Problemen besteht, die nach Lösungen schreien – oder aus Entscheidungen, die spieltheoretisch beschreibbar sind. Einer erzählerischen Haltung ist fast schon auf den Weg gegeben, solchen Haltungen zu misstrauen – und zwar nicht nur wegen eines zu unterstellenden kritischen Gestus, sondern bereits schlicht aus poetischen Gründen: Mit den fürs Erzählen konstitutiven Konflikten gehen Lösungsorientiertheit und Spieltheorie notorisch zu einfach um. Narrative Konflikte sind immer eingebettet in Hand­ lungszusammenhänge, Haltungen, Neigungen, Überzeugungen, charakterliche Eigenheiten usw. Erzählerische Konflikte sind bedingt, involviert, motiviert und interessiert  – und gerade dadurch so ergiebig für reflexive Distanznahme. Sie sind intentional auf eine Weise, die nicht per se ‘gegenstandsgerichtet’, sondern spannungsgerichtet ist. Man kann hier etwa an William Faulkners Nobelpreisrede erinnern, in der er „the human heart in conflict with itself“25 als den einzigen des Schreibens würdigen Gegenstand ansah – eine Formulierung, aus der sowohl das immersive als auch das reflexive Potential seiner Poetik spricht. All dies ist ohne subjektive Sinn-Formen undenkbar; und es wundert daher auch nicht, dass Erzählungen dazu in der Lage sind, Charaktere auf einen nach­ vollziehbaren (weil nacherlebbaren und insofern sinnvollen) Punkt zu bringen, während eine Auflistung oder empirische Analyse von Charaktereigenschaften kaum fähig sind, Menschen in dem Sinn ihrer Handlungen vor Augen zu stellen. Umgekehrt wundert es nicht, dass es so leicht ‘persönlich’ und damit ‘subjektiv’ wird, sobald man zu erzählen anfängt, denn auch Subjekte offenbaren sich nicht in einer objektivierbaren und für die Objektivierung aus ihrem Kontext und aus ihrer Verstrickung in Geschichten (um es mit Wilhelm Schapp zu sagen)26 heraus­ präparierbaren Form, die aber kaum Evidenz erzeugen kann – zumindest nicht im traditionellen Sinne des Wortes, nur in demjenigen evidenzbasierter Methoden. Bloß unter Absehung von dieser Handlungseingebundenheit lassen sie sich auf einen Analysegegenstand reduzieren, der aber umgekehrt nach Faulkner nicht erzählenswürdig, vielleicht nicht einmal sonderlich gut erzählbar wäre. Für eine Hermeneutik, der in dem gerade umrissenen Zeitalter unerwartete Aktualität zukommt, sind Erzählungen damit geradezu paradigmatisch – sie bündeln jenen Sinn, der zu Bewusstsein und nur zu Bewusstsein kommen kann. In der Tat ist der epistemische Mehrwert von Erzählformen auch innerhalb der Wissenschaften kaum zu übersehen. Clifford Geertz etwa verwendete erzäh­

25 Nobelpreisrede 1950, zitiert nach: https://www.nobelprize.org/prizes/literature/1949/faulkner/ speech/ (zuletzt abgerufen: 04.02.2021). 26 Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt (1953), Frankfurt/M.: Klostermann, 52012.

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lerische Elemente in seiner Thick Description,27 um kulturelle Situativität auf den Punkt zu bringen. Erzählte Motivationen sind Gegenstand der juristischen Herme­ neutik, aber auch der Psychotherapie, erzählte Subjektivität bringen Oral History und Life Writing auf den Punkt. Der Philosoph Pierre Cassou-Noguès bestimmt sogar die Grenzen dessen, was an philosophischer Spekulation sinnvoll ist, anhand der Frage, ob sie als Erzählung funktioniert.28 Jede dieser Methoden setzt dabei analytische Distanz mit erzählerischem Sinn ins (mehr oder weniger wider­ sprüchliche) Verhältnis, so dass eine hermeneutische Dimension und eine Form subjektiver Evidenz möglich werden, die rein analytischen Verfahren entgangen wäre. Doch auch in der Gegenwartskultur spricht einiges dafür, dass Erzählungen genutzt werden, um einer faktenkonzentrierten Episteme des Post- oder Hyper­ faktischen29 beizukommen und dem bloßen Content Vitalitätsformen und damit Sinn zu verleihen. Dabei geht es weniger um eine ideologische Sinnstiftung als um eine solche, die die Befindlichkeit erreicht; auch geht es nicht um große, sondern um lange Erzählungen: Zusehends dicker werdende Romane stehen auf den Bestseller-Regalen, gleichzeitig entstehen endlose TV-Staffeln oder narrative Videospiele, die über zig Levels gehen und ihre Spielerinnen und Spieler oft Wochen oder Monate beschäftigen. Diese Entwicklung widerspricht einer Zeit, die sich als sprunghaft, als gehetzt und als faktenhungriges Informationszeitalter versteht. Sie entspricht hingegen vielleicht durchaus dem Versuch, einem solchen Zeitalter Sinn zu verleihen und den Alltag durch ein Leben mit Geschichten Orien­ tierung zu verleihen, die gewissermaßen dem lebendigen Sinn Form verleihen. Und es fällt leicht zu vermuten, dass Erzählformen in Netflix-Formaten ebenfalls maßgeblich dazu beigetragen haben, der überobjektivierten Zeit der Corona-Qua­ rantänen Sinn abzutrotzen. Auch hier geht es nie um die Einfachheit von grands récits, sondern um die Formung einer als Spannung spürbaren Ambiguität, die die hinter der vereindeutigten und doch überinformierten Welt verschwindende Komplexität zwar nicht wieder zur Erscheinung bringt, aber zumindest spürbar machen könnte.

27 Clifford Geertz, „Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight”, in: Daedalus 101 (1972), H. 1, S. 1–37. 28 Vgl. Pierre Cassou-Noguès, Mon zombie et moi. La philosophie comme fiction, Paris: Seuil, 2010. 29 Vgl. Jan Söffner, „Truth Politics – Warum wissenschaftliche Expertise und parlamentarische Demokratie gleichzeitig in die Krise geraten sein könnten“, in: Günter Blamberger/Axel Frei­ muth/Peter Strohschneider (Hrsg.), Vom Umgang mit Fakten. Antworten aus Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, Paderborn: Fink, 2018, S. 131–141.

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Das bedeutet natürlich nicht, dass der hier beschriebene Sinn sich der Ob­ jek­ti­vierungs­bewegung insofern entziehen könnte, als er für sie unkontrollier­ bar wäre: er ist nur von ihr nicht als solcher einzuholen, wohl aber lässt er sich kontrollieren und generieren. Vieles am erzählerischen Sinn ist bereits heute in dem Sinne ‘hackable’, als man den erlebenden Nachvollzug in seinen messbaren ‘Effekten’ durchaus rastern kann und diese Raster sich dann für eine SoftwareGenerierung nutzen lassen.30 Erzählungen eignen sich somit zwar dafür, denje­ nigen Sinn zu bündeln, der einer künstlichen Intelligenz ob ihres mangelnden Bewusstseins nicht zugänglich ist – sie selbst und ihre eigene sprachliche Form sind aber durchaus durch künstliche Intelligenzen potenziell abruf- und generier­ bar. Und damit stellt sich auch die Frage, ob Sinn und mit ihm Hermeneutik wirk­ lich Zukunftsgrößen sein können in einer Zeit, in der die conditio postmoderna keine bloß epistemische, sondern auch technologische Realität geworden ist. Diese Frage lässt sich anhand eines 1986 erschienenen Aufsatzes von Milan Kundera mit dem Titel L’Art du roman31 diskutieren. Kundera leitet seine Überle­ gungen mit dem Gedanken ein, dass die um das menschliche Dasein bekümmerte Phänomenologie aus der Erzählung hervorgegangen sei – oder besser: aus der Erzählung hätte hervorgehen können oder müssen. Denn der neuzeitliche Roman habe sich längst um just das gekümmert, was für Husserl die von den Wissen­ schaften vergessene Lebenswelt und für Heidegger das ebenso vergessene Sein war (und in diesem Aufsatz als Sinn anders perspektiviert wurde). Kunderas Befund ist zumindest aus kulturhistorischer Sicht so evident, dass es wundert, warum die Phänomenologie auf diese Idee nicht früher gekommen ist – warum etwa Husserl in seiner oben zitierten Krisis des europäischen Menschentums32 für den Begriff der Lebenswelt nicht auf Balzac verweist oder warum Heidegger die Trennung von Mythos und Logos zum Gegenstand ausgiebiger Reflexionen macht – ohne dabei dem Mythos zu einem epistemologischen Recht zu verhelfen.33 Der eigentliche Punkt des Aufsatzes ist indes eine Krise des Romans, die Kundera nicht aus dessen Poetologie, sondern aus dessen epistemischem und ideologischem Umfeld herleitet. Seine Abhandlung beschränkt sich nicht auf die Feier der erzählerischen Methoden einer alternativen Phänomenologie als Alternative zur Seinsvergessenheit (die sich entlang der Argumentation dieses Textes aber vielleicht eher als Sinnvergessenheit beschreiben ließe). Er beschreibt

30 Vgl. Jodie Archer/Matthew L. Jockers, The Bestseller Code – Anatomy of the Blockbuster Novel, New York/London: Penguin, 2016. 31 Vgl. Milan Kundera, L’Art du roman, Paris: Gallimard, 1986. 32 Vgl. Husserl, Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie. 33 Vgl. z.  B. Heidegger, Was heißt Denken?.

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vielmehr eine Epoche der Eindeutigkeit und der Notwendigkeit, unter deren Bedingung der Roman keinen Sinn mehr ergebe. Als Kundera den Text verfasste, verortete er dieses Problem in der politischen Realität des Totalitarismus, die, ebenso wie die technisierte Realität des gegenwärtigen Wissens, der Ambivalenz und der Pluralität den Krieg erklärt hatte. Man sollte auch nicht vergessen, dass die meisten Totalitarismen, vor allem diejenigen des Kommunismus, die Kundera besonders im Auge hatte, sich wissenschaftlich zu begründen versuchten. Mit anderen Worten: Die Politik begriff sich auch dort als Handlanger eines objektiv Notwendigen und Faktischen. Gewiss liegt zwischen den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts einerseits und der Übermacht der Fakten im 21. Jahrhundert andererseits eine enorme Kluft. Vor allem der Fokus der Vereindeutigungsbewegung ist bei Kundera ein anderer. Prägend für die Spannung zwischen neuzeitlichem Roman und Totalitarismus ist in seinem Text vor allem die Spannung zwischen Kontingenz und ihrer Ver­ eindeutigung zur ideologisch gesetzten und bürokratisch realisierten Notwen­ digkeit. Gleiches gilt für die Spannung zwischen dem nicht festgelegten Subjekt und der Vereindeutigung seiner Stellung im Kollektiv. Was ich als computierte conditio postmoderna umrissen habe, läuft stattdessen im Kern weniger auf eine ideologische als auf eine technische Erschließung des sinnvergessenen Contents hinaus. Doch das Problem bleibt ähnlich: Setzt sich das Wissen mit dem kon­ tingenten, subjektiven Sinn nicht mehr ins Verhältnis, sondern wird Ersteres auf Kosten des Letzteren allzu dominant, dann hat nicht nur der Roman, sondern auch der Sinn keinen epistemischen Ort mehr. Je mehr man die Komplexität des Daseins einer potenteren, aber unbewussten Intelligenz überlässt, desto weniger setzt man sich gerade jenen Situationen aus, in denen er sich in seiner Zwitter­ position zwischen Objektivierung und subjektivem Sinn überhaupt erst entfalten kann – und je mehr man den Sinn des Romans seinerseits ‘hackt’, desto weniger wird sich das Erzählen selbst dieser Entwicklung entziehen können. Begreift man einen solchen Befund, wie Kundera es tut, als paradigmatisch für eine Epoche, dann käme dies nicht nur einer neuen Unmöglichkeit der Hermeneutik gleich; diese Unmöglichkeit wäre vielmehr Ausdruck eines Eintritts des Menschen in seine selbstverschuldete Sinnlosigkeit.

Verzeichnis der zitierten Literatur Archer, Jodie/Matthew L. Jockers, The Bestseller Code – Anatomy of the Blockbuster Novel, New York/London: Penguin, 2016. Bauer, Thomas, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen: Reclam, 2018.

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Bostrom, Nick/Eliezer Yudkowsky, „The ethics of artificial intelligence”, in: Keith Frankish/ William M. Ramsey (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Artificial Intelligence, Cambridge: Cambridge University Press, 2014, S. 316–334. Cassou-Noguès, Pierre, Mon zombie et moi. La philosophie comme fiction, Paris: Seuil, 2010. Dilthey, Wilhelm, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1970. Frege, Gottlob, „Über Sinn und Bedeutung“, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 100 (1892), S. 25–50. Geertz, Clifford, „Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight”, in: Daedalus 101 (1972), H. 1, S. 1–37. Harari, Yuval Noah, Homo Deus. A Brief History of Tomorrow (2015), New York: Vintage, 2017. Martin Heidegger: „Die Frage nach der Technik“ (1953), in: ders., Die Technik und die Kehre, Stuttgart: Klett Cotta, 1962, S. 5–36. Heidegger, Martin, Was heißt Denken? (1951), Tübingen: Niemeyer, 41984. Heidegger, Martin, „Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem“, in: ders., Gesamtausgabe, Abt. 2: Vorlesungen, Bd. 56/57, Frankfurt/M.: Klostermann, 1999, S. 3–119. Husserl, Edmund, Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie (1935), mit einer Einführung von Bernhard Waldenfels, Leipzig: CEP Europäische Verlagsanstalt, 2012. Hutto, Dan/Eric Myin, Radicalizing Enactivism: Basic Minds without Content, Cambridge, MA: MIT Press, 2012. James, William, The Principles of Psychology (1890), Bd. 1, New York: Dover, 1950. Kundera, Milan, L’Art du roman, Paris: Gallimard, 1986. Luhmann, Niklas, Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag, 21996. Lyotard, Jean-François, La condition postmoderne, Paris: Seuil, 1979. Miller, George A., „The magical number seven, plus or minus two: Some limits on our capacity for processing information“, in: Psychological Review 63 (1956), H. 2, S. 81–97. Peirce, Charles Sanders, „Deduction, Induction, and Hypothesis“, in: Popular Science Monthly 13 (1878), S. 470–482. Polanyi, Michael, The Tacit Dimension (1966), Gloucester, MA: Peter Smith, 1983. Ratcliffe, Matthew, Feelings of Being, Oxford/New York: Oxford University Press, 2008. Schapp, Wilhelm, In Geschichten verstrickt (1953), Frankfurt/M.: Klostermann, 52012. Soeffner, Hans-Georg, Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt/M: Suhrkamp, 1987. Söffner, Jan, Partizipation, Paderborn: Fink, 2014. Söffner, Jan, „Truth Politics – Warum wissenschaftliche Expertise und parlamentarische Demokratie gleichzeitig in die Krise geraten sein könnten“, in: Günter Blamberger/Axel Freimuth/Peter Strohschneider (Hrsg.), Vom Umgang mit Fakten. Antworten aus Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, Paderborn: Fink, 2018, S. 131–141. Stern, Daniel N., Forms of Vitality. Exploring Dynamic Experience in Psychology and the Arts, Oxford/New York: Oxford University Press, 2010.

Gabriele Gramelsberger

Hermeneutik der Maschinen und Maschinenalgorithmen 1 Einleitung Es scheint wenig naheliegend, nach der Hermeneutik von Maschinen und Algo­ rithmen zu fragen, da Maschinen für eine eindeutige Funktionalität konstruiert sind und Algorithmen als explizite Maschinenanweisungen per Definition keinen Spielraum für Interpretationen, für Ambiguitäten, für ein Vielleicht-so-oder-auchanders-Sein offen lassen. Leitet man Algorithmen, wie es irrtümlich gerne gemacht wird, von Rezepten ab – beispielsweise Backrezepten mit Prisen von Diesem und Jenem –, dann schleicht sich hier die Freiheit der Interpretation der backenden Hausfrauen und -männer ein. Doch Maschinenalgorithmen sind gerade keine Backrezepte. Wären sie welche, würden die Maschinen, auf denen sie laufen, per­ manent abstürzen, insofern Computer mit Vagheiten nicht umzugehen wissen. Maschinenalgorithmen müssen daher notwendigerweise eindeutige Handlungs­ vorschriften zur Lösung von Problemen oder Klassen von Problemen sein, die in einem endlichen Text eindeutig beschreibbar (Finitheit) und tatsächlich aus­ führbar sind (Ausführbarkeit) und die dafür nur endlich viele Schritte benötigen dürfen (Terminierung). Darüber hinaus sollten sie bei denselben Voraussetzungen das gleiche Ergebnis liefern (Determiniertheit) und sparsam bezüglich Ressour­ cen, Rechenzeit und Speicherplatz sein (Effizienz). Das Faszinierende an Algorith­ men ist, dass sie als ‘operative Schriften’ Handlungen notieren und gleichzeitig ausführen.1 Sie sind formalsprachliche Texte von Produzenten (Programmierern), die durch Maschinen (Computer) interpretiert werden.2

1 Vgl. Sybille Krämer, „‚Operationsraum Schrift‘: Über einen Perspektivenwechsel in der Be­ trach­tung der Schrift“, in: Gernot Grube/Werner Kogge/Sybille Krämer (Hrsg.), Kulturtechnik Schrift. Die Graphé zwischen Bild und Maschine, Fink: München, 2005, S. 23–60; Gernot Grube, „Autooperative Schrift – und eine Kritik der Hypertexttheorie“, in: Grube/Kogge/Krämer (Hrsg.), Kulturtechnik Schrift, S. 81–114. 2 Im Kontext formalsprachlicher Texte von Algorithmen finden sich verschiedene Formen der Interpretation, allen voran Interpreter – Computerprogramme, die die Programmieranweisungen in Maschinencode übersetzen, die ein Computersystem direkt ausführen kann. Auch lassen sich Softwareprogramme durchaus mit literaturwissenschaftlichen Textmodellen wie dem von Gérard Genette beschreiben. Vgl. Gabriele Gramelsberger, „Intertextualität und Projektionspotenzial von Klimamodellen“, in: Daniel Weidner/Stefan Willer (Hrsg.), Prophetie und Prognostik: Verfügungen über Zukunft in Wissenschaften, Religionen und Künsten, München: Fink, 2013, S. 209–225; Gérard https://doi.org/10.1515/9783110698084-002

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 Gabriele Gramelsberger

Wie und vor allem warum soll also im Falle der Maschinen und ihrer Algo­ rithmen nach deren Hermeneutik gefragt werden? Noch dazu, wenn Hermeneutik aufgrund ihrer subjektivistischen Verfassung einerseits und ihres monolithischen Deutungsanspruchs andererseits ‘unter Verdacht’ geraten ist, insbesondere die literaturwissenschaftliche Hermeneutik? Sollten sich die Mechaniker und Algo­ rithmiker da nicht über ihre Interpretationsintoleranz freuen, über den Umstand, dass sie nomothetisch und objektiv eine Welt von Maschinenzuständen erschaf­ fen? Weder Maschinen noch Algorithmen geben Erklärungen, noch bedürfen sie scheinbar des Verstehens; sie sind Setzungen maschineller und digitaler Sach­ verhalte  – Letztere mithilfe mathematisch-informatischer Semiosen operativer Schriften. Dadurch erschaffen sie nichts weniger als einen neuen Raum der Empirie, der im Falle der Algorithmen als Datenempirie lebensweltliche Sachver­ halte ins Digitale bannt – zumindest einen stetig wachsenden Teil davon – und damit womöglich der Vereindeutigung der Welt Vorschub leistet.3 Und doch, so der Versuch des vorliegenden Beitrags, lässt sich von einer Hermeneutik der Maschinen und ihrer Algorithmen sprechen. Dieser Versuch ist durch die These motiviert, dass wir aktuell Zeugen eines Programms der totalen Lesbarkeit der Welt durch Maschinenalgorithmen sind. Dieses Programm gene­ riert sich aus der umfassenden Verlagerung von Entscheidungen, Prozessabläu­ fen, Objekt- und Maschinensteuerungen, von Organisationsformen, Arbeits- und Kommunikationsweisen sowie zunehmend von Wahrnehmungsleistungen in die Algorithmen.4 In Softwareprogramme eingebettete Algorithmen sorgen dafür, dass in 60 Sekunden 3,8  Millionen Suchanfragen bei Google lanciert, 243.000 Fotos bei Facebook und 65.000 Fotos bei Instagram hochgeladen, 156 Millionen E-Mails verschickt oder 1,5 Millionen Songs bei Spotify gestreamt werden können.5

Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, übers. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, hrsg. von Karl Heinz Bohrer, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1993. 3 Vgl. Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen: Reclam, 2018. 4 Insbesondere die zunehmenden Wahrnehmungsleistungen von Algorithmen sind besorgnis­ erregend, zum einen als über Sensoren vermittelte, prozessierte und interpretierte Zustandsdaten über Um- und Lebenswelten, zum anderen als immer umfassendere Leistungen der Mustererken­ nung durch Verfahren des maschinellen Lernens. Vgl. Gabriele Gramelsberger, „Algorithm Aware­ ness. Towards a Philosophy of Artifactuality“, in: Bernd Bösel/Serjoscha Wiemer (Hrsg.), Affective Media and Policy, Lüneburg: Meson Press, 2020, S. 41–49; dies., „Emotion Mark-up Language – Die Maschinenlesbarkeit menschlicher Expressivität“, in: Martina Heßler (Hrsg.), Technikemotionen (= Geschichte der technischen Kultur, Bd. 9), Paderborn: Schöningh, 2020, S. 385–397. 5 Vgl. Statista Research, „60 Sekunden im Internet“ (Stand 2017), in: statista.com, https://de. statista.com/infografik/13156/das-passiert-in-60-sekunden-im-internet/ (zuletzt abgerufen: 19.01.2021).

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Bereits heute vernetzt das Internet der Dinge mehr als fünf Milliarden ‘intelligente’ Objekte (IoT endpoints).6 Entsprechend ist ein Großteil der Internetkommunika­ tion mittlerweile reine Maschine-Maschine-Kommunikation. Maschinenlesbarkeit avanciert damit zum Imperativ der technologischen Gesellschaft.7 Das aktuelle Programm der totalen (Maschinen-)Lesbarkeit der Welt würde in seiner enormen Reichweite und Durchschlagskraft die Romantiker des 18. Jahr­ hunderts vor Neid erblassen lassen8 – gleichwohl der theologische Unterbau ver­ lorengegangen und das zu interpretierende Weltbuch damit ein ‘leeres’ gewor­ den ist. Freilich ist „die Welt als Buch über nichts“9 jene Welt der akribischen „Formularwesen“,10 welche die Erscheinungen in ihrer Buchstäblichkeit als „indirekte Mathematisierung […] der erfahrbaren spezifisch sinnlichen Quali­ täten (‘Füllen’)“ mithilfe von Maschinen registrieren, an Algorithmen delegieren oder ganz und gar „ex datis“ rekonstruieren.11 Es ist dies eine Welt, die sich dem neuzeitlichen Projekt der Operationalisierung der Erfahrung und des Denkens verdankt, innerhalb dessen Maschinen zum Inbegriff des konstruktiven Verste­

6 „Building automation, driven by connected lighting devices, will be the segment with the lar­ gest growth rate in 2020 (42 %), followed by automotive and healthcare, which are forecast to grow 31 % and 29 % in 2020, respectively.“ (Gartner, Inc., „Gartner Says 5.8 Billion Enterprise and Automotive IoT Endpoints Will Be in Use in 2020“, in: gartner.com, 29.08.2019, https://www. gartner.com/en/newsroom/press-releases/2019-08-29-gartner-says-5-8-billion-enterprise-andautomotive-io [zuletzt abgerufen: 19.01.2021].) 7 Vgl. § 20 der Datenschutz-Grundverordnung vom 25.05.2018, https://www.bmi.bund.de/Shared Docs/faqs/DE/themen/it-digitalpolitik/datenschutz/datenschutzgrundvo-liste.html (zuletzt abgerufen: 20.12.2019). 8 Vgl. Johann Wilhelm Ritter, Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Ein Taschen­ buch für Freunde der Natur (1810), hrsg. von Steffen und Birgit Dietzsch, Leipzig/Weimar: Kiepen­ heuer, 1984. Vgl. Benjamin Specht, Physik als Kunst: Die Poetisierung der Elektrizität um 1800, Berlin: de Gruyter, 2010; Armin Hermann, „Unity and metamorphosis of forces (1800–1850): Schelling, Oersted and Faraday“, in: Manuel G. Doncel et al. (Hrsg.), Symmetries in Physics (1600–1980), Barcelona: Universitat Autònoma de Barcelona, 1987, S. 51–62. 9 Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1981, S. 304. Vgl. Gregor Schiemann, „Die Sprache der Natur. Über das Schicksal einer Metapher und ihre Relevanz in der Umweltdebatte“, in: Bernhard Marx (Hrsg.), Widerfahrnis und Erkenntnis. Zur Wahrheit menschlicher Erfahrung, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2010, S. 101–119. 10 „Alles, was wir erfahren, ist eine Mitteilung. So ist die Welt in der Tat eine Mitteilung – Of­ fenbarung des Geistes. Die Zeit ist nicht mehr, wo der Geist Gottes verständlich war. Der Sinn der Welt ist verlorengegangen. Wir sind beim Buchstaben stehen geblieben. Wir haben das Er­ scheinende über der Erscheinung verloren. Formularwesen.“ (Gerhard Schulz, Novalis. Werke, München: C. H. Beck, 2001, S. 401.) 11 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1935), Hamburg: Meiner, 1996, S. 38. Vgl. auch ebd., S. 36.

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hens respektive der instrumentellen Vernunft avancierten. Diese instrumentelle Vernunft lässt sich logisch wie praktisch deuten: Logisch folgt sie den Ideen des Geregelt-Seins und des Determinismus einer Operativen Epistemologie12 – bzw. den Ideen der Formalisierung, Mechanisierung und Automatisierung, wie dieser Dreiklang von Sybille Krämer in ihrem Buch Symbolische Maschinen beschrieben wurde.13 Praktisch folgt sie der von Max Weber und Max Horkheimer beschriebe­ nen Zweckrationalität;14 aber auch einem bestimmten Typus der rationalen Form­ bestimmung – wie von Gottfried W. Leibniz in seinen Entwürfen für den Harzer Bergbau dargelegt –, nämlich der Optimierungslogik des geringsten Kraftverlus­ tes.15 Bezogen auf die These von der totalen Maschinenlesbarkeit der Welt sind es folgende drei Beobachtungen, die die Rede von der Hermeneutik der Maschinen und ihrer Algorithmen motivieren: 1. Maschinen sind Verkörperungen der syntaktischen Hermeneutik regelbasier­ ter Bewegung (Abschnitt 2). 2. Algorithmen eröffnen Maschinen spezifischer Bewegungen eine bestimmte formal-semantische Hermeneutik, die keinesfalls so eindeutig und objektiv ist, wie man glauben könnte (Abschnitt 3). 3. Und schließlich: Diese formal-semantische Hermeneutik wurde in den letzten Jahren an selbst-lernende Algorithmen delegiert – mit der Folge, dass es zu einer zunehmenden Unverstehbarkeit der eigenen Maschinen und ihrer Her­ meneutik gekommen ist. Das Maschinenprogramm der totalen Lesbarkeit der Welt rückt damit aktuell selbst in den Horizont des zu Interpretierenden (Abschnitt 4).

12 Gabriele Gramelsberger, Operative Epistemologie. (Re-)Organisation von Anschauung und Erfahrung durch die Formkraft der Mathematik, Hamburg: Meiner, 2020. 13 Vgl. Sybille Krämer, Symbolische Maschinen. Die Geschichte der Formalisierung in historischem Abriß, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1988; dies., Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalisierung im 17. Jahrhundert, Berlin/New York: de Gruyter, 1991. 14 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1921), Tübingen: Mohr Siebeck, 51976; Max Hork­ heimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, aus dem Englischen von Alfred Schmidt, Frank­ furt/M.: Fischer, 1967. 15 Diese Optimierungslogik ist zu Leibniz’ Zeiten rein mechanisch im Sinne des geringsten Kraft­ verlustes zu denken, während wir ihr heute als größtmögliche Effizienz informatisch begegnen. Vgl. Friedrich-W. Wellmer/Jürgen Gottschalk, „Leibniz’ Wirken im Harz“, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geowissenschaften 90 (2017), S. 91–97; dies., „Die Beschäftigung des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) mit Geologie und Bergbau“, in: BHM Berg- und Hüttenmännische Monatshefte 160 (2015), H. 2, S. 60–70.

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2 Syntaktische Hermeneutik der Maschinen Maschinen sind Verkörperungen der syntaktischen Hermeneutik regelbasierter Bewegungen. Das können Uhren, Windmühlen, René Descartes’ Automaten oder Gottfried W. Leibniz’ mechanische Rechenmaschinen sein. Die syntaktische Hermeneutik, die im Kontext von Algorithmen von Bedeutung ist, ist die mecha­ nische Kunst, Bewegungsabläufe nicht homogen gleichmäßig zu interpretieren, sondern heterogen regulär.16 Es war Leibniz, der hier Entscheidendes geleistet hat: Seine Staffelwalze, die er 1673 der Royal Society in London vorstellte, sowie sein Sprossenrad um 1676 mechanisieren gleichmäßige Bewegung aufgrund von Differenz – einer bestimmten Art von Differenz:17 Bei einer Staffelwalze bewegen unterschiedlich lange Zähne ein bewegliches Zahnrad; bei einem Sprossenrad muss ein Zahn angehoben werden, der alle seine Vorgänger mit anhebt. Diese Interpretation von nicht-homogener Bewegung als Differenzbildung auf Basis von Gleichmäßigkeit, die erst im 20. Jahrhundert durch das Rekursionsprinzip symbolisch darstellbar wird, markiert die spezifisch syntaktische Hermeneutik von Rechenmaschinen.18 Die logische und praktische Auffassung der Maschinen treffen sich nirgends besser als in der Rechenmaschine, die Bewegung so reali­ siert, dass daraus logische Regelkreise gestaltet werden können. Wie diese nichthomogene Bewegung material zu interpretieren ist, ist historisch lange nicht ent­ schieden. Es war Charles S. Peirce, der 1886 den ersten elektrischen ­Logikschaltkreis entwarf  – 50  Jahre vor Claude E. Shannon und dessen Schaltalgebra, die bis

16 Der Unterschied zwischen homogen gleichmäßiger und nicht-homogen gleichmäßiger Be­ wegung ist entscheidend. Beispielsweise finden sich sowohl bei Leonardo da Vinci (im Codex Atlanticus) wie auch bei Leibniz Konstruktionsdarstellungen von Zahnrädern. Laut Georg Rup­ pelt vermutete der da-Vinci-Experte Roberto Guatelli in Leonardos Konstruktionsdarstellung ein Konstruktionsdetail eines Zählwerks, was – wenn es so wäre – die erste Rechenmaschine der Weltgeschichte gewesen wäre. Das Zahnrad als Maschinenelement ist bei Leonardo jedoch ein Rad mit gleichmäßig verteilten Zähnen, und das ganze Gebilde ist ein homogenes; auf alle Fälle ist es keines, das zählen kann. Vgl. Georg Ruppelt, Der große summende Gott – Geschichten von Denkmaschinen, Computern und künstlicher Intelligenz, Hameln: CW Niemeyer, 2003. 17 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Machina Arithmeticae Dyadicae Numeros dyadicos machinam addere, (Manuskripte vor 1676, LH XLII, 5, Bl. 29r), Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, Han­ nover (o. J.); Ernst Eberhard Wilberg, Die Leibniz’sche Rechenmaschine und die Julius-Universität in Helmstedt (= Beiträge zur Geschichte der Carolo-Wilhelmina: Schriften des Braunschweigischen Hochschulbundes, Bd. 5), Braunschweig: Braunschweigischer Hochschulbund, 1977. 18 Vgl. Thoralf Skolem, „Begründung der elementaren Arithmetik durch die rekurrierende Denk­ weise ohne Anwendung scheinbarer Veränderlichen mit unendlichem Ausdehnungsbereich“, in: Skrifter utgit. av Videnskapsselskapet i Kristiania, 1. Mat.-nat. kl, 6 (1923), S. 1–38.

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heute allen Computern zugrunde liegt.19 Peirce entwickelte elektrische Logik­ schaltkreise nicht nur in Bezug auf sein Programm des Diagrammatic Reasoning, sondern auch im Austausch mit Allan Marquand und dessen New Logical Machine von 1885.20 Das Interessante an dieser Zeit ist, dass die syntaktische Hermeneu­ tik maschineller Bewegung noch nicht formal-semiotisch festgeschrieben war, weil noch unklar war, wie sich logische Schlussfolgerungen am besten forma­ lisieren lassen.21 Beispielsweise formalisierte Ernst Schröder, der 1877 das erste formale Axiomensystem einer Boole’schen Algebra entwickelte, im Unterschied zu George Boole die logische Multiplikation und die logische Addition in spe­ zifischer Weise, nämlich als durchdringende (a ∙ b) respektive ergänzende (a + b) Bereiche zweier sich überlappender Klassen.22 Doch auch die Mechanisierung der logischen Algebra war noch nicht entschieden, und dies dokumentiert sich in der Geschichte mechanischer, elektrischer und schließlich elektronischer Rechner.23 Erst mit John von Neumanns Idee eines Digitalrechners verengten sich ab Mitte der 1940er-Jahre die Interpretationsmöglichkeiten auf eine Rechnerarchitektur.24 Die von-Neumann-Architektur, die logischen Schaltkreise und schließlich die Silizium-Technologie schreiben die syntaktische Hermeneutik elektronischer Rechner bis heute fest, und zwar als Nullfunktion, Nachfolgerfunktion (n+1) und Identitätsfunktion der Rekursion, die sich mit den logischen Gattern elektroni­ scher Schaltungen, die eine Interpretation der Boole’schen Algebra darstellen, als While- und Loop-Schleifen realisieren lassen. Doch es dauerte bis in die 1980erJahre, bis man Siliziumkristalle so rein züchten konnte, dass nahezu alle Ambi­

19 Vgl. Charles S. Peirce, „Letter, Peirce to A. Marquand (1886)“, in: ders., Writings of Charles S. Peirce, Bd. 5, Indianapolis: Indiana University Press, 1993, S. 541–543; Claude E. Shannon, „A Symbolic Analysis of Relay and Switching Circuits“, in: Transactions of the American Institute of Electrical Engineers 57 (1938), S. 38–80; ders., „A Mathematical Theory of Communication“, in: Bell System Technical Journal 27 (1948), S. 379–423 und S. 623–656. Vgl. Arthur W. Burks, „Review: Charles S. Peirce, The new elements of mathematics“, in: Bulletin of the American Mathematical Society 84 (1978), H. 5, S. 913–918. 20 Vgl. Allan Marquand, „A New Logical Machine“, in: Proceedings of the American Academy of Arts and Sciences 21 (1885), S. 303–307. 21 1847 hatte George Boole in seiner Mathematical Analysis of Logic die Syllogistik, die sich seit Aristoteles nicht verändert hatte, in Form logischer Gleichungen neu rekonstruiert. Vgl. George Boole, The Mathematical Analysis of Logic: Being an Essay towards a Calculus of Deductive Reasoning, Cambridge: Macmillan, 1847. 22 Vgl. Ernst Schröder, Der Operationskreis des Logikkalküls, Leipzig: Teubner, 1877, S. 8–10. 23 Vgl. Martin Campbell-Kelly/William Aspray, Computer: A History of the Information Machine, Westview Press: Jackson, 2004. 24 Vgl. John von Neumann, „First Draft of a Report on the EDVAC“ (1945), in: IEEE Annals of the History of Computing Archive 15 (1993), H. 4, S. 27–75.

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guitäten dieser Schaltungen eliminiert waren.25 Interessanterweise erleben wir aktuell mit Quantencomputern und neuromorphen Rechnern eine Renaissance der syntaktischen Hermeneutik der Rechenmaschine.26

3 Formal-semantische Hermeneutik der Algorithmen 3.1 Ambiguität der formal-semantischen Hermeneutik Computer sind eine bestimmte Interpretation maschineller Bewegung, nämlich der nicht-homogenen, rekursiven Bewegung.27 Die Beherrschung dieser syn­ taktischen Interpretation von Bewegung eröffnet den gesamten Interpretations­ raum der Algorithmen und ihrer formal-semantischen Hermeneutik. Keiner hat dies besser beschrieben als Alan Turing 1936 in seinem Artikel „Computable Numbers“: Sooner or later [a machine] K will reach either [p or non-p]. If it reaches [p], then we know that [p] is provable. If it reaches [non-p], then, since [the functional calculus] K is consist­ ent […], we know that [p] is not provable.28

Was das Statement ‘p’ bedeuten soll  – eine Zahl, ein logisches Statement, ein Datenobjekt, ein Prozess oder, mit Axel Thue gesprochen, ein Wortkalkül oder,

25 In der Frühphase der Elektronik wurde mit Germanium gearbeitet. Doch dies hatte den Nach­teil, dass es zu viele Elektronen freisetzte, wenn es zu warm wurde, und dadurch die im­ plementierte Funktionalität eliminierte. Daher wurde Germanium sukzessive durch Silizium er­ setzt, doch dazu musste Silizium in Reinform vorliegen (Siemens-Prozess zur Herstellung ultra­ reinen Siliziums). Der Prozess der Herstellung extrem reiner, einkristalliner Siliziumschichten durch Züchtung in Reinräumen ist jedoch extrem aufwendig und bedurfte bis in die 1980er-Jahre hinein der Optimierung. Vgl. Hans Queisser, Kristallene Krisen. Mikroelektronik, München: Piper, 1987. 26 Vgl. William D. Oliver, „Quantum computing takes flight“, in: Nature 574 (2019), S. 487–488; Kaushik Roy/Akhilesh Jaiswal/Priyadarshini Panda, „Towards spike-based machine intelligence with neuromorphic computing“, in: Nature 575 (2019), S. 607–617. 27 Vgl. Stephen C. Kleene, „General recursive functions of natural numbers“, in: Mathematische Annalen 112 (1936), S. 727–742. 28 Alan Turing, „On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungsproblem“, in: Proceedings of the London Mathematical Society 42 (1936/37), H. 2, S. 230–265 und S. 544–546, hier: S. 263.

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mit Kurt Gödel gesprochen, eine Satzformel29  –, hängt vom Algorithmus und seiner Deutung ab. Klar ist, dass diese formal-semantische Hermeneutik heute das leistet, was sich bereits 1693 Leibniz von seinem Kalkül der Lage versprochen hat: Nämlich mit Kalkülen […] all die Fragen, für die das Vermögen der Anschauung nicht mehr zureicht, weiter [zu] verfolgen, so daß der hier geschilderte Kalkül […] die Ergänzung der sinnlichen Anschau­ ung und gleichsam ihre Vollendung darstellt. Ferner wird er, außer in der Geometrie, auch in der Erfindung von Maschinen und in den Beschreibungen der Mechanismen der Natur bisher unbekannte Anwendungen verstatten.30

Aus dieser formal-semantischen Hermeneutik der Maschinenalgorithmen der Digitalrechner folgt nichts Geringeres als das ‘Wunder der Digitalisierung’, das aus der Zuspitzung auf elementare Operationen und deren binäre Zustände die gesamte Fülle ihrer digitalen Erscheinungen generiert, mit denen wir heute konfrontiert sind.31 Denn: In dem Moment, in dem die Rechenbewegung durch Algorithmen frei steuerbar wird, sind der Interpretierbarkeit kaum noch Grenzen gesetzt, und zwar in zweifacher Hinsicht: material wie semiotisch. Zum einen material, indem mit CNC-Code (CNC = Computerized Numerical Control) eine unüberschaubare Fülle neuer Bewegungen steuerbar und dadurch Objekte her­ stellbar werden.32 Dies betrifft alle industriell gefertigten Objekte unserer Lebens­ welt, die komplett automatisiert mit CNC-Maschinen und CNC-Robotern fabriziert werden. Diese materiale Seite der Digitalisierung wird oft vergessen, doch es ist diese Artefaktkultur, die den Inbegriff der Maschinenhermeneutik darstellt und zu der sich neben den CNC-Maschinen seit einiger Zeit das 3D-Drucken gesellt,

29 Axel Thue, „Problem über Veränderungen von Zeichenreihen nach gegebenen Regeln“, in: Skrifter utgit. av Videnskapsselskapet i Kristiania, 1. Mat.-nat. kl. 10 (1914), S. 1–34; Kurt Gödel, „Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme  I“ (1931), in: ders., Collected Works, 1. Bd., hrsg. von Solomon Feferman, New York/Oxford: Oxford University Press, 1986, S. 144–194. 30 Gottfried W. Leibniz, „De analysi situs“ (1693), in: ders., Philosophische Werke, 1. Bd., hrsg. von Artur Buchenau und Ernst Cassirer, Meiner: Hamburg, 1996, S. 69–76, hier: S. 76. 31 „Das Ganze schien unerklärlich, und daß überdies der ‚große Leibniz‘ es der Mühe wert er­ ach­tet hatte, sich mit nur zwei Ziffern zu beschäftigen, machte alles noch geheimnisvoller.“ ­(Hermann J. Greve, „Entdeckung der binären Welt“, in: Siemens Aktiengesellschaft [Hrsg.], Herrn von Leibniz’ Rechnung mit Null und Eins, Berlin/München: Siemens AG, 1966, S.  21–31, hier: S. 22.) 32 Vgl. Douglas T. Ross/Harry E. Pople, Jr., Automatic Programming of Numerically Controlled Machine Tools (MIT Servo Lab Report No. 6873-IR-1 and 6873-IR-2), Cambridge, MA: Massachusetts Institute of Technology, 1956.

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das einer etwas anderen Hermeneutik folgt.33 Zum anderen äußert sich die poten­ ziell grenzenlose Interpretierbarkeit auch semiotisch, insofern es sich um eine formale Semantik aller möglichen Zahlen-, Daten-, Prozess- und sonstiger Objekte handelt. Die spannende Frage ist nun, wie plastisch diese formal-semantische Herme­ neutik der Maschinenalgorithmen ist. Plakatives Beispiel ist der Sortierprozess in Datenbanken, denn bereits die Interpretation, was unter ‘Sortierung’ verstanden werden kann, ist vieldeutig: Although dictionaries of the English language define ‘sorting’ as the process of separating or arranging things according to class or kind, computer programmers traditionally use the word in the much more special sense of marshaling things into ascending or descending order. The process should perhaps be called ordering, not sorting; but anyone who tries to call it ‘ordering’ is soon led into confusion because of the many different meanings attached to that word. […] Some people have suggested that ‘sequencing’ would be the best name for the process of sorting into order; but this word often seems to lack the right connotation, especially when equal elements are present, and it occasionally conflicts with other termi­ nology.34

Entsprechend zahlreich sind die Interpretationen des Sortierens durch Algorith­ men, wie zum Beispiel im Falle des Anfang der 1960er-Jahre von Charles Hoare entwickelten Quicksort-Algorithmus, in dem es darum geht, einen schnellen, rekursiven, nicht-stabilen Sortieralgorithmus zu generieren, der nach dem Prinzip ‘teile und herrsche’ arbeitet.35 Der Quicksort-Algorithmus interpretiert ‘Sortieren’ wie folgt: Teile eine zu sortierende Liste in zwei Teillisten, indem ein sogenanntes Pivotelement aus der Liste ausgewählt wird. Alle Elemente, die kleiner als das Pivotelement sind, kommen in die linke Teilliste, und alle, die größer sind, in die rechte Teilliste. Die Elemente, die gleich dem Pivotelement sind, können sich beliebig auf die Teillisten verteilen. Nach der Aufteilung sind die Elemente der linken Teilliste kleiner oder gleich den Elementen der rechten. Anschließend muss jede Teilliste gemäß dieser Handlungsvorschrift wieder in sich sortiert werden, und zwar solange, bis eine Teilliste der Länge eins oder null auftritt. Da diese bereits sortiert ist, erfolgt der Abbruch der Rekursion.

33 Vgl. Gabriele Gramelsberger/Suzanna Alpsancar, „3D-Drucken als neuer technischer Welt­ bezug? Semiotisierung des Materialen und soziale Utopien der additiven Herstellung aus philo­ so­phi­scher Perspektive“, in: Sprache und Literatur 46 (2017), H. 115–116, S. 52–84. 34 Donald E. Knuth, The Art of Computer Programming. Sorting and Searching, 3. Bd., Boston: Addison-Wesley, 1998, S. 1–2. 35 Charles A. R. Hoare, „Quicksort”, in: The Computer Journal 5 (1962), H. 1, S. 10–15.

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Der Quicksort-Algorithmus verdeutlicht bestens die Natur der formal-seman­ tischen Hermeneutik.36 Er liefert eine spezifische Interpretation der Tätigkeit des Sortierens, die von den meisten Menschen in dieser Form im Alltag vermutlich nicht ausgeführt werden würde. Die Interpretation muss sich mechanisieren, formalisieren und automatisieren lassen. Und sie muss einer gewissen Effizienz genügen. Der Quicksort-Algorithmus wiederum ist nur einer von vielen Sortier­ algorithmen (z.  B. Binary Tree Sort, Bubblesort, Smoothsort etc.), die – je nach Anwendungsbedarf und Zweck – jeweils unterschiedliche Interpretationen algo­ rithmierbarer Sortierverfahren sind: Although sorting has traditionally been used mostly for business data processing, it is actu­ ally a basic tool that every programmer should keep in mind for use in a wider variety of situations.37

Damit dürfte deutlich geworden sein, wie die Rede von der formal-semantischen Hermeneutik der Algorithmen zu verstehen ist. Es ist nicht der einzelne Algorith­ mus gemeint, der eine Handlungsvorschrift zur Lösung von Problemen präsen­ tiert, die eindeutig beschreibbar und in endlich vielen Schritten tatsächlich aus­ führbar ist, sondern die Vielzahl an Algorithmen, die spezifische Interpretationen von Handlungen durch individuelle Programmierer wie beispielsweise Charles Hoare darstellen. Mag die Anzahl der Algorithmen eher langsam wachsen,38 so steigt ihre vielfältige Verwendung in Softwareprogrammen mittlerweile ins Uner­ messliche.39 Damit nehmen auch die Interpretationsmöglichkeiten enorm zu, denn in Software gegossene Algorithmen sind Teil einer komplexen Entschei­ dungslogik, die John von Neumann den „Modus operandi“ eines Computerpro­

36 „From a broader perspective we will find also that sorting algorithms make a valuable case study of how to attack computer programming problems in general. […] Sorting techniques also provide excellent illustrations of the general ideas involved in the analysis of algorithms – the ideas used to determine performance characteristics of algorithms so that an intelligent choice can be made between computing methods.“ (Knuth, The Art of Computer Programming, S. 3.) 37 Ebd., S. 2. 38 Vgl. Paul E. Black (Hrsg.), „Dictionary of Algorithms and Data Structures“, in: National Institute of Standards and Technology (NIST), https://xlinux.nist.gov/dads/ (zuletzt abgerufen: 19.01.2021). 39 Algorithmen sind Handlungsvorschriften, die unabhängig von Programmiersprachen exis­ tieren, während Software immer in einer bestimmten Programmiersprache verfasst ist. Software meint „carefully planned interpretive routines, compilers, and other aspects of automative pro­ gramming.“ (John W. Tukey, „The Teaching of Concrete Mathematics“, in: The American Mathematical Monthly 65 [1958], S. 1–9, hier: S. 2.)

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gramms nannte.40 Zur Darstellung der komplexen Choreographie des Modus operandi erfand er Ablaufdiagramme (flow charts), die die Verzweigungen, Schleifen und alternativen Pfade (if, then/else) eines Programms diagrammatisch notieren. Doch die Ausführung des Modus operandi – von John von Neumann „Modus procendendi“ genannt – ist nicht eindeutig, wie er bereits 1947 klar im Kontext von Berechnungsprogrammen erkannte: If this were just a linear scanning of the coded sequence […] the matters would be quite simple. Coding a problem for the machine would be merely what its name indicates: Trans­ lating a meaningful text […] from one language (the language of mathematics […]) into another language (that of the code). This, however, is not the case. Thus the relation of the coded instructions to the mathematically conceived procedures of (numerical) solutions is not a statical one, that of a translation, but highly dynamical.41

Diese Dynamik hat mit den komplexen Entscheidungslogiken in Programmabläu­ fen zu tun, die je nach Initialisierung im tatsächlichen Ablauf unterschiedlichen Pfaden folgen. Die Ambiguität desselben Algorithmus respektive Programms bei identischer Initialisierung kann sich im Extrem als Nicht-Reproduzierbarkeit zeigen und damit dem pragmatischen Kriterium der Determiniertheit zuwider­ laufen.42

3.2 Folgen der Ambiguität der formal-semantischen Hermeneutik Die Rede von der formal-semantischen Hermeneutik der Algorithmen nimmt Bezug auf die spezifischen Interpretationen von Handlungen durch individuelle Pro­ grammierer und ihre Algorithmen respektive Softwareprogramme. Doch nicht nur Algorithmen als spezifische Handlungsvorschriften deuten Handlungen wie die des Sortierens unterschiedlich, sie setzen auch Schwellenwerte in Handlungsvor­

40 Vgl. Herman H. Goldstine/John von Neumann, „Planning and Coding Problems for an Electro­ nic Computing Instrument, Part II, Vol. 1“ (1947), in: John von Neumann, Collected Works: Design of Computers, Theory of Automata and Numerical Analysis, hrsg. von Abraham H. Taub, 5. Bd., Oxford: Pergamon Press, 1963, S. 80–151. 41 Ebd., S. 81  f. 42 In einer Studie, die die Effekte numerischer Sensitivität auf die Resultate von Crash-TestSimulationen untersuchte, wurden die Bedingungen verschiedener Simulationsläufe identisch gehalten. Dennoch unterschieden sich die Ergebnisse signifikant. Vgl. Michael Resch/Andreas Kaminsiki, „The Epistemic Importance of Technology in Computer Simulation and Machine Learning“, in: Minds and Machines 29 (2019), H. 1, S. 9–17.

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schriften unterschiedlich. Katharina Zweig hat dies anhand eines einfachen Bei­ spiels illustriert:43 Um ähnlich wie ein Algorithmus zu bewerten, ob eine Person X kriminell ist, ist ein statistisches Verfahren vonnöten, das eine Entscheidungs­ regel generiert, nach der bestimmt wird, ob eine Person kriminell ist oder nicht. Beispielsweise lassen sich mit einer Linie möglichst viele nicht-kriminelle von kriminellen Individuen trennen, die nach bestimmten Beurteilungskriterien auf einer Ebene verteilt sind. Verschiedene Linienunterteilungen der Ebene ergeben unterschiedliche Zuordnungen. Die einfachste Regel nun ist, die Zuordnung zu nehmen, die die meisten Kriminellen separiert. Dennoch wird man immer Fehler erzeugen, insofern die Linie unentdeckte Kriminelle und unschuldig Verurteilte generiert. Statistisch mag die Fehlerquote dieses ‘objektiven Verfahrens’ gering sein, für das betroffene Individuum hat diese Interpretation jedoch durchaus erhebliche Folgen. Zwar sind heutige Klassifikations- und Scoring-Algorithmen komplexer als einfache, statistische Verfahren der linearen Regression. Doch was bedeutet dies konkret? Zweig hat dies treffend anhand eines anschaulichen Bei­ spiels deutlich gemacht: Ein amerikanisches Terroristenidentifikationssystem tönt: „Nur 0.008 % falsch Positive!“ Bei 55 Millionen Einwohner [sic!] sind das 4.400 Unschuldige, um wenige Hundert [Terro­ risten] zu identifizieren. Von den „Hochrisikopersonen“ [wird man jedoch] vermutlich [nur] unter 20 % [identifizieren]!44

Die Rede von der formal-semantischen Hermeneutik der Algorithmen bezieht sich hier auf Entscheidungen von Unternehmen, Behörden und einzelnen Program­ mierern, bestimmte Schwellenwerte zu setzen oder bestimmte Regeln bzw. Ver­ fahren der Selektion zu definieren. Da zunehmend, mit Hans Jonas gesprochen, wir selbst unter die Objekte der Algorithmen fallen45 und die Algorithmen, in Software verpackt, durch immer komplexere Entscheidungslogiken immer mehr hermeneutische Gewalt über uns und die ins Digitale transferierte Lebenswelt

43 Katharina A. Zweig, Algorithmische Entscheidungen: Transparenz und Kontrolle, Algorithm Accountability Lab, TU Kaiserslautern 2019 (Broschüre), http://aalab.cs.uni-kl.de/aktivitaeten/ Enquete-Kommission/Folien_Klausurtagung_Enquete_Kommission.pdf (zuletzt abgerufen: 19.01.2021). 44 Ebd. 45 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische G ­ esellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1979, S. 47. „Algorithms already have control of your money market funds, your stocks, and your retirement accounts. They’ll soon decide who you talk to on phone calls; they will control the music that reaches your radio; they will decide your chances of getting lifesaving organs transplant […].“ (Christopher Steiner, Automate this: How algorithms took over our markets, our jobs, and the world, New York, NY: Portfolio, 2012, S. 214.)

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erlangen – ob in Form von Scoring-Algorithmen, wie sie Online-Shops verwenden, um uns Kaufangebote vorzuschlagen, oder wie sie von Kreditunternehmen, Ver­ sicherungsfirmen oder der Polizei genutzt werden, um unsere Solidität zu beur­ teilen –, ist die verbreitete Rede von der Ambiguitätsintoleranz der Algorithmen irreführend.46 Algorithmen sind nicht nur spezifische Handlungsvorschriften, sondern sie sind vor allem Entscheidungsmaschinen  – sowohl in ihrer intrin­ sischen Logik des Modus operandi als auch im Hinblick auf das, was ihnen als Entscheidungsbereiche anvertraut wird. Diese hermeneutische Gewalt ist hoch problematisch, und zwar nicht nur in Bezug auf den Autonomieverlust des Men­ schen hinsichtlich seiner Entscheidungen, sondern auch in Bezug auf die ver­ meintliche Transparenz und Objektivität der in Algorithmen implementierten Entscheidungsverfahren: Moreover, algorithms are created for purposes that are often far from neutral: to create value and capital; to nudge behavior and structure preferences in a certain way; and to identify, sort and classify people. […] [Furthermore, algorithms are] ontogenetic in nature (always in a state of becoming), teased into being: edited, revised, deleted and restarted, shared with others, passing through multiple iterations stretched out over time and space. As a result, they are always somewhat uncertain, provisional and messy fragile accomplishments.47

Seit einigen Jahren wird daher der sozialen, kulturellen und politischen Bedeu­ tung von Algorithmen vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt – insbesondere den durch Algorithmen transportierten Verzerrungseffekten.48 Safiya Noble hat diese „technological redlining“ genannt.49 Gemeint ist damit Folgendes: Technological redlining is a form of digital data discrimination, which uses our digital identities and activities to bolster inequality and oppression. It is often enacted without our knowledge, through our digital engagements, which become part of algorithmic, auto­ mated, and artificially intelligent sorting mechanisms that can either target or exclude us. It is a fundamental dimension of generating, sustaining, or deepening racial, ethnic, and

46 Insbesondere kommerzielle Profiling-Algorithmen sortieren Nachrichten oder Produkte nicht nach einer ‘objektiven’ Relevanz, sondern nach unseren Vorlieben und Daten (wie unsere räum­ liche Lokalisierung, unser Alter etc.), die über unser Surfverhalten rückgeschlossen wurden. 47 Rob Kitchin, „Thinking critically about and researching algorithms“, in: Information, Communication & Society 20 (2016), H. 1, S. 14–29, hier: S. 18. 48 Beispielsweise durch die Critical Code Studies. Vgl. etwa Adrian Mackenzie, Cutting Code: Software and Sociality, Oxford: Peter Lang, 2006; Noah Wardrip-Fruin, Expressive Processing, London: MIT Press, 2011; Clemens Apprich et al., Pattern Discrimination, Lüneburg: Meson Press, 2018. 49 Safiya Umoja Noble, Algorithms of Oppression: How Search Engines Reinforce Racism, New York: NYU Press, 2018.

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gender discrimination, and it is centrally tied to the distribution of goods and services in society, like education, housing, and other human and civil rights. Technological redlin­ ing is closely tied to longstanding practices of ‘redlining,’ which have been consistently defined as illegal by the United States Congress, but which are increasingly elusive because of their digital deployments through online, internet-based software and platforms, includ­ ing exclusion from, and control over, individual participation and representation in digital systems.50

Das Verständnis, wie Algorithmen unser Leben beeinflussen, steht erst am Beginn der Forschung, während gleichzeitig, durch unzählige Unternehmen und Insti­ tutionen forciert, immer mehr in Software eingebettete Algorithmen in unsere Lebenswelt migrieren.

4 Selbst-lernende Algorithmen und das Programm der totalen Lesbarkeit der Welt Doch das Rad dreht sich weiter, insofern uns die Maschinen selbst aktuell zum Rätsel werden. Richard Feynmans Zitat – „What I cannot create, I do not under­ stand“51 – als Inbegriff dessen, was instrumentelle Vernunft zu leisten vermag, wird zunehmend ad absurdum geführt. Denn mit dem Aufkommen von maschi­ nellen Lernverfahren wird sowohl die Ausführung als auch die Interpretation der formal-semantischen Hermeneutik an selbst-lernende Algorithmen delegiert. Wie dieses Selbst-Lernen funktioniert, ist jedoch nicht mehr nachvollziehbar. Die Infor­ matik wandelt sich mit maschinellen Lernverfahren aktuell von einer programmie­ renden (semiotisch-konstruktiven) in eine hermeneutische Wissenschaft, die ihre eigenen Maschinen bzw. deren Hermeneutik in neuer Weise erforscht, um sie zu verstehen. Insbesondere die in den letzten Jahren sehr wirkmächtigen Deep Convolutional Neural Networks (CNNs), die effizient Muster erkennen, sind zu nicht mehr

50 Robyn Caplan et al., „Algorithmic Accountability: A Primer“, in: Data & Society 2018, S.  7, https://datasociety.net/output/algorithmic-accountability-a-primer/ (zuletzt abgerufen: 19.01.2021). Vgl. Latyana Sweeney, „Discrimination in Online Ad Delivery“, in: Communications of the ACM 56 (2013), H. 4, S. 44–54; Julia Angwin et al., „Machine Bias. There’s software used across the country to predict future criminals. And it’s biased against blacks“, in: ProPublica, 23.05.2016, https://www.propublica.org/article/machine-bias-risk-assessments-in-criminalsentencing (zuletzt abgerufen: 19.01.2021). 51 Dieses Zitat ist einer berühmt gewordenen Tafelanschrift Feynmans am California Institute of Technology aus dem Jahr 1988 entnommen. Vgl. https://archives.caltech.edu/pictures/1.10-29. jpg (zuletzt abgerufen: 19.01.2021).

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verstehbaren Instrumenten der totalen Lesbarkeit der Welt geworden – ganz egal, ob es sich nun um Handschriften, Texte, Datenstrukturen, Bilder, gesprochene Sprachen oder Töne und Melodien handelt.52 Im Bereich der Bilderkennung haben gut trainierte CNNs mittlerweile die menschliche Fehlerquote unterboten. Dies­ bezüglich sind sie schlicht und ergreifend akkurater als Menschen. Dennoch sind sie nicht perfekt und können fatale Interpretationsfehler begehen, sobald mini­ male Änderungen an den Trainingsdaten vorgenommen werden.53 Ein Beispiel, das 2018 durch die Weltpresse ging, war die Fehlinterpretation des maschinellen Lernverfahrens eines selbstfahrenden Autos, das eine Frau mit Fahrrad als „other object“ klassifizierte und so einen tödlichen Unfall verursachte.54 Warum solche Fehlinterpretationen zustande kommen, lässt sich bislang nicht nachvollziehen. Dies führt aktuell zu Forschungsprogrammen, die mit Schlagwörtern wie „Explai­ nable AI (XAI)“ oder „Transparent AI“ im Zentrum der KI-Forschung stehen. Eine typische XAI-Methode ist beispielsweise die Layer-wise Relevance Propagation (LRP), die den ‘Denkprozess’ neuronaler Netze rückwärts ablaufen lässt und mit­ hilfe von Heatmaps die Entscheidungen des Netzwerkes farblich sichtbar macht.55 Allerdings beschränkt sich die Möglichkeit, falsche Maschinenentscheidungen erkennen zu können, nur auf retrospektive Analysen sowie auf die notwendige Vergleichbarkeit mit menschlich wahrnehmbaren Entitäten wie Bildern. Nur wenn wir die Fehler erkennen, wissen wir, dass die Maschinenentscheidungen falsch waren. Für falsche Bildinterpretationen mag das nachvollziehbar sein, doch bei ‘Big Data’-Interpretationen sieht die Situation anders aus. Hier fehlt der Maschi­ nenhermeneutik eine adäquate Phänomenologie. Was an dieser Entwicklung ebenso interessant wie bedenklich ist, sind ihre epistemischen bzw. hermeneutischen Folgen, nämlich: die zunehmende Unver­ stehbarkeit unserer eigenen Maschinen. Damit rückt das Maschinenprogramm der totalen Lesbarkeit der Welt selbst in den Horizont des zu Interpretierenden, und es stellt sich die Frage, was dies bedeutet. Oder anders gefragt: Bedürfen wir 52 Vgl. Md Zahangir Alom et al., „The History Began from AlexNet: A Comprehensive Survey on Deep Learning Approaches“, in: arXiv.org, 12.03.2018, arXiv:1803.01164 (zuletzt abgerufen: 19.01.2021). 53 Vgl. Alexey Kurakin/Ian J. Goodfellow/Samy Bengio, „Adversarial examples in the physical world“, in: arXiv.org, 11.02.2017, arXiv:1607.02533 (zuletzt abgerufen: 19.01.2021). 54 The National Transportation Safety Board (NTSB), „Preliminary Report Released for Crash Involving Pedestrian, Uber Technologies, Inc., Test Vehicle“, 24.04.2018, https://www.ntsb. gov/investigations/AccidentReports/Reports/HWY18MH010-prelim.pdf (zuletzt abgerufen: 16.04.2020). 55 Vgl. Grégoire Montavon et al., „Layer-Wise Relevance Propagation: An Overview“, in: Wojciech Samek et al. (Hrsg.), Explainable AI: Interpreting, Explaining and Visualizing Deep Learning, Cham: Springer, 2019, S. 193–209.

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eines neuen hermeneutischen Zirkels, der die Hermeneutik der maschinellen Her­ meneutik zum Gegenstand hat? Dieser neue hermeneutische Zirkel müsste eine kritische digital literacy voraussetzen, um ein gewisses Textwissen – in diesem Fall: formal-semantisches Textwissen – zu erlangen. Dieses formal-semantische Textwissen ist im konventionellen Falle der Code eines Algorithmus und dessen Ausführung; also Resultate, die – wie im Beispiel des Quicksort-Algorithmus – komplett verstehbar und nachprüfbar sind. Im Falle des maschinellen Lernens gibt es jedoch keine Texte im klassischen Sinne mehr, sprich: verstehbaren Algo­ rithmencode – obwohl die Algorithmen der neuronalen Netzwerke bekannt sind. Mit John von Neumann gesprochen, ist nicht nur das Übersetzungsverhältnis in den Modus procendendi mehrdeutig; auch der Modus operandi wird durch das maschinelle Lernen mehrdeutig und entzieht sich zunehmend unserer Interpre­ tation. Was also aktuell mit XAI zum Untersuchungsgegenstand geworden ist, ist der Modus operandi der formal-semantischen Hermeneutik und ihres Programms der totalen Lesbarkeit der Welt. Vor diesem Hintergrund kann XAI auch anders verstanden werden: als An­ spruch des Menschen, seine hermeneutische Hegemonie gegenüber seinen Maschinen wiederzuerlangen. Und eben diese Hegemonie ist seit 2016 als Grundrecht in der neuen Datenschutzverordnung der Europäischen Union ver­ ankert.56 In anderen Worten: Vorwissen ist wichtiger denn je, um die Verstehens­ horizonte  – Verzerrungseffekte, kommerzielle Absichten oder lukrative (Vor-) Urteile – der Produzenten von Algorithmen zu entlarven. Die Differenzen in der Deutung von Produzenten und Interpreten sind hier mehr als wünschenswert, insofern die Maschinenhermeneutik vor allem von einigen wenigen Konzernen trefflich beherrscht wird. Was also dringend benötigt wird, ist ein Kulturverständ­ nis dieser Maschinenhermeneutik, denn die Forschungen zu XAI sind allenfalls ein rein mathematisches Geschäft. Wie alle Natur- und Ingenieurwissenschaften ist die Informatik zudem in der Regel geschichtsvergessen. Die Maschinenherme­ neutik hat aber eine lange Tradition, und in eben dieser Tradition gab es bedenk­ liche Entwicklungen – allen voran in der heute extrem wirkmächtigen Biometrie, die in alle Klassifizierungs-, Scoring- oder Ratingalgorithmen zumeist unkritisch implementiert ist. Oder anders gesagt: „Machine learning is like money launde­ ring for bias.“57 Nicht nur wird ‘Redlining’, wie beschrieben, zum gesellschafts­

56 Vgl. Bryce Goodman/Seth Flaxman, „European Union regulations on algorithmic decisionmaking and a ‘right to explanation’“, in: arXiv.org, 31.03.2016, arXiv:1606.08813v3 (zuletzt abge­ rufen: 19.01.2021). 57 Maciej Ceglowski, Twitter Kommentar vom 29.06.2016, https://www.goodreads.com/quotes/ 7921018-machine-learning-is-like-money-laundering-for-bias (zuletzt abgerufen: 19.01.2021).

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gestaltenden Alltag – zynischerweise durch die angebliche Objektivität der Algo­ rithmen negiert58 –, sondern die Methoden selbst haben ebenfalls oft eine nicht unproblematische Vorgeschichte. Die lineare Regression beispielsweise zieht eine beunruhigende Linie von Francis Galton über die frühen und späteren Eugeniker bis in die Algorithmen der Online-Auktionshäuser und -shops, dem Quantified Self oder eben dem Justizsystem mit sich.59 Diese verfahrenstechnischen Verzer­ rungseffekte wiederum treiben das Maschinenprogramm der totalen Lesbarkeit der Welt weiter voran. Denn: [A]ll diese Beispiele legen den latenten Rassismus in vermeintlich objektiven Systemen offen, welcher wie Geldwäsche ‘dreckige’ Daten säubert. Viele Kommentare sahen die Lösung in besseren, ‘reineren’ Daten: Daten über Verbrechen, die von polizeilichen Ver­ zerrungen befreit werden sollten […] Andere Kritiker_innen haben hingegen darauf hinge­ wiesen, dass es hier nicht nur um eine Frage von Inklusion und Exklusion geht, sondern auch darum, wie Differenzen auf latente Weise in Code eingebaut werden. […] Entscheidend daran ist, dass diese Algorithmen die Diskriminierung verstärken, die sie ‘vorfinden’. Sie sind keinesfalls einfach beschreibend, sondern vorhersagend und performativ in allen Bedeutungen dieses Wortes.60

Performative Hermeneutik charakterisiert vermutlich am besten die Interpreta­ tionsvielfalt der Algorithmen als operative Schriften. Angesichts des Maschinen­ programms der totalen Lesbarkeit der Welt scheint die hermeneutische Wissen­ schaft wichtiger denn je; nur muss sie sich endlich der kritischen Interpretation der Maschinen- und Algorithmenhermeneutik stellen.

Verzeichnis der zitierten Literatur Alom, Md Zahangir et al., „The History Began from AlexNet: A Comprehensive Survey on Deep Learning Approaches“, in: arXiv.org, 12.03.2018, arXiv:1803.01164 (zuletzt abgerufen: 19.01.2021). Angwin, Julia et al., „Machine Bias. There’s software used across the country to predict future criminals. And it’s biased against blacks“, in: ProPublica, 23.05.2016, https://www.

58 Vgl. Cathy O’Neil, Weapons of Math Destruction: How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy, New York: Crown Books, 2016. 59 Vgl. Francis Galton, „Regression towards mediocrity in hereditary stature“, in: Journal of the Anthropological Institute 15 (1886), S. 246–263; Wendy Hui Kyong Chun, „Filter System“, in: Timon Beyes/Robin Holt/Claus Pias (Hrsg.), The Oxford Handbook of Media, Technology, and Organization Studies, Oxford: Oxford University Press, 2019, S. 238–245. 60 Wendy Hui Kyong Chun, „Queerying Homophily. Muster der Netzwerkanalyse“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 10 (2018), H. 1, S. 131–148, hier: S. 133.

