Familie unter Verdacht: Mechanismen und Folgen medialer Skandalisierungen von Kinderschutzfällen 9783839454657

Seit einigen Jahren rücken die Themen familiale Erziehung und Kinderschutz immer stärker in den Fokus des öffentlichen I

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German Pages 490 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Zum Geleit
Worte des Dankes
I Familiale ›Erziehungs(in)kompetenz‹ als soziales Problem und Forschungsgegenstand
1. Begriffliche Annäherungen und historische Entwicklungen
2. Perspektiven auf das Phänomen
3. Erkenntnisinteresse, Aufbau und Genese der vorliegenden Arbeit
II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms
1. Theoretisch-methodologischer Bezugsrahmen
2. Empirisch-heuristische Vorarbeiten zur Konkretisierung und Eingrenzung des Forschungsfeldes
3. Umsetzung der Diskursanalyse als dreischrittiges, relationales Mehrebenenverfahren
III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ – Zur Anerkennung und Institutionalisierung eines sozialen Problems
1. Die Ausgangsnarration: Der Fall ›Kevin‹ als Teil einer sich ausweitende Katastrophe familialer ›Erziehungsinkompetenzen‹
2. Die Gegennarration: Der Fall ›Kevin‹ als Wegbereiter einer gefährlichen Entmachtung familialer ›Erziehungskompetenzen‹
3. Die Alternativnarration: Der Fall ›Kevin‹ als Symbol eines unterentwickelten (Risiko-)Managements familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹
4. Der Dualismus von Tradition und Innovation – Ein modernisierungs- und ritualtheoretischer Blick auf die Diskurskarriere der Erzählstrukturen
IV Narrationsübergreifende (Macht-)Positionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens
1. Das Kind(eswohl) als diskursiver Operator
2. Diskursive Akte des Ausgrenzens und Unterdrückens von Familien
3. Das Diskursensemble der medienöffentlichen Sprecherpositionen
4. Subjektivität und Subjektivierung im Dispositiv der Kindeswohlsicherung
V Synthese und Ausblick
1. Die Phänomenstruktur familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹
2. Mögliche Handlungsimplikationen für die Stakeholder des Diskurses
3. Grenzen und Chancen des Forschungsprogramms
VI Verzeichnisse
1. Tabellenverzeichnis
2. Abbildungsverzeichnis
3. Literaturverzeichnis
4. Verzeichnis der zitierten Printmedien
Anlagen
A1 Schlagwörter der analytischen Suchbewegungen
A2 Grundlegendes Kodierschema zur Strukturierung und Verdichtung des Materials
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Familie unter Verdacht: Mechanismen und Folgen medialer Skandalisierungen von Kinderschutzfällen
 9783839454657

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Sabrina Dahlheimer Familie unter Verdacht

Gesellschaft der Unterschiede  | Band 66

Sabrina Dahlheimer, geb. 1981, forscht und lehrt am Institut für Kindheit, Jugend und Familie der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der empirischen Familien- und Kindheitsforschung, im Bereich der Wissensund Kultursoziologie sowie der Qualitäts- und Evaluationsforschung.

Sabrina Dahlheimer

Familie unter Verdacht Mechanismen und Folgen medialer Skandalisierungen von Kinderschutzfällen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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Inhalt

Zum Geleit..................................................................................... 9 Worte des Dankes ............................................................................. 11 I 1. 2. 3.

Familiale ›Erziehungs(in)kompetenz‹ als soziales Problem und Forschungsgegenstand . 13 Begriffliche Annäherungen und historische Entwicklungen................................. 14 Perspektiven auf das Phänomen .......................................................... 19 Erkenntnisinteresse, Aufbau und Genese der vorliegenden Arbeit ......................... 24

II 1.

Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms .................................. 29 Theoretisch-methodologischer Bezugsrahmen ........................................... 30 1.1. Familie und Erziehung als soziale Konstrukte – Die hermeneutischwissenssoziologische Grundlegung des Forschungsprogramms .................... 30 1.2. Die diskursive Verfasstheit von Familie und Erziehung – Vielfalt und Potenziale diskursanalytischer Zugänge...................................................... 32 1.3. Verortung des Diskursverständnisses – Verhältnisbestimmungen und gegenstandsbezogene Erweiterungen ............................................. 37 Empirisch-heuristische Vorarbeiten zur Konkretisierung und Eingrenzung des Forschungsfeldes ................................................................... 48 2.1. Annäherungen an das Diskursfeld familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ ........... 49 2.2. Der Diskursstrang der Kindesmisshandlung und -vernachlässigung als thematischer Rahmen ............................................................ 58 2.3. Festlegung des Ausgangskorpus zur Feinanalyse .................................. 76 Umsetzung der Diskursanalyse als dreischrittiges, relationales Mehrebenenverfahren ..... 79 3.1. Erster Arbeitsschritt: Die Herausarbeitung diskursiver Wissens- und Infrastrukturen   .... . . ................................................................ 81 3.2. Zweiter Arbeitsschritt: Die komparative Rekonstruktion narrativer Leitkonzepte ... 90 3.3. Dritter Arbeitsschritt: Die Relationierung der Elemente und Ebenen ................ 94 3.4. Zusammenfassende Darstellung der Analyseverfahren und Synopse des Analysespektrums ............................................................102

2.

3.

III 1.

2.

3.

4.

IV 1.

2.

3.

Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ – Zur Anerkennung und Institutionalisierung eines sozialen Problems ...................................... 107 Die Ausgangsnarration: Der Fall ›Kevin‹ als Teil einer sich ausweitende Katastrophe familialer ›Erziehungsinkompetenzen‹ .................................................. 108 1.1. Die Problematisierung des Falls ›Kevin‹ als epidemisches ›Horrorszenario‹ ....... 108 1.2. Die Täter-Opfer-Polarisierung als simplifizierendes Strukturkonzept ............... 115 1.3. Die strategische Inszenierung von Misstrauen ..................................... 121 1.4. ›Überwachen und Strafen‹ als gefahrenabwehrende Praxis institutionalisierten Misstrauens ...................................................................... 131 1.5. Synopse der Erzählstruktur und Leitkonzepte narrativer Sinnstiftung .............. 142 Die Gegennarration: Der Fall ›Kevin‹ als Wegbereiter einer gefährlichen Entmachtung familialer ›Erziehungskompetenzen‹ .....................................................148 2.1. Die Nihilierung des Problems – Der Fall ›Kevin‹ als unglücklicher Einzelfall ......... 149 2.2. Subjekte auf Lebens- und Abwegen eines erweiterten Täter-Opfer-Raumes ........155 2.3. ›Sichern und Bewahren‹ familialer Schutzräume als zentrale Bewältigungsstrategie ............................................................162 2.4. Die strategische Aktivierung des kulturellen Gedächtnisses ...................... 168 2.5. Synopse der Erzählstruktur und Leitkonzepte narrativer Sinnstiftung .............. 173 Die Alternativnarration: Der Fall ›Kevin‹ als Symbol eines unterentwickelten (Risiko-)Managements familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹............................ 177 3.1. Die Rationalisierung des Problems – Der Fall ›Kevin‹ als kalkulierbares Risiko ...... 177 3.2. Die Auflösung des Täter-Opfer-Raumes in ökonomisierte Tausch- und Lernwelten . 183 3.3. Die strategische Mobilisierung der Subjekte in einer selbstwirksamen Bewältigungspraxis ............................................................... 192 3.4. Die Etablierung von ›Hilfen zur Selbsthilfe‹ als risikobasiertes Kontrollsystem ...... 197 3.5. Synopse der Erzählstruktur und Leitkonzepte narrativer Sinnstiftung ............. 209 Der Dualismus von Tradition und Innovation – Ein modernisierungs- und ritualtheoretischer Blick auf die Diskurskarriere der Erzählstrukturen..................... 212 4.1. Der Fall ›Kevin‹ als Krisenerzählung einer entgleisten Modernisierung.............. 213 4.2. Diskursive Versuche der Wiederherstellung einer sozialen Ordnung ................ 218 4.3. Familie und Erziehung unter Kontingenzvorbehalt ................................ 222 Narrationsübergreifende (Macht-)Positionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens .......... 231 Das Kind(eswohl) als diskursiver Operator ............................................... 233 1.1. Das Kindeswohl als Differenzierungslinie und Maßstab familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ ...................................................... 234 1.2. Die Auflösung des Kindes in der Projektionsfläche unterschiedlicher Ordnungen... 237 Diskursive Akte des Ausgrenzens und Unterdrückens von Familien....................... 239 2.1. Die öffentliche ›Vorführung‹ als performative Praxis einer generalisierenden Stigmatisierung .................................................................. 241 2.2. Die ›patriarchalische Familie‹ als (re-)stabilisierende Modellpraxis hierarchischer Geschlechter- und Familienordnungen ............................ 246 2.3. Die Markierung von ›Risiko- und Problemfamilien‹ als klassifizierende Praxis sozialer Hierarchisierung ......................................................... 261 Das Diskursensemble der medienöffentlichen Sprecherpositionen ....................... 275

4.