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Steffen Martus

Interpretieren – Lesen – Schreiben Zur hermeneutischen Praxis aus literaturwissenschaftlicher Perspektive

1 Einleitung Viele der sogenannten neueren Methoden und Theorien haben in der Literatur­ wissenschaft einen ‘Verdacht gegen die Hermeneutik’ genährt.1 Insbesondere im langen Schatten poststrukturalistischer Programme spielt die „Überzeugung“, dass „die entschiedene Abkehr von der klassischen Hermeneutik eine wichtige Grundvoraussetzung für eine adäquate Untersuchung des jeweils in den Fokus gerückten Forschungsgegenstandes“ bilde, eine wichtige Rolle.2 Wie verbreitet sind solche Überzeugungen? Und welchen Status haben programmatische Erklä­ rungen in der wissenschaftlichen Praxis? Eine Reihe von Untersuchungen, die sich dem Verhältnis von deklarativem und prozeduralem Wissen in der Literatur­ wissenschaft widmen, legen nahe, dass programmatische Erwägungen im For­

1 Vgl. Klaus-Michael Bogdal, „Problematisierungen der Hermeneutik im Zeichen des Poststruk­ turalismus“, in: Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hrsg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, München: dtv, 1996, S. 137–156; Klaus W. Hempfer, Literaturwissenschaft – Grundlagen einer systematischen Theorie, Stuttgart: Metzler, 2018, S. 3–7. ‘Neohermeneutische’ Ansätze oder Aspekte der ‘analytischen Hermeneutik’ spielen in der Fachgeschichtsschreibung in der Regel keine entscheidende Rolle. Vgl. dazu: Fotis Jannidis, „Analytische Hermeneutik“, http://www. simonewinko.de/jannidis_text.htm (zuletzt abgerufen: 26.01.2021); Tilmann Köppe/Simone Winko, Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung, Stuttgart: Metzler, 22013, S. 133–148. 2 So im Exposé zur diesem Band zugrunde liegenden Tagung „Hermeneutik unter Verdacht“ bzw. im Vorwort zu diesem Band (S. VII  f.). Vgl. in internationaler Perspektive: David E. Wellbery, „Interpretation versus Lesen. Posthermeneutische Konzepte der Texterörterung“, in: Lutz Danne­ berg/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Wie international ist die Literaturwissenschaft? Methoden- und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften: kulturelle Besonderheiten und interkultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems (1950–1990), Stuttgart/Weimar: Metzler, 1996, S. 123–138. Allerdings lässt sich im Zeichen der ‘Kulturwissenschaften’ auch die erneute Aufwertung hermeneutischer Verfahren feststellen. Vgl. Köppe/Winko, Neuere Literaturtheorien, S. 249; Axel Spree, Kritik der Interpretation. Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien, Paderborn u.  a.: Schöningh, 1995, insbes. S. 137–183; Peter J. Brenner, Das Problem der Interpretation. Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen: Niemeyer, 1998, S. 133–166. https://doi.org/10.1515/9783110698084-003

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schungsalltag bemerkenswert ineffektiv sind.3 Auch in Bezug auf Lehr-Lern-Kon­ texte liegt eine pessimistische Perspektive auf die praktischen Folgen deklarativer Äußerungen nahe.4 Könnte man auf die Erklärung seiner Überzeugungen also auch verzichten? Andreas Kablitz hat solche Befunde als literaturtheoretische Defizite gedeutet und vorgeschlagen, anstelle programmatischer Äußerungen den „literaturwis­ senschaftlichen Umgang mit dem einzelnen literarischen Text“ zu beobachten. Er lenkt das Augenmerk damit auf „implizite theoretische Annahmen über die spezifischen Merkmale der Literatur“, die sich im Umgang mit epistemischen Dingen zeigen. Dieser Vorschlag reagiert nicht nur auf das Spannungsverhältnis von Interpretationspraxis und Theoriebildung, sondern auch auf den Eindruck, dass sich Textumgangsformen als erstaunlich stabil und gegenüber theoretischen Innovationsansprüchen als robust erweisen. Zudem vermutet Kablitz in Deu­ tungsroutinen Gemeinsamkeiten der Literaturwissenschaften, die sich nicht auf programmatische Grenzziehungen zurückführen lassen.5 Die Interpretations­ praxis wäre demnach sogar ein Antidot gegen die fachliche Zersplitterung. Damit sind zentrale Aspekte einer Praxeologie der Literaturwissenschaft angesprochen6  – aber auch viele offene Probleme: Wie lässt sich literaturwis­ senschaftliche ‘Praxis’ konzipieren? Wie stabil sind literaturwissenschaftliche

3 Eine autorkritische ‘Überzeugung’ führt so etwa nicht dazu, dass der Autor keine zentrale Rolle in der Interpretation einnimmt. Vgl. Simone Winko, „Autor-Funktionen. Zur argumentativen Ver­ wendung von Autorkonzepten in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Interpretations­ praxis“, in: Heinrich Detering (Hrsg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2002, S.  334–354; Marcus Willand, „Autorfunktionen in literaturwissenschaftlicher Theorie und interpretativer Praxis. Eine Gegenüberstellung“, in: Journal of Literary Theory  5 (2011), S. 279–302. Die Kritik und nominelle Verabschiedung des Werkbegriffs ändert nichts an der konzeptionellen Relevanz von Werkkonzepten in literaturwissenschaftlichen Interpretations­ texten. Vgl. Simone Winko, „Zum Werkbegriff in der gegenwärtigen Interpretationspraxis: Exem­ plarische Untersuchungen“, in: Lutz Danneberg/Annette Gilbert/Carlos Spoerhase (Hrsg.), Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs, Berlin/Boston: de Gruyter, 2019, S. 131–165. Das Votum für einen erweiterten Literaturbegriff führt in literaturwissenschaftlichen Leitmedien nicht zur Verabschiedung hochkanonisierter Autoren und Werke. Vgl. Simone Winko/ Fotis Jannidis/Gerhard Lauer, „Geschichte und Emphase. Zur Theorie und Praxis des erweiterten Literaturbegriffs“, in: Jürn Gottschalk/Tilmann Köppe (Hrsg.), Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie, Paderborn: Mentis, 2006, S. 123–154. 4 Am konkreten Beispiel des Verfassens von Hausarbeiten: Thorsten Pohl, Studien zur Ontogenese des wissenschaftlichen Schreibens, Tübingen: Niemeyer, 2007, z.  B. S. 51  f. 5 Andreas Kablitz, Die Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur, Freiburg i. Br./Berlin/Wien: Rombach, 2013, S. 12 (dort finden sich auch sämtliche der von mir angeführten Zitate). 6 Vgl. Steffen Martus/Carlos Spoerhase, „Praxeologie der Literaturwissenschaft“, in: Geschichte der Germanistik 35/36 (2009), S. 89–96.

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Praktiken und wie verändern sie sich? Was sind communities of practice in der Literaturwissenschaft? Wie genau verhalten sich Theorie und Praxis, Überzeu­ gungen und Handlungen zueinander? Dieser Typus von Fragen hat in der Interpretationstheorie eine längere Tra­ dition, wobei die Studien, die ihre normativen Empfehlungen an der Praxis aus­ richten, immer wieder neu ansetzen, ihre je eigenen Terminologien und Typolo­ gien entwickeln.7 Es scheint, als erziele die angestrebte Vermittlung von Theorie und Praxis nicht einmal in der Theoriebildung nachhaltige Effekte. Dabei fällt zum einen auf, dass prozessuale Aspekte keine oder eine nur nachrangige Rolle spielen. Zum anderen bleibt der literaturwissenschaftliche Kontext hermeneu­ tischer Aktivitäten eher blass. Mit anderen Worten: Die zeitliche Dehnung und soziale Breite der Praxis geraten aus dem Blick.8 Der folgende Beitrag versucht, sich interpretationstheoretisch dem litera­ turwissenschaftlichen Alltag anzunähern. Das Augenmerk liegt dabei auf Inter­ pretationen aus dem Bereich der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, weil ‘Interpretation’ und ‘Hermeneutik’ in diesem Kontext als wechselseitig ersetzbare Begriffe behandelt werden.9 Entsprechend heftig sind die literaturtheoretischen Angriffe auf das Interpretieren.10 Wichtig ist dabei, dass es nicht um Probleme ‘des’ Verstehens geht, sondern um spezifische, institutionell gerahmte hermeneu­ tische Aktivitäten, die ihre Funktionen und Leistungen im Kontext einer bestimm­ ten fachlichen Praxis erbringen.

7 Um nur einige kanonische Beispiele anzuführen, die der Empirie ein großes Gewicht ein­räu­ men: Göran Herméren, „Interpretation: Typen und Kriterien“, in: Tom Kindt/Tilmann Köppe (Hrsg.), Moderne Interpretationstheorien. Ein Reader, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, S. 251–276; Werner Strube, Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Definition, Klassifikation, Interpretation und Textbewertung, Paderborn u.  a.: Schöningh, 1993, S.  67–130; Thomas Zabka, Pragmatik der Literaturinterpretation. Theoretische Grundlagen – kritische Analysen, Tübingen: Niemeyer, 2005. Vgl. weiterhin die Hinweise bei Stefan Descher et al., „Probleme der Interpretation von Literatur. Ein Überblick“, in: Jan Borkowski et al. (Hrsg.), Literatur interpretieren. Interdisziplinäre Beiträge zur Theorie und Praxis, Münster: Mentis, 2015, S. 11–70, ins­ besondere S. 49–61. 8 Vgl. zu „Konventionen der interpretatorischen Interaktion“ bezeichnenderweise vergleichs­ weise knapp: Zabka, Pragmatik der Literaturinterpretation, S. 98–100. 9 Vgl. Klaus Weimar, „Text, Interpretation, Methode. Hermeneutische Klärungen“, in: Danne­ berg/Vollhardt (Hrsg.), Wie international ist die Literaturwissenschaft?, S. 110–122, insbesondere S. 113. 10 Im Überblick: Descher et al., „Probleme der Interpretation von Literatur“, S. 12–14; Friede­ rike Schruhl, Forschungsprozesse. Praxeologische Perspektiven auf Darstellungsformen von Lite­ raturwissenschaft und Digital Humanities, Masch. Diss. HU Berlin, 2018, S. 100  f.

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Dabei erweist es sich zunächst als problematisch, den Status ‘der’ Herme­ neutik im Rahmen literaturwissenschaftlicher Fächer gehaltvoll zu bestimmen (2. Abschnitt). Diese empirische Lücke ist besonders relevant, weil sich aus einer praxeologischen Perspektive die Frage, ob Interpretationen gelingen oder miss­ lingen, vornehmlich an ihrer Passung in ein flexibles Gefüge von Praktiken ent­ scheidet (3. Abschnitt). Um das Augenmerk auf solche praktischen Inferenzen zu lenken, lohnt sich ein Blick auf das Zusammenspiel von Lesen und Schreiben im Interpretationsprozess (4. Abschnitt). Damit wird auch deutlich, warum sich Evaluationsverfahren im Kontext der akademischen Interpretationsinfrastruktur komplizieren (5. Abschnitt).

2 Probleme der Fachgeschichtsschreibung Hat die Hermeneutik als geisteswissenschaftliche Schlüsseldisziplin „in etlichen Fachgebieten […] massiv an Bedeutung verloren“?11 Die größte Herausforderung an eine gute Antwort auf diese Frage besteht nicht zuletzt darin, dass die Geistes­ wissenschaften keine Verfahren etabliert haben, mit denen sich im Abgleich von quantitativen und qualitativen Untersuchungen erfassen lässt, was in überaus komplexen, polyzentrischen und multifunktionalen Lehr-, Verwaltungs- und Forschungszusammenhängen wie beispielsweise der Germanistik12 eigentlich passiert. Verallgemeinerungen und Homogenisierungen mögen daher zwar rhe­ torisch notwendig sein, erscheinen aber sachlich fragwürdig, weil in den diversen Zonen des literaturwissenschaftlichen Betriebs unterschiedliche theoretische und thematische Vorlieben gepflegt, unterschiedliche Funktionen und Leistun­ gen erbracht, unterschiedlich intensive Beziehungen innerhalb der Wissenschaft bzw. zwischen den Disziplinen13 oder darüber hinaus unterhalten werden. Ob

11 So wiederum im Exposé zur Tagung „Hermeneutik unter Verdacht“ bzw. im voranstehenden Vorwort (S. VII). 12 Vgl. Christina Riesenweber, Die Ordnungen der Literaturwissenschaft. Selbstbeschreibungen einer Disziplin 1990–2010, Münster: Münsterscher Verlag für Wissenschaft, 2017; Jörn Kreutel et al., „Die Germanistik der Germanistik. Qualitative und quantitative Studien zur Wissenschafts­ geschichte eines ‚Referatenorgans‘“, in: IASL 44 (2019), H. 2, S. 302–379. 13 Vgl. zu einer intradisziplinären Perspektive auf Interdisziplinarität: Steffen Martus/Erika Tho­ malla/Daniel Zimmer, „‚Dass keine Atomphysiker dabei waren, hat mich auch nicht gewundert‘. Zur Praxis der Interdisziplinarität aus literaturwissenschaftlicher Perspektive“, in: Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift (2019), S. 76–98.

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es sich dabei um problematische Zustände handelt14 und inwiefern es sich bei literaturwissenschaftlichen Fächern normalerweise um relativ diverse, vielleicht sogar heterogene Zonen handelt, in denen sehr viel, aber nicht alles möglich ist, sollte meines Erachtens zu den offenen Fragen gezählt werden. Um den Fokus kleiner zu stellen und gleichwohl die Datenbasis quantitativ zu erweitern, kann eine Untersuchung bei Interpretationsaufsätzen in einem bestimmten Arbeitsgebiet ansetzen.15 Um ein Beispiel zu skizzieren: Die Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjs) versteht sich als „die führende Fachzeitschrift der deutschsprachigen Germanistik.“16 Unter den rund 2.430 Beiträgen, die zwischen 1923 und 2018 dort erschienen sind, befinden sich etwa 630 Beiträge, die man als Interpretationen aus dem Bereich der Neueren deutschen Literaturwissenschaft bezeichnen kann, weil sie einen einzelnen oder mehrere literarische Texte in den Mittelpunkt stellen und diese ‘besser verstehen’ wollen (sei es im Hinblick auf kontextuelle Bezüge, Bedeutun­ gen, Themen, Motive u.  a.).17

14 Wichtig ist weiterhin: Dies betrifft keine Besonderheit der Geisteswissenschaften – vgl. zum Konzept der „Arbeitseinheiten“ Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2006, z.  B. S.  9; im Anschluss daran zur Literaturwissenschaft: Steffen Martus, „Epistemische Dinge der Literaturwissenschaft?“, in: Andrea Albrecht et al. (Hrsg.), Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens, Berlin/Boston: de Gruyter, 2015, S. 23–51, hier: S. 49–51. 15 Vgl. das von Simone Winko geleitete Projekt zum „Herstellen von Plausibilität in Interpreta­ tionstexten. Untersuchungen zur Argumentationspraxis in der Literaturwissenschaft“ (https:// www.uni-goettingen.de/de/587821.html, zuletzt abgerufen: 26.01.2021). 16 Vgl. das Editorial unter http://www.uni-konstanz.de/dvjs/editorial.htm (zuletzt abgerufen: 21.01.2021). 17 Tatsächlich lassen sich „sehr unterschiedliche Dinge unter ‚Interpretation‘“ verstehen, „so etwa der Aufweis von Textstrukturen, die Erklärung von Texten durch Bezug auf Autorinten­ tionen bzw. -dispositionen oder bestimmte historische, gesellschaftliche, psychologische oder kulturelle Zusammenhänge, die Einordnung von literarischen Texten in literaturhistorische Kontexte oder die Bestimmung ihrer Gattungszugehörigkeit. Interpretationen können zudem den ästhetischen Wert eines Textes diskutieren oder nach der Relevanz fragen, die ein Text für lebenspraktische Zusammenhänge hat, welche Sinnangebote er beispielsweise in Bezug auf persönliche, moralische, gesellschaftliche und andere Probleme macht usw.“ (Descher et al., „Probleme der Interpretation von Literatur“, S. 27). Gleichwohl besteht ein hoher Konsens bei der Unterscheidung dieser Textsorte etwa von literaturgeschichtlichen Darstellungen, For­ schungsberichten oder Theorie-Beiträgen: Bei der Durchsicht der DVjs-Beiträge durch zwei unterschiedliche Personen bestand weitgehende Übereinstimmung bei der Zuweisung der Auf­ sätze; in Z ­ weifelsfällen wurden die Texte genauer diskutiert und im Vergleich mit unstrittigen Fällen rubriziert.

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Auf den ersten Blick scheinen die Zahlen gegen eine hohe Wertschätzung der Interpretation zu sprechen. Allerdings befinden sich unter der Gesamtmenge der DVjs-Beiträge nur etwa 1.400 Beiträge aus dem Bereich der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, so dass Interpretationen immerhin rund 45 % der Texte ausmachen. Wichtiger ist jedoch der zeitliche Verlauf (Abb. 1):

Abb. 1: Konjunkturkurve von Interpretationsaufsätzen in der DVjs.

An dieser Konjunkturkurve fällt – erstens – auf, dass Interpretationen relativ spät in Mode kommen, und zwar – zweitens – etwa gegen Ende der 1960er-Jahre, also zu dem Zeitpunkt, in dem die Fachgeschichtsschreibung eine Phase der Szientifi­ zierung in der germanistischen Literaturwissenschaft ansetzt, die auf methodischtheoretischer Ebene, etwa in der Kritik an werkimmanenten Methoden, eher eine interpretationskritische Haltung unterstützt.18 Die Etablierungsphase scheint sich – drittens – zu konsolidieren, und dies, obwohl mit poststrukturalistischen und kulturwissenschaftlichen Ansätzen die nächsten Hermeneutik-Gegner an Einfluss gewinnen: Seit den 1980er-Jahren bleibt der Anteil an Interpretationen stabil. Berücksichtigt man weiterhin, dass zumal in jüngerer Zeit ‘Werk’ und ‘Autor’ zunehmend standardisiert in den Titeln der DVjs-Beiträge genannt und

18 Vgl. Rainer Rosenberg, „Die Semantik der ‚Szientifizierung‘. Die Paradigmen der Sozialge­ schichte und des linguistischen Strukturalismus als Modernisierungsangebote an die deutsche Literaturwissenschaft“, in: ders., Verhandlungen des Literaturbegriffs. Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft, Berlin: de Gruyter, 2003, S. 225–234.

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vor allem hochkanonische Gegenstände behandelt werden,19 zeichnen sich keine Indizien für einen Bedeutungsverlust der Hermeneutik ab.20 Es bleibt freilich offen, ob sich die zunächst relativ oberflächlichen Befunde, die am Beispiel einer renommierten Fachzeitschrift gewonnen wurden, auf andere Zeitschriften und Publikationsgattungen übertragen lassen. Man könnte etwa vermuten, dass die eigentlich innovativen Forschungsansätze im Format von Sammelbandbeiträgen erscheinen und dass dort eher eine interpretationsund hermeneutikkritische Einstellung vertreten werde. Bemerkenswert ist dann allerdings, dass sich Sammelbandbeiträge zum größten Teil in den Autor- und Werkrubriken der renommierten germanistischen Bibliographien verzeichnen lassen. Da der ‘Verdacht gegen die Hermeneutik’ häufig mit der Kritik an den Kategorien ‘Autor’ und ‘Werk’ koinzidiert, könnte dieser Befund ein Indiz dafür sein, dass Sammelbandbeiträge ihre epistemischen Dinge nicht grundsätzlich anders konstituieren als Zeitschriftenbeiträge. Auch in dieser Hinsicht besteht jedoch erheblicher Forschungs- und Konkretisierungsbedarf. Zwei weitere quantitative Experimente sind heuristisch aufschlussreich, um einen Eindruck von der Struktur und der Entwicklung des Interpretationsverhal­ tens in der DVjs zu gewinnen: Der stilometrische Vergleich21 von Interpretations­ texten aus der frühen Phase (1920er- und 1930er-Jahre) mit jüngeren Beiträgen (aus den Jahren 2007–2009) ergibt ein eigentümlich geordnetes und zugleich dis­ parates Bild (Abb. 2):22

19 Vgl. Steffen Martus/Erika Thomalla/Daniel Zimmer, „Die Normalität der Krise. Beobachtun­ gen zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft aus Fußnotenperspektive“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 89 (2015), H. 4, S. 510–520. 20 Darauf deutet auch hin, dass die literaturtheoretische Differenzierung von (hermeneutischer) ‘Interpretation’ und (anti-hermeneutischer) ‘Lektüre’ für das Textumgangsverhalten eher folgen­ los ist. Vgl. Simone Winko, „Lektüre oder Interpretation?“, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49 (2002), S. 128–141. 21 Zur Leistungs- und Tragfähigkeit der hier eingesetzten Tools vgl. Fotis Jannidis/Gerhard Lauer, „Burrows’s Delta and Its Use in German Literary History“, in: Matt Erlin/Lynne Tatlock (Hrsg.), Distant Readings. Topologies of German Culture in the Long Nineteenth Century, Roches­ ter/New York: Camden House, 2013, S. 29–54; Stefan Evert et al., „Understanding and explaining Delta measures for authorship attribution“, in: Digital Scholarship in the Humanities 32/2 (2017), S. ii4–ii16, https://doi.org/10.1093/llc/fqx023 (zuletzt abgerufen: 26.01.2021). 22 Zur verwendeten Software: Maciej Eder/Jan Rybicki/Mike Kestemont, „Stylometry with R: a package for computational text analysis“, in: R Journal 8/1 (2016), S. 107–121, https://journal.rproject.org/archive/2016/RJ-2016-007/index.html (zuletzt abgerufen: 21.01.2021). Hier mit folgen­ den Einstellungen: Consensus tree, Würzburg bzw. Cosine Delta, 2000–5000 MFW, Consensus 0,5.

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Abb. 2: Stilometrischer Vergleich von frühen (1920er- und 1930er-Jahre) und jüngeren (2007–2009) Interpretationstexten in der DVjs.

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Bemerkenswert ist zunächst, dass zur Konstitution ungefähr gleich großer Korpora die Interpretationstexte aus 17 Jahrgängen (1923–1939) in der Anfangs­ phase gebündelt werden müssen, weil das Genre dort relativ selten vorkommt, während in den Zweitausenderjahren drei Jahrgänge ausreichen. Sprachlich hat sich über die Jahrzehnte offenbar so viel verändert, dass sich deutlich getrennte Gruppen herausbilden. Instruktiv sind dabei die Wörter, die für die Gruppierung besonders wichtig sind. Die folgende Tabelle zeigt eine Auswahl von 25 Wörtern aus der Liste der ersten 80 Wörter:23 1923–1939

2007–2009

dichtung dichter gestalten faust seele lebens tiefe schicksal streben wesen mensch dichterischen rein dasein goethe gott himmel gedanke kräfte ewige gestalt geist erlebnis entwicklung stoff

gliederung allerdings kontext texte bereits moderne funktion sowie perspektive literatur zumindest these jedoch aufgrund insbesondere position figur reflexion lektüre poetik prozess autor verweist einerseits modell

Das geistesgeschichtliche Vokabular (Dichter, Dichtung, Seele, Gestalt, Wesen, Leben etc.) scheint durch ein anderes Register ersetzt worden zu sein (Literatur, Text, Autor, Funktion etc.). Die Terminologie wirkt gleichsam technischer und

23 Die mit „Craig’s Zeta“ erstellte Liste wurde insbesondere um XML-Reste und Effekte von Or­ thographiereformen (z.  B. muß/muss) bereinigt.

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analytischer, so dass eine veränderte Auffassung der Gegenstände naheliegt. Zugleich deutet sich ein Wandel in den argumentativen Strategien und in der Sprecherpositionierung an, denn in der zweiten Gruppe fallen perspektivierende und modalisierende Wörter auf, die gegen eine ‘wesenhafte’ Auffassung der eigenen Tätigkeit oder der epistemischen Dinge sprechen.24 Gelten diese Befunde mehr oder weniger gleichmäßig für die Textgruppen? Gibt es Gegenstände oder Fragestellungen, die das Pendel mehr in die eine oder andere Richtung ausschlagen lassen? Welche Interdependenz besteht zwischen der Untersuchung bestimmter literaturhistorischer Phasen und der analytischen Einstellung der Interpreten? Auch wenn solche Fragen noch offen sind, zeichnet sich auf einer zwar vergleichsweise großen, aber letztlich noch immer relativ kleinen Datengrundlage25 ab, in welche Richtungen weitere Untersuchungen gehen könnten. Alle folgenden Ausführungen, in denen abstrakt von ‘Interpre­ tieren’ oder ‘Interpretation’ die Rede ist, stehen jedenfalls unter den genannten Differenzierungsvorbehalten.

3 Literaturwissenschaftliche Praxis? Interpretationen gelten als der „voraussetzungsreichste Teil oder Aspekt der rezep­ tiven Tätigkeit.“26 Obwohl es eine längere Tradition gibt, die das Verstehen als inner­ psychischen Vorgang (subtilitas intelligendi) von der Interpretation als mündlicher oder schriftlicher Äußerung unterscheidet (subtilitas explicandi),27 werden sowohl

24 Auch hier ergibt sich jedoch das grundlegende praxeologische Problem, wie das Verhältnis von Praktiken und Diskursen zu modellieren ist – prinzipiell dazu: Andreas Reckwitz, „Prak­ tiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation“, in: Herbert Kalt­ hoff/Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hrsg.), Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008, S.  188–209; konkret zum Verhältnis von Wissen­ schaftssprache und Sozialsystem ‘Wissenschaft’: Robert Niemann, Wissenschaftssprache praxistheoretisch. Handlungstheoretische Überlegungen zu wissenschaftlicher Textproduktion, Berlin/ Boston: de Gruyter, 2018, z.  B. S. 142. 25 Zur Problematik von Big-Data-Behauptungen vgl. Thomas Weitin, „Thinking slowly. Literatur lesen unter dem Eindruck von Big Data“, in: Konstanz LitLingLab, Pamphlet 1 (2015), S. 1–18, z.  B. S. 2  f., https://www.digitalhumanitiescooperation.de/wp-content/uploads/2019/06/p01_weitinthinking-slowly_de.pdf (zuletzt abgerufen: 21.01.2021). 26 Weimar, „Text, Interpretation, Methode“, S. 114. 27 Zu dieser Unterscheidung, die insbesondere von Schleiermacher wirkmächtig getroffen wurde, um die Hermeneutik auf die subtilitas intelligendi zu verpflichten: Lutz Danneberg, Hermeneutiken. Bedeutung und Methodologie, Berlin/Boston: de Gruyter, 2019, S. 484–486; Mirco Limpinsel, Angemessenheit und Unangemessenheit. Studien zu einem hermeneutischen Topos,

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Verstehen als auch Interpretieren vor allem als Hör- oder Lese-Effekte aufgefasst. Die theoretische Aufmerksamkeit fokussiert in der Regel mentale Aspekte.28 Mit anderen Worten: In der Literaturwissenschaft gilt die „öffentliche Darstellung der Ergebnisse von Verstehen und Interpretation“ nicht als konstitutiver Teil der Inter­ pretationspraxis, sondern wird als „etwas anderes“ verbucht.29 Die Romanfigur Archer Sloane hingegen, Dozent für Literaturwissenschaft an der Universität in Columbia, Missouri, gibt sich mit der womöglich gelungenen Rezeption in der stillen Lektüre nicht zufrieden. Seine „Studenten“ sollen darüber sprechen, wie sie einen Text verstanden haben. Nachdem Sloane das 73. Shakes­ peare-Sonett vorgelesen hat, stellt er die entscheidende Frage: „Was bedeutet dieses Sonett?“ und sucht den Seminarraum „mit einer grimmigen, beinahe freu­ digen Humorlosigkeit ab“: „Mr Wilbur?“ Keine Antwort. „Mr Schmidt?“ Jemand hustete. Sloane drehte sich mit dunkel blitzenden Augen zu Stoner um. „Mr Stoner, was bedeutet das Sonett?“ Stoner schluckte und versuchte, den Mund zu öffnen. „Es ist ein Sonett, Mr Stoner“, erklärte Sloane trocken, „eine lyrische Komposition aus vier­ zehn Zeilen in einer bestimmten Anordnung, die sie fraglos auswendig gelernt haben. Es wurde in englischer Sprache geschrieben, die Sie, wenn ich nicht irre, bereits seit einigen Jahren beherrschen. Der Verfasser heißt William Shakespeare, ein Dichter, der zwar schon tot ist, aber in den Köpfen nicht weniger Menschen dennoch einen Platz von einiger Bedeu­ tung einnimmt.“ […] Ohne ins Buch zu schauen, trug er das Gedicht erneut vor […]. „Über drei Jahrhunderte hinweg redet Mr Shakespeare mit Ihnen, Mr Stoner. Können Sie ihn hören? […] Was sagt er Ihnen, Mr Stoner? Was bedeutet das Sonett?“ Stoner hob langsam und zögerlich den Blick. „Es bedeutet“, sagte er und streckte mit vager Bewegung die Hände in die Höhe […]. „Es bedeutet“, sagte er noch einmal, konnte aber nicht beenden, was er zu sagen begonnen hatte. Sloane sah ihn neugierig an. Dann nickte er abrupt, sagte: „Der Unterricht ist beendet“ und verließ, ohne jemanden anzusehen, den Raum.30

Berlin: Ripperger & Kremers, 2013, S.  338  f. Dass die subtilitas explicandi eine nachgeordnete oder verschwindend geringe Rolle spielt, sieht man sogar an der Komplexitätsanzeige der Inter­ pretationsformel von Göran Herméren: „X interpretiert Y als Z für U um zu V“ (Herméren, „Inter­ pretation“, S.  254)  – in dieser sehr guten Grundbestimmung fehlen Medien und Formate des Interpretierens. Eine erste Erweiterung könnte also lauten: „X interpretiert Y als Z in Medium W in Form von P für U um zu V“ (vgl. die Hinweise zu „Konventionen interpretatorischer Genres“ bei Zabka, Pragmatik der Literaturinterpretation, S. 97  f.). Eine weitere Unterscheidung betrifft die zwischen ‘Verstehen’ als einem unwillkürlichen hermeneutischen Akt und der ‘Interpretation’ als einem gewollten und entsprechend argumentativ ausgestalteten hermeneutischen Akt. Vgl. zu beiden Unterscheidungen Zabka, Pragmatik der Literaturinterpretation, S. 10–13. 28 Vgl. etwa Brenner, Das Problem der Interpretation. 29 Weimar, „Text, Interpretation, Methode“, S. 121. 30 John Williams, Stoner, übers. von Bernhard Robben, München: dtv, 42013, S. 18–20.

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Hat William Stoner die ‘Bedeutung’ des Sonetts erfasst, obwohl er seine Inter­ pretation nicht artikuliert? Vielleicht geht es ihm wie der Mehrzahl der Bielefelder Deutschstudierenden, die  – einer breit angelegten empirischen Studie zufolge – ihre rezeptiven Verständnisleistungen bemerkenswert positiv einschät­ zen. Sie halten die Lektüre von Primär- und Sekundärliteratur eher für unproble­ matisch und haben den Eindruck, die im Seminar behandelten Texte in der Regel gut zu verstehen.31 Probleme tauchen jedoch dann auf, wenn diese mentalen Lektüreaktivitäten mit Rede- und Schreibaktivitäten verbunden werden sollen, vor allem beim Konzipieren und Ausformulieren von Hausarbeiten. Wozu aber sind solche schriftlichen Übungen eigentlich gut? Was zeigt sich, wenn rezep­ tive und produktive Aktivitäten nicht passend aneinander anschließen und sich Verstehensleistungen nicht ‘angemessen’ dokumentieren und kommunizieren lassen? Es sei dahingestellt, ob die studentische Selbstevaluation mentaler Vorgänge zutrifft. Stoner jedenfalls erweist sich später als begabter Literaturwissenschaft­ ler. Dass er die ‘Bedeutung’ des Shakespeare-Sonetts verstanden hat, können wir nicht ausschließen. Solange er jedoch kein passendes Verständnis zu artikulieren vermag, wird er für Sloane eine Enttäuschung bleiben. Erst nachdem der Dozent „Arbeiten“ von Stoner „angesehen“ hat, wendet sich ihr Verhältnis ins Posi­ tive,32 so dass Stoners akademische Karriere beginnen kann. Aus naheliegenden Gründen muss also mehr geleistet werden, als einen Text zu lesen, um eine ‘gute’ literaturwissenschaftliche Interpretation zu entwickeln: Die akademische Praxis würde beim Verzicht auf ‘öffentliche Darstellung’ zum Erliegen kommen. Es mag mithin ein Zeichen komplexer Verstehensaktivitäten sein, dass jemand liest, schweigt, nachdenkt, weiterliest oder noch einmal liest etc. Solche ‘rezeptiven Tätigkeiten’ genügen jedoch nicht, wenn eine Person literaturwissenschaftlich als verständig gelten will. Ausschlaggebend ist die Unterstellung, dass spezielle Formen des Redens und vor allem Schreibens geradezu zwingend auf eine ange­ messene Lektüre und auf gelingendes Verstehen verweisen – oder negativ gewen­ det: dass mangelnde Aussagebereitschaft oder -fähigkeit auf mangelnde Inter­ pretationsleistungen hindeutet. Das ist weder trivial noch selbstverständlich. In der Kunstkommunikation etwa gelten Verstummen und Schweigen durchaus als Zeichen eines besonders

31 Tanja Morstein/Ulrike Preußer, „‚Das Buch muss mich von der ersten Seite an fesseln … sonst lese ich es nicht‘ – Das Leseverhalten von BA-Studierenden der Germanistik und seine Konse­ quenzen für die Kompetenzentwicklung“, in: Ulrike Preußer/Nadja Sennewald (Hrsg.), Literale Kompetenzentwicklung an der Hochschule, Frankfurt/M. u.  a.: Lang, 2012, S. 119–141, hier: S. 129  f. 32 Williams, Stoner, S. 26.

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tiefen Verständnisses, wenn sie als Aktivitäten gedeutet werden können.33 In der Literaturwissenschaft ist das in der Regel nicht der Fall. Wieviel, wie lange und wie intensiv Interpreten gelesen haben müssen, variiert bekanntlich stark, ganz zu schweigen vom Nachdenken. Dass aber geredet werden muss und in welchem Umfang (bei Tagungsvorträgen in der Regel eine halbe Stunde) und dass geschrieben werden muss (bei Aufsätzen häufig 15 bis 20 Seiten), liegt auf der Hand. Welche Rolle spielen solche Formatvorgaben für das Verstehen? Wie und zu welchem Zeitpunkt expandieren oder limitieren sie die interpretatorische Tätigkeit? Wann entscheidet sich, welche interpretatorischen Probleme so wichtig und fruchtbar, aber auch so überschaubar sind, dass sie in einem bestimmten Zeitraum und in einer bestimmten Anzahl von Zeichen angemessen verhandelt werden können? Und wie verschränken sich quantitative und qualitative Aspekte in der Fähigkeit, eine Interpretationsaufgabe auf eine gewisse Weise und in einer bestimmten Perspektivierung zu etablieren? Eine zentrale Frage ist dabei, wie ‘nachträglich’ sich die Publizität zum Ver­ stehen im Kontext des Interpretierens verhält bzw. inwiefern der „Öffentlichkeits­ charakter“ von Interpretationen es zulässt, dass die „‚eigentliche‘ Verstehensleis­ tung von der Art ihrer Darstellung“ getrennt werden kann34 – ich komme darauf zurück (4. Abschnitt). Für die Teilhabe an einer literaturwissenschaftlichen Praxis erweist es sich jedenfalls als entscheidend, wie der Vollzug der Lektüre anschluss­ fähig gemacht und in Arbeits-, Kommunikations- und Publikationszusammen­ hänge eingepasst wird, wie also die ‘Rolle’ des Interpreten und Leserinteressen aufeinander abgestimmt werden.35 Verstehen und Interpretation sind eng, in bestimmten Hinsichten vielleicht sogar unauflöslich miteinander verbunden, so dass nicht nur eine Praktik – das Lesen – kompetent auszuführen ist, sondern mehrere Praktiken – Lesen, Reden, Schreiben u.  a. – passend zu arrangieren sind. Evaluiert wird nicht eine Aktivität, sondern ein Beziehungs- und Prozessgefüge, und zwar gerade weil sich die Phasen dieses Gefüges nicht alle und nicht alle gleichermaßen beobachten lassen. Aus dieser Perspektive fallen nicht nur soziale, sondern auch technische und körper­ liche Aspekte der Interpretationspraxis auf. Dies gilt für Anbahnungspraktiken (Anstreichen, Exzerpieren, Notieren etc.) und für Anschlusspraktiken (z.  B. für das Verfassen und Veröffentlichen von Interpretationstexten in unterschiedlichen

33 Vgl. Niklas Luhmann, „Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst“, in: Hans ­Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986, S. 620–672, hier: S. 627  f. 34 Danneberg, Hermeneutiken, S. 486  f. 35 Vgl. Spree, Kritik der Interpretation, S. 197, S. 208.

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Medien, Gattungen und Formaten).36 Aus einer praxeologischen Perspektive ist also entscheidend, dass einzelne Aktivitäten (lesen, schreiben, reden, annotieren, exzerpieren u.  v.  a. m.) in gewisser Hinsicht ubiquitär sein mögen, dass sie jedoch als Praktiken und damit als Teil einer Praxis miteinander verbunden sind und aufeinander verweisen. Über solche Arrangements erfolgt die Spezifikation einer Praktik. Oder anders: Praktiken sind „zu etwas gut“;37 zwischen ihnen bestehen „praktisch-inferentielle Verpflichtungen“.38 Das Prozessgefüge, in das sich literaturwissenschaftliches Interpretieren ein­ passt, emergiert im Verlauf des 19. Jahrhunderts: zum Teil aus älteren, institutio­ nalisierten Textumgangsformen der Gelehrsamkeit und Philologie,39 zum Teil aus literaturkritischen Innovationen des 18. Jahrhunderts.40 Im Austausch zwischen institutionell divers oder vage situierten Akteuren lagert sich im Verlauf einer längeren Entwicklung allmählich „ein Fundus von kommunikationslos angenom­ menen Selbstverständlichkeiten ab […]“.41 Dabei stellen sich wiedererkennbare „Erwartungserwartungen“42 ein, die im Lauf der Zeit organisatorisch vor allem an Universitäten institutionalisiert werden.43 Dies erlaubt Ausdifferenzierungen und relativ risikolose Konflikte,44 denn Erwartungen können vor diesem Hintergrund

36 Zu nennen wäre u.  a. die Rohfassung, die Vortragsfassung, die für die Publikation v­ orbereitete Fassung oder die Druckfassung. 37 Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Berlin: Suhrkamp, 2014, S. 108. 38 Ebd., S. 115. 39 Vgl. Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München: Fink, 1989. 40 Vgl. Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin/New York: de Gruyter, 2007. 41 Niklas Luhmann, „Institutionalisierung – Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft“, in: Helmut Schelsky (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, Düsseldorf: Bertels­ mann, 1970, S. 27–41, hier: S. 32. Zum Verhältnis von stillschweigenden Plausibilitäten und Regel­ explikation vgl. Hempfer, Literaturwissenschaft, S. 8–11, der im Anschluss an Gilbert Ryle darauf hinweist, dass die „Formulierung“ einer Regel sich vom „Vollzug der Handlung“ grundsätzlich unterscheidet (ebd., S. 9). 42 Luhmann, „Institutionalisierung“, S. 30. 43 Vgl. zu dieser Beziehung: Michael Huber, „Schriftlichkeit in der Wissenschaft und die Or­ ga­ni­sation der Universität“, in: IASL 40 (2015), H. 2, S. 329–347.  Die Generalthese lautet: „Mit den wachsenden Erwartungen an die Rechenschaftslegung gegenüber dem Staat gewinnt das Schreiben an Bedeutung, weil auf Schriftstücke als handfeste Objekte im Rechenschaftsbericht verwiesen werden kann“ (ebd., S. 339). Dabei spielt nicht zuletzt die Anteilnahme am Wissen­ schafts- und Erziehungssystem eine Rolle (vgl. ebd., S. 332). 44 Luhmann, „Institutionalisierung“, S. 30: „Institutionalisierung dient dazu, Konsens erfolg­ reich zu überschätzen“.

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auch kompetent enttäuscht werden, solange dies professionell erfolgt und damit anschlussfähig erscheint – etwa in Form von Schulstreitigkeiten, Theoriekontro­ versen, Debatten über den krisenhaften Zustand eines Fachs und dessen Zukunft etc. Dass also in einem bestimmten institutionellen Rahmen bestimmte Zusam­ menhänge und Abfolgen von Praktiken für selbstverständlich gehalten werden, bedeutet nicht zuletzt, dass zur Normalität auch Abweichungen, Konflikte und Differenzen gehören.45 Spielräume sind ebenso charakteristisch für die Praxis wie deren Begrenztheit. ‘Literaturwissenschaftliches Interpretieren’ hat an der wechselseitigen Sta­ bilisierung von Institutionalisierungen und praktischen Vollzügen teil. Es muss anschlussfähig sein und kann sich daher nicht auf mentale Vorgänge beschrän­ ken. In didaktischen Zusammenhängen werden die Effekte und Implikationen dieses Interpretationskonzepts besonders deutlich: Eine grundlegende Evalua­ tionshypothese besteht in Ausbildungskontexten offenbar darin, dass ein Text in einer gewissen Weise gelesen worden sein muss, um über ihn schreiben oder sprechen zu können. Daraus resultiert in der Schule die Bedeutung des Auf­ satzschreibens und an der Universität der Stellenwert der Hausarbeit. Einige Besonderheiten der Ausführung werden von zusätzlichen Anschlusshandlungen bestimmt, etwa vom Bedarf, Zensuren zu verteilen. Nur wenn eine Interpreta­ tion in einer gewissen Weise geäußert wird, kann sie als Indiz für ein Verstehen dienen, auf das die Benotung in einem bestimmten institutionellen Rahmen zielt. Dabei spielt eine Fülle formaler Aspekte eine Rolle, die für die Güte einer Inter­ pretation sachlich irrelevant sein könnten:46 die Befolgung orthographischer Regeln, ein Stilregister, die Verwendung spezieller Begriffe, die Gestaltung eines bestimmten Seiten- und Schriftbildes u.  v.  a.  m. Von Interpretationstexten wird also viel erwartet, und entsprechend vielgestaltig sind die Sozialisations- und Enkulturationsprüfungen, die anhand dieser Textsorte – häufig unterschwellig und nebenbei – vorgenommen werden. Diese habituelle Prägung wurde in der Frühphase der modernen Philolo­ gie offensiv artikuliert, weil hier im Ethos jene Alleinstellungsmerkmale einer wissenschaftlichen Haltung gesucht wurden,47 die erst später vor allem durch

45 Vgl. zur Spannung zwischen praxeologischen Konzepten, die eher auf Stabilität oder eher auf Destabilisierung setzen: Andreas Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive“, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282–301, hier: S. 296. 46 Zu dieser groben Unterteilung von Kriterien vgl. Descher et al., „Probleme der Interpretation von Literatur“, S. 48. 47 Rainer Kolk, „Liebhaber, Gelehrte, Experten. Das Sozialsystem der Germanistik bis zum Be­ginn des 20. Jahrhunderts“, in: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar: Metzler, 1994, S. 48–114.

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den Bezug auf ‘Theorie’ und – unter Bedingungen des Methodenpluralismus – durch ‘Methodendiskussion’ gesichert wurden.48 Wenn Friedrich August Wolf den „Vortrag“ eines Seminarteilnehmers „billigte“ und diesen als „Interpreten gewähren“ ließ, so dass er seine textkritischen Thesen sowie grammatische und lexikalische Erklärungen vorstellen durfte, dann nur in den Fällen, wo er keine „Ungründlichkeit, Anmaßung oder Selbstgefälligkeit bemerkte oder auch nur zu bemerken glaubte“.49 Mit anderen Worten: Die akzeptable Äußerung einer Inter­ pretation (hier in einem spezifisch philologischen Sinn) ist nicht nur ‘gründlich’ gearbeitet und damit sachlich richtig, sondern fügt sich mit ihren Erkenntnis­ ansprüchen auch ostentativ in den Fachzusammenhang. Die „Entstehung“ der „studentischen Hausarbeit“50 zeigt sehr gut, welchen Korrelationseffekten sich literaturwissenschaftliches Interpretieren verdankt: Das Format taucht zunächst im Seminar auf, wie es als räumliches Setting, als Verwal­ tungs- und Veranstaltungsform gegen Ende des 18. Jahrhunderts etabliert wird. Es handelt sich um eine elitäre Einrichtung, in der besonders begabte Studenten (angehende Lehrer) selbst wissenschaftlich aktiv sind und sich „auf ein einzelnes relativ klar umrissenes wissenschaftliches Fachgebiet“51 konzentrieren. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Seminar dann von einer Veranstal­ tungsform und Institution für wenige zu einer Lehr-Lern-Umgebung für viele.52 Nun wird von allen Studenten und bald auch von allen Studentinnen erwartet, dass sie wissenschaftliche Hausarbeiten verfassen. Dabei koinzidiert damals wie heute die Steigerung von Studierendenzahlen mit der Klage, dass die Novizen nicht mehr über die Eignung zum wissenschaftlichen Arbeiten verfügen.53 Von Anfang an also sollte sich die Befähigung zum und im Seminar primär durch schriftliche Arbeit beweisen, die daher zu den Aufnahmevoraussetzun­ gen zählte.54 Welche Kompetenzen aber zeigen sich privilegiert in der Schrift-

48 Rainer Kolk, „‚Repräsentative Theorie‘. Institutionengeschichtliche Beobachtungen zur Geis­ tesgeschichte“, in: Petra Boden/Holger Dainat (Hrsg.), Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert, Berlin: Akademie Verlag, 1997, S. 81–101. 49 So die Erinnerung eines Seminarteilnehmers, zitiert nach: Carlos Spoerhase/Mark-Georg Dehrmann, „Die Idee der Universität. Friedrich August Wolf und die Praxis des Seminars“, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 5 (2011), Nr. 1, S. 105–117, hier: S. 108. 50 Vgl. Thorsten Pohl, Die studentische Hausarbeit. Rekonstruktion ihrer ideen- und institutionsgeschichtlichen Entstehung, Heidelberg: Synchron, 2009. 51 Ebd., S. 41. 52 Vgl. ebd., S. 101. 53 Vgl. ebd., S.  174  f. Vgl. auch ders., Studien zur Ontogenese wissenschaftlichen Schreibens, S. 24  ff. 54 Vgl. Pohl, Die studentische Hausarbeit, S. 37.

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form?55 Die Seminararbeit diente als praktisches Instrument, um die Universität auf bestimmte Auffassungen von Kreativität und Bildung zu verpflichten – dass dies zunächst nur für eine kleine Elite galt, zeigt womöglich das Misstrauen gegen die Verallgemeinerungsfähigkeit dieser Idee von akademischer Arbeit. Das Gegen­ bild war die traditionell etablierte Vorlesungsmitschrift. Relativ dazu diente die Hausarbeit als Indiz für selbstständiges wissenschaftliches Arbeiten.56 Originali­ tät lässt sich zwar generell nicht einfach feststellen, im Vergleich von Hausarbeit und Vorlesungsmitschrift fiel die Unterscheidung jedoch leichter. Aus diesem Grund wurde im Seminar auch Wert auf die eigenständige Wahl von Thema und Fragestellung gelegt, wobei dies eine gewisse Nähe zu den Arbeiten des Seminar­ leiters nicht ausschloss.57 Das Seminar institutionalisierte mithin Selbstständig­ keit und handelte sich damit all jene konzeptionellen Komplikationen ein, die Heinrich Bosse am „Befehl zum Selbstdenken“58 entfaltet hat. Wer im 19. Jahrhundert in der noch stark limitierten Form des Seminars auf­ grund schriftlicher Leistungen aufgenommen wurde, genoss einige Vorteile: Neben finanzieller Unterstützung zählte dazu vor allem die Möglichkeit, die Semi­ narbibliothek zu nutzen.59 Daher musste die Hausarbeit auch belegen, dass das Schreiben und Lesen sowie das Verstehen eines Textes mit dem Verstehen anderer Texte verbunden wurde. Entsprechend lag das Augenmerk bei der Bewertung schriftlicher Seminararbeiten nicht nur auf der Eigenständigkeit der Themenfin­ dung und Fragestellung, sondern auch auf scheinbar nur formalen Aspekten wie der Ausgestaltung des Anmerkungsapparats oder des Literaturverzeichnisses, also auf jenen Textsorten, die Einblicke in den Entdeckungszusammenhang eröff­ nen und für die Passung des eigenen Textes in den wissenschaftlichen Kontext sorgten. Es genügte mithin nicht, einfach nur eine gute Idee zu haben, die sich auch zufällig eingestellt haben könnte, sondern diese Idee musste auch passend erarbeitet worden sein. Richtig selbstständig zu sein, bedeutete, sich in ständigem

55 Holger Dainat plädiert vehement gegen die Verengung der Aufmerksamkeit auf die Haus­ arbeiten und weist auf den hohen Stellenwert der Vorlesungsmitschrift hin: Holger Dainat, „Mit­ schrift, Nachschrift, Referat, Koreferat. Über studentisches Schreiben im 19. Jahrhundert“, in: IASL 40 (2015), H. 2, S. 306–328. 56 Spoerhase/Dehrmann, „Die Idee der Universität“, S.  106. Auch die Vorlesungsmitschrift und -nachschrift wurde auf das epistemische Ideal der Selbsttätigkeit verpflichtet: Dainat, „Mit­ schrift, Nachschrift, Referat, Koreferat“, S. 317–319. 57 Spoerhase/Dehrmann, „Die Idee der Universität“, S. 108, S. 110, S. 112  f. 58 Heinrich Bosse, „Der geschärfte Befehl zum Selbstdenken. Ein Erlaß des Ministers v. Fürst an die preußischen Universitäten im Mai 1770“, in: ders., Bildungsrevolution 1770–1830, hrsg. mit einem Gespräch von Nacim Ghanbari, Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2012, S. 251–286. 59 Vgl. Pohl, Die studentische Hausarbeit, S. 41  f., S. 47.

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Kontakt zu dem zu bewegen, was bislang im Fach passiert war, und sich dazu zu verhalten, was im Fach passieren sollte. Noch einmal: Dies bedeutet auch, dass man sich kritisch zum status quo verhalten, davon abweichen und Alternativen eröffnen kann. Wissenschaftliches Schreiben mag – im Vergleich zur Vorlesungs­ mitschrift – programmatisch als Ausweis des selbstständigen wissenschaftlichen Arbeitens gewertet werden. Wichtiger aber erscheint die Fähigkeit, sich in richti­ ger Form als abhängig zu erweisen, kompetent an der wissenschaftlichen Kom­ munikation teilzunehmen und die eigenen Interessen in diesen sozialen Kontext einzubetten. Um es zu verallgemeinern: Der Ausdruck ‘literaturwissenschaftliche Praxis’ lässt sich als Hinweis auf Sets von zusammenhängenden Praktiken verstehen, die über ‘Familienähnlichkeiten’ miteinander verbunden sind. Sie bilden keinen strikten, aber auch keinen beliebig offenen Zusammenhang von mentalen und körperlichen Aktivitäten. Achtet man nicht auf einzelne Aktivitäten und Aus­ sagen, sondern auf Aktivitätsgefüge, lässt sich vieles selbst dann als verwandt und als literaturwissenschaftlich identifizieren, was sich programmatisch (also gemessen am Maßstab artikulierter Überzeugungen) davon absetzt. Es gibt zweifellos Grenzzonen, in denen fachliche Zugehörigkeiten fragwürdig werden. Solche Phänomene sind aber, wie man nicht zuletzt im Initiationsbereich der Lehre sehen kann, durchaus normal und nicht per se ein Grund dafür, Krisen auszurufen. Als familienähnlicher Zusammenhang von Praktiken fängt die Praxis viele Abweichungen und Veränderungen auf, weil es überaus aufwändig wäre, das Gefüge insgesamt zu verändern. Die Rede davon, dass ein Fach oder eine Disziplin diesen oder jenen Turn vollziehe oder vollziehen müsse, sich internationalisiere (oder nicht), inter- oder transdisziplinär agiere (oder nicht), Standards befolge (oder nicht), verkürzt die Verhältnisse. Literaturwissenschaften sollten als Praxen im Sinne eines komplexen Gefüges von Praktiken aufgefasst werden, in dem man nie alles leisten kann, was geleistet werden könnte und – aus unterschiedlichen Perspektiven – auch geleistet werden sollte. In diesem Zusammenhang orientiert das, was man zuvor getan hat und was man nachher tut, das, was man gerade tut, ohne es zu determinieren. Was folgt aus dieser Auffassung literaturwissen­ schaftlicher Praxis für die Konzeption der Interpretation und damit auch der Hermeneutik?

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4 Interpretatorische Praxis? Interpretationstheorien beziehen sich also in der Regel auf das Verstehen eines Zuhörers oder Lesers, und zwar auch dann, wenn sie zwischen Verstehen (als einem inneren Vorgang) und Interpretieren (als Äußerung) unterscheiden. Menta­ listische Konzeptionen von Hermeneutik60 setzen Aktivitäten wie das Schreiben,61 die auch offensichtliche körperliche und technische Dimensionen aufweisen, in der Regel voraus, fassen sie aber nicht als integralen Bestandteil des Verstehens selbst auf. Das hat Folgen für die Modellierung von Interpretationshandlungen: Fasst man das Interpretieren als Handlung auf, so hat dies eine Reihe von Konsequenzen, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen. Paradigmatische Handlungen zeichnen sich durch folgende Elemente aus: (1) Sie werden von einem Handlungssubjekt ausgeführt; (2) sie gehen aus einem Überlegungsprozess hervor, in dem das Handlungssubjekt erwägt, welche Gründe dafür sprechen, die fragliche Handlung – und nicht eine andere oder gar keine – auszuführen; (3) sie sind auf Ziele bezogen, d.  h. es gibt Dinge, die sich das Hand­ lungssubjekt vom Ausführen der Handlung verspricht; (4) sie lassen sich (a) danach beur­ teilen, ob sie geeignet sind, das unter (3) genannte Ziel zu befördern, sowie (b) danach, ob sie sonstigen Standards gerecht werden. Die unter (a) genannte Beurteilung orientiert sich an ‛internen’ Kriterien, d.  h. danach, ob die Handlung aus der Sicht des Handelnden gut, ratsam oder richtig ist, während die unter (b) genannte Beurteilung unter ‛externen’ Gesichtspunkten erfolgt, die dem Handelnden nicht zugänglich sein oder von ihm nicht geteilt werden müssen.62

Diese Beschreibung einer (Interpretations-)Handlung fokussiert ein „Handlungs­ subjekt“, von dem Handlungen „ausgeführt“ werden, die „aus einem Überlegungs­ prozess“ resultieren und vorab definierte „Ziele“ erfüllen (oder verfehlen).63 An

60 Insofern ist es bezeichnend, dass sich bei Gerhard Kurz zwar ein Kapitel „Lesen und Inter­ pretieren“ findet, das Thema „Schreiben und Interpretieren“ aber ausgespart wird, obwohl z.  B. die Relevanz von „Gattungen der Interpretation“ durchaus bewusst ist. Vgl. Gerhard Kurz, Hermeneutische Künste. Die Praxis der Interpretation, Stuttgart: Metzler, 2018, S. 25–33, S. 55–66. Anders als es der Untertitel dieses Buches vermuten lässt, befasst sich Kurz nicht mit praxeologischen Konzepten. 61 Vgl. zum Status des „Schreiben[s] in den Geisteswissenschaften“: Walter Erhart/Hans-Ulrich Treichel, „Editorial“, in: IASL 40 (2015), H. 2, S. 267–280, insbes. S. 267–272. 62 Tom Kindt/Tilmann Köppe, „Moderne Interpretationstheorien. Eine Einleitung“, in: dies. (Hrsg.), Moderne Interpretationstheorien. Ein Reader, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, S. 7–26, hier: S. 11. 63 Ich gehe davon aus, dass an dieser Stelle thematisch spezifizierte Ziele gemeint sind und nicht allgemeine Vorhaben wie das Verfassen einer ‘gelungenen’ Interpretation. Möglicherweise ist auch die zitierte Konzeption einer Handlung als „analytische Rekonstruktion“ gemeint, die der „tatsächlichen Chronologie des Interpretierens nicht entsprechen muss. Betrachtet man

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den subjektiv bestimmten Absichten sowie an gegebenen Standards lässt sich dann die Qualität einer Interpretation messen, wobei „interne“ und „externe“ Kri­ terien unterschieden werden können. Der hermeneutische Akteur wird mithin als einsame Person entworfen, die infolge ihrer gedanklichen Anstrengungen Inter­ pretationshandlungen ausführt und dabei auf ein vorgefasstes Ziel zusteuert, das sie sich auch ganz allein gesteckt haben könnte. Bedenkt man hingegen, wie riskant es beispielsweise ist, den Titel eines Vortrags zu früh festzulegen, weil man die Formulierung später an das anpas­ sen muss, was sich ergeben hat, dann scheint diese Beschreibung die wissen­ schaftliche Praxis zu verfehlen. Epistemische Akteure fassen zwar Ziele, führen aber Handlungen aus, die nicht einfach auf die Erfüllung eben dieses Ziels hinauslaufen. Vielmehr verändern oder ergeben sich Ziele in der literaturwissen­ schaftlichen Arbeit, und dabei verschränken sich Überlegen, Lesen, Reden und Schreiben permanent. Es handelt sich um selbstlimitierende „Verfahren“, die „durchführungsorientiert“ ablaufen, Praktiken „in eine funktionale Perspektive“ mit ungewissem Ausgang bringen und sich in der Durchführung auf jene Möglich­ keiten einstellen, die sie selbst eröffnen, um schließlich zu einer vorzeigbaren Festlegung und Zuspitzung zu gelangen.64 Die projektierte Zukunft erweist sich mithin als weniger prägend als die Forschungsvergangenheit und als Forschungs­ ereignisse.65 Ein breiter angelegter Vergleich zwischen Arbeitsprogrammen und tatsächlichen Arbeitsergebnissen im Rahmen von Projektarbeiten wäre wissen­ schaftstheoretisch vermutlich sehr instruktiv. Schriftliche ‘Arbeiten’ werden in diesem Gefüge durch mündliche Interpre­ tationsdarbietungen angebahnt, etwa durch Tagungsbeiträge, Vorlesungen oder

die Chronologie von Interpretationshandlungen, so wird der Interpret vielleicht mit besonders augenfälligen Textmerkmalen beginnen, eine Präferenz für die Untersuchung dieser Merkmale ausbilden und dann von hier aus weitergehen. In diesem Zusammenhang ist es nicht unplausibel anzunehmen, dass sich das Interpretieren nach Art (einer Variante) des ‘hermeneutischen Zir­ kels’ abspielt: Man muss zwischen Textmerkmalen und Handlungszielen immer wieder hin und hergehen, um schließlich zu einem ausgewogenen ‘Überlegungsgleichgewicht’ zu kommen, in dem die einzelnen Präferenzen (für bestimmte Handlungen und Handlungsziele) möglichst gut aufeinander abgestimmt sind“ (Christoph Dennerlein/Tilmann Köppe/Jan C. Werner, „Interpre­ tation: Struktur und Evaluation in handlungstheoretischer Perspektive“, in: Journal of Literary Theory 2 [2008], S. 1–18, S. 7). 64 Christoph Hoffmann, „Festhalten, Bereitstellen. Verfahren der Aufzeichnung“, in: ders. (Hrsg.), Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich/Berlin: Diaphanes, 2008, S. 7–20, hier: S. 14  f. 65 Vgl. für die Experimentalwissenschaften: Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 89; im Anschluss daran Martus, „Epistemische Dinge der Literaturwissenschaft?“, S. 39  f.

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Seminargespräche. Diese Äußerungen basieren ihrerseits auf vielfältigen Vari­ anten des Paperwork (in kleinen Formen wie Annotationen, Exzerpten, Notizen, Vortragsmanuskripten und -typoskripten etc.). Im Licht der Science Studies liegt nahe, dass sich solche Schreibaktivitäten nicht angemessen als ‘Verschriftlichung’­und auch nicht einfach nur als ‘Vorarbeiten’ auffassen lassen, weil sie epistemisch effektiv sind:66 Man ‘erliest’ sich das Verstehen nicht nur, sondern ‘erschreibt’ es sich auch.67 Um solche Prozesse zu erfassen, müssen Interpreta­ tionen in ihrer Handlungsstruktur als eine „komplexe, mehrstufige Tätigkeit“68 begriffen werden. Häufig wird ‘Mehrstufigkeit’ so verstanden, dass eine Stufe auf die andere folgt. Tatsächlich aber dürfte sich der Interpretationsprozess in ständigen Vor- und Rückgriffen vollziehen.69 Dabei handelt es sich um keine geis­ teswissenschaftliche Besonderheit. Wissenschaftshistorische Studien konnten sehr deutlich zeigen, wie sich gerade auch in experimentellen Wissenschaften Planung, Überlegung und Durchführung in der Forschung verweben und man am Ende etwas weiß, von dem anfangs noch ganz unklar war, dass man es hätte wissen können.70 Damit erscheint der Anfang des Verstehens in Bezug auf die Erstellung einer Interpretation in einem neuen Licht: Insbesondere in emphatischen Auffassun­ gen des Verstehens wird das Nicht-Verstehen als Ausgangspunkt hermeneutischer

66 Hans-Jörg Rheinberger, „Kritzel und Schnipsel“, in: Bernhard J. Dotzler/Sigrid Weigel (Hrsg.), „fülle der combination“. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, München: Fink, 2005, S. 343–356. 67 Vgl. zu Konzepten des ‘epistemischen Schreibens’: Wolfgang Raible, „Über das Entstehen der Gedanken beim Schreiben“, in: Sybille Krämer (Hrsg.), Performativität und Medialität, Mün­ chen: Fink, 2004, S. 191–214; Sybille Krämer „‚Operationsraum Schrift‘. Über einen Perspektiven­ wechsel in der Betrachtung der Schrift“, in: Gernot Grube/Werner Kogge/Sybille Krämer (Hrsg.), Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München: Finke, 2005, S. 24–57, S. 42  f.; Sandro Zanetti, „Einleitung“, in: ders. (Hrsg.), Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Ber­ lin: Suhrkamp, 2012, S. 7–34, hier: S. 26–31. 68 Simone Winko, „Zur Plausibilität als Beurteilungskriterium literaturwissenschaftlicher Inter­ pretation“, in: Andrea Albrecht et al. (Hrsg.), Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens, S. 483–511, hier: S. 486. 69 Vgl. hier auch den Unterschied zwischen einer holistischen und einer analytischen Zuschrei­ bung von Textfunktionen: Eckard Rolf, „Textuelle Grundfunktionen“, in: Klaus Brinker et al. (Hrsg.), Text- und Gesprächslinguistik. Linguistics of Text and Conversation. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. An International Handbook of Contemporary Research, Berlin/New York: de Gruyter, 2000, S. 422–435, hier: S. 423  f. 70 So – stark zusammengefasst – die These von Rheinberger (Experimentalsysteme und epistemische Dinge) im Blick auf die Genforschung. Kurz gefasst: Staffan Müller-Wille/Hans-Jörg Rhein­ berger, Das Gen im Zeitalter der Postgenomik. Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009.

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Bemühungen angenommen.71 Man muss aber für das Interpretationsgeschäft – zumal in Bereich der Philologien, die sich auf ‘neuere’ Literatur beziehen – auch den gegenteiligen Fall in Betracht ziehen und womöglich für normal halten: Ein Akteur versteht einen Text – vermeintlich oder nicht – zu gut, um ihn interpre­ tieren zu können, und muss sich erst darum bemühen, relevante Deutungspro­ bleme zu bestimmen, wenn ein Referat oder Vortrag gehalten, eine Hausarbeit, ein Artikel oder eine Qualifikationsschrift verfasst werden muss. Die Heraus­ forderung besteht somit nicht allein darin, dass man seine Geschicklichkeit im Umgang mit gegebenen Abgründen des Verstehens zeigt, sondern auch darin, dass man sein Problematisierungstalent unter Beweis stellt. Womöglich fällt es routinierten Interpreten schlicht besonders leicht, Pro­ bleme mit Texten zu haben. Sie sehen Verständnishürden als Eigenschaften von hochwertigen literarischen Texten an, die ihre Leser in besonderer Weise heraus­ fordern. Obwohl also das Interpretieren als „ein Verstehen des Verstandenen“72 aufgefasst werden kann, werden Forschungsfragen typischerweise als vorlie­ gende Probleme behandelt, die sich dem Interpreten stellen. Dies kann als Indiz dafür gelten, dass der Könner das Verstehen „zweiten Grades“73 nicht einfach auf ein Verstehen ersten Grades folgen lässt,74 sondern sich daran gewöhnt hat, das Verstehen grundsätzlich in Bezug auf das Interpretieren zu vollziehen.75

71 Vgl. dazu den Beitrag von Philipp Stoellger in diesem Band. Kanonische Stellen zum Miss­ verstehen bei Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hrsg. und eingeleitet von Manfred Frank, Frank­ furt/M.: Suhrkamp, 51993, z.  B. S. 92, S. 178. 72 Klaus Weimar, „Was ist Interpretation?“, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49 (2002), S. 104–115, hier: S. 110. 73 Ebd. 74 Vgl. Zabka, Pragmatik der Literaturinterpretation, S. 20. 75 Instruktiv dafür wäre eine Untersuchung der unscheinbaren Operationen des Zitierens, Zusammenfassens, Paraphrasierens, Beschreibens etc. Vgl. Zabka, Pragmatik der Literaturinterpretation, S. 74  f.; Tom Kindt, „Deskription und Interpretation. Handlungstheoretische und praxeologische Reflexionen zu einer grundlegenden Unterscheidung“, in: Marie Lessing-Sattari/ Maike Löhden/Dorothee Wieser (Hrsg.), Interpretationskulturen. Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft im Dialog über Theorie und Praxis des Interpretierens, Berlin u.  a.: Lang, 2015, S. 93–112. Vgl. hier auch Strube, Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft, S. 99  f., zur Rolle der „fachsprachlichen Beschreibung“. Zu einem strikt zweistufigen Modell, das zwischen „kognitive[r] Feststellungsarbeit“ und „Interpretationsarbeit“ oder auch zwischen „Basis- und Aufbauarbeit“ unterscheidet: Peter Tepe/Jürgen Rauter/Tanja Semlow, Interpretationskonflikte am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann. Kognitive Hermeneutik in der praktischen Anwendung. Mit Ergänzungen auf CD, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009, S. 21, S. 39. Die ‘Textzusammenfassung’ ist allerdings nicht so neutral, wie unterstellt wird. Abgesehen davon, dass sich die Beschränkung auf den ‘Text’ (der Erstausgabe in einer bestimmten Edition) als In­

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Literaturwissenschaftliche Lektüren erfolgen „unter bestimmten Gesichtspunk­ ten“76 und im Licht von Problemstellungen, weil sie sich auf die Herstellung von mündlicher oder schriftlicher Anschlusskommunikation über Literatur beziehen. Diese Problematisierungsarbeit vollzieht sich typischerweise in der wech­ selseitigen Anregung von Lesen und Schreiben  – man liest (gleichsam) immer mit dem Bleistift in der Hand. Obwohl der konkrete Vollzug von Praktiken in gewisser Weise einzigartig ist, lassen sich mit Christoph Hoffmann drei typische Aspekte der Korrelation von epistemischem Lesen und Schreiben benennen: Beim „Aufschreiben“­geht es um die Gewinnung von „Forschungsmaterial“, beim „Bearbeiten“ um die Sondierung der Daten mit dem Ziel, Zusammenhänge herauszuarbeiten, und beim „Publizieren“ um die „Schließung“ eines Objekts mit unterschiedlichen öffentlichen Reichweiten (von der mündlichen bis zur gedruckten Präsentation).77 In der Regel rückt das Schreiben erst an dieser letzten Station, also beim Ausarbeiten eines Textes fürs „Publizieren“, ins Bewusst­ sein der Forschenden. Weil dabei „kognitive Operationen wie Formulieren oder Argumentieren“ im Vordergrund stehen, verführt diese Form der Vertextung zu dem Eindruck, es „würde nur aufgeschrieben, was sich im Kopf ergeben hat“.78 An jeder Position des Arbeitsprozesses aber strukturiert das Schreiben den For­ schungsgegenstand. Es lässt bestimmte Aspekte hervor- und andere in den Hin­ tergrund treten und bietet Anlass für weitere Überlegungen.79 Entscheidend ist daher, dass „die Grenzen zwischen Aufschreiben, Bear­ beiten und Publizieren […] fließend“80 verlaufen. So wäre es eine unrealistische

terpretandum nicht von selbst versteht, bleibt etwa der Eingangspassus des ersten Briefs ausge­ spart, der Charakterisierungen Nathanaels und seiner Lebenssituation enthält und Hinweise auf die Bedeutung der Performanz des Briefschreibens gibt. Selbst wenn dies für die Behandlung der ‘Interpretationskonflikte’ irrelevant wäre, würde damit eine bestimmte Problemfokussierung vorliegen, die offenbar etwas mit einem möglichen Forschungszusammenhang und -interesse zu tun hat. Schließlich dürfte das Modell sich in der Anwendung umso schwieriger erweisen, als der Interpretationsgegenstand nicht von einer erzählten und nacherzählbaren Handlung geprägt ist. Das Untersuchungsdesign ist mithin auch generisch limitiert. 76 Heinz Schlaffer, „Der Umgang mit Literatur. Diesseits und jenseits der Lektüre“, in: Poetica 31 (1999), S. 1–25, hier: S. 19. 77 Christoph Hoffmann, Schreiben im Forschen. Verfahren, Szenen, Effekte, Tübingen: Mohr Sie­ beck, 2018, S. 144  f. 78 Ebd., S. 7, S. 206. 79 Vgl. mit prägnanten Formulierungen ebd., z.  B. S. 14, S. 31, S. 39, S. 118. Als konkretes Beispiel aus der Literaturwissenschaft vgl. die Auswertungen der Notizen von Peter Szondi bei Sandro Zanetti, „Literaturwissenschaftliches Schreiben zwischen Mimesis und Abstraktion. Von Jean Leclerc zu Peter Szondi und Roland Barthes“, in: IASL 40 (2015), H. 2, S. 348–373, hier: S. 361–364. 80 Hoffmann, Schreiben im Forschen, S. 11.

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Vorstellung, dass ein Könner zunächst ohne jede weitere Absicht Beobachtungen sammelt, die dann in einen zielgerichteten Prozess der Interpretation überführt werden. Von der Materialgewinnung an vollzieht sich – wie vorläufig und unter­ schwellig auch immer – eine „Dekontextualisierung der Produkte“ und damit eine „Entmischung von Aspekten“.81 Zum einen handelt es sich immer um absichts­ volle Prozesse, die sich auf disziplinäre Standards positiv oder negativ beziehen; zum anderen verändern und ergeben sich Absichten erst im Verlauf der Arbeit.82 Die Könnerschaft besteht darin, in den sich wechselseitig stimulierenden Prozes­ sen des Schreibens und Lesens zu bemerken, welche Interpretationsthese sich herauszuschälen beginnt und welche annotierten oder exzerpierten Stellen als Belege taugen, um ein Argument zu erhärten oder eine These, die sich zeigt und gezielt formulieren lässt, zu illustrieren.83 Weil sich zwar Phasen unterscheiden lassen, diese aber bei kompetenter Teil­ habe an der Praxis immer aufeinander bezogen sind, gibt es auch keine eindeu­ tigen Indizien dafür, wann Forschung „publikationsreif“ geworden ist.84 Ebenso schwer lässt sich der Beginn der Publikationsarbeit benennen: Das Schreiben der Publikation fängt lange vor dem Verfassen eines Skripts an, weil unterschwellig „immer schon für die Publikation geforscht“85 wird. „Adressaten“ sind für wis­ senschaftliche Akteure nicht erst bei der „Ausarbeitung der Publikation […] im Hinterkopf präsent“.86 Typische Eigenschaften wissenschaftlicher Texte – Modalisierungen, Persua­ sivität, Perspektivierung etc. – verweisen daher auf „Social Interactions in Acade­ mic Writing”.87 Ein literaturwissenschaftlicher Interpret tritt nicht als einsames Subjekt auf, sondern als scientific persona, die sich als Teil einer community of practice verhält.88 Verstehen in Form des literaturwissenschaftlichen Interpretie­

81 Ebd., S. 216, S. 218. 82 Vgl. ebd., S. 148–150. 83 Vgl. ebd., S. 182. 84 Ebd., S. 204. 85 Ebd., S. 222. 86 Ebd., S. 204  f. 87 Ken Hyland, Disciplinary Discourse. Social Interactions in Academic Writing, Ann Arbor: Uni­ versity of Michigan Press, 2004, S.  109–128; Pohl, Studien zur Ontogenese wissenschaftlichen Schreibens, hier z.  B. S. 2, S. 65, S. 249–251. Auch in Bezug auf die Wissenschaftssprache zeigen sich bemerkenswerte Diskrepanzen zwischen wissenschaftstheoretischem Selbstverständnis und der Sprachpraxis. Vgl. hierzu Niemann, Wissenschaftssprache praxistheoretisch. 88 Man kann das bereits am richtigen ‘Ich-Sagen’ sehen. Novizen wird oftmals verboten, in ihren Texten von sich in der ersten Person zu sprechen. Dies begründet sich nicht daraus, dass die erste Person Singular prinzipiell stört, sondern dass eine bestimmte Form des Egozentrismus für ‘unreif’ gehalten wird. Wenn hingegen gut sozialisierte und enkulturierte wissenschaftliche

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rens ist – mit anderen Worten – sozial in besonderer Weise voraussetzungsreich. Daher taucht das wissenschaftliche Schreiben als „kulturelle Spitzenpraxis“ sehr spät auf und entwickelt seine Eigenheiten nur sukzessive.89 Permanent muss zwischen Instanzen wie Interpret, Interpretationsgemeinschaft, Interpretandum, Interpretament und Interpretation vermittelt werden. So hat Thorsten Pohl am Beispiel der Einleitung zu wissenschaftlichen Haus­ arbeiten gezeigt, dass man angesichts dieser enorm voraussetzungsreichen Vermittlungsarbeit im Studium nicht von Anfang an zu viel erwarten sollte. Es erweist sich im Normalfall als schwierig, Gegenstandsbezug (was ist das Thema?), Diskursbezug (wie verhält sich die Hausarbeit zum Forschungsstand?) und Argu­ mentationsbezug (wie wird das Thema behandelt?) angemessen zu verwalten.90 Für die kognitive Evolution ist dabei aufschlussreich, dass typischerweise erst im Lauf der Zeit immer mehr der genannten Dimensionen und Funktionen realisiert werden: In der Regel steht der Gegenstandsbezug an erster Stelle, dann folgt der Argumentationsbezug, dann der Diskursbezug. Noch wichtiger ist jedoch der Befund, dass der Argumentationsbezug erst dann anspruchsvoll ausgebaut wird, wenn der Diskursbezug auch zur Geltung kommt.91 Danach gelingt es, richtig ‘Ich’ zu sagen,92 sich also als Handlungssubjekt zu artikulieren, das perspek­ tivisch – sei es negativ oder positiv – immer auf das bezogen bleibt, was in der wissenschaftlichen Umgebung geschehen ist, geschieht und geschehen wird. Working Place-Studies bestätigen Pohls Textbefunde. Beobachtet man das Verfertigen von wissenschaftlichen Publikationen, dann wird deutlich, wie sich Schreiben und Lesen ständig verschränken. Das diskursive Engagement der Akteure zeigt sich an unscheinbaren, aber typischen körperlichen Bewegungen (Haare-Raufen, Hand-Kneten, Stirnreiben, Fußwippen, Fingertrommeln u.  a.). Das Schreiben wird mitunter von leisem und lautem Sprechen begleitet, das dazu beiträgt, gedankliche und sehr flüchtige Aktivitäten zu stabilisieren, sie gleich­ sam für die schriftliche Formulierung zu präparieren und auszuprobieren.93

Personen ‘Ich’ sagen, dann beziehen sie sich auf ein geläutertes, formatiertes und damit wissen­ schaftstaugliches ‘Ich’. Vgl. Pohl, Studien zur Ontogenese wissenschaftlichen Schreibens, S. 233. 89 Ebd., S. 2. 90 Vgl. ebd., S. 250  f. 91 Vgl. ebd., S. 253, S. 255, S. 258. 92 Vgl. zum Einsatz argumentativer „Unbestimmtheitsmittel“, die stets mindestens „implizit auf die Autorinstanz“ verweisen: Niemann, Wissenschaftssprache praxistheoretisch, S. 8 (zu his­ torischen Entwicklungen vgl. ebd., S. 252). 93 Vgl. Kornelia Engert/Björn Krey, „Das lesende Schreiben und das schreibende Lesen. Zur epis­ temischen Arbeit an und mit wissenschaftlichen Texten“, in: Zeitschrift für Soziologie 42 (2013), S. 366–384, hier: S. 372  f.

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Die Schreibpraxis selbst verfährt dabei nicht linear am Leitfaden vorab gefasster Gedanken entlang, und sie läuft nicht zielgerichtet auf feststehende Thesen zu. Sie ist stattdessen geprägt von Vor- und Rückgriffen, von der Reaktion auf Wider­ stände, von Unterbrechungen, Umformulierungen, Selbstkorrekturen, neuen Anläufen, Lücken und Lückenschließungen.94 Schreiben bedeutet „mehr“ als „Gedanken, die man hat, so wie sie sind, schriftlich niederzulegen“.95 Es wird nicht einfach aufgeschrieben, sondern „permanent ausprobiert, überprüft, über­ arbeitet und re-konzeptionalisiert“, so dass ein epistemisches Ding „im wechsel­ seitigen ‘rôle taking’ aus Schreiben und Lesen hervorgebracht“ wird.96 Das komplexe Arrangement von Praktiken bezieht zu verstehende, verstan­ dene und verstehende Texte aufeinander und testet die Arrangements permanent im Licht internalisierter fachlicher Ansprüche.97 Das Ausprobieren, Verwerfen, Verschieben und allmähliche Stabilisieren von Formulierungen lässt sich so deuten, dass eine permanente Selbstevaluierung im Hinblick auf mögliche Reak­ tionen stattfindet. Erst in diesem Prozess, in dem allmählich Formulierungsalter­ nativen ausgeschlossen werden, ergeben sich immer deutlicher die Umrisse des epistemischen Objekts, das zudem mit einer bestimmten Forschungsvergangen­ heit und -zukunft versehen wird.98 Wissen konstituiert sich in solchen Prozessen des „lesenden Schreibens“ und „schreibenden Lesens“ in der „Antizipation und Hereinnahme“ der Perspektive tatsächlicher und potentieller Kommunikations­ partner.99 Das kompetente und fachgerechte eigene Verstehen weist in diesem Sinn prinzipiell einen publizistischen Charakter auf.

94 Vgl. ebd., S. 370. 95 Pohl, Studien zur Ontogenese wissenschaftlichen Schreibens, S. 17. 96 Engert/Krey, „Das lesende Schreiben und das schreibende Lesen“, S. 374. Man könnte dies im Blick auf Argumentationsverfahren und Theoriebildung mit dem Konzept des „Überlegungs­ gleichgewichts“ verbinden. Vgl. dazu Thomas Petraschka, Interpretation und Rationalität. Billigkeitsprinzipien in der philologischen Hermeneutik, Berlin/Boston: de Gruyter, 2014, S. 237–268; vgl. auch ebd., S. 258: „Philologische Interpretationsprozesse, die auf Prinzipien der hermeneu­ tischen Billigkeit basieren, können […] als Abwägungsprozesse rekonstruiert werden“. Allerdings müsste man genauer fragen, ob ein „Stufenmodell“ des Verstehens (vgl. ebd., S. 7–11) sich damit verträgt. 97 Selbst Interpretationen, die sich nicht auf konkrete Interpretationsalternativen beziehen, fingieren in der Regel solche alternativen Meinungen. Vgl. Hempfer, Literaturwissenschaft, S. 12. 98 Engert/Krey, „Das lesende Schreiben und das schreibende Lesen“, S. 372, S. 374. 99 Ebd., S. 368  f.

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5 Interpretationsmaßstäbe Interpretationen platzieren sich im modernen Forschungs-, Qualifikations- und Publikationssystem der Wissenschaft und in einer modernen Form der univer­ sitären Ausbildung an philologischen bzw. literaturwissenschaftlichen Semi­ naren. Literaturwissenschaftliche Hermeneutik erweist sich damit als Teil einer komplexen akademischen Infrastruktur. Diese Interpretationsinfrastruktur hat sich im Verlauf des 19.  Jahrhunderts etabliert und dabei heterogene Elemente aufeinander abgestimmt: Formate, Genres, Wissenschaftsauffassungen, Evalua­ tionsprozeduren, Öffentlichkeitskonzeptionen und Verfahren der akademischen Selbstpräsentation (z.  B. in Form eines Schriftenverzeichnisses).100 Einer der wichtigsten Effekte dieser infrastrukturellen Einbettung des Inter­ pretierens liegt darin, dass Interpreten nicht nur dem zu interpretierenden Text ‘gerecht’ werden müssen, sondern zugleich sehr vielen anderen Anforderungen. Ein Anzeichen für diese Passungspflicht ist die scheinbar selbstverständliche, meist implizite Forderung von ‘Angemessenheit’. Es handelt sich um einen überaus prominenten literaturwissenschaftlichen „Topos“,101 der insbesondere in Methodenstreitigkeiten eine Art Letztbegründungsanspruch erhebt. Er rangiert in gewisser Weise höher als das Kriterium der ‘Wahrheit’, weil die ‘Objektkon­ stitution’ selbst als evident postuliert wird.102 Angemessenheit wird dabei im Ver­ hältnis von Interpretandum und Interpretation gefordert, aber auch im Verhältnis des Interpreten und seiner Interpretation zur Interpretationsgemeinschaft. Dadurch kommen diverse, teils konkurrierende Maßstäbe ins Spiel. So könnte rationales Agieren aus einer eher machiavellistischen Perspektive auf das Publi­ kationsgeschäft bedeuten, „sich planvoll Vorteile zu verschaffen, opportunistisch zu handeln, die Situation zu seinen Gunsten zu wenden, Verbündete zu gewinnen und Konkurrenten schachmatt zu setzen“103. Diese despektierliche Sicht rückt auch in den Blick, dass wissenschaftliche Leser Geltungsansprüche, zu denen sie sich theoretisch argumentativ verhalten müssten, im Interpretationsalltag durch­

100 Vgl. Carlos Spoerhase, „Fortsetzung im nächsten Heft“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.03.2019, S. N3 (mit Bezug auf: Alex Csiszar, The Scientific Journal. Authorship and the Politics of Knowledge in the Nineteenth Century, Chicago: The University of Chicago Press, 2018). 101 Mirco Limpinsel versteht darunter „ein Verfahren, mit dem, zunächst unabhängig von der Frage nach seiner Wahrheit, die Plausibilität einer Zuschreibung oder einer Perspektive herge­ stellt werden soll. […] Ein hermeneutischer Topos ist ein nicht explizit markierter Gesichtspunkt (eine Annahme, Überzeugung, Hierarchie oder Definition), der mehrere hermeneutische Regeln begründet“ (Limpinsel, Angemessenheit und Unangemessenheit, S. 25). 102 Mit exemplarischen Beispielen dazu: ebd., S. 8–18. 103 Hoffmann, Schreiben im Forschen, S. 234.

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aus vernachlässigen und statt dessen opportunistisch agieren: „Sie lesen, was sie interessiert, fleddern die Texte, wie es ihnen passt, und haben dabei auch sehr profane Dinge im Kopf“104, die sie dazu bewegen, sich mit einem Text zu beschäftigen oder es eben sein zu lassen. In diesen Rekonstruktionen wirkt das wissenschaftliche Alltagsgeschäft defizitär. Es geht aber nicht um den Nachweis, dass Wissenschaftler ‘auch nur Menschen sind’, sondern um die Einsicht, dass eine gute Interpretation nicht nur eine richtige Deutung vornehmen, sondern zudem in die literaturwissen­ schaftliche Praxis passen muss. Mehr noch: Im Kontext können dann ‘falsche’ Interpretationen in gewissen Hinsichten besser zu bestimmten Arbeitseinheiten der literaturwissenschaftlichen Praxis passen als ‘wahre’ Interpretationen.105 Um die Komplexität solcher auf den ersten Blick irritierenden Normarrangements zu verstehen, muss man sich die zeitliche Dehnung und soziale Breite der Praxis ver­ deutlichen. In der Prozessperspektive lassen sich harte Urteile vermeiden: Man umschifft dann die Feststellung, jemand habe nicht verstanden, und vertritt statt­ dessen die Auffassung, eine Person habe noch nicht verstanden. Oder man kann ein Missverständnis sogar als besonders fruchtbar für Lerneffekte einschätzen: als gute Gelegenheit und Anregung dazu, es besser zu machen. Man sieht also, wie sich das evaluative Vokabular anreichert, wenn episte­ mische Prozesse ins Kalkül gezogen werden. Diese Erweiterung der Kriterien lässt sich auch an der Fülle unterschiedlicher Textsorten beobachten, die im Verlauf einer Interpretation anfallen (Annotationen, Exzerpte, Notizen, Gedankenskiz­ zen, Exposés, Entwürfe, Fassungen, Vorträge, Diskussionsbeiträge, Aufsätze etc.). Darüber hinaus ist entscheidend, dass „Interpretationsprodukte […] nie ausschließlich aus interpretierenden Äußerungen“106 bestehen. Sowohl in der Genese der Interpretation als auch in deren ‘Produkt’ finden sich Darstellungs­ formen, die Wissen in einer Art Test- und Probierphase repräsentieren, so dass

104 Ebd., S. 244. Vgl. in diesem Sinn zur Pluralität von Illokutionen: Zabka, Pragmatik der Lite­ ra­tur­interpretation, S. 64–66. 105 Vgl. dazu am Beispiel von Friedrich Kittlers Habilitationsverfahren: Steffen Martus, „Zur normativen Modellierung und Moderation von epistemischen Situationen in der Literaturwissen­ schaft aus praxeologischer Perspektive“, in: Scientia Poetica 20 (2016), S. 220–233. Zur Virtuosität der literaturwissenschaftlichen Fehlerverarbeitung: ders., „Der Mut des Fehlens“, in: Ralf Klaus­ nitzer/Carlos Spoerhase/Dirk Werle (Hrsg.), Ethos und Pathos der Geisteswissenschaften. Konfigurationen der wissenschaftlichen Persona seit 1750, Berlin/Boston: de Gruyter, 2015, S. 61–78. Die Fokussierung von Wahrheit und die entsprechende Reservierung von Kriterien wie ‘passend’ oder ‘stimmig’ für (inter-)textuelle Verhältnisse bei Zabka erscheint mir insofern problematisch. Vgl. Zabka, Pragmatik der Literaturinterpretation, insbesondere S. 116–125. 106 Zabka, Pragmatik der Literaturinterpretation, S. 13.

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sie eher an Normen der Heuristik wie ‘hilfreich’, ‘spannend’, ‘weiterführend’ oder ‘anregend’ gemessen werden. Umgekehrt gibt es aber auch Darstellungs­ formen, die sich eher einem definiten Anspruch auf Wahrheit stellen und bei denen ein Urteil wie ‘falsch, aber interessant’ weniger akzeptabel erscheint.107 Wie im Fall der Verschränkung von Planung und Durchführung oder von Lesen und Schreiben sollte der Prozess, in dem diese Textsorten anfallen, nicht als ein Nacheinander von bestimmten Stationen aufgefasst werden. Vielmehr ist stets ein komplexes Normgefüge im Spiel: Auch Fruchtbarkeitsunterstellungen werden im Blick auf Wahrheitsvermutungen getroffen, und umgekehrt muss eine wahre Aussage noch immer so viel fruchtbaren Problemgehalt mit sich führen, dass sich Anschlusskommunikation lohnt. Die evaluativen Prozeduren komplizieren sich weiter, wenn epistemische Leistungen nicht nur temporal, sondern auch sozial in größeren Zusammenhän­ gen abgewogen werden. Dann nämlich muss nicht derjenige, der einen Fehler gemacht hat, für die günstigen Effekte sorgen, sondern diese Aufgabe wird an die scientific community delegiert. In diesem Sinn hat Wilhelm Scherer in der Nach­ folge Jacob Grimms den ‘Anreger’ als wissenschaftlichen Typus im philologischen Feld zugelassen.108 Die Forschungsumgebung ist im Übrigen auch deswegen rele­ vant, weil sich ein hermeneutischer Akteur nur eingeschränkt selbst attestieren kann, einen interessanten oder fruchtbaren Fehler gemacht zu haben. Dass es also zu normativen Spannungen kommt, ist zu erwarten; wie die nor­ mativen Spannungen hierarchisiert werden, dürfte die entscheidende Frage sein. Der Befund von Simone Winko, dass Interpretationen in der Literaturwissenschaft in der Regel nicht als wahr oder falsch, sondern als plausibel oder unplausibel gewertet werden, reagiert auf diesen Zustand.109 ‘Plausibel’ ist dann ein Prädikat für eine sehr komplexe Einschätzung darüber, wie geschickt vielfältige Normen arrangiert wurden. Dabei erweisen sich „unsere Vorstellungen von der Richtigkeit einer Norm“ als „ungleich heterogener“ als diejenigen „von der Wahrheit einer Aussage“.110 Dies gilt zumal unter der Bedingung struktureller Überforderung,

107 Vgl. Rheinberger, „Kritzel und Schnipsel“. 108 Steffen Martus, „‚jeder Philolog ist eine Sekte für sich‘. Wilhelm Scherer als Klassiker des Umgangs mit Klassikern“, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 53 (2006), H. 1, S. 8–26. 109 Winko, „Zur Plausibilität als Beurteilungskriterium literaturwissenschaftlicher Interpre­ tation“. Vgl. auch Herméren, „Interpretation“, S. 273; Limpinsel, Angemessenheit und Unangemessenheit, S. 23: „Interpretierende Texte […] plausibilisieren eher, als dass sie beweisen“. 110 Christoph Möllers, Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, Berlin: Suhrkamp, 2015, S. 10.

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also der für jede wissenschaftliche Aktivität normalen Tatsache, dass man vieles machen soll, aber nicht alles machen kann. Weil also auch Interpretationen nie alles auf einmal leisten können und zudem die potentiellen Qualitäten einer Interpretation in unterschiedlicher Güte und Intensität realisiert werden, lassen sich keine schematisch anwendbaren Evaluationsregeln angeben. „Weder ‘Wahrheit’ noch ‘Methode‘ garantieren […], dass eine Interpretation auch wirklich gut und für Literaturinterpreten akzeptabel ist“111, und die Frage, „wie man zwischen ‘guter’ und ‘nicht so guter’ Praxis unterscheiden kann“112, muss ergänzt werden um die Frage: gut für wen, für was und für welche Situation? Eine Interpretation ist nicht nur besser als eine andere, wenn sie mehr positive Normen erfüllt (richtig, fruchtbar, anregend, anschluss­ fähig, innovativ etc.). Eine Interpretation kann auch dann als besser gelten, wenn sie nur einer Norm in besonders herausragender Weise gerecht wird. Die Rück­ meldung an eine Interpretation könnte so beispielsweise lauten: ‘richtig, aber fruchtlos’, oder im Gegenteil: ‘falsch, aber anregend’. Sie könnte aber auch lauten: ‘richtig und fruchtbar, aber nicht innovativ genug’, oder: ‘richtig, fruchtbar und innovativ, aber dies alles nicht in besonders hohem Maß’. Bei solchen Einschät­ zungen spielen literaturtheoretische Präferenzen, Wissensbestände, Erkenntnis­ interessen oder die „praktischen Bedürfnisse[…] der Interpreten“113 eine Rolle. Entscheidend ist: Zur Disqualifizierung einer Interpretationsleistung erweist es sich aus Gründen, die etwas mit der Situierung in der literaturwissenschaftlichen Praxis zu tun haben, als unzureichend, einfach nur darauf zu pochen, dass sie Missdeutungen eines Textes aufsitzt. Damit verteidige ich nicht die Zulässigkeit von fehlerhaften Interpretationen, sondern beschreibe Bewertungsroutinen, auf die sich normative Erwägungen einlassen sollten, wenn sie effektiv sein wollen.

6 Fazit Ich habe einleitend an Andreas Kablitz’ Aufforderung erinnert, die Aufmerksam­ keit weniger auf Theorien als auf die Interpretationspraxis zu lenken. Aus einer praxeologischen Perspektive ist dabei interessant, dass Theoriearbeit im Kontext des Interpretierens eine gute Gelegenheit bietet, um zeitliche und soziale Deh­ nungen vorzunehmen und die normative Vielfalt zur Geltung zu bringen. Das hat

111 Descher et al., „Probleme der Interpretation von Literatur“, S. 46. Vgl. auch Strube, Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft, S. 103, S. 110. 112 Hempfer, Literaturwissenschaft, S. 8. 113 Descher et al., „Probleme der Interpretation von Literatur“, S. 49.

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etwas mit einer bemerkenswerten Eigenschaft von Theorie zu tun: ‘Gute’ Theorie wird in der Regel durch so etwas wie ‘Fakten’ nicht wertlos gemacht. Sie verfügt über eine gewisse Empirie-Resistenz. Das theoretische Substrat aus Ausführungen zur Konstitution von „Souveränität“ in der Frühen Neuzeit (Schmitt), zum Ver­ hältnis von „Kritik und Krise“ in der Aufklärung (Koselleck), zu den Eigenheiten von „Schrift“ (Derrida) oder zur Transformation von „Überwachen und Strafen“ (Foucault) bieten wichtige Referenzen, relativ unabhängig davon, was die his­ torische Forschung inzwischen geleistet hat. Um dieses Phänomen zu rekonstruieren, bietet es sich an, nicht zwischen Theorie und Praxis zu unterscheiden und auch nicht Theorie oder Praxis für wich­ tiger oder wertvoller zu halten. Stattdessen sollten Theoriepraktiken bzw. Effekte des Theoretisierens untersucht und ins Verhältnis zu anderen Praktiken gesetzt werden.114 Es wäre demnach empirisch zunächst zu klären, was von wem als ‘Theorie’ akzeptiert wird; wann, aus welchen Gründen, mit welchen Absichten, Funktions- und Leistungsvisionen sich ein Fach (oder ‘Arbeitseinheiten’ inner­ halb einer Disziplin) dazu berufen fühlt, ‘Theorie’ zu betreiben oder zu fordern, wie sich ‘Theoretisieren’ mit anderen Praktiken verkoppelt und ins Ensemble und in die Serien von Praktiken fügt, wie also beispielsweise das Theoretisieren mit dem Beschreiben, Erklären oder Deuten in einer Interpretation verbunden wird. Dies kann sehr offensiv geschehen oder auch auf eine so unauffällige Weise, dass Interpretationsverfahren ‘untheoretisch’ wirken, was wiederum als positive Qualität (‘textnah’) oder als Defizit bewertet werden kann (‘unwissenschaftlich’). Literaturwissenschaftliches Interpretieren lässt sich – um kurz zu resümie­ ren – als Teil einer Praxis auffassen, in der Praktiken innerhalb gewisser Spiel­ räume normativ bindend verkoppelt werden und sich durch diese Verkoppelung in ihrer Ausführung spezifizieren. Praxen unterscheiden sich darin, wie diese Verkoppelung geschieht, welche Möglichkeiten zulässig erscheinen und wo die Grenzen der Eigenwilligkeit liegen. ‘Rezeptive Tätigkeiten’ taugen als Operatoren für literaturwissenschaftliches Verstehen nicht, solange nicht mündlich oder schriftlich etwas artikuliert wird, was sich als Folge hermeneutischer Aktivitäten deuten lässt. Schreiben ist kein Addendum, kein lässlicher oder nachträglicher Aspekt der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis. Es ist epistemisch effektiv. Es wird zudem nicht von einsamen Akteuren ausgeübt, sondern von wis­ senschaftlichen Personen, die in einen komplexen Zusammenhang von Lehre, Forschung und Verwaltung eingespannt sind sowie in Prozesse, die Forschen und Publizieren stets zugleich und aufeinander bezogen involvieren.

114 Im Anschluss an Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes, übers. von Kurt Baier, Stuttgart: Re­ clam, 1992, S. 28.

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Im Kontext dieser Interpretationsinfrastruktur müssen Interpreten nicht nur dem zu interpretierenden Text, sondern sehr vielen weiteren Instanzen ‘gerecht’ werden. Anders formuliert: Es gibt viele Möglichkeiten für Interpretationen, gut oder schlecht zu sein, aber es wäre unrealistisch zu fordern, dass alle möglichen Gütekriterien erfüllt werden müssen. Können wir diese Komplexität der Praxis (nicht zuletzt in normativer und evaluativer Hinsicht) deklarativ adäquat mitlau­ fen lassen? Oder ist das gar nicht die Aufgabe von ‘erklärten Überzeugungen’? Und welche Funktion übernimmt die Artikulation von Überzeugungen in Formen des Theoretisierens, um womöglich von dieser Aufgabe zu entlasten? Wenn jedenfalls „Hermeneutik als eine Praxis des reflektierten Umgangs mit der Erfahrung von Ambiguität“ sowie des „Pluralismus an Deutungs- und Aussageoptionen“ und der Mehrdeutigkeit beschrieben werden kann,115 dann ist die Frage danach, wie die hermeneutische Praxis von Fächern wie der Germanistik beschaffen ist, eine gute Gelegenheit, hermeneutische Tugenden zur Geltung zu bringen.

Verzeichnis der zitierten Literatur Bogdal, Klaus-Michael, „Problematisierungen der Hermeneutik im Zeichen des Poststrukturalismus“, in: Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hrsg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, München: dtv, 1996, S. 137–156. Bosse, Heinrich, „Der geschärfte Befehl zum Selbstdenken. Ein Erlaß des Ministers v. Fürst an die preußischen Universitäten im Mai 1770“, in: ders., Bildungsrevolution 1770–1830, hrsg. mit einem Gespräch von Nacim Ghanbari, Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2012, S. 251–286. Brenner, Peter J., Das Problem der Interpretation. Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen: Niemeyer, 1998. Csiszar, Alex, The Scientific Journal. Authorship and the Politics of Knowledge in the Nineteenth Century, Chicago: The University of Chicago Press, 2018. Dainat, Holger, „Mitschrift, Nachschrift, Referat, Koreferat. Über studentisches Schreiben im 19. Jahrhundert“, in: IASL 40 (2015), H. 2, S. 306–328. Danneberg, Lutz, Hermeneutiken. Bedeutung und Methodologie, Berlin/Boston: de Gruyter, 2019. Dennerlein, Christoph/Tilmann Köppe/Jan C. Werner, „Interpretation: Struktur und Evaluation in handlungstheoretischer Perspektive“, in: Journal of Literary Theory 2 (2008), S. 1–18. Descher, Stefan et al., „Probleme der Interpretation von Literatur. Ein Überblick“, in: Jan Borkowski et al. (Hrsg.), Literatur interpretieren. Interdisziplinäre Beiträge zur Theorie und Praxis, Münster: Mentis, 2015, S. 11–70.

115 So wiederum im diesem Band zugrunde liegenden Tagungsexposé sowie das Vorwort zu diesem Band (S. VIII).

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 Steffen Martus

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Interpretieren – Lesen – Schreiben 

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 Steffen Martus

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Interpretieren – Lesen – Schreiben 

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André Krischer

Randnotizen – oder: Wie am englischen Kanzleigericht Entscheidungen hergestellt wurden Eine kleine Fallstudie zu den Grenzen der Hermeneutik in der Rechtsgeschichte

1 Einleitung Die deutsche Rechtswissenschaft erlebte ihre hermeneutische Wende Anfang der 1970er-Jahre vor dem Hintergrund einer selbst diagnostizierten Krise der herkömmlichen Methoden der Rechtsfindung.1 Die Programmierung der rich­ terlichen Entscheidung durch den Normtext, das sogenannte Subsumptions­ modell, werde weit überschätzt, konstatierte namentlich Josef Esser in seiner programmatischen Schrift Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Das Modell biete „dem Richter weder Hilfe noch Kontrolle.“2 Schon der Titel des Buches lässt erkennen, dass Esser einen Ausweg aus diesem Dilemma (das ja nicht nur ein akademisches war, sondern, insofern es um die Rationa­ lität richterlichen Urteilens ging, auch die Ausübung einer elementaren Staats­ funktion betraf) in Gadamers Hermeneutik sah. Esser beschrieb mit Gadamers Begrifflichkeiten die Rechtsfindung als einen Interpretationsvorgang, der unaus­ weichlich von Erfahrungen aus der persönlichen und beruflichen Sozialisation geprägt sei.3 Dieses Vorverständnis führe zu unbewussten Selektionen der fall­ relevanten Umstände und Normen, die allerdings mitlaufend korrigiert werden, sowohl durch den subjektiven Willen, zu einem gerechten Urteil zu gelangen, als auch durch eine „Richtigkeitskontrolle“, also eine Überprüfung der Entscheidung auf Plausibilität und Konsensfähigkeit.4 Neben Esser traten in den 1970er- und

1 Knapp dazu Matthias Klatt, „Juristische Hermeneutik“, in: Eric Hilgendorf/Jan C. Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, Stuttgart: Metzler, 2017, S. 224–230, hier: S. 224  f. 2 Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Rationalitätsgrundlagen richterlicher Entscheidungspraxis, Frankfurt/M.: Athenäum-Fischer-Taschenbuch-Verlag, 1972, S. 7. 3 Vgl. ebd., S. 10. 4 Vgl. ebd., S. 12 und S. 142  ff. https://doi.org/10.1515/9783110698084-004

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 André Krischer

1980er-Jahren auch Arthur Kaufmann, Karl Larenz oder Winfried Hassemer als Vertreter der juristischen Hermeneutik hervor.5 Nach der Esser’schen Hermeneutik haben sich die Juristen vor allem auf Robert Alexys Theorie der juristischen Argumentation berufen.6 Von ihr erhoffte man sich eine Präzisierung der Interpretation durch ihre Unterteilung in seman­ tische, genetische, systematische und teleologische Dimensionen.7 Die Argu­ mentationstheorie blieb allerdings auch ein hermeneutisches Verfahren und kon­ zipierte Entscheiden als subjektiven Akt, als individuellen Denkvorgang  – als, wie Esser es formuliert, „richtiges Erkennen dessen, was als Recht gilt und im Einzelfall rechtens ist“.8 Mit dieser individualisierenden Sichtweise steht die juristische Hermeneutik nicht allein. Sie gesellt sich vielmehr zu den gängigen Modellierungen juristi­ schen Entscheidens sowohl älteren als auch jüngeren Datums. Den individuellen Richter (oder ein aus individuellen Richtern konstituiertes Richterkollegium) als Entscheider vor Augen haben sowohl die in der anglo-amerikanischen Tradition wichtigen Theorien rationaler Wahl als auch Lehrbücher für angehende Richter.9 In der ‘postmodernen’ Debatte wird wiederum die Paradoxie von Entscheidungen betont, also der Umstand, dass Entscheidungen eigentlich das Unentscheidbare bewältigen und Urteile nicht aus Gründen lückenlos abgeleitet werden, sondern vielmehr Begründungslücken überspringen.10 Diese Perspektive impliziert einer­ seits eine Absage an hermeneutische Methoden der Rechts- und Entscheidungs­ findung.11 Mit den klassischen Urteilstheorien hat sie aber andererseits gemein, dass auch sie Individuen für die Bewältigung der paradoxalen Entscheidungen zuständig sieht.

5 Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin/Heidelberg: Springer, 1975; Arthur Kaufmann, Beiträge zur juristischen Hermeneutik. Sowie weitere rechtsphilosophische Abhandlungen, Köln: Heymann, 1984; Winfried Hassemer, „Juristische Hermeneutik“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 72 (1986), S. 195–212. 6 Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung (1978), Frankfurt/M.: Suhrkamp, 82015. 7 Vgl. Klatt, Juristische Hermeneutik, S. 226  f. 8 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 206. 9 Vgl. André Krischer, „Die Co-Produzenten der Entscheidungen“, in: Ulrich Pfister (Hrsg.), Kulturen des Entscheidens, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018, S. 142–167, hier: Anm. 1. 10 Vgl. Thomas Vesting, Rechtstheorie. Ein Studienbuch, München: C. H. Beck, 22015, S. 139–148; Benjamin Lahusen, Rechtspositivismus und juristische Methode. Betrachtungen aus dem Alltag einer Vernunftehe, Weilerswist: Velbrück, 2011, S. 155–158. 11 Vgl. Rainer Maria Kiesow, „Zwischen Gesetz und Urteil gibt es keine Hermeneutik. Oder wie 1912 die traditionellen Auslegungsmethoden ihr Ende fanden“, in: Merkur  73 (2019), H.  842, S. 19–30.

Wie am englischen Kanzleigericht Entscheidungen hergestellt wurden 

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So wie Rechtstheoretiker und -praktiker die Rechtsfindung als interpretatives Verfahren verstehen, so operiert auch die Rechtsgeschichte mit mehr oder weniger expliziten hermeneutischen Methoden.12 Im Zentrum stehen primär Interpreta­ tionen oder Analysen von Urteilen, also von bereits vorliegenden Urteilstexten, viel weniger aber die Wege, die zu diesen Urteilen führten.13 An solchen Phasen der Herstellung von Entscheidungen, an all das, was jenseits einer rechtsimma­ nenten Logik bei Verfahren ‘noch’ passierte,14 kommt man mit einer enggeführ­ ten Analyse von Urteilstexten nicht heran. Wenn ich nun zeigen will, wie am englischen Kanzleigericht Entscheidungen hergestellt wurden, dann möchte ich das Bedeutungsfeld, das mit dem Begriff ‘Herstellung’ primär aufgerufen wird – nämlich ‘Erzeugung’, ‘Fertigung’, ‘Produk­ tion’ – ernst nehmen: Es geht mir um die praktische, handwerklich verlaufende Anfertigung von Entscheidungen, die sich nicht als Leistung einer richterlichen Person beschreiben lässt, sondern vielmehr als eine auf mehrere Personen ver­ teilte Produktion. Mit ‘Herstellung’ meine ich Phasen, in denen Texte angefertigt, überarbeitet, markiert, gelagert, transportiert, in Mündlichkeit übersetzt und wieder in Schriftlichkeit rückübersetzt wurden. Es geht damit um Elemente und Dimensionen eines Verfahrens, die sich weder als Denk- noch als Kommunika­ tionsprozess beschreiben lassen. Die Herstellung von Entscheidungen beruht auch auf materiellen Substraten, die sich zumindest nicht im klassischen Sinne ‘verstehen’ lassen. Verfahren finden in einem bestimmten räumlichen Gefüge statt und dabei spielt eine Vielzahl von Dingen buchstäblich eine Rolle: Diesen Umstand haben Rechtswissenschaft und Rechtsgeschichte bislang kaum gewürdigt oder für eine triviale Selbstverständlichkeit erklärt. Nun haben aber, ausgehend von Bruno Latours Laborstudien, eine Reihe von Arbeiten aus dem Umfeld der Science and Technology Studies oder praxistheoretische Workplace Studies gezeigt, dass ‘Wis­ sensarbeit’, die sich selbst als ‘rein geistig’ präsentiert, eben doch auch ‘Hand

12 Vgl. Uwe Wesel, „Zur Methode der Rechtsgeschichte“, in: Kritische Justiz 7 (1974), H. 4, S. 337– 368. 13 Das gilt auch für den hier untersuchten Court of Chancery. Vgl. David Foster, „Construction and Execution of Trusts in Chancery, c. 1660–1750“, in: The Journal of Legal History 40 (2019), H. 3, S. 270–297. Vgl. aber neuerdings anders auch Peter Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren, Stuttgart: UTB, 2015. 14 Ich verwende hier eine Formulierung von Thomas Scheffer, der seinen Aufsatz über die Funk­ tionen von Materialitäten im Rechtsdiskurs mit der Frage einleitete: „Was geschieht (noch) im Gericht?“ Vgl. Thomas Scheffer, „Materialitäten im Rechtsdiskurs. Von Gerichtssälen, Akten und Fallgeschichten“, in: Kent D. Lerch (Hrsg.), Recht vermitteln. Strukturen, Formen und Medien der Kommunikation im Recht, Berlin: de Gruyter, 2005, S. 349–376, hier: S. 349  f.

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 André Krischer

und Fuß’ hat, dass sie Akteure körperlich involviert und auf die Kooperation mit allerlei Artefakten verweist – vom Bürostuhl über Papier und Feder bis zum Com­ puter.15 Man versteht Wissensprozesse also besser, wenn man nicht nur darauf schaut, was, sondern auch wie und womit gewusst wurde, wenn man nicht nur auf Ergebnisse schaut, sondern gerade auch auf jene diskreten, ereignisarmen Sequenzen, die zu diesen Ergebnissen führen (oder auch nicht).16 Das Gleiche gilt auch für Entscheidungsverfahren, bei denen nicht nur das Ergebnis interessant ist, sondern auch die Prozesse, die zur Herstellung dieser Ergebnisse und Ent­ scheidungen geführt haben und die sich in adäquater Weise nur als Zusammen­ wirken von Menschen und Dingen verstehen lassen. Auch hier hat Latour mit seiner Studie über den französischen Staatsrat eine, wie es Fabian Steinhauer formuliert, „unreine Rechtslehre“ vorgelegt, die zu veränderten Hinsichten auf Verfahren ermuntern kann.17 Ich möchte den Erkenntnisgewinn einer solchen medien- und materialitäts­ sensiblen Verfahrensanalyse  – und analog dazu die Grenzen der ‘klassischen’ Hermeneutik – im Folgenden am Beispiel eines Gerichtsprozesses aus der Mitte

15 Klassisch Bruno Latour/Steve Woolgar, Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts. With a new postscript and index by the authors, Princeton, NJ: Princeton University Press, 1986. Neben Latour zählen vor allem Michel Callon, Karin Knorr-Cetina, Andrew Pickering oder Anne­ marie Mol zu den Vertretern einer praxisorientierten Wissens- und Wissenschaftssoziologie. Vgl. dazu die jeweiligen Beiträge in Diana Lengersdorf/Matthias Wieser (Hrsg.), Schlüsselwerke der Science & Technology Studies, Wiesbaden: Springer, 2014. Die körperliche Fundierung jeder Wissensarbeit betont eindringlich Stefan Hirschauer, „Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns“, in: Julia Reuter/Karl H. Hörning (Hrsg.), Doing Culture: Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld: transcript, 2004, S. 73–91; Stefan Hir­ schauer, „Körper macht Wissen. Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs“, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.), Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006 (= Verhandlungen des Deutschen Soziologentages, Bd. 33), Frankfurt/New York: Campus, 2008, S. 974–984. 16 Vgl. dazu paradigmatisch Robert Schmidt, „Praktiken des Programmierens. Zur Morphologie von Wissensarbeit in der Software-Entwicklung“, in: Zeitschrift für Soziologie 37 (2008), H. 4, S. 282–300; Stefan Laube, Nervöse Märkte. Materielle und leibliche Praktiken im virtuellen Finanzhandel (= Qualitative Soziologie, Bd. 22), Berlin/Boston: de Gruyter, 2016. 17 Vgl. Bruno Latour, Die Rechtsfabrik. Eine Ethnographie des Conseil d’État, Konstanz: Konstanz University Press, 2016; Fabian Steinhauer, „Unreine Rechtslehren. Bruno Latours Untersuchung zum Conseil d’État und der neue Materialismus in den Rechtswissenschaften“, in: Der Staat 56 (2017), S. 293–304; Marcus Twellmann, „Wozu Gerichtsethnographie?“, in: ders. (Hrsg.), Wissen, wie Recht ist: Bruno Latours empirische Philosophie einer Existenzweise, Konstanz: Konstanz Uni­ versity Press, 2016, S. 21–46.

Wie am englischen Kanzleigericht Entscheidungen hergestellt wurden 

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des 18. Jahrhunderts vorführen.18 Ich beginne dabei mit dessen Ende – mit dem Urteil – und frage danach, wie dieses eigentlich möglich wurde. Das führt zu einem Blick auf andere Stationen des Verfahrens, die hinter die öffentliche Verhandlung zurückreichen, aber auch zur Aufmerksamkeit für Notizen und Notizbücher, die Richter und Anwälte in englischen Gerichtsverfahren des 18. Jahrhunderts anfer­ tigten und nutzten.19 Es handelte sich dabei um Randnotizen in einem doppelten Sinne: um solche, die am Rande des gerichtlichen Geschehens gemacht, und um solche, die als Marginalien und Glossen auf vorliegende Dokumente geschrieben wurden. In beiden Fällen implizierte das Notieren einen entscheidungsrelevanten Mediengebrauch, also eine Praxis, die für die Herstellung von Entscheidungen wesentlich war  – im 18.  Jahrhundert und darüber hinaus. Noch heute nutzen englische Richter bei der Verhandlung Notebooks, freilich solche mit Netzteil. Historisch oder systematisch erforscht wurden solche juristischen Aufschreibe­ systeme noch nicht, soweit ich sehe. Ich beginne mit einer knappen Vorstellung des heute nicht mehr existieren­ den Court of Chancery und werde dann schildern, welche Medien dazu beitrugen, den Richter als individuellen Entscheider erscheinen zu lassen. Da sich solche Darstellungen von Entscheidungen nicht mit ihren Herstellungsweisen decken, eröffnen die folgenden Abschnitte Einblicke in eher diskrete Produktionsabläufe am Beispiel von Notizen: Im dritten Abschnitt geht es um jene, die sich der vorsit­ zende Richter machte, und im vierten um jene, mit denen Anwälte die ihnen zur Verfügung gestellten Handakten bearbeiteten. Dabei wird auch geschildert, wie und auf welchen Grundlagen diese Handakten kompiliert wurden und inwiefern ein Verfahren zu einem beachtlichen Teil Handarbeit war. Diese Ausführungen münden in einem zusammenfassenden Schlussabschnitt, der das Verfahren als Sinn- und Materialverbund zu profilieren versucht und die sich für die Herme­ neutik daraus ergebenden Folgen in der Rechtsgeschichte zumindest andeutet.

18 Ich profitiere dabei ganz erheblich von den Neujustierungen der Verfahrenstheorie durch Thomas Scheffer, „Die Karriere rechtswirksamer Aussagen. Ansatzpunkte einer historiographi­ schen Diskursanalyse der Gerichtsverhandlung“, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 24 (2003), S. 151–181; ders., „Ethnographie mit System am Beispiel von Englischen Strafverfahren“, in: René John/Anna Henkel/Jana Rückert-John (Hrsg.), Die Methodologien des Systems, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010, S. 141–160; ders., „Der hergerichtete Fall. Eine trans-se­ quenzielle Analyse der Strafverteidigung vor dem englischen Jurygericht“, in: Jörg R. Bergmann (Hrsg.), „Der Fall“. Studien zur epistemischen Praxis professionellen Handelns, Bielefeld: trans­ cript, 2014, S. 37–74. 19 Vgl. dazu demnächst Alexander G. Durben, Die Fabrikation der Entscheidung. Der Court of Kings’s Bench und der Court of Common Pleas ca. 1750–1850 (= Verhandeln, Verfahren, Entscheiden – Historische Perspektiven, Bd. 6), Münster: Aschendorff, 2021 (im Erscheinen).

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2 Das englische Kanzleigericht im 18. Jahrhundert Entstanden im Hochmittelalter, gehörte das Kanzleigericht nicht zu den Institu­ tionen des Common Law, sondern wurde zur Equity-Gerichtsbarkeit gezählt, einer Rechtsprechung nach Billigkeit also, die den Rigorismus des Common Law abmil­ dern sollte.20 Auf jeden Fall befasste es sich im 17. und 18. Jahrhundert mit zivil­ rechtlichen Konflikten, für die es im Common Law keine passenden Klageformu­ lare (writs) gab. Nur mit bestimmten writs konnte man vor dem Court of Common Pleas oder der King’s Bench einen Zivilprozess anstrengen. Zahlreiche Erb- und Nachlasskonflikte (trusts) oder auch Fälle von Betrug waren aber so verwickelt, dass es dafür keine entsprechenden Formulare gab.21 Hier half nur noch der Gang vor das Kanzleigericht. Seine Auflösung im späten 19. Jahrhundert war Folge einer massiven Kritik an seiner bürokratischen Schwerfälligkeit, die von anderen Zeitgenossen aber wiederum als Ausweis seiner besonderen Gründlichkeit gewer­ tet wurde.22 Im 18. Jahrhundert war das Gericht jedenfalls stets gut ausgelastet,23 was auch daran lag, dass es nur einen Richter gab, und zwar niemand Geringeren als den Lord High Chancellor selbst, der höchste Richter des Reichs und Mitglied des königlichen Kabinetts.24 Die für England so typischen Geschworenen gab es am Kanzleigericht nicht, der Lordkanzler entschied sowohl über den Sachverhalt als auch über die Rechtsfolgen. Aber wie die Schwurgerichte verhandelte auch der Court of Chancery öffentlich, zunächst in der Westminster Hall, wo auch die höchsten Gerichte des Common Law ihren Sitz hatten (Abb. 1), ab 1737 dann in der Old Hall von Lincoln’s Inn (Abb. 2), bis man Anfang des 19. Jahrhunderts wieder in die umgebaute Westminster Hall zurückkehrte. Zumindest Teile der Entschei­ dungsherstellung, und zwar jene, die in die Phase der Verhandlung fielen, waren also durch ein Publikum beobachtbar (vgl. Abb. 2). Auf Seiten der ‘Entscheider’ machte die öffentliche Sichtbarkeit ihrer Tätigkeit gewisse performative Anstren­ gungen nötig, wie wir noch sehen werden.

20 Dennis R. Klinck, Conscience, Equity and the Court of Chancery in Early Modern England, Farnham: Ashgate, 2010. 21 Neil G. Jones, „Trusts litigation in Chancery after the Statute of Uses the first fifty years“, in: Matthew Dyson/David J. Ibbetson (Hrsg.), Law and Legal Process: Substantive Law and Procedure in English Legal History, New York: Cambridge University Press, 2013, S. 103–125. 22 Michael Lobban, „Preparing for Fusion Reforming the Nineteenth-Century Court of Chancery, Part I“, in: Law and History Review 22 (2004), H. 2, S. 389–428. 23 Sean Bottomley, „Patent Cases in the Court of Chancery, 1714–58“, in: The Journal of Legal History 35 (2014), H. 1, S. 27–43. 24 Michael Lobban, „The Chancellor, the Chancery, and the History of Law Reform“, in: Law and History Review 22 (2004), H. 3, S. 615–618.

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Abb. 1: Der Court of Chancery in der Zeit Georgs I., von Benjamin Ferrers, ca. 1725, National ­Portrait Gallery, London, Nr. 798.

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Abb. 2: Der Court of Chancery tagt unter dem Vorsitz von Lordkanzler Eldon (Amtszeit: 1807–1827) in der Old Hall von Lincoln’s Inn, einem der Inns of Court an den Lincoln’s Inn Fields. Eldon thront über dem Geschehen. An seinem Richterstuhl befindet sich ein Klapptisch, der das Anfertigen von Notizen erleichtern soll – eine deutliche Verbesserung gegenüber der Situation in der Westminster Hall, wo die Notizbücher auf den Knien der Richter auflagen. Dem Richter gegenüber in den Bankreihen sitzen Anwälte, die auf die Verhandlung ihres jeweiligen Falls warteten und sich die Zeit mit der Lektüre ihrer briefs vertrieben. Sehr gut zu sehen ist, wie der Anwalt in der geöffneten Bankreihe sich bei seinem Beitrag (im Wortsinn!) auf seine Notizen stützt. Das Bild wurde von Thomas Rowlandson für Rudolph Ackermanns dreibändiges Kompendium Microcosm of London (1808–1810) geschaffen und dürfte um 1807/1808 entstanden sein. (wikimedia commons)

Die Verkündung der gefällten Urteile (final decrees) erfolgte zunächst nur münd­ lich. Die Urteile konnten auf Antrag der Parteien und gegen Entrichtung einer Gebühr in decree rolls eingetragen werden, die im Kanzleigericht archiviert wurden und aus denen man dann bei Bedarf wiederum beglaubigte Abschriften erstellen lassen konnte.25 Darüber hinaus sorgten vor allem freiberufliche law

25 Henry Horwitz, A Guide to Chancery Equity Records and Proceedings 1600–1800 (= Public Record Office Handbook, Bd. 27), London: Public Record Office, 1998, S. 23  f.

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reporter dafür, dass bestimmte Urteile, denen sie eine über den Fall hinausge­ hende Signifikanz zuwiesen, ein Potenzial als Präzedenzfall erhielten sowie in Fallsammlungen gedruckt und veröffentlicht wurden.

3 Die Inszenierung des Richters als Entscheider Wie die in Abb. 1–2 zu sehende räumliche Ordnung des Gerichtssaals den Richter gewissermaßen über dem Geschehen thronen ließ, trugen auch diese Fallsamm­ lungen der law reporter dazu bei, die richterliche Entscheidung als individuellen Akt in Szene zu setzen. Im Beispielfall, der am 22. und 23. April 1755 in der Old Hall vor Lordkanzler Philip Yorke, 1st Earl of Hardwicke (1690–1764), verhandelt wurde, ging es um die Frage, inwiefern Schulden aus einem verbotenen Glücks­ spiel eingefordert werden konnten. Das war genau einer der Fälle, für den die Equity-Gerichtsbarkeit angerufen werden musste und für den es im Common Law keinen writ gab. Die Frage war ja: Gab es Recht im Unrecht? Der Kläger, Arthur Rawdon, hatte dem Beklagten, Thomas Shadwell, einen Schuldschein (bond) aus­ gestellt, nachdem er 1742 beim Backgammon an diesen ein Vermögen (£ 1160) verloren hatte. Nachdem Rawdon in den folgenden Jahren insgesamt £ 210 abge­ stottert hatte, erwirkte er 1750 zunächst eine einstweilige Verfügung (injuction) gegen weitere Forderungen und klagte schließlich auf Rückgabe der gezahlten Gelder und die Kassation des Schuldscheins. Laut einem law report wurde dieser Fall vom Lordkanzler wie folgt verhandelt und entschieden: Lord H a r d w i c k e , Chancellor, decreed […], with great clearness; and said, By stat[ute] 9th Anne, all securities for money won at play are made void, consequently the payment under any such money cannot be supported.26

Hardwickes Urteile machten, wie auch dieser Eintrag zeigt, auf die Beobachter großen Eindruck. Es wurde nicht nur berichtet, was, sondern auch, wie er ent­ schied (with great clearness). Sein Nachfolger Lord Camden (1714–1794) erinnerte sich daran, dass seine Urteilsverkündigungen ähnlich beliebt waren wie popu­

26 Charles Ambler, Reports of cases argued and determined in the High Court of Chancery, with some few in other courts. By Charles Ambler, Esq. One of his Majesty’s Counsel at Law, and Attorney General to the Queen, London, 1790, S. 269 (Sperrung im Original. Die Auflösung der Abkürzun­ gen erfolgt hier und im Folgenden in eckigen Klammern).

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läre Theateraufführungen.27 Der Rechtsreformer und Oberrichter Lord Mansfield (1705–1793) drückte es so aus: „When Lord Hardwicke pronounced his decrees, Wisdome herself might be supposed to speak“.28 Die räumlich unterstützte Spre­ cherposition des Richters setzte diesen als individuellen, heroischen Entscheider in Szene, und die Prozessberichte reproduzierten diese Inszenierung auf narrative Weise. Für die Zeitgenossen waren die Urteilsakte umso spektakulärer, als beim Kanzleigericht Sitzurteile üblich waren. Bei diesen konnte sich der Richter nicht, wie die Geschworenen oder seine deutschen Kollegen im 19.  Jahrhundert, zur Urteilsfindung zurückziehen, sondern er war gehalten, das Urteil am Ende der Verhandlung unmittelbar von seinem Richterstuhl herab zu verkünden.29 Sitzur­ teile waren in der europäischen Rechtsgeschichte die Ausnahme von der Regel des Rückzugs, für die es wichtige Gründe gab. Mit Blick auf die deutsche Praxis um 1800 formuliert der Rechtshistoriker Benjamin Lahusen das Problem so: Der steinige Weg zur Entscheidung, gepflastert mit all dem juristischen Für und Wider, Wenn und Aber, Einerseits und Andererseits, soll den Blicken der Öffentlichkeit entzogen bleiben, um Würde und Ansehen von Richteramt und Richterspruch zu erhalten.30

In England war, zumindest bei wichtigen Prozessen, der Rückzug der Geschwo­ renen in einen separaten Raum und ihre mit Spannung erwartete Rückkehr ein konstitutives Element der Verfahren, das auch dann nicht fehlen durfte, wenn die Sache eigentlich klar zu sein schien. Entscheiden implizierte und impliziert die Bearbeitung von Kontingenz, vom Möglichen und Nicht-Notwendigen. Aber genau diese Kontingenz gilt es im Recht so weit wie möglich zu verbergen. Das Urteil soll als das Ergebnis einer bloßen Findung und lückenlosen Herleitung von Recht erscheinen und gerade nicht als Entscheidung, die auch anders hätte aus­ fallen können. Für diesen Anschein haben sich im Laufe der europäischen Rechts­ geschichte eine Reihe von ‘Mystifikationen’ ausgebildet,31 von Sprachspielen, bei denen ‘das Recht’ und nicht das richterliche ‘Ich’ spricht, bis hin zu Amtstrachten, die die Körper der Richter entindividualisieren. Die Akzeptanz einer Entschei­

27 John Campbell, The Lives of the Lord Chancellors and Keepers of the Great Seal of England. From the Earliest Times Till the Reign of King George IV, 9 Bde., London: J. Murray, 1846, hier: Bd. 5, S. 361. 28 George Harris, The Life of Lord Chancellor Hardwicke: With Selections from His Correspondence, Diaries, Speeches, and Judgements, London: E. Moxon, 1847, Bd. 3, S. 559. 29 Cornelia Vismann, Medien der Rechtsprechung, Frankfurt/M.: Fischer, 2011, S. 143–146. 30 Lahusen, Rechtspositivismus und juristische Methode, S. 152. 31 Vgl. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995, S. 309  f.

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dung fällt leichter, wenn sie nicht einer Person, sondern dem System zugerechnet werden kann. Es war also performativ durchaus anspruchsvoll, wenn der Lordkanzler sein Dekret unmittelbar am Ende der Verhandlung aussprechen sollte. Denn ebenso wenig wie ein Rückzug hinter die Kulissen war es ihm möglich, das Urteil auf dem Richterstuhl allzu lang hinauszuzögern, weil er vielleicht erst einen klaren Gedanken über den Verlauf der Verhandlung fassen und eine Überzeugung aus­ bilden musste. Ein solches öffentlich sichtbares Zögern hätte jene ‘Kontingenzlü­ cken’ zwischen den möglichen Entscheidungsalternativen und der einen getrof­ fenen Entscheidung, die in anderen Verfahren durch den Rückzug unsichtbar gemacht wurden, allzu sehr vor Augen geführt und damit das legitimierende Potenzial des Verfahrens untergraben.32 Die Wirkmacht eines Urteils beruht immer auch darauf, dass es als alternativlos und zwingend präsentiert wird, was dann schwierig wird, wenn sich der Entscheider zugleich als Zweifler zu erkennen gibt. Praktisch möglich wurden die Sitzurteile aber nicht etwa durch Eingebungen genau zur rechten Zeit. Vielmehr waren sie Ergebnis einer diskreten, aber keines­ wegs verheimlichten Anfertigung von Notizen.

4 Notizen als Medien des Entscheidens Notizen machte sich ausweislich des Bilds von Ferrers (Abb. 1) bereits Lordkanzler Macclesfield um 1725, und im Falle der Lordkanzler Hardwicke und Eldon (1801– 1827) sind diese privaten Notizbücher sogar überliefert.33 Der amerikanische Rechtshistoriker James Oldham, unter dessen Leitung Eldons notebooks an der Georgetown University digitalisiert wurden, erachtet sie als Zugang zum Rechts­ verständnis dieses Juristen, empfiehlt also einen interpretativen Zugang: „These notebooks offer unique insight into the judge’s analysis of the law, […] reflecting his knowledge, interests, and thoughts […]“.34 Das legt die Anlage dieser Bücher aber nicht unbedingt nahe. Hardwicke jedenfalls machte sich Notizen, um zu filtern, um aus einer großen Fülle an Informationen nur bestimmte Aspekte fest­ zuhalten, und zwar im Hinblick auf die Verwertung zur Anfertigung seines Urteils.

32 Vgl. zur Überbrückung der Kontingenz des Entscheidens auch Günther Ortmann, Als ob. Fiktionen und Organisationen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004, S. 36  f. 33 Hardwickes note books sind zu finden in der British Library, Add Ms 36045–36069. 34 https://repository.library.georgetown.edu/handle/10822/1042298 (zuletzt abgerufen: 26.01. 2021).

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Was den Zeitgenossen als orakelhafter Rechtsspruch erschien, war tatsächlich (auch) das Produkt einer kleinteilig-akkumulativen Aufschreibepraxis. Hardwicke machte sich Notizen von jeder einzelnen Verhandlung, die unter ihm als Lordkanzler zwischen 1737 und 1756 geführt wurde. Damit füllte er in seiner knapp zwanzigjährigen Amtszeit 25 Notizbücher im Okatvformat, jedes umfasste rund 500 Seiten. Sämtliche Notizen folgen dabei einem bestimmten Schema: Unter dem Tagesdatum wurde die Bezeichnung des Falls nach dem Muster plaintiff v. defendant notiert, dann folgten Notizen zu den Ausführungen der Anwälte, deren Namen zumeist unterstrichen wurden. Registriert wurden zudem von den Anwälten erwähnte Präzedenzfälle sowie Gesetze. All dies notierte Hardwicke stichwortartig, mit vielen Abkürzungen und nur selten wortwörtlich. Kurzschrif­ ten, die in England zu dieser Zeit gebräuchlich waren, nutzte er hingegen nicht.35 Nahe am Wortlaut notierte Hardwicke die einführenden Sätze des Klägeranwalts, der ihm damit auch zugleich die entscheidenden Informationen darüber lieferte, um was es hier eigentlich ging. Eine für den Richter gedachte Akte, mit der er sich auf den Fall hätte vorbereiten können, gab es (auch hier) nicht. Es lag daher an den Anwälten, den Fall mündlich so einzuführen, das schnell klar wurde, worum es jeweils ging. In diesem Fall fiel diese Aufgabe dem Anwalt William Noel zu, wozu sich Hardwicke notierte: End of Bill is to have a Note of Bond given by pl[ain]t[iff] to d[e]f[endan]t deliv[ere]d up to be cancelled + so much money as has been already p[ai]d. thereupon may be refunded. […]. The money £ 1160 was won by d[e]f[endan]t fro[m] pl[ain]t[iff] at play at one sitting, when pl[ain]t[iff] was under age […]. (siehe Abb. 3)

Mit der Klage sollte also der Schuldschein, den Rawdon einst an Shadwell aus­ gehändigt hatte, vorgelegt sowie an Ort und Stelle ungültig gemacht werden. Die bereits gezahlten Schulden sollten wiederum zurückerstattet werden. Den Umstand der Minderjährigkeit des Klägers zum Zeitpunkt des Spiels hatte der Beklagte schon zugegeben, der Sachverhalt war also nicht umstritten. Zusätzlich zitierte Noel mehrere Gesetze (u.  a. „9 Anna c[hapter] 14“) und einen Präzedenzfall (Woodroff v. Farnham). Zu dem Gesetz „9 Anna c[hapter] 14“ notierte sich Hard­ wicke offenbar die Erläuterung Noels, derzufolge es „made all conveayances or oth[er] Securities void“, Schuldscheine aus verbotenen Glücksspielen also ungül­

35 Lori Anne Ferrell, „Method as Knowledge. Scribal Theology, Protestantism, and the Rein­ vention of Shorthand in Sixteenth-Century England“, in: Pamela H. Smith/Benjamin Schmidt (Hrsg.), Making Knowledge in Early Modern Europe: Practices, Objects, and Texts, 1400–1800, Chicago: University of Chicago Press, 2007, S. 163–177.

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Abb. 3: Die Seiten aus Hardwickes Notizbuch mit Aufzeichnungen zum Fall Rawdon v. Shadwell. Die Verhandlung begann am 22. April und war nicht der erste Fall an diesem Tag. Daher steht hier über dem Fallnamen auch kein Datum. Die Verhandlungen wurden am 23. April fortgesetzt und endeten, auf der zweiten Seite im oberen Drittel, mit dem unterstrichenen Decreed. (British Library, Add Ms 36068, S. 32  f.)

tig waren. Zu dem Präzedenzfall notierte er sich nur „2 Vern. 219“, womit Fund­ stellen in den law reports des Thomas Vernon (1654–1721) gemeint waren.36 Am folgenden Verhandlungstag (23. April) argumentierte der zweite Kläger-Anwalt, Charles Yorke, ein Sohn Hardwickes, mit Verweis auf Rawdons Minderjährigkeit, warum dieser die Rückzahlung der bereits geleisteten Tilgungen verlangen könne,

36 Thomas Vernon, Cases argued and adjudged in the High Court of Chancery. Published from the Manuscripts of Thomas Vernon, Late of the Middle Temple, Esq; By order of the High Court of Chancery, 2 Bde., Dublin, 1726, hier: Bd. 2, S. 291.

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auch wenn dafür eigentlich eine gesetzliche Frist von drei Monaten einzuhalten sei. Hardwicke notierte offenbar den Wortlaut seines Sohns (mit den Streichungen und Unterstreichungen im Original): I admit acting according to the act is to 9 Anne is to be sued within 3 years months, + this is long eff[ect] of time. But, at the time of winning this money, the pl[ain]t[iff] was an inf[an]t, + that is a ground for maintaining a Bill for refunding the money paid.

Zeugen wurden bei einer Verhandlung vor dem Kanzleigericht nicht gehört. Sie wurden im Vorfeld befragt und ihre Aussagen protokolliert. Ihre Aussagen hätte man nur dann verlesen, wenn das Sachverhalt strittig gewesen wäre, was hier aber nicht der Fall war. Shadwell bestritt nicht, was auch die Zeugen gesagt hatten – dass Rawdon beim Spiel noch minderjährig und betrunken gewesen war. Daher folgte nach den Vorträgen der Anwälte von Kläger und Beklagtem auch schon das Urteil (decree), das Hardwicke in seinen Notizen so unterstrich wie die Namen der Anwälte auch. In diesem Fall notierte er: „Decreed the securities & bond deli[vered] to be cancelled; – the 150 Pd to be repaid; & made injucion [sic!] per­ petuel“. Der Kläger bekam also recht, der Schuldschein wurde noch im Gerichts­ saal ungültig gemacht, Shadwell musste Rawdon von den bereits gezahlten Spielschulden £ 150 zurückerstatten, und die von Rawdon erwirkte einstweilige Verfügung (injunction) gegen weitere Zahlungspflichten wurde auf Dauer gestellt. Aus einer Mitschrift des am Fall unbeteiligten Anwalts Thomas Sewell kennen wir den Wortlaut des Dekrets etwas genauer.37 Demnach berief sich Hardwicke bei seinem Entscheid auf das Gesetz von Königin Anne, nicht auf die von Charles Yorke betonte Minderjährigkeit des Klägers. Allerdings hielt der Lordkanzler es für begründungsbedürftig, wieso der Rückzahlungsanspruch trotz der Über­ schreitung einer im Gesetz festgeschriebenen Dreimonatsfrist noch bestand. Demnach bezog sich diese Frist nur auf Zahlungen, die zum Zeitpunkt des Spiels geleistet, nicht aber auf solche, die für die Zukunft in Aussicht gestellt wurden. Insofern bekam Rawdon lediglich £ 150, nicht aber jene £ 60 zurück, die er Shad­ well noch am Spieltisch ausgehändigt hatte. Die Einträge im Notizbuch umfassten eineinhalb Seiten und waren damit eher kurz. Diese Kürze reflektierte wiederum die eher geringe rechtliche Komplexität des Falls. Grundsätzlich funktionierten die Aufzeichnungen bei Rawdon v. Shadwell aber genau so wie in anderen Fällen auch: Lordkanzler Hardwicke konzipierte seine Notizen so, dass er sie auf Urteilsgründe absuchen konnte, von denen einige in die offizielle Urteilsbegründung einflossen und andere, ausweislich seiner Unter­ 37 Sewells Manuskripte liegen in der Inner Temple Library (London). Die Mitschrift wurde ediert in English Reports, Bd. 27, S. 179  f.

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streichungen, auf ihn überzeugend oder wichtig wirkten, ohne dass sie in seiner Urteilsbegründung eigens auftauchten. Wir wissen nicht, ob Hardwicke den von Anwalt Noel zitierten Fall Woodroff v. Farnham (1693) kannte, aber darin geht es um eine moralische Verurteilung des Glücksspiels („Gaming ought to be discou­ raged in all Cases“). Vom gleichen Geist war auch das Gesetz 9 Anne c. 19, dessen Zitat durch William Noel Lordkanzler Hardwicke als buchstäblich entscheidend betrachtete. Die Minderjährigkeit Rawdons damals beim Spiel, auf die Anwalt Charles Yorke insistiert hatte, kam Hardwicke zwar wichtig vor – das können wir wieder mit dem Verweis auf entsprechende Unterstreichungen so sagen –, offiziell thematisierte er den Umstand allerdings nicht. Gleichwohl lieferte ihm sein Sohn den Hinweis auf die eigentlich erhebliche Fristüberschreitung  – und vielleicht kann man die Streichung von „years“ und dessen Ersetzung durch „months“ (s.  o.) als Indiz dafür nehmen, dass er intuitiv von einer viel längeren Frist von Jahren – und nicht Monaten – ausgegangen war. Da es sich aber eben nur um eine Dreimonatsfrist handelte, musste Hardwicke dann schon erklären, warum er ihre massive Überschreitung dennoch nicht berücksichtigen wollte. Wann Hardwicke seine Unterstreichungen vornahm  – ob mit den Notizen selbst oder erst in einem späteren Durchgang –, wissen wir nicht. Beides wäre möglich. Die Wortstreichungen weisen jedenfalls darauf hin, dass diese Notizen nicht wie Protokolle funktionierten, sondern proaktives Zuhören reflektieren: Sie dokumentieren mehr als nur das Gesagte, und das auch nicht unbedingt syn­ chron. Anders als Protokolle waren die Notizen mit den mündlichen Vorträgen nur locker gekoppelt, sie waren nicht nur Speichermedium, sondern auch ein Werkzeug des Wissens. Wie anderes im Rechtssystem auch (Redetalent!), war die richterliche Notizbuchführung zudem ein undeklarierter Import, eine von den Akteuren unaufgefordert eingebrachte Leistung. Sie wurde in keinem juristischen Lehrbuch empfohlen. Sie war auch weder geboten noch verboten, besaß aber, wie die Bilder und die Praxis zeigen, eine gewisse Akzeptanz. Das Anfertigen von Notizen wurde nicht als Indiz richterlicher Unaufmerksamkeit gewertet, die zu dieser Zeit aber durchaus kritisch thematisiert und von William Hogarth 1758 auch satirisch ins Bild gesetzt wurde (Abb. 4). Man sieht auf dem bekannten Druck „The Bench“ ganz links den mittlerweile zum Richter am Court of Common Pleas auf­ gestiegenen William Noel – in seine Notizen vertieft, ähnlich wie der voluminöse Chief Justice Sir John Willes. Henry Bathurst und Sir Edward Clive hielt dagegen nichts mehr wach. Die Arbeit an den Notizen ermöglichte dem Richter die vorüber­ gehende Abwendung vom Geschehen und die Beschäftigung mit einem Werkzeug zur Strukturierung von Wissen, und zwar ohne deswegen den Raum verlassen zu müssen. Bei Hardwicke war die Arbeit mit seinen notebooks das funktionale Äqui­ valent für den Rückzug in ein Hinterzimmer. Die Funktion eines abgeschlossenen Raums der Entscheidung übernahm hier das Notizbuch als diskretes Medium.

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Abb. 4: William Hogarth, „The Bench“ (1758), Biblioteca Nacional Digital Brasil, public domain.

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Allerdings beanspruchte die Notizbuchführung keineswegs Hardwickes volle Aufmerksamkeit. Sie war etwas anderes als das hochkonzentrierte Verfassen eines Textes und zudem stark habitualisiert. Es war im 17. und 18. Jahrhundert ein wesentliches Element des juristischen Selbststudiums, sich bei gerichtlichen Verhandlungen Notizen zu machen. Man könnte auch sagen, dass sich die eng­ lischen Juristen diese Art des pragmatischen Aufschreibens durch ständige Wiederholung geradezu einverleibt hatten.38 Vom jungen Philip Yorke sind eine Reihe solcher Notizbücher überliefert, die sich im Schriftbild kaum von denen des späteren Richters unterschieden – mit der Ausnahme, dass die Notizen des Nachwuchsjuristen kaum Unterstreichungen und Randbemerkungen enthielten, da er sie ja nicht zum Entscheiden, sondern zum Lernen nutzte.39 Da man das Common Law nicht in Oxford oder Cambridge studieren konnte und sich die als juristische Studienstätten gedachten Inns of Court in London im 18. Jahrhundert in einer längeren Krise befanden, waren Gerichtsverhandlungen aller Art das primäre Studienobjekt für angehende Anwälte.40 Während viele Besucher bei Verhandlungen nicht selten wegen des Unterhaltungswerts zuschauten, war bei Juristen in Ausbildung aktives Zuhören gefragt, das sich wiederum in einer geschickten Notizführung manifestierte. Kriterien für ein derartiges Geschick sind nicht überliefert, aber anhand der überlieferten Notizen selbst lässt sich sagen, dass es um eine versierte Reduktion von Komplexität ging. Man musste offenbar das Gespür dafür entwickeln, welche der vielen Äußerungen wesentlich und ent­ scheidungsrelevant waren und welche nicht. Bei Hardwicke waren dies vor allem Präzedenzfälle. Über Hardwickes Notizbücher lässt sich also Ähnliches sagen, was auch zu den Notizen frühneuzeitlicher Mediziner und Naturphilosophen festgestellt wurde: Es handelte sich nicht nur um ‘Gedankenspeicher’, sondern um komple­ xere „paper technologies“, die aktiv daran beteiligt waren, neues Wissen – bzw. im diesem Fall: Entscheidungen – hervorzubringen.41

38 Dazu allgemein Hilmar Schäfer/Larissa Schindler, „Schreiben“, in: Robert Gugutzer et al. (Hrsg.), Handbuch Körpersoziologie, Bd. 2: Forschungsfelder und Methodische Zugänge, Wiesba­ den: Springer VS, 2017, S. 471–485. 39 British Library, Add Ms 36025–36027 (1716–1725). 40 David Lemmings, Professors of the Law. Barristers and English Legal Culture in the Eighteenth Century, Oxford: Oxford University Press, 2000, S. 113  ff. 41 Vgl. dazu Anke te Heesen, „The Notebook: A Paper-Technology“, in: Bruno Latour/Peter Wei­ bel (Hrsg.), Making Things Public. Atmospheres of Democracy, Cambridge, MA/London: MIT Press, S. 582–589; Volker Hess/J. Andrew Mendelsohn, „Paper Technology und Wissensgeschichte“, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 21 (2013), S. 1–10.