V 1.

3.1. Relativierung und Stärkung von Macht in diskursiven Akteurskonstellationen ...... 276 3.2. Fälle wie ›Kevin‹ als ›nützliche Gesetzwidrigkeit‹ politischer Sprecherpositionen.. 280 3.3. Expertenkulturen als ›Problemnutzer‹ und temporäre Innovationszentren ........ 296 3.4. Ungenutzte und unbesetzte Sprecherpositionen ................................... 312 Subjektivität und Subjektivierung im Dispositiv der Kindeswohlsicherung ................. 316 4.1. Hilfe als Urteil – Familiale Subjektivierung unter Risikobehaftung .................. 317 4.2. Familiale Subjektivierung zwischen (Selbst-)Zwang und Autonomie................ 329 4.3. Soziale Arbeit in Vertrauens- und Risikoumwelten ................................ 346

2. 3.

Synthese und Ausblick................................................................. 357 Die Phänomenstruktur familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ ............................ 358 1.1. Narrationslinien der diskursiven Wissens- und Infrastrukturen .................... 358 1.2. Genealogische Perspektiven auf die sozialen Akteure und diskursiven Praktiken des (Zu-)Ordnens .................................................................361 Mögliche Handlungsimplikationen für die Stakeholder des Diskurses ..................... 372 Grenzen und Chancen des Forschungsprogramms ....................................... 383

VI 1. 2. 3. 4.

Verzeichnisse........................................................................... 391 Tabellenverzeichnis ..................................................................... 391 Abbildungsverzeichnis ................................................................... 391 Literaturverzeichnis .................................................................... 392 Verzeichnis der zitierten Printmedien ................................................... 470

Anlagen ..................................................................................... 485 A1 Schlagwörter der analytischen Suchbewegungen ........................................ 485 A2 Grundlegendes Kodierschema zur Strukturierung und Verdichtung des Materials ......... 487

Zum Geleit

Die vorliegende Studie Sabrina Dahlheimers ist in einem weiteren sozialgeschichtlichen Bezugsrahmen angesiedelt. Spätestens in den 1970er Jahren gewinnt der kritische Diskurs zum juristischen und pädagogischen Begriff des Kindeswohls an Fahrt. Angesichts der Entscheidungen, die zum Beispiel zum Sorgerecht in Trennungs- und Scheidungsfragen oder zur Inobhutnahme von Kindern durch Jugendämter und Familiengerichte zu treffen sind, geraten Gefährdung und Verletzung des Kindeswohls in Familien verstärkt in den Blick. Dem juristischen Klärungsbedarf treten zunehmend erziehungswissenschaftliche Argumente zur Seite. Sie betonen die grundlegenden Bedürfnisse von Kindern im Horizont ihrer emotionalen, sozialen und kognitiven Entwicklung. Herausgestellt wird die bedeutende Rolle elterlicher Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern. Erkannt wird aber auch eine Lücke zwischen den Anforderungen an die private Erziehungskompetenz von Eltern und der öffentlichen Verantwortung für die Sicherung entsprechender familialer Rahmenbedingungen. Gefordert wird die strukturelle Absicherung von Rechtsansprüchen der Eltern auf Unterstützung ihrer Erziehungsleistungen insbesondere in einkommensschwachen Lebenswelten. Verankert wird diese Forderung schließlich 1990 im Sozialgesetzbuch VIII zur Kinder- und Jugendhilfe, das gegenwärtig im Hinblick auf die grundlegende Stärkung der Kinderrechte überarbeitet wird. Der Reformprozess ist nicht nur durch eine erhebliche Ausdifferenzierung fachlicher Hilfen zur Erziehung seitens der Sozialbehörden charakterisiert. Zu beobachten ist zugleich eine auffällige Zunahme der öffentlichen Wahrnehmung von Kindeswohlverletzungen, über die in unterschiedlichen Medien berichtet wird. In diesem Bezugsrahmen zeigt Sabrina Dahlheimers ebenso minutiöse wie weit ausgreifende Diskursanalyse, wie sich in der Berichterstattung insbesondere der Printmedien eigensinnige und kontroverse Diskurslinien herauskristallisieren. Diese unterscheiden sich nicht nur in der Form, vor allem aber im Inhalt von fachlichen Diskursen der Erziehungswissenschaft und der psychosozialen Dienste. Ausgehend von einer immensen Häufung von Artikeln in überregionalen Zeitungen als Folge eines Falls von Kindesmisshandlung im Jahre 2006 (»Fall Kevin«) dokumentiert Dahlheimer, wie kontroverse Narrationslinien in teils enger, teils loser Koppelung zu den von der Erziehungswissenschaft eingebrachten Argumenten stehen. Zwar werden diese nicht völlig ignoriert, etwa wenn sie herangezogen werden, um Abweichungen von der Idea-

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Familie unter Verdacht

lisierung perfekter Erziehungskompetenz zu verurteilen. Zu erkennen ist aber auch, wie sich Berichterstattung bisweilen von Fachlichkeit entkoppelt und die fallbezogene Beschreibung verkürzt und normativ auflädt, dramatisiert, emotionalisiert. So übersteigen sensationalistische Konstruktionen bisweilen dämonisierender, abwertender, aber auch idealisierend beschönigender Eltern- und Familienbilder die Standards einer auf Zurückhaltung angelegten Fallschilderung. Ob unter dem Druck der medialen Aufmerksamkeitsökonomie, ob unter der Marktlogik konkurrierender Medien oder schlicht in der Diffusion des Halbwissens bildet sich ein sich selbst reproduzierendes diskursives Narrationsgeflecht heraus, dessen widersprüchliche Struktur zu kennen für Erziehungswissenschaft und Medienöffentlichkeit schon deshalb relevant ist, weil über die Einzelfälle hinaus die medial erzeugten Sprachbilder Einfluss auf Selbstdeutungen von Eltern und auf ausgrenzende Gegenbilder nehmen. Die Wucht solcher Konstrukte bietet allerdings wenig konstruktive Unterstützung für Familien in prekären Lebenslagen. Sie stellen familiales Erziehungshandeln unter Verdacht, das Kindeswohl nicht dauerhaft verlässlich gewährleisten zu können. Der Begriff der Erziehungskompetenz wird so zu einer Kategorie der Generierung von Misstrauen, übernimmt er doch die Funktion einer Unterstellung defizitärer Elternschaft in Permanenz. Dies umfasst die Gestaltung der Geschlechterrollen in Elternschaft ebenso wie die advokatorischen Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe. Sabrina Dahlheimer bietet für die Tiefenstruktur dieses Diskursgeflechts höchst eindrucksvolle Belege. Sie belässt es aber nicht bei deren Sammlung und ordnender Bündelung. Im Horizont machtkritischer Theorie geht sie zusätzlich den vergesellschafteten Wechselbeziehungen zwischen sozialer Ungleichheit, Medienöffentlichkeit und fachlicher Verantwortung nach. Angesichts der asymmetrischen Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen schließt die Autorin mit Empfehlungen für eine Stärkung medienreflexiver Fachlichkeit, und zwar sowohl in den Printmedien hinsichtlich erziehungswissenschaftlichen Wissens, als auch der psychosozialen Dienste und der Erziehungswissenschaft hinsichtlich der medialen Narrative über Kindeswohl und seiner Verletzungen.   Prof. Dr. Rainer Treptow                                                                                                    Tübingen, im Mai 2020

Worte des Dankes

»It’s not just what you know, but who you know« (Lin 2001, S. 41). Die vorliegende Arbeit wurde im November 2019 von der Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Ihr liegt ein mehrjähriger Forschungsprozess zugrunde, der nicht in Isolation stattfand, sondern durch eine Vielzahl von Menschen unterstützt wurde – ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. An erster Stelle möchte ich mich diesbezüglich bei meinem Betreuer Prof. Dr. Rainer Treptow für die Möglichkeit bedanken, an seinem Lehrstuhl promovieren zu dürfen. Das entgegengebrachte Vertrauen und die eingeräumten Freiheiten bei der Bearbeitung des Themas habe ich stets als sehr motivierend erlebt, und sie haben den Erfolg der Arbeit maßgeblich positiv beeinflusst. Mein Dank gilt auch meiner Zweitbetreuerin Prof. Dr. Marion Müller, die insbesondere in der Endphase der Promotion ebenfalls wertvolle Hinweise und entscheidende Anregungen eingebracht hat. Zudem möchte ich Prof. Dr. Stefan Faas danken, der mich durch alle Promotionsphasen als Kollege und Vorgesetzter begleitet hat, immer ein offenes Ohr für thematische und persönliche Belange hatte, mir beratend zur Seite stand und mir in besonders arbeitsreichen Phasen bestmöglich »den Rücken frei« gehalten hat. Herzlich bedanken möchte ich mich aber auch bei all den anderen ArbeitskollegInnen des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen sowie des Institutes Kindheit, Jugend und Familie der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd, die mich auf dem Weg zur Promotion begleitet haben. Der Erfahrungsaustausch und die fachlichen Diskussionen brachten immer wieder neue Denkanstöße hervor, die nicht unerheblich zur erfolgreichen Fertigstellung der Arbeit beigetragen haben. Ein großer Dank gilt auch Sascha Petry und allen MitarbeiterInnen der PlanWerk GmbH für die Bereitstellung des vielleicht ersten Coworking Space in der Region, das letztlich so viel mehr war als ein gemeinsames Arbeiten im selben Raum. Ohne die angenehme Atmosphäre und all die aufmunternden und motivierenden Worte des gesamten Teams wäre die Arbeit vielleicht nie zu einem erfolgreichen Abschluss gekommen. Einen wichtigen Beitrag leisteten zudem Alicia Götz und die Studi-Lektor GmbH, insbesondere mein Lektor Dr. Volker Manz. Sie haben das Beste aus meinen Gedan-

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Familie unter Verdacht

ken herausgeholt, indem sie ganz wesentlich zum sprachlichen Feinschliff beigetragen haben. Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass diese Arbeit ohne die finanzielle Unterstützung durch das Landesgraduiertenprogramm Baden-Württemberg so nicht realisierbar gewesen wäre – dafür meinen herzlichen Dank. Last but not least gebührt ein besonderer Dank meiner Familie und all meinen Freunden, die mich durch die Höhen und Tiefen der Promotion begleitet haben und das Projekt immer mit Interesse verfolgten. Hier habe ich nicht nur in vielerlei Hinsicht wertvolle Unterstützung erfahren dürfen, sondern mir wurde auch Ablenkung geboten, wenn es nötig war. Vor allem aber haben sie mir mit ihrer Zuversicht beiseite gestanden, wenn meine eigene am Ende war.   Sabrina Dahlheimer                                                                                           Schwäbisch Gmünd, im Juni 2020

I

Familiale ›Erziehungs(in)kompetenz‹ als soziales Problem und Forschungsgegenstand

»Elternschaft ist eine derart zweischneidige und glücksabträgliche Angelegenheit und mit einer derart zweifelhaften Verpflichtung behaftet, daß die Frage, warum die Menschen überhaupt Eltern werden und Eltern bleiben wollen, nur eine Antwort zuzulassen scheint: Weil sie offenbar nicht wissen, was sie tun, oder immer schon vergessen haben, was sie längst wußten« (Anton Hügli 1998, zit.n. Wiegand 2001, S. 51). In den vergangenen Jahren rückte die familiale Erziehung vermehrt in den Fokus des medialen, wissenschaftlichen und politischen Interesses, was sich nicht zuletzt in zahlreichen öffentlichen Debatten und nachrichtenwertsteigernden Enthüllungen von Defiziten und Skandalen um familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ widerspiegelt. Parallel zu einer funktional orientierten Bildungsdebatte und kontroversen Diskussionen über die frühkindliche Betreuung nimmt hierbei insbesondere das öffentliche Interesse an der Berichterstattung über Kindeswohlgefährdungen zu. Fälle wie ›Kevin‹ in Bremen, ›Lea-Sophie‹ in Schwerin und ›Jessica‹ in Hamburg scheinen die Debatten medienwirksam zu prägen und lassen Diskussionen um Frühwarnsysteme und Risikoscreenings aufkeimen. Darüber hinaus ist ein Boom an Elternbildungsangeboten und Frühfördermaßnahmen zu verzeichnen, die zunehmend das Bild ›versagender Eltern‹ vermitteln, und selbst in zahlreichen TV-Formaten lassen sich die Auswirkungen angeblich unzureichender ›Erziehungskompetenzen‹ verfolgen.1 In dieser allgegenwärtigen Auseinandersetzung mit Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ treten insbesondere normative Entwürfe von Familien und Erziehung in Erscheinung, die eine Gesellschaft, eine soziale Gruppe oder ein einzelner Akteur bilden oder sich zu eigen machen und die mit jeweils unterschiedlichen Erwartungen, Interessen und Zielsetzungen verbunden sind. Dabei werden die Begriffe ›Familie‹, ›Erziehung‹ und vor allem das Kompositum ›familiale Erziehungs(in)kompetenz‹ sowohl in ihrer alltäglichen Anwendung als auch innerhalb der wissenschaftlichen

1

Immer mehr Fernsehsendungen wie z.B. »Super-Nanny«, »Die strengsten Eltern der Welt«, »Schluss mit Hotel Mama!« oder »Teenager außer Kontrolle« widmen sich dem Thema Erziehung.

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Familie unter Verdacht

Disziplinen sehr unterschiedlich gefasst. Die daraus resultierenden, mitunter widersprüchlichen Zuschreibungen und Anforderungen haben jedoch immer auch einen handlungsauffordernden Charakter, der das Verhalten und Empfinden der Beteiligten auf mehreren Ebenen entscheidend beeinflussen kann. Dies zeigt sich nicht zuletzt in zahlreichen Studien, die konstatieren, dass sich Eltern durch die widersprüchlichen Erwartungen, die an sie herangetragen werden, zunehmend verunsichert, überfordert und gestresst fühlen (vgl. z.B. Adam et al. 2014; Bertram & Spieß 2011; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2017; IGES-Institut 2018; Institut für Demoskopie Allensbach 2011 und 2013; Merkle & Wippermann 2008; Seehaus 2014). Solche Befunde verweisen nicht nur auf eine zunehmende Überforderung einzelner Akteure, sondern auch auf das Brüchigwerden umfassender Erziehungs- und Familiensysteme und somit die Gefahr, dass diese Systeme ihre Funktion einbüßen. Gemeinsam mit den verschiedenen Bemühungen, familiale ›Kompetenzen‹ zu fördern, lässt sich dies als Indiz einer veränderten Wahrnehmung von Elternschaft und familialer Erziehung deuten. Die mitunter kontroverse Thematisierung und Problematisierung von Familie und Erziehung fordert daher nicht nur öffentliche Aufmerksamkeit ein, sondern konfrontiert auch Erziehungswissenschaft, Politik, Soziologie und verwandte Disziplinen mit der Frage, um welche Sachverhalte es sich hierbei konkret handelt, warum und wie diese zum Problem wurden sowie welcher Umgang sich damit in diesem hochaufgeladenen und umkämpften Feld zeigt. Für eine erste Annäherung an diese Fragen wird zunächst das vielfach diskutierte Phänomen familialer ›Erziehungskompetenz‹ entlang unterschiedlicher terminologischer, historischer und perspektivischer Kontexte einer Bestandsaufnahme unterzogen (vgl. Kap. I, 1 & 2), um auf dieser Basis das Erkenntnisinteresse und den Aufbau der vorliegenden Arbeit darzulegen (Kap. I, 3).

1.

Begriffliche Annäherungen und historische Entwicklungen

Diskussionen um die ›beste‹ Erziehung der Kinder sowie das Skandalisieren entsprechender ›Notstände‹ sind historisch keine neuen Phänomene. Sie lassen sich einhergehend mit sich wandelnden Bildern von Familie, Elternschaft und Kindheit seit der Antike immer wieder in wellenförmigen Abständen beobachten (vgl. Thiersch o.J.). Hierbei galt Elternschaft vor allem in der frühen Kindheit, die entwicklungspsychologisch an die Phase der Säuglingszeit im ersten Lebensjahr anknüpft und bis zur Schulzeit reicht (vgl. Stangl 2019), lange als weitgehend unhinterfragter Stützpfeiler. Entsprechend wurde die familiale Erziehung in dieser Entwicklungsphase nahezu ausschließlich im privaten Raum verhandelt und ihr nur wenig politische und öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Klaus & Thiele 2009). Im Vordergrund standen vielmehr institutionelle Erziehungs- und Bildungsprozesse, welche die bestmögliche Versorgung und Vorbereitung von Schulkindern auf spätere Lebensabschnitte sowie eine immer bessere Qualifizierung der abnehmenden Zahl an Kindern gewährleisten sollten (vgl. Lange 2010). Im Rahmen der zunehmenden Globalisierungsprozesse und der Frage nach einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie infolge des Strukturwandels der Wirtschafts- und Arbeitswelt sind jedoch auch die innerfamiliale Erziehung