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5 Rechtliches Handwerk: Von der Klage zum brief In seinen notebooks registrierte Hardwicke ihm relevant erscheinende Passagen aus den mündlichen Vorträgen der Anwälte, der Barrister. Aber auch diesen Äußerungen lagen schriftliche Vorlagen zugrunde, hatten die Anwälte doch die wichtigsten Informationen in ihren Handakten, den briefs, dabei. Sowohl bei Ferrers’ Darstellung (Abb. 1) als auch auf der Abbildung der Old Hall von Lincoln’s Inn (Abb. 2) sind diese briefs zu sehen. Angelegt wurden die Handakten nicht von den Barristers selbst, sondern von Solicitors. Im englischen Gerichtswesen wurde seit dem späten 17.  Jahrhundert strikt zwischen den höheren Juristen (Richter, Barrister) und den einfachen Rechtsberatern (Solicitors) unterschieden. Die Barrister befassten sich nach Ansicht ihrer Standesvertreter mit dem „speculative part of the law“,42 also sozusagen der ‘reinen’ Rechtslehre. Sie führten die Ver­ handlungen vor Gericht, kamen aber nicht mit den Mandanten in Kontakt. Dafür waren die freiberuflich agierenden Solicitors zuständig, die sich entsprechend mit dem „practical part of the law“ befassten, also mit der rechtlichen Handarbeit, und selbst nicht vor Gericht sprechen konnten.43 Einen solchen Solicitor namens White hatte Arthur Rawdon nun im November 1752 aufgesucht, nachdem ihn die Rückzahlung der horrenden Spielschulden in den Ruin zu treiben drohte. Rawdon erzählte White, wie er und Shadwell 1742 als Marineinfanteristen in Leeds einquartiert waren und zum Zeitvertreib viel gespielt hatten, dass er damals noch minderjährig (unter 21 Jahren) und vor allem volltrunken gewesen sei. Wir wissen nicht, was Rawdon dem Rechtsberater sonst noch erzählt oder ob er sich vielleicht bitter über die unversöhnliche Gier seines einstigen Kameraden beklagte hatte. Die von White angefertigte Klageschrift, die English bill, dokumentierte nämlich nur jene Punkte, die für den weiteren Verlauf des Verfahrens erheblich waren, über die also entschieden werden konnte. Dazu zählten Rawdons Minderjährigkeit, die ihn als geschäftsunfähig, seine Volltrun­ kenheit, die ihn als unzurechnungsfähig, und gesetzliche Bestimmungen, die aus Glücksspiel stammende Schuldverschreibungen als sittenwidrig erscheinen ließen. Die Anfertigung einer English bill war für den Solicitor keine schöpferi­ sche Leistung, sondern beruhte auf Textbausteinen, die aus Formularbüchern

42 William Searle Holdsworth, A History of English Law, Vol. VI, London: Meuthen & Co., 1924, S. 439. 43 Holdsworth, A History of English Law; Lemmings, Professors of the Law, S. 25  f.

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entnommen werden konnten.44 Vorgegeben war auch ihre äußere Form, insofern die English bill auf einem Pergamentbogen verfasst werden musste. Auch die weiteren Schritte, die White nun zu gehen hatte (im Wortsinn), konnte man in entsprechenden Ratgebern nachlesen. Die English bill musste beim Court of Chancrey eingereicht werden, wofür es eine Art Geschäftszimmer, das Six Clerk Office, gab. Wie alle anderen Amtshand­ lungen des Six Clerk Office war die Annahme der Klage gebührenpflichtig. Davon zeugen auf die Dokumente geklebte Gebührenmarken (Abb. 5). Grundsätzlich wurde im Geschäftszimmer mit den Dokumenten vor allem hantiert. Es handelte sich um eine Arbeit mit Texten, die nicht auf deren Sinnver­ stehen angelegt war, sondern auf eine Logistik ihrer materiellen Substrate. Die auf Pergament verfassten Klagen wurden entgegengenommen, gestempelt sowie mit Vermerken und Kürzeln versehen, die wiederum in speziellen Amtsbüchern registriert wurden. Eine Klage galt im rechtlichen Sinne als eingereicht, wenn sie gestempelt und vermerkt auf einem großen Tisch im Office lag, wo sie von den Gerichtsbeamten zur weiteren Verwendung abgeholt und wohin sie anschließend wieder zurückgelegt wurde. Dabei war diese Sinnerzeugung oder dieser Import aus der Umwelt in das Rechtssystem nicht das Resultat von Kommunikationen, sondern von praktischem Tun. Diese und andere Handgriffe ließen sich im Zwei­ felsfall in Manualen nachlesen oder waren bürokratische Routine.45 Solche Vor­ gaben und Routinen bildeten genau das, was Niklas Luhmann die „Programm­ struktur“ eines Verfahrens nennt: Rahmenbedingungen dafür, dass das Verfahren auf eine Entscheidung zuläuft, ohne dass diese Entscheidung bereits determiniert ist.46 Schaut man genau hin, dann beruhen diese Programmstrukturen nicht auf abstrakten Systemoperationen, sondern, ganz konkret, auf Körperbewegungen, Räumlichkeiten, Mobiliar, schriftlichen Anweisungen und dem eingelebten Tun der Gerichtsbürokraten, ohne die kein Verfahren anfangen oder enden konnte (und kann). Auch der nächste Schritt folgte dem Routineprogramm: Dem Beklagten wurde eine Abschrift der Klage zugestellt. Dieser engagierte nun ebenfalls einen

44 Weit verbreitet war zu dieser Zeit etwa Joseph Harrison, The Accomplish’d Practiser in the High Court of Chancery. Shewing the whole method of proceedings, according to the present practice, from the bill to the appeal inclusive […], London, 1741. 45 Diese Vorgänge wurden in den 1740er-Jahren in detaillierter Weise vom Six Clerk Samuel Reynardson in einem Manual mit dem Titel The method of filing and keeping bills, answers and depcons [depositions] niedergelegt. Das Manual ist abgedruckt in Edward Alexander Fry, Index of Chancery Proceedings (Reynardson’s Division) Preserved in the Public Record Office, 1649–1714, London, 1903, S. xii–xv. 46 Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1983, S. 129  f.

Abb. 5: Die English bill aus dem Fall Rawdon v. Shadwell, mit blauer Gebührenmarke und Stempel auf der Rückseite, The National Archives, C 12/1176/3.

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Solicitor, der für seinen Mandanten die Klage erwiderte und diese Erwiderung (answer) an das Geschäftszimmer zurückbrachte oder schickte, wo von dieser answer wiederum Kopien angefertigt und dem Kläger zugestellt wurden. Den Vollzug solcher Akte, mit dem einzelne Schritte des Verfahrens abgeschlossen wurden, behielten die Clerks nicht einfach im Kopf, sondern sie vermerkten die jeweiligen Erledigungen in Amtsbüchern, die als Knotenpunkte des Verfahrens und seines Programms fungierten: Der Eintrag über die Erledigung des einen Schritts initiierte den Eintrag zum Beginn des nächsten, etwa die Anhörung von Zeugen. Die bei solchen Anhörungen angefertigten Protokolle konnten die Anwälte der beiden Parteien nach Ablauf einer gewissen Frist im Six Clerk Office einsehen. Aussagen, die sie für relevant hielten, wurden zu einem Regest zusam­ mengefasst, die Langversion abgeschrieben. Diese Regesten bildeten zusammen mit einer Zusammenfassung von Klage, Erwiderung und anderen Schriftsätzen die typischen Bestandteile einer Handakte (brief), mit der der Solicitor den Fall buchstäblich an den Barrister übergab. Wie oben gesehen, war es dem Solicitor White gelungen, Charles Yorke (1722– 1770) als Barrister zu gewinnen. Da der Nachlass der Hardwickes bzw. Yorkes sehr gut überliefert ist, finden sich darin nicht nur die vollständigen Notizbücher des Vaters als Lordkanzler, sondern auch zahlreiche Handakten von Charles.47 Auf­ grund dieser Überlieferung lässt sich immerhin für einige Fälle verfolgen, wie diese als eine Serie von Inskriptionen und Transkriptionen – von der Klageschrift über Handakten und Notizbücher bis zum Urteil – allmählich eine entscheidungs­ reife Gestalt gewannen. Obwohl sich die Solicitors sichtlich darum bemühten, ihre Handakten gebrauchsfertig zu gestalten, etwa durch ausgefeilte Layouts, die für Übersicht­ lichkeit sorgen sollten, musste ein Barrister den brief zuvor immer noch durch­ arbeiten, was zu den wenig geliebten Tätigkeiten eines Anwalts gehörte. Charles Yorke beklagte sich immer wieder darüber, wie viel Zeit ihm die Bearbeitung der vielen briefs raube.48 Das änderte aber nichts an der Akribie, mit der er seine Handakten las und annotierte (Abb. 6). Im Fall Rawdon v. Shadwell umfasste der brief sechs Seiten, wobei die Bögen zwei Mal gefaltet wurden und sie so ihr charakteristisch schlankes und handli­ ches Aussehen bekamen (Abb. 7–8). Sie waren für den mobilen Gebrauch gedacht (vgl. Abb.  2). Auf der ersten Seite hatte White zunächst vermerkt, dass es sich

47 Der Nachlass befindet sich unter der Bezeichnung „Hardwicke Papers“ in der British Library, Add MS 35349–36278. 48 Campbell, The Lives of the Lord Chancellors and Keepers of the Great Seal of England, S. 377; Harris, The Life of Lord Chancellor Hardwicke, S. 441.

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Abb. 6: Ein Barrister im Büro, beim Bearbeiten seiner briefs. Die Bildsatire spielt darauf an, dass Juristerei im Grunde Teufelszeug ist. Sie ist aber die einzige bekannte Visualisierung anwaltlicher Tätigkeit jenseits des Gerichts. Gut darauf zu sehen: Die handliche Faltung der briefs. (Koloriertes Mezzotinto, British Museum 1935,0522.1.101.)

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um einen brief für den Klagevertreter handelte (for plt., also ‘plantiff’) – wer das genau war, stand beim Anfertigen der Handakte also noch nicht fest, war aber auch nicht wichtig; den am Kanzleigericht tätigen Anwälten war es gleich, ob sie eine Klage vertraten oder die Verteidigung übernahmen (Abb. 7). Die Überschrift nannte auch die Namen von Kläger und Beklagtem und präfigurierte damit das Fallkürzel (Rawdon v. Shadwell). Schließlich wusste der Barrister durch die Über­ schrift noch, dass die Klage am 11. November 1752 eingereicht worden war. Im Textteil hatte der Solicitor die erste Seite in vier Abschnitte unterteilt: Im ersten Abschnitt wurde der Sachverhalt, im zweiten die Forderung, im dritten und vierten Abschnitt schließlich die Klageerwiderung skizziert (Abb. 8). Den Wortlaut eines von Shadwells Solicitor vorgebrachten Einwands kopierte White im Wort­ laut auf der zweiten Seite. Im Übrigen enthält der brief Zeugenaussagen und die Abschriften von Briefen zwischen den beiden Kontrahenten, die das Scheitern einer außergerichtlichen Einigung dokumentieren. Yorkes Interesse galt vor allem der ersten Seite des briefs, die er mit einigen Marginalien versah. Bei der ersten Randbemerkung datierte Yorke den Fall auf den 22.  September 1742 und vermerkte (u.  a.) „Pl[ain]t[iff] Inf[an]t under 21“. Genau diesen Punkt fokussierte Yorke, wie gesehen, dann auch vor Gericht. Die Rückseiten des briefs wurden dagegen (offenbar) erst während des Prozesses für Notizen genutzt. Yorke notierte hier nicht nur genannte oder ihm einschlägig vor­ kommende Präzedenzfälle, sondern auch Ausschnitte des Prozessverlaufs, so etwa den Einwand der Barrister der Gegenseite, wonach die Rückerstattung von bereits geleisteten Geldzahlungen an Fristen gebunden sei. Ebenfalls notiert er seine Antwort auf diesen Einwand: Obj.) But Act 9 p. gives remedy […] for money […] paid at play; Ans.) That is, if may paid at the time, not if paid upon Notes or Securities given, which are void by the Statute.

Eben dieses Argument, dass sich diese Frist nur auf unmittelbar gezahlte Spiel­ schulden und nicht auf Schuldverschreibungen erstrecke, griff Hardwicke in seiner Urteilsbegründung wieder auf.

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Abb. 7: Umschlag des brief aus für den Fall Rawdon v. Shadwell, British Library, Add Ms 36186.

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Abb. 8: Die erste Seite im brief für Rawdon v. Shadwell, British Library, Add Ms 36186.

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6 Verfahren als Sinn- und Materialverbund, oder: die Grenzen der Hermeneutik Verfahren produzieren Entscheidungen. Sie können auch scheitern, in bestimm­ ten Fällen kann schon der Weg das Ziel sein,49 aber grundsätzlich ist die Herbei­ führung von Entscheidungen, verbunden mit ihrer Legitimation, die vorranginge Funktion von Verfahren. Erreicht wird dies, indem konkurrierende Interessen oder Konflikte in die jeweilige Sprache eines Verfahrens übersetzt werden, in der dann auch Alternativen erzeugt und wieder reduziert werden.50 Luhmann hat das Verfahren mit einem Trichter verglichen, in dem Schritt für Schritt Möglichkeiten verdichtet, Handlungsspielräume eingeengt und Ungewissheit absorbiert wird, bis sich eine bestimmte Entscheidung geradezu aufdrängt.51 Allerdings ist diese systemeigene Anhäufung und Reduktion von Komplexität durch selektive Schritte nicht nur eine Leistung der interaktionsförmigen Ver­ handlung im Gerichtssaal und vor Zuschauern, sondern auch der vorhergehenden Etappen des Verfahrens, das seine Orte in den Geschäftszimmern des Gerichts und in den Büros von Anwälten besaß.52 Versteht man das Verfahren nun nicht nur als Sinn-, sondern auch als Materialverbund,53 dann begann es an dem Punkt, als Rawdon das Büro seines Solicitors betrat, sein Anliegen schilderte, der Anwalt sich Notizen machte, seine Nachschlagewerke konsultierte und daraufhin die Klage­schrift aufsetzte. Es setzte sich fort, als White damit zum Six Clerk Office ging, wo das Dokument entgegengenommen, datiert, gestempelt, rubriziert und auf einem Tisch ablegt wurde. Kopien davon dienten dem Beklagten zur Darstel­ lung seiner Version des Sachverhalts und seiner rechtlichen Bewertung, die mit Rawdons Klage kontrastierte und zu einer Entscheidungsalternative avancierte. 49 André Krischer, „Das Problem des Entscheidens in systematischer und historischer Perspek­ tive“, in: Barbara Stollberg-Rilinger/André Krischer (Hrsg.), Herstellung und Darstellung von Entscheidungen: Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne (= Zeitschrift für historische Forschung, Beihefte 44), Berlin: Duncker & Humblot, 2010, S. 35–64. 50 Vgl. Thomas-Michael Seibert, Gerichtsrede. Wirklichkeit und Möglichkeit im forensischen Diskurs (= Schriften zur Rechtstheorie, Bd. 222), Berlin: Duncker & Humblot, 2004, S. 143. 51 Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 115. Vgl. zur Entscheidungsbezogenheit von Verfahren auch Thomas Scheffer/Matthias Michaeler/Jan Schank, „Starke und schwache Ver­ fahren. Zur unterschiedlichen Funktionsweise politischer Untersuchungen am Beispiel der englischen ‚Hutton Inquiry‘ und des ‚CIA–Ausschusses‘ der EU“, in: Zeitschrift für Soziologie 37 (2008), H. 5, S. 423–444, hier: S. 425  f. 52 Vgl. Thomas Scheffer, „Ethnographie mit System am Beispiel von Englischen Strafverfahren“, in: John/Henkel/Rückert-John (Hrsg.), Die Methodologien des Systems, S. 141–160. 53 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. vii: „Verfahren wird hier als ein soziales System besonderer Art, also als Sinnverbundenheit faktischen Handelns begriffen“.

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Im Lichte dieses Kontrasts ließen sich sodann präzise Fragen an die Zeugen for­ mulieren, deren Antworten nebst anderen rechtlich relevanten Informationen in die Handakten übertragen wurden. Diese briefs wurden vom Barrister nicht nur gelesen, sondern durch Unterstreichungen, Randnotizen und längere Ausfüh­ rungen auf den unbeschriebenen Rückseiten auch bearbeitet. So spekulativ, rein geistig und theoretisch, wie der zeitgenössische Anwaltsdiskurs dies haben wollte, war die Arbeit eines Barristers also keineswegs: Unterstreichungen und Zeigesym­ bole sind einerseits Indizien dafür, was Yorke für interessant und wichtig hielt. Denn Yorke lernte den Fall erst durch den brief kennen. Andererseits handelte es sich bei seinen Anmerkungen und Anstreichungen aber nicht nur um Spuren juristischer Hermeneutik. Vielmehr wurden auf diese Weise auch solche Passagen akzentuiert und isoliert, die beim hearing mobilisiert werden sollten. Mit solchen Überarbeitungstechniken wurden aus dem Text „Präparate“54 destilliert, die vor Gericht mobilisiert werden sollten und sich bei passender Gelegenheit während der Verhandlung in Mündlichkeit konvertieren ließen – um dann gegebenenfalls vom Richter wiederum aufgeschrieben und womöglich als entscheidend unter­ strichen zu werden. Das Urteil, das vielfach als heroischer Akt beobachtet wurde oder – in der hermeneutischen Tradition – als individuelles Erkennen dessen, was rechtens ist, erweist sich bei näherem Hinsehen als letzter Schritt in einer Reihe von vorherge­ henden Selektionen, wodurch die Spannbreite möglicher Entscheidungen bereits erheblich eingeengt wurde. Diese Selektionen waren aber keine ‘freischweben­ den’ Systemoperationen, sondern praktische Vollzüge. Im hier beschriebenen Fall handelte es sich bei den Selektionen um das, was bei Klagen, Verhörprotokollen, Handakten oder Notizbüchern aufgeschrieben wurde und was nicht, was an Dokumenten ins Geschäftszimmer gebracht, entgegengenommen, gestempelt, abgelegt, weitergereicht oder kopiert wurde und was nicht. Selektiv wirkten zudem die ständigen Medienwechsel zwischen Mündlichem und Schriftlichem: Verschriftlicht wurden nur bestimmte Aspekte und Leistungen interaktiver Kom­ munikation: Längst nicht alles, was etwa Rawdon seinem Solicitor White erzählte, war für die Klageschrift von Belang. Nicht alles, was die Zeugen sagten, wurde zu Protokoll genommen oder vom Solicitor kopiert. Nicht alles, was bei der Ver­ handlung gesagt wurde, wurde von Hardwicke notiert und unterstrichen. Umge­ kehrt wurden auch nur bestimmte Aspekte und Ausschnitte der jeweils vorlie­ genden Texte (Fragebögen, Handakten) in einer mündliche Situation aktiviert: Der Barrister las seine Handakte (und die vielen, im Grunde höchst nützlichen Informationen) nicht einfach vor, sondern mobilisierte daraus situationsgerecht

54 Vgl. Scheffer, „Der hergerichtete Fall“, o. S.

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bestimmte Präparate (die im Grunde auch ‘auf Vorrat’ produziert worden waren). Auf diese Weise trug schon der für ein Verfahren kennzeichnende Wechsel zwi­ schen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zur Reduktion von Komplexität und damit zur Herstellung von Entscheidbarkeit bei.55 Juristische Entscheidungslehren, die auf individuelle Urteilskraft und Erkenntnisfähigkeit abstellen, verkennen solche Vorleistungen. Sie leisten damit eher einen Beitrag zu den (individualisierenden) Selbstbeschreibungen und Darstellungen des Rechts, vielleicht sogar zu „Mystifi­ kationen“,56 als zur Aufklärung über Entscheidungsvorgänge, die als soziomate­ rielle Koproduktion beschrieben werden müssen. Was bedeuten diese Befunde aber nun für die Hermeneutik? Aus Sicht der Pra­ xistheorie bilden nicht mehr intentional handelnde Akteurinnen und Akteure das Fundament des Sozialen, sondern vielmehr aus Menschen und Dingen formierte Ensembles.57 Der Fokus auf Texte erfasst daher immer nur Teile der Praxis, so wie die Urteilsanalyse nur (wichtige!) Teile eines Entscheidungsvorgangs in den Blick bekommt. Gleichzeitig ist es auch nicht mehr möglich, den untersuchten Akteuren bei all ihrem Tun Intentionalität zu unterstellen und dieses Tun dann auf seinen subjektiv gemeinten Sinn hin zu analysieren – die soziale Welt also mit einem Text gleichzusetzen und mit einer ‘objektiven Hermeneutik’ zu bearbeiten. Im Verfahren war vieles Routine, einverleibtes Wissen oder habitualisierte Regel­ befolgung. Darüber hinaus waren die Sinnzuschreibungen der Beteiligten nicht identisch mit dem latenten, überschüssigen sozialen Sinn, den ihr Tun stets auch besaß und der von ihren Reflexionen nicht erfasst wurde. So scheint die praxis­ theoretische Wende eine schon länger bestehende Skepsis gegenüber jenen Inter­ pretationen zu befestigen, die auf Spekulationen darüber hinauslaufen, was sich Akteure bei ihrem Tun gedacht haben. Die Rückkehr zur handlungsverstehenden Hermeneutik im Sinne des Historismus oder Max Webers scheint auch nach dem Abebben der praxistheoretischen Wende nicht mehr möglich. Die Lehren der Praxeologie lassen sich auch im Normalbetrieb der Kulturwissenschaften nicht mehr ignorieren. Wohl aber lässt sich das Interpretieren der Akteure selbst als Praxis erfassen, lassen sich „Routinen der Bedeutungsproduktion“58 beobachten.

55 Scheffer, „Die Karriere rechtswirksamer Aussagen“, S. 175  f. 56 Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, Wiesbaden: Springer, 22006, S. 135. 57 Frank Hillebrandt, Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung, Wiesbaden: Springer, 2014, S. 11  f.; Stefan Hirschauer, „Verhalten, Handeln, Interagieren. Zu den mikrosoziologischen Grund­ lagen der Praxistheorie“, in: Hilmar Schäfer (Hrsg.), Praxistheorie, Bielefeld: transcript, 2016, S. 45–67. 58 So der Klappentext des für April 2021 angekündigten Bands von Johannes Corrodi Katzenstein/ Andreas Mauz/Christiane Tietz, Doing Interpretation: Perspektiven praxeologischer Hermeneutik (= Hermeneutik und Interpretationstheorie, Bd. 2), Paderborn: Schöningh, 2021 (im Erscheinen).

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Zudem hat der Historiker Arndt Brendecke darauf verwiesen, dass praxeologische Perspektiven dann nicht zu einer „Selbstbescheidung des Interpretierenden“59 führen, wenn beobachtete und beschriebene Handlungsmuster mit übergrei­ fenden sozialen Logiken (etwa eines Verfahrens, einer Rechtskultur) oder – was noch mehr das Kerngeschäft der Geschichte betrifft – mit historischem Wandel in Beziehung gesetzt und auf diese Weise in ihrer Spezifik verstanden werden.60 Schon deswegen, weil sich Historikerinnen und Historiker der Vergangenheit vor allem über Schriftquellen nähern – ergänzt um Artefakte –, bleibt Sinnverstehen eine in der historischen Forschung unverzichtbare Operation, wobei die ‘klassi­ sche’ Textinterpretation und die Hermeneutik der Praxis, die Rekonstruktion von subjektiven Bedeutungszuschreibungen und von praktischem Sinn, eine frucht­ bare Symbiose eingehen können.

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59 Arndt Brendecke, „Von Postulaten zu Praktiken“, in: ders. (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit: Akteure, Handlungen, Artefakte (= Frühneuzeit-Impulse, Bd. 3), Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2015, S. 13–20, hier: S. 17  f. 60 Am Beispiel der Ritualpraxis beschreibt dies Barbara Stollberg-Rilinger, Rituale (= Historische Einführungen, Bd. 16), Frankfurt/New York: Campus, 22019, S. 185  f.

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Philipp Stoellger

Hermeneutik am Ende oder am Ende Hermeneutik? Möglichkeitsbedingungen einer Hermeneutik angesichts ihrer Kritik

1 Hermeneutik unter Verdacht Die Hermeneutik unter Verdacht zu stellen, ist so gängig wie naheliegend. Nicht ohne Grund, denn sie hat sich diesen Verdacht mühsam erarbeitet mit ihrem Anspruch als Universalphilosophie, Fundamentalontologie oder (mit Emmanuel Levinas formuliert) ‘Totalität’, sei es in der Tradition Platons, Georg Wilhelm Friedrich Hegels, Martin Heideggers oder Hans-Georg Gadamers. Dabei trat sie freundlicherweise meist in derart charmanter Art auf, dass Widerstand zwecklos oder schlicht sinnlos erschien – mit der Nebenwirkung, dass, wer zu widerstehen wagte, selber sinnlos oder halsstarrig und differenzbesessen wirkte. Theoriepolitisch manifestiert sich hier das Dilemma der Universalisierung: Wer dem ‘Sinnangebot’ einer allseits inklusiven Verständigung(stheorie) angesichts all ihrer Offenheit und Inklusivität doch noch zu widerstehen wagt, ist endgültig ‘draußen’, in der Hölle der Sinnlosigkeit – angeblich. Solche Universalisierung ist eine ebenso charmante wie infernale Strategie, die den Rest erzeugt, den sie doch final inkludieren wollte. In einer Neuauflage der Hermeneutik in Gestalt der erfri­ schend liberalen ‘Religion als Lebensdeutung’ kehrt dieses Dilemma wieder: Wer der liberalen Offenheit doch tatsächlich zu widerstehen wagt, kann nur ein Fun­ damentalist sein.1  – Wer die Rollen verteilt, beansprucht die Deutungsmacht, das Urteil über In- und Exklusion. Ob man solch einen Anspruch indes ratifiziert, bleibt noch verhandlungsbedürftig. ‘Hermeneutik unter Verdacht’ ist allerdings eine erstaunlich dezente Wen­ dung. Gilt doch für viele eher ‘Hermeneutik unter Verdikt’: Ihr Anspruch gilt als hoffnungslos übertrieben und ihr Problemlösungspotential bestenfalls als über­ schaubar, so dass Hermeneutik nicht wenigen eher als Problem denn als Lösung

1 Vgl. Philipp Stoellger, „Deutungsmachtansprüche liberaler Theologie. Oder: Zu Risiken und Neben­wirkungen theologischer Monokulturen“, in: Jörg Lauster/Ulrich Schmiedel/Peter Schüz (Hrsg.), Liberale Theologie heute. Liberal Theology Today (= Dogmatik in der Moderne, Bd. 27), Tübingen: Mohr Siebeck, 2019, S. 257–274. https://doi.org/10.1515/9783110698084-005

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gilt. „Morbus hermeneuticus“ (Herbert Schnädelbach) und die Kritik an der „Wut des Verstehens“ (Jochen Hörisch) sind metaphorische Fassungen dieses Verdikts.2 Nur wiederholt sich womöglich im Verdikt das Verurteilte: Wird das Verdikt generalisiert, stellt es einen analogen Universalanspruch. In der Logik der Gegenbesetzung (mit Hans Blumenberg) läuft man Gefahr, in der Form der Kritik das Kritisierte zu wiederholen. Dabei wäre im Übrigen mit solch einem Verdikt zum ‘Problem des Verstehens’ noch nichts gesagt oder gewonnen. Man sollte sich daher seine Gegner mit Bedacht auswählen. Denn man wird ihnen im Laufe der Zeit immer ähnlicher. Oder mit Nietzsche: „Wer seinen Gegner tödten will, mag erwägen, ob er ihn nicht gerade dadurch bei sich verewigt.“3 Die ‘Lösung’ des sogenannten ‘hermeneutischen Problems’ suchen die Kritiker gern in der Auflösung der Hermeneutik als Problem – was eine prekäre Verwechs­ lung von Verstehen und Theorie des Verstehens anzeigt. Bei allem Theoriekonflikt sind in vivo die Praktiken längst darüber hinaus. Verstehen und Verständigung werden immer öfter immer seltener. In vielen Kontexten und Hinsichten wird Ver­ stehen überflüssig (gemacht). Möglichst viele Bereiche unserer Kommunikation und Kultur sollen ohne Verstehen(sprobleme) funktionieren: Recht und Politik, Ökonomie und Verkehr, womöglich auch Wissenschaft (mit Big Data und Netz­ werkanalyse) und Kunst oder Religion und Technik. Und teils erfreulicher-, teils unheimlicherweise funktioniert Kommunikation oftmals ja auch durchaus ohne Verstehen. So wäre das erwünschte Ergebnis im Grenzwert: Verstehen wurde maßlos überschätzt und wird hoffentlich möglichst ‘universal’ überflüssig. Für den vorläufigen Rest gibt es möglichst empirisch und historisch angelegte Metho­ den und diverse Alternativen zur Hermeneutik: Messen, Zählen und Wägen, also Rechnen in Algorithmen oder schlicht ‘das Funktionieren’ von Kommunikation. Hermeneutik, vor allem die universale Hermeneutik Heidegger’scher Pro­ venienz und die entsprechenden theologischen Ableger, wäre dann endlich zur Ruhe gebettet. Die hermeneutischen Probleme, genauer gesagt: die Probleme von Verständigung und Verstehen, wären entsorgt oder an solide Methoden delegiert. Damit könnte man schließen. Der Verdacht hätte sich bestätigt und das Problem der Hermeneutik erledigt – nicht allerdings die Probleme des Verstehens und der Verständigung.

2 Herbert Schnädelbach, „Morbus Hermeneuticus. Thesen über eine hermeneutische ­Krankheit“, in: ders., Vernunft und Geschichte. Vorträge und Abhandlungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987, S. 279–284; Jochen Hörisch, Die Wut des Verstehens, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988. 3 Friedrich Nietzsche, Morgenröthe. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft, Kritische Studienausgabe, Bd.  3, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York: de Gruyter, 1999, Aph. 406, S. 254.

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Nun hatte die Hermeneutik, exemplarisch diejenige Paul Ricœurs, den ‘Ver­ dacht’ bereits bedacht und von der ‘Hermeneutik des Verdachts’ gesprochen (Karl Marx, Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche),4 vielleicht in der Hoffnung, damit sei der Verdacht nicht nur benannt, sondern schon gebannt: personifiziert und exkludiert. Die Antwort der Hermeneutik war die vermeintliche Alternative: Vertrauen statt Verdacht, bzw. Einverständnis als notwendige Voraussetzung des Ver­ stehens. Aber diese Antwort ist kaum geeignet, den Verdacht gegen die Herme­ neutik auszuräumen oder die Hermeneutik des Verdachts zu überzeugen. Denn Vertrauen dem Text gegenüber bzw. Einverständnis ist weder als gegeben voraus­ zusetzen noch eine conditio sine qua non des Verstehens, geschweige denn, dass Einverständnis ein notwendiges Telos der Verständigung wäre. Überraschenderweise kann allerdings die Hermeneutik des Verdachts genauso unkritisch werden wie eine des Vertrauens: etwa, wenn der Verdacht ein naives Misstrauen darstellt oder ‘Hermeneutik-Bashing’ zur banalen Geste wird (ähnlich einem Mode-Atheismus unter manchen Intellektuellen). Wären wir alle Atheisten (und nicht alte Theisten), ist die interessante Frage doch vielmehr, ob wir katholische oder protestantische, jüdische oder buddhistische Atheisten sind. Ähnlich steht es um die Hermeneutik: Selbstredend ist deren Kritik unter ein­ schlägig Informierten common sense. Die Frage ist doch vielmehr: Wie gehen wir mit dem Problem des Verstehens um – nach der klassischen Hermeneutik? Denn wer glaubt, deren Probleme seien mit der Hermeneutik-Kritik erledigt, macht es sich zu leicht. Es gibt nicht nur den ‘morbus hermeneuticus’, sondern auch den ‘morbus antihermeneuticus’, einen naiven Glauben, der sich für kritisch hält, aber zum Problem des Verstehens nichts zu sagen hat. Mag man über die alte Hermeneutik gut biblisch sagen, ‘sie riecht doch schon’, ist manch gängige Hermeneutik-Kritik auch nicht viel erfrischender. Vor allem ist sie im Blick auf bestimmte Probleme des Verstehens und deren Reflexion nicht besonders hilf­ reich. Theoretisch und methodisch etwa ist eine dringliche Frage, ob die wissen­ schaftlich wie wissenschaftspolitisch etablierte Zwiefältigkeit von Empirie und Historie alles ist, womit wir wissenschaftlich denken dürfen. Hermeneutisch bleibt die Frage, was für Fragen mit dieser methodischen Binität gar nicht mehr in den Blick kommen können. Ähnlich wie Kant die metaphysischen Großtheorien auf die seines Erachtens vier unvermeidlichen Grundfragen reduzierte, kann man auch die Frage des Ver­ stehens schwer vermeiden. ‘Was können, sollen oder müssen wir verstehen – und was nicht?’, bleibt eine unabweisbare Frage. Ähnlich wie Kant die Metaphysik

4 Paul Ricœur, Über Psychoanalyse. Schriften und Vorträge, übers. und mit einem Nachwort ver­ sehen von Ellen Reinke, Gießen: Psychosozial-Verlag, 2016.

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nicht einfach destruierte, sondern nach einer kritischen Metaphysik suchte, ist nach einer kritischen Hermeneutik zu fragen.5

2 Hermeneutik ‘trotz allem’ Fragt man nach den Möglichkeitsbedingungen einer Hermeneutik angesichts ihrer Kritik, entsteht zunächst Unterscheidungsbedarf: Man muss Hermeneutik von Hermeneutik unterscheiden. Sie wird differenziert und vervielfältigt, mit dem Nebeneffekt, dass die Dominanz einer Tradition ‘entselbstverständlicht’ wird. Fragt man nach den sachlichen Gründen für ‘Hermeneutik trotz allem’, muss man sie von den Problemen unterscheiden, auf die sie Antwort geben wollte. Was war die Frage, auf die die Hermeneutik Antwort sein sollte? Was sind die Probleme, zu deren Bearbeitung die Hermeneutik erfunden wurde? Wenn im vorliegenden Band, wie es in der Ankündigung der diesem zugrunde liegenden Tagung hieß, „sowohl kritische Positionen als auch Ansätze, die der Hermeneutik weiterhin einen zentralen Stellenwert beimessen“, verhandelt werden sollen, wird im Folgenden beides zugleich vertreten. Denn Hermeneutik ohne Hermeneutik-Kritik ist blind (gegenüber ihren Schwächen, nötigen Erweite­ rungen und Alternativen). Und Hermeneutik-Kritik ohne neue Hermeneutik ist leer (gegenüber den Herausforderungen des Verstehens und Nichtverstehens oder Interpretierens und Deutens). Wenn Verstehen nötig ist (was keineswegs universal und immer gilt), muss man klären, wie es möglich und wodurch es wirklich wird. Es bedarf dann der kritischen Reflexion auf das Verstehen und seine Probleme, wie immer man diese Reflexion nennen mag. Allerdings gilt dabei selbstkritisch auch: Hermeneutik ohne Grenzen wäre maßlos und übergriffig (hermeneutical harassment). Falls also Hermeneutik trotz allem, fragt sich: welche, wie und zu welchem Ende? Jedenfalls eine, – die möglichst die Probleme der ‘alten Hermeneutik’ vermeidet, also deren Kritik konstruktiv aufzunehmen vermag, – die einige Blindheiten alter Hermeneutik zu erhellen vermag um einiger Hori­ zonterweiterungen willen (wie Bild, Medialität, Materialität, Macht, Gewalt, Fremdes, Außerordentliches etc.),

5 Zu meinen, das sei alles schon bei Schleiermacher in dessen Hermeneutik und Kritik zu finden, ist eine sonderbare Schleiermacher-Nostalgie: eine gemütliche Denkgewohnheit, als wären die großen Toten die Problemlöser der Gegenwart oder gar messianische Zukunftsgestalten.

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– die nicht vom ‘Immer-schon-Verstehen’ ausgeht, sondern vom Nichtverste­ hen als terminus a quo und contra quem der Arbeit des Verstehens, – die nicht archäologisch von Einverständnis aus- und teleologisch auf Einver­ ständnis zugeht, sondern persistente Differenzen zu ertragen vermag, – die also mit irreduziblen, nicht aufzuhebenden Differenzen differenzwahrend umgeht – und die das Verstehen nicht soteriologisch überinterpretiert als Versöhnung von Verschiedenheit im Ein-Verständnis, das im Grunde und im Letzten doch nur ein Verstehen wäre. Unter ‘Hermeneutik’ wird in der Regel die Philosophie Heideggers und Gadamers mit ihren Folgen verstanden. Diese Engführung einerseits und deren ‘universale’ Ansprüche andererseits führten zu intensiver Kritik der Hermeneutik (Hörisch, Schnädelbach, Habermas) bis hin zur Marginalisierung in Forschung und Lehre. Die Ausnahmen (z.  B. Emil Angehrn, Günter Figal, Gianni Vattimo, Jean Grondin) bestätigen diese Tendenz eher, als sie zu widerlegen. Demgegenüber ist Hermeneutik revidiert und erweitert worden vonseiten der Literaturwissen­ schaften (allen voran von der Forschergruppe „Poetik und Hermeneutik“, v.  a. Hans Blumenberg, Hans Robert Jauß; anders: Klaus Weimar, Hans Ulrich Gum­ brecht) und der Sozialwissenschaften (Ulrich Oevermann). Die hermeneutische Phänomenologie ist im Rückgriff auf Husserl eigenständig weiterentwickelt worden in der frankophonen Forschung (Levinas, Jean-Luc Marion, Paul Ricœur; im deutschsprachigen Raum: Bernhard Waldenfels, Burkhard Liebsch, Dieter Mersch). Daneben wurden der Hermeneutik verwandte Theorien entwickelt, die an entsprechenden Problemstellungen arbeiten, wie die Interpretationsphiloso­ phie (Hans Lenk, Günter Abel im Anschluss an Nelson Goodman; anders: Josef Simon, Werner Stegmaier), der hermeneutisch-phänomenologisch orientierte Pragmatismus (Peirce-Rezeption sowie Ferdinand Fellmann, Matthias Jung, Rudolf Adam Makkreel, Thomas Rentsch, Oliver R. Scholz) und die sogenannte Dekonstruktion (Jacques Derrida, Paul de Man, John D. Caputo, Richard Rorty). In der theologischen Diskussion ist Hermeneutik stets mehrdimensional gefasst worden von Schleiermacher her (Gerhard Ebeling, Eberhard Jüngel, Pierre Bühler, Dietrich Korsch), in Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus (Ingolf U. Dal­ ferth, Hermann Deuser) und den Literaturwissenschaften (Günter Bader, HansChristoph Askani, Oswald Bayer), insbesondere in der Exegese (Rudolf Bultmann, Hans Weder, Klaus Berger, Christof Landmesser u.  a.). Exemplarisch durchgearbeitet wurde die Forschungslage vor allem von Paul Ricœur, Emil Angehrn und Manfred Frank, allerdings mit problematischen Voraussetzungen, sei es eine von Hegel inspirierte Dialektik der Vermittlung oder eine frühromantische Theorie der Subjektivität. Auf solche ‘Prästabilierungen’

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soll im Folgenden verzichtet werden, um den Kritikern und den Herausforderun­ gen durch ein verschärftes Differenzbewusstsein offener zu begegnen. Dabei ist problemorientiert vorzugehen, um die Beiträge der verschiedenen Perspektiven konstruktiv zu selegieren und zu kombinieren. (Dazu liegen bereits exemplarische Arbeiten vor seitens des Zürcher Instituts für Hermeneutik und Religionsphiloso­ phie und des am selben Ort befindlichen Kompetenzzentrums Hermeneutik.) In kritischer Weiterführung der Forschungslage sind die oben genannten Theorien auf ihre Kompetenz in Bezug auf ausgewählte Differenzen zu prüfen. Das bildet den Ansatz zur Formulierung eines erweiterten offenen und differenzsensiblen Hermeneutikverständnisses. Das Vorverständnis von Hermeneutik erwartet meist, dass Differenzen im Verstehen überwunden werden. Dagegen sprach schon Schleiermacher herme­ neutikkritisch von der ‘Wut des Verstehens’, und daher rührt auch die ‘Wut auf die Hermeneutik’ seitens der sogenannten ‘Postmoderne’ (Hörisch u.  a.). Die hier hingegen leitende Hypothese ist, dass in der Spätmoderne starke Differenz­ erfahrungen manifest, thematisch und theoriebildend werden, die nicht mit einer Hermeneutik im Zeichen von ‘Vermittlung’, ‘Horizontverschmelzung’ oder ‘Inklusion’ zu bearbeiten sind (‘der Andere’, ‘der/die/das Fremde’, ‘die Gabe’ oder ‘das Nichtverständliche’). Diese Differenzen sind einerseits Gründe der Kritik der ‘Postmoderne’ an der Hermeneutik, andererseits unausweichliche Probleme, auf die sie nicht nicht antworten kann. Wenn sich die Hermeneutik auf diese Pro­ blemstellung einlässt, wird sie zur Hermeneutik im Zeichen von Differenz. Dabei wird sie von der Differenz stärker gezeichnet, als meist zugestanden. Einerseits ist die Hermeneutik eine bewährte Kunst des Umgangs mit Diffe­ renzen. Andererseits sind starke Differenzen eine Herausforderung, an der die Hermeneutik sich bewähren und an der sie ihren Horizont nachhaltig erweitern muss. Sofern kein anerkannter ‘Universalhorizont’ als umfassendes Vermitt­ lungsmedium zur Verfügung steht (was zu prüfen ist), kann man entweder die Hermeneutik verabschieden, oder sie muss sich von ihrem universalen Vermitt­ lungsanspruch verabschieden. Will sie den Differenzerfahrungen und -theorien nicht ausweichen, ergibt sich die Aufgabe einer Umformung der Hermeneutik, die Neues nicht als Variante des Alten versteht (der Geschichte, der Sprache etc.), sondern angesichts dessen selber nachhaltig ‘verandert’ wird. Hermeneutik ist doppelt weiter zu fassen: historisch weiter von Schleiermacher und den dahinter liegenden rhetorischen Traditionen her; systematisch weiter, sofern sachlich verwandte Probleme von Verstehen, Verständigung, Kommuni­ kation, Interpretation und Codierung relevant sind. Somit ist Hermeneutik weder engzuführen auf eine bestimmte hermeneutische Philosophie noch auf eine bloße Methode, sondern zu weiten als ein ‘Methodos’: als eine kunstgemäße Weise des erfahrungsgeleiteten Umgangs mit Verstehens- und Interpretationsproblemen,

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als eine methodisch disziplinierte Perspektive des Wahrnehmens, Denkens und Sprechens  – und beides stets in der gespannten Konstellation von Lebenswelt und Wissenschaft. Daraus folgt ein eigenes Ethos der Problemorientierung wie des Textumgangs. Hermeneutik ist eine Kunst der Thematisierung, der Unterscheidung und der Differenzbearbeitung – unter diskreter Wahrung der Differenz im Verstehen, ohne auf Verständigung zu verzichten. Damit wird die Hermeneutik entsubstantialisiert im Sinne von Ernst Cassirers Übergang von der ‘Substanz zur Funktion’. Sie wird damit aber nicht enthistorisiert, sondern zehrt von ihren kulturellen (wie religiö­ sen) Hintergründen. Wenn man im Ernst ‘auf Hegel verzichtet’ (Ricœur), befindet man sich in einem hermeneutischen Ausnahmezustand, ohne dass ein Souverän präsent wäre, der darüber gebieten könnte. Die Hermeneutik befindet sich gegenüber den starken Differenzen in einer Position des Dritten, nicht als ‘neutraler’ Beobach­ ter, sondern als Figur des Zwischen (zwischen zu scharfen In- und Exklusionen). Diese Verortung ermöglicht einen Spielraum des Verhaltens, um die Grenzen von Eigenem und Fremdem offen zu halten – was auch für den Umgang mit fremden Religionen und dem Fremden in der ‘eigenen’ Religion relevant ist.

3 Hermeneutik differenzieren Nicht nur das Verstehen, sondern auch die Hermeneutik macht Probleme, nicht zuletzt durch Indifferenzen, auf die man mit Unterscheidungen antworten kann: 1) Verstehen und seine Probleme sind das eine; Hermeneutik als Reflexion und Theorie des Verstehens das andere. Gängige Wendungen wie ‘das hermeneutische Problem’ oder ‘der hermeneutische Zirkel’ verwischen diese Differenz, als wären Verstehen und Hermeneutik eins. Hier ist zunächst zwischen den Praktiken und ihren Problemen sowie deren Reflexion und Methodisierung zu unterscheiden. Mag Hermeneutik im universalprogrammatischen Sinne obsolet geworden sein, sind Probleme des Verstehens, der Interpretation und der zu unterschei­ denden Deutung6 durchaus noch präsent und immer wieder reflexionsbedürf­ tig. Mag Hermeneutik am Ende sein, wird am Ende Hermeneutik wieder relevant,

6 Zur Differenz von Interpretation und Deutung vgl. Philipp Stoellger, „Deutungsmachtanalyse. Zur Einleitung in ein Konzept zwischen Hermeneutik und Diskursanalyse“, in: Philipp Stoellger (Hrsg.), Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten (= Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, Bd. 63), Tübingen: Mohr Siebeck, 2014, S. 1–85, hier: S. 14–25.

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weil es oft genug vorkommt, dass wir etwas nicht verstehen und dennoch zu verstehen suchen, falls oder sofern wir es beim Nichtverstehen nicht belassen können. In welchem Sinn allerdings und wie Hermeneutik künftig zu konzipieren wäre, ist eine erfrischend offene Frage. Für diese Öffnung hat die Kritik der alten Hermeneutik viel beigetragen. Nur: Was Verstehen meinen kann und wie auf die Probleme damit zu antworten wäre, wurde von den Kritikern leider zu selten wei­ terführend geklärt. 2) Hermeneutik gibt es in verschiedenen Formaten. Empfehlenswert scheint, wenigstens vorlaufend zu unterscheiden: erstens die universale Hermeneutik als ‘All-Theorie’, zweitens ihre Präzisierung und Beschränkung als Reflexion und Theorie von Praktiken des Verstehens (mit der Frage, ob es denn allein eine ‘Praktik’ sei), drittens hermeneutische Methoden und viertens hermeneutische Kompetenz. 2.1) Hermeneutik als ‘All-Theorie’, der Alchemie als Universalwissenschaft7 (und somit All-Chemie) nicht unähnlich (wobei das ‘Al-’ den arabischen Artikel sprach­ lich übernimmt), ist eine an das Barock erinnernde Universalphilosophie mit einer theologischen oder hermeneutischen ‘Metaphysik’. So vertritt eine jüngst erschienene Hermeneutik nach wie vor die alte These, die Welt sei ein Text und daher sei alles als Text zu verstehen: Die Welt ist nicht deshalb ein Text, weil wir sie heuristisch so verstehen, sondern wir kön­nen sie so mit Recht verstehen, weil sie ein Text, ein Buch, ein Brief des Schöpfers an die Geschöpfe ist. Vor dem Hintergrund dieses weitgespannten Textverständnisses bezeichne ich mit dem Ausdruck ‘Text’ im Folgenden alle Zeichenprozesse, durch die Sinn von und für Menschen konstituiert und kommuniziert wird, also nicht nur Sprachgebilde, sondern auch biologi­ sche Strukturen (DNA), neurophysiologische Prozesse, Gesten, Mimik, Blicke, Handlungen, Rituale, Bilder, Bücher, Filme, Tabellen, Theaterstücke, Opern, Bauwerke (Architektur), Landschaftsgestalten (Gartenarchitektur), Gruppenstrukturen, Gemeinschaftsformen, Menüfolgen, Modephänomene, politische Institutionen, religiöse Praktiken usf.8

7 Vgl. Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25  Bänden, Bd.  1: A–Alu, Mannheim/Wien/Zürich: Bibliographisches Institut, 1971, S. 646–647. 8 Ingolf U. Dalferth, Kunst des Verstehens. Grundzüge einer Hermeneutik der Kommunikation durch Texte, Tübingen: Mohr Siebeck, 2018, S. 169.

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Alles ‘als Text’ aufzufassen, nannte Eco „hermetische Semiose“:9 „Die hermeti­ sche Semiose hat sich von Beginn an auf zwei Ebenen manifestiert: Interpretation der Welt als Buch und Interpretation der Bücher als Welten.“10 Alles sei voll von Sinn, wie es etwa die analogia entis unterstellt, und daher (?) seien alle Phäno­ mene wie Buchstaben oder die Welt als Text zu ‘dechiffrieren’. Die Globalisierung des Textmodells führt zu gravierenden Fehlrationalisierungen und unterschreitet in mancherlei Hinsicht den Forschungs- und Differenzierungsstand. Bilder als Bilder sind eben keine Texte, sowenig wie die Zahl als Text zu begreifen ist oder Töne, Gesten, Verkörperung, Szenen oder Techniken. Mit solch einer Entdifferen­ zierung des Textmodells ist weder der Hermeneutik gedient noch den Textwissen­ schaften, denen an Textdifferenzierung gelegen ist, nicht an Entdifferenzierung und grenzenloser Übertragung. 2.2) Von der hermeneutischen Alchemie zu unterscheiden ist Hermeneutik als Reflexion und Theorie des Verstehens und seiner Praktiken: Auslegung, Interpreta­ tion, Deutung etc. Dazu sei statt einer Hermeneutik der Entdifferenzierung namens Universalisierung eine Hermeneutik der Differenz vorgeschlagen oder auch Differenzialhermeneutik: ausgehend von der basalen Differenz von Nichtverstehen und Verstehen an irreduziblen Differenzen zu arbeiten wie Sagen und Zeigen, Wort und Bild, Macht und Sinn, Sinn und Wahrheit, Ding und Medium etc.11 2.3) Von Hermeneutik als Theorie ist Hermeneutik als Methode zu unterscheiden, im Unterschied etwa zu den historischen und empirischen Methoden, ohne hier unnötige Alternativen aufzubauen. Ist doch Historie ohne Hermeneutik gelegent­ lich blind und umgekehrt Hermeneutik ohne Historie manchmal leer. Entspre­ chendes gilt für die Verschränkung von Hermeneutik und Empirie. Im Gefolge Ernst Troeltschs meinten manche, den ‘neuen Glauben’ verbreiten zu müssen, es gebe entweder wissenschaftlich die historische Methode oder aber unwissenschaftlich die alte metaphysische Dogmatik. Wer das für einen apago­ gisch gültigen Schluss hält, könnte Nachhilfe in Logik und Rhetorik gebrauchen. Gleichwohl hat die Anerkennung dieser falschen Alternative zu deren Deutungs­ macht erheblich beigetragen, so dass der Alleinvertretungsanspruch auf Wissen­ schaftlichkeit kraft historischer Methoden gelegentlich auch als ‘morbus his­

9 Vgl. Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation, aus dem Italienischen von Günter Memmert, München/Wien: Carl Hanser Verlag, 1992, S. 18, S. 59–79, bes.: „Das hermetische Denken trans­ formiert das ganze Welttheater zu einem Sprachphänomen“ (ebd., S. 65). 10 Ebd., S. 139. – Vgl. ebd., S. 19. 11 Dabei kommen dann jeweils medienspezifische Methoden zum Tragen.

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toricus’ erscheinen kann, dann zumindest, wenn alles als unwissenschaftlich exkludiert wird, was nicht mit historischen Methoden zu bearbeiten wäre (Begriff, Urteil, Schluss; oder: Gott, Glaube und Kreuzestheologie). Angesichts der Hegemonie von Historie und Empirie (was könnte es wissen­ schaftlich noch anderes geben?) wird die Hermeneutik zumindest als metho­ disches Supplement von Neuem interessant. Hermeneutik steht dann als Meto­ nymie für diverse supplementäre Alternativen zu Historie und Empirie, um einen Ausweg aus dieser vermeintlichen Alternativlosigkeit anzuzeigen. Denn vermutlich jedem Historiker wie Empiriker ist plausibel zu machen, dass ohne Interpretation weder Quellen noch Daten etwas ‘bedeuten’ können. Die Omniprä­ senz von Interpretation und Deutung in den Wissenschaften belegt deren Unver­ meidlichkeit – und damit auch die Dringlichkeit hermeneutischer Reflexion und Theoriearbeit. Offensichtlich ist die Aufgabe der ‘Interpretation in den Wissen­ schaften’12 auf je spezifische Weise permanent präsent. Das Problem, auf das die Hermeneutik eine Antwort sein wollte, hat nicht nur eine Antwort gefunden, weil es mehrfaltig ist. Die disziplinär ausdifferenzierten Interpretationsmethoden sind eine differenziertere Antwort als die eine universale und daher auch differenz­ kompetenter. Auch wenn ‘die Hermeneutik’ einerseits weg-disseminiert wurde und ande­ rerseits ihr Problem ausdifferenziert bearbeitet wird, ist doch die offene Aufgabe erkennbar: auf die Interpretativität von Wissenschaften eigens zu reflektieren (inter- und transdisziplinär). Gibt es doch einerseits erfolgreiche Wissenschaften, die ‘Fakten statt Deutung’ zu liefern beanspruchen und dabei ihre Interpretativi­ tät verstellen oder verkennen zwecks Geltungserzeugung. Und es gibt anderer­ seits Wissenschaften, die sich damit beruhigen, es gebe ohnehin nur Deutung und nichts dahinter  – Gott schon gar nicht oder Gerechtigkeit oder Wahrheit. Diese grobe Vereinfachung des Problems soll nur anzeigen, dass es einigen Refle­ xionsbedarf gibt angesichts der latenten oder manifesten Interpretativität in den Wissenschaften, also nicht nur den Bedarf methodischer Ausdifferenzierung der Interpretation, sondern auch der Differenzierung und Reflexion auf diese Inter­ pretativität. Hier kehrt eine unabgegoltene Theorieaufgabe der alten Hermeneu­ tik unter neuen Bedingungen wieder. Nur ist diese künftig kaum in Form einer Generaltheorie zu bearbeiten, sondern bedürfte eher der Form eines ‘Zentrums für Interpretation in den Wissenschaften’ – das es leider bisher nicht gibt.

12 Vgl. Ingolf U. Dalferth/Philipp Stoellger (Hrsg.), Interpretation in den Wissenschaften (= Interpretation Interdisziplinär, Bd. 3), Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005.

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2.4) Von Hermeneutik als Alchemie, als Theorie und als Methode nochmals zu unterscheiden ist das, was hermeneutische Kompetenz zu nennen ist: eine Urteils­ fähigkeit reflektierender Art, die erfahrungsgesättigt ist (phronetisch und sapien­ tial), die hermeneutische ‘Billigkeit’ kennt (nicht nur Barmherzigkeit, Einver­ ständnis oder Gerechtigkeit), also Singuläres in seiner Singularität zu verstehen und zu beurteilen sucht, und dabei nicht nur ‘urteilt’, sondern auch findig und ‘erfindig’ ist (abduktiv, nachdenklich, imaginativ). Das hermeneutische Kompetenz zu nennen, verwischt allerdings die grund­ legende Unterscheidung von Verstehen und Hermeneutik. Geht es doch primär um eine Kompetenz im Verstehen und erst davon abgeleitet um die hermeneuti­ sche Reflexionskompetenz dessen. Der Unterschied tritt deutlich zutage, wenn Gadamer ‘am Material’ oft so originelle wie gravierende Beobachtungen macht und Dunkles erhellend deutet; oder wenn selbst Hermeneutik-Kritiker wie Derrida ‘am Material’ Bemerkenswertes entdecken und Deutungen wagen. In vivo kann ein Hermeneutiker ebenso wie dessen Kritiker erstaunliche ‘hermeneutische Kompetenz’ zeigen, auch wenn seine affirmative oder polemische Hintergrund­ theorie problematisch sein mag. Eine Konsequenz daraus könnte leicht gezogen werden: Ob pro oder contra Hermeneutik, entscheidend sei doch letztlich die hermeneutische Kompetenz, nicht die Theorie, nicht die Methode oder auch nicht die Prätention einer her­ meneutischen Alchemie. So können auch jenseits der Hermeneutik ‘am Material’ oder Phänomen inventive, investigative, innovative, imaginative Interpretations-, Deutungs- und Verstehensleistungen erbracht werden, ohne sich um die Theo­ riedebatten zu scheren. So richtig das ist, so sehr wäre es doch ein Fehlschluss zu meinen, der Theoriearbeit bedürfte es nicht. Denn tragende Grundbegriffe, Leit­ differenzen oder entscheidende Operationsformen bedürfen eigens der Klärung und Reflexion. Zum Beispiel: Deutung und Interpretation zu unterscheiden, Fragen der Macht und Gewalt im Verstehen, Klärung der Voraussetzungen und Folgen des Verstehens, die Fragen nach ihrem terminus a quo (Nichtverstehen), ihrem responsorischen Charakter oder den Grenzen und dem Worumwillen kann man nicht nur in die Praxiskompetenz verlagern. Zumindest zur wissenschaft­ lichen Klärung dessen, was man tut, wenn man interpretiert, deutet, versteht etc., ist hermeneutische Theoriearbeit unerlässlich: um die Latenzen manifest zu machen (making it explicit) und zur Disposition zu stellen.13

13 Das Wie des Methodengebrauchs ist auch eine Frage ‘metamethodischer’ Kompetenz in diesem Sinne. Von daher ist Methodisierung keine Entlastung von dieser weitergehenden Kom­ petenz. Vgl. Robert B. Brandom, Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge, MA/London: Harvard University Press, 1994.

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4 Der Nachlass der Hermeneutik und ihrer Kritik: Probleme des Verstehens, der Interpretation und der Deutung Hermeneutik im alten Sinn ist am Ende. Ein Anzeichen dafür ist die vorangeschrit­ tene Historisierung der Hermeneutik-Forschung: Schleiermacher-, Heidegger-, Gadamer-Untersuchungen zum Beispiel, die sich den gewiss großen Verdiensten und diffizilen Differenzen im jeweiligen Werk widmen, allerdings auf eine retro­ spektive und rekonstruktive Weise, als hätte man es mit einer toten Sprache zu tun oder einer dem Mythos ähnlichen Theorie ‘der Alten’. Zwar gibt es auch das übliche Verfahren, die Probleme der Zukunft mit den Toten der Vergangenheit lösen zu wollen, aber – zu den aktuellen Forschungsfragen im Blick auf herme­ neutische Diskurse tragen die Alten nichts Neues bei. Um nur ein paar Beispiele zu geben: Die Wende zur Digitalisierung ist schlicht jenseits des Horizonts der alten Hermeneutik. Zur ‘Zahl’ hat sie ebenso wenig zu sagen wie zeitgenössisch Erhellendes zur Technik. Mit dem iconic turn steht es ähnlich. Es bedurfte erst Gottfried Boehms und anderer, um über das Bild und seine Bildlichkeit hermeneutisch valabel nachzudenken. Man denke auch an die Verschränkungen von Medien und Materialitäten: Dazu schweigen die Alten lauter, als einem lieb sein kann. Allerdings ist von diesen ein Reflexionsstandard und ein Anspruch vorgege­ ben, den man nicht fahrlässig unterschreiten kann. Wenn beispielsweise manche meinen, alles sei Deutung und Deutung sei alles, was ist, Religion nichts als Lebensdeutung und Sinn das Ziel aller Wege des Menschen, so bleibt zum Beispiel die Frage nach Wahrheit gleichwohl kathartisch: wenigstens, um noch zwischen Sinn und Nicht-Sinn unterscheiden zu können oder zwischen Sinn und Unsinn.14 An diesem Ende der alten Hermeneutik zeigt sich allerdings auch, dass die Probleme, auf die die Hermeneutik eine Antwort sein wollte, durchaus nicht am Ende sind, sondern ebenso präsent wie dringlich: Probleme radikaler (nicht rela­ tiver und nicht absoluter) Andersheit, konfliktiver Pluralismus, Transkulturalität und visuelle Kultur, die Komplikationen der Schriftbildlichkeit oder Bildschrift­ lichkeit, die Digitalisierung und deren neue ‘Textualitäten’ oder ‘Textilitäten’ pro­

14 Vgl. Emil Angehrn, Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen (= Philosophische Untersuchungen, Bd. 25), Tübingen: Mohr Siebeck, 2010; Philipp Stoellger, „Über die Grenzen der Ver­ nunft. Un-, Wider- und Übervernunft als die Anderen der Vernunft“, in: Friedrich Schweitzer (Hrsg.), Kommunikation über Grenzen (= Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, Bd. 33), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2009, S. 597–611.

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vozieren verschärft und anders als bisher Fragen nach den Möglichkeitsbedingun­ gen von Verstehen ohne Einverständnis, nach der Verständigung mit Fremden und Fremdem und nach dem Verhältnis von common ground und defensible differences. Nur sind die Erblasten der alten Hermeneutik zu groß, um diese Tradition ungebrochen fortschreiben zu können. Daher bedarf es der Arbeit an der Revision von Hermeneutik angesichts ihrer Kritik und im Blick auf dringliche Problemlagen der Verständigung. Dabei sind die Kritiken an der alten Hermeneutik gründlich zu beachten, die Problem- und Themenfelder auszudifferenzieren. Und es bedarf einer basalen und finalen Reformatierung der Voraussetzungen und Ansprüche der Hermeneutik. Ob man die Arbeit an diesen Problemen und Themen noch als Hermeneutik deklarieren muss, ist eine offene Frage. Denn es gibt diverse regionale und überregionale Alternativen zur Hermeneutik. Und wenn mit diesem ‘Label’ die sattsam kritisierten Altlasten verbunden werden, ist es womöglich so belastet, dass man es besser fallen lässt. Nur – wenn und insofern es um Verstehen geht, ist eine Reflexion, Theorie und Methodisierung des Verstehens durchaus noch ‘Hermeneutik’ zu nennen. Dann allerdings in merklich verschobenem und zu differenzierendem Sinn. Gilt in der Theologie ‘Hermeneutik’ meist als ‘Label’, auf das Schleiermacher und seine Schüler gewissermaßen das ‘Copyright’ beanspruchen, so übernehmen diese Rolle in der Philosophie Heidegger und Gadamer – und daher erneut Rudolf Bultmann, Ernst Fuchs und ihre ‘Follower‘.15 Seltsam, dass dabei die produktive Konstanzer Tradition ebenso leicht übersehen (gemacht) wird wie Ricœur und die Folgen. Dabei steht für die berühmte Arbeitsgruppe „Poetik und Hermeneu­ tik“ nicht allein Jauß, sondern gerade auch Blumenberg, als phänomenologisch gewichtige Alternative zu den genannten Autoritäten der Tradition. Fragt man etwa nach dem ‘Un-’ bzw. „Nichtbegriffliche[n] an unserem Leben“16 und nach materiellen, medialen und ästhetischen Praktiken, ist Blumenberg mit seiner hermeneutischen Phänomenologie der Formen und Figuren des Unbegrifflichen ein maßgebender Kandidat, übrigens auch in Fragen der Technik, Materialität und Performanz. Kulturhermeneutik wäre das zu nennen, im Unterschied zur Daseinshermeneutik und ihren theologischen Wiedergängern. Dass die Kultur­ hermeneutik auch mancher Weiterungen fähig und bedürftig ist, sei gleich kon­ zediert: Inter- oder gar Transkulturhermeneutik ist eine offene Aufgabe.

15 Vgl. Ingolf U. Dalferth/Pierre Bühler/Andreas Hunziker (Hrsg.), Hermeneutische Theologie – heute? (= Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, Bd. 60), Tübingen: Mohr Siebeck, 2013. 16 Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004, S. 163.

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5 Prophanierung des Verstehens ‘Verstehen’ als das Menschliche am Menschen zu begreifen, womöglich noch mit dem Pathos der Eigentlichkeit, führt zu Überinterpretationen: – In ethischer Übertreibung gilt dann der Dialog als soziales Heilsmedium gelin­ gender Vergemeinschaftung. Die Nebenwirkung ist absehbar: Konflikte oder ausbleibende Gespräche gelten als malum sociale. – In ästhetischer Übertreibung führt es zur Auratisierung, wie sie exemplarisch an Hölderlin ausagiert wurde. Die Nebenwirkung ist die Geringschätzung des ‘Nicht-Poetischen’, etwa des Rhetorischen; oder das Übersehen von vermeintlich ‘schwachen’ Bildern; oder die Feier der ‘lebendigen’ führt zur Abwertung der ‘toten’ Metapher und zur Blindheit für deren Leben zwischen diesen Grenzwerten in Gestalt der feinen Formvarianzen. – In ontologischer Übertreibung führt die Sprachlichkeit des Seins zur Wieder­ kehr der alten These, im Grunde sei alles voll von Sinn (wie bei Thales: ‘alles voll von Göttern’). Die Nebenwirkung zeigt sich im mangelnden Sinn für Kon­ tingenz, für Sinnwidrigkeiten oder für das, was ‘höher als all unsere Vernunft’ sein mag. – In anthropologischer Übertreibung wird der Mensch erst dann ‘eigentlich’ Mensch, wenn er versteht. Die Nebenwirkung ist manifest in der alten ‘Ver­ fallenheitsthese’: Wer nicht seine höchsten Möglichkeiten entschieden ‘ergreift’, gilt als unvollkommen, wenn nicht als ‘Halbmensch’. – In soteriologischer Übertreibung wird das Verstehen zum Heilsmedium der Vergemeinschaftung von Gott und Mensch, Mensch und Mensch und vor allem des Menschen im Selbstverhältnis namens ‘Selbstverständnis’. Wird Glaube als Verstehen gedeutet und Verstehen als Glaube, meint man der Regel Anselms zu folgen: fides quaerens intellectum (quaerentem fidem). Aber die Nebenwirkung ist absehbar: Das Verstehen wird übertrieben und der Glaube auf das Verstehen verpflichtet, so dass alles, was wir nicht verstehen, dem Glauben zuwiderläuft, kein Glaube sein kann oder vom Glauben ausgeschlos­ sen wird – so wie umgekehrt das Verstehen auf Glauben fokussiert wird, meist noch mit der hermeneutischen Engführung, vom Einverständnis auszugehen und in aller Differenz final Einverständnis zu erstreben. Das ‘neue Selbstver­ ständnis’ als Modell des Glaubens insinuiert, das ‘neue’ Selbstverständnis des Menschen sei das Ziel aller Wege Gottes. Verstehen wird soteriologisch überinterpretiert, und Glaube wird hermeneutisch unterinterpretiert.

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Ricœur formulierte seine Version des hermeneutischen Zirkels wie folgt: [I]ch muß den Standpunkt oder genauer die Enthaltung des fernen und desinteressierten Beobachters aufgeben, um mir jedesmal eine singuläre Symbolik anzueignen. Dann tritt das Wechselverhältnis hervor, das man den hermeneutischen Zirkel nennen kann und dem der bloße Liebhaber der Mythen ständig ausweicht. Dieser Zirkel kann grob so formuliert werden: „Man muß verstehen, um zu glauben, und man muß glauben, um zu verstehen.“ Ein solcher Zirkel ist kein circulus vitiosus, noch weniger ein tödlicher Zirkel; er enthält vielmehr eine sehr belebende und anregende Kraft. Man muß glauben, um zu verstehen: Tatsächlich wird ein Interpret nie dem nahekommen, was sein Text aussagt, wenn er nicht in der Aura des befragten Sinnes lebt. Andererseits können wir nur als Verstehende glauben. Denn das zweite Unmittelbare, das wir suchen, die zweite Naivität, die wir erwarten, ist uns nur noch in einer Hermeneutik zugänglich; nur indem wir interpretieren, können wir glauben.17

Glauben, um zu verstehen, ist eine beliebte Prämisse, auch mit der theologischen Aneignung, man müsse verstehen, um zu glauben. Dass selbst Barth nicht dieser Ansicht war, wäre eigens zu zeigen. Die beliebte Wendung von der ‘Dogmatik als Glaubensakt’ führte er aus mit der These, sie setze „den christlichen Glauben voraus“, ja als Dogmatik sei sie „nicht anders möglich denn als ein Glaubens­ akt […]. Sie wäre ohne Glauben gegenstands- und sinnlos“.18 Als müsste man in aller theologischen Wissenschaft vor allem kräftig ‘glauben’, was zu verstehen und zu sagen sei. Etwas nüchterner ist diese These erheblich einleuchtender: dass es Glaube und Glaubende gibt, sei vorausgesetzt. Aber der ‘eigene’ Glaube des Theologen ist keine conditio sine qua non. Sonst könnte nicht die erfrischend nüchterne These gelten, die Theologie sei keineswegs „prinzipiell notwendig“ als selbständige Wissenschaft, verfüge sie doch weder über einen „Erkenntnisgrund, der nicht sofort auch in jeder anderen Wissenschaft Aktualität haben könnte, noch kennt sie ein Gegenstandsgebiet, das irgendeiner anderen Wissenschaft ver­ borgen sein müßte“.19 Schlicht gesagt könnte das Geschäft der Theologie auch von anderen Wissenschaften übernommen werden, wenn sie sich dem denn widmen würden. Und von diesen Anderen wäre doch mitnichten vorauszusetzen, dass sie glauben, um zu verstehen oder umgekehrt.

17 Paul Ricœur, Der Konflikt der Interpretationen. Ausgewählte Aufsätze (1960–1969), ausge­ wählt, hrsg. und eingeleitet von Daniel Creutz und Hans-Helmuth Gander, Freiburg/München: Verlag Karl Alber, 2010, S. 197. 18 Karl Barth, Die kirchliche Dogmatik. Erster Band. Die Lehre vom Wort Gottes. Erster Halbband, Zürich: Evangelischer Verlag A.G. Zollikon-Zürich, 1947, S. 16  f. 19 Ebd., S. 3.