I Familiale ›Erziehungs(in)kompetenz‹ als soziales Problem und Forschungsgegenstand

und Bildung zu zentralen gesellschaftlichen Ressourcen geworden, so dass vermehrt auf die bislang vernachlässigten Potenziale und Risiken von Familien verwiesen wird. Insbesondere im Zuge des »Bildungsdesasters nach PISA« (Cremer-Schäfer & Sondermann 2007) im Jahr 20002 traten Fragen zu familialen Hintergründen und Lebensbedingungen sowie deren Einflüssen auf die kindliche Entwicklung in den Vordergrund und wurden allmählich als ein öffentlich zu bearbeitendes Problem angesehen. Obwohl sich in der PISA-Studie keine expliziten Aussagen über die frühe Kindheit finden, hat der bildungswissenschaftliche Diskurs eine deutlich stärkere Hinwendung zur frühen Kindheit erfahren (vgl. Hein 2011, S. 32). Sie genießt gegenwärtig große Beachtung, gilt sie doch als entscheidende Entwicklungsphase, in der Weichen für das ganze Leben gestellt werden. Mähler et al. (2015) sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer »(Neu-)Entdeckung der frühen Kindheit« (S. 13), wie sie historisch in wechselnden zeitlichen Abständen immer wieder in Erscheinung trete: »Für die Pädagogik der frühen Kindheit z.B. gelten u.a. Friedrich Fröbel oder die ReformpädagogInnen als ProtagonistInnen, da sie u.a. die große Bedeutung der kindlichen Selbsttätigkeit und ihrer Potenziale für die spätere Entwicklung hervorgehoben haben. In der Psychologie wiederum haben psychoanalytisch orientierte Entwicklungstheorien schon seit Langem die Bedeutung der Bindung und verlässlicher Bezugspersonen hervorgehoben, während kognitivistische Entwicklungstheorien die frühe Eigenaktivität des Individuums beim Erschließen der Welt betont haben. Und neuerdings verweist die noch eher jüngere neuropsychologische Forschung auf die hohe Plastizität des Gehirns in der frühen Kindheit« (ebd.). Die aufstrebende Kindheitsforschung im Allgemeinen und die Pädagogik der frühen Kindheit im Besonderen verhandeln dementsprechend sämtliche pädagogischen Probleme und Handlungsfelder, die für Kinder von der Geburt bis zum Eintritt in die Schule bedeutsam sind: »Frühpädagogik hat daher ebenso mit dem Aufwachsen in Familien zu tun wie mit allen Formen institutioneller Erziehung und Betreuung von Kindern. Sie thematisiert auch Fragen der Qualifizierung von professionellen Erzieherinnen und von Eltern, der Strukturierung der sozialen Umgebung von Kindern, und nicht zuletzt umfasst Frühpädagogik auch die soziale, politische und kulturelle Sicherung der Bildungsprozesse von Kindern« (Peukert 1999, zit. in der Übers. v. Honig 2002, S. 2).

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Im Jahr 2000 startete die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) das Programme for International Student Assessment (PISA), eine Langzeitstudie, an der mittlerweile 32 Nationen beteiligt sind und in der 15-jährige Schüler alle drei Jahre auf ihre Fähigkeiten in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften getestet werden. Darüber hinaus werden Einstellungen und Aktivitäten der Jugendlichen sowie familiale Hintergründe erhoben (vgl. Baumert et al. 2001, S. 4f.). In der ersten Testphase landete Deutschland im internationalen Vergleich auf Platz 21, was zu einer medienwirksamen öffentlichen Debatte führte, die als ›PISA-Schock‹ in die Geschichte eingegangen ist und an den ›Sputnikschock‹ der 1950er Jahre sowie die daran anknüpfende Debatte der 1960er und 1970er Jahre um die vielfach beschworene ›Bildungskatastrophe‹ erinnert (vgl. hierzu ausführlicher Barz 2011).

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Familie unter Verdacht

Der Erziehungsbegriff verweist hierbei vor allem auf jede »absichtliche und planmäßige Einwirkung des Erwachsenen auf den Heranwachsenden« (Xochellis 1966, S. 51) bzw. alle »gezielte[n] und bewusste[n] Versuche, absichtsvoll auf die Persönlichkeitsentwicklung, auf Verhaltensmuster, Gewohnheiten, Werte, Normen und Überzeugungen einzuwirken. Erziehung bezeichnet hiernach den Teilbereich der sozialisatorischen Einflussnahmen« (Bauer et al. 2012, S. 14) und kann somit als Handlung verstanden werden, »durch die Menschen versuchen, die Persönlichkeit anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht zu fördern« (Brezinka 1990, S. 95). Die konkreten Anforderungen an Erziehung spiegeln hierbei immer auch den jeweiligen Zeitgeist wider: »Eine Norm und feste Maxime der Erziehung gibt es nicht und hat es nie gegeben. Was man so nennt, war stets nur die Norm einer Kultur, einer Gesellschaft, einer Kirche, eines Zeitalters, der, wie alle gebundene Regung und Handlung des Geistes, auch die Erziehung hörig war und die sie in ihre Sprache übertrug« (Buber 1953, S. 47). Mit Bernfeld (1973 [1925]) kann Erziehung so auch als »Summe aller gesellschaftlichen Reaktionen auf die Entwicklungstatsache« (S. 51) gefasst werden. Zwar scheint der Betreuungsbegriff in der Trias von Erziehung, Bildung und Betreuung in den gegenwärtigen Debatten zugunsten der anderen beiden Aspekte zunehmend an den Rand gedrängt zu werden, er umfasst aber nach Textor (1999) wesentliche Bereiche der Pflege, des Schutzes und der Fürsorge. Höffler-Mehlmer (2003, S. 17) zufolge lässt sich Erziehung daher insbesondere im Säuglingsalter noch nicht von der Betreuung abgrenzen. Letztere könne gerade in der frühsten Kindheit als Überbegriff für alle Aktivitäten gelten, die auf die Entwicklung des Kindes gerichtet sind. In Abgrenzung zur Betreuung bezieht sich der Begriff ›Bildung‹ meist auf »Prozesse, in denen Individuen sich in Auseinandersetzung mit kulturellen Überlieferungen und eigenen Erfahrungen befähigen, eigensinnig und eigenständig zu denken und zu handeln. Emphatisch formuliert: auf Prozesse der Selbstbildung zum autonomen selbstbewussten und selbstbestimmungsfähigen Subjekt« (Bauer et al. 2012, S. 14). Während sich die Betreuung somit stark auf die körperliche Entwicklung richtet, sind Erziehung und Bildung in der Regel eher kognitiv fundiert und als Prozess und Ergebnis stärker zukunftsgerichtet. Dabei scheinen insbesondere die Grenzen zwischen Bildung und Erziehung eher unscharf zu sein und werden mitunter kontrovers diskutiert: »Die Grenzen zwischen Bildung und Erziehung sind fließend; sie lassen sich auch institutionell (z.B. Schule vs. Eltern) nicht eindeutig bestimmen. Während die Erziehung eher auf die Entwicklung weltanschaulicher, ethischer und ästhetischer Einstellungen und Verhaltensdispositionen bezogen ist, betrifft Bildung stärker den Vorgang sowie das Ergebnis der Persönlichkeitsentwicklung in Institutionen durch Vermittlung und Aneignung von in Bildungsprogrammen definierten Inhalten (Wissen) und Qualifikationen (Kompetenzen)« (Horn et al. 2012, S. 177). Neben der PISA-Studie und dem Strukturwandel der Wirtschafts- und Arbeitswelt haben vor allem Diskussionen um kindliche Devianz, Zuwanderungswellen und Kinderschutzfälle in den letzten Jahren zahlreiche Fragen nach dem Erziehungsverhalten der Eltern und dessen Auswirkungen auf die Kinder aufgeworfen, wobei der Erziehungsbegriff mitunter auch synonym zum Bildungsbegriff eingesetzt zu werden scheint (vgl. Brumlik 2013, S. 20). Auffällig ist im Rahmen gegenwärtiger Debatten auch die deutli-

I Familiale ›Erziehungs(in)kompetenz‹ als soziales Problem und Forschungsgegenstand

che Konjunktur und nahezu inflationäre Verwendung des Kompetenzbegriffes. Bis zur Jahrtausendwende im familiären Kontext überhaupt nicht auffällig in Erscheinung getreten, versucht er nun zunehmend elterliches Erziehungshandeln zu umschreiben. Als in den 1970er Jahren der bildungstheoretische Kompetenzbegriff Einzug in die Debatten um institutionelle Bildung im Sekundär- und Tertiärbereich hielt, war nicht abzusehen, dass er wenige Jahrzehnte später selbst im innerfamilialen Bereich zu einem Grundbegriff der Elementarpädagogik avancieren sollte und sowohl in der Öffentlichkeit als auch im sozialwissenschaftlichen Diskurs zunehmend mit etablierten Begriffen wie Erziehung, Bildung, Qualifikation u.Ä. zu konkurrieren scheint (vgl. Drepper 2007; Grunert 2012; Kurtz 2010; Treptow 2014; Windeler 2014a). In der Vielzahl an Veröffentlichungen zu Kompetenzen, Kompetenzaufbau, Kompetenzentwicklung und bisweilen sehr spezifischen Kompetenzbereichen wie »Inkompetenzkompensationskompetenz« (Marquard 1981) entfaltet sich auch eine Vielfalt unterschiedlicher Kompetenzbegriffe und theoretischer Überführungen, die eine eindeutige Definition des Terminus nahezu unmöglich machen. Hinzu kommt der Umstand, dass er häufig in anwendungs- und zielbezogenen Kontexten oder einem alltagssprachlichen Verständnis verwendet wird, die nur den sehr spezifischen Ausschnitt verhandeln, der jeweils im Fokus steht (vgl. Kipfer 2000). Nach Weinert (1999) lassen sich grundsätzlich zwei Begriffsvarianten unterschieden: Kompetenzen als allgemeine Fähigkeiten bzw. Dispositionen und Kompetenzen als funktional bestimmte (Handlungs-)Fähigkeiten im Hinblick auf Leistungsdispositionen, motivationale Orientierungen, Metakompetenzen und Schlüsselkompetenzen. Zusammenfassend definiert er Kompetenzen an anderer Stelle als »umstrittene Selbstverständlichkeit […], die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können« (Weinert 2001, S. 27). Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive verweist bereits Roth (1971) auf die »verantwortliche Handlungsfähigkeit« (S. 180) als Inhalt und Ziel von Kompetenzen. Hierbei unterscheidet er zwischen Selbstkompetenz, Sachkompetenz und Sozialkompetenz (vgl. ebd.). Euler & Bauer-Klebl (2006) betrachten Kompetenzen aus didaktischer Perspektive als Konzept »zur Diagnose von Lernvoraussetzungen oder zur Bestimmung von Lernzielen im Sinne von angestrebten Dispositionen der Lernenden« (S. 20), wobei sie die Zielfokussierung des Begriffs betonen. Im Vergleich zu den anderen Begrifflichkeiten wird mit dem Kompetenzbegriff somit insgesamt ein deutlich stärkerer Leistungs- und Verantwortungsbezug erkennbar. Dadurch ist er insbesondere mit Prognosen, zukunftsgerichteten Erwartungen und künftigen Eventualitäten verbunden, die gleichzeitig in der Gegenwart vorausgesetzt werden. Lüders (2007) geht zudem davon aus, dass in den meisten Konzeptionen eine kritisch-reflexive Dimension der Hinterfragung mitgedacht wird, so dass ›Kompetenz‹ in der Regel mit Kritik einhergeht (vgl. S. 189f.). Trotz der häufigen Verwendung des Kompetenzbegriffes wird insgesamt deutlich, dass – ebenso wie hinsichtlich des Terminus (familialer) Erziehung, Bildung und Betreuung – bei Weitem kein Konsens über dessen konkrete Inhalte herrscht. Entsprechend werden je nach Disziplin und Erkenntnisinteresse

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zum Teil stark inkongruente Elemente darunter gefasst. Mit Marquard (1981) lässt sich lediglich Folgendes konstatieren: »Kompetenz hat offenbar irgendwie zu tun mit Zuständigkeit und mit Fähigkeit und mit Bereitschaft und damit, dass Zuständigkeit, Fähigkeit und Bereitschaft sich in Deckung befinden« (S. 24). Eindeutige Abgrenzungen zwischen dem Kompetenzbegriff und den Termini, die er beschreibt, finden sich jedoch kaum (vgl. Wilhelm & Nickolaus 2013). Entsprechend der generell disparaten, polarisierenden und unklaren Begriffsbestimmungen von ›Kompetenz‹ ist die Begriffsexplikation des Kompositums ›Erziehungskompetenz‹ besonders problematisch.3 Fuhrer (2007) versteht unter ›erziehungskompetenten‹ Familien jene Mütter und Väter, »die ihre Kinder lieben, die mit klaren, erklärbaren und flexiblen Regeln, mit der Ermöglichung altersgerechter Anregungen und durch die Förderung des kindlichen Strebens nach Autonomie Einfluss nehmen« (S. 11f.). Für Bertram et al. (2007) stellt ›Erziehungskompetenz‹ ein »umfassendes Konstrukt dar, das […] sowohl konkretes dysfunktionales und funktionales Erziehungsverhalten als auch die Einschätzung der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten schwieriger Erziehungssituationen und die Bewertung des eigenen Erziehungsverhaltens einschließt« (S. 676). Solche Definitionsversuche haben in der einschlägigen Literatur jedoch Seltenheitswert und auch in den meisten etablierten Wörterbüchern und Lexika wird der Begriff nicht geführt. Damit bleibt letztlich zumeist unklar, welche Kriterien bei den Auseinandersetzungen mit ›Erziehungskompetenz‹ zugrunde gelegt werden (vgl. Bertram & Deuflhard 2014, S. 334). Aus der Lektüre einschlägiger Publikationen lässt sich zudem ableiten, dass ›Erziehungskompetenzen‹ sowohl als Facette umfassender ›Elternkompetenzen‹ betrachtet werden als auch umgekehrt als übergeordneter Begriff zur ›Elternkompetenz‹, der weniger auf konkrete funktionale Teilbereiche verweist und auch Elemente einer nicht funktionalen Beziehung der Eltern zum Kind umfasst. Zumeist scheinen die Begriffe jedoch eher synonym und unreflektiert verwendet zu werden. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Termini besonders häufig in Zusammenhang mit der Prävention kindlicher und familialer Fehlentwicklungen auftreten, wo sie aus einer Defizitperspektive heraus in erster Linie als Zielsetzung von Erziehung fungieren (vgl. z.B. Beobachtungsstelle für gesellschaftspolitische Entwicklungen in Europa 2010; Berkič & Schneewind 2007; Kadera & Minsel 2018; Marx et al. 2018). Dies scheint nicht nur Lüders’ Annahme einer begriffsimmanenten kritischen Dimension von Kompetenz zu bestätigen (vgl. Lüders 2007), sondern macht auch eine trennscharfe Abgrenzung der beiden Termini ebenso unmöglich wie deren eindeutige Definition. So aber können sich Wissenschaft und Praxis letztlich nur an einem der vielen sozial bestimmten und sprachlich verfassten Kriterien orientieren. Der Kompetenzbegriff rückt darüber hinaus immer auch bestimmte institutionelle und gesellschaftliche Funktionen und Anforderungen von und an Familien in den Fokus: »Sie [die Familie] erbringt selber vielfältige gesellschaftlich relevante (Care-)Leis-

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Alle aufgeführten Kompetenzansätze haben lediglich exemplarischen Wert und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Zur vertiefenden Lektüre verschiedener Kompetenzmodelle und -perspektiven vgl. z.B. Arnold & Erpenbeck (2014); Faas et al. (2014); Wilhelm & Nickolaus (2013).