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Schon eine Gegenprobe auf die Identifikation von Glaube und Verstehen reicht zu deren Widerlegung. Manch ein Kirchenlied besingt nicht nur die Macht Gottes, sondern auch, wogegen sie sich richtet, nicht zuletzt den Teufel.20 Sollte das heißen, es wird nicht nur der Gottesglaube besungen, sondern aus Versehen auch der Teufelsglaube? Wäre der Gesang dann aus Versehen eine fromme Ein­ übung in den Satanismus? Verkündigung des großen Gegenspielers Gottes? Muss man tatsächlich glauben, um das zu verstehen? Und heißt, das zu verstehen auch zu glauben? Zu ergänzen wäre wohl auch: Man muss verstehen, um nicht zu glauben und vice versa. Entsprechend zur soteriologischen Überinterpretation des Verstehens als Glaube (und des Glaubens als Verstehen) ist es dann nicht überraschend, wenn das Nichtverstehen als Sünde gedeutet wird. So meinte Wilhelm Gräb, gemäß dem Programm der ‘Religion als Deutung des Lebens’, die Theologie sei, „wie alle anderen Kulturwissenschaften auch, eine hermeneutische Disziplin, der es um das Verstehen des Lebens der Menschen in der Perspektive ihres Erlebens und Handelns geht.“21 Dementsprechend deutet Gräb „das gestörte Verstehen unter der Kategorie der ‚Sünde‘“22: Es geht Thurneysen recht verstanden vielmehr um die religiöse Symbolisierung der so auch von Schleiermacher gewonnenen hermeneutischen Grundeinsicht, dass sich das gestörte Verstehen, das Missverstehen, gleichsam von selbst ergibt und jedes Verstehen auf jedem Punkt gesucht werden muss.23

Damit wird – deutlich von Schleiermacher abweichend – das natürliche Missver­ stehen24 hamartiologisch gedeutet und als malum auf den Index gesetzt:

20 Der prominenteste unter seinen Opponenten, der ‘Fürst dieser Welt’, wird ebenso besungen wie Gott in aller Dreifaltigkeit (vgl. Evangelisches Gesangbuch [EG] 146,5: „behüt vors Teufels List und Mord“; vgl. EG 109,2; 113,4; 518,2: „Mitten in dem Tod anficht uns der Hölle Rachen“). Nolens volens tradieren und kommunizieren manche Lieder nicht nur das Evangelium, sondern auch einen gediegenen Teufelsglauben. Wird dann in mythischer Handlungslogik mit dem Handeln Gottes stets auch das Handeln des Teufels reanimiert? 21 Wilhelm Gräb, Religion als Deutung des Lebens. Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2006, S. 185. Sie hat jedoch spezifische Deu­ tungskategorien, die auf der Basis der biblischen Überlieferungen von der christlichen Dogmatik immer wieder (weiter?) entwickelt und neu interpretiert werden (ebd., S. 185). 22 Ebd., S. 194. 23 Ebd., S. 194. 24 Vgl. Philipp Stoellger, „Missverständnisse und die Grenzen des Verstehens. Zum Verstehen dies­seits und jenseits der Grenzen historischer Vernunft“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 106 (2009), H. 2, S. 223–263.

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Die unter der Kategorie der Sünde interpretierte Störung ist, sofern sie gestörtes Selbst- und Weltverstehen – wie es sich gleichsam von selbst ergibt – betrifft, der erfahrbare Ausdruck des Sachverhalts, dass ein abgrundtiefer Riss durch die ganze Schöpfung hindurchgeht und die Menschen in ihr eben solange zugleich um sich wissende wie sich selbst verborgene Wesen sind, solange sie von Gott dem Schöpfer als dem Grunde ihres Seins zwar wissen, aber dennoch von ihm getrennt sind. Die Kategorie der Sünde symbolisiert das gestörte Verstehen […]. 25

Nur wird diese hermeneutische Hamartiologie dann erstaunlich schlicht generali­ siert: „Unserem Selbstverstehen wohnt immer schon eine letzte Dunkelheit inne. Das Ich hat sich selbst, sein Selbst nie vollständig in der Hand.“26 Was man als Einsicht kritischer Hermeneutik in die Selbstundurchsichtig­ keit des Menschen verstehen könnte, als Ausdruck negativer Anthropologie im Zeichen des ‘homo absconditus’ oder auch psychoanalytisch nur zu treffend, klingt in dieser theologischen Version als hermeneutischer Versuch, die Univer­ salität der Sünde zu plausibilisieren. Nicht, dass damit moralisiert würde, aber es wird hamartiologisiert, was keineswegs unter ‘Gottlosigkeitsverdacht’ gestellt werden sollte. Wenn schon Barths These ‘Religion sei Unglaube’ bestenfalls dubios war, ist es Gräbs These ‘Nichtverstehen sei Sünde’ nicht minder. Ulrich H. J. Körtner meinte: Sofern das Verstehen des Glaubens, sein Erkennen, ein Erkanntwerden und Anerkennen Gottes wie seines Urteils über das Selbst des Menschen ist, meint Verstehen als neues Selbstverständnis das Einverständnis mit der Botschaft des Glaubens.27

Der nicht ‘heilige’, sondern nüchterne Gegen-Satz wird z.  B. von Jürgen Habermas vertreten: „Dass der Gott, der die Liebe ist, in Adam und Eva freie Wesen schafft, die ihm gleichen, muss man nicht glauben, um zu verstehen, was mit Ebenbildlich­ keit gemeint ist.“28 25 Gräb, Religion als Deutung des Lebens, S. 195. 26 Ebd., S. 196. 27 Ulrich H. J. Körtner, Theologie des Wortes Gottes. Positionen – Probleme – Perspektiven, Göttin­ gen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001, S.  236. Vgl. zum theologischen Verständnis von Einver­ ständnis Gerhard Ebeling, Einführung in die Sprachlehre des Glaubens, Tübingen: Mohr Siebeck, 1971, S. 6–30; Hans Weder, „Einverständnis. Eine Überlegung zu Peter Stuhlmachers hermeneu­ tischem Ansatz“, in: Jostein Adna/Scott J. Hafemann/Otfried Hofius (Hrsg.), Evangelium, Schriftauslegung, Kirche. Festschrift für Peter Stuhlmacher zum 65. Geburtstag, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1997, S. 403–418; Peter Stuhlmacher, „Exegese und Erfahrung“, in: Eberhard Jüngel/ Johannes Wallmann/Wilfrid Werbeck (Hrsg.), Verifikationen. Festschrift für Gerhard Ebeling zum 70. Geburtstag, Tübingen: Mohr Siebeck, 1982, S. 67–89, bes.: S. 73, Anm. 21. 28 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001, S. 30 (Hervorhebun­ gen von mir, P. S.).

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Allerdings sind hier zwei Versionen der Ernüchterungsthese zu unterscheiden: a) Muss man nicht-glauben, also jeden Glauben fahren lassen (etwa metho­ disch sistieren oder gar atheistisch geringschätzen), um zu verstehen? Dann müsste der Glaube methodisch ein- oder polemisch ausgeklammert werden, um eine Distanz zu eröffnen, die das Verstehen erst erlaubt, ohne schon Ein­ verständnis vorauszusetzen oder zu fordern. So kann man etwa die regulative und kritische ‘Neutralität’ als kritisches Regulativ historischer Methoden ver­ stehen. Und so ist auch die phänomenologische Epoché zu verstehen, die für die jüngere Phänomenologie eine Differenz markiert und wahrt, kraft der die ‘Andersheit des Anderen’ markiert wird, um sie nicht vorgängig oder final schon als überwunden auszugeben und damit zu ‘verletzen’. b) Oder reicht es zu sagen, man muss nicht glauben, man könne auch ohne ihn verstehen? Der Glaube sei zwar möglich und eröffne dann eine besondere Zugänglichkeit. Aber auch ohne ihn wäre das zu Verstehende nicht schlecht­ hin unzugänglich, sondern vernünftigerweise verständlich. Denn die beson­ dere Zugänglichkeit kraft eines Glaubens könnte trügerisch sein und das Verstehen besonders anfällig werden lassen für Kurzschlüsse und Übergriffe vorschneller ‘Verschmelzung’ mit dem zu Verstehenden. Zum Glück muss man nicht glauben, um zu verstehen. Wie könnte man sonst den Faust verste­ hen, ohne einer zu sein, oder Mephisto verstehen, ohne Satanist zu werden? Wie könnte man Gottes Macht über den Teufel besingen, ohne den Teufels­ glauben zu reanimieren? Selbst in theologischer Perspektive dürfte empfehlenswert sein, den Glauben – soweit möglich – einzuklammern, um zu verstehen, also einem Verstehen Raum zu geben, das nicht schon vom Willen zum Glauben als Verstehen bestimmt ist. Es ist für den Glauben allemal erhellender, nicht den Glauben vorauszusetzen oder zu fordern, wenn man sich an die Arbeit des Verstehens macht. Denn sonst droht vor­ schnelles Vertrauen, ungebrochenes Einverständnis und naiver Konsens mit den Konsequenzen einer entsprechenden Apologetik. Der Glaube ist methodisch zu sistieren, damit er dem Verstehen nicht zuvorkommt, es als opus proprium aneig­ net, als opus alienum marginalisiert – oder aber sich mit dem Verstehen so iden­ tifiziert, dass die wesentliche Differenz von Glauben und Verstehen verkannt wird. Zur Ernüchterung der soteriologischen Überinterpretation ist zu unterschei­ den: Verständigung ist noch längst nicht Verstehen, welches noch nicht Verständnis ist, das seinerseits keineswegs Einverständnis voraussetzt oder fordert.29 Wer 29 Vgl. Philipp Stoellger, „Verständigung mit Fremden. Zur Hermeneutik der Differenz ohne Kon­ sens“, in: Klaus Sachs-Hombach (Hrsg.), Verstehen und Verständigung. Intermediale, multimodale und interkulturelle Aspekte von Kommunikation und Ästhetik, Köln: Halem, 2016, S. 164–193.

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Einverständnis (oder Glaube) immer schon voraussetzt, würde Verständigung mit einer übertriebenen Voraussetzung belasten und in der Regel verunmöglichen. Oder aber man würde damit ‘billiges Verstehen’ befördern, wenn man meint, wer glaubt, versteht schon (oder umgekehrt) – als würde einem der Glaube (welcher?) die harte Arbeit des Verstehens abnehmen. Wer Einverständnis als notwendiges Ziel ansetzt, würde damit Verständigung in der Regel scheitern lassen. Denn schon die Wendung der ‘unendlichen Aufgabe’ zeigt an, dass es höchst selten zum Einverständnis kommen wird.

6 Versprechen des Verstehens? Im Hintergrund der soteriologischen Überinterpretationen des Verstehens steht die Frage: Was verspricht man sich vom Verstehen? Versöhnung mit dem Anderen, mit sich, mit der Welt und Gott? Durchsichtigkeit und Einheit trotz aller Vielheit und Konflikte? Stabilität gegenüber der Labilität des Nichtverstandenen, wenn es endlich eigeordnet werden kann? Ruhe und Ordnung gegenüber der Unruhe und Unordnung der Welt? Nicht nur Selbsterhaltung, sondern – womöglich als terminus ad quem – Selbststeigerung in der Erfüllung eines tiefsitzenden Begehrens nach Identität und Vollendung? Jedenfalls scheint das Verstehen mit Hoffnungen und Begehren aufgeladen werden zu müssen, um versprechen zu können, was man ihm zuvor zugesprochen hatte. Die Teleologie des Verstehens, auf ‘Einverständnis’ zu zielen und dann am Ziel zu sein, wenn das erreicht sei (wann auch immer), ist ein exemplarisches Movens eines so disponierten Konzepts von Verstehen. Das Telos kann auch als arché ausgegeben werden, wenn behauptet wird, Verstehen werde überhaupt erst möglich, wenn Einverständnis vorausgesetzt und einander entgegengebracht werde. Ob archäologisch oder teleologisch wird damit eine weder notwendige noch immer wünschenswerte Identifikation vorgenommen: von Verstehen und Einverständnis als Grund und Ziel des Verstehens. Erst dann kann man sich vom Verstehen versprechen, als profanes Heilsmedium zu fungieren. Ob das Erreichen dieses Ziels überhaupt wünschenswert ist, wird dabei kaum noch gefragt. Vom profanen zum religiösen Heilsmedium wird das Verstehen, wenn es über das ‘tertium’ des Einverständnisses mit dem Glauben identifiziert wird. Was aber, wenn man noch nicht einmal mit sich selbst ‘im Einverständnis’ wäre oder je sein könnte (Freud), oder der Mensch sich konstitutiv verborgen wäre (Plessner) oder zumindest in vielerlei Hinsicht in sich mehrstimmig und konfliktiv wäre? Verstehen, das Selbstverständnis im Besonderen, ist statt im steten Einver­ ständnis mit sich vielmehr von bemerkenswerter Selbstwiderspruchskompetenz:

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Es ist in der Lage, Inkonsistentes und Inkohärentes beieinander zu halten (bzw. halten zu können oder zu müssen?). Was üblicherweise als bloßer Selbstwider­ spruch gälte, wäre eine besondere Kompetenz des Verstehens: Es würde zum Medium der vorübergehenden Koexistenz des Widersprüchlichen. Das sollte man nicht gleich Einverständnis nennen oder Versöhnung oder Konsens. Es ist eher eine gelegentlich sehr unkomfortable oder aber auch produk­ tive und anregende Zwischenlage des Verstehens: im Übergang, ‘übergänglich’ zu sein, im Vorübergehen, eine Zwischenbestimmung, die als fragiles Medium der Selbst- und Fremdverständigung fungiert. Diese Übergänglichkeit ermöglicht es, sich in einer Differenzlage zu bewegen, in Konflikten und womöglich auch Selbstwidersprüchen, die für das Bewusstsein mitnichten letal sein müssen. Im Gegenteil könnte man darin gerade die lebensnotwendige Offenheit des eigenen Horizonts entdecken, wenn man von internen oder externen Anderen in solche Selbstwidersprüche verstrickt wird, in denen man nicht mehr allein ‘bei sich’ bleiben kann. Wie prekär und mehrdeutig solche Selbstwidersprüche sind, dürfte klar sein. Gilt logisch wie ontologisch doch Selbstwidersprüchliches als unmöglich bzw. inexistent. So gälte anthropologisch die Selbstwidersprüchlich­ keit als vulnerabel und im Grenzwert als lebensgefährlich. Nur ist das vermutlich eine durchaus angemessene anthropologische Prämisse der Hermeneutik. Galt für Blumenberg einerseits die Sichtbarkeit des Menschen als Bedingung seiner Beschreibbarkeit (und seines Werdens zum beschreibenden Menschen),30 so ist Sichtbarkeit andererseits zugleich die Bedingung seiner Angreifbarkeit und Ver­ letzlichkeit. Ist doch der Mensch gewiss nicht am wenigsten die Geschichte seiner Verletzungen. Erst vor dem Hintergrund solcher Labilität und Passibilität ist verständlich, warum Selbstwidersprüche zur Selbstsicherung in der Regel ausgeschlossen bzw. überwunden werden sollen. Diesen Normalfall explizierte Blumenberg mit Husserl: Betrachtet man das Bewußtsein, sofern es von Texten ‘affiziert’ wird, mit der Phänomeno­ logie als eine intentionale Leistungsstruktur, so gefährdet jede Metapher deren ‘Normal­ stimmigkeit’. […] Seine Unstimmigkeiten auszubessern, immer wieder zur Einstimmigkeit der Daten als solchen einer Erfahrung zurückzufinden, bleibt die konstitutive Leistung des Bewußtseins, die es dessen versichert, der Wirklichkeit und nicht Illusionen zu folgen. Die Metapher aber ist zunächst, um mit Husserl zu sprechen, ‘Widerstimmigkeit’. Diese wäre tödlich für das seiner Identitätssorge anheimgegebene Bewußtsein; es muß das ständig erfolgreiche Selbstrestitutionsorgan sein. Es folgt, auch und gerade gegenüber der Meta­

30 Vgl. Hans Blumenberg, Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß, Stuttgart: Reclam, 1996, S. 140.

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pher, der von Husserl formulierten Regel: Anomalität als Bruch der ursprünglich stimmenden Erscheinungseinheit wird in eine höhere Normalität einbezogen.31 Das zunächst destruktive Element wird überhaupt erst unter dem Druck des Reparaturzwangs der gefährdeten Kon­ sistenz zur Metapher. Es wird der Intentionalität durch einen Kunstgriff des Umverstehens integriert. Die Erklärung des exotischen Fremdkörpers zur ‘bloßen Metapher’ ist ein Akt der Selbstbehauptung: die Störung wird als Hilfe qualifiziert.32

Der Witz an dieser nicht humorlosen Beschreibung des Menschen ist die prekäre Mängellage im Ausgang und die Fragilität der Selbstbehauptung: Umverstehen macht aus der Not eine Tugend und aus der Störung eine Entstörung. Der Wider­ spruch oder Selbstwiderspruch des Bewusstseins wird im Zeichen der Selbst­ behauptung ‘in eine höhere Normalität einbezogen’ – die eine ‘Verbindung von Verbindung und Nichtverbindung’ erlaubt. Versucht man hier auf Hegelʼsche Aufhebungshoffnungen zu verzichten, ist das Beieinander oder Miteinander von Widersprüchlichem im Verstehen überaus unselbstverständlich, geschweige denn schon verstanden. Wie kann solch eine Differenz ertragen werden, ohne für das Bewusstsein letal zu sein und ohne die Differenz (vermeintlich) zu tilgen? Bibliotheken, Bücherregale oder Festplatten und Archive haben kein Problem damit, Inkonsistentes, Inkohärentes, tief Wider­ sprüchliches beieinander zu halten. Auch Textkorpora wie die Bibel tun das und beanspruchen von ihren Lesern entsprechende Inkonsistenzkompetenz. Was logisch unerträglich wäre und auch epistemologisch meist exkludiert wird  – wird literarisch besonders kultiviert. Das ist nicht nur Möglichkeitssinn, sondern Unmöglichkeitssinn: eine eigentümliche Kompetenz für das logisch Unmögli­ che.33 Erzählungen sind Gegenwelten, unmögliche, genauer: nicht kompossible Weltversionen, in denen nicht wir, sondern andere erleben, was wir lesen. Die Modalität der ‘Unmöglichkeit’ trifft sich dabei mit unserer ‘Wirklichkeit’: Das

31 Vgl. Wolf Lepenies, „Normalität und Anormalität. Wechselwirkungen zwischen den Wissen­ schaften vom Leben und den Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert“, in: ders., Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München/Wien: Hanser, 1976, S. 169–196; Thomas Rolf, „Normalität und Le­ benswelt, Edmund Husserl“, in: ders., Normalität. Ein philosophischer Grundbegriff des 20. Jahrhunderts (= Übergänge, Bd. 36), München: Fink, 1999, S. 85–136; Gerd Brand, „Die Normalität des und der Anderen und die Anomalität einer Erfahrungsgemeinschaft bei Edmund Husserl“, in: Walter M. Sprondel/Richard Grathoff (Hrsg.), Alfred Schütz und die Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften, Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag, 1979, S. 108–124. 32 Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frank­ furt/M.: Suhrkamp, 1979, S. 78. 33 Dabei von ‘Kompetenz’ zu sprechen, von Inkonsistenz- oder Selbstwiderspruchskompetenz, ist seinerseits nicht ganz widerspruchsfrei.

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Unmögliche wird in der Lektüre wirklich, und zwar zumindest in der ‘Seele’,34 sofern der Leser es wagt, sich seiner Imagination zu bedienen. Was Leibniz ‘inkompossibel’ nannte, ist literarisch durchaus miteinander ver­ träglich: die Koexistenz pluraler Welten oder logischer Widersprüche. Literari­ sche Dialoge wie Paul Valérys Eupalinos oder diejenigen Platons bzw. seiner Figur namens Sokrates leben davon, oder auch ironisch vergebungslustige Erzählungen wie Thomas Manns Der Erwählte. Sofern Dialoge Schrift gewordene Gestalt des Denkens wären, würde deren Inkonsistenzkompetenz als skripturales Modell der Reflexion vorgestellt – was für eine in der Regel inkonsistenzintolerante Reflexion ungewöhnlich wäre. Um Plessner aufzurufen: „Die effektive Unmöglichkeit, einen entsprechenden Ausdruck und eine passende Antwort zu finden, ist zugleich der einzig entsprechende Ausdruck, die einzig passende Antwort.“35 Literatur hat diese Paradoxie, gegenwärtig Unmögliches als zumindest erzählbar und damit denkbar darzustellen, nicht nur begriffen, sondern kulti­ viert. Die Phantastik36 eines Jorge Luis Borges zum Beispiel überschreitet den Horizont des konsistent Denkbaren und kann in diesen imaginativen Expeditio­ nen ins Undenkbare Unmöglichkeiten entdecken, die mehrwertig sind: Grund des Möglichen, vielleicht nicht ganz unmöglich. Ähnlich wie die eschatologischen Narrationen der Propheten Horizontüberschreitungen imaginieren, die gelegent­ lich absurd scheinen, angesichts dessen, was der Fall ist  – aber nicht absurd bleiben, wenn man mit und von ihnen leben kann, anders leben. Manns Der Erwählte scheint mir nicht weniger zu wagen.37 Dann wäre Kunst (als Metonymie ästhetischer Praktiken) womöglich nicht nur der sattsam bemühte Möglichkeits­ sinn, sondern Sinn und Geschmack fürs Unmögliche, also Unmöglichkeitssinn. Wer das exkludierte Unmögliche antastet, das bisher Unvorstellbare, der rührt an der beruhigenden und klaren Grenze von möglich und unmöglich. Das verschiebt die Grenzen unserer Welt. Nur sollte diese leicht titanisch klingende Wendung nicht als ‘Leistungsvereinbarung’ verkürzt werden: als hätten ästhetische Prakti­ ken das zu leisten, den Globus ein wenig ins Schlingern zu bringen.

34 Sofern die Seele ‘forma corporis’ wäre, müsste eine Veränderung der Seele immer auch leib­ haftig sein. Phänomenologisch formuliert ist eine Befindlichkeit ‘zu spüren’ an Leib und Seele. 35 Helmuth Plessner, Ausdruck und menschliche Natur, Gesammelte Schriften, Bd.  7, Frank­ furt/M.: Suhrkamp, 1982, S. 274. 36 Vgl. dazu Renate Lachmann, Erzählte Phantastik. Zur Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002. 37 Vgl. Philipp Stoellger, „Gott gegen Gott. Zur Narratologie des Erwählten oder: ‚kraft der Er­ zählung‘“, in: Katrin Bedenig/Hans Wißkirchen (Hrsg.), Thomas Mann Jahrbuch, Bd. 29, Frank­ furt/M.: Klostermann, 2016, S. 163–193.

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Wie allerdings solche Inkompossibilitäten wirksam werden, wie die Kon­ stellationen von Lesewelt und Lebenswelt ins Verhältnis gesetzt werden, ist dann eine hermeneutische Gretchenfrage. Es kann ein faules Miteinander bleiben. Es kann aber auch ein quälendes, in die Verzweiflung treibendes Miteinander werden (Søren Kierkegaard). Man kann an der Unvereinbarkeit zugrunde gehen oder mit ihr produktiv zu leben suchen. Die Differenzen des Inkompossiblen müssen jedenfalls ausgetragen werden, um wirksam zu werden. Das ist die ver­ gemeinschaftende Seite des skripturalen Dialogs: die Reflexion als Gespräch der irreduzibel differenten Stimmen zugleich in ein Verhältnis zu setzen. Solche Differenzen auszutragen heißt nicht, sie mit kriegerischen Mitteln zu ‘befrieden’ oder in finalem oder schon vorausgesetztem Einverständnis zu ‘vereinen’. Die im Dialog Schrift gewordene Verständigung miteinander (nicht nur übereinander) scheint eine belastbare Medienpraxis zu sein, um ein Gegeneinander oder Neben­ einander in ein Miteinander zu überführen. Das kann als ‘wundersame Wand­ lung’ erscheinen, als hätte die Schrift Transsubstantiationspotenz. Was als Schrift stabil erscheint, ist in vivo allerdings keineswegs sehr stabil oder immer befriedi­ gend und befriedend, sondern vielmehr labil und allenfalls möglich. Aber diese Möglichkeit ist immerhin mehr als die Unmöglichkeit für die Husserl’sche ‘Leis­ tungsstruktur des Bewusstseins’. Es ‘muss’ normalisieren, was es befremdet im Zeichen von Exklusion oder Integration ins Eigene. Schrift und Schriftgebrauch namens Lektüre und Interpretation hingegen sind von solchem Identitätsdruck entlastet, um nicht zu sagen erlöst. Das wäre eine wundersame Wandlung, die mehr ‘leistet’ als das normalisierende Bewusstsein.

7 Nichtverstehen als primum movens des Verstehens 7.1 Vom Immer-schon-Verstehen oder vom Nichtverstehen aus? Verstehen kann vom Immer-schon-Verstehen ausgehen, um wiederzuerkennen, Anschluss zu finden und zu Verstehendes zu integrieren. Oder aber Verstehen geht liminal vom Nichtverstehen aus. Diese prekäre Ausgangslage taucht als ver­ drängte oder verkannte wieder auf, wenn man Verstehen als ‘unendliche Aufgabe’ bestimmt (Schleiermacher u.  a.). Es gibt ein immer mitlaufendes Nichtverstehen, in dem sich das primum movens des Verstehens bemerkbar macht. Denn an die Arbeit des Verstehens macht man sich überhaupt erst, wenn man etwas nicht ver­

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steht, aber dennoch verstehen will, muss oder soll – ohne dass gesichert wäre, dass man es auch kann. Giovanni Batista Vico formulierte die Alternative zum Rationalismus Des­ cartes’ oder Leibniz’: Denn wie die rationale Metaphysik lehrt, daß „homo intelligendo fit omnia“ (der Mensch durch das Begreifen alles wird), so beweist diese Metaphysik der Phantasie, daß „homo non intelligendo fit omnia“ (der Mensch durch das Nicht-Begreifen alles wird); und vielleicht liegt in diesem Satz mehr Wahrheit als in jenem, denn durch das Begreifen entfaltet der Mensch seinen Geist und erfaßt die Dinge, doch durch das Nicht-Begreifen macht er die Dinge aus sich selbst, verwandelt sich in sie und wird selbst zum Ding.38

Dieses Lob auf das ‘Nicht-Begreifen’, das non intelligere, also das Nichtverstehen, ist deutlich radikaler als Schleiermachers an Leibniz erinnernder romantisch erweiterter Rationalismus: Zwei entgegengesetzte Maximen beim Verstehen. 1.) Ich verstehe alles bis ich auf einen Widerspruch oder Nonsens stoße 2.) ich verstehe nichts was ich nicht als nothwendig einsehe und construiren kann. Das Verstehen nach der lezten Maxime ist eine unendliche Aufgabe.39

Auch wenn das eine unendliche Aufgabe bleibt, bleibt das Ziel einer konstruier­ ten Notwendigkeit. Allerdings zeichnet sich hier ein infiniter Rest ab, der sich dem Verstehen entzieht. Insofern gewärtigt auch Schleiermacher ein basales und finales Nichtverstehen. Selbst ein Metabeobachter wie Luhmann konnte dem nicht entsagen, auch wenn er es ins Reservat der Religion delegierte: „Selbstver­ ständlich überläßt man Fragen der Religion nie und nimmer einer ‚vernünftigen Verständigung‘.“40 Die Standardvoraussetzung, vom ‘Schon-Verstehen’ auszugehen, ist so gängig wie mehrfaltig, aber weitgehend formal identisch, sei es als (Sich-)Schon-Verstehen (auf), als Universum der Selbstverständlichkeiten (Lebenswelt), als unmittelbares Verstehen, als der pragmatische Normalfall oder das vermeintlich basale Einverständnis. Vorausgesetzt wird dann, wir seien immer schon ‘drin’ im Ver­ stehen. In-der-Welt-Sein wäre stets ‘Im-Verstehen-Sein’ – als daseinsontologische

38 Giovanni Battista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Teilband 2, übers. von Vittorio Hösle und Christoph Jermann und mit Textverweisen von Christoph Jermann (= Philosophische Bibliothek, Bd. 418b), Hamburg: Meiner, 1990, S. 192. 39 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Hermeneutik. Nach den Handschriften neu herausgegeben und eingeleitet von Heinz Kimmerle, Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, 21974, S. 31. 40 Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2000, S. 256.

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Transzendentalie. Galt von alters her: Alles sei voll von Sinn, wird diese Selbst­ verständlichkeit spätestens nach Hegel oder seit Nietzsche abgründig fraglich. Die Theodizee-Debatten und deren Kritik sind Verdichtungen dieser Fraglichkeit. Dabei wird Entscheidendes verstellt mit der generellen Voraussetzung des eigentlich Fraglichen: 1. Wie kommt es zu dieser (vermeintlichen) Normalität, d.  h. wie entsteht das so Vorausgesetzte? Selbst wenn wir im Laufe der Lebenszeit irgendwann merken, ‘schon drin’ zu sein im Verstehen, ist es irgendwie dazu gekommen, ohne dass es immer schon so gewesen wäre (wenn man nicht die ‘religiöse Sportart’ der Seelenwanderung voraussetzen will). 2. Was passiert, wenn dieser vermeintliche Normalfall nicht mehr greift, wenn man es mit etwas zu tun bekommt, das den Horizont des ‘Schon-Verstehens’ überschreitet – mit Neuem, Fremdem, Unfassbarem, sei es Glück oder Leid? Wenn es nur einen Fall gäbe, in dem die transzendentale Prämisse der alten Her­ meneutik (oder ihre ontologische Generalhypothese prästabilierter Harmonisier­ barkeit) nicht greift, ist deren Universalität hinfällig. Nun gibt es sogar mehrere solcher Fälle, wie die Fragen andeuten: ihre Genese (was kam ‘vor’ dem ‘Im-Ver­ stehen-Sein’ oder wie kam es dazu?) und jeden ‘Ausnahmefall’, der diese Regel nicht bestätigt, sondern fraglich werden lässt. Die singuläre Ausnahme ist Gott. Mit Augustin: „Si enim comprehendis, non est Deus“41. Die basale Ausnahme ist das malum, im Besonderen die Sünde. Die außerordentliche Ausnahme ist das Kreuz. Daher ist nur zu erwartbar, dass mittels der Trinitätslehre Gott und Kreuz normalisiert werden; und ebenso ist es kein Wunder, wenn mittels Theodizee oder ‘malum-Theorien’ die Sünde hermeneutisch aufgeklärt werden soll. Etwas als malum zu verstehen und das malum als etwas zu verstehen – geht davon aus, dass das Verstehen das Übel zu fassen und zu verstehen vermöchte, d.  h. capax mali sei – und darum letztlich stärker als das malum, das es hermeneutisch zu überwinden vermöge (zu beherrschen, zu klären und final zu heilen). Wenn man Verstehen soteriologisch überinterpretiert, liegt es nahe, das malum hermeneu­ tisch unterzuinterpretieren: als wäre das malum immer schon im hermeneutischen Als gefasst und verortet. Die Entstörung des hamartiologisch Unverständlichen wie des soteriologisch Neuen operiert mit einem starken hermeneutischen Ratio­ nalismus.

41 Aurelius Augustinus, Sermones, Opera omnia, Bd. 5 (= Patrologia Latina, Bd. 38), hrsg. von Paul Migne, Paris, 1841, S. 23–1484, hier: S. 663  f.

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Dabei ist es eine unerträgliche Erleichterung, von der Voraussetzung des eigent­lich Fraglichen auszugehen. Denn damit wird Verstehen vor allem als Ent­ störung oder Normalisierung einer Störung begriffen, Nichtverstehen also als malum hermeneuticum (Störung), und es wird das wiedererkennende Verstehen privilegiert, Verstehen also als Ins-schon-Verstehen-Integrieren verstanden. Ist Verstehen die Regel oder Selbstverständlichkeit, von der wir ausgehen können und müssen, oder die Ausnahme (deren wundersame Vermehrung uns ex post den Eindruck vermittelt, wir verstünden uns immer schon)? Kritische Hermeneutik geht von Letzterem aus: Verstehen muss erst gesucht werden  – wenn es denn nötig ist. Das Negative dieser Hermeneutik ist ihre Ausgangslage: Nichtverstehen (liminal, basal, final), ebenso die Negation des alten Universal­ anspruchs. Denn Verstehen ist oft weder nötig noch gegeben und möglicherweise gelegentlich auch unmöglich: Augustins „si enim comprehendis, non est Deus“ – „Wenn Du verstehst, ist es nicht Gott“, oder nachchristlich übersetzt: „Wenn Du verstehst, ist Gott nicht (nötig)“ – findet ihre profane Analogie in sinnlosem Leid und sinnwidrigem Bösen. Wenn Du es verstehst, ist es nicht mehr böse oder nicht das Böse. Verstehen ist nicht der Ozean, in dem einige Inseln, Klippen oder ‘weiße Flecken’ des Nichtverstehens auftauchen, sondern umgekehrt: Das Verstehen ist eine Insel oder vielleicht ein Archipel, der von einem weiten Meer des Nichtver­ stehens umgeben ist. Und – das ist mitnichten schlimm oder gefährlich. Aber es ist eine grundsätzlich andere Hintergrundmetapher für die Frage nach dem Ver­ stehen und das Verstehen des Verstehens. – Vor dem Verstehen provoziert das Nichtverstehen als primum movens. – Unter dem Verstehen rumort stets ein Nicht-ganz- oder Nicht-so-recht-Ver­ stehen. – Zwischen dem Verstehen operieren Medien und Techniken. – Neben dem Verstehen leben wir im Nicht-verstehen-Müssen. – Statt des Verstehens gibt es Operationen, Funktionieren, Prozesse. – Nach dem Verstehen bleibt hoffentlich einiges zu wünschen übrig: Kritik, Antworten, Deuten, Weiterführen. Es mag so sein, dass man sich für gewöhnlich versteht auf die Welt, in der man lebt. Man kommt zurecht und kann sich einigermaßen orientieren, auch wenn man im Einzelnen manches nicht versteht. Das ist in der Regel kein Problem – aber gelegentlich wird es zum Problem: dass man etwas nicht versteht. Und das kann Folgen haben, bis zu dem Punkt, dass man ‘die Welt nicht mehr versteht’ oder sich der Verdacht regt, unterhalb unseres Verstehens gähne der Abgrund des eigentlich gar nichts Verstehens. Ist ‘zu verstehen’ nur eine Gewohnheit, die uns lieb geworden ist? Und wenn wir dabei gestört werden? Was dann? An

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solch einer Störung kann das gewohnte Verstehen Schiffbruch erleiden. Dabei ist zu unterscheiden zwischen ‘uninteressantem und interessantem, irrelevan­ tem und relevantem Nichtverstehen’. Denn nur manches Nichtverstehen irritiert nachhaltig, anderes kommt kaum zu Bewusstsein oder wird schnell wieder vergessen. Die Reaktionen auf Nichtverstehen können entsprechend verschieden sein: nur eine vorübergehende Irritation, ein Sich-Wundern, Interesse  – oder aber Angst und Schrecken, gar das Ende meiner gewohnten Welt? Und dann? Was kommt nach dieser ersten Reaktion? Flucht oder Angriff? Der Versuch, einen Ausweg aus dieser Not zu finden? Oder aus dieser Not eine Tugend zu machen? Meistens wird der Schiffbrüchige sich zu retten versuchen, entweder indem er sich an die Reste seines Verstehens klammert oder indem er weiter schwimmt, zu Hilfe ruft oder aus dem, was das Meer ihm zuspielt, ein neues Boot bastelt. Jedenfalls wird er versuchen, über Wasser zu bleiben. Anders gefragt: Wie geht ‘man’ mit ‘dem’ merklichen und relevanten Nichtverstehen um? Flüchtet (oder rettet) man sich wieder ins Verstehen? Oder versucht man dem Nichtverstehen standzuhalten?

7.2 Ex negativo: Nichtverstehen verstehen? Von den drei großen Fragen Derridas an Gadamer (neben der nach dem Willens­ primat in der Hermeneutik und nach deren Verhältnis zur Psychoanalyse) erscheint mir vor allem eine gravierend und persistent, nämlich die dritte: Ob man nun von der Verständigung oder vom Mißverständnis (Schleiermacher) ausgeht, immer muß man sich doch fragen, ob die Bedingung des Verstehens, weit entfernt davon, ein sich kontinuierlich entfaltender Bezug zu sein […], nicht doch eher der Bruch des Bezuges ist, der Bruch als Bezug gewissermaßen, eine Aufhebung aller Vermittlung?42

Seltsam ist zunächst, dass Derrida als mögliche Voraussetzungen nur die Alter­ native Verständigung oder Missverständnis zu kennen scheint. Ist doch damit bereits ein – bei Schleiermacher manifestes – platonisches Dispositiv in Geltung. Da Missverstehen nur ‘am Verstehen’ auftrete, wird wie eine immer schon mit­

42 Jacques Derrida/Hans-Georg Gadamer, Der ununterbrochene Dialog, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Martin Gessmann, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004, S. 53  f. Vgl. dazu auch Dieter Mersch, Posthermeneutik, Berlin: Akademie Verlag, 2010, S. 178–182.

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gegebene ‘Anamnesis’ auch ein mitgesetztes Verstehen als Hintergrund und Mög­ lichkeitsbedingung des Missverstehens unterstellt.43 Nimmt man Derridas Einwand so ernst wie möglich, wäre der liminale Bruch ein Hinweis auf eine dritte Option diesseits von ‘Verstehen oder Missverstehen’: vom Nichtverstehen aus44 die Arbeit des Verstehens als Antwort darauf zu kon­ zipieren. Der ‘Bruch’, die ‘Diastase’ (mit Waldenfels) oder der ‘Riss’ (Hörisch, anders Mersch) ist eine Metapher oder Metonymie für eine ‘Unterbrechung’ der immer schon gängigen Synthesis von Sinnlichkeit und Sinn (gegenüber Cassi­ rer45), für eine radikale Differenz (nicht nur eine relative, auch nicht eine opak absolute) – oder schlichter gesagt: für ein Problem, dem nicht mit bestimmender Urteilskraft oder nur wiedererkennendem Verstehen beizukommen ist. Denn: Geht man vom ‘Immer-schon-Verstehen’ aus, wäre jedes Problem nur als vorüber­ gehend denkbar oder jedes Nichtverstehen nur als zu überwindend etc. Diesen liminalen Bruch, Riss oder Schnitt46 kann die alte Hermeneutik nicht denken, nicht fassen oder nicht tolerieren. Daher wird er als unmöglich oder als ‘Verfal­ lenheit’ diskriminiert, als malum hermeneuticum exludiert oder bestenfalls als zu heilender Riss gesehen. Wollte Ricœurs Hermeneutik ‘auf Hegel verzichten’ (was wohl nicht immer gelang), so ist Derridas Wendung nicht weniger ambivalent. Die ‘Aufhebung aller Vermittlung’ spricht zutiefst ‘hegelianisch’, deutet aber eine mitnichten aufhe­ bungslogisch zu verstehende Brechung an. Damit kann nicht nur eine Negation

43 Vgl. Stoellger, „Missverständnisse und die Grenzen des Verstehens“, S. 223–263. 44 Vgl. Philipp Stoellger, „Vom Nichtverstehen aus. Abgründe und Anfangsgründe einer Herme­ neutik der Religion“, in: Ingolf U. Dalferth/Philipp Stoellger (Hrsg.), Hermeneutik der Religion (= Religion in Philosophy and Theology, Bd. 27), Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, S. 59–89; ders., „Wo Verstehen zum Problem wird. Einleitende Überlegungen zu Fremdverstehen und Nichtver­ stehen in Kunst, Gestaltung und Religion“, in: Juerg Albrecht et al. (Hrsg.), Kultur Nicht Verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung, Wien/New York: Springer, 2004, S. 7–27; ders., „Was sich nicht von selbst versteht. Ausblick auf eine Kunst des Nichtverstehens in theo­ logischer Perspektive“, in: ebd., S. 169–192. 45 Vgl. Philipp Stoellger, „Die Metapher als Modell symbolischer Prägnanz. Zur Bearbeitung eines Problems von Ernst Cassirers Prägnanzthese“, in: Dietrich Korsch/Enno Rudolph (Hrsg.), Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie (= Religion und Aufklärung, Bd. 7), Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, S. 100–138; ders., „Leben in Form der Freiheit. Cas­ sirers Philosophie des Lebens in symbolischen Formen“, in: Stephan Schaede/Gerald Hartung/ Tom Kleffmann (Hrsg.), Das Leben (= Religion und Aufklärung, Bd. 22), Tübingen: Mohr Siebeck, 2012, S. 407–440. 46 Vgl. Philipp Stoellger, „Im Anfang war der Riss … An den Bruchlinien des Ikonotops“, in: Ka­ tharina Alsen/Nina Heinsohn (Hrsg.), Bruch – Schnitt – Riss. Deutungspotenziale von Trennungsmetaphorik in den Wissenschaften und Künsten, Münster u.  a.: LIT, 2014, S. 185–224.

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gemeint sein, die kraft der Logik einer Negation der Negation aufzuheben wäre. Noch die ‘Verbindung von Verbindung und Nichtverbindung’ geht von einem Bruch oder einer Negativität aus, die sich (in) der Aufhebungsprätention wider­ setzt. Das könnte hegelianisch formuliert die ‘ausgebrannte Endlichkeit’ sein, die auf der Strecke der Aufhebung (hier: des Verstehens) bliebe: die dunkle ‘Schlacke’ der Weltgeschichte, die ‘zu Recht’ zurückbleibt. Nur  – so gesehen und gesagt, wäre es der pure Nonsens, dieses ‘Ausgebrannte’ zum terminus a quo der Arbeit des Verstehens zu ernennen. Nochmals ‘nur’ so zu sagen und zu sehen, ist nichts anderes als einem Hegel’schen Dispositiv geschuldet, das hier nicht anders und nichts anderes sehen und sagen lässt. Nichtverstehen zu verstehen, bleibt eine unabgegoltene Aufgabe, die aller­ dings zweideutbar ist. Sie kann so angegangen werden, dass auch noch das letzte Nichtverstehen ‘erobert’ wird, um das Verstehen universal durchzuführen. Das hieße, die Hermeneutik misst sich an ihrem Maximalproblem  – exemplarisch Gott oder Tod, Sünde oder Glaube – und prätendiert, auch diese Abgründe noch zu erschließen und zu erleuchten. Diese Aufgabe kann allerdings auch kritisch gewendet werden, um die Grenzen des Verstehens zu klären und das initiale, basale und finale Nichtverstehen zu markieren, ohne es auch noch in das Ver­ stehen zu inkludieren. Nichtverstehen ist die Bedingung der Möglichkeit von Verstehen. Verstehen ist solch eine Praxis, in der verstanden werden soll, was nicht schon verstanden ist. Daher geht jedem Verstehen ein Nichtverstehen voraus (initial, liminal). Somit ist jedes Verstehen durch dasselbe bedingt (mitgesetzt, basal). Und dieses initiale wie basale Nichtverstehen ist auch als finales nicht zu eliminieren, sofern die Aufhebung bzw. Tilgung dieses radikal Anderen des Verstehens nicht absehbar wäre. Nichtverstehen als Bedingung des Verstehens ist insofern transzenden­ tal zu nennen, als es eine Bedingung der Möglichkeit des Verstehens bildet  – allerdings nicht die einzige und daher nicht die hinreichende Bedingung darstellt. Eben deshalb ist Verstehen, dem grammatischen Anschein zuwider, nicht das Gegenteil von Nichtverstehen. Es ist das (relativ oder wie hier vertreten: radikal) Andere des Verstehens, das nicht Schon-Verstehen voraussetzt, sondern das ‘Vor’ dem Verstehen als das versteht, wo (noch) nicht Verstehen herrscht. Dieses Andere des Verstehens wirft das Problem auf, einen unendlichen Raum zu bezeichnen: alles, was (noch) nicht verstanden ist – und eine unendliche Menge von Aktivitäten und Passivitäten zu bezeichnen, die nicht Verstehen zu nennen sind. Diese Missverständlichkeit zugestanden, hilft der Ausdruck ‘Nichtverstehen’, die Bedingung und das Ziel der Hermeneutik schärfer zu fassen: Das Ziel des Verstehens kann nicht sein, das Nichtverstehen zu überwinden oder zu besei­

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tigen, sondern nur, es schärfer zu fassen. Denn die Bedingung des Verstehens kann nicht selber im Verstehen aufgehen, sonst wäre und bliebe sie nicht seine Bedingung.47 Radikaler als Schleiermacher hatte das Schlegel erkannt: Aber ist denn die Unverständlichkeit etwas so durchaus Verwerfliches und Schlechtes? – Mich dünkt das Heil der Familien und der Nationen beruhet auf ihr; wenn mich nicht alles trügt, Staaten und Systeme, die künstlichsten Werke der Menschen, oft so künstlich, daß man die Weisheit des Schöpfers nicht genug darin bewundern kann […]. Ja das Köstlichste was der Mensch hat, die innere Zufriedenheit selbst hängt, wie jeder leicht wissen kann, irgendwo zuletzt an einem solchen Punkte, der im Dunkeln gelassen werden muß, dafür aber auch das Ganze trägt und hält […]. Wahrlich, es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt, wie ihr es fodert [sic!], einmal im Ernst durchaus verständlich würde. Und ist

47 Vgl. in diesem Sinne auch: Robert Schurz, Negative Hermeneutik. Zur sozialen Anthropologie des Nicht-Verstehens, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1995; Betty Joseph, „Über Verstehen und Nicht-Verstehen. Einige technische Fragen“, in: Psyche 40 (1986), H. 11, S. 991–1006; Josef Simon, „Verstehen und Nichtverstehen oder Der lange Abschied vom Sein“, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 1 (2002), S. 1–19; Luca Crescenzi, „Die Leistung des Buchstabens. Ein ungeschrie­ benes Kapitel zur Unverständlichkeitsdebatte in der deutschen Frühromantik“, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 1 (2002), S. 81–133; Philipp Stoellger, „Die Prägnanz des Versehens. Zu Funktion und Bedeutung des Nichtintentionalen in der Religion“, in: Brigitte Boothe/Wolfgang Marx (Hrsg.), Panne – Irrtum – Mißgeschick. Die Psychopathologie des Alltagslebens in interdisziplinärer Perspektive, Bern u.  a.: Hans Huber Verlag, 2003, S. 187–215; Werner Kogge, Die Grenzen des Verstehens. Kultur – Differenz – Diskretion, Weilerswist: Velbrück, 2002; Albrecht Wellmer, „Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft“, in: Christoph Demmerling/Gottfried Gabriel/Thomas Rentsch (Hrsg.), Vernunft und Lebenspraxis. Philosophische Studien zu den Bedingungen einer rationalen Kultur. Für Friedrich Kambartel, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995, S. 123–156; Bernhard Waldenfels, „Jenseits von Sinn und Verstehen“, in: ders., Vielstimmigkeit der Rede, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1999, S. 67–87; Roger M. Buergel et al. (Hrsg.), Dinge, die wir nicht verstehen (Ausstel­ lung: Dinge, die wir nicht verstehen, 28. Januar bis 16. April 2000), Wien: Generali Foundation, 2000; Evelyn Chamrad, Der Mythos vom Verstehen. Ein Gang durch die Kunstgeschichte unter dem Aspekt des Verstehens und Nichtverstehens in der Bildinterpretation, unveröffentlichte Disserta­ tion, Heinrich-Heine-Universität­Düsseldorf, 2001; Franz Roh, Der verkannte Künstler. Studien zur Geschichte und Theorie des kulturellen Mißverstehens, Köln: DuMont, 1993; Eckhard Schuma­ cher, Die Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2000; Ekkehard Mann, „Das Verstehen des Unverständ­ lichen. Weshalb ‚experimentelle‘ Literatur manchmal Erfolg hat“, in: Henk de Berg et al. (Hrsg.), Systemtheorie und Hermeneutik, Tübingen/Basel: Francke, 1997, S. 263–287; Jürgen Fohrmann, „Über die (Un-)Verständlichkeit“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68 (1994), H. 2, S. 197–213; Gisela Dischner, Über die Unverständlichkeit. Aufsätze zur neuen Dichtung, Hildesheim: Gerstenberg Verlag, 1982; Alois Untner, Das Unverständnis gegenüber moderner Malerei (= Dissertationen der Universität Salzburg, Bd. 28), Wien: VWGO, 1990.

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sie selbst diese unendliche Welt nicht durch den Verstand aus der Unverständlichkeit oder dem Chaos gebildet?48

So gesehen könnte sich die Hermeneutik gründlich wandeln: Nicht-VerstehenKönnen, -Wollen, -Dürfen oder -Müssen sind Anzeigen für die liminalen, basalen und finalen Grenzen des Verstehens (deskriptiv, normativ, ästhetisch, religiös). Verstehen ist so gesehen Arbeit am Nichtverstehen, in der das Verstehen an der Arbeit ist. Was mit ‘Verstehen’ gemeint sein kann, ist von seiner Absenz her bestimmbar: Verstehen ist das, was fehlt, wenn man etwas nicht versteht. Dass einem dabei etwas fehlt, ist allerdings nur dann der Fall, wenn das Nichtverste­ hen ein Problem ist, wenn es nachhaltig stört und behoben werden soll. Nur  – wann ist Nichtverstehen überhaupt ein Mangel, der nach Verstehen fragen lässt? Bei einer Netzwerkanalyse von Big Data in Form von Kanten und Knoten ist das Nichtverstehen gerade erwünscht (kraft methodischer Exklu­ sion)  – und stört nicht, sondern umgekehrt: Verstehen würde stören. Oder gründlich anders: Wer beim sonntäglichen Gesang stets nach einem Verstehen des Gesungenen fragen würde – hätte ein Problem (erst recht beim Abendmahl). Oder nochmals anders: Wer sein Auto in die Werkstatt bringen muss, wüsste viel­ leicht gern, woran es liegt, dass es nicht richtig funktioniert. Der Mechatroniker hingegen kann es reparieren, ohne das Problem verstanden zu haben: er schließt das Diagnosegerät an, lässt sich vom Programm die ‘Therapie’ vorgeben und tauscht ein Teil oder mehrere aus. Dass in der Medizin die bildgebenden Dia­ gnoseapparate mittlerweile ähnlich funktionieren, bis dahin, dass sie Therapien und Medikamentierung empfehlen – entlastet den Arzt erheblich von Problemen des Verstehens. Diese verbleiben dann beim Patienten und lassen sich wohl nicht restlos entsorgen. Der Befund ist ambivalent: Einerseits kann es entlasten, nicht von den Kon­ tingenzen hermeneutischer Kompetenz eines Mechatronikers oder Mediziners abhängig zu sein (vgl. die Automatisierung der radiologischen Bildinterpreta­ tion). Andererseits ist die Übertragung an Apparate auch etwas unheimlich (auch unheimlich leistungsfähig?), von den ethischen und juristischen Problemen ganz abgesehen. Wenn es in den Digital Humanities ähnlich werden sollte, ist davon manches zu erwarten an Erkenntnisgewinn – nur eines sicher nicht: Verstehens­ gewinn. Wäre das ein Mangel? Oder fragt so nur ein Insasse des Jurassic Park der alteuropäischen Wissenschaftsgeschichte?

48 Friedrich Schlegel, Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe, Bd. 2, erste Abteilung, hrsg. von Hans Eichner, München/Paderborn/Wien: Schöningh, 1967, S. 370.

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Auf die Ambivalenz empfiehlt sich, ambivalenztolerant zu antworten: Wo es ohne Verstehen gut geht oder sogar besser, ist das kein Problem. Allerdings wird Nichtverstehen spätestens dort, wo es knirscht, bricht oder reißt, zum Problem – und Verstehen nötig, beim Auto wie beim Menschen oder Roboter. Daher braucht man bei aller Ambivalenztoleranz eine Unterscheidungsarbeit: wo verstehen nötig ist und bleibt – und wo nicht. Um so zu unterscheiden, ist ein rudimentä­ res Verstehen nötig, aber weder ein Einverständnis noch ein Immer-schon-Ver­ stehen. Es wäre ein eigenes Forschungsprojekt zu klären, wo Verstehen unnötig ist, warum und mit welchen Konsequenzen, d.  h. wo Nichtverstehen kein Problem ist. Bei dieser Frage lässt einen in dieser Hinsicht die alte Hermeneutik ebenso im Stich wie der Generalverdacht der Hermeneutik gegenüber. Von diesem Unter­ scheidungsbedarf sehen sich beide entlastet – leichtfertigerweise. Allerdings erzeugen die erfolgreichen Strategien der Entsorgung oder Ent­ lastung vom Verstehen (Big Data, Netzwerkanalyse, Digital Humanities?) eine Wiederkehr des Verdrängten. Einerseits kommen auch Daten nicht ohne Interpre­ tation, mediale Praktiken nicht ohne Verstehen oder digitale Prozesse nicht ohne Explikation aus, wenn sie Sinn, Bedeutung oder Geltung prätendieren. Anderer­ seits sind diese Umbesetzungen als solche noch eigens genauer zu beschreiben und zu verstehen, wenn man ihnen nicht blind folgen will. In vivo der Praktiken wie in vitro ihrer (oft ausbleibenden) Reflexion ist die Interpretativität, die Adres­ sierung von Verstehen und der Bedarf hermeneutischer Theorie näher besehen unabweisbar.

7.3 Relativität des Verstehens Der Mangel an Verstehen provoziert Praktiken, die zum Verstehen führen sollen, wobei diese Praktiken ebenso unterschiedlich sein können wie das Problem, das zu bearbeiten ist, und die Kontexte oder Funktionen des gesuchten Verstehens. Verstehen zu suchen und herzustellen sind Praktiken, die sich methodisieren lassen: Interpretationsmethoden sind dafür maßgebend. Um auf nachvollzieh­ bare Weise zu verstehen, werden Methoden entwickelt wie historisch-kritische, literaturwissenschaftliche, semiotische oder auch marxistische, feministische, psychoanalytische etc. Hier gibt es keinen ‘Kanon im Kanon’ und auch keinen generell gültigen Methodenkanon – aber durchaus anerkannte Methoden, je nach Disziplin und Kontext. Bei allen methodischen Praktiken spielt liminal stets auch Rezeptivität und Passivität mit (methodisierbar?), eine ‘challenge’, auf die das Verstehen ‘response’ sucht. Ist Verstehen, wenn es denn ‘gelingt’, dann ein Praxisresultat – oder auch Ereignis? Das Machbare am Verstehen ist Praxis und methodisierbar. Sofern es

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etwas Nicht-Machbares, ‘Unverfügbares’ daran gibt, ist das Ereignis ggf. Wider­ fahrung oder sogar Offenbarung. Es gibt daher Grenzen der Machbarkeit des Ver­ stehens. Nur sind die kein zureichender Grund, Verstehen statt Methode zu ver­ treten. Verstehen ist ein Relationsprädikat: der Relationen des zu Verstehenden in sich und zu anderem, zum Verstehenden und zu anderen relevanten ‘Größen’, im Grenzwert zur Welt, im singulären Ausnahmefall zu Gott. Als Relationsprädikat verstanden ist Verstehen Sinn (sei es Sinnerzeugung, -entdeckung, -erfindung, -konstruktion etc.). Dabei meint Sinn schlicht Zusammenhang, und zwar intel­ ligiblen Zusammenhang von x und y (und ggf. weiteren Größen). Verstehen als Entdeckung oder Erfindung (etc.) eines Zusammenhangs lässt diesen Bezug als sinnvoll erscheinen. Nur ist erstaunlich variant, was als intelligibler Zusammenhang akzeptiert wird. Manche akzeptieren den Zusammenhang von Geburtsdatum, Sternenkon­ stellation und ‘Charakter’ als sinnvoll, wobei aus dieser Konstruktion dann sogar Prognosen für kommende Ereignisse gewagt werden. Andere akzeptieren nur alle beobachtbaren kausalen Relationen als intelligible Zusammenhänge. Während die Ersten sich jeder Nachweispflicht entziehen, glauben die Zweiten, jeder Nachweispflicht enthoben zu sein. Sogar die Zweiten verkennen, dass etwas als kausalen Zusammenhang zu sehen bereits eine interpretative Wahrnehmung ist. Kausalität wird unterstellt, nicht als solche ‘gesehen’. Die entsprechenden Fehl­ schlüsse sind regelmäßig erkennbar, wenn aus Korrelationen Kausalzusammen­ hänge erdichtet werden. Im globalen Vergleich hat Kuba eine signifikant unter­ durchschnittliche Lungenkrebsrate, obwohl der Tabakkonsum dort vermutlich sehr hoch ist. Diese Korrelation wäre sinnvoll interpretiert, wenn man folgern würde, dass kubanische Zigarren gesund seien – und folglich zur Lungenkrebs­ prävention auf Rezept erhältlich sein sollten. Statistisch ist diese Korrelation ver­ mutlich signifikanter als die Wirksamkeit von Globuli. Allerdings würde die kuba­ nische Korrelation wohl nur von wenigen als Kausalität akzeptiert werden. Wer das Verstehen wesentlich oder ‘eigentlich’ als Selbstbeziehung begreift, also als Selbstverständnis, der privilegiert das Verhältnis des Verstehenden zum Verstehenden. Wer Verstehen vor allem als Fremdbezug begreift, privilegiert das Verhältnis des Verstehenden zu anderen (Verstehenden). Wer das Verstehen vor allem als Sachbezug begreift, privilegiert das Verhältnis zum ‘Objekt’. Wer das Verstehen vor allem als Geschichtsbezug begreift, privilegiert das Verhältnis zur Geschichte. Entsprechendes gilt für den Gottesbezug oder den Bezug zum ‘Guten’, ‘Wahren’ oder ‘Schönen’ etc. Das Problem ist offenbar, dass ‘Sinn’ als Zusammenhang von x und y völlig unterschiedlich codiert werden kann. Die Lösung, alle Beziehungen komplexiv aufeinander zu beziehen, wird überkomplex. Die Lösung, eine Beziehung exklu­

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siv zu privilegieren, ist kontextspezifisch sicher oft plausibel und kann zu belast­ baren Ergebnissen führen (etwa dieses Gedicht hier und heute zu interpretieren), aber es ist eine so labile Lösung, die nicht standhält, wenn die Kontexte sich ver­ ändern. Der Grundgedanke der ‘Methodisierung’ zielte darauf, Erkenntnisse vom Erkennenden, seiner Zeit und seinem Kontext unabhängig zu machen, um über lange Zeiten hinweg gesicherte Resultate zu erzielen (wie bei astronomischen Beobachtungen). Dieser methodisch intendierten Dekontextualisierung wider­ strebt solch ein Verstehen von Verstehen darin, dass es strikt person- und situa­ tionsrelativ begreift. Aber noch diese Bindung des Verstehens an Person und Situation ist selber eine methodische Wendung, die als solche verständlich ist. Das muss nicht zur A- oder Antimethodik führen, sondern zur Methodenergän­ zung oder -kritik. Heißt Verstehen vor allem Beziehungen klären, Bezug nehmen, Zusammen­ hänge sehen bzw. herstellen (entdecken/erfinden) oder Sinn finden bzw. machen, ist daher die latente Kehrseite nicht zu vergessen: Differenzen markieren, Unter­ schiede machen, Nicht-Zusammenhängendes sehen und abgrenzen (negatio). Und ebenso nicht zu vergessen ist die mitlaufende Unterscheidung von Ver­ stehen und Nichtverstehen. Wer im Verstehen das Nichtverstehen und Nichtver­ standene und -verständliche verkennt, versteht nicht die Grenzen des Verstehens und Zuverstehenden. Das wird dringlich spätestens angesichts der Folgefrage: Was kommt nach dem Verstehen? Verstehen ist meist nicht Ziel und Selbstzweck, sondern Zwischenstand (eine Zwischenbestimmung).

7.4 Ex post: Wann hat man verstanden? Was muss geschehen sein, wenn jemand sagt: „Jetzt habe ich verstanden“? Zwar ist mitnichten sicher, dass solch eine Konfession infallibel wäre. Aber was muss passiert, gemacht oder geleistet worden sein, damit man meint, verstanden zu haben? Oder genauer wäre zu fragen: Wann glaubt man, zu verstehen? Verstehen heißt zunächst: Jemand versteht etwas als etwas ggf. durch etwas anderes (Begriff/Metapher, Narration, Medien) in Bezug auf bzw. für etwas. Nur – wann stellt sich das ‘Gefühl’ ein, verstanden zu haben? Wann hat beispielsweise ein Prüfer den Eindruck, der Prüfling habe verstanden, worum es geht? Bei einem Witz ist die Sache einfach: Wer mitlacht, hat ihn verstanden. Wobei nicht gesagt ist, dass der Nicht-Lachende ihn nicht verstanden hat. Es gibt in der Antwort oder Reaktion klare Anzeichen des Verstandenhabens. Auf dem anderen Ende einer imaginären Skala läge das völlige Nichtverstehen, etwa gegenüber sinnloser Gewalt. Das vermeintliche Rätsel der ‘Theodizee’ ist in seiner bleiben­

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den Aporetik eine Konstellation bleibenden Nichtverstehens (das bekanntlich unendlich viele Verstehensversuche provoziert hat). Zwischen diesen Grenzwer­ ten scheint der Normalfall oder das ‘übliche Verstehen’ relativ zu sein, mehr oder minder (womit das basal stets mitgesetzte Nichtverstehen bemerkbar wird). Wann also sagt man, man habe ‘halbwegs’ verstanden, besser als zuvor, wenn auch nicht vollständig, aber immerhin …? Klar ist, dass für solch einen Eindruck elementare Voraussetzungen zu machen sind: Für das Textverstehen gilt, dass erstens Sehen und zweitens Lesen vorausge­ setzt sind, wenn es drittens zum Verstehen kommen soll. Die Dreifaltigkeit eines jeden Textes tripliziert ihn in gesehenen, gelesenen und verstandenen Text. Dabei sind zwei wundersame Wandlungen zu leisten: vom gesehenen zum gelesenen49 und vom gelesenen zum verstandenen Text. Eine dritte Wandlung wäre die vom verstandenen zum kritisierten, weitergeschriebenen, beantworteten Text – oder was sonst immer möglich und sinnvoll wäre. Für das Bildverstehen gilt eine analoge Dreifaltigkeit: Es sind erstens das gese­ hene, zweitens das beschriebene und drittens das verstandene Bild zu unterschei­ den. Ob die zweite Wandlung in das verstandene Bild je gelingt, ist zumindest bei solchen Bildern fraglich, die auf anspruchsvolle Weise sich dem Verstehen ent­ ziehen oder mit diesem Entzug des Verstehens ästhetisch operieren. Auch für das Bildverstehen gilt: kein Verstehen ohne voriges Sehen. Das Beschreiben (anders als beim Text das Lesen) kann hier auch ausfallen. Werbebilder sollen bekannt­ lich ohne großen Aufwand verstanden werden. Für komplexere Bilder hingegen ist die Beschreibung (namens Ekphrasis) eine dem Lesen analoge Differenzie­ rungsleistung. Für das von Text wie Bild zu unterscheidende Problemverstehen (etwa in der Situation von Evidenzmangel und Handlungszwang50) ist analog unterscheidbar das Wahrnehmen und Beschreiben bzw. Analysieren des Problems, das seinem Verstehen vorausgegangen sein muss, wenn es denn verstanden sein sollte. Bei Problemen sieht man zudem, dass mit dem Verstehen noch keine ‘Lösung’ gegeben ist. Es muss über das Verstehen hinaus gegangen werden, wenn denn mehr als Problemverstehen gesucht wird. Die Anzeige eines Nach oder Jenseits des Verstehens ist im Rückschluss auch für das Text- und Bildverstehen relevant.

49 Dabei ist klar, dass sich der gelesene vom nochmals und nochmals und nochmals gelesenen Text deutlich unterscheidet. Die Faltungen einer Falte sind potentiell infinit. 50 Vgl. Hans Blumenberg, „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“, in: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart: Reclam, 1981, S. 104– 136.

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Genau zu lesen wie genau zu beschreiben ist schon ein erheblicher Schritt. Die folgende zweite wundersame Wandlung ist indes besonders dunkel: Was meint der Übergang vom gelesenen zum verstandenen Text (bzw. vom beschriebenen zum verstandenen Bild)? Zunächst heißt das schlicht Bedeutungserzeugung oder -zuschreibung: Einem gelesenen Wort wird ‘Sinn und Bedeutung’ zugeschrieben nach konventionellen Regeln. Aus den dadurch etwas bedeutenden Worten wird im Satz ein Zusammenhang, aus den Sätzen und Absätzen ebenso und so weiter. Eine analoge Semantisierung findet bei Bildern statt, auch wenn die Zusammen­ hänge hier über die Methoden der Ikonografie und Ikonologie vor allem in der Ikonik deutlich deutungsfähiger werden. Ikonische ‘Zeichen’ sind semantisch weniger distinkt und in ihrer Dichte plastischer oder liquider im Blick auf interne und externe Bezugnahmen. Die Bedeutungserzeugung nach ‘zünftigen’ Regeln ist konventionelles Verstehen zu nennen, das in sich auseinandertritt und unterscheidbar ist in wiedererkennendes und erkennendes Verstehen. Als konventionelles Verstehen folgt es gegebenen Formen und Regeln, denen entsprechend das zu Verstehende in einen Zusammenhang integriert und normalisiert wird. Dabei ist die nicht unerhebliche Aufgabe, angesichts des bisher Bekannten etwas zu erkennen, das nicht schon bekannt war, also nicht bereits wiedererkannt werden konnte, sondern erst erkannt werden musste. Was kann oder muss man tun, um erst noch zu Erkennendes zu verstehen? Das muss in eigener Verantwor­ tung konstruiert werden (nicht nur nachkonstruiert), sondern vorgreifend, hypo­ thetisch ‘a fond perdu’ entworfen. Hier wird das Verstehen ‘gewagt’ und gelegent­ lich sogar gefährlich. Denn der Übergang vom Wiedererkennen zum Erkennen ist eine nicht risikolose Praxis. Vor allem das bisher nicht Bekannte kann dabei auf eine Weise normalisiert werden, bei der Singuläres verkürzt und so inkludiert wird, dass seine Eigenarten verkannt werden. Der Effekt des wiedererkennenden wie auch des erkennenden Verstehens ist für den Verstehenden eine gewisse Befriedigung und Beruhigung. Kraft des Bekannten wird etwas wiedererkannt oder ein bisher Unbekanntes erkannt – wie­ dererkannt und damit zum Bekannten. Es ist vermutlich der Normalfall, dass man mit einem Wiedererkennen ‘angenehm’ beruhigt wird (Reduktion auf Tradition, Vorurteil, Konvention etc.) und gar nicht weiter fragt, was dabei auf der Strecke des Verstehens blieb. Dagegen geht der Weg des Verstehens ins Offene und der Singular ‘Verste­ hen’ wird fraglich, wenn denn unkonventionelles Verstehen einer anderen Regel oder Orientierung folgt, bis dahin, dass fraglich wird, ob es überhaupt Regeln folgt oder sie nicht vielmehr erfindet. Gegenüber dem instinktiven Verstehen, das nach Regeln sucht, um das zu Verstehende zu ‘regeln’, bedarf es eines geübten Sinns für Differenz, Eigenart, Singuläres oder Fremdes, um das nicht im Wieder­

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erkennen Aufgehende zu bemerken – und auch für interessant oder relevant zu halten, statt für eigenartig oder bloß befremdlich. Denn das Nicht-Wiederzuerken­ nende ist zunächst das Nichtverständliche. Wenn über das konventionelle Ver­ stehen hinaus nach einem unkonventionellen Verstehen eines nicht Wiederzuer­ kennenden gefragt wird, oder mehr noch nach dem eines nicht zu Erkennenden, bleibend Unverständlichen, ist prekär, ob, wie und wozu das auszuhalten wäre. Hier bedarf es einer hermeneutischen Differenzialanalyse: einer Näherung vom Bekannten her, der Präzisierung des Unbekannten, der Klärung des NichtWiedererkennens und einer Epoché des Bekannten sowie der ‘Unbestimmtheits­ toleranz’, die es erträgt, das Fremde nicht zu normalisieren oder einzuordnen, sondern als Außerordentliches zu bemerken. Zwischen der üblichen Alternative von Inklusion in Bekanntes oder Exklusion als Unbekanntes und Unverständli­ ches ist empfehlenswert, nach hartnäckigen Differenzen zu fragen und womöglich Übergänge, Zwischenglieder und (lose gekoppelte) Anschlüsse zu erfinden, ohne dabei das Außerordentliche einzuordnen. Um den Zusammenhang komplexer Texte und ihren Bezug auf ihre ‘Textwelt’ (und deren Bezug zum Rest der Welt) zu erschließen, bedarf es auch eines abduk­ tiven Verstehens: einer Hypothesenbildung über Idiolekt (Umberto Eco) und Kon- wie Kotextbezug. Solch abduktives Verstehen kann man auch investigativ, inventiv, imaginativ, innovativ oder (mit Cusanus) konjektural nennen. Es über­ schreitet jedenfalls die Konventionen des wiedererkennenden und erkennenden Verstehens im Übergang zu etwas nicht Wiederzuerkennendem, sondern erst zu Entwerfendem, Vermutendem etc. Dabei kann es je nach ‘Gegenstand’ oder Problemstellung auch entscheidend sein, die Grenzen des Verstehens zu bemerken und anzuerkennen. Womöglich zielt das thematische Phänomen gar nicht oder nicht im Letzten auf Verstehen. Gegenwartskunst, Cy Twombly zum Beispiel, evoziert und adressiert alles mög­ liche, vielleicht auch das Verstehen; aber: dass es in ästhetischen Praktiken vor allem um Sinnerzeugung und Verstehen ginge, ist unselbstverständlich. Analoges könnte für religiöse Praktiken gelten, zumal für Gott und Gnade, die nicht eigent­ lich Verstehen adressieren, sondern Versöhnung und Vergebung. Eine mehr oder minder bestimmte Negation des Verstehens (seine Selbstbeschränkung) wäre besser nicht ‘beschränktes’, sondern kritisch negiertes Verstehen zu nennen: ein verstehendes Nichtverstehen oder ein nichtverstehendes Verstehen. Kurz gefasst, ist es empfehlenswert, Folgendes zu unterscheiden, denn, um mit Hölderlin zu reden: „Ein anderes freilich ist’s, Unterschiedenes ist gut“: 1. Konventionelles Verstehen: 1.1 Wiedererkennendes Verstehen als Normalfall mit Einordnung, Normalisie­ rung, Entstörung (deduktiv, subsumierend) 1.2 Erkennendes Verstehen als Erweiterung des Bekannten (induktiv, entdeckend)

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2. Unkonventionelles Verstehen: 2.1 Nicht wiedererkennendes Verstehen als Sinn für Singuläres (singularisierend, differenzierend) 2.2 Erfindendes Verstehen (abduktiv) als Erweiterung des Horizonts und Sinn für Neues 2.3 Nichtverstehendes Verstehen als Sinn für Außerordentliches bzw. Fremdes. Um über das nur konventionelle Verstehen hinauszukommen, bedarf es einer gedanklichen Beweglichkeit (hermeneutischer Dehnungsübungen und einem Ausdauertraining): Denn wenn man mit der ersten Sinnhypothese scheitert, muss man sich etwas anderes, Besseres einfallen lassen. Hier kommt etwas Bemerkens­ wertes ins Spiel des Verstehens: inventive Potenz (Findigkeit) und auch Imaginationslust, Lust am Erfinden anderer Sinnhypothesen und daran, sie am gelesenen Text auszuprobieren (hermeneutische Experimente bzw. hermeneutische Unfall­ forschung). Das Verstehen kommt nicht zur Ruhe und zum Abschluss, solange es keine sinnstiftende Hypothese gefunden hat. Ausnahmsweise können genau diese Unruhe und eine erhellende Beunruhigung die performative Pointe eines Textes sein. Fraglich ist, ob solch eine Horizontüberschreitung erzeugt oder erzwungen werden kann. In gewissem Maße wohl schon: Wer immer ausweicht und sich in seiner Beruhigung begnügt, der muss zu etwas angehalten, angeleitet und zur Not auch produktiv genötigt werden, auf andere Gedanken zu kommen. Besser ist natürlich, wenn solch mehr oder minder sanfte hermeneutische Gewalt nicht nötig ist: also, wenn aus Lust und Leidenschaft das Bekannte überschritten wird. Und dergleichen kann durchaus begünstigt und ermöglicht werden, mit entspre­ chenden Gelegenheiten zur Lustlektüre.51 Aber – das kann auch leicht in Bedürfnisbefriedigungsveranstaltungen führen. Denn Lust erzeugt vor allem die Bedürfnisbefriedigung. Ein darüber hinausgehen­ des Begehren zu wecken, das immer unstillbar bleiben wird, das wird wohl nur gelingen, wenn der Unterschied von Bedürfnis und Begehren entdeckt werden wird. Bedürfnisbefriedigung ist eine höchst menschliche Angelegenheit, wie alle Bedürfnisse. Begehren allerdings ist mehr, will mehr, erwartet mehr. Es ist unend­ lich und unstillbar – und damit der Grund von Kultur, etwa davon, Undenkbares zu denken, Unmögliches möglich zu machen oder Unerhörtes zu sagen.