I Familiale ›Erziehungs(in)kompetenz‹ als soziales Problem und Forschungsgegenstand

tungen wie die Erziehung von Kindern; sie legt die Basis für Bindungsfähigkeit und Persönlichkeitsbildung, Gesundheit und Bildung u.a. m.« (Jurczyk et al. 2014, S. 10). Somit erfolgen Zuschreibungen familialer (In-)Kompetenz, ebenso wie die Definitionen von Bildung, Betreuung und Erziehung sowie Kindheit und Familie, immer vor dem Hintergrund einer sich permanent wandelnden Gesellschaft und der daraus hervorgehenden Erwartungen dessen, was als notwendig erachtet wird. Hierbei lassen sich gerade im Hinblick auf den Kompetenzbegriff Brüche in der Übertragung auf familiale Prozesse abzeichnen. So steht die theoretische Konzeption des bildungstheoretischen Kompetenzbegriffes zunächst der familialen Erziehungspraxis entgegen, die stark von Emotionen und Offenheit geprägt sowie in der Regel wenig professionell fundiert ist. Des Weiteren zeigen sich auch Konflikte im Hinblick auf Inhalte und Zielsetzungen, da familiale Erziehung weniger bewusst intendiert erfolgt und nicht als Förderauftrag mit gesellschaftlich relevanten Zielsetzungen konzipiert ist, d.h., die Leistungen sind in der Regel innerhalb von Familien eher intrinsisch motiviert und werden nicht vorrangig im Hinblick auf deren gesellschaftliche Funktion erbracht (vgl. ebd.). Hinzu kommt, dass die Inhalte des Kompetenzbegriffes als »Container-Wort« (Lenzen 1997, S. 949) unterschiedlich verfasst sind und so zu Irritationen führen können. Es ist daher anzunehmen, dass im Rahmen familialer Erziehung mitunter Effekte entstehen, die nicht von allen Gesellschaftsmitgliedern als wünschenswert angesehen bzw. die gar als problematisch wahrgenommen und entsprechend öffentlich verhandelt werden (vgl. Kaufmann 1990, S. 33f.). Der Zusammenhang zwischen innerfamilialen Handlungen und gesellschaftlichen Erwartungen sowie die Brüche in der Ausweitung des Kompetenzbegriffs auf innerfamiliale Erziehungsprozesse können somit die generelle Konflikthaftigkeit familialer Erziehung sowie die Transformationsprozesse öffentlicher Aushandlungen in weiten Teilen erklären. In der allgegenwärtigen Thematisierung familialer Erziehung scheint sich dementsprechend ein Wandel der funktionalen Erwartungen an Familien sowie des historisch veränderlichen Zusammenhangs von Öffentlichkeit und Privatheit anzudeuten. Dieser Wandel wird dabei unter dem Schlagwort ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ verhandelt und problematisiert und lässt sich so als Versuch der Abhilfe durch eine Neuverhandlung und (De-)Legitimierung der Institution Familie sowie der darin eingebunden Elternschaft interpretieren. Unter der Annahme, dass bewährte Zustände, Handlungen und Verhaltensweisen öffentlich immer dann auf den Prüfstand geraten, wenn und weil sie für die gesellschaftliche Ordnung zum Problem werden, lässt sich das öffentliche Interesse an Familien und deren Erziehungsleistungen vor allem funktional begründen. Die Konjunktur medialer Debatten und institutionalisierter Maßnahmen um familiale Erziehung können somit als Symptom einer Inkongruenz zwischen den gesellschaftlichen Anforderungen und der Realität familialer Erziehung gesehen werden.

2.

Perspektiven auf das Phänomen

Die Annahme, dass öffentliche Verhandlungs- und Darstellungsprozesse von Familie und Erziehung immer auch mit Veränderungen der Phänomene an sich einhergehen,

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Familie unter Verdacht

zeigt sich bereits in der konzeptuellen Auseinandersetzung vieler soziologischer Theorien mit dieser Thematik, insbesondere vor dem Hintergrund der Prozesse moderner Arbeitsteilung im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert, die einigen zeitgenössischen Wissenschaftlern Anlass zur Formulierung einer Erziehungssoziologie bzw. pädagogischen Soziologie gab (vgl. z.B. Barth (1967) [1911]; Durkheim 1984 [1934]; Fischer 1931; Geiger 2012 [1930]; Mannheim 1964 [1928]). Trotz unterschiedlicher Schwerpunkte und theoretischer Grundlegungen geht es in allen Ansätzen weniger um die Artikulation normativer Anforderungen an Familien als um die Betonung, dass Erziehung immer in soziale Kontexte eingebettet sei und daher auch in Interaktion mit ihnen stehe. Daher sei die Untersuchung von Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Erziehung, insbesondere für die Sozialwissenschaften, unerlässlich: »Der Mensch kann nicht inmitten der Dinge leben, ohne sich über sie Gedanken zu machen, nach denen er sein Verhalten einrichtet« (Durkheim 1984, S. 115). Demnach wäre gegenwärtig vor allem im Hinblick auf die zahlreichen Debatten um Familie und frühkindliche Erziehung sowie angesichts des zunehmenden Eingangs des Phänomens ›Erziehungs(in)kompetenz‹ in öffentliche Diskurse eine breite interdisziplinäre Ausrichtung der Forschung zu erwarten, die verschiedene Aspekte berücksichtigt, um der Komplexität des Forschungsgegenstandes gerecht zu werden, und die Annahmen und Erkenntnisse aus verschiedenen Bereichen, wie der Pädagogik, der Soziologie, der Psychologie, der Politologie und der Kommunikations- und Medienwissenschaften, zusammenführt. Umso erstaunlicher mutet es an, dass dies bislang kaum konstatiert werden kann. Ein Blick in die einschlägige Literatur macht deutlich, dass gerade der frühkindlichen familialen Erziehung in der Forschung nach wie vor eine verhältnismäßig geringe Bedeutung zukommt und Erziehung und Kompetenzen überwiegend im Rahmen bewusst initiierter Prozesse und Strukturen in institutionellen Feldern, zumeist im Kontext elementarpädagogischer Qualitätsdebatten, dezidiert verhandelt werden (vgl. z.B. Faas 2013; Honig et al. 2014; Kluczniok & Roßbach 2018). Familiale Praktiken und Leitbilder werden hingegen eher im Rahmen anderer Akzentsetzungen, etwa mit Blick auf Bildungsorientierung und Zusammenarbeit mit Kindertageseinrichtungen (vgl. z.B. Betz & Eunicke 2017; Hermes 2017), generatives Verhalten (vgl. z.B. Bujard 2011; Richter 2016; Steinbach 2015), familiale Lebensformen (vgl. z.B. Bergold et al. 2017) oder Gleichstellungs- und Geschlechterverhältnisse (vgl. z.B. Helfferich 2017; Schiefer 2018; Spiegel 2016), untersucht. Während die Familie als Bildungswelt zumindest vereinzelt Beachtung findet, erscheint die Betreuungs- und Sorgearbeit als wesentlicher Bestandteil familialer Erziehung trotz der zahlreichen medienöffentlichen Skandale verschiedener Kinderschutzfälle besonders wenig beleuchtet (vgl. auch Kap. I, 1). Größere Aufmerksamkeit hat im letzten Jahrzehnt hingegen die Lebenssituation und das Befinden von Eltern erfahren. Die wenigen sozialwissenschaftlichen Forschungsanstrengungen, die sich dabei implizit oder explizit familialen ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ widmen, beziehen sich zumeist aus einer eher defizitorientierten und praxisbezogenen Perspektive auf einzelne spezifische Bereiche und Praktiken, wie z.B. die bestmögliche Unterstützung oder Einschätzung von Risikokonstellationen. Vorrangiges Ziel ist es dabei, die familialen ›Kompetenzen‹ zu fördern und sie in Form von Inter- und Präventionsleistungen zu optimieren, um Eltern und

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Kinder bestmöglich auf weitere Lebensabschnitte vorzubereiten und strukturelle sowie familiale Schieflagen zu kompensieren (vgl. z.B. Abdallah-Steinkopff 2018; Faas et al. 2016; Witte 2018). Die gegenwärtige Forschungslandschaft verweist jedoch nicht nur auf unterschiedliche Erkenntnisinteressen, sondern macht zugleich auch darauf aufmerksam, dass – ausgehend von unterschiedlichen Disziplinen und theoretischen Schulen – verschiedene Zugänge gewählt werden.4 Während sich insbesondere Arbeiten aus Politikwissenschaft und Soziologie überwiegend für gesellschaftliche Formen und Strukturen sozialer Handlungen und Phänomene interessieren, sich hierbei jedoch in der Regel kaum den konkreten Inhalten der Praxen zur Ausgestaltung von Kompetenzen oder pädagogischen Interaktionen widmen, erfahren diese vor allem in den Erziehungswissenschaften stärkere Beachtung, sind dabei jedoch häufig auf die Mikroebene begrenzt (vgl. Bauer et al. 2012, S. 19). Aber auch das zugrundeliegende Akteurverständnis variiert, also wie viele Gestaltungsmöglichkeiten die Forscher den Individuen in ihren Verhaltensweisen und Handlungen zusprechen. Es geht also insgesamt vor allem um unterschiedliche Sichtweisen und Schwerpunktsetzungen im Hinblick auf das Zusammenspiel und die Hervorhebung von Struktur und Kontingenz, von Repression und Agency sowie von Stabilität und sozialem Wandel. Diese Unterschiede zwischen den theoretischen Perspektiven und methodischen Zugängen werden oftmals »bloß als erkenntnistheoretisch begriffen, während sie in Wirklichkeit doch auch ontologische sind« (Giddens 1995a, S. 52). Denn obwohl die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit sozialen Problemen sich zumindest implizit immer auf bestimmte theoretische Gerüste beziehen muss, scheinen diese zunehmend seltener explizit benannt und reflektiert, sondern vielmehr eher an den Rand einer stark anwendungsorientierten Forschungskultur gedrängt zu werden. Hierbei werden dann aus einer eher normativfunktionalen bzw. objektivistischen Perspektive in erster Linie verschiedene Möglichkeiten eruiert und evaluiert, um Spannungen zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und familialen Bedürfnissen und Handlungen aufzuheben. Seit Veröffentlichung der ersten PISA-Ergebnisse im Jahr 2000 erfährt vor allem die empirisch-sozialtechnologische Erziehungswissenschaft eine Renaissance und es lässt sich eine starke Hinwendung zu quantitativer Forschung verzeichnen (vgl. Diskowski 2009, S. 103; Müller & Reitz 2015). Damit geht die Tendenz einher, dass an deutschen Hochschulen bevorzugt dementsprechende Forschungsprojekte gefördert werden (vgl. Höltershinken 2013, S. 16f.). Problematisch an diesen überwiegend standardisiert-anwendungsbezogen arbeitenden und argumentierenden Studien erscheint, dass ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ immer nur vor dem Hintergrund einer bereits bestehenden Ordnung gemessen und deduktiv bestätigt bzw. widerlegt werden können (vgl. Schetsche 2011). Der begriffliche Dissens im Hinblick auf die Inhalte und Strukturen familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ (vgl. Kap. I, 1) verdeutlicht jedoch, dass dieses Phänomen weder als eindeutige essenzialistisch gegebene Tatsache bzw. Abbild einer objektiven Realität oder na4

Im Folgenden werden die Kongruenzen und Disparitäten verschiedener sozialwissenschaftlicher Schulen lediglich exemplarisch skizziert. Eine detaillierte und vollständige Aus- und Weiterführung der einzelnen Annahmen und Konzepte kann an dieser Stelle nicht geleistet werden.

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türlichen Ordnung aufgefasst noch als individuelle Sinngebung und Situationsdefinition verstanden werden kann. Dementsprechend lässt es sich kaum als allgemeingültiger, objektiver Tatbestand einer monokausalen Problematisierung abbilden (vgl. Bauer et al. 2015; Schetsche 2014, S. 27ff.). Entsprechend lassen sich die Ergebnisse solcher Studien lediglich in Relation zu bestimmten normativen Vorgaben bewerten. Der Raum dessen, was in standardisiert-anwendungsbezogenen Studien thematisiert werden kann, ist somit per se beschränkt auf die jeweiligen klar strukturierten, vorgegebenen Dimensionen oder zumindest auf die implizit zugrunde gelegte Normen. Indem bestimmte Vorstellungen deskriptiv gesetzt und »Verhaltensanforderungen an die Inhaber sozialer Rollen« (Nunner-Winkler 1984, S. 399) formuliert werden, die sich häufig weder aus einer ausgearbeiteten Bedürfnistheorie ableiten lassen noch im Hinblick auf ihre Deutungsabhängigkeit hinterfragt werden, können Ergebnisse letztlich nur das hervorbringen, was sie zu benennen vorgeben (vgl. Mägdefrau 2003; Vollbrecht 2010). Dies impliziert bereits einen epistemischen Zugriff auf das Konstrukt, der nicht von der Problemstellung zu trennen ist. In der Konzentration auf die Erfassung vorab generierter Kategorien müssen sich die erhobenen Daten zwangsläufig auf ein bestimmtes Feld und die entsprechenden Vorgaben beschränken, womit stets »eine ideologisch gefärbte Wertung getroffen wird, weil das, was gemessen oder gezählt wird, unbesehen auch als wertvoll gilt« (Bertsche 2010, S. 237). Oftmals wird dabei nicht präzisiert, von welchem Verständnis ausgegangen wird, wenn z.B. von Elternschaft, Familie, Erziehung oder Kompetenzen gesprochen wird, bzw. welche Konzepte und Inhalte konkret miteinander verglichen werden oder von welchen Prozessen die Rede ist bzw. welche konkreten Veränderungen und Folgen sie mit sich bringen. Dies trägt dazu bei, dass familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ auch in der Öffentlichkeit überwiegend unreflektiert und unter Berücksichtigung und Betonung verschiedenster Aspekte als problematisch verhandelt werden. Möchte die Forschung nicht die »Verantwortung für die Konstituierungsakte auf sich laden, deren Logik und Notwendigkeit sie nicht kennt, muß sie die sozialen Vorgänge des Benennens und die Riten der Einsetzung, über die sie sich vollziehen, zu ihren Objekten machen« (Bourdieu 1990, S. 71). Andernfalls läuft die inhaltliche und normative Festlegung Gefahr, Diversität und Komplexität zu vereinfachen und wichtige Merkmale und Prozesse aus dem Blick zu verlieren oder bestimmte Korrelationen vorzeitig zu Kausalannahmen zu verkürzen (vgl. Mierendorff 2008). Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass Phänomene generell nicht in der scheinbar objektivierten Form untersucht werden können, in der sie den Menschen gegenübertreten. Aus entsprechenden Forschungszugängen können auch im Hinblick auf die vorliegende Untersuchung wichtige Erkenntnisse gewonnen werden (vgl. Kap. II, 2.1.1). Diese Zugänge vermögen jedoch nicht zu erfassen, welche sozialen und kulturellen Kontexte als konstitutive Bedingungen die interessierenden Transformationen und Problematisierungen im Bereich familialer Erziehung anleiten und steuern und welche »sinngebende[n] und -stiftende[n] Prozesse hinter den Handlungen« (Hagen-Demszky 2011, S. 124) stehen und so eine reale Tragweite haben. Ansätze, welche die zugrundeliegenden konstitutiven Determinanten und Dynamiken ›problematisch‹ erscheinender Strukturen und Praktiken aus einer phänomenologisch oder konstruktivistisch orientierten Perspektive in den Blick nehmen, finden im

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Referenzbereich der familialen Erziehung bislang wenig Beachtung (vgl. auch Keller & Hofer 2012; Truschkat 2012; Wohlrab-Sahr 2011).5 Dies vermag mitunter auch aus der Schwierigkeit resultieren, den absolut offensichtlichen und als selbstverständlich erachteten Charakter der Familie als »natürlicher Ort der Erziehung« (Herzog 2010, S. 380) und der praktizierten ›Erziehungs(in)kompetenz‹ zu durchdringen, weil oftmals »das vermeintlich Leichtgewichtige, Alltägliche gerade das schwer Durchdringliche ist, gewissermaßen in den Schleier des Gewöhnlichen verpackt und auf diese Weise Harmlosigkeit vorspiegelnd« (Saxer 2007, S. 11). Die historische Selbstverständlichkeit familialer Leistungen sowie deren weitestgehend private Organisation als Beziehungspraxis ohne zunächst offensichtlich erkennbaren gesellschaftlichen Wert mögen somit als Erklärung für dieses Desiderat dienen. So sind z.B. auch die Fragen, mit welchen typischen Spannungen, Problemen und Misslingenspotenzialen wir es insbesondere in Bezug auf die zunehmende öffentlichkeitswirksame Verhandlung und Darstellung von ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ zu tun haben und was Eltern leisten müssen, um das Urteil ›kompetent‹ zu erhalten, bislang kaum differenziert in die sozialwissenschaftliche Forschung einbezogen worden. Dies erscheint vor allem vor dem Hintergrund problematisch, dass solche Zuschreibungen immer auch Maßstäbe und Differenzierungslinien enthalten, die ebenfalls nicht als ontologisch gegeben, sondern als sozial erzeugt erachtet werden können. Sie markieren dabei nicht nur bloße Unterschiede, sondern gehen mit gewissen Besser- bzw. Schlechterstellungen von Menschen einher, d.h., durch sie erhalten bestimmte Familien bessere Zuschreibungs- und Verwirklichungschancen ihrer ›Erziehungskompetenzen‹. Vor allem die kompetenzbasierte Forschung vernachlässigt unter dem weitgehenden Deckmantel der ›Chancengleichheit‹ häufig Phänomene, die mit Prozessen und Strukturen sozialer Ungleichheit in Verbindung stehen, und trägt dadurch mitunter dazu bei, sie zu verstärken (vgl. Berli & Endreß 2013). Beiträge, die solche sozialen Differenzierungen und Ungleichheiten explizit zum Thema machen, haben nach wie vor eher Ausnahmecharakter, und auch der Zustand einer Theoriebildung in diesem Bereich ist seit Längerem als defizitär zu erachten (vgl. auch Behrmann et al. 2018; Koenen 2006; Vaskovics 1994, S. 15). In einigen empirischen Untersuchungen der vergangenen Jahre lassen sich zwar theoretische Abstraktionen identifizieren, aber eine umfassende theoretische Auseinandersetzung mit Relationen von Wissen und Ungleichheit scheint sich gegenwärtig nicht abzuzeichnen: »Hatten sich bei den Klassikern der Soziologie durchgehend theoretische und empirische Verbindungen von Wissen und Ungleichheit gefunden, nahmen diese mit fortschreitender Differenzierung der soziologischen Subdisziplinen wieder ab und die Nahtstelle zwischen der Wissenssoziologie und der Erforschung sozialer Ungleichheit wuchs rasch zu einer Kluft an, deren Dysfunktionalität nun deutlich hervortritt« (Houben 2013, S. 326).