51 Vgl. Philipp Stoellger, „Das Spiel der Hermeneutik und der Kampf“, in: TheoLogica 1 (1999), S. 3–12.

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7.5 Plus ultra: Nach dem Verstehen? ‘Nach’ dem Verstehen oder als dessen ‘letzter Teil’ wird in der Regel die applicatio aufgerufen. Das ist für konventionelles Verstehen sicher üblich und oft auch tref­ fend, wenngleich das Muster einer Applikation so wirkt, als befände man sich an einem dritten Ort, von dem her das Eine auf Anderes angewendet werden könnte. Aber sollte das alles sein, was vom Verstehen zu wünschen übrigbleibt, dass es sich vollendet oder überschreitet in Anwendungen (des zuvor dann Unangewendeten)? Es lohnt jedenfalls, erst einmal von Neuem zu fragen, was womöglich nach dem Verstehen kommt oder kommen kann, darf, soll oder muss. Die Frage zeigt eine weitere Grenze des Verstehens an. Würde ‘Verstehen’ als Ziel aller Wege der Kultur begriffen oder als Gipfel der Menschwerdung, wäre vergessen gemacht, dass Verstehen meist nur eine Zwischenstation ist, über die hinaus wir noch anderes hoffen dürfen: Kritik, Antwort, Übertragung, Umschreibung, Weiterfüh­ rung etc. – und nicht nur applicatio. Es gibt hoffentlich auch ein Leben jenseits des Verstehens. Wenn beispielsweise ein Examenskandidat exakt wiederholte, was er gelesen hat, wenn er im Grenzfall ein perfekter Papagei wäre, der die ganze Seminarbiblio­ thek aufsagen kann (für manche vielleicht der Traum vom Glück) – könnte oder sollte sich zumindest beim Prüfer doch ein Unbehagen regen: Kritisieren, über­ tragen, argumentieren, selbständig antworten, weiterentwickeln – all das setzt Verstehen voraus, wie es zugleich darüber hinaus geht. Verstehen ist dann aber nicht das Ziel aller Bildungswege, sondern lediglich eine, wenn auch gewichtige, Zwischenstation, die man passieren muss, um weiterzukommen. Das heißt im Übrigen auch: Verstehen ist nicht das höchste Gut des Menschen (oder Gottes), nicht das Ende, sondern nur eine notwendige Bedingung dafür, etwas Weiterführendes zu verstehen zu geben, also produktiv auf den Anspruch des Verstandenen zu antworten. Gleiches dürfte auch für die theologisch beliebte Deutung des Glaubens als Verstehen gelten oder als neues Selbstverständnis: Auch hier ist Verstehen nur ein Vorletztes, Vorvorletztes, nicht aber das Ziel aller Wege Gottes. Die eigene Einsicht bzw. selbst zu verantwortendes Verstehen ist Selberverstehen, eigene Produktion, die daher auch selbst zu verantworten ist. Davon ent­ lastet einen keine Methode, kein Text, auf den man zeigen könnte. Aber wenn man nach dem Vorherigen irgendwann dazu kommt, zu sagen: „Ich habe verstanden“, dann ist es mit der Arbeit am Verstehen noch längst nicht zu Ende. Denn Ver­ stehen ist keine Bewegung von Konsens aus auf Konsens hin, sonst wäre das Ende des Verstehens auch sein Ende (sein Verenden). Arbeit am Verstehen wird irgend­ wann über das Verstehen hinausgehen müssen. Wer versteht, versteht selber und daher immer etwas anders. Und wer verstanden hat, wird darüber hinausgehen.

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Hier gabelt sich der Ausgang: entweder in die sogenannte Anwendung oder ins Antworten. Der Bauleiter hat die Zeichnung verstanden und führt den Bau plan­ gemäß aus. Das ist Anwendung. Aber ein Leser – sollte der dem Text gemäß zu leben beginnen? Das wäre eine Verwechslung von Textwelt und Lebenswelt, die nur in höchst seltenen Ausnahmen wünschenswert sein dürfte. Meist gehört diese Differenz gewahrt. Wer aber verstanden hat, kann nicht nicht antworten auf das Verstandene – und in der Antwort auch darüber hinausgehen. Darin wird die eigene Stimme gefunden und artikuliert werden müssen in Antwort auf die vernommenen fremden Stimmen. Es wird selber das Wort ergriffen. Das wäre exemplarisch in philosophischen, theologischen oder auch religiösen Kontexten letztlich das eigene Sagen und Schreiben und Zeigen. Daher ist exemplarisch das Schreiben nicht nur Prüfstein des Verstehens, sondern auch sein Ausgang in das Selber-zuverstehen-Geben. Nur sollte dabei bedacht bleiben, dass solch ein ‘Selbst’, das zu verstehen zu geben sucht, stets von Fremdem durchzogen ist, „Soi-même comme un autre“, wie Ricœur sagte.52

8 Ausblick: Hermeneutik der Differenz Um einen Unterschied zu markieren gegenüber einer Konsenshermeneutik im Zeichen vorausgesetzten Einverständnisses, Vertrauens oder ‘Immer-schon-Ver­ stehens’ kann man von einer Hermeneutik der Differenz sprechen oder einer Differenzialhermeneutik, nicht um Derridas différance zu feiern, sondern um eine andere Form und Funktion von Hermeneutik zu benennen. Hermeneutik der Dif­ ferenz geht weder von Einverständnis aus noch final auf es zu, sondern sie geht von starken Differenzen aus, ohne deren Aufhebung in einer finalen Identität zu prätendieren. Insofern geht es auch um eine ‘Entplatonisierung’ der Hermeneu­ tik, die auf Identitätspolitik in der Verständigung ebenso zu verzichten sucht wie auf eine Identitätsphilosophie. Das ist nicht nur eine ‘akademische’ Frage hermeneutischer Theoriekonflikte. Denn spätmoderne Gesellschaften haben gravierende Probleme mit starken Dif­ ferenzen, die sich nicht durch Konsens oder mit Macht schlichten lassen. Fremde Religionen in der eigenen Gesellschaft beispielsweise provozieren Differenzerfah­ rungen und Deutungsbedarf, ebenso wie das Fremdwerden der eigenen (religiö­

52 Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, übers. von Thomas Bedorf und Jean Greisch, Mün­ chen: Fink, 2005.

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sen) Traditionen. Hier ist die Hermeneutik auf neue Weise gefordert. Welchen Beitrag kann die Hermeneutik leisten im Umgang mit solchen ‘starken’ Differen­ zen in Religion und Gesellschaft, und welche Folgen hat solch eine Herausforde­ rung für die Hermeneutik? Thematisch sind damit lebensweltliche Differenzen (exemplarisch in Religion und Ethos), sofern sie nicht durch Recht, Wissenschaft oder Politik ‘aufzuheben’ sind. Es sind krisenanfällige Differenzen, mit denen zu leben wir einüben müssen um des sozialen Friedens willen. Denn Probleme mit ihnen manifestieren sich in Konflikten, wie Nichtverstehen und Dissens im Umgang mit Fremdem (Religio­ nen) bis hin zur Gewalt. Gegenüber diesen interkulturellen Differenzen in unserer westlichen Kultur muss die Hermeneutik eine eigene Differenzkompetenz aus­ bilden. Die hermeneutische Hypothese für eine Reformatierung der Hermeneutik ist, dass angesichts solcher Differenzerfahrungen Hermeneutik unerlässlich ist. Allerdings muss sie dafür interdisziplinär weiterentwickelt werden zu einer differenzsensiblen Kunst (ars) der Verständigung und des Verstehens. Exemplarisch sind dafür Differenzen wie: – Verstehen und Nichtverstehen – Eigenes und Fremdes – Gewalt und Gastlichkeit – Tausch und Gabe – Wort und Bild – Sagen und Zeigen – Sinn und Materialität – Deutung und Macht – Gott und Welt – Glaube und Sünde Solchen Differenzen ‘gerecht’ werden kann keine Beobachtertheorie, sondern eher die Entwicklung von erfahrungsgeleiteter Kompetenz zur Bearbeitung lebensweltlicher Differenzen, die nicht ‘aufzuheben’ oder zu ‘beseitigen’ sind. Es gibt leider noch kein Historisches Wörterbuch der Differenzen, in dem eine Begriffsgeschichte ihren Sitz im lebendigen Denken fände. Sind es doch Unter­ scheidungen, aus denen Begriffe erst hervorgehen im ‘drawing a distinction’. ‘Differenz’ galt jedenfalls seit Parmenides als abgeleitet von vorauszusetzender Einheit. Dann aber wäre Differenz stets so sekundär wie störend und im Grunde immer zu vermitteln im Rückgang auf die anfängliche Einheit, die als finale Einheit wiederherzustellen sei. Dieses Schema bestimmt die Theologie wie die Philosophie über weite Strecken. Im Christentum scheint es ebenso grundlegend zu sein wie in den Wissenschaften, wenn die Wahrheit basal und final nur eine sein kann (wie ‘der Eine’).

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Im Namen dieser Einheit werden Differenzen in einer Religion und zwischen Religionen als Zeichen des Unwahren angesehen (oder zumindest der Unwahrheit der ‘anderen’ Religion). Dieses Schema beherrscht die Ökumene im Christentum wie zwischen den Religionen. Die (imaginäre) Einheit dominiert die symbolische Ordnung, nicht nur in der Religion, sondern auch im Politischen in der Figur des ‘Souveräns’. Dieses dominante Schema soll kritisch revidiert werden. Denn für das Verhältnis von Religion(en) und Gesellschaft ist eine ‘Differenzphobie’ in kul­ turellen Grenzlagen gefährlich. ‘Im Zeichen der Einheit’ lassen sich (nicht erst) in der Spätmoderne promi­ nente Differenzerfahrungen nicht befriedigend beschreiben, geschweige denn befrieden. Differente Lebensformen – wie sie in Religionen, Konfessionen und Milieus ausgeprägt werden – implizieren irreduzible Differenzen im Verhalten, Sprechen und Wahrnehmen. Diese Differenzerfahrungen manifestieren sich im Streit um den Begriff des Zeichens. Versteht man es als ‘mit sich identisch’, ist es (bzw. die Sprache) das Medium der Einheit und der Einigung. Wenn aber im Zei­ chengebrauch immer schon Verschiebungen und Abweichungen am Werk sind, ist die Differenz im Zeichen unaufhebbar. Dieses semiotische Argument Derridas eignet sich zur Aufklärung der spätmodernen Differenzeskalation zwischen kultu­ rellen Formen (wie zwischen Religion und Wirtschaft, Politik und Wissenschaft) und in denselben (wie zwischen Religionen, Wissenschaften etc.). Exemplarisch dafür sind die Studien von Waldenfels und Liebsch. Der Differenzeskalation gegenüber kann die Hermeneutik nicht die Einheit des Verstehens sichern, auch nicht durch eine hermeneutische Vernunft des ‘Ver­ nehmens’. Denn Perspektivendifferenzen führen dazu, dass andere anders sehen, ohne dass eine souveräne Zentralperspektive zuhanden wäre, in der alle konver­ gieren. So bedingen Differenzen der Geschichten, in denen wir leben, sehr ver­ schiedene Erwartungen und Hoffnungen. Das ist kein Verfehlen der Einheit der Vernunft, sondern eine Bedingung von demokratischer wie liberaler Kultur. Diese Differenzen sucht die Hermeneutik zu ‘vergemeinschaften’ mit den Modellen des ‘Gesprächs’ oder ‘Frage und Antwort’. Nur – was bleibt, wenn die Grenzen des Gesprächs erreicht sind? Sind die Grenzen der Verständigung die Grenzen unserer demokratischen Kultur? Dann wäre die Hermeneutik so gesellschaftlich relevant wie dringend erweiterungsbedürftig. Eine ‘Sprache’ oder eine ‘Schrift’ jedenfalls scheinen zu wenig zu sein, um Übergänge zwischen starken Differenzen zu gewährleisten. Der Rekurs auf die Menschenrechte reagiert auf dasselbe Problem, bleibt aber jenseits der Ver­ ständigung und will gerade ohne sie gelten. Auch eine ‘Heilige Schrift’ sichert die Verständigung nicht, denn sie tritt in divergente Lesarten auseinander. Das Religionsrecht schützt gerade dieses Recht auf Differenz. An den Grenzen einer Kultur könnte die Hermeneutik eine politische und ‘eschatologische’ Funktion

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bekommen: ‘Was dürfen wir hoffen’, um mit Kant zu reden, um die Grenzen der Verständigung offen zu halten? Wie man es mit starken Differenzen hält, zeigt und erschließt, in welchem Horizont man lebt und in welcher Perspektive man denkt (Erfahrungs- und Erwar­ tungshorizont). Daher sind sie signifikant für eine Hermeneutik von Religion und Gesellschaft. Wenn Differenzen gefährlich werden, sind sie nicht nur zu beschrei­ ben und zu verstehen, sie sind auch zu beurteilen. Die ‘Kompetenz’ im Programm der ‘Differenzkompetenz’ zielt auf die Frage nach einer hermeneutischen Urteilskraft. Anders als eine prinzipientheoretische Kritik geht die hermeneutische von der Ansehung des Einzelfalles aus, ist also an Billigkeit orientiert (nicht ‘nur’ an Recht). Ihre Urteilskraft ist kantisch gesprochen reflektierend und nicht primär bestimmend. Dann kann die Hermeneutik nicht subsumierend verfahren, etwa ein Phänomen in die ‘Wirkungsgeschichte’ integrieren oder von Konsens aus auf Konsens hin interpretieren. Stattdessen ergibt sich die Aufgabe einer Wendung des Blicks: von der Differenz auszugehen, nicht um sie zu reduzieren, sondern um einen differenzwahrenden Umgang mit ihr zu (er)finden. a) Nichtverstehen, Dissens oder Gewalt im Umgang mit Fremdem (wie fremden Religionen) stellen einen ‘hermeneutischen Ausnahmezustand’ dar. Gewalt zum Beispiel lässt sich nicht einfach ‘verstehen’, geschweige denn her­ meneutisch ‘aufheben’, ebenso wenig wie das Erleiden von Gewalt. Das soll an aktuellen Beispielen religiös ‘motivierter’ und ‘gerechtfertigter’ Gewalt gezeigt werden  – deren Selbstdeutungen zwar aufschlussreich sind, aber keineswegs Verstehen, geschweige denn Verständnis ermöglichen. Dennoch kann vor Terror nicht hermeneutisch ‘kapituliert’ werden (um dann zu kriegerischen Mitteln zu greifen), sondern die Arbeit des Verstehens ist die conditio sine qua non eines befriedenden Umgangs mit Gewalt. Dass das Verstehen selber dabei gewaltsam werden kann, ist als Gefahr eigens zu reflektieren. Galt Konsens als Grund und Ziel des Verstehens wie der Verständigung, wären Nichtverstehen und Dissens über Gewalt nur vorübergehende Mängel – oder aber ein Scheitern der Hermeneutik. Für Dissense wie Gewalt gilt daher meist das Recht als ultima ratio. Überall, wo Konsensstrukturen fehlen, scheint das Recht an deren Stelle zu treten. Die Beherrschung der Lebenswelt mit den Mitteln des Rechts wäre aber eine Problemlösungsformel, die selber Probleme birgt, etwa die Erosion der ‘Sittlichkeit’. Wollte man alle Dissense rechtlich regulieren, würde das Recht per­ vasiv und als symbolische Form ebenso überfordert, wie die schwindende ‘Sitt­ lichkeit’ damit nicht kompensiert werden kann. Gewalt ist ein ‘dunkler’ Ausgang von Dissens und Nichtverstehen, der durch das Recht zwar reguliert werden kann. Aber die ‘Gründe’ der Gewalt sind nicht juristisch zu bearbeiten, sondern herme­ neutisch in der Verständigung darüber. Wenn die Hermeneutik auf Gewalt nicht mit gewaltsamer Selbstbehauptung der eigenen Tradition reagieren will, muss sie

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dann aber nach Mitteln und Wegen forschen, wie Verstehen und Verständigung möglich werden (z.  B. in der ‘Wahrheitskommission’ in Südafrika), ohne Konsens vorauszusetzen und ohne alternativlos darauf zu zielen. Schleiermacher meinte, Konsens und Dissens seien gleichermaßen gültige Ausgänge eines Diskurses. Folgt man dieser These, fällt auf, dass (nicht nur) in der Hermeneutik Formen und Funktionen von Dissens bemerkenswert unbe­ achtet geblieben sind. Das ist zu korrigieren, allerdings nicht, um vergangene lebensweltliche Selbstverständlichkeiten zu ‘erneuern’. Die Kompetenz der Her­ meneutik kann sich vielmehr darin erweisen, die pluralisierte Lebenswelt als Uni­ versum der Unselbstverständlichkeiten und Unverständlichkeiten zu verstehen. Im hermeneutischen Ausnahmezustand Verständigung zu moderieren und zu orientieren, ist eine zwar bescheidene Bestimmung, aber aussichtsreicher, als mit ‘kommunikativem Handeln’ stets finalen Konsens zu intendieren (Habermas). b) Statt Differenzerfahrungen zu ‘beseitigen’, kann die Hermeneutik sie auf lebensweltlich basale Differenzen zurückbeziehen (Reduktion) – als dem Sitz im Leben der Konflikte und Probleme, die sich nicht mit Recht, Politik oder Öko­ nomie beheben lassen. Solche Grunddifferenzen dienen der Orientierung und der Differenzwahrung. Sie zu präzisieren, dient daher der hermeneutischen Differenz­ sensibilität im Umgang mit Fremden und Fremdem in Dissens und Konflikt. Dass solch ein Differenzbewusstsein für die Diskurse in Recht, Wirtschaft und Politik hilfreich ist, wird an den folgenden Differenzen exemplarisch gezeigt werden: Gabe und Tausch stellen eine Grunddifferenz dar, die das Verhältnis von Religion und Gesellschaft prägt. In einer allumfassenden Ökonomie lässt sich das ‘Anökonomische’ nicht begreifen. Die Gabe erscheint nicht im Horizont des Tauschs (meinte Derrida).53 Wenn das keine abstrakte Negation sein soll, ist her­ meneutisch weiter zu fragen: wie Gabe dennoch erscheint. Ein gesellschaftlich relevantes Beispiel dafür ist die Frage nach Vergebung, die sich nicht im Horizont des Rechts ereignet, auch nicht in dem von Politik oder Ökonomie. Inwiefern Juden- wie Christentum und besonders eine Hermeneutik in deren Tradition kompetent ist, von Vergebung zu sprechen – in Differenz zur ‘Vergeltung’ –, soll geklärt werden. Wenn die religiöse Rede vermag, Vergebung zuzusprechen, ist dann die Gesellschaft darauf angewiesen, wenn sie nicht ‘gnadenlos’ werden will? Ist die Religion das kreative Erinnerungsmedium einer Gesellschaft, indem sie an das ‘heilsame’ Andere von ‘Ökonomie und Ordnung’ erinnert? Diese Differenz ist weiterzudenken als die von Gnade und Gesetz, ebenso wie die von Religion und Recht. Im Protestantismus ist diese Differenz als ‘Gesetz

53 Vgl. Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit Geben I, übers. von Andreas Knopp und Michael Wetzel, München: Fink, 1993.

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und Evangelium’ intensiv bedacht worden und bildet ein zentrales Regulativ des Denkens und Lebens. Damit wird ein grundlegender Unterschied gemacht, mit dem das Außerordentliche der Gnade und die Ordnung des Gesetzes geschieden und aufeinander bezogen werden. Für die Religion in einer Gesellschaft, die zu Recht auf ‘Recht und Ordnung’ aufbaut, ergibt sich daraus der Anspruch, das Andere der Ordnung ‘im Spiel’ des kulturellen Lebens zu halten. Umgekehrt ist für die Hermeneutik erhellend, wie eine Gesellschaft mit diesem Anderen umgeht: ob es ins Private abgedrängt wird, wo und wie es in der Politik aufbricht, welche Substitute dafür erfunden werden (Kunst, Literatur, Werbung?) und inwiefern das Recht dieses Andere anerkennt, maßgeblich im Regulativ der Menschenwürde. c) Selbst und Anderer wie Eigenes und Fremdes bilden eine Grunddifferenz der Anthropologie, an der sich die Perspektiven scheiden, wie in Subjektivitäts­ theorie und Humanismus gegenüber dem ‘Humanismus des anderen Menschen’ (Levinas) und der ‘narrativen Identität’ (Ricœur). Die Hermeneutik präferierte traditionell die eigene Tradition (Wirkungsgeschichte), ist aber stets herausgefor­ dert durch die Aufgabe, Fremde(s) zu verstehen, ohne es nur ‘anzueignen’. Das hat biblische Hintergründe, sofern die ‘Nächstenliebe’ allen Menschen gilt, nicht nur den ‘Nächsten’. Sie zielt darauf, den Fremden (Lev. 19,18.  33–34; Dtn. 10,18–19)­ gastlich aufzunehmen und die Eigensphäre für das Fremde zu öffnen. Aller­ dings ist das Gebot der Nächstenliebe nicht ‘Recht und Ordnung’, sondern eine außerordentliche Zumutung. Kann sie als prägnantes Regulativ der Hermeneutik dienen, als Bestimmung des Umgangs mit Fremden im Zeichen der Gastlichkeit, ohne ihre Fremdheit zu tilgen? Diese politischen Implikationen der Hermeneutik zeigen sich dringlich im Blick auf die Religionspolitik. Die philosophischen Diskurse des ‘Fremden’ sind orientiert am fremden Menschen, dem radikal Anderen, also zum einen auf Per­ sonen, zum anderen im Singular des besonderen Fremden (Levinas, Ricœur, Waldenfels, Liebsch). Differenz vom Eigenen zum Fremden und umgekehrt kann untertrieben, sie kann aber auch übertrieben werden. Als ‘Figur des Zwischen’ ist hermeneutisch zu klären, wie mit dieser Differenz ‘kultiviert’ umzugehen ist. Fremdverstehen und Selbstverstehen sollen einander befördern, nicht behindern oder bekriegen. Die Kunst hermeneutischer ‘Differenzialdiagnose’ kann dieses Verhältnis möglicherweise zu kultivieren helfen. Das Problem ‘des’ Fremden hat neben dem personalen und politischen auch einen ‘sachlichen’ Aspekt, wie das ‘Fremde der Vernunft’ und das ‘Andere der Kultur’. Die Differenz von Kultur und Natur manifestiert sich in den Emotionen. Mit ihnen kommt das Verhältnis von Hermeneutik und Naturwissenschaften in den Blick als Aufgabe hermeneutischer Anthropologie. Die alte Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Maschine findet im Streit um Gehirn und Geist ihre Neuauflage. Die Emotionen (traditionell: die Passionen der Seele) sind prägnante

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Phänomene des Ineinanders von Vernunft und Natur. Die Hermeneutik in der Position eines ‘Zwischen’ zwischen Natur- und Kulturwissenschaften sucht, differenzwahrend diese Differenz zu verstehen und zu entfalten. d) Die Differenzphänomene von Gewalt, von Gabe wie von Fremdem bis zu den Emotionen erfordern eine mediale Erweiterung der Hermeneutik. Denn diese Phänomene erscheinen prominent in Bildern. Die hermeneutische Tradition hin­ gegen folgte dem Leitmedium der Sprache. Ihr Umgang mit Bildern ist in der Regel an Text und Lektüre orientiert, nicht an der anders gearteten Bildwahrnehmung. Kritisch formuliert scheint (nicht nur) in der Hermeneutik ein beinahe magisches Verständnis von Sprache untergründig wirksam zu sein: als wäre das ‘Bespre­ chen’ von Differenzen schon deren Vermittlung, wenn nicht gar Versöhnung. Bilder sind in eigener Weise kompetente Medien der Differenzdarstellung und -bearbeitung. Wenn die Hermeneutik die Differenz von Bild und Text zu ver­ stehen vermöchte, erwiese sich darin ihre Differenzkompetenz: ikonische Medien anders zu verstehen, ohne einen homogenen Begriff des Verstehens zu behaupten und ohne alles auf das Verstehen konvergieren zu lassen. Am Horizont zeichnet sich hier eine bildtheoretische Erweiterung der Hermeneutik ab, die medientheo­ retisch weiterzuführen sein dürfte.

Verzeichnis der zitierten Literatur Angehrn, Emil, Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen (= Philosophische Untersuchungen, Bd. 25), Tübingen: Mohr Siebeck, 2010. Aurelius Augustinus, Sermones, Opera omnia, Bd. 5 (= Patrologia Latina, Bd. 38), hrsg. von Paul Migne, Paris, 1841, S. 23–1484. Barth, Karl, Die kirchliche Dogmatik. Erster Band. Die Lehre vom Wort Gottes. Erster Halbband, Zürich: Evangelischer Verlag A.G. Zollikon-Zürich, 1947. Blumenberg, Hans, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1979. Blumenberg, Hans, „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“, in: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart: Reclam, 1981, S. 104–136. Blumenberg, Hans, Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß, Stuttgart: Reclam, 1996. Brand, Gerd, „Die Normalität des und der Anderen und die Anomalität einer Erfahrungsgemeinschaft bei Edmund Husserl“, in: Walter M. Sprondel/Richard Grathoff (Hrsg.), Alfred Schütz und die Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften, Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag, 1979, S. 108–124. Brandom, Robert B., Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge, MA/London: Harvard University Press, 1994. Buergel, Roger M. et al. (Hrsg.), Dinge, die wir nicht verstehen (Ausstellung: Dinge, die wir nicht verstehen, 28. Januar bis 16. April 2000), Wien: Generali Foundation, 2000.

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 Philipp Stoellger

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Hermeneutik am Ende oder am Ende Hermeneutik? 

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 Philipp Stoellger

Wellmer, Albrecht, „Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft“, in: Christoph Demmerling/ Gottfried Gabriel/Thomas Rentsch (Hrsg.), Vernunft und Lebenspraxis. Philosophische Studien zu den Bedingungen einer rationalen Kultur. Für Friedrich Kambartel, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995, S. 123–156.

Christoph Markschies

Sehnsucht nach Eindeutigkeit Chancen und Gefahren einer Hermeneutik nach dem „Ende der Postmoderne“

1 Einleitende Bemerkungen Will man sich mit der gewandelten Funktion und Bedeutung von Texten in den Geisteswissenschaften der Gegenwart beschäftigen (wie dies der Arbeitskreis „Text und Textlichkeit“ der Fritz Thyssen Stiftung seit rund vier Jahren ver­ sucht1), dann kann natürlich nicht von der Kunst des Erklärens und Auslegens eben dieser Texte abgesehen werden, der Hermeneutik. So wie sich Funktion und Bedeutung von Texten in Theorie und Lebenswelt geändert haben, so haben sich auch Funktion und Bedeutung der Hermeneutik als der Kunst des Auslegens und Erklärens geändert. Wenn man diese beiden unterschiedlichen, aber selbst­ verständlich zusammenhängenden Entwicklungen überhaupt zum Zwecke der Einleitung in meine Ausführungen knapp durch jeweils ein hervorstechendes Merkmal charakterisieren kann, dann vielleicht so: Zum einen wurde der Text-Begriff über seine klassische Bedeutung hinaus erheblich ausgeweitet – wofür seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahr­ hunderts die beiden Hamburger Aby Warburg und Erwin Panofsky mit ihrer Transformation der Kunstgeschichte in ein „Studium der Geschichte von Bild­ bedeutungen“2 ein gewisses Maß an Verantwortung tragen, weil hier schon die klassische Fundamentaldifferenz von Text und Bild zu verschwinden droht. So verlor der Text-Begriff mit den Konturen durch diese Schule nach anfänglich hartem Widerstand,3 aber auch durch viele andere Bewegungen in den Geistes­ wissenschaften, zugleich an Bedeutung und Relevanz. Blickt man vom Beginn

1 Das für den Abendvortrag des diesem Band zugrunde liegenden Kolloquiums entworfene Ma­ nuskript wurde geringfügig modifiziert und mit Fußnoten versehen, für wichtige Hinweise und tatkräftige Hilfe dabei danke ich Mark Halawa-Sarholz sehr herzlich. 2 Vgl. Irving Lavin, „Ikonographie als geisteswissenschaftliche Disziplin“, in: Andreas Beyer (Hrsg.), Die Lesbarkeit der Kunst. Zur Geistes-Gegenwart der Ikonologie (= Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek, Bd. 37), Berlin: Wagenbach, 1992, S. 11–22, hier: S. 17. 3 Willibald Sauerländer, „‚Barbari ad portas‘. Panofsky in den fünfziger Jahren“, in: Bruno Reudenbach (Hrsg.), Erwin Panofsky. Beiträge des Symposiums Hamburg 1992 (= Schriften des Warburg-Archivs im kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg, Bd. 3), Berlin: Aka­ demie Verlag, 1994, S. 123–138, hier: S. 135  f. https://doi.org/10.1515/9783110698084-006

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 Christoph Markschies

der hier nur äußerst knapp charakterisierten Entwicklungen auf das vorläufige Ende, dann wird man allerdings, jedenfalls mit Blick auf die Warburg-Schule, von anfangs eher nicht intendierten Langzeitfolgen einer Forschungsrichtung sprechen müssen. Während (wie expliziert) zum einen charakteristisch für die Veränderung der Funktion und Bedeutung von Texten in Theorie und Lebens­ welt der Kontur- und Bedeutungsverlust des Textbegriffs ist, ist zum anderen die Hermeneutik unter Verdacht geraten, vorgebliche Eindeutigkeiten nachträglich konstruieren und durch eine Kunstlehre autorisieren zu wollen, wo doch eigent­ lich Ambivalenz (im Sinne von Doppeldeutigkeit) und Ambiguität (im Sinne von Mehrdeutigkeit) vorliegen.4 Man kann sich an der allzu schematischen, fast rabiaten Polemik gegen die „Wut des Verstehens“, die Jochen Hörisch schon vor über dreißig Jahren vorgelegt hat,5 klarmachen, wie sich die angeblich für die klassische Hermeneutik charakteristische Suggestion vorgeblicher Eindeutigkeit beispielsweise neben allen philosophischen und literaturwissenschaftlichen Ein­ wänden auch politisch durch die aus guten Gründen perhorreszierte Rhetorik der Machtergreifung denunzieren lässt. Hörisch geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er (mit Blick auf zeitgenössisch enthusiasmierte Formulierungen bei Johann Gustav Droysen) von „Vereinigungsdelirium“6 spricht; die von ihm gewählte Metaphorik oszilliert irgendwo zwischen Irrenhaus und Hochzeitsnacht. „Her­ meneutik unter Verdacht“ haben wir im Arbeitskreis solche im Detail sehr unter­ schiedlichen Kritiken klassischer Hermeneutik genannt; man muss gar nicht den berühmten „Tod des Autors“7 bemühen, um zu konstatieren, dass (ähnlich wie beim Text-Begriff) im Laufe der letzten Jahrzehnte klassische Fundamentaldif­ ferenzierungen aus der Theoriegeschichte der Hermeneutik verschwanden bzw. verflüssigt wurden (diesen Eindruck gewinnt man beispielsweise auch, wenn man an die Rekonstruktion der Ansichten denkt, die Foucault gegen Barthes’ klassischen Aufsatz über den Autor richtete8).

4 Vgl. Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2011; ders., Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen: Reclam, 2018. 5 Jochen Hörisch, Die Wut des Verstehens (= Ableger, Bd. 10), Berlin: Kadmos, 2011 (= Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988; mit Ergänzungen und Vorwort zur zweiten Auflage). 6 Hörisch, Die Wut des Verstehens, S. 110. 7 Vgl. Roland Barthes, „Der Tod des Autors“, in: ders., Kritische Essays IV: Das Rauschen der Sprache, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005, S.  57–63 (=  „La mort de l’auteur“, in: ders., Essais Critiques  IV: Le bruissement de la langue, Paris: Le Seuil, 1984, S. 61–69). 8 Vgl. dazu jüngst Andreas Kablitz, „Michel Foucaults Vortrag: ‚Was ist ein Autor?‘“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.03.2019, abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/

Sehnsucht nach Eindeutigkeit 

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Ich habe in solch holzschnittartiger Art und Weise Grundannahmen unseres Arbeitskreises „Text und Textlichkeit“ repetiert und an sehr wenigen, charakte­ ristischen Beispielen illustriert, weil es mir hier eigentlich um einen genaueren Blick auf die handelsüblichen Rekonstruktionen der Geschichte der Hermeneutik geht – genauer jedenfalls, als er in den angespielten Manifesten des Verdachts gegen die Hermeneutik mehr vorausgesetzt als ausführlich argumentiert wird. Und weil nach Hörisch die Suggestion der Eindeutigkeit, ja der Einheit für die klassische Hermeneutik so charakteristisch sein soll (er spricht in seinem ebenso amüsanten wie frechen Verriss der Hermeneutik Schleiermachers von der „Wut des homogenisierenden Verstehens“9), habe ich mir drei Beispiele für den Umgang mit der Suggestion der Eindeutigkeit aus hermeneutischen Entwürfen des 20. Jahrhunderts vorgenommen, um diese Sichtweise zu überprüfen. Diese drei Beispiele stammen aus meinem unmittelbaren Fachgebiet, der Theologie, aber aus drei sehr unterschiedlichen Kontexten. Schleiermacher, den Hörisch im Holzschnitt behandelt, habe ich bewusst nicht zum Thema gemacht.10 Meine beiden ersten Beispiele gehören vielmehr in den Zusammenhang der nationalso­ zialistischen Diktatur, genauer in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts: Der auf Initiative von Dietrich Bonhoeffer zur Promotion in Zürich freigestellte Gerhard Ebeling (1912–2001), damals Vikar der Bekennenden Kirche und später Kirchen­ historiker wie systematischer Theologe in Tübingen und Zürich, veröffentlichte 1942 seine 1938 abgeschlossene Dissertation Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik.11 Der 16  Jahre ältere französische Jesuit Henri de Lubac (1896–1991) wirkte dagegen damals schon eine Weile als Professor an der Faculté Catholique und am Jesuitischen Seminar in Lyon, als er wegen seines Widerstandes gegen die politischen wie kirchlichen Autoritäten

hoch-schule/michel-foucaults-ueberlegungen-was-ist-ein-autor-16060217.html (letzter Zugriff: 18.03.2021). Foucaults Text selbst ist unter anderem abgedruckt in: Michel Foucault, Schriften zur Literatur, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, übers. von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba, Auswahl und Nachwort von Martin Stingelin, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003, S. 234–270. 9 Hörisch, Die Wut des Verstehens, S.  99 u. ö.  – Man könnte ja gerade im Gegenteil dafür ar­ gumentieren, dass in der Hermeneutik Schleiermachers die Kategorie der Fremdheit erstmals an­ gemessen bedacht wird; dieser Beitrag ist allerdings nicht der rechte Ort, diesen Einwand weiter zu verfolgen. In einem ähnlichen Sinne argumentiert zudem auch Philipp Stoellger in diesem Band. 10 Vgl. hierzu aber Christoph Markschies, „Theologische Hermeneutik – Erinnerung an ein Jahr­ hundertprojekt“, in: Poetica 49 (2018), H. 3–4, S. 383–397, und die dort aufgeführte Literatur. 11 Vgl. Gerhard Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik (= Forschungen zu Geschichte und Lehre des Protestantismus, 10. Reihe, Bd. 1), durch­ gesehen und erweitert um ein Nachwort des Verfassers, Tübingen: Mohr Siebeck, 31991.

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 Christoph Markschies

im Vichy-Regime zeitweilig im Untergrund lebte. Trotz dieser sehr schwierigen Umstände erweiterte er einen bereits vorhandenen großen Fundus von ExzerptKarten antiker und mittelalterlicher christlicher bibelexegetischer Literatur, den er aufgrund der Menge dieser Karten in einem Sack von Versteck zu Ver­ steck schleppte. 1959 erschien auf der Basis seiner Karten aus der Vorkriegs-, Weltkriegs- und Nachkriegszeit der erste Band seines großen, vierbändigen Werkes über den vierfachen Schriftsinn Exégèse médiévale: Le quatre sens de l’écriture.12 Beide Arbeiten argumentieren für aus heutiger Sicht eher abwegige Thesen, die die schlechthinnige Besonderheit einer hermeneutischen Theorie christlicher Bibelexegese gegenüber allen Vorgängern behaupten. Beide sind in ihrer Arbeit zutiefst durch die totalitären Verhältnisse geprägt, aber gehen dabei charakteristisch unterschiedlich mit der Suggestion der Eindeutigkeit um: Ebeling führt eine Theorie textlicher Eindeutigkeit auf Luther zurück (und bis auf den heutigen Tag folgen ihm dabei viele Fachleute, die sich mit der Reformation beschäftigen), de  Lubac begründet eine Theorie textlicher Mehrdeutigkeit mit der Neuheit, die Jesus von Nazareth verkörpert; beide Rekonstruktionen sind aus heutiger Perspektive historisch problematisch, aber aus der Zeitsituation zu erklären. Sie machen außerdem deutlich, dass es mit der einheitlichen Ver­ pflichtung auf die Eindeutigkeit, derer man die klassische Hermeneutik gern verdächtigt, nicht ganz so einfach ist, wie die Kritik meint. Zudem waren beide, de Lubac und Ebeling, zugleich Theologen und Historiker, sie prägten die Dis­ kussionen nicht nur der systematischen Theologie ihrer jeweils eigenen Kon­ fession, sondern prägen sie bis heute (worauf hier natürlich nur sehr knapp ver­ wiesen werden kann). Abgeschlossen werden meine Beispiele mit der zweiten der sogenannten drei Chicago-Erklärungen zur Biblischen Hermeneutik, die auf einer Konferenz evan­ gelikaler Theologen beschlossen wurden, die sich 1978 zum „Internationalen Rat für biblische Irrtumslosigkeit“ („International Council on Biblical Inerrancy“, kurz: ICBI) zusammengeschlossen hatten und vor allem aus den USA stamm­ ten.13 Die 25 Artikel dieser Erklärung wurden auf einer Konferenz in Chicago vom 10.–13. November 1982 beraten und beschlossen; sie stellen in einer Phase eines

12 Henri de Lubac, Exégèse médiévale I: Le quatre sens de l’écriture (= Coll. Théologie, Bd. 41), Paris: Aubier, 1959 (engl.: Medieval Exegesis, Vol. I: The Four Senses of Scripture, übers. von Mark Sebanc, Vorwort von Robert Louis Wilken [=  Ressourcement: Retrieval & Renewal in Catholic Thought], Grand Rapids, MI/Edinburgh: William B. Eerdmans/T&T Clark, 1998). 13 In deutscher Übersetzung findet sich diese Erklärung in: Thomas Schirrmacher (Hrsg.), Bibeltreue in der Offensive?! Die drei Chicagoerklärungen zur biblischen Irrtumslosigkeit, Hermeneutik und Anwendung, übers. von Thomas Schirrmacher, Bonn: Verlag für Kultur und Wissenschaft, 3 2009, S. 30–50.

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deutlichen Modernisierungsschubes von Theologie und Kirche einen Versuch der Vereindeutigung der Exegese biblischer Texte dar, der oft als „Fundamen­ talismus“ gescholten wird, aber einmal im Zusammenhang der beiden anderen Arbeiten zur Hermeneutik der Bibelinterpretation betrachtet zu werden verdient. Dies geschieht, um Gemeinsamkeiten und Differenzen präziser zu beschreiben, obwohl die Chicago-Erklärung natürlich nicht in eine Reihe mit den opera magna von de Lubac und Ebeling gehört. Zunächst folgen daher nach dieser Einleitung in separaten Abschnitten ausführlichere Bemerkungen zu Ebeling und de Lubac, dann solche zur Chicago-Erklärung. Abschließend werden außerdem noch Kon­ sequenzen für den Umgang mit der Sehnsucht nach Eindeutigkeit im Rahmen einer Hermeneutik nach dem „Ende der Postmoderne“ gezogen, wobei ich schon jetzt ankündige, die etwas plakative Charakteristik vom „Ende der Postmoderne“ nur sehr knapp zu erläutern.

2 Gerhard Ebeling und Martin Luthers Hermeneutik Als erstes der genannten und bereits knapp charakterisierten drei Beispiele folgt nun ein näherer Blick auf die Dissertation von Gerhard Ebeling. Ihr Autor war 1912 in eine Lehrer-Familie in Berlin-Steglitz geboren worden und hatte nach dem Abitur am humanistischen Gymnasium in Steglitz ab 1930 Theologie und Philosophie studiert, dies zunächst in Marburg vor allem bei Rudolf Bultmann und Wilhelm Maurer (bei dem er im Jahre 1931 seine erste Arbeit über Luther in Form einer kirchenhistorischen Proseminararbeit anfertigte). Ferner besuchte er auch Lehrveranstaltungen bei den Neutestamentlern Heinrich Schlier und Hans von Soden sowie bei dem Philosophen Gerhard Krüger. Nachdem er dann in Berlin noch bei Nicolai Hartmann studiert hatte, hörte er in Zürich schließlich unter anderem Vorlesungen Emil Brunners. Anschließend war er als Anhänger der Bekennenden Kirche nach einem theologischen Examen beim nach dama­ ligen Maßstäben illegalen Prüfungsamt der Bekennenden Kirche der Provinz Berlin-Brandenburg 1934 ins Vikariat nach Crossen an der Oder sowie nach Fehr­ bellin gegangen. In diesem Zusammenhang lebte Ebeling ab 1936 auf eigenen Wunsch im von Dietrich Bonhoeffer geleiteten Predigerseminar der Bekennen­ den Kirche in Finkenwalde bei Stettin. Bonhoeffer, der die große wissenschaft­ liche Begabung seines Vikars rasch erkannt hatte, erwirkte beim Bruderrat (dem kirchen­leitenden Gremium), dass Ebeling im April 1937 nach Zürich zur Arbeit an der Promotions­schrift entsandt wurde, die nach 15  Monaten fertiggestellt und verteidigt wurde; sie diente zugleich als Hausarbeit für das zweite Theo­

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logische Examen.14 1942 erschien das Werk in einem Verlag, der der Bekennen­ den Kirche nahestand; das ursprüngliche Vorwort nennt den damals bereits ver­ dächtigen Namen Bonhoeffer nicht, lässt aber keinen Zweifel an der kirchlichen Heimat des – wie man damals sagte – „Illegalen“, der seinerzeit ein Pfarramt der Bekennenden Kirche in Berlin-Hermsdorf und Frohnau versah. Mit Blick auf die Persönlichkeit von Gerhard Ebeling reicht es, einen Satz aus seiner Anspra­ che anlässlich seines 80.  Geburtstages zu zitieren; damals bemerkte Ebeling, er sei „im kargen Boden der Mark Brandenburg und der strengen Einfachheit altpreußischer Tradition verwurzelt“15. Ebeling hat später selbst das Thema  – „Evangelische Evangelienauslegung“ – als die Frucht der „beiden Hauptimpulse seines ersten Semesters in Marburg“ gedeutet: […] das hermeneutische Problem und Luthers Theologie. Es stellte sich mir gar nicht die Frage, worüber ich denn eine Dissertation schreiben sollte. Es drängte mich zu einer Unter­ suchung über Luthers Hermeneutik, wie denn auch alsbald der Untertitel lautete […]. 16

Interessanterweise beruhte die Dissertation von Gerhard Ebeling ebenso wie die große Monographie von Henri de  Lubac auf Tausenden von Karteikarten mit exzerpierten Passagen, bei Ebeling aus der großen Weimarer Lutheraus­ gabe17 abgeschrieben, bei de Lubac aus der cloaca maxima der Patrologien, die Jacques-Paul Migne18 verlegt und aus barocken Editionen mehr schlecht als recht plagiiert hatte. Albrecht Beutel hat Ebelings Dissertation in seiner großen Bio­ graphie seines verehrten akademischen Lehrers als „ein Meisterwerk der LutherForschung, geprägt von akribischer Textanalyse und einem umfassenden herme­ neutisch-theologiegeschichtlichen Zugriff“ gekennzeichnet; ein besonderes Werk

14 Albrecht Beutel, Gerhard Ebeling. Eine Biographie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012, S. 1–62; Gerhard Ebeling, „Mein theologischer Weg“, in: Hermeneutische Blätter, Sonderheft Oktober 2006 (als Manuskript gedruckt), S. 5–30; ders., Evangelische Evangelienauslegung, S. 546–548 (Nachwort 1991). 15 Gerhard Ebeling, „Rückblick und Dank“, in: Deutsches Pfarrerblatt 93 (1993), S. 19–21, hier: S. 20. 16 Ebeling, „Mein theologischer Weg“, S. 25. 17 Vgl. Martin Luther, D. Martin Luthers Werke, 127 Bde., Weimar: Böhlau, 1883–2009 (im Folgen­ den zitiert unter dem Kürzel „WA“ mit der entsprechenden Bandangabe). 18 Vgl. Jacques-Paul Migne (Hrsg.), Patrologiae Cursus Completus. Series Graeca, 85 Bde., Paris Petit-Montrouge: J.-P. Migne, 1856–1858; sowie Series Latina, 221  Bde., Paris Petit-Montrouge: J.-P. Migne, 1844–1864 (im Folgenden zitiert unter dem Kürzel „PL“). – Vgl. auch Ralph Howard Bloch, God’s Plagiarist. Being an Account of the Fabulous Industry and Irregular Commerce of the Abbé Migne, Chicago: The University of Chicago Press, 1994.

Sehnsucht nach Eindeutigkeit 

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ist sie im Vergleich mit anderen zeitgenössischen Arbeiten schon ihrer Länge von 539 Druckseiten wegen.19 Den Inhalt werde ich nun knapp referieren, zunächst, indem ich ihn ebenfalls wieder aus der Perspektive von Albrecht Beutel zitiere: Das erste Kapitel sichtete knapp, in gattungsspezifischer Ordnung, das Quellenmaterial. Sodann zeigte Ebeling anhand der Entwicklung von Luthers Evangelienauslegung in minutiöser chronologischer Abfolge auf, wie dieser die von ihm theologisch längst über­ wundene Allegorese in einem langsamen, bis in die Zeit des Marburger Religionsgesprächs 1529 andauernden Prozeß auch in der homiletischen Praxis zusehends preisgab. Das dritte Kapitel stellte, in seinem dispositionellen Ort wie in seinem Gewicht und äußeren Umfang, das Zentrum der Studie dar, indem es, getragen von stupender Gelehrsamkeit, die Evan­ gelienauslegung Luthers mit der gesamtchristlichen hermeneutischen und insbesondere exegetischen Überlieferung ins Verhältnis setzte und gerade in solchem differenzierten traditionsgeschichtlichen Vergleich das bei Luther Besondere tiefenscharf hervortreten ließ. Im vierten Kapitel konnte Ebeling für die hermeneutische Entwicklung Luthers drei Hauptmotive herausarbeiten: die Sicherung und Explikation der reformatorischen Grund­ entdeckung (1513–1521), den daraus resultierenden „Kampf gegen Rom“ (1520–1524) sowie die Abgrenzung gegenüber den drei wichtigsten reformationsgeschichtlichen Begleit­ strömungen der „Schwärmer, Humanisten und Sakramentierer“ (1524–1546). Das Schlußkapitel unternahm dann […] den systematischen Versuch, die Evangelienauslegung des Reformators im enzyklopädischen Horizont seiner Theologie zu kontextualisieren.20

Hätte Ebeling die Grundthese in seinem Werk vertreten, die er nach Beutel vertrat (die allmähliche Verabschiedung der theologisch längst überwundenen Allego­ rese in der interpretatorischen Praxis), wäre das wenig originell gewesen – der 1926 verstorbene Berliner Kirchenhistoriker Karl Holl hatte die These, Luther habe die Allegorese und den vierfachen Schriftsinn überwunden, bereits 1920 in seiner in der Preußischen Akademie der Wissenschaften vorgetragenen Abhand­ lung über „Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst“21 knapp entfaltet. Aber kann man wirklich sagen, dass Ebeling gleichsam nur in größt­ möglicher Fülle für einen Teil der Bibelauslegung Luthers (nämlich die Interpreta­ tion der vier Evangelien) Belege und Motive nachtrug? Bei Holl ist die angedeutete These schon in einer Überschrift pointiert formuliert: „Das allmähliche Hinaus­ wachsen über den vierfachen Schriftsinn in den späteren Vorlesungen“ (ab 1515, ab der Römerbriefvorlesung). Bemerkenswert ist sein Vortrag vor der Akademie der Wissenschaften aber noch aus einem zweiten Grund: Holl hat nämlich erst­ 19 Beutel, Gerhard Ebeling, S. 58. 20 Ebd., S. 58  f. 21 Karl Holl, „Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, Tübingen: Mohr Siebeck, 61932, S. 544–582, hier: S. 550  f.

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mals die reformatorische Entdeckung Luthers mit einem hermeneutischen Prinzip verbunden, genauer: mit der „Überzeugung von der Eindeutigkeit der Bibel“. Er schreibt wörtlich in seiner Akademieabhandlung: Ich wiederhole: Eindeutigkeit der Bibel. Denn so muß mit Rücksicht auf gleich vorzu­ bringende Gründe und im Anschluß an die von Luther selbst gebrauchten Wendungen Luthers Grundsatz ausgedrückt werden. Aber sie sah er nunmehr gefordert nicht nur durch das Bedürfnis der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, sondern  – das wurde für ihn zum Entscheidenden  – durch den religiösen Zweck der Bibel selbst. War die Bibel dazu bestimmt, Gottes Willen zu verkündigen, so mußte sie auch einen „gewissen, einhelligen, beständigen Sinn“ haben.22 Wie sollte der Mensch sich sonst nach ihr richten können? Wie sollte er mit seinem Glauben auf festen Boden kommen? In der Anfechtung, das erprobte sich Luther immer aufs neue, hielt doch nur das Einfache, das Unzweideutige stand.23

Von solchem Interesse Martin Luthers an der Einfachheit24 wird von Holl relativ schnell auf einen einheitlichen Sinn der Schrift, auf Eindeutigkeit und eine Ableh­

22 Martin Luther, Resolutiones disputationum de Indulgētiarum virtute, unter conclusio XVIII, nach WA 1, S. 564,  6–9 (zitiert bei Holl, „Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungs­ kunst“, S. 551): probari et meo iudicio non esse licitum credo longeque pessimum usum quibusdam hucusque fuisse servatum, scilicet scripturae sanctae simplicem sensum in aequivocum et dubium dividere; sowie aus einem Brief an den Leipziger Professor Hieronymus Dungersheim von Och­ senfurt aus dem Jahre 1519 (WA.Br 1, Nr. 235, S. 303,  76–79): sed necesse est uno simplici solido sensu theologos muniri contra Satanam. Hoc enim studium mihi est, in hoc et tota contentio contra Eccium, qui multiplicitatem tuetur, quod mihi non placet; und aus der zweiten Psalmenvorlesung, Operationes in Psalmos, von 1519–1521, zu Psalm 8,  7–9: WA 5, S. 280,  36–39: Cum autem scripturae et verbi dei oporteat esse unum, simplicem constantemque sensum, ne (ut dicunt) sacris literis caereum nasum faciamus, Iustum est, Pauli sensum praeferri omnium aliorum patrum sensui, sive Ambrosii, Augustini, Athanasii, Hieronymi; sowie zu Psalm 22,  19: WA 5, S. 644,  2–15: A multis saeculis coepit hoc mysterium iniquitatis operari, ut simplicissimae scripturae simplicissimus sensus in multos divideretur, quod malum Origeni, deinde eius sectatori Hieronymo, sanctis et electis (ut equidem credo) viris, acceptum referri debet. Iam tum enim [2. Cor. 3, 6.] coeperunt etiam electi in errorem duci, ut verbum illud Pauli 2. Cor. 4. ‘Litera occidit, spiritus autem vivificat’ eo torquerent, quod literam historicum, spiritum mysticum sensum appellarent, nimium infoelici aemulatione [Gal. 4,  22  ff.] Apostoli Pauli, qui Gal. 4. allegoriam Abrahae et uxorum eius ponit, sed non literam aut spiritum appellat. Tale quid et Philon (ut Eusebius in Ecclesiastica historia recenset) Christianos Alexandriae fecisse scribit, in qua urbe tunc erat insignis christianorum schola post illam, quae sub Apostolis Antiochiae fuerat. Quorum exemplum Origenes secutus fuisse videtur et de suo addens prolapsus est nimio, donec historicum sensum literalem et fastidiendum et solum spiritualem acceptandum doceret; und WA 5, S. 647,  2. 23 Holl, „Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst“, S. 551. 24 Martin Luther, „Von dem Bapstum zu Rome widder den hochberumpten Romanisten zu Leiptzck“ (1520), WA 6, S. 307,  6–9: „Dan was die schrifft Christo zueygent, das musz man keinem andern zueigen, auff das bestendig bleib die schrifft in einem gewissen, einfeltigen, vntzurtei­ ligen vorstand, darauff sich vnszer glaub on alles wancken muge bawen“.

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nung der Allegorie geschlossen. „Allegorisieren“ bedeutet für Holl einfach: „dem Text […] künstlich andersartige Gedanken aufzudrängen“ und ihn dadurch (der Ausdruck fällt allerdings nicht) zu veruneindeutigen.25 An Stelle der Allegorie beobachtet Holl bei Luther ein „geistliches Verständnis“, das „nicht wie die Alle­ gorie etwas anderes neben dem Buchstaben“ sucht. Dieses Verständnis „dringt in den Buchstaben selbst ein oder richtiger, es dringt durch den Buchstaben hindurch zu der in ihm enthaltenen Sache, ja zuletzt zu dem Sprecher des Worts, zu Gott selbst“.26 Ebeling verfolgt wenige Jahre später unter gänzlich gewandelten politischen Umständen, aber anders als es bei Beutel den Eindruck macht, eine ganz andere Zielsetzung als Holl, nämlich zunächst einmal eine erklärt aktuelle Zielsetzung, die zu Beginn der Arbeit explizit entfaltet wird. Seine Studie will die „heute bren­ nend gewordene hermeneutische Frage klären helfen“. Als hermeneutische Frage wird bestimmt, „wie Christus durch sein Wort gegenwärtig ist“,27 mithin eine – wie Ebeling selbst später einräumt – durch die Theologie von Karl Barth geprägte Frage.28 Er will also die von der Bekennenden Kirche in der ersten These der Theo­ logischen Erklärung von Barmen 193429 festgehaltene fundamentale Aussage, dass die Kirche „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird“, als „das eine Wort Gottes“ nehmen solle, „das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben“, in eine hermeneutische Theorie fassen und an Luthers Evangelienauslegung historisch, aber mit prakti­ scher Abzweckung konkretisieren. Gleichzeitig ist es Ebeling aber auch um eine gleichsam objektivierte, gründliche Analyse der Quellentexte zu tun. Daher muss er (durchaus gegen Holl) festhalten, dass „Anwendung bzw. Nichtanwendung allegorischer Auslegung“ für Luther „zu einem gewissen Teil situationsbedingt war“, „Luther Allegorese bis zuletzt grundsätzlich für möglich hielt“ und sie nur allmählich und vor allem in seinen Predigten nach und nach preisgab.30 Von

25 Holl, „Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst“, S. 550. 26 Ebd., S. 557. 27 Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, S. 9. 28 Ebeling, „Mein theologischer Weg“, S. 16. 29 Diese Erklärung ist online verfügbar unter: https://www.ekd.de/11294.htm (zuletzt abgerufen: 16.03.2021). Eine ausführliche historische und systematische Kommentierung der Erklärung hat der Theologische Ausschuss der Evangelischen Kirche der Union vorgelegt, knapper (mit ent­ sprechenden bibliographischen Angaben): Martin Heimbucher/Rudolf Weth (Hrsg.), Die Barmer Theologische Erklärung: Einführung und Dokumentation, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Ver­ lag, 72009; sowie Carsten Nicolaisen, Der Weg nach Barmen. Die Entstehungsgeschichte der Theologischen Erklärung von 1934, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1985. 30 Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, S. 88.

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einer grundsätzlichen Überwindung der Allegorie und des vierfachen Schrift­ sinns ist bei Ebeling im Unterschied zu Holl gar nicht direkt die Rede. Anders als Holl schiebt Ebeling, bevor er Luthers Gründe für eine allmähliche (und, wie man gleich sagen muss, inkonsequente) Preisgabe des vierfachen Schriftsinns anführt, zunächst im dritten Kapitel eine Geschichte der Auslegung nach dem vierfachen Schriftsinn bei Origenes, Augustinus und Nikolaus von Lyra in der Glossa ordinaria dazwischen.31 Diese Geschichte dient ihm dazu, den Gegensatz zwischen Luther und der Tradition deutlich zu nivellieren. Ebeling lässt nämlich keinen Zweifel daran, dass insbesondere in der spezifischen Form scholastischer Hermeneutik, wie sie die Glossa prägt, an der fundamentalen Bedeutung des historischen Schriftsinnes gar nicht zu deuteln ist.32 Auch die allmähliche Preis­ gabe des vierfachen Schriftsinnes bei Luther verbindet Ebeling mit der Tradition, genauer mit der Hermeneutik des Augustinus und der exegetischen Praxis der Evangelienauslegung bei Nikolaus von Lyra,33 so dass der von Holl konstatierte „Fortschritt der Auslegungskunst“ an dieser Stelle des Vergleichs eher marginal ausfällt (diese differenzierte Betrachtungsweise bei Ebeling wird oft in knappen Zusammenfassungen seiner Dissertation unterschlagen und die Untersuchung tatsächlich nur als ausführlich dokumentierter Nachweis für die Überwindung des vierfachen Schriftsinns im Sinne der These von Karl Holl präsentiert). Ent­ scheidend ist für Ebeling als „Fortschritt der Auslegungskunst“ an Luthers Her­ meneutik vielmehr ein neuer exegetischer Skopus, das „Jesus Christus allein“, die christologische Konzentration, die diese historische Analyse natürlich pfeil­ gerade mit der Stoßrichtung der eben erwähnten ersten These der Theologischen

31 Die Editionslage dieses viel genutzten Werks ist kompliziert  – der Abdruck bei Migne, PL 113/114 (fälschlicherweise Walafrid Strabo zugeschrieben) repräsentiert eine späte Texttradi­ tion; die erste gedruckte Edition liegt im Faksimile mit einer informativen Einleitung vor: Biblia latina cum glossa ordinaria. Facsimile Reprint of the Editio Princeps (Adolph Rusch of Strassburg 1480/81), 4 Bde., mit einer Einleitung von Karlfried Froehlich und Margaret T. Gibson, Turnhout: Brepols, 1992. Einzelne, teilweise auch erst im Entstehen begriffene kritische Editionen finden sich auf: http://glossae.net/en/content/project-electronic-edition-glossa-ordinaria-bible (letzter Zugriff: 02.10.2020). 32 Vgl. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, S. 134. 33 Ebd., S. 190. – Vgl. zum gegenwärtigen Forschungsstand aus einer Fülle einschlägiger Lite­ ratur: Cornelius Mayer, „Prinzipien der Hermeneutik Augustins und daraus sich ergebende Probleme“, abrufbar unter: https://www.augustinus.de/einfuehrung/texte-ueber-augustinus/ zeitungsartikel-vortraege/196-prinzipien-der-hermeneutik (letzter Zugriff: 18.03.2021), sowie Wolfgang Bunter, Rabbinische Traditionen bei Nikolaus von Lyra. Ein Beitrag zur Schriftauslegung des Spätmittelalters (= Judentum und Umwelt/Realms of Judaism, Bd. 58), Bern: Peter Lang, 1994.

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Erklärung von Barmen verbindet.34 Um Eindeutigkeit, die Holl so wichtig war, geht es hier höchstens indirekt. Es verwundert angesichts solcher Koinzidenzen zu zeitgenössischen Theo­ logumena der Bekennenden Kirche auch nicht, dass nach Ebeling die allmähliche und inkonsequente Preisgabe des vierfachen Schriftsinnes bei Luther mit theo­ logischen Auseinandersetzungen zu tun hat – also exakt mit Auseinandersetzun­ gen, wie sie die Endphase seiner Studienzeit, von Vikariat und Predigerseminar, aber natürlich auch die Zeit der Arbeit an der Dissertation, prägten: Luther verwarf nämlich die Allegorese nach Ebeling nie grundsätzlich, aber er gab sie preis, weil theologische Gegner, beispielsweise die, die er „Schwärmer“ nannte, sie gern ver­ wendeten und er sich gegen diese „Schwärmer“ zur Wehr setzen wollte. Ebenso war es ihm im Kampf gegen die römische Sakramententheologie nach 1519/1520 um Eindeutigkeit bei der Schriftargumentation zu tun, im Streit mit Erasmus von Rotterdam 1524/1525 und in der Zurückweisung der Abendmahlslehre Zwinglis 1529.35 Man könnte also bei der heutigen Interpretation der Befunde, die Ebeling im Rahmen seiner Dissertation erarbeitet hat, eher von einer taktischen Zurück­ haltung Luthers gegenüber einer Theorie multipler Schriftsinne sprechen, um im Kampf mit Gegnern – Katholiken, Schwärmern, Humanisten und Sakramentie­ rern in der Terminologie des Reformators, die Ebeling aufgreift – Eindeutigkeit zu vermitteln und sich auf Eindeutigkeit stützen zu können. Eine Implikation dieser These, die Ebeling allerdings nicht explizit macht, ist natürlich auch die Genreund Kontextabhängigkeit dieser Zurückhaltung gegenüber multiplen Schriftsin­ nen bei Luther. Ebeling akzentuiert im theologischen Kampf seiner Ausbildungsjahre Luthers „Fortschritt der Auslegungskunst“, das taktisch motivierte Verschwinden einer Auslegung biblischer Texte nach multiplen Schriftsinnen und die Vereindeuti­ gung seiner Interpretation biblischer Passagen – vermutlich, weil es auch Ebeling in diesen Auseinandersetzungen um Eindeutigkeit des biblischen Zeugnisses und nicht um multiple Sinne autoritativer biblischer Texte ging. So kann man vermuten, denn in der „Zielsetzung“ zu Beginn seiner Dissertation ist von „Eindeutigkeit“ gar nicht die Rede und das Stichwort fällt im ganzen Buch nicht.36

34 Ebeling räumt im Nachwort (1991), S.  555, ein, dass er gelegentlich „allzu dogmatistisch ver­einfachend gedacht und formuliert“ habe. Ob er auch die entsprechenden Passagen damit meinte, muss offenbleiben. 35 Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, S. 357. 36 Vgl. aber auch Gerhard Ebeling, „Die Anfänge von Luthers Hermeneutik“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche  48 (1951), S.  172–230 (=  ders., Lutherstudien  1, Tübingen: Mohr Siebeck, 1971, S. 1–68).

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Blickt man heute, rund 80 Jahre nach der Abfassung, auf diese Untersuchung zur Hermeneutik Luthers, so fällt nochmals ihre (vom Verfasser auch gar nicht verschwiegene) Zeitgebundenheit auf. Eine nüchterne Analyse der Bibelinter­ pretationen Luthers seit 1515 würde noch auf ganz andere Motive führen, die bei ihm für ein gewisses, eher praktisch motiviertes, niemals grundsätzlich argu­ mentiertes oder gar konsequent durchgezogenes Zurücktreten der Auslegung nach dem vierfachen Schriftsinn verantwortlich sind. Ebeling bietet durchaus in seiner umfangreichen Arbeit die einschlägigen Passagen aus dem reichen Oeuvre Luthers, an denen man heutigentags diese Motive noch präziser rekonstruieren könnte. Aber diese Passagen sind sozusagen untergepflügt unter seine Thesen. Man erkennt zum Beispiel an der Kommentierung des Galaterbriefs, die Luther 1519 vortrug37 und die Ebeling selbstverständlich zitiert,38 dass die Kritik am vierfachen Schriftsinn viel stärker von einzelnen biblischen Passagen motiviert war, als Ebeling 1938 aufgefallen ist. Außerdem spielt die Kritik der bibelhuma­ nistischen Lehrer (um einen Terminus von Helmar Junghans zu verwenden39), die Luther in Erfurt während seiner Studien- und Dozentenjahre geprägt haben, eine nicht unwichtige Rolle; diese Prägung Luthers fehlt aber bei Ebeling noch vollkommen. Luther übte an einer mechanistischen Anwendung des vierfachen Schriftsinns insofern Kritik, als er – in der Vorlesung über den Galaterbrief von 1519, bei der Besprechung der Auslegung der beiden Frauen Abrahams als der beiden Bundesschlüsse in Kapitel 4 – sowohl die Normativität dieser Auslegungs­ technik bestritt (da ja Paulus selbst schon die Passage genügend ausgedeutet hatte)40 als auch dieser Auslegungsmethode vorwarf, grammatisch-rhetorische Figuren, hermeneutische Kategorien und homiletische Techniken in eine Regel

37 Vgl. WA 2, S. 436–618, und die unten Anm. 45 zitierte Literatur. 38 Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, S. 286. 39 Vgl. Helmar Junghans, Der junge Luther und die Humanisten (= Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 8), Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1984, S. 187–193. 40 Comm. in Gal.  4,  24 (WA  2, S.  550,  21–35): Habentur in usu quatuor sensus scripturae, quos literam, tropologiam, allegoriam, anagogen vocant, ut Hierusalem iuxta literam Civitas Iudeae metropolis est, tropologicos conscientia pura vel fides, allegorice ecclesia Christi, anagogice coelestis patria. Ita Isaac et Ismael hoc loco literaliter filii duo Abrahae, allegorice duo testamenta seu synagoga et ecclesia, lex et gratia, tropologice caro et spiritus seu virtus et vitium, gratia et peccatum, anagogice gloria et poena, coelum et infernus, immo aliis angeli et daemones, beati et damnati. Permittatur sane is ludus iis, qui volunt, modo ne assuefiant aliquorum temeritati, scripturas pro libidine lacerare et incertas facere: quin potius ad capitalem legitimumque sensum haec velut accessoria ornamenta adiiciunt, quibus vel oratio locupletius ornetur aut exemplo Pauli rudiores velut lactea doctrina mollius foveantur, non autem in contentionibus pro stabilienda fidei doctrina proferantur. Nam ista quadriga (etsi non reprobem) non scripturae autoritate nec patrum usu nec grammatica satis ratione iuvatur.

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zu zwingen.41 Was Paulus im Galaterbrief angewendet hatte, erinnerte Luther eher an die zweistufige Differenz von „Geist“ und „Buchstabe“ oder „Geist“ und „Fleisch“, wie sie der Augustinermönch Luther von seinem Ordenspatron Augustinus her kennt.42 Immer wieder warnt Luther auch einfach nur vor einer unprofessionellen Anwendung der Allegorese, die den Bezug zu einer biblischen Passage verliert: […] denn ich hab droben gesagt, wo man nitt ausz dem newen testament der figurn deutung klerlich finden kan, soll man sich nitt drauff bawen, denn der Bosze geyst ist ein meyster auff figur deutten auszer der schrifft, wo er eyn seele ergreyfft, das sie deutet on grund der schrifft unnd drauff bawet, die kan er hyn und her werffen wie eyn wurffel, wilchs er nit thun mag, wo grund der schrifft da ist, odder alszo deuttet wirt, das man nit drauff sich bawet. Wilcher vorfurischer deuttung er fast viel ym Geistlichen recht und Schul lerer auff­ bracht hat. Alsz da sie den Bapst durch die Szonne, den Keyser durch den Mon deutten. Wo nu nitt klar schrifft ist furhanden, ist die deuttung die best und nehist, da die gleychnisz am besten sich reymen. Alszo doch, das die figur leyplich unnd die deuttung geystlich sey, was were es szonst fur ein figur und deuttung, szo sie beyde leyplich und euszerlich weren? Gleych wie die thun, die durch den hohen priester ym gesetz deutten den Bapst, die alle beyde leyplich unnd euszerlich sind.43

Sabine Hiebsch hat in einer Amsterdamer Dissertation aus dem Jahre 2000 nicht nur darauf hingewiesen, dass Ebeling zu wenig zwischen figura und allegoria sowie Allegorese differenziert, sondern zudem gezeigt, dass die scheinbar stren­ gen Duale von „geistlich“ und „leiblich“ doch erheblich differenzierter verwen­

41 Comm. in Gal.  4,  24 (WA  2, S.  551,  4–15): Deinde sancti patres allegoriam grammatice una cum aliis figuris tractant in sacris literis, sicut abunde docet beatus Augustinus in lib. De doctrina Christiana. Atque Anagoge non tam figuram propriam quam generalem dictorum conditionem si­ gnificat, hoc est: Anagoge dicitur, quoties in recessu et in separato aliud intelligi potest quam sonat, unde et reductio interpretatur, quod et Allegoria significat, id est alieniloquium, hoc est, ut beatus Hieronymus ait, aliud praetendit in verbis, aliud significat in sensu. Tropologiam sermonem de moribus esse convenit, quam aliquando esse allegoriam nihil obstat, dum scilicet aliud dicitur, sub quo mores boni aut mali significantur. Liber igitur patrum usus in his nominibus videtur anxietate quadam in captivitatem huius quadrupli coactus, sicut et multa alia temere distinxerunt multi, quae et re et voce idem sunt. 42 Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, S. 286–289. 43 Luther, „Evangelium von den zehn Aussätzigen“ (1521), WA 8, S. 386,  16–30. – Den Aspekt, dass Willkür des Auslegers in jedem Falle vermieden werden soll, hebt auch hervor: Notger Slenczka, „Rezeptionsästhetik und Schriftprinzip. Bemerkungen zu einem ambivalenten Ver­ hältnis“, in: Markus Witte/Jan C. Gertz (Hrsg.), Hermeneutik des Alten Testaments (= Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, Bd. 47), Leipzig: Evangelische Ver­ lagsanstalt, 2017, S. 144–165, hier: S. 158–160, der allerdings wie Holl die Bedeutung multipler Schriftsinne bei Luther unterschätzt.

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det werden, als es nach Ebeling scheint44 – und dies durchaus im Einklang mit spätmittelalterlichen Traditionen. Wir können diese Beobachtungen aber hier nicht ausführlicher verhandeln, sondern nur auf diese Arbeit und weitere neuere Untersuchungen zu Luthers Hermeneutik hinweisen.45 Sie machen allerdings noch einmal deutlich, dass die Reduktion multipler Sinne der Heiligen Schrift für Luther eher taktische und genrebedingte Gründe hatte und keineswegs als ein Zeichen für eine simplifizierende Hermeneutik genommen werden darf oder als ein naives Übersehen der multiplen Schriftsinne und insofern gar als eine proto-fundamentalistische Hermeneutik fehlgedeutet werden sollte. Um unsere Beobachtungen zu Ebeling sehr pointiert zusammenzufassen: Entsteht dieser Eindruck einer naiven Simplifizierung, dann verrät er eher etwas über die zeitge­ schichtliche Kontextualisierung der Arbeit Ebelings im antitotalitären Kampf der Bekennenden Kirche, als dass er Einblicke in die Hermeneutik Luthers gibt. Eine Gleichung zwischen einfachem Schriftsinn, Eindeutigkeit der Heiligen Schrift und einer grundsätzlichen, theologisch bedingten Überwindung der Allegorese wie bei Holl darf man schon gar nicht herstellen. Als Beispiel für eine „Wut des Verstehens“, die einer Suggestion vorgeblicher Eindeutigkeit biblischer Texte erlegen ist, sollte man weder die Hermeneutik von Martin Luther noch seine Aus­ legungspraxis anführen. Dafür ist sie viel zu differenziert; neben der Eindeutig­ keit sind immer die multiplen Schriftsinne im Blick.

3 Henri de Lubac und die Geschichte der ­geistlichen Schriftauslegung Der französische Jesuit Henri de Lubac hatte 1929, als Ebeling sein Studium abzu­ schließen begann, schon seine Antrittsvorlesung als Professor für systematische Theologie an der Theologischen Fakultät Lyon, einem Teil der autonomen katho­

44 Sabine Hiebsch, Figura Ecclesiae: Lea und Rahel in Martin Luthers Genesispredigten (= Arbeiten zur Historischen und Systematischen Theologie, Bd. 5), Münster u.  a.: Lit, 2002, S. 106  f. – Vgl. auch Volker Leppin, „Der Verlust des Menschen Luther. Zu Ebelings Lutherdeutung“, in: Journal of Early Modern Christianity 1 (2014), S. 29–50. 45 Zum Beispiel: Kenneth Hagen, Luther’s Approach to Scripture as Seen in His „Commentaries“ on Galatians, 1519–1538, Tübingen: Mohr Siebeck, 1993; Johann Anselm Steiger, „Martin Luthers allegorisch-figürliche Auslegung der Heiligen Schrift“, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 110 (1999), S. 331–351; Markus Wriedt, „Nisi scripturae dederimus principem locum. Zur Hermeneutik des Alten Testaments bei Martin Luther und im Zeitalter der Reformation“, in: Markus Witte/Jan C. Gertz (Hrsg.), Hermeneutik des Alten Testaments, S. 111–132.

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lischen Universität der Stadt, gehalten.46 Er wurde 1896 in Cambrai als Kind einer frommen katholischen Familie geboren und erhielt seine Ausbildung auf religiösen Schulen in Bourg-en-Bresse und Lyon sowie auf den Jesuitenkollegien Mongré und Moulins-Bellevue. De Lubac studierte anschließend zunächst Jura in Lyon und trat zudem noch als Jugendlicher 1913 in die Gesellschaft Jesu ein, deren Noviziat sich zu dieser Zeit  – wegen der antiklerikalen Gesetzgebung in Frankreich  – in St.  Leonards-on-Sea, England befand. Zum Priester wurde er 1927 geweiht und legte die ewige Profess 1931 ab. Nachdem er 1914 als Soldat eingezogen und im Ersten Weltkrieg am Allerheiligentag 1917 schwer verwundet worden war, behinderten ihn beim Studium der Theologie und Philosophie in den zwanziger Jahren Schwindelanfälle durch Ohren- und Kopfschmerzen. Von 1919 bis 1920 studierte er am „St. Mary’s College“ in Canterbury, von 1920 bis 1923 Phi­ losophie im „Maison Saint-Louis“ auf der Kanalinsel Jersey, wo er Freundschaft mit Pierre Teilhard de Chardin schloss und Maurice Blondel las.47 Von 1924 bis 1926 studierte er Theologie im „Seminarium Orense“ in Ore Place, Hastings. Nach der Verlegung des Seminars beendete er bei den Jesuiten in Lyon-Fourvière sein Studium (1926–1928). In den ersten Jahren als Professor begann er, seinen teil­ weise später recht berühmt gewordenen Studenten (wie Hans Urs von Balthasar oder Jean Daniélou) anstelle der klassischen neo-scholastischen Normaltheologie das Studium der antiken christlichen Theologen nahezubringen. 1938 erschien sein erstes Buch, schlicht übertitelt Catholicisme. Les aspects sociaux du dogme.48 Das sechste Kapitel dieses weitestgehend aus Vorträgen und bereits publizierten Texten komponierten Buchs behandelte bereits die Interpretation der Bibel und bereitete die umfangreichen Beiträge zur Geschichte der geistlichen Schriftausle­ gung vor, denen wir uns jetzt zuwenden wollen. Schon in der Erstveröffentlichung sind Methoden und Ergebnisse antiker christlicher und mittelalterlicher Bibel­ auslegung der Schlüssel, Kontingenzen der Geschichte zu deuten mit dem Ziel, sie letztlich zu überwinden49 – hier ist nicht der rechte Ort, diese Gedanken in 46 Jordan Hillebert, „Introducing Henri de Lubac“, in: ders. (Hrsg.), T&T Clark Companion to Henri de Lubac, London u.  a.: Bloomsbury T&T Clark, 2017, S. 3–28; Rudolf Voderholzer, Henri de Lubac begegnen (= Zeugen des Glaubens), Augsburg: Sankt-Ulrich-Verlag, 1999. 47 Henri de Lubac, Meine Schriften im Rückblick, mit einem Vorwort von Christoph Schönborn (=  Theologica Romanica, Bd.  21), Einsiedeln/Freiburg: Johannes Verlag, 1996, S.  24  f. sowie S. 46–54. 48 Henri de Lubac, Catholicisme. Les aspects sociaux du dogme (= Collection Œuvres du Cardinal Henri de Lubac, Bd. 7), Paris: Les éditions du cerf, 2003 (= Glauben aus der Liebe. Catholicisme, übertragen und eingeleitet von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln: Johannes Verlag, 31992). 49 Rudolf Voderholzer, „Dogma und Geschichte. Henri de Lubac und die Wiedergewinnung der historischen Dimension als Moment der Erneuerung der Theologie“, in: Internationale Katholische Zeitschrift 30 (2001), S. 450–467.

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den Zusammenhang antihistorischen Denkens einzuordnen sowie in den Kontext dessen, was Friedrich Wilhelm Graf „antihistoristische Revolution der zwanziger Jahre“50 genannt hat. Nach dem deutschen Angriff auf Frankreich und der Etablierung der Regie­ rung des heute „Vichy-Regime“ genannten État français in Folge des Waffenstill­ standes vom 22. Juni 1940 nahm de Lubac immer deutlicher in Memoranden und Predigten gegen Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus Stellung und hielt wie viele Mitbrüder in Lyon, „der Hauptstadt des Widerstands“, Kontakt zu jüdischen Autoritäten; 1988 hat er unter dem Titel Résistance chrétienne à l’antisémitisme seine für diese Zeit einschlägigen Erinnerungen aus den Jahren 1940 bis 1944 veröffentlicht, die allerdings auf die Mitteilung von Ereignissen aus dem eigenen Leben weitgehend verzichten. Aus diesen Erinnerungen wird deut­ lich, dass die Regierung von Marschall Pétain römisch-katholische Autoritäten gegen die in ihren Augen renitente französische Kirche in Stellung zu bringen versuchte.51 Die Renitenz von de Lubac hatte (wie trotz aller autobiographischen Zurückhaltung durchaus deutlich wird) ähnlich wie das Engagement von Ebeling eine innerkirchliche Dimension, aber stärker als bei Ebeling auch eine allgemeine politische Dimension. Immer wieder musste sich der mutige Jesuit seit 1943 verste­ cken, um nicht verhaftet zu werden; er engagierte sich persönlich bei der Rettung von Juden vor den deutschen Greiftrupps.52 Wichtig ist, dass – wie de Lubac selbst anmerkt – die Bibel in dieser Situation Orientierung gab (auch kritisch über die Traditionen des falschen Gehorsams gegenüber der Obrigkeit orientierte), inso­ fern aber auch – ganz analog wie bei Ebeling – die Frage der Auslegung der Bibel drängend wurde. Auch hier kann man also sehr deutlich einen Hintergrund der Untersuchungen zur theologischen Hermeneutik im totalitären Staat erkennen.

50 Friedrich Wilhelm Graf, „Die antihistoristische Revolution in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre“, in: Jan Rohls/Gunther Wenz (Hrsg.), Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre. Festschrift zum 60.  Geburtstag von Wolfhart Pannenberg, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1988, S. 377–405; ders., „Geschichte durch Übergeschichte überwinden. Antihistoristisches Geschichtsdenken in der protestantischen Theologie der 1920er Jahre“, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hrsg.), Geschichtsdiskurs, Band 4: Krisenbewusstsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880–1945, Frankfurt/M.: Fischer, 1997, S. 217–244. 51 Vgl. Henri de Lubac, Christian Resistance to Anti-Semitism. Memories from 1940–1944, übers. von Elizabeth Englund, San Francisco: Ignatius Press, 1990, bes.: S. 74–78. – In diesem Buch ist auf S. 66–68 der Text einer Erklärung der Katholischen Theologischen Fakultät Lyon gegen Antisemitismus und Judenverfolgung veröffentlicht, der von dem Alttestamentler Abbé Joseph Chaine, de Lubac, dem Dogmatiker Louis Richard und Joseph Bonsirven (einem Priester in dem Fourvière-Seminar) verfasst wurde. Er wurde anonym seit dem 17. Juni 1941 verteilt. 52 Vgl. Lubac, Christian Resistance to Anti-Semitism, S. 126  f. u. ö.

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Wichtig ist aber, dass de Lubac auch den Neuthomismus, die herrschende Form römisch-katholischer Universitätstheologie, als „Diktatur“ bezeichnete (jeden­ falls ex post 1989).53 Irgendwann in den dreißiger Jahren des 20.  Jahrhunderts entdeckte Henri de Lubac Origenes, den ersten christlichen Universalgelehrten der Antike, und begann zunächst dessen in lateinischen Übersetzungen überlieferte Schriften zu lesen, dann auch  – etwas langsamer aufgrund mangelnder Kenntnisse der Sprache – die im griechischen Original erhaltenen.54 Da vor allem die spätanti­ ken lateinischen Übersetzungen von Schriften des Origenes viele Bibelexegesen in Form von Homilien und Kommentaren enthalten,55 wendete de Lubac seine grundsätzlichen Einsichten über den geschichtlichen Charakter der christlichen Religion nun auf sein Verständnis dieser bibelexegetischen Passagen an. Er ver­ stand diese nicht als simple Anwendung der paganen alexandrinischen Kommen­ tarphilologie, wie sie im Hellenismus für die Schriften Homers und der griechi­ schen Tragiker entwickelt und schon von jüdisch-hellenistischen Autoren auf die Bibel angewendet worden war, auf den christlichen heiligen Text, sondern als besondere Form einer geistlichen Schriftauslegung. Wie Ebeling Luthers Praxis der Bibelhermeneutik als geistliche Auslegung und übertragende applicatio interpretiert, hebt auch de  Lubac auf die existentielle Dimension der antiken christlichen Bibelauslegung ab, durchaus im Unterschied beispielsweise zu der Deutung dieses Kirchenvaters in den einschlägigen Untersuchungen und Stan­ dardlehrbüchern der deutschen protestantischen Theologen, wie z.  B. Adolf von Harnack oder Friedrich Loofs.56 Allerdings besteht Ebeling darauf, diese geistliche Auslegung Luthers von der klassischen antiken sowie mittelalterlichen Allegorese zu trennen, und erwägt nur, „ob man diese notwendige geistliche Übertragung noch Allegorese nennen soll oder nicht“.57 Die Antwort verschiebt er aber auf eine spätere Untersuchung. De Lubac identifiziert dagegen Allegorese, vierfachen

53 Vgl. Lubac, Meine Schriften im Rückblick, S. 140. 54 Vgl. ebd., S. 195–199. 55 Zu Origenes vgl. meine gesammelten Beiträge in: Christoph Markschies, Origenes und sein Erbe. Gesammelte Studien (= Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, Bd. 160), Berlin/New York: de Gruyter, 2007; eine Übersicht über die Übersetzungen der Werke des Origenes bei Hermann Josef Vogt, „Origenes“, in: Siegmar Döpp/Wilhelm Geerlings (Hrsg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg u.  a.: Herder, 32002, S. 528–536. 56 Vgl. Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3 Bde., Darmstadt: Wissenschaftli­ che Buchgesellschaft, 2015 (= Nachdruck der 4. Aufl. aus dem Jahr 1904, mit einem Vorwort von Christoph Markschies); Friedrich Loofs, Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte, hrsg. von Kurt Aland, Tübingen: Niemeyer, 71968 (= Nachdruck der 4. Aufl. aus dem Jahr 1906). 57 Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, S. 447.

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Schriftsinn und geistliche Auslegung ganz pointiert und wendet sich gegen das Vorurteil, darin nur mehr „fromme, bedeutungslose Phantasie, Notbehelf eines vorkritischen Zeitalters oder einen alten Mythologien nachgestalteten allegori­ schen Rationalismus“58 zu erblicken. Allerdings hat auch der französische Jesuit seine Schwierigkeiten mit dem Terminus „Allegorese“ und bevorzugt den Termi­ nus „geistliche Schriftauslegung“. De Lubac war im Unterschied zu Ebeling davon überzeugt, dass die Verknüpfung der beiden Testamente durch die geistliche Auslegung nach dem vierfachen Schriftsinn nicht nur „die ganze Geschichte und die ganze Lehre der Kirche beherrscht, vom ersten Jahrhundert an bis in unsere Tage“, sondern er hielt „den geschichtlichen Symbolismus oder die symbolische Geschichte“ für „Wesensmerkmale unseres Glaubens“.59 Die implizite Frage von Ebeling, die sich in jenen Jahren in unterschiedlicher Form ja auch Bonhoeffer und Bultmann stellten,60 ob mit der Neuzeit nicht auch eine Veränderung min­ destens des Charakters religiöser Rede und entsprechend auch der Hermeneutik biblischer Interpretation notwendig sei, stellt sich de Lubac vordergründig nicht. Bevor man aber an dieser Stelle traditionelle Konfessionsdifferenzierungen zwi­ schen katholischer Dogmatik und evangelischer Glaubenslehre aufruft, muss man sich klarmachen, dass die Konzentration auf die Bibelexegese und auf antike wie mittelalterliche Auslegungen ja in Wahrheit ein Protest gegen die als Diktatur empfundene neuthomistische Scholastik war und insofern eine neue religiöse Rede und Hermeneutik biblischer Interpretation darstellte – wenn auch in Form und partiell auch Inhalt einer sehr traditionellen Gestalt von Rede wie Herme­ neutik. Vielleicht kann man etwas überpointiert von einer katholischen Form der Revolution gegen die dominierende Neuscholastik sprechen, der dann die ebenso halbherzige Form der Revolution bei Ebeling zu Vergleichszwecken an die Seite zu stellen wäre. Sogar die Figur der Selbstdurchsetzung des Sinnes biblischer Texte, die Ebeling im Gefolge von Karl Barth und getreu der ersten These der Theologi­ schen Erklärung von Barmen zugrunde legt, findet sich bei de Lubac. Er schließt den vierten Band seiner monumentalen Geschichte der mittelalterlichen Exegese mit einem Zitat aus dem Zweiten Petrusbrief des Neuen Testamentes (in großen Buchstaben und in lateinischer Sprache):

58 Lubac, „Meine Schriften im Rückblick“, S. 310. 59 Ebd., S. 311. 60 Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Vollständige Ausgabe versehen mit Einleitung, Anmerkungen und Kommentaren, Dietrich Bonhoef­ fer Werke, Bd. 8, hrsg. von Christian Gremmels, Eberhard Bethge und Renate Bethge in Zusam­ menarbeit mit Ilse Tödt, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1998; Rudolf Bultmann, „Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?“ (1925), in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Tübingen: Mohr Siebeck, 1933, S. 26–37.

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Umso fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbricht und der Morgen­ stern aufgeht in euren Herzen. Und das sollt ihr vor allem wissen, dass keine Weissagung in der Schrift aus eigener Auslegung geschieht. Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht worden, sondern getrieben vom Heiligen Geist haben Menschen in Gottes Auftrag geredet. (2 Petr. 1,  19–21)

Im Unterschied zu einer Gliederung der 500-seitigen Monographie von Gerhard Ebeling ist es hier und jetzt natürlich nicht möglich, auch die vier Bände der Geschichte der mittelalterlichen Exegese, die Henri de Lubac nach Vorarbeiten seit den dreißiger Jahren in erstaunlich kurzer Folge von 1959 bis 1963 publizierte, im Folgenden ausführlicher vorzustellen, zumal diesbezüglich eigentlich noch die 1950 publizierte Monographie Geist aus der Geschichte. Das Schriftverständnis des Origenes hinzuzunehmen wäre.61 Im Kern wechseln eher systematische Zugriffe und chronologisch geordnete Passagen zu einzelnen Autoren, alles jeweils cha­ rakterisiert von stupender Kenntnis der theologischen Literatur der Väterzeit und des Mittelalters. Für eine Rezension der englischen Übersetzung dieser Bände habe ich deren Inhalt vor einiger Zeit wie folgt zusammengefasst:62 [Der erste Band beginnt mit einer grundsätzlichen Einleitung], wo der oft zitierte Merkvers littera gesta docet […] auf einen meist nicht mitzitierten und kaum bekannten Autor, Augus­ tinus de Dacia, zurückgeführt wird (Bd. 1, 1–44). Zu den wichtigsten Kapiteln des ersten, eher systematischen Hauptteils des Bandes gehört der Nachweis, dass die systematisierte Fassung eines vierfachen Schriftsinnes (die Antike kennt eher drei Sinne und auch diese kaum als Standardalternativen für jeden Bibeltext) im 12. Jh. breiter bezeugt ist, aber mittelalterliche wie antike Vorgänger zu konstatieren sind (Bd. 1, 90–96). Es folgen dann historische Abschnitte zu den (angeblichen) patristischen Ursprüngen bei Clemens von Alexandrien und Augustinus, Gregor, Cassian und Eucherius sowie natürlich zu den realen Ursprüngen bei Origenes und seinen unmittelbaren lateini­ schen Fortsetzern (Bd. 1, 117–159). Ein weiterer Abschnitt beschäftigt sich mit der lateini­ schen Origenes-Rezeption des Mittelalters (Bd. 1, 161–224). Der zweite Band führt in die unterschiedlichen Typen und Begriffe für biblische Schriftsinne ein, beginnt zu diesem Zweck bei Paulus und durchmisst die Antike (Bd. 2, 1–39). Es folgen Abschnitte zum Literalsinn (Bd. 2, 41–82), zur Allegorie (Bd. 2, 83–125), zur Tropologie (Bd. 2, 127–177) und zur Anagogie (Bd. 2, 179–226), die jeweils den Ausgang bei Origenes nehmen. Der dritte Band fragt dann aufgrund von einzelnen Abschnitten zu bestimmten Autoren, ob

61 Henri de  Lubac, Geist aus der Geschichte. Das Schriftverständnis des Origenes, übers. und ein­ge­leitet von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln: Johannes Verlag, 1968 (= Histoire et Esprit. L’intelligence de l’Écriture d’après Origène, Paris: Aubier, 1950). 62 Christoph Markschies, „Rez. Henri de Lubac, Medieval Exegesis. The Four Senses of Scripture, Vol. 3, transl. by E. M. Macierowski, Grand Rapids/Cambridge: Eerdmans 2009“, in: Theologische Literaturzeitung 135 (2010), Sp. 847–849.

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es im 12. Jh. eine erste programmatische Abwendung von der Lehre des vierfachen Schrift­ sinnes gab, diese letztlich auf Hieronymus zurückgeht und bereits im 11. Jh. Vorläufer hatte: Berno, 1008–1048, Abt der Reichenau, wird als einer der wichtigen Vorläufer der Viktoriner (Bd. 3, 1–71) porträtiert, Paschasius Radbertus (Bd. 3, 147–155) ebenso untersucht wie natür­ lich Hugo von St. Viktor (Bd. 3, 211–267) und die Viktoriner (Bd. 3, 269–326); der Vf. zeigt, dass auch die Viktoriner Schrift vor dem Hintergrund der klassischen Unterscheidung in einen buchstäblichen und einen geistlichen Sinn unterscheiden. Der Sonderfall Joachim von Fiore beschließt den dritten Band der englischen Übersetzung (Bd. 3, 327–419), der dem ersten Teil des zweiten französischen Bandes entspricht. Es ist also noch ein Band der eng­ lischen Übersetzung zu erwarten (Bd. 4 = 2/2).

Hans-Josef Klauck hat in einer Rezension einer deutschen Auswahl aus dem Werk davon gesprochen, dass „Seite um Seite der Leser förmlich bombardiert“ werde „mit Ketten von längeren und kürzeren Zitaten aus teils bekannten (immer wieder Origenes, daneben Augustinus), teils völlig unbekannten Autoren, die irgendwo in den Tiefen der Patrologia Latina mit ihren zahlreichen Bänden ein verborgenes Dasein führen. […] Dieses extensive Zitieren hat aber auch Folgen für den Stil: Der Duktus der Ausführungen von de Lubac wirkt oft weniger argumentativ, sondern mehr affirmativ, nicht selten geradezu beschwörend. Der Aneignung seines Denkens und der Auseinandersetzung damit dürfte das im Wege stehen.“63 Man könnte auch etwas pointierter davon sprechen, dass die für die Recherche angelegten Zettelkästen relativ komplett in das vierbändige Werk übernommen wurden – auch das verbindet de Lubac dann wieder mit Ebeling. Natürlich bestehen auch direkte Unterschiede – insbesondere in der Art, wie mit dem Konzept eines multiplen Sinnes der biblischen Schriften umgegangen wird, wie er sich im Modell eines vierfachen Schriftsinnes findet, der erst im Mittelalter überhaupt systematisiert wird; Origenes vertritt noch eine dreifache Gliederung der Schriftsinne und de Lubac beschreibt sehr präzise die Entwick­ lung vom einen zum anderen Konzept. Bemerkenswerterweise betont de Lubac aber schon in seinem Buch über das Schriftverständnis des Origenes, dass die allegorische Schriftauslegung, die sich der Idee eines multiplen Schriftsinns ver­ dankt, weit davon entfernt sei, „die geschichtliche Grundlage des Glaubens anzu­ tasten“, ja dass sie dem christlichen Glauben erst seinen „wesentlich historischen Charakter“ verleiht, „der dem christlichen Glauben selbst entspricht“.64 Entspre­ chend heißt es auch im Vorwort des ersten Bandes der Geschichte der mittelalter­

63 Hans-Josef Klauck, „Rez. Henri de Lubac, Typologie – Allegorie – geistiger Sinn. Studien zur Ge­ schichte der christlichen Schriftauslegung. Aus dem Franz. übertr. und eingel. von R. Voderholzer (= Theologia Romanica, Bd. 23), Freiburg: Johannes Verlag Einsiedeln 1999“, in: Theologische Literaturzeitung 125 (2000), Sp. 1125–1127, hier: Sp. 1125. 64 Lubac, Geist aus der Geschichte, S. 448.

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lichen Exegese, dass geistliche Auslegung „eine ganze Theologie der Geschichte“ enthalte, „weil es die Offenbarung um ein konkretes Zentrum organisiere, das in Zeit und Raum fixiert ist durch das Kreuz Jesu Christi“.65 Im Unterschied zu Ebeling unterscheidet de Lubac die augustinische Differenzierung von Geist und Buchstabe, die sich ja auch bei Luther findet, nicht von der Auslegung nach drei oder vier Schriftsinnen und trennt schon gar nicht kategorial, sondern sieht in der theologischen Unterscheidung von Fleisch und Geist, die Paulus im Galater­ brief einführt (Gal. 4,  24), die theologische wie historische Grundlage einer Unter­ scheidung mehrfacher Schriftsinne:66 Die ganze Schrift erscheint durch Christus in einem neuen Licht, und dieses neue Licht wird im geistlichen Schriftsinn sicht­ bar, nicht im buchstäblichen Sinn. Geistliche Auslegung ist also eine der Neuheit des Christus-Ereignisses entsprechende Form des geistlichen Umgangs mit der Bibel, in dem sich diese Neuheit existenziell erschließt. Auch ohne ausführliche Vergleiche ist deutlich, dass es bei de Lubac eben­ falls ein Konzept der Vereinheitlichung gibt, aber nur begrenzt ein Programm der Vereindeutigung: Im geistlichen Schriftsinn werden die beiden Testamente von Christus her als Einheit gesehen, fallen vergangenes und gegenwärtiges Heils­ handeln ineinander, ist ein vergangenes Ereignis heute zu meinem Heil gesche­ hen. Und doch ist es wie bei Ebeling keine naive Einheit, sondern eine Einheit, die durch ein höchst differenziertes Modell von Schriftsinnen als Einheit unter Differenzen expliziert wird. Wenn man so will, als Eindeutigkeit unter Unein­ deutigkeiten. Manches spricht dafür, dass de  Lubac dieses Konzept von differenzierter Einheit und Eindeutigkeit inmitten von Uneindeutigkeiten so entwickeln konnte, weil er gegen die Diktatur der neuthomistischen Neoscholastik ebenso protes­

65 Lubac, Medieval Exegesis, Vol. I, S. XIX: „Now this ‚complete act‘ that is ancient Christian exegesis is a very great thing. The more it is studied, the more apparent are its broad field of vision, the complexity of its implications, the depth of the bedrock on which it is based, and the originality of its structure. With its varied panoply of nuances, it throws into relief ‚the prodigious newness of the Christian fact‘. It sets up an often subtle dialectic of before and after. It defines the relationship between historical reality and spiritual reality, between society and the indivi­dual, between time and eternity. It contains, as one might say today, a whole theology of history, which is connected with a theology of Scripture. It organizes all of revelation around a concrete center, which is fixed in time and space by the Cross of Jesus Christ. It is itself a complete and completely unified dogmatic and spiritual theology. It found expression not only in literature, but in art, evincing a marvelous power and fecundity. In brief, this ancient form of Christian exegesis is something quite other than just an ancient form of exegesis. It forms ‚the thread‘ of Christian literature and Christian art. It constitutes, in one of its essential aspects, ancient Christian thought.“ 66 Lubac, Medieval Exegesis, Vol. II, S. 15  f.

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tieren wollte wie gegen die Versuche des Vichy-Regimes, den deutschen totalen Staat im unbesetzten Frankreich zu imitieren und ins besetzte Frankreich zu importieren. Wie bei Ebeling sollte man aber die monokausale Erklärung der Thesen mit den Zeitläuften vermeiden, weil beide Autoren eben auch leiden­ schaftliche Jäger und Sammler von Karteikarten mit Quellenbelegen waren. Wenn man Ebeling und de Lubac so zusammenordnet, kann man sich immerhin auf de Lubac berufen – Ebeling scheint das monumentale Werk des französischen Gelehrten nie ausführlicher zur Kenntnis genommen zu haben, aber de  Lubac äußert sich sehr anerkennend über die christologische Konzentration der exege­ tischen Hermeneutik Martin Luthers und hat viel Verständnis für dessen Kritik an übertriebener Allegorese67 – das folgt dem von Ebeling gezeichneten Bild, auch wenn de Lubac seinerseits Ebeling nicht gelesen hat.

4 Die zweite Chicago-Erklärung zur biblischen Hermeneutik und die Problematik der Vereindeutigung Die zweite der drei Chicago-Erklärungen, die von einem 1977 gegründeten „Internationalen Rat für biblische Irrtumslosigkeit“ („International Council on Biblical Inerrancy“, kurz: ICBI) erarbeitet wurden, werde ich abschließend nur sehr kurz als Kontrastfolie heranziehen, damit nicht der Eindruck entsteht, hier läge eine ähnlich gründlich historisch fundamentierte und vergleichbar präzise argumentierte Theorie vor. Ich habe vielmehr den Eindruck, hier läge nun tat­ sächlich jene unreflektierte, naive Sicht nach Vereindeutigung vor, die Hörisch als „Vereinigungsdelirium“ charakterisiert hatte; wobei die gewählte Metaphorik zu den hauptsächlich amerikanischen evangelikalen Theologen, die hinter der Chicagoer Erklärung stehen, sicher nicht passt. Gelegentlich ist „Hermeneutik unter Verdacht“ sinnvoll, aber der Verdacht sollte schon sprachlich präzise und nicht gewalttätig formuliert werden.

67 Lubac, Geist aus der Geschichte, S. 507. Kritik übt de Lubac an der aus seiner Sicht mecha­ nistischen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bei Luther, die zu einer Trennung der beiden Testamente führt – diese Ansicht ist weiter verbreitet (u.  a. bis zu Josef Ratzinger/Bene­ dikt XVI.), aber missversteht Luther – oder besser: folgt denjenigen evangelischen Theologen, die ihn missverstanden haben. Diese Zusammenhänge können wir hier freilich nicht ausführlicher diskutieren.

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Wir konzentrieren uns, wie gesagt, auf die zweite der Erklärungen zur bib­ lischen Hermeneutik aus dem Jahre 1982. Über den genannten „Internationalen Rat für biblische Irrtumslosigkeit“ genügt es zu wissen, dass er vor allem aus amerikanischen evangelikalen Theologen bestand, aber ein Vertreter der freien Evangelikalen Hochschule in Basel als deutschsprachiger Repräsentant Mitglied war (der reformierte Alttestamentler Prof. Dr.  Samuel Külling [1924–2003] von der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule), dass vom Rat Konferenzen durchgeführt und Bücher veröffentlicht wurden und dass er sich nach der Veröf­ fentlichung der drei Erklärungen 1988 wieder auflöste. Den amerikanischen Hin­ tergrund merkt man zum Beispiel daran, dass sich der Rat darüber einig ist, bei Bibelübersetzungen in andere Sprachen „die Erfordernisse der interkulturellen Kommunikation“68 zu berücksichtigen (Artikel 12); man kann darüber grübeln, ob dies 1982 auch schon in Mitteleuropa Teil einer entsprechenden Erklärung hätte sein können. In einem Artikel wird direkt auf eine zentrale Vokabel des großen hermeneutischen Entwurfs von Hans-Georg Gadamer69 Bezug genommen, aber dieser Begriff („Vorverständnis“) vollkommen von Gadamer abweichend ver­ wendet.70 Ob man also tatsächlich hier eine klassische Definition von „Fun­ damentalismus“ in Anschlag bringen kann, wonach er als eine Form theokrati­ scher Anmaßung (Carsten Colpe71) gegenüber der Gesellschaft und Religion als „Symptom unverarbeiteter Moderne“ (Hermann Deuser72) anzusehen ist, wäre noch einmal zu diskutieren. Mir scheint eher eine bewusst einseitige Verarbeitung von Moderne vorzuliegen, jedenfalls dann, wenn man dem Konzept der „multiple modernities“73 folgt. Diese einseitige Verarbeitung wird dann aber religiös absolut gesetzt und unbedingte Geltung eingefordert.

68 Zitiert nach: Schirrmacher (Hrsg.), Bibeltreue in der Offensive?!, S. 35. 69 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen: Mohr Siebeck, 72010. 70 Artikel 19: „Wir bekennen, dass jedes Vorverständnis, das der Ausleger an die Schrift heran­ trägt, im Einklang mit der Lehre der Schrift stehen und ihr zwecks Korrektur unterworfen sein sollte“. (Zitiert nach: Schirrmacher [Hrsg.], Bibeltreue in der Offensive?!, S. 36) 71 Vgl. Carsten Colpe/Heike Papenthin (Hrsg.), Religiöser Fundamentalismus: unverzichtbare Glaubensbasis oder ideologischer Strukturfehler?, Berlin: Alektor-Verlag, 1989. 72 So die Definition von Hermann Deuser, „Religion und Politik – zur theologischen Kritik des religiösen Fundamentalismus“, in: Stefan Alkier/Hermann Deuser/Gesche Linde (Hrsg.), Religiöser Fundamentalismus. Analysen und Kritiken, Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag, 2005, S. 1–11, hier: S. 7. 73 Shmuel N. Eisenstadt, „Multiple Modernities“, in: Daedalus 129 (2000), S. 1–30, sowie Gerda Bohmann/Heinz-Jürgen Niedenzu, „Multiple Modernities  – Chancen und Grenzen eines Kon­ zepts“, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 38 (2013), S. 327–332.

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Die zweite Erklärung zur Hermeneutik verrät natürlich, dass sie vor dem Hin­ tergrund einer über zweihundertjährigen Geschichte historisch-kritischer Bibel­ auslegung formuliert wurde, oft aber im Gegensatz und in schroffer Kritik zu dieser Geschichte. Nicht ganz ohne Zufall folgt das literarische Genre der Erklärung der bereits erwähnten Barmer Theologischen Erklärung mit affirmativen Aussagen, auf die Verwerfungen folgen. Die durchaus als ambivalent empfundene Prägung durch die Geschichte der wissenschaftlichen Bibelauslegung ist vielleicht am deutlichsten im 13. Artikel: Wir bekennen, dass ein Bewusstsein für die literarischen Kategorien der verschiedenen Teile der Schrift in Form und Stil für die rechte Exegese wichtig ist, und deswegen schätzen wir die Erforschung dieser Gattungen als eine der vielen Disziplinen des Bibelstudiums. Wir verwerfen die Auffassung, dass Gattungskategorien, die die Geschichtlichkeit verneinen, zu Recht auf biblische Erzählungen angewandt werden dürfen, die sich selbst als Tatsachen­ berichte darstellen.74

Nun halten die evangelikalen Theologen des Rates allerdings beispielsweise die biblischen Schöpfungsberichte für solche „Tatsachenberichte“, obwohl dieser Terminus gar kein Begriff aus der klassischen Gattungsgeschichte der Literatur­ wissenschaft oder der exegetischen Wissenschaften an theologischen Fakultäten ist. Entsprechend lautet der 22. Artikel: Wir bekennen, dass 1. Mose 1–11 ebenso ein Tatsachenbericht ist wie der Rest des Buches. Wir verwerfen die Auffassungen, dass die Lehren von 1. Mose 1–11 mythisch seien oder dass man sich auf wissenschaftliche Hypothesen über die Erdgeschichte oder den Ursprung der Menschheit berufen dürfe, um das, was die Schrift über die Schöpfung lehrt, umzustoßen.75

Verwunderlich an diesem Passus ist die mangelnde Kenntnis der Auslegungs­ geschichte des biblischen Textes, da sich schon antike jüdische und christliche Bibelausleger mit dem doppelten Schöpfungsbericht in den ersten beiden Kapi­ teln der Genesis beschäftigt und allerlei Hypothesen über dieses unbezweifel­ bare Faktum vorgetragen haben.76 Damit wird die Verwerfung des 24.  Artikels 74 Zitiert nach: Schirrmacher (Hrsg.), Bibeltreue in der Offensive?!, S. 35. 75 Ebd., S. 37. 76 Vgl. dafür nach wie vor: Berndt Schaller, „Gen. 1. 2 im antiken Judentum. Untersuchungen über Verwendung und Deutung der Schöpfungsaussagen von Gen. 1. 2 im antiken Judentum“, Diss. theol. masch., Göttingen, 1961; eine knappe Zusammenfassung sowie Literatur finden sich bei Charlotte Köckert, Christliche Kosmologie und kaiserzeitliche Philosophie. Die Auslegung des Schöpfungsberichtes bei Origenes, Basilius und Gregor von Nyssa vor dem Hintergrund kaiserzeit­ licher Timaeus-Interpretationen (= Studien und Texte zu Antike und Christentum, Bd. 56), Tübin­ gen: Mohr Siebeck, 2009.

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Lügen gestraft, wonach die Auffassung zurückgewiesen wird, „dass ein Mensch die Früchte des fachmännischen Studiums der Schrift durch biblische Wissen­ schaftler ignorieren sollte“.77 Auf den ersten Blick vertritt die zweite Chicago-Erklärung auch die christolo­ gische Konzentration, die sich bei Luther (nach Ebeling) und den meisten antiken und mittelalterlichen Theologen in ihrer geistlichen Auslegung (nach de Lubac) findet. So heißt es im 3. Artikel: Wir bekennen, dass die Person und das Werk Jesu Christi das Zentrum der gesamten Bibel sind. Wir verwerfen die Auffassung, dass irgendeine Auslegungsmethode, die den christo­ zentrischen Charakter der Schrift verwirft oder verdunkelt, richtig sei.78

Bei näherer Betrachtung aber wird deutlich, dass dem Artikel die feine Differen­ zierung zwischen mehreren Sinnebenen fehlt, wie sie für die bei Ebeling und de Lubac in den Blick genommenen vormodernen Autoren und Texte so charak­ teristisch ist. Gegen die Theorie multipler Sinne des biblischen Textes wird ganz schlicht im 7. Artikel erklärt: „Wir bekennen, dass die Bedeutung, die in jedem biblischen Text ausgedrückt wird, eine einzige, bestimmte und unabänderliche Bedeutung ist“.79 Diese eine einzige Bedeutung wird nun aber nicht durch eine wissenschaftliche Analyse vermittelt, sondern ganz klassisch durch den Heiligen Geist, wie im 5. Artikel ausgedrückt wird: „Wir bekennen, dass der Heilige Geist Gläubige befähigt, sich die Schrift für ihr Leben anzueignen und darauf anzuwen­ den“.80 Aus der bei Ebeling zu beobachtenden ambivalenten Haltung gegenüber multiplen Schriftsinnen und der bei de Lubac ausgedrückten Wertschätzung für eine geistliche Interpretation ist ein entschlossenes Votum für – wie es heißt – den „wörtlichen“ als dem „normalen“ Sinn geworden, wie dies im 15. Artikel aus­ gedrückt ist: Wir bekennen, dass es notwendig ist, die Bibel entsprechend ihres wörtlichen, also norma­ len Sinnes auszulegen. Der wörtliche Sinn ist der grammatisch-historische Sinn, das heißt, die Bedeutung, der der Schreiber Ausdruck verlieh. Die Auslegung entsprechend dem wörtlichen Sinn trägt Redewendungen und literarischen Formen, die sich im Text finden, Rechnung. Wir verwerfen die Berechtigung jedes Zugangs zur Schrift, der ihr Bedeutungen zuweist, die der wörtliche Sinn nicht unterstützt.81

77 Zitiert nach: Schirrmacher (Hrsg.), Bibeltreue in der Offensive?!, S. 38. 78 Ebd., S. 35. 79 Ebd., S. 33. 80 Ebd., S. 32. 81 Ebd., S. 35.

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Dass hier eine höchst energische Vereindeutigung von Sinn und Bedeutung bib­ lischer Texte stattfindet, muss nicht lange erläutert werden. Einheit, Einheit­ lichkeit und Eindeutigkeit werden nicht durch irgendwelche Differenzierungen gebrochen. Im 17. Artikel heißt es in ziemlich wörtlicher Aufnahme eines berühm­ ten Satzes von Luther über die Schrift als per se certissima, apertissima, sui ipsius interpres:82 „Wir bekennen die Einheit, Harmonie und innere Übereinstimmung der Schrift und erklären, dass sie selbst ihr eigener, bester Ausleger ist“.83 Aller­ dings handelt es sich dezidiert um eine andere Einheit als die, die Hörisch in seiner Kritik der Geschichte der Hermeneutik in den Blick nimmt, wie die Ver­ werfung zum 9. Artikel der zweiten Chicago-Erklärung deutlich macht: Wir verwerfen die Auffassung, dass sich die Botschaft der Schrift aus dem Verständnis des Auslegers ableiten ließe oder davon bestimmt werde. Deswegen verwerfen wir die Auffas­ sung, dass die Horizonte des biblischen Schreibers und des Auslegers zu Recht soweit ver­ schmelzen dürften, dass das, was der Text dem Ausleger mitteilt, nicht mehr letztlich von der zum Ausdruck gebrachten Bedeutung der Schrift beherrscht wird.84

Die in der klassischen Hermeneutik deutscher Provenienz so bestimmende Einheit durch Horizontverschmelzung wird abgelehnt. Einheit tritt in dieser Form simplifizierender Hermeneutik auf, wenn der eindeutige Text durch den Heiligen Geist sich imponiert und den vermutlich andersgearteten Denkinhalt des sündi­ gen Menschen substituiert. Die zweite Chicago-Erklärung leugnet aggressiv bereits die Vielfalt, die sich im Kanon der kanonisch gewordenen Schriften abbildet – man muss gar nicht die Idee multipler Sinne bemühen oder gar die Konstruktion solcher multiplen Sinne wie bestimmte Formen der Rezeptionsästhetik ganz auf die Seite des Lesers und Interpreten verlagern,85 um – wie beispielsweise in den beiden Schöpfungs­ berichten der beiden ersten Kapitel der Genesis – solche Vielfalt als Charakteristi­ kum des Kanons zu identifizieren und ihre Bearbeitung als ein zentrales Merkmal der Geschichte biblischer Interpretation seit der Antike. Vor dieser Vielfalt fürch­ ten sich die Väter der Chicago-Erklärungen, diese Vielfalt wollen sie gewaltsam auslöschen aus dem Prozess der Interpretation, weil sie offenbar die hochdiffe­

82 Martin Luther, Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum (1521), WA 7, S. 97. 83 Zitiert nach: Schirrmacher (Hrsg.), Bibeltreue in der Offensive?!, S. 36. 84 Ebd., S. 34. 85 Das empfiehlt in seinen Argumenten III und V Stefan Alkier, „Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen. Sechs bibelwissenschaftliche Argumente gegen den christlichen Fundamentalismus“, in: Alkier/Deuser/Linde (Hrsg.), Religiöser Fundamentalismus, S. 191–223.

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renzierten Modelle der Vergangenheit nicht kennen  – pointierter: Ebeling und de Lubac nie gelesen haben. Damit können wir nach unseren drei Beispielen zu wenigen abschließenden Bemerkungen kommen: Was bedeuten unsere fragmentarischen Einsichten aus der Geschichte einer besonderen Hermeneutik  – der Bibelhermeneutik (über deren sich wandelnde Stellung in der allgemeinen Hermeneutik ich an anderer Stelle gehandelt habe86) – für eine Hermeneutik nach dem „Ende der Postmo­ derne“? Diese Frage aus dem Untertitel dieser Ausführungen wollen wir nun zum Abschluss aufwerfen und zu beantworten versuchen.

5 Abschließende Bemerkungen Wir haben uns bei unserem Erkundungsgang zum Umgang mit der Sehnsucht nach Eindeutigkeit in der Hermeneutik auf das 20.  Jahrhundert und auf die Hermeneutik biblischer Texte beschränkt. Natürlich könnte man ohne Mühe und beliebig ausführlich zeigen, dass die an Ebeling, de Lubac und der zweiten Chicago-Erklärung explizierten Probleme nicht erst das vergangene Jahrhundert charakterisiert haben, sondern seit jeher eine Sehnsucht nach Eindeutigkeit und eine Suggestion von Eindeutigkeit besteht – aber eben auch, wie man gegen Hörisch festhalten muss, ein kritischer Umgang mit Sehnsucht wie Suggestion. Luther hielt, wie wir sahen, durchaus an den multiplen Sinnen in der Heiligen Schrift fest und konzentrierte sich nur für die Zwecke der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern auf einen einzigen Sinn, den er ihnen mal mehr, meistens weniger erfolgreich nahe zu bringen versuchte. Die sehr unterschiedlichen Theo­ rien multipler Schriftsinne, die in Antike und Mittelalter von christlichen Theo­ logen für die Bibelexegese mal explizit, mal implizit angewendet wurden, haben in den seltensten Fällen einen basalen Ursprungssinn eines Textes völlig aus dem Prozess des Verstehens herausgelöst und dispensiert. Es brachen im Gegenteil schon in der Antike intensive Debatten um das Verhältnis zwischen Ursprungs­ sinn, Anwendung auf eine bestimmte zeitgenössische Leser- oder Hörerschaft und anderen Sinnebenen eines Textes aus. Diese Debatten ließen sich kaum still­ stellen, sind vielmehr bis heute virulent, oftmals in mäßig verwandelter Form. Darüber, wie diese Sinnebenen zustande kommen und sich Lesern beziehungs­ weise Hörern vermitteln, wurde intensiv diskutiert. Und man kann vielleicht tatsächlich wie de  Lubac sagen, dass die multiplen Schriftsinne meistens so

86 Vgl. Markschies, „Theologische Hermeneutik“.

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systematisiert wurden, dass die Historizität der Heilsgeschichte Gottes mit ihrem Zentrum im Kreuz Jesu Christi präsent blieb – jedenfalls in den meisten Fällen. Eine letzte Frage am Schluss dieser Überlegungen: Ist denn die Sehnsucht nach Einheit und Eindeutigkeit tatsächlich dermaßen vom Übel, wie Hörisch und andere87 meinen, die die klassische Tradition von der Hermeneutik unter Ver­ dacht stellen? Man muss ja nur einmal an die tiefe Verwirrung denken, in die das unübersichtliche Nebeneinander von Wissenschaft und Pseudowissenschaft, von Science und Fake Science, von sachgemäßer Interpretation und blühender Phan­ tasie in der Öffentlichkeit keineswegs allein nur Menschen schlichter Zurüstung stürzt, sondern ganz normale Studierende eines ganz gewöhnlichen Hauptsemi­ nars an einer beliebigen deutschen Universität. Und stehen nicht Wissenschaft­ lerinnen und Wissenschaftler in der Verantwortung, sich um eine gewisse Ein­ hegung der chaotischen Vielfalt von Wissenschaft und Pseudowissenschaft, von Science und Fake Science, von sachgemäßer Interpretation und blühender Phan­ tasie zu bemühen? Gehört nicht zur Wissenschaft die Grenzziehung zwischen möglich und unmöglich, zwischen rational und absurd? Wäre es nicht verantwor­ tungslos, hier alles dem beliebigen Spiel der weitgehend ungebändigten Kräfte des World Wide Web und der Social Media zu überlassen? Mit derartigen Fragen sind wir aber längst wieder in die Bemühungen um Einheit, Einheitlichkeit und Vereindeutigung eingetreten, die seit Anbeginn zu den Charakteristika der Her­ meneutik gehören – und eben nicht nur zu den Charakteristika der Hermeneutik religiöser Texte innerhalb autoritativer oder sonstiger normativer Auslegungs­ prozesse. Es kommt nur darauf an, die Differenzierungsniveaus vergleichbarer Unternehmungen der Vergangenheit nicht zu unterschreiten. Solche Differen­ zierungsbemühungen haben wir bei der Analyse der Arbeiten von Ebeling und de Lubac kennengelernt; was passiert, wenn sie unterbleiben, zeigt die zweite Chicago-Erklärung, unser drittes Beispiel. Man kann – wie beispielsweise bei Hörisch geschehen – das Ideal der Ein­ deutigkeit und die Bemühung um Vereindeutigung perhorreszieren oder sogar politisch denunzieren. Man kann sich aber in Zeiten von populistischer Infra­ gestellung ebenso gut argumentierter wie wahrscheinlicher wissenschaftlicher Theorien (wie des Klimawandels) und der massenhaften Produktion von Fake News und Fake Science natürlich fragen, ob es nicht einen neuen, ebenso legitimen Bedarf nach Eindeutigkeit und Einheitlichkeit gibt und also Grenzen von Ambivalenz- und Ambiguitätstoleranz. Der Hinweis auf das Ende der Post­

87 So zum Beispiel Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004; Dieter Mersch, Posthermeneutik (= Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 26), Berlin: Akademie, 2010.

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moderne im Untertitel wollte nur darauf aufmerksam machen, dass die auch in Mitteleuropa durchaus ernste politische Lage (um von anderen Teilen der Welt gar nicht zu reden) ein gewisses Maß an Verantwortung und Verantwortungs­ übernahme auch bei der hermeneutischen Theoriebildung erfordert und nicht nur fröhliche Spielerei mit den klassischen Theorien – um mit einer solchen ver­ kappten Mahnung auch ganz heiter bestimmte Vorurteile über Verantwortungs­ ethiken protestantischer Prägung bei evangelischen Theologen zu bestätigen. Verantwortung für Hermeneutik in gegenwärtigen Zeiten zu übernehmen, bedeutet jedenfalls, wieder einmal ein Bedürfnis, wenigstens eine Sehnsucht zu artikulieren nach dem alten – nicht erst bei den gelegentlich allzu oft beschwo­ renen Brüdern Humboldt formulierten88  – Ideal der Einheit der Wissenschaft, das man in loser Anknüpfung an Jürgen Mittelstraß heutigentags als Kurswinkel von transdisziplinär organisierter Forschung rekonstruieren kann.89 Vor mehr als 30 Jahren wurde an der kurzzeitig im westlichen Teil Berlins etablierten „Aka­ demie der Wissenschaften zu Berlin“, die 1987 gegründet und 1990 schon wieder aufgelöst wurde, sehr intensiv über eine zeitgemäße Neuinterpretation dieses alten Ideals nachgedacht; natürlich überrascht es nicht, wenn in der geteilten Stadt „Einheit“ wieder neu zum Thema gemacht wurde. Selbstverständlich darf die Idee der Einheit der Wissenschaft nicht zu einer Art von Aberglauben ver­ kommen – Dieter Simon sprach einmal pointiert von einem „Gespenstertraum der Fragmentierten und Kartellierten“.90 Vielmehr muss das alte Ideal, wie gesagt,

88 Vgl. dazu Christoph Markschies, „Wilhelm und Alexander. Das Verhältnis Alexanders zu sei­ nem älteren Bruder Wilhelm von Humboldt“, in: Horst Albach/Erwin Neher (Hrsg.), Alexander von Humboldt und Charles Darwin. Zwei Revolutionäre wider Willen, Göttingen: Wallstein, 2011, S. 147–164. 89 Vgl. nur Jürgen Mittelstraß, „Einheit und Transdisziplinarität. Eine Einleitung“, in: Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Hrsg.), Einheit der Wissenschaften. Internationales Kolloquium der Akademie der Wissenschaften zu Berlin (=  Akademie der Wissenschaften, Forschungsberichte, Bd. 4), Berlin: de Gruyter, 1991, S. 12–22. Ähnliche Überlegungen gab es schon vorher in den USA, wo Otto Neurath, Rudolf Carnap und Charles W. Morris 1936 die „International Encyclopedia of Unified Science“ ins Leben riefen.  – Mit dem Ausdruck „Kurswinkel“ versuche ich (im Sinne von Mittelstraß) zu beschreiben, dass die Einheit der Wissenschaft in der transdisziplinären Forschung intendiert wird und insofern „den Kurs bestimmt“, aber natürlich jeweils nur punk­ tuell erreicht wird und als Ganzes unter den Bedingungen der pluralisierten Moderne nie zu erreichen ist. 90 Dieter Simon, brieflich, 15.07.2018. Vor solchen Gespensterträumen kann historische For­ schung bewahren (vgl. Lorraine Daston/Peter Galison, Objektivität, übers. von Christa Krüger, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2007) und wissenschaftstheoretische Reflexion (Mitchell G. Ash, „Hat die Wissenschaft eine eigene Ethik?“, in: Christiane Lahusen/Christoph Markschies [Hrsg.], Zitat, Paraphrase, Plagiat. Wissenschaft zwischen guter Praxis und Fehlverhalten, Frankfurt/M.: Cam­ pus, 2015, S. 277–292).

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als ein Kurswinkel wissenschaftlichen Tuns im allgegenwärtigen und offenen Netz des Wissens rekonstruiert werden.91 Natürlich geht es um mehr als um den von Hörisch karikierten „entbundenen Verständigungs- und Horizontver­ schmelzungswillen“, der zu Beginn des Büchleins allzu schnell mit dem Kom­ munikationsverhalten Hans-Georg Gadamers in eins gesetzt wird.92 Es geht um eine zeitgemäße Transformation jener spannungsvollen Verbindung von multi­ plen Textsinnen und einer gleichzeitigen Bemühung um Vereindeutigung ihrer Interpretation, wie wir sie an Beispielen aus Antike und Mittelalter kennengelernt haben. Man wird diese vergangenen Hermeneutiken sicher nicht so, wie man zur Mitte des letzten Jahrhunderts in Auseinandersetzung mit totalitärer Herrschaft und totalem Staat dachte, repristinieren können. Aber man sollte sie studieren, um mindestens eine Ahnung von dem Niveau zu bekommen, auf dem sich die hermeneutische Debatte auch heute bewegen sollte. Mehr hat der Historiker nicht zu sagen. Aber auch nicht weniger.

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Podiumsdiskussion Zur Aktualität der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik Andreas Kablitz: Meine Damen und Herren, ich darf Sie herzlich begrüßen zur Abschlussveranstaltung innerhalb unseres Kolloquiums. Sie sehen, das Format hat sich geändert. Wir wollen eine Podiumsdiskussion hier miteinander ver­ suchen. Und vielleicht wundern Sie sich, dass am Ende dieses Kolloquiums mit einem Mal eine bestimmte disziplinäre Hermeneutik solchermaßen in den Vorder­ grund tritt. Warum ist das so? Wenn wir uns nicht in die Tasche lügen, hat dies sicher auch damit zu tun, dass zwei der Arbeitskreisleiter Literaturwissenschaftler sind. Aber Sie werden mir hoffentlich auch abnehmen, dass das nicht der einzige Grund ist, warum wir uns am Ende dieses Kolloquiums mit der literaturwissenschaftlichen oder auch literarischen Hermeneutik verabschieden wollen. Es gibt einen Gesichtspunkt, der die literaturwissenschaftliche Hermeneutik vielleicht für ein Kolloquium unter dem Namen „Hermeneutik unter Verdacht“ besonders interessant macht, und dies ist der Tatbestand, dass sie gewissermaßen gegensätzlichem Feuer aus­ gesetzt ist, einem Kreuzfeuer der Verdächtigungen. Die erste Verdächtigung ist die allgemeine Skepsis gegenüber hermeneutischen Verfahrensweisen, die vor allem aus empirischen und nomothetischen Wissenschaften stammt. Ergebnisse von hermeneutischen Operationen sind aus ihrer Sicht bestenfalls subjektiv, vielleicht auch privatistisch, ihr Intersubjektivitätsgrad steht in hohem Maße in Frage. Kurioserweise gerät, in gewisser Hinsicht auch durchaus nachvollziehbar, die literaturwissenschaftliche Hermeneutik von der Gegenseite ebenso unter Beschuss, und zwar aus einem bestimmten Konzept des Gegenstandes ‛Literatur’ heraus. Literatur entziehe sich aller Festlegung von Sinn, heißt es. Sie sei auf Poly­ semie angelegt, auf das Ambige, auf das, was sich nicht definitiv reduzieren lässt auf die eine Aussage – also in der Tat ein Kreuzfeuer der Verdächtigungen, wenn man so will. Es kommt hinzu, dass innerhalb der Literaturwissenschaft selbst die Her­ meneutik einen durchaus widersprüchlichen Status hat. Sie ist seit etwa fünfzig Jahren in der Theoriebildung Gegenstand der Kritik. Ich habe das gestern schon einmal erwähnt: Wenn ich mich nicht täusche, ist die letzte literaturwissen­ schaftliche Theorie, die es zu etwas gebracht hat und die sich auf die Hermeneu­ tik berufen hat, die Konstanzer Rezeptionsästhetik gewesen. Seither waren alle Ansätze hermeneutikskeptisch, wo nicht dezidiert antihermeneutisch. Ich komme

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auf ihr schönes Schaubild von gestern zurück, Herr Martus:1 Kurioserweise nimmt die Zahl der Interpretationen, Sie haben es uns ja mit Ihrer Kurve sehr plastisch vorgeführt, just dann zu, wenn die Hermeneutik theoretisch in Misskredit gerät. Es muss also etwas geben, was doch die Praxis der Interpretation sehr viel mehr mit dem Gegenstand verbindet, als es die Theorie der letzten Jahrzehnte nahe­ legt. Vermutlich waren es nicht zuletzt diese Widersprüche innerhalb des Faches selbst und die sehr divergierenden Ansichten über den Status von literarischer oder literaturwissenschaftlicher Hermeneutik, die vor einigen Jahren zu einer durchaus bemerkenswerten Kontroverse geführt haben.2 Ich freue mich sehr, dass beide an der damaligen Diskussion Beteiligten heute ihre Bereitschaft gezeigt haben, bei uns zu sein. Frau Griem, wir haben verein­ bart, dass wir uns in diesem Format nicht weiter vorstellen. Sie sind hinreichend bekannt und ich brauche nicht noch einmal zu erwähnen, dass Sie die Anglistik vertreten, also eine Fremdsprachen-Philologie. Und da passt es gut, dass wir mit Christoph König einen Muttersprache-Philologen, also einen Germanisten, bei uns haben. Denn in der Tat stellen sich auch die hermeneutischen Fragen anders, ob man es mit der eigenen Sprache in der Literatur zu tun hat oder aus der Distanz einer Fremdsprache mit ihr umgeht. Das waren genug der Präliminarien. Beide Diskutanten haben mir im Vorfeld ihre Interessengebiete oder Fragen, die ihnen besonders am Herzen liegen, sig­ nalisiert. Und ich erlaube mir, Frau Griem, Ihnen nun zu einem Eröffnungsstate­ ment das Wort zu geben. Julika Griem: Vielen Dank, Herr Kablitz, vielen Dank auch für die Einladung. Ich freue mich sehr, hier zu sein. Herr König und ich haben uns heute beim Frühstück schon ‘eingegroovt’ und verabredet, dass wir jetzt nicht ins Jahr 2015 zurückkeh­ ren und diese wirklich sehr kleine Kontroverse nochmal aufwärmen. Jetzt sehe ich mit einer gewissen Sorge, dass er sehr viel Material mitgebracht hat (zeigt auf einen Stapel Papier, den Christoph König vor sich auf den Tisch gelegt hat). Ich versuche mal, erste Positionen abzustecken, indem ich Ihnen gleich etwas vorlesen werde. Zuvor sage ich, auch zur Markierung unserer unterschiedlichen Ausgangspositionen, dass, wenn ich das so sagen darf, Herr König, Sie, glaube ich, besser aus einer Innenperspektive heraus sprechen können, weil Sie einfach

1 Vgl. Abb. 1 auf S. 50 in diesem Band. 2 Vgl. Christoph König, „Achtung vor den fremden Werken. Zuerst lesen wir hingerissen, dann lesen wir analytisch. Über die philologische Aufgabe, den Sinn schwieriger Texte zu verstehen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.09.2015, S.  N3; Julika Griem, „Philologen  – heute ohne Aura“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.10.2015, S. N3.

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näher an Ihrem eigenen Fach und Kerngeschäft geblieben sind als ich. Ich habe vor acht Jahren angefangen, mich vielleicht zu sehr für Wissenschaftspolitik zu interessieren, und auf diese Weise habe ich zumindest einen gespaltenen Blick auf die Dinge. Aber ich glaube, das ist ganz spannend und interessant, wenn wir versuchen, das zu kontrastieren. Dann kommt hinzu, was Herr Kablitz gesagt hat, dass die Lage einer Person, die angloamerikanisch sozialisiert ist, auch mit Blick auf das Thema Hermeneutik ganz anders ist. Ich habe, glaube ich, andere Prä­ gungen erlebt. Mein erster Impuls auf die Fragestellung war: „Hermeneutik unter Verdacht?“ Ich habe die letzten drei Jahre mit Kollegen aus der angelsächsischen Welt über die Hermeneutik des Verdachts diskutiert. Das war eine sehr große und sehr weit wahrgenommene Debatte. Vielleicht können wir darauf auch später noch zu sprechen kommen. Was ich Ihnen vorlesen möchte zum Einstieg, ist eine kurze Passage des Kol­ legen Jürgen Paul Schwindt, der in Heidelberg als Philologe tätig ist. Und ich habe diesen Text ausgewählt, ich habe ihn erst gestern gefunden, weil er einleitend auf unsere kleine Kontroverse in der FAZ vor einigen Jahren Bezug nimmt und sie benutzt, um seine eigene Position in Sachen Philologie, aber ich würde sagen auch in Sachen Hermeneutik zu erläutern. Und ich lese Ihnen diese Passage vor, weil ich an ihr, glaube ich, gut demonstrieren kann, was ich unter einer reflexiven Haltung nicht nur gegenüber den Texten, die uns beschäftigen, wichtig finde, sondern auch mit Blick auf unser eigenes Tun, auf unser eigenes praktisches Tun. Herr Schwindt beschreibt in diesem Text das philologische Verfahren wie folgt: Es beschreibt den unbeschreiblichen Moment, wo sicheres Wissen in Unsicherheit umschlägt. Die Hadesfahrt – und das meine ich nicht allegorisch – ist des Philologen Alltag. Unser Lesen ist ein Tauchgang, bei dem die Bewohner der Tiefe, die unsren Besuch nicht erbeten haben, auf allen Seiten an uns vorüberfliegen. Die einen erscheinen dicht vor uns im hellen Licht der Lampe, andere verschwinden, kaum daß wir sie gewahr wurden, und stieben an uns vorbei  – zurück in die von keinem Licht erhellte, schwarze Nacht. Jedes Lesen ist ein anderes Lesen. Nie sind wir sicher, daß die Expedition gelingt. Und wenn wir gelesen haben, wenn wir mithin an die Oberfläche zurückgekehrt sind, stehen wir vor dem fast noch größeren Wagnis, von dem zu sprechen, was wir gesehen haben.3

Etwas später geht es weiter wie folgt: Wir steigen wirklich hinab. Wenn wir uns konzentrieren, müssen wir so viele Außeneinflüsse wie möglich abwehren. Wir blenden Umwelten aus, um die Konturen des Textes zu sehen

3 Jürgen Paul Schwindt, „Die Philologie von unten. Das athematische Lesen und der retour sur soi-même“, in: Dictynna  13 (2016), Abschnitt  17, http://journals.openedition.org/dictynna/1311 (zuletzt abgerufen: 15.02.2021).

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und die Hand an die pulsierenden Ströme zu legen, die dem Text diese Kontur verschaffen. Wir spüren, wenn wir konzentriert sind, die kleinsten Risse und Fugen und suchen, diese Spuren im Gedächtnis zu bewahren. Wir bestimmen selbst, wann wir im Nachlassen der Konzentration zu lesen aufhören, um an die Textoberfläche zurückzukehren. Jetzt stellt sich die Frage: Haben wir etwas gesehen, und wenn ja, was? Welchen Status hat das Gesehene? Wer wollte es überprüfen? Kann man es überprüfen? Oder ist nicht die einzige Form der Überprüfung die Wiederholung des Tauchgangs?4

Ich glaube, wir würden alle auf den ersten Blick oder beim ersten Zuhören sagen: Das ist sehr schön. Das ist sehr schön formuliert und das beschreibt viele der nicht nur rationalisierbaren, sondern auch affektiven, vielleicht sogar Glutkerne unseres eigenen Tuns oder des Tuns vieler Philologen, die sich noch darum bemühen, so etwas wie ein Idealbild ihrer Praxis zu formulieren. Mich beschäftigen daran zwei Dinge, die ganz viel mit der Semantisierung von Philologie in dieser Passage zu tun haben. Das erste ist, dass die ganze Semantik der Tiefsee-Expedition hier eine Vorstellung von Philologie als Abenteuer hervorruft, die nachvollziehbarerweise faszinationsförderlich ist – die ich aber als Selbstbeschreibung im Jahr 2019 hoch­ problematisch finde. Daran hängt ja ein ganzer Rattenschwanz an männlicher Selbststilisierung, an Durchbruchsphantasien, an imaginiertem Heldentum, das man zumindest diskret diskutieren könnte. Und es ist ja nicht nur diese Passage, in der man diese Semantik des Abenteuerlichen findet, sie wabert auch durch ganz viele Vorstellungen von Wissenschaftskommunikation im Moment. Der zweite Punkt, den finde ich fast noch interessanter, ist, dass hier ganz hemmungs­ los, würde ich sagen, mit einer metaphorisierenden Verräumlichung des Objekts ‘Text’ gearbeitet wird. Und das wird überhaupt nicht problematisiert. Der Text ist hier ein mehrdimensionaler Raum, der eine Tiefendimension hat und eine Ober­ fläche. Und es wird selbstverständlich implizit wertend vorausgesetzt, dass die Schätze, alles Positive in der Tiefe lagert und die Oberfläche der Punkt ist, der uns mit dem profanen Alltag verbindet. Das ist uns nun allen sehr vertraut. Diese Form von Tiefenhermeneutik ist ein ganz bewährtes Instrument, um nicht nur Textualität zu modellieren, um Lektüreprozesse zu beschreiben, sondern auch um – ich würde sagen – eine bestimmte Form der Erzeugung von tiefer Subjek­ tivität zu produzieren, die für die hermeneutische Tradition und die Philologien sehr wichtig ist. Daran hängen bestimmte Formen und Vorlieben von Lektüre, von einsamer Lektüre, von konzentrierter, von wiederholter Lektüre, die darauf aus sein sollte, mich als Subjekt unendlich vielschichtig, komplex und singulär zu machen. Mich hat das auch interessiert, weil die schon erwähnte Diskussion um die Hermeneutik des Verdachts – das ist ja eine Formulierung, die Paul Ricœur

4 Ebd.

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geprägt hat5 – so wunderbar anschließt, weil sie diese verräumlichende, nicht problematisierte Metaphorisierung von Textualität aufgegriffen hat. Hermeneu­ tik des Verdachts funktioniert auch nur dann, wenn ich etwas zu Entbergendes, etwas Verdächtiges, etwas epistemologisch Interessantes in einer Tiefe oder einem Hintergrund ansiedele und damit automatisch die Oberfläche, die Vor­ derbühne abwerte. Und das ist in dieser Debatte, an der Leute wie Rita Felski, Stephen Best, Sharon Marcus und viele andere teilgenommen haben, in Frage gestellt worden, und zwar auf, wie ich finde, sehr interessante Weise.6 Ich würde gern diese Passage zum Ausgangspunkt nehmen, um das weiter zu verfolgen, Herr Kablitz, was Sie angesprochen haben, nämlich eine in unserer Alltagspraxis als Lehrende auch deutlich zu beobachtende Diskrepanz zwischen unseren theo­ retischen Programmen und Absichtserklärungen einerseits und unserem tatsäch­ lichen Tun andererseits. Wir betreiben oft eine sehr traditionelle Hermeneutik, in der wir die Dinge tun, die man hier auch findet. Aber wir sagen auf der Vorder­ bühne etwas ganz anderes, um uns abzusetzen und uns zu positionieren. Wenn wir über Reflexivität reden, dann würde ich auch gern darüber sprechen, wie man denn diese Selbstbeschreibungen etwas genauer lesen könnte. Andreas Kablitz: Ganz herzlichen Dank, Frau Griem. Ich glaube, dieser Text hat auch hinreichend provozierendes Potenzial, um unsere Diskussion zu beleben. Ich würde jetzt gerne Christoph König das Wort geben und erlaube mir dann, ebenfalls ein paar Kommentare zu dieser Expedition zu machen. Christoph König: Vielen Dank, Frau Griem, für die Erinnerung an diesen Absatz, den ich nicht kannte. Aber er klingt dennoch vertraut. Das gibt mir Gelegenheit, zunächst an eine kleine Anekdote, eine kleine Geschichte zu denken, die mir Uwe Pörksen erzählt hat in einem Kreis von gesetzten Wissenschaftlern seines Alters. Er sagte: „Hermeneutik!“, und alle sagten: „Ja! Die Hermeneutik, ja!“ Es ist eine bestimmte, vielen selbstverständliche Form der hermeneutischen Tradition, die sich im Text von Herrn Schwindt auch widerspiegelt, sich dort wiederfindet. Und Sie machen es mir nun nicht leicht, weil ich nicht nur auf Sie antworten soll, sondern auch auf meinen Freund Schwindt, und zwar in einer durchaus kriti­ schen Weise. Die Hermeneutik, die diesem Zitat zugrunde liegt, ist, wie Sie sagen, eine Tiefenhermeneutik, sie ist vor allem eine philosophische Hermeneutik, die

5 Vgl. Paul Ricœur, De l’interprétation. Essai sur Freud, Paris: Seuil, 1965. 6 Vgl. Rita Felski, The Limits of Critique, Chicago: The University of Chicago Press, 2015; Stephen Best/Sharon Marcus, „Surface Reading: An Introduction“, in: Representations 108 (2009), Nr. 1, S. 1–21.

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Andreas Kablitz für die Konferenz zwar aus dem Verkehr ziehen wollte, die aber trotz allem vielen Beiträgen und vielen Missverständnissen auf dieser Konferenz zugrunde liegt, nämlich, dass eine Interpretation eines Werkes – und darum geht es ja auch Schwindt  – sich dort erfüllt, wo man, um jetzt nun nicht Gadamer, den man hier wirklich außen vor lassen sollte, sondern Staiger zu zitieren, sagen kann: „Ich begreife, was mich ergreift.“ Das ist die herkömmliche Auffassung, die dazu führt, dass, Gadamer aufgreifend, die schriftliche Oberfläche keine Rolle mehr spielt. Das sah man auch am Vortrag von Herrn Lepsius eingangs des Kollo­ quiums.7 Er berief sich zitierend auf Gadamer, und es ging dann darum, dass die Interpretation sich dort erfülle, wo sie herausfinde, was gelte. Er hat das nun auf die Geltung der Norm bezogen, aber von Gadamer her gesehen ist es etwas ganz anderes, nämlich die Geltung von allgemeinen Werten einer gewissen Menschlich­ keit, einer bürgerlichen Bildungstradition, auf die er sich letztlich immer bezieht. Gadamer geht dann auch so weit, die materiale Oberfläche zu verfälschen. Wenn ihm ein Komma nicht passt, etwa in seinen Rilke-Interpretationen, dann lässt er es weg, wenn es den erwarteten Sinn nicht erfüllt. Es gibt ein Problem dieser Hermeneutik, wenn sie sozusagen in die Tiefe geht und sich dann nicht mehr – indem sie sich auf das beruft, was einen ergreift – auf die Materialität, auf die Schrift bezieht. Das ist jene alte Hermeneutik. Und ich würde dagegen gerne eine andere Formel setzen, nämlich statt zu sagen: „Ich begreife das, was mich ergreift“, schlage ich vor, im Sinn einer skep­ tischen Haltung zu sagen: „Ich versuche zu verstehen, wie verstanden worden ist.“ Hier geht es um eine Erkenntniskritik des Verstehensvorganges, und zwar doppelt, seitens des Autors hinsichtlich seiner permanenten Selbstbeobachtung beim Schreiben und seitens des Philologen, der sich selbst zu betrachten hat, um zu wissen, was er tut, und fragt: „Wie schreibe ich darüber?“ Ein letzter Punkt ist, dass diese Hermeneutik von Schwindt eigentlich eine moderne Variante jener Tiefenhermeneutik darstellt. Herr Schwindt steht in der Tradition von Werner Hamacher, und die Abgründigkeit, die er hier beschreibt, das kommt in dem Zitat nicht so recht zu Tage, ist eine Abgründigkeit der Sinn­ losigkeit, der Negativität, einer totalen Ambiguität. Wir müssen auch darüber sprechen, was wir unter Ambiguität tatsächlich verstehen und ob man gut daran tut, die Hermeneutik im Gegensatz, in der Gegenüberstellung von Ambiguität, Präzision und Engführung zu beschreiben.

7 Der Titel dieses Vortrags lautete: „Rechtswissenschaft und Hermeneutik – ein schwieriges Ver­ hältnis“.

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Andreas Kablitz: Ich befinde mich in der glücklichen, dem Moderatoren gemäßen Position, eigentlich genau in der Mitte zwischen den beiden Positionsbestimmun­ gen zu stehen. Frau Griem, ich glaube nicht, dass das verhältnismäßig viel mit der Praxis der Interpretation zu tun hat, was Herr Schwindt dort beschreibt. Ich bin ein bisschen skeptischer, was die Qualität dieser Selbstbeschreibung angeht. Meine erste Reaktion war übrigens nicht irgendwie so etwas wie interesseloses Wohlgefallen, sondern eine Erinnerung an einen Aphorismus aus Nietzsches „Fröhlicher Wissenschaft“: „Die mystischen Erklärungen gelten für tief; die Wahrheit ist, dass sie nicht einmal oberflächlich sind.“8 Und was diese Selbst­ beschreibung betreibt, ist etwas, was ich an der Literaturwissenschaft eigentlich immer schon ganz fürchterlich fand, nämlich eine Auratisierung des Tuns des Literaturwissenschaftlers, die sich eigentlich bei einer auratischen Beschreibung ihres Gegenstands die Berechtigung besorgt. Und das finde ich eine sehr proble­ matische Vermischung der Ebenen. Wo eigentlich steckt diese Auratisierung? Sie fängt mit dieser für den klassischen Philologen naheliegenden – ich hätte eher an Dante gedacht – ‘Unterweltbesucherei’ zwischen Vergil und Homer an. Und der Ansatzpunkt ist eigentlich etwas verhältnismäßig Harmloses, nämlich die Rede vom ‘tieferen Sinn’. Die wird nun also zu einer räumlichen Allegorie ausgestaltet, die dann doch die Grenzen des guten Geschmacks überschreitet. Der ‘tiefere Sinn’ ist aber eine Metapher. Er ist eine Metapher für den letztlich nicht evidenten Sinn. Indem ich ihn den ‘tieferen’ nenne, gebe ich ihm schon eine höhere Geltung, eine höhere Wertigkeit des Verborgenen und erst zu Erschließenden. Denn der Abstieg zu den Müttern oder alles, was wir mit der Tiefe so verbinden, das sind Meta­ phern, die eigentlich ein Tun auratisieren. Und das halte ich nicht für das, was literaturwissenschaftliche Praxis de facto tut. Ich meine deshalb, dass wir vielleicht ein bisschen über das nachdenken sollten, was die Literaturwissenschaft herzlich wenig tut: Was sind eigentlich die Ursachen der Interpretationsbedürftigkeit, der besonderen Interpretations­ bedürftigkeit von literarischen Texten? Und welche Zielvorstellungen hat die hermeneutische Operation der Interpretation? Das scheinen mir doch Kernfragen zu sein, mit denen uns die Theoriebildung unserer Literaturwissenschaft ziemlich allein lässt. Das wären für mich die eigentlich relevanten methodischen Fragen. Christoph König: Ich greife zurück auf die Formel von Nietzsche. Im Epilog zu „Nietzsche contra Wagner“ schreibt er auf die Kunst bezogen: „Diese Griechen

8 Friedrich Nietzsche, „Die fröhliche Wissenschaft“, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 3, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: dtv, 1999, S. 343–651, hier: Aph. 126, S. 482.

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waren oberflächlich – aus Tiefe!“9 Und an anderer Stelle sagt er, er möchte gelesen werden, wie die „gute[n] alte[n] Philologen ihren Horaz lasen“.10 Er las ihn wie einen Künstler. Die Frage ist also: Was wäre das Ideal einer philologischen Praxis? Oder: Worauf reagiert sie? Ich denke, wir sind in einem Punkt unterschiedlicher Auffassung. Ich möchte auf eine bestimmte ästhetische Voraussetzung verzich­ ten, auf eine Bestimmung des Gegenstands der philologischen Lektüre durch eine philosophisch ästhetische Reflexion. Der Ausgangspunkt ist, ungeachtet der Textsorten, die dem Philologen vorliegen, die Schwierigkeit des Verstehens und die Fremdheit des Gegenstands. Es gibt Schwierigkeiten verschiedener Art. Man kann Texte über das Bewässe­ rungssystem in Athen zum Gegenstand machen, oder man kann sich eben andere Texte vornehmen, wie Gedichte von Rilke oder Gedichte von Nietzsche. Und dann entsteht in der Erkenntnis der Schwierigkeiten eine Art Reflexion. Damit habe ich es zu tun, man entdeckt umgekehrt, um mit Schleiermacher zu sprechen (er sagt: „Wettergespräche“), dass es Gespräche gibt, die nicht zu interpretieren sind. Die Frage ist: Wann beginnt eine Interpretation? Auch die Rechtswissenschaft sagt uns, dass bestimmte Texte, bestimmte Normen nicht zu interpretieren sind. Sie sind so eindeutig formuliert, dass die Frage lauten muss, wann die Interpreta­ tion beginnt. Man könnte sagen, literarische Texte stellen eine Schwierigkeit für die Lektüre dar, die sich nur erklären lässt über das, was Kant die „ästhetische Freiheit“ genannt hat, also die radikale Loslösung von den Voraussetzungen, so dass die philologische Lektüre sehr, sehr stark von diesem Gang durch die ver­ schiedenen Formen der Schwierigkeiten geprägt ist. Julika Griem: Das trifft sicher auf einen engeren Konsens innerhalb der Litera­ turwissenschaft immer noch zu, und mir ist das selbst auch sehr sympathisch, diese Vorstellung, dass man sich an der Schwierigkeit von Texten abarbeitet, dass man Texte liebt, weil sie einen herausfordern. Das möchte ich überhaupt nicht weghaben. Aber gerade auch mit Blick auf die Lehre oder auch mit Blick auf die Ausbildung von Promovierenden denke ich doch viel mehr als früher darüber nach, wie voraussetzungsreich diese, man könnte auch hier wieder sagen: Aura­ tisierung von Komplexität als Generalkriterium für das, was wir tun, ist. Denn es ist ja nicht selbstverständlich, und das kann man kognitionspsychologisch gar nicht so leicht begründen, dass ästhetische Komplexität automatisch Freude ver­

9 Friedrich Nietzsche, „Nietzsche contra Wagner“, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd.  6, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: dtv, 1999, S. 413–445, hier: S. 439. 10 Friedrich Nietzsche, „Ecce Homo: Wie man wird, was man ist“, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 6, S. 255–374, hier: S. 305.

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schafft, epistemisch relevant ist. Und wenn wir jetzt nochmal kurz einen Gang zurückschalten … Christoph König: … kurz zur Korrektur des Eindrucks, den ich vielleicht fälsch­ lich vermittelt habe: Ich spreche nur von Schwierigkeiten, nicht von Komplexität. Komplexität wäre schon eine ästhetische Steigerungsform und besteht in einer philosophisch bestimmten Schwierigkeit. Julika Griem: Aber dann ist Schwierigkeit etwas sehr Niederschwelliges, also etwas, was man im Grunde … Christoph König: … im Grunde ist Schwierigkeit operativ. Andreas Kablitz: Ich erlaube mir, an dieser Stelle einen Vorschlag zu machen. Wir haben gestern fast konsensuell hier feststellen können: Der Einstieg in die her­ meneutische Operation ist nicht das Verstehen, sondern das Nicht-Verstehen.11 Nun können wir aber nicht darüber hinwegsehen, dass es nicht nur in einer Reihe von disziplinären Feldern, sondern auch von Textformen augenscheinlich so etwas wie eine generische Schwierigkeit mit ihnen gibt, sonst hätten sich gar nicht bestimmte disziplinäre Hermeneutiken ausgebildet. Ich denke da zum Bei­ spiel an die Theologie: Wenn man die Hermeneutik des Bibeltextes verfolgt, ist es eigentlich die Einschätzung des Autors, des göttlichen Autors, die dazu geführt hat, eine unendliche Sinnfülle eines unendlichen Autors, nämlich dieses Gottes selbst, anzunehmen. Es waren also besondere Bedingungen des Textes, die zu besonderen Formen von Schwierigkeiten geführt haben. Ich will nicht in juris­ tischen Dingen dilettieren, aber das Grundproblem, das sich für einen Spruch­ richter stellt, ist die Tatsache, dass er einen einzelnen Fall hat, den er mit einem allgemeinen Gesetzessystem, jedenfalls wenn wir mal das deutsche oder romani­ sche Rechtssystem ansetzen, in Verbindung zu bringen hat. Ich glaube, dass die literaturwissenschaftliche Hermeneutik genau den umgekehrten Weg geht. Sie geht nicht vom Einzelnen zum Allgemeinen in dem Sinne, dass das Allgemeine schon vorgegeben ist, sondern umgekehrt haben wir einzelne Geschichten, die wir auf etwas Allgemeines abbilden. Nehmen wir doch mal klassische Fälle der Interpretation in den Blick, die Buddenbrooks als Ausdruck der Dekadenz des Bürgertums im späten 19.  Jahr­ hundert oder die Vergil’sche Aeneis als Ausdruck der augusteischen, imperialen Ideologie und so weiter und so fort. Was geschieht, wenn einzelne Geschichten

11 Vgl. dazu den Beitrag von Philipp Stoellger in diesem Band.

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auf allgemeine Konzepte hin abgebildet werden? Und warum geschieht das? Ich glaube, dass die Geschichte der literarischen Interpretation uns da einen ganz guten Hinweis geben kann. Wann haben Interpretationsmuster oder Interpretati­ onsprozesse bei kanonischen Texten jeweils angesetzt? In dem Moment, in dem man ihre historische Wahrheit nicht mehr geglaubt hat. Das ist in der HomerExegese so und es hat sich bei der Vergil-Exegese dann wiederholt. Ich habe also den Verdacht, dass die Fiktionalität des literarischen Textes uns eine generische Schwierigkeit mit ihm verschafft. Warum soll ich mich eigentlich für Geschichten interessieren, die von Dingen handeln, die es nie gegeben hat? Dann müssen sie doch von irgendetwas anderem handeln, nicht wahr? Und dieser Ausfall dessen, was in der Linguistik als Bezeichnungsfunktion thematisiert wird, führt zu ope­ rativen Reaktionen, hermeneutischen Operationen, die dann doch irgendwie den Kontakt mit unserer Welt herstellen wollen. Ich glaube deshalb, dass das Moment der Fiktionalität für die Bedürftigkeit der Textinterpretation im literarischen Werk eine große Rolle spielt. Julika Griem: Das ist sicher so. Aber ich mache dennoch nochmal einen Versuch, unser Thema und unser Fachgespräch mit Blick auf die praktischen Realitäten der Vermittlung von Literaturwissenschaft im Jahr 2019 gezielt zu profanieren. Wir tun jetzt immer noch so in diesem Moment, weil wir unter uns sind, als ob völlig klar wäre, was Literatur ist. Wenn Sie aber mit Frankfurter HauptseminarStudierenden, Hauptfach Literaturwissenschaft, darüber sprechen  – die sind nicht mehr 20 –, dann zeigt sich, dass für die Literatur ist, was für uns garantiert eher nicht Literatur ist. Die sagen, sie möchten gern zum vierten Mal Harry Potter lesen. Da haben wir eine lange Kanon-Debatte hinter uns. Nichtsdestotrotz ist es ein praktisches Problem mit diesen Studierenden, für die wir ja auch zuständig sind, auch dafür werden wir bezahlt, uns darüber zu verständigen, was wir unter Literatur verstehen, was wir unter Lektüre, unter Lesen verstehen, und mein Eindruck ist: Es entfernt sich sehr schnell von all dem, was diese Studierenden darunter verstehen. Nämlich: nicht Schwierigkeit, sondern schnelles Verstehen, schnelle Prozession von Information unter Zeitdruck. Die kaufen sich Schnell­ lese-Fibeln und fragen mich in der Sprechstunde, wie sie noch schneller, noch mehr Stoff auf unkomplizierte Weise klausurfähig reproduzieren können. Und ich finde das alles ja nicht gut. Ich ringe wirklich mit diesen Tendenzen. Aber ich merke auch, dass ich nach Argumenten suche, um weiterhin unseren Kanon zu verteidigen. Bestimmte Formen von Lektüre zu verteidigen und dezidiert nicht über all das zu sprechen, was die Studierenden interessiert, z.  B. Unterhaltung, Ablenkung, Eskapismus, Einfachheit, Simplizität und so weiter. Und ich glaube, wir müssen das in unser Tun integrieren.

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Christoph König: Ich spüre, dass der Moderator etwas sagen möchte, aber ich würde auch gerne sofort antworten, wenn es recht ist. Andreas Kablitz: Der Moderator hätte nur gefragt, warum Harry Potter keine Literatur ist. Christoph König: (lacht) Sie bringen mit dieser Frage einen ganz wichtigen Aspekt in die Diskussion philologischer Praxis, nämlich die Institution. Darüber haben wir auch vielfach diskutiert, und ich frage mich, wie man das konfigurieren kann. Wie kann man eine Praxis, die ihre Richtigkeit in sich selbst besitzen könnte, in eine Institution setzen? Ich füge hinzu, dass es unter dieser Perspektive gar nicht darum geht, die Institution unbedingt zu erhalten. Ganz frei nach Heinz Schlaffer: Wenn es kein Interesse mehr gibt für die deutsche Literatur, dann schaffen wir die Literaturwissenschaft ab.12 Ich bin nicht dieser Auffassung, aber ich spitze zu, um zu sagen, dass die institutionelle Frage eine andere Frage ist. Und meine Frage in der Analyse der Praxis – ich komme noch einmal zurück auf mein Modell der Skepsis: „Was ist im Gange, wenn wir philologisch tätig sind?“ – enthält auch diese institutionelle, strategische Seite und auch eine andere, mehr persönliche, werteorientierte Seite. Jeder, jede steht auch in einem bestimmten Wertezusam­ menhang, in einer Wertetradition, die Einfluss nimmt auf die Lektüre. Und hier nur ein ganz kleiner Hinweis, wie dieses Problem, Werte, Institution und Methode zu konfigurieren, das der Philologie immer schon bekannt war, im 19. Jahrhundert gelöst wurde: Also zum Beispiel hält Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff Kaiser­ geburtstagsreden.13 Und was macht er in den Kaisergeburtstagsreden? Er lobt Homer als ein Bildungsgut der Deutschen, die zu Griechen heranzubilden wären, während er im Seminar Homer längst zerstört hat entlang der homerischen Frage. Also gibt es eine Art Zynismus in dieser Verteidigung der Institution nach innen und nach außen. Und ich frage mich ständig: Gibt es eine methodische Möglich­ keit, die beiden zu verbinden? Andreas Kablitz: Vielleicht würden Sie noch einmal antworten, Frau Griem, und dann würde ich gerne die Diskussion ein bisschen öffnen und uns noch berei­ chern lassen durch Ihre Eindrücke (wendet sich ans Publikum).

12 Zur Literaturwissenschaft als Institution vgl. Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen: Die Ent­ste­ hung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, erweiterte Neuausgabe, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005. 13 Vgl. hierzu Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Reden und Vorträge, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 51967.

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Julika Griem: Vielleicht eine ganz kurze Antwort: Ich finde es einen interes­ santen Vorschlag. Das steuert ja so ein bisschen auf eine strategisch eingesetzte Schizophrenie zu. Darüber kann man nachdenken, das kann aber auch nicht ganz ungefährlich sein. Es ist aber eine interessante Idee. Ich würde vielleicht naiver vorschlagen, dass es sich auch lohnen könnte, gerade mit Blick auf die Zusammenarbeit mit Fächern, in denen der Rekurs auf die Hermeneutik nicht so selbstverständlich zum Repertoire gehört, einfach von dieser guten Idee auszuge­ hen, die hier auch schon oft aufschien: Hermeneutik ist im Grunde ein sehr intel­ ligentes Verfahren zur Interesse steigernden Verfremdung der Gegenstände, die zunächst einmal selbstverständlich und normal und natürlich erscheinen. Und dann kann man sie an ganz vielen Stellen so einsetzen, dass es Funken schlägt. Und das habe ich durchaus mit Studierenden auch erfahren. Das heißt nicht, dass man dann von der Aufgabe entlastet ist, es wieder zurück auszudifferenzieren in einzelnen Fachkulturen. Andreas Kablitz: Also ich stimme Ihnen zu, dass es unsere Alltagserfahrung im Unterricht mit dem Lesen von Texten ist, dass es schwierig geworden ist. Ande­ rerseits glaube ich, dass wir nicht die institutionellen Komplikationen mit der Gegenstandsangemessenheit unseres Vorgehens so verknüpfen sollten, dass wir am Ende mit dem Gegenstand aus pädagogischen Gründen so umgehen, wie er es gar nicht ermöglicht. Und wir sollten den Konsens innerhalb des Faches über die Leistungsfähigkeit und das Erfordernis von hermeneutischen Verfahren, also der berühmten Interpretation, trennen von der Frage, was wir dann im Unterricht daraus machen. Aber fachsystematische Rückschlüsse oder gar Schlussfolgerun­ gen aus pragmatischen Umständen der Lehrsituation zu schließen, das schiene mir doch problematisch. Ich würde nun gerne die Diskussion ein bisschen erweitern. Gibt es in dem, was man jetzt wohl ‘das Publikum’ nennen müsste, Fragen oder Beiträge zu der Debatte, die wir bislang geführt haben? Georg Braungart: (an Julika Griem) Sie haben so geheimnisvoll von der „Herme­ neutik des Verdachts“ gesprochen, die sie mehr beschäftige als das Thema dieser Tagung. Möchten Sie dazu etwas sagen? Julika Griem: Das kann ich gerne ganz kurz tun. Das bezieht sich auf eine, ich würde sagen, seit den letzten zwölf oder 15  Jahren geführte Debatte, die sich daran aufgehängt hat, dass es, ich sage es jetzt mal plump, einfach keine Freude mehr macht, sich permanent als der detektivische, misstrauische, ideologiekri­ tisch motivierte ‘Superleser’ zu betätigen, der als einziger den Durchblick hat. Selbst diejenigen, die das perfektioniert haben – und ich bin genauso sozialisiert:

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Fredric Jameson und was man so gelesen hat –, haben einen Punkt erreicht, wo sie sagen: „Das langweilt uns“, weil man irgendwann weiß, was man rauskriegt, wenn man auf diese Weise routinehaft zwischen den Zeilen and against the grain liest. Und daraus haben sich ganz unterschiedliche und interessante Versuche ergeben, phänomenologisch zu fokussieren auf die Oberfläche des Textes, auf die affektiven Qualitäten von Texten. Ein provokantes Stichwort ist: Wir machen jetzt Surface Reading.14 Eine junge Kollegin von mir hat jetzt überlegt, ob sie eine große Tagung zu Affirmation macht. Es gab einen unglaublich schnellen, positi­ ven Reflex von vielleicht 50 Leuten, die gesagt haben, dass sie mitmachen wollen. Dahinter steckt natürlich, dass sich bestimmte Routinen der Kritik totgelaufen haben. Ich finde das schwierig, und daran merke ich, dass ich ein wenig älter bin. Ich würde gern an einem Projekt der kritischen Hermeneutik festhalten, suche aber im Moment relativ ratlos danach, wie man sie denn anders als eine vorher­ sehbare Hermeneutik des Verdachts ausbuchstabieren könnte. Christoph König: Vielleicht darf ich dazu kurz bemerken: Die Figuren, die Ricœur in seiner Hermeneutik der suspicion vor sich hat, sind Nietzsche, Marx und Freud, diese drei. Und das Problem ist, dass Ricœur sie selber im Rahmen einer Tiefenhermeneutik interpretiert. Das heißt, er ist Opfer einer Annahme und verkennt zum Beispiel völlig, dass Nietzsche eine interne Positivität entwickelt, zum Beispiel in seinem Also sprach Zarathustra. Das ist kein Roman, kein Buch, das nihilistisch angelegt ist, sondern das versucht, eine ganz eigene Art von pro­ duktiver Positivität zu entwickeln. Die Philologie als Kommentar und Kritik spielt dabei übrigens eine wichtige Rolle. Das wäre eine Möglichkeit, denn wenn man dann wieder auf die Affirmation kommt, dann hat man nur das komplementäre Gegenbild von Gadamer. Julika Griem: Das leuchtet mir völlig ein, sozusagen wieder auf die Urtexte, die am Beginn dieser Kritik standen, zurückzuschauen, die unter Umständen falsch gelesen wurden. Aber was mich eher interessiert hat, ist auch wieder etwas Insti­ tutionelleres, nämlich die Art und Weise, wie sich diese Form einer hermeneutics of suspicion, insbesondere an amerikanischen Elite-Universitäten, zur Routine entwickelt hat. Das heißt, da gibt es Lehrbücher, da gibt es Standard-Texte, da gibt es einen Kanon, da gibt es eine Performanz der Kritik, in die man hinein­ sozialisiert wird, die mit Nietzsche gar nicht mehr viel zu tun hat. Und das ist der Komplex, der mich hier interessiert hat.

14 Vgl. Best/Marcus, „Surface Reading“ (s. Anm. 6).

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Christoph Markschies: Ihre letzte Bemerkung, liebe Frau Griem, über die Funk­ tion von Hermeneutik, würde ich gerne noch einmal auf Jürgen Paul Schwindt anwenden. Auch deswegen, weil ich das Vergnügen hatte, im Wintersemester 2002/2003 in Heidelberg mit ihm ein Varro-Seminar zu halten und die alltägliche Praxis der Hermeneutik zur Theorie miterleben durfte. Denn sein Text, über den wir sprachen, ist ja auch eine Form des Versuchs der Aufmerksamkeitssteigerung fern vom akademischen Alltag. Eines der Details, an denen man das klar erkennen kann, ist, dass da jemand eine Sportart beschreibt, die er im Alltag ganz sicher nicht ausübt. Wie Tauchen im Text beschrieben wird, ist offensichtlich aus Aben­ teuerfilmen gewonnen und nicht aus eigener Erfahrung. Wenn man von daher auf die Geschichte der Hermeneutik schaut, wäre ja interessant, die jüngere Geschichte der Hermeneutik, Gadamer e tutti quanti, als den Versuch einer theoretisch abgesicherten Aufmerksamkeitssteigerung und des Zurückbringens einer Disziplinengruppe in die universitas litterarum zu rekon­ struieren (Stichworte wären dann: Orientierungskrise der Fünfziger-Jahre, Bedeu­ tungsverlust der Philologien in der bundesrepublikanischen Neuorientierung). Eine solche Funktionalisierung der Hermeneutik für das Überleben des eigenen Faches ist natürlich auch in der heutigen Zeit, wie man nicht nur am Text von Schwindt zeigen könnte, eine stetige Versuchung. Aber wir erkennen, wenn wir uns solche Zusammenhänge klar machen, zugleich auch umso deutlicher, dass eine solche Verwendung der Hermeneutik nicht mehr funktionieren wird in der Wissenschaftslandschaft, in der wir leben. Insofern ist an dieser Stelle, wie ich finde, ein radikaler Bruch in der Geschichte der Hermeneutik eingetreten. Man kann sich nicht mehr mit der Hermeneutik wie Münchhausen aus dem Sumpf der Bedeutungslosigkeit ziehen. Das funktioniert eben nicht mehr. Eine solche partielle Funktionslosigkeit der Hermeneutik wahrzunehmen, entlastet ja aber auch die Theoriebildung und zwingt sehr viel stärker als bisher zur Beschreibung dessen, was wir wirklich können. Knapper formuliert: Ich jedenfalls kann nicht tiefseetauchen. Ich plädiere für einen geordneten Rückzug in die Beschreibung der Alltäglich­ keit – und diese Bewegung müsste man nun aber auch kritisch auf die sogenannte Hermeneutik des Verdachts beziehen. Denn hinter diesem Stichwort verbirgt sich auch eine Selbststilisierung zur Steigerung eigener Bedeutsamkeit: (ironisch) ‘Wir gehören zu der politisch ganz wachen, aufgeklärten Generation und wir machen uns im Unterschied zu unseren Vätern und Müttern garantiert keiner politischen oder sonstigen Unaufgeklärtheit im akademischen Alltag mehr schuldig.’ (ernst) Doch, selbstverständlich, solche Momente unterlaufen uns ständig. Und es wäre ja auch entsetzlich, wenn der gesamte akademische Alltag von einer solchen Atti­ tüde der Politisierung durchzogen wäre, die wir wie eine Monstranz vor uns her­ tragen, und man nicht mehr ganz schlicht fragen könnte: „Was für ein Versmaß ist

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denn das hier gerade?“ Die Antwort auf solche schlichten Fragen trägt oft Erheb­ liches für das Verständnis eines Textes bei. Julika Griem: Vielen Dank für diesen Hinweis, das leuchtet mir alles völlig ein. Ich habe in der Schublade, wo man seine Bücher hat, die man nicht geschrieben kriegt, ein Buch über Philologie oder Literaturwissenschaft in postheroischen Zeiten. Und da möchte ich über etwas sprechen, was Sie angedeutet haben: Es gibt Formen der verzweifelten Selbstheroisierung, in einer Zeit, in der uns vieles wegbricht, die erstaunlich ähnlich sind, und zwar in Theorielagern, die zunächst überhaupt nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, und die Selbstermäch­ tigung als ‘linker Theoriedetektiv’ und ‘Super-Durchblicker’ gleicht dann, wenn man sich die Semantik anguckt, überraschend den vitalistischen Selbstbeschrei­ bungen der Tiefseetaucher. Das ist das, was ich gern näher anschauen möchte. Andreas Kablitz: Ich würde auch gern ein paar Bemerkungen zur Hermeneu­ tik des Verdachts machen. Ich glaube, dass sie eine Reihe von Konnotationen hat, die das Geschäft der Hermeneutik nicht nur diskreditieren, sondern auch schlicht und ergreifend falsch präsentieren. Zu den Merkmalen der Hermeneutik des Verdachts gehört, dass sie immer fündig wird, jedes Mal. Man findet immer eine Bestätigung, warum man recht hat. In veränderter Form, etwas szientisti­ scher verkauft, hat diese Form der Auslegung von Texten unendliche Erfolge in der Literaturwissenschaft gefeiert, nämlich wenn man irgendein theoretisches Gebäude oder irgendein theoretisches Buch, vorzugsweise aus der Serie suhrkamp taschenbuch wissenschaft, zum Anlass nimmt, Texte daraufhin zu unter­ suchen und diese Theoreme darauf anzuwenden. Das ist für mich eine Perver­ tierung von Hermeneutik, und zwar deshalb, weil sie eigentlich die Verhältnisse genau umkehrt. Hermeneutik ist von Haus aus etwas Heuristisches: Wir wollen etwas finden, was wir noch nicht wissen. Und diese Form ist nicht die Heuristik, sondern der octroi. Ich zwinge Texte unter irgendein Lehrgebäude, und das oft völlig kontingent. Es gibt in aller Regel auch manchmal eine Begründung, warum ich jetzt Dante mit Deleuze lesen muss, weil Deleuze vielleicht letzte Woche in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gestanden hat. Aber so etwas ist mir doch etwas wenig als Begründung. Deshalb möchte ich dafür plädieren, dass wir die Hermeneutik heuristisch verstehen. Gestern gab es ja in der Diskussion diesen wunderbaren Hinweis auf Adorno. Mir geht es bei jedem Gedicht so: Man sitzt zunächst hilflos davor, man weiß eigentlich nicht, welche Regelmäßigkeiten man da entdecken könnte und so weiter und so fort. Ich bin doch dafür, dass wir das heuristische Moment der Hermeneutik wieder stark machen.

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Christoph König: Vielleicht noch ganz kurz dazu. Zu unserem eigenen Geschäft: Wir sprachen jetzt zwei Tage lang auch von Sinn. Ich bin ziemlich sicher, dass diese Sinnüberzeugung und die Identifikation von Hermeneutik mit Sinn auch zu diesem Eindruck beiträgt und auch etwas Oktroyierendes hat. Im Grunde genom­ men gibt es eine methodische Problematik, die im Anschluss an das verdeutlicht wird, was heute Herr Markschies in der Diskussion hinsichtlich Kierkegaards Gedanken des Sprungs15 sagte. Wir können nur die Arbeit am Sinn beobachten. Wir beobachten le travail sur le sens. Wir sehen, wie der Text sich entwickelt, wie er selbst immer wieder innehält, sich selbst betrachtet, voranschreitet. Und daraus ergibt sich das grundsätzliche methodische Problem, wie man von dieser Beob­ achtung und von dieser Interpretation der Arbeit am Sinn zu einem Sinn kommen soll. Das ist dann der Sprung. Aber: Das ist auch nur eine Metapher. Es gibt große Philologen, denen eine Sinndeutung gelingt, aber das ist etwas sehr Seltenes und Privilegiertes. Ich nenne Jean Bollack, seine Deutung von König Ödipus.16 Er sagt, dass es dort nicht um das Schicksal geht, sondern darum, dass die Götter durchsetzen wollen, dass die Labdakiden sich nicht mehr fortsetzen. Das ist eine Eingebung. Das ist eine bedeutende Inspiration. Man kann viele Methoden und Theorien und Regeln beherrschen, es wird einem nicht unbedingt einfallen. Hans-Georg Soeffner: Ich komme auf das zurück, was Frau Griem vorhin gesagt hat. Es kommt nicht nur darauf an, sich am Schopf aus dem Sumpf der Bedeu­ tungslosigkeit herauszuziehen, sondern auch darauf, sich aus dem Sumpf der Bedeutung und der Sinnhuberei herauszuziehen. Als Mitherausgeber der SchützGesamtausgabe frage ich: Worum geht es Alfred Schütz in seiner Protosoziolo­ gie? Es geht ihm um etwas scheinbar Selbstverständliches: um die Auslegung des Alltags und der alltäglichen Lebenswelten, also um die Analyse dessen, was fraglos gegeben zu sein scheint und daher keiner weiteren Deutung bedarf.17 Aber gerade das Verstehen des Selbstverständlichen macht endlos Mühe. Das Gleiche gilt in meiner Disziplin für die Interpretation von Interviews. So frage ich mich etwa im Hinblick auf den Begriff der Fiktionalität bei biografischen Interviews – ich interviewe gerade Überlebende aus dem Ghetto Theresienstadt: „Wie viel von dem Erzählten ist fiktional oder eine nur scheinbare Rekonstruktion von etwas,

15 Vgl. dazu u.  a. Søren Kirkegaard, Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift, übers. von B. und S. Diderichsen, hrsg. von Hermann Diem, München: dtv, 2005. 16 Vgl. Jean Bollack, Sophokles: König Ödipus. Übersetzung, Text, Kommentar, 2  Bde., Frank­ furt/M.: Insel, 1994. 17 Vgl. exemplarisch Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Werkausgabe, Bd. II, hrsg. von Martin Endreß und Joachim Renn, Köln: Halem, 2020.

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was man selbst erlebt zu haben scheint, was man aber de facto aus Erzählungen anderer kennt?“ Das biographische Erzählen ist alltäglich. Beim Verstehen des All­ täglichen geht es exakt um das, was Sie sagen, Frau Griem: Das eigentliche Problem des Verstehens besteht darin, dass man sich irritieren lässt durch den Zweifel an dem, was man verstanden zu haben glaubt. Das ist auch der Grund dafür, dass Thomas Luckmann wie Schütz an alltäglichen Routinen ansetzt.18 Die Frage ist: Wie entstehen Routinen und auf welche Probleme antworten sie? Das sind schein­ bar einfache Fragen. Aber wenn man versucht, sie zu beantworten, erfährt man, dass sie nicht so leicht lösbar sind. Die Hermeneutik ist für mich eine Operation des Zweifels, der Selbstirritation und des Vergleichs von Deutungen. Auch bei Ihrem Beispiel, Herr König, ist es der aufgezwungene Vergleich, der dazu zwingt, scheinbar Unvergleichliches zusammenzubringen, nicht zusammenzuführen, sondern so zusammenzubringen, dass mein Denken so irritiert und affiziert wird, dass ich neu ansetzen muss. Zweifel und Vergleich prägen die hermeneutische Grundoperation. Und ich denke, darauf konnten wir uns schon gestern verstän­ digen, Andreas (richtet sich an Andreas Kablitz), also unabhängig von der Quali­ tät bestimmter literarischer Texte, an der Du so hängst, wäre eine weitere Frage: Gibt es eine Hermeneutik, die vor literarischen oder fiktionalen Texten ansetzt und ansetzen muss, zum Beispiel die Frage nach dem Verstehen des Verstehens? Andreas Kablitz: Ja! Deshalb bin ich ein Freund der objektspezifischen Verfah­ rensweisen, die von Text zu Text sehr unterschiedlich sind, je nachdem, welchen generischen Bedingungen sie unterliegen. Ich glaube, wir haben heute vor allem durch einen Beitrag von Ihnen, Frau Griem, noch einen wichtigen Gesichtspunkt zu unserem gestrigen Quasi-Konsens hinzugefügt: Es gibt sozusagen zwei inverse Zugänge zur Hermeneutik. Der eine ist: Am Anfang steht das Unverständnis und ich muss ein Verständnis zu ermöglichen versuchen. Es gibt aber auch den Fall des vermeintlichen Verständnisses, bei dem die Komplexität, die dann Unver­ ständnis erzeugt, erst zu entdecken ist. Wenn ich es an literarischen Beispielen, die Neugermanisten mögen es dem dilettierenden Romanisten nachsehen, fest­ mache, dann wäre das etwa der Unterschied von Hölderlin und Eichendorff. Bei Hölderlin muss ich mir große Schwierigkeiten immer schon zumuten lassen, um überhaupt irgendeinen Zugang zu dem Text zu finden. Bei Eichendorff ist es eigentlich umgekehrt. Hinter einer glatten Oberfläche verbirgt sich eine Komple­ xität, von der zunächst erkannt sein will, dass es sie überhaupt gibt.

18 Vgl. hierzu ebenfalls exemplarisch: Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, durchgesehene, editorisch bearbeitete und mit einer Einführung versehene Ausgabe von Martin Endreß, Konstanz: UVK, 22017.

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Julika Griem: Ich würde gerne noch etwas zu Herrn Soeffner sagen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann wäre doch diese Veranstaltung ein Anlass, um zu sagen: Das Radikalprogramm, was wir uns jetzt mal zutrauen müssten, wäre, diese Basalhermeneutik an so vielen unterschiedlichen Orten in so vielen gesell­ schaftlichen Sphären wie möglich praktisch zu erproben. Peter Strohschneider würde wohl sagen: „Schwärmt aus und irritiert.“ Ich versuche das als DFG-VizePräsidentin ab und zu, mit eher gemischten Resultaten (lacht). Wenn man dann zum Beispiel im Kreis der ‘Zwanzigender’ sagt: „Warum wird hier eigentlich per­ manent von Sprunginnovation gesprochen? Was ist denn das eigentlich für ein Wort? Wo kommt denn das her? Was springt denn da?“ Dann heißt es meistens: „Ja, Frau Griem, ist ja schön, dass Sie schöne Reden halten können, aber jetzt seien sie doch nicht so negativ. Sprache ist doch nur Verpackung, und wir wissen doch, wovon wir sprechen.“ Das heißt nicht, dass man deswegen nicht weiter­ machen muss damit, hermeneutisch zu irritieren. Aber situativ gibt es da relativ klar gezogene Grenzen. Oft ist genau diese Irritation oder diese Einladung, sich irritieren zu lassen, eben nicht erwünscht. Ludwig Jäger: Ich habe nur noch eine kleine linguistische Nachbemerkung zu dem Problem der Tiefe des Sinns. Ich frage mich immer wieder, warum es einen solchen tiefen Graben zwischen Zeichentheorie und hermeneutischer Theo­ riebildung gibt. Wenn man etwa an die Idee des ‘tiefen Sinns’ denkt, fällt mir Saussure ein, für den die semantische Bewegung ‘immer von der Seite’ kommt.19 Sie kommt nicht aus der Tiefe. ‘Die Bedeutung kommt immer von der Seite’ heißt auch, mit Genette gesagt, dass Bedeutung häufig etwas Transtextuelles ist, also etwas, was nicht allein im Binnenraum eines Textes wohnt, entdeckt werden, geborgen werden kann, sondern was notwendig angewiesen ist auf andere Texte jenseits der Textgrenze.20 Und wenn man den hermeneutiktheoretischen Über­ gang von Chladenius zu Schleiermacher ansieht, dann ist es ja der Übergang von der ‘Dunkelheit’ von Textstellen zur ‘Fremdheit’ des Sinns. Dunkelheit verweist auf tiefensemantische Aufklärung, Fremdheit auf transtextuelle Exkursion. Und ich darf nochmal zurückkommen auf Schütz, weil Sie, Herr Soeffner, ihn gerade erwähnt haben: Vielleicht ist das hermeneutische Geschäft zum Teil auch das: Vertrautes relevant zu machen. Schütz hat ja diese produktive Unterscheidung

19 Vgl. Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale. Édition critique par Rudolf Engler, tome 2: Appendice. Notes de F. de Saussure sur la linguistique générale, fascicule 4, Wiesbaden: Harrassowitz, 21990, S. 18, N 7, 3293.5. 20 Vgl. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, übers. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1993.

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von ‘Vertrautheit’ und ‘Relevanz’ eingeführt. Also in gewissem Sinne heißt verste­ hen, Vertrautes relevant machen, während die chladenische, ältere Hermeneutik das Relevante wieder vertraut machen wollte. Andreas Kablitz: Herr Stoellger, Sie hatten sich ebenfalls noch zu Wort gemeldet. Philipp Stoellger: Nur zwei Kleinigkeiten. Das eine: Sie hatten ja, Herr Kablitz, die generische Problematik der Literaturwissenschaften oder Philologien auf das Fiktionale bezogen, das Unwirkliche, oder ich würde lieber sagen: das NichtUnwirkliche, denn das ist das Fiktionale ja als Darstellungsweise. Vielleicht wäre zumindest zu ergänzen, dass man es mit bestimmten Unmöglichkeiten zu tun hat. Diese Unmöglichkeiten, die dann scheinbar unwirklich und auch irrelevant erscheinen, überhaupt in ihrer Brisanz zu entdecken oder auch in ihrer Diskretion und ihrem Charme, wäre ja das Heuristische an der Hermeneutik einerseits. Da gibt es unmögliche Welten zu entdecken, die keineswegs unwirklich sind. Der zweite Punkt betrifft die Stelle, an der Sie sinngemäß sagten: „Wenn ich die Si­ gnifikanz kappe, muss ich es auf ein Allgemeineres, Höheres beziehen.“ Wäre nun aber nicht gerade von der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik zu wünschen, den Sinn für das Singuläre des Singulären, für das bleibend Irritierende zu ent­ decken, statt es auf ein Höheres zu beziehen? Das Problem daran ist das vermeint­ lich Nutzlose, Irrelevante, Ineffektive, Störende des Singulären (seine ‘inopera­ tiveness’). Damit wird eine ganze Reihe von üblichen Verträgen aufgekündigt, in denen wir politisch, wissenschaftlich und sozial operieren. Deswegen hat man es literarisch auch nicht mit Lebenswelt-Analogie-Phänomenen zu tun, sondern schon mit ganz eigentümlich unmöglichen Welten und deren Nicht-Unwirk­ lichkeit. Diese Form des Heuristischen bringt, denke ich, den Antagonisten ins Spiel: das Erschweren, was eben als Verfremden aufkam, das Komplizieren, das Irritieren. Ich denke, dieses Heuristische muss man mit diesem Erschwerenden, Verlangsamenden koppeln. Dann versteht man auch relativ schnell, warum viele Studierende damit nichts zu tun haben wollen. Andreas Kablitz: Herr Stoellger, ich würde gerne reagieren, weil ich angespro­ chen war. Ich sollte das präzisierend vorausschicken: Ich mache eine Unterschei­ dung zwischen dem Fiktionalen und der Fiktion. Die Fiktion ist eine Frage des Dargestellten, während die Fiktionalität eine Eigenschaft der Rede ist. Und die braucht einen Vertrag, weil sie gegen ein Grundprinzip unserer Rede operiert, nämlich die Tatsachenerwartung, die wir üblicherweise mit unseren Kommuni­ kationspartnern teilen – und die ist suspendiert. Das ist für mich der generische Ansatz. Im Übrigen muss Literatur ja gar nicht vom Phantastischen erzählen. Der realistische Roman macht genau das Gegenteil. Das generische Problem ist,

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glaube ich, nicht das, was Sie angesprochen haben. Aber es ist eine Möglichkeit, die die Literatur eröffnet – aber auch nicht mehr als eine Möglichkeit. Deshalb würde ich den Ansatz für das generische Problem ein bisschen anders setzen. (wendet sich an Julika Griem und Christoph König) Es ist angemessen für eine Podi­ umsdiskussion, dass, weil Sie, Frau Griem, eröffnet haben, Herr König nun das Schlusswort hat. Christoph König: Vielen Dank. Ich würde im Anschluss an Ihr Zwiegespräch ver­ muten, dass die Rede von der Fiktionalität eine strategische Rede der Philologen ist, um ihren Gegenstand zu verteidigen. Und das hat nicht notwendig etwas mit dem Gegenstand zu tun. Der wird oft eben, wie wir hörten, mit der Dunkelheit, mit obscuritas verbunden. Das ist eine alte Tradition. Und ich denke, es geht im Grunde genommen dann darum, zu zeigen, dass die obscuritas eine große Klar­ heit darstellt. Andreas Kablitz: Ja, quod esset demonstrandum, könnte man als Schlusswort sagen. Sie haben uns ohnehin ja schon ein Programm mit auf den Weg gegeben, Frau Griem, was wir tun können, tun sollten oder vielleicht doch wenigstens ver­ suchen zu tun. In diesem Sinne bedanke ich mich zunächst bei den beiden Dis­ kutanten, aber auch bei Ihnen allen, die Sie an der Diskussion mitgewirkt haben, ohnehin für Ihre Anwesenheit. Herzlichen Dank, auf Wiedersehen und alles Gute.

Biobibliographische Angaben zu den ­Herausgebern und Autor/innen Gabriele Gramelsberger hat den Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie und Tech­ nikphilosophie an der RWTH Aachen inne. Sie ist Mitglied der Nordrhein-West­ fälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. 2018 gründete sie mit Unterstützung des Stifterverbandes das Computational Science Studies Lab an der RWTH Aachen. Ihr Forschungsthema ist die Transformation der Wissenschaft durch die Digitalisierung, insbesondere durch die Einführung neuer Forschungs­ methoden wie der Computersimulation und des maschinellen Lernens. Darüber hinaus forscht sie zur Wissenschaftstheorie, Technikphilosophie, Erkenntnis­ theorie sowie zur Philosophie der Logik. Ausgewählte Publikationen: Operative Epistemologie. (Re-)Organisation von Anschauung und Erfahrung durch die Formkraft der Mathematik, Hamburg: Meiner, 2020; mit Matthias Heymann/Martin Mahony (Hrsg.), Cultures of Prediction in Atmospheric and Climate Science (= Routledge Environmental Humanities Series), London: Routledge/Francis & Taylor, 2017; (Hrsg.), From Science to Computational Sciences. Studies in the History of Computing and its Influence on Today’s Sciences, Chicago: The University of Chicago Press, 2015. Julika Griem ist nach Stationen in Frankfurt am Main und Darmstadt seit 2018 Direktorin des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen (KWI) und Professorin für Anglistische Literaturwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Seit 2016 ist sie zudem Vize-Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Sie studierte Anglistik und Germanistik an der Universität Freiburg sowie an der University of Massachusetts, Amherst. Nach ihrer Promotion 1995 an der Universität Freiburg habilitierte sie sich im Jahr 2005 an der Universität Stuttgart. Julika Griem ist Mit­ glied in zahlreichen wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Gremien, so zum Beispiel in der Wissenschaftlichen Kommission Niedersachsens (WKN), und fungierte bis Februar 2019 als Direktorin des Promotionskollegs „Schreib­ szene Frankfurt“. Ihr Forschungsinteresse gilt der Analyse des gegenwärtigen Literaturbetriebs und seiner sich wandelnden Formate und Rituale sowie den Methoden seiner Erforschung. Weitere Forschungsthemen sind Wissenschaftspolitik und die Insti­ tutionen, die Literatur und Literaturwissenschaft überhaupt erst ermöglichen, englischsprachige Erzählliteratur des 19. bis 21.  Jahrhunderts, Narrations- und Literaturtheorien, Literatur und Raum, Literatursoziologie, Praktiken des Lesens, kulturwissenschaftliche Wissenschaftsforschung und Wissenschaftskommuni­ kation. https://doi.org/10.1515/9783110698084-008

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 Biobibliographische Angaben zu den ­Herausgebern und Autor/innen

Ausgewählte Publikationen: „Wissenschaft als Abenteuer“, in: Manuel Mühl­ bacher/Martin von Koppenfels (Hrsg.), Abenteuer. Erzählmuster, Formprinzip, Genre, München: Fink, 2018, S. 17–33; „J. M. Coetzee’s Minimalist Worldmaking in The Childhood of Jesus“, in: Patrick Hayes/Jan Wilm (Hrsg.), Beyond the Ancient Quarrel. J. M. Coetzee and Philosophy, Oxford: Oxford University Press, 2017; „Standards für Gegenwartsliteraturforschung“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 65 (2015), H. 1, S. 97–114; mit Petra Gehring, Michael Haus und Sybille Frank (Hrsg.), Städte unterscheiden lernen: Zur Analyse interurbaner Kontraste, Frankfurt/New York: Campus, 2014; Monkey Business: Affen als Figuren anthropologischer und ästhetischer Reflexion 1800–2000, Berlin: Trafo, 2010. Andreas Kablitz ist nach Professuren in Tübingen und München seit 1994 Professor für Romanische Philologie sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln, wo er zugleich als Direktor des Petrarca‐Instituts fungiert. Er ist Träger des Leibniz-Preises der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Fritz Thyssen Stiftung und des International Advisory Board der Dante Studies sowie der Lettere italiane. Darüber hinaus ist er korrespondierendes Mitglied der Baye­ rischen Akademie der Wissenschaften sowie ordentliches Mitglied der Nord­ rhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, wo er seit 2016 auch Senator und Obmann der kulturwissenschaftlichen Sektion ist. Im Jahr 2010 ernannte ihn der italienische Staatspräsident zum „Commendatore dellʼOrdine della Stella della Solidarietà Italiana“. Seit 2017 leitet er zusammen mit Christoph Markschies und Peter Stroh­ schneider den Arbeitskreis „Text und Textlichkeit“ der Fritz Thyssen Stiftung. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der italienischen und französischen Literatur des Mittelalters und der Literatur der europäischen Renaissance sowie des 19.  Jahrhunderts. Als Komparatist arbeitet er auch zur deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Außerdem beschäftigt er sich mit Literaturtheorie sowie mit der Tradition der philosophischen Ästhetik. Ausgewählte Publikationen: Poetics of Redemption: Dante’s Divine Comedy, Berlin/Boston: de Gruyter, 2021; „Daran ist die Gesellschaft schuld!“ Zur Vorgeschichte eines Diktums der Moderne, Baden-Baden: Academia Verlag, 2020; Ist die Neuzeit legitim? Der Ursprung neuzeitlichen Naturverständnisses und die italienische Literatur des 14. Jahrhunderts (Dante – Boccacio), Basel: Schwabe, 2019; Der Zauberberg: Die Zergliederung der Welt, Heidelberg: Winter, 2017. Christoph König studierte Philosophie, Germanistik und Amerikanistik an der Universität Innsbruck und wurde dort 1983 in Deutscher Literatur und Amerika­ nistik „sub auspiciis praesidentis rei publicae“ promoviert. Daran schloss sich

Biobibliographische Angaben zu den ­Herausgebern und Autor/innen 

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1997 die Habilitation an der Humboldt-Universität zu Berlin an. Seit 2005 ist Chris­ toph König Professor für Neuere und neueste deutsche Literatur an der Universität Osnabrück, zuvor war er ab 1986 Leiter der „Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik“ am Deutschen Literaturarchiv Marbach. Gastprofes­ suren und Fellowships führten ihn u.  a. an die University of Wisconsin-Madison in den USA, die École Normale Supérieure in Paris, das Berliner Wissenschafts­ kolleg, das Käte Hamburger Kolleg der Universität Erlangen-Nürnberg sowie wiederholt an die Maison des Sciences de l’Homme (MSH) in Paris. Christoph König ist Mitglied in zahlreichen Wissenschaftsgremien und -vereinigungen, so zum Beispiel im Internationalen PEN oder der u.  a. vom französischen Bildungs­ ministerium geförderten „L’association l’art de lire“, deren Präsident Christoph König seit 2008 ist. Zuvor war er zwischen 1995 und 2003 u.  a. Herausgeber des DFG-geförderten „Internationalen Germanistenlexikons 1800–1950“. Sein For­ schungsinteresse gilt der Geschichte und Kritik der europäischen Literatur und Philosophie, der Hermeneutik und Ästhetik sowie der Theorie und Geschichte der Philologien. Ausgewählte Publikationen: Zweite Autorschaft. Philologie, Poesie und Phi­ losophie in Friedrich Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘ und ‚Dionysos-Dithyramben‘, Göttingen: Wallstein, 2021; L’intelligence du texte. Rilke – Celan – Wittgenstein, Villeneuve-d’Ascq: Presses Universitaires du Septentrion, 2016; Philologie der Poesie. Von Goethe bis Peter Szondi, Berlin: de Gruyter, 2014; „O komm und geh“. Skeptische Lektüren der ‚Sonette an Orpheus‘ von Rilke, Göttingen: Wallstein, 2014. André Krischer studierte in Köln, Bonn und Münster Geschichte, Philosophie und Anglistik und wurde 2005 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in Neuerer Geschichte promoviert. Nach seiner Habilitation im Jahr 2015 lehrt André Krischer derzeit als Privatdozent Neuere Geschichte an der WWU Münster und forscht dort im Exzellenzcluster „Religion und Politik“, wo er das Teilpro­ jekt „Gelebter Unglaube in der Stadt. Freidenker, Atheisten und Blasphemiker in London, 1700–1850“ leitet. Gastprofessuren und Fellowships führten ihn u.  a. an die Universität Zürich und die Cambridge University. Seine Forschungsschwer­ punkte liegen auf der Stadt-, Diplomatie- und Rechtsgeschichte. Ausgewählte Publikationen: mit Tilman Haug (Hrsg.), Höllische Ingenieure. Kriminalitätsgeschichte der Attentate und Verschwörungen zwischen Spätmittelalter und Moderne, Tübingen: Narr Fracke Attempto, 2021; (Hrsg.), Verräter. Geschichte eines Deutungsmusters, Köln u.  a.: Böhlau, 2019; Die Macht des Verfahrens. Englische Hochverratsprozesse 1554–1848, Münster: Aschendorff, 2017; (Hrsg.), Stadtgeschichte. Basistexte (= Basistexte Frühe Neuzeit, Bd. 4), Stuttgart: Steiner, 2017.

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 Biobibliographische Angaben zu den ­Herausgebern und Autor/innen

Christoph Markschies ist Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Professor für Antikes Christentum (Patristik) an der Hum­ boldt-Universität zu Berlin. Von 2006 bis 2010 war er Präsident der HumboldtUniversität zu Berlin, darüber hinaus ist er Mitglied in diversen wissenschaftli­ chen Vereinigungen und Gremien, so zum Beispiel der Academia Europaea und der Fritz Thyssen Stiftung, wo er seit 2015 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats ist. 2001 wurde ihm der Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemein­ schaft verliehen, 2017 wurde er zudem mit dem Bundesverdienstkreuz und der Ehrendoktorwürde der päpstlichen Lateranuniversität in Rom geehrt. Zusammen mit Andreas Kablitz und Peter Strohschneider leitet er seit 2017 den Arbeitskreis „Text und Textlichkeit“ der Fritz Thyssen Stiftung. Sein Forschungsinteresse gilt dem antiken Christentum mit besonderem Schwerpunkt auf der Geistes- und Ideengeschichte, den marginalisierten Bewe­ gungen der Mehrheitskirche (Gnosis und Montanismus) sowie der Transforma­ tion der (platonischen) Philosophie in der christlichen Theologie und Körper­ geschichte. Ausgewählte Publikationen: mit Yohanan Friedmann (Hrsg.), Religious Responses to Modernity, Berlin/Boston: de Gruyter, 2021; mit Einar Thomassen (Hrsg.), Valentinianism: New Studies (=  Nag Hammadi and Manichean Studies, Bd.  96), Leiden: Brill, 2019; Die Gnosis, München: Beck, 42018; Gottes Körper: Jüdische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike, München: Beck, 2016; Das antike Christentum: Frömmigkeit, Lebensformen, Institutionen, München: Beck, 22012. Steffen Martus ist seit 2010 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er studierte Deutsche Philologie, Sozialkunde, Philosophie und Soziologie an der Universität Regensburg und wurde 1998 an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Nach der Habilitation 2006, die ebenfalls an der Humboldt-Universität zu Berlin erfolgte, hatte er zunächst Professuren an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Kiel inne. Im Jahr 2015 wurde ihm der Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft verliehen. Steffen Martus ist u.  a. Mitherausgeber des Jahrbuchs der Deutschen Schillergesellschaft und von Text + Kritik sowie der im Verlag de Gruyter erscheinenden Studien zur deutschen Literatur. Er leitet die „Forschungsplattform Literarisches Feld DDR: Autor*innen, Werke, Netzwerke“ (www.ddr-literatur.de) sowie das Teil­ projekt „Was ist wichtig? Schlüsselstellen in der Literatur“ (https://www.projekte. hu-berlin.de/de/schluesselstellen). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen „Konstellationen der Aufklä­ rung“ von der Frühen Neuzeit bis in die Moderne, die Praxeologie der Philologie sowie historische Epistemologie und Hermeneutik.

Biobibliographische Angaben zu den ­Herausgebern und Autor/innen 

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Ausgewählte Publikationen: Die Brüder Grimm. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg: Verlag rororo, 32017; Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, Berlin: Rowohlt, 22015; mit Peter-Hennig Haischer, Charlotte Kurbjuhn und Hans-Peter Nowitzki (Hrsg.), Kupferstich und Letternkunst. Buchgestaltung im 18. Jahrhundert, Heidelberg: Winter, 2016; Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis 20.  Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin/New York: de Gruyter, 2007. Jan Söffner hat den Lehrstuhl für Kulturtheorie und Kulturanalyse an der Zep­ pelin Universität in Friedrichshafen inne, wo er auch als Vizepräsident für Lehre und Didaktik tätig ist. Er ist promovierter Italianist und habilitierte sich an der Universität zu Köln in Vergleichender Literaturwissenschaft und Romanistik. Von 1999 bis 2007 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Romanistik der Universität zu Köln, von 2008 bis 2010 arbeitete er am Forschungsprojekt „Motion and Emotion“ am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. 2011 war er Stipendiat am Zentrum Morphomata in Köln, wo er bis zu seinem Ausscheiden 2014 als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. Daraufhin vertrat er eine Profes­ sur in Romanischer Literatur an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Im Jahr 2016 übernahm er für neun Monate die Position des Programmdirektors beim Wil­ helm-Fink-Verlag in Paderborn. Seine Forschungsschwerpunkte bilden Literatur und Theater, Theorien der Metapher, der Mimesis und des Mythos, die Ästhetik der Verkörperung sowie Biopolitik und Ökonomie in den Schriften italienischer Gelehrter vom 19. Jahr­ hundert bis in die Gegenwart. Ausgewählte Publikationen: mit Antonio Lucci und Ester Schomacher (Hrsg.), Italian Theory, Berlin: Merve-Verlag, 2020; Nachdenken über Game of Thrones, Paderborn: Fink, 2017; Metaphern und Morphomata (=  Morphomata Lectures Cologne, Bd. 7), Paderborn: Fink, 2015; Partizipation. Metaphern, Mimesis, Musik – und die Kunst, Texte bewohnbar zu machen, Paderborn: Fink, 2014; Das Dekameron und sein Rahmen des Unlesbaren, Heidelberg: Winter, 2005. Philipp Stoellger ist seit 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theo­ logie mit Schwerpunkt Dogmatik und Religionsphilosophie an der Universität Heidelberg. Zuvor hatte er den Lehrstuhl für Systematische Theologie und Reli­ gionsphilosophie an der Universität Rostock inne, wo er zwischen 2013 und 2015 u.  a. Gründungssprecher des DFG-geförderten Graduiertenkollegs „Deutungs­ macht: Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten“ war. Zudem ist er seit 2020 Leiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg.

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 Biobibliographische Angaben zu den ­Herausgebern und Autor/innen

Nach dem Studium der evangelischen Theologie und Philosophie in Göt­ tingen, Tübingen und Frankfurt am Main erfolgten an der Theologischen Fakul­ tät der Universität Zürich 1999 die Promotion und 2006 auch die Habilitation. Fellowships führten ihn u.  a. nach Yale (2005), an das Käthe Hamburger Kolleg „Recht als Kultur“ in Bonn (2011–2012) sowie an das Marsilius-Kolleg in Heidel­ berg (2016–2018). Von 2018–2020 war Philipp Stoellger Beirat des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) in Weimar, zuvor war er u.  a. Mitbegründer und Vorstandsvorsitzender der „Gesellschaft für interdisziplinäre Bildwissenschaft“ sowie Leiter des von ihm gegründeten Insti­ tuts für Bildtheorie an der Universität Rostock. Christologie und Anthropologie, Phänomenologie und Hermeneutik, Bild­ wissenschaft und Medientheorie sowie Deutungsmachtanalysen in Recht und Religion bilden Schwerpunkte seiner Forschung. Ausgewählte Publikationen: mit Benjamin Held u.  a. (Hrsg.), Corona als Riss. Perspektiven für Kirche, Politik und Ökonomie, Heidelberg: heiBOOKS, 2020; (Hrsg.), Figurationen des Menschen. Studien zur Medienanthropologie, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2019; mit Martina Kumlehn (Hrsg.), Bildmacht – Machtbild. Zur Deutungsmacht des Bildes: Wie Bilder glauben machen, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2018; mit Burkhard Liebsch und Michael Staudigl (Hrsg.), Perspektiven europäischer Gastlichkeit: Geschichte – Kulturelle Praktiken – Kritik, Weilerswist: Velbrück, 2016; Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer categoria non grata (= Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, Bd. 56), Tübingen: Mohr Siebeck, 2010. Peter Strohschneider ist emeritierter Professor für Germanistische Mediävistik an der LMU München. Von 2006–2011 war er Vorsitzender des Wissenschafts­ rates, von 2013–2019 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Er ist Mitglied mehrerer nationaler und internationaler Gremien und Akademien (darunter Bayerische Akademie der Wissenschaften, Leopoldina, Academia Europaea) und war unter anderem auch Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Fritz Thyssen Stiftung. Gemeinsam mit Andreas Kablitz und Christoph Mark­ schies leitet er seit 2017 den Arbeitskreis „Text und Textlichkeit“ der Fritz Thyssen Stiftung, seit 2020 ist er außerdem Vorsitzender der von der Bundesregierung eingesetzten „Zukunftskommission Landwirtschaft“. Seine Arbeitsschwerpunkte sind (neben der Entwicklung des Wissenschaftssystems) die kulturwissenschaft­ liche Mediävistik, die Theorie des vormodernen Textes sowie Erzählliteratur und Lieddichtung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Ausgewählte Publikationen: Zumutungen. Wissenschaft in Zeiten von Populismus, Moralisierung und Szientokratie, Hamburg: kursbuch.edition, 2020; mit Andreas Kablitz und Christoph Markschies (Hrsg.), Prädikation und Bedeutung

Biobibliographische Angaben zu den ­Herausgebern und Autor/innen 

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(= Text und Textlichkeit, Bd. 1), Berlin/Boston: de Gruyter, 2020; Reden 2013–2019. Eine Auswahl, Bonn: DFG, 2019; Versuch über die Universität. Selbstbezug und Fremdbezug der Wissenschaften, Konstanz: UVK, 2015; Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur, Heidelberg: Winter, 2014; (Hrsg.), Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFGSymposion 2006, Berlin/New York: de Gruyter, 2009.

Register Abel, Günter 119 Adorno, Theodor W. 213 Alexy, Robert 84 Angehrn, Emil 119 Anselm (von Canterbury) 128 Aristoteles 28 Askani, Hans-Christoph 119 Augustinus 139  f., 174, 177, 184 Bader, Günter 119 Balthasar, Hans Urs von 179 Balzac, Honoré de 16, 19 Barthes, Roland 166 Barth, Karl 129, 131, 173, 182 Bauer, Thomas 5 Bayer, Oswald 119 Benedikt XVI. (Papst), bürgerlich Josef Ratzinger 186 Berger, Klaus 119 Best, Stephen 203 Beutel, Albrecht 170  f., 173 Blondel, Maurice 179 Blumenberg, Hans 116, 119, 127, 134 Bollack, Jean 214 Bonhoeffer, Dietrich 167, 169  f., 182 Bonsirven, Joseph 180 Boole, George 28 Borges, Jorge Luis 136 Bosse, Heinrich 61 Brendecke, Arndt 111 Brunner, Emil 169 Bühler, Pierre 119 Bultmann, Rudolf 119, 127, 169, 182 Callon, Michael 86 Caputo, John D. 119 Carnap, Rudolf 193 Cassirer, Ernst 121, 142 Cassou-Noguès, Pierre 18 Chaine, Joseph 180 Chladenius, Johann Martin 216 Colpe, Carsten 187 Cusanus (Nikolaus von Kues) 151

https://doi.org/10.1515/9783110698084-009

Dainat, Holger 61 Dalferth, Ingolf U. 119 Daniélou, Jean 179 Dante Alighieri 205, 213 Deleuze, Gilles 213 Derrida, Jacques 75, 119, 125, 141  f., 154, 156, 158 Descartes, René 1, 3, 27, 138 Deuser, Hermann 119, 187 Dilthey, Wilhelm 8 Droysen, Johann Gustav 166 Ebeling, Gerhard 119, 167–171, 173–178, 180–186, 189, 191  f. Eco, Umberto 123, 151 Eichendorff, Joseph von 215 Erasmus von Rotterdam 175 Esser, Josef 83  f. Faulkner, William 17 Fellmann, Ferdinand 119 Felski, Rita 203 Feynman, Richard 36 Figal, Günter 119 Floridi, Luciano 4 Foucault, Michel 75, 166 Frank, Manfred 119 Frege, Gottlob 8 Freud, Sigmund 117, 133, 211 Fuchs, Ernst 127 Gadamer, Hans-Georg 14, 83, 115, 119, 125, 127, 141, 187, 194, 204, 211  f. Galton, Francis 39 Geertz, Clifford 17 Genette, Gérard 23, 216 Gödel, Kurt 30 Goodman, Nelson 119 Gräb, Wilhelm 130  f. Graf, Friedrich Wilhelm 180 Grimm, Jacob 73 Grondin, Jean 119 Guatelli, Roberto 27 Gumbrecht, Hans Ulrich 119

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 Register

Habermas, Jürgen 119, 131, 158 Hamacher, Werner 204 Harari, Yuval Noah 2, 11 Harnack, Adolf von 181 Hartmann, Nicolai 169 Hassemer, Winfried 84 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 115, 119, 121, 139, 142 Heidegger, Martin 2, 9, 19, 115, 119, 127 Herméren, Göran 55 Hiebsch, Sabine 177 Hoare, Charles 31  f. Hoffmann, Christoph 67 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 128, 151, 215 Holl, Karl 171–175, 177  f. Homer 181, 205, 208, 209 Hörisch, Jochen 116, 119  f., 142, 166  f., 186, 190–192, 194 Horkheimer, Max 26 Husserl, Edmund 8, 19, 119, 134 Hutto, Dan 6 Jameson, Fredric 211 James, William 7 Jauß, Hans Robert 119, 127 Jonas, Hans 34 Jüngel, Eberhard 119 Junghans, Helmar 176 Jung, Matthias 119 Kablitz, Andreas 46, 74 Kant, Immanuel 117, 157, 206 Kaufmann, Arthur 84 Kierkegaard, Søren 137, 214 Kittler, Friedrich 72 Klauck, Hans-Josef 184 Knorr-Cetina, Karin 86 Korsch, Dietrich 119 Körtner, Ulrich H. J. 131 Koselleck, Reinhart 75 Krämer, Sybille 26 Krüger, Gerhard 169 Külling, Samuel 187 Kundera, Milan 19  f. Kurz, Gerhard 63

Landmesser, Christof 119 Larenz, Karl 84 Latour, Bruno 85  f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 3, 26  f., 30, 136, 138 Lenk, Hans 119 Leonardo da Vinci 27 Levinas, Emmanuel 115, 119, 159 Liebsch, Burkhard 119, 156, 159 Limpinsel, Mirco 71 Loofs, Friedrich 181 Lubac, Henri de 167–170, 178–186, 189, 191  f. Luckmann, Thomas 215 Luhmann, Niklas 4, 101, 108, 138 Luther, Martin 168  f., 171, 173–178, 181, 185  f., 189, 190  f. Lyotard, Jean-François 10  f., 15  f. Makkreel, Rudolf Adam 119 Mann, Thomas 136 Man, Paul de 119 Marcus, Sharon 203 Marion, Jean-Luc 119 Marquand, Allan 28 Marx, Karl 117, 211 Maurer, Wilhelm 169 Mersch, Dieter 119, 142 Migne, Jacques-Paul 174 Mittelstraß, Jürgen 193 Mol, Annemarie 86 Morris, Charles W. 193 Myin, Eric 6 Neumann, John von 28, 32  f., 38 Neurath, Otto 193 Nietzsche, Friedrich 116  f., 139, 205  f., 211 Nikolaus von Lyra 174 Noble, Safyia 35 Oevermann, Ulrich 119 Origenes 174, 181, 184 Panofsky, Erwin 165 Parmenides 155 Peirce, Charles S. 2, 27  f., 119 Pétain, Philippe 180 Pickering, Andrew 86

Register 

Platon 4, 115, 136 Plessner, Helmuth 133, 136 Pohl, Thorsten 69 Pörksen, Uwe 203 Rentsch, Thomas 119 Rheinberger, Hans-Jörg 65 Richard, Louis 180 Ricœur, Paul 117, 119, 121, 127, 129, 142, 154, 159, 202, 211 Rilke, Rainer Maria 204, 206 Rorty, Richard 119 Ruppelt, Georg 27 Ryle, Gilbert 58 Saussure, Ferdinand de 216 Schapp, Wilhelm 17 Scherer, Wilhelm 73 Schlaffer, Heinz 209 Schlegel, Friedrich 144 Schleiermacher, Friedrich 54, 118–120, 127, 130, 137  f., 141, 144, 158, 167, 206, 216 Schlier, Heinrich 169 Schmitt, Carl 75 Schnädelbach, Herbert 116, 119 Scholz, Oliver R. 119 Schröder, Ernst 28 Schütz, Alfred 214–216 Schwindt, Jürgen Paul 201, 203–205, 212 Shannon, Claude E. 27 Simon, Dieter 193 Simon, Josef 119

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Soden, Hans von 169 Sokrates 136 Staiger, Emil 204 Stegmaier, Werner 119 Steinhauer, Fabian 86 Strabo, Walafrid 174 Strohschneider, Peter 216 Szondi, Peter 67 Teilhard de Chardin, Pierre 179 Thales (von Milet) 128 Thue, Axel 29 Troeltsch, Ernst 123 Turing, Alan 29 Twombly, Cy 151 Valéry, Paul 136 Vattimo, Gianni 119 Vergil (Publius Vergilius Maro) 205, 208 Vico, Giovanni Batista 138 Waldenfels, Bernhard 119, 142, 156, 159 Warburg, Aby 165 Weber, Max 26, 110 Weder, Hans 119 Weimar, Klaus 119 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 209 Winko, Simone 49, 73 Zabka, Thomas 72 Zweig, Katharina 34 Zwingli, Huldrych 175