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Eine solchen Zugang wählten in den vergangenen Jahren z.B. Betz et al. (2013), Bauer et al. (2015) oder Ganz (2008). Die Autoren fokussieren hierbei jedoch politische bzw. professionelle Konstruktion familialer Leitbilder bzw. ›guter Elternschaft‹ sowie deren Übernahme in Einstellungen und Praktiken verschiedener Akteure. Alltägliche kollektive Deutungen sowie die Inflation des Kompetenzbegriffes spielen hier eine eher untergeordnete Rolle.

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Untersuchungen, die sich mit Normensystemen und Wissensstrukturen familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ als soziales und potenziell beeinflussbares Wesen und als Ursprung sozialer Ungleichheit befassen, scheinen in den Hintergrund geraten zu sein. Selbst die sozialwissenschaftliche Familien- und Bildungsforschung hat sich insbesondere von Fragen nach gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen in der Ungleichheitsforschung entfernt (vgl. Bittlingmayer 2005, S. 18). Bergers und Kellners (1965) Appelle, solche Betrachtungen weiterzuführen, blieben somit in den letzten Jahrzehnten weitgehend ungehört (vgl. S. 231).

3.

Erkenntnisinteresse, Aufbau und Genese der vorliegenden Arbeit

Erziehung bildet einen unverzichtbaren Teil des gesellschaftlichen Auftrags an Eltern. Dabei scheinen vor allem ›Kompetenzen‹ eine zunehmende Rolle zu spielen, indem sie bestimmte familiale Eigenschaften und erzieherische Tätigkeiten als Aspekte ›guter Elternschaft‹ ausweisen. Die weitgehende Leerstelle in der sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft, was die konstitutiven Grundlagen und den Problemcharakter familialer Erziehung bzw. der ›Erziehungs(in)kompetenz‹ betrifft, erscheint insofern problematisch, als die Konstitution eines Sachverhaltes als soziales Problem nicht nur auf wahrgenommene Missstände im Hinblick auf eben diesen Sachverhalt verweist, sondern auch als Indikator genereller und umfassender gesellschaftlicher Veränderungen erachtet werden kann (vgl. Schetsche 2014, S. 13). Vor diesem Hintergrund stellt sich nicht nur die Frage, mit welchen Interessen und Argumentationsfiguren unterschiedliche Auffassungen von Familie und Erziehung verknüpft sind und öffentlich verhandelt werden. Es geht auch darum, welche Folgen dies für die Institution Familie, die darin eingebettete Elternschaft und gegebenenfalls weitere Akteure und gesellschaftliche Teilbereiche hat. Dies macht es erforderlich, Familie und Erziehung als »Aspekte der Alltagskultur kritisch zu durchleuchten, die so sakrosankt und so tief verwurzelt sind, daß man sie für naturgegeben hält und kaum in Frage stellt« (Hays 1998, S. 32). Ausgehend von dem Desiderat einer phänomenologisch-konstruktivistisch orientierten Forschung, die solche konstitutiven Determinanten und Dynamiken ›problematisch‹ erscheinender Strukturen und Praktiken in den Blick nimmt, soll daher in der vorliegenden Arbeit zunächst den forschungsleitenden Fragen nachgegangen werden, was den problematischen Charakter familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ ausmacht und warum bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen von Familien zum Problem werden. Es geht dabei weder darum zu eruieren, über welche Kompetenzen verschiedene Akteure verfügen oder verfügen sollen, noch sollen Kompetenzkonzepte entworfen oder bestehende Auffassungen wertend beurteilt werden. Im Fokus stehen nicht die familialen ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ als ontologische Gegebenheit oder Zielsetzung. Forschungsgegenstand ist hier vielmehr die familiale ›Erziehung(in)kompetenz‹ als kulturelles Produkt, d.h. die Frage, wie der Begriff gefasst wird, wo er gehäuft in Erscheinung tritt, wer und was hierbei als ›kompetent‹ konstruiert wird sowie wozu er dient und welche (Neben-)Folgen seine Verwendung hat. Im Rahmen des vorliegenden Erkenntnisinteresses geht es somit nicht darum, die Effektivität bzw.

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das Gelingen oder Misslingen familialer Erziehung entlang gesellschaftlicher Normen zu erfassen und zu bewerten oder handlungspraktische Implikationen herauszuarbeiten, sondern vielmehr darum, die darin artikulierten und institutionalisierten öffentlichen Erwartungen aufzudecken, in denen sich familiale Erziehung als soziales Problem repräsentiert. Hier kann insbesondere das weite Feld der hermeneutischen Wissenssoziologie wertvolle Hinweise und grundlegende Anknüpfungspunkte liefern. Um ›Erziehungskompetenzen‹ in diesem Sinne zu untersuchen, wird der Kompetenzbegriff zunächst in heuristischer Absicht als Fähigkeit und Verantwortlichkeit in einem offenen Begriffsverständnis konzeptualisiert (vgl. Kap. I, 1). Neben den allseits konstatierten Problemen einer zunehmenden Verunsicherung und der Erosion tragender Erziehungsvorstellungen steht dabei die Frage im Zentrum, inwiefern durch Kompetenzzuschreibungen und (De-)Regulierungen verschiedener Regime in Zusammenhang mit der Praxis von Familie, Elternschaft und Erziehung soziale Ungleichheiten und Exklusionsdynamiken, aber auch Misstrauen produziert, verstärkt und stabilisiert werden. Ziel ist es, die Kohärenz sowie Ambivalenzen, Dynamiken und Beharrungstendenzen im Hinblick auf Familie und Erziehung in medialen Inszenierungen und Alltagspraxen entlang sozialer und kultureller Differenzen sichtbar zu machen, zu reflektieren und an gegenwärtige Fachdiskurse und familienpolitische Diskurse anzuschließen. Gleichzeitig sollen Möglichkeiten und Grenzen methodischer Zugänge ausgelotet werden, um so zu deren Weiterentwicklung beizutragen. Die vorliegende Arbeit gliedert sich dabei in fünf Teile. Nach der erfolgten überblicksartigen Betrachtung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ als soziales Problem und Forschungsgegenstand setzt der zweite Teil an diesen kursorischen Annäherungen sowie den sich daraus ergebenden Fragestellungen und Implikationen mit einem Umriss der Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms an. Da bislang keine normierte Programmatik zur Analyse öffentlicher Diskurse entwickelt wurde, aus der sich ein konsistenter Hintergrund und ein einheitliches Vorgehen ableiten ließen, musste zunächst ein theoretisch-methodologischer Rahmen entwickelt werden, um in ihm die bisherigen Annäherungen und erkenntnisleitenden Fragestellungen präzisieren und im Hinblick auf die empirische Umsetzung konkretisieren zu können. Neben gegenstandsbezogenen Überlegungen dazu, wie relevante Aspekte in das weite Spektrum diskursanalytischer Perspektiven integriert und angepasst werden können, schließt dies auch Fragen nach der Verortung der eigenen ontologischen Perspektive auf Familie und Erziehung sowie nach den möglichen methodischen Zugängen ein, um letztlich einen geeigneten und umfangreichen Zugang zum Phänomen familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ zu erhalten, mit dessen Hilfe das skizzierte Forschungsvorhaben sowohl theoretisch stringent begründet als auch empirisch unter Berücksichtigung etablierter Methoden der Sozialforschung umgesetzt werden kann. Bei Aufnahme der Forschung im Jahr 2015 stand hierbei eine möglichst breit angelegte Rekonstruktion der Begriffsgenese familialer ›Erziehungskompetenz‹ im Vordergrund des Erkenntnisinteresses. Es ging somit insbesondere um die Frage, wie sich der Nexus aus Erziehung und Kompetenz entwickelt und verfestigt hat, in welche Diskurse und Argumentationen er eingebunden ist, auf welche Ideen und Vorstellungen er sich stützt und welche Implikationen diese Verbindung hat. Dementsprechend war das Forschungsvorhaben ursprünglich als breites triangulatives Projekt angelegt, das

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auf einer Dokumentenanalyse unterschiedlicher öffentlich zugänglicher und verbreiteter Materialien sowie den Ergebnissen eigens durchgeführter leitfadengestützter Interviews mit Familien und anderen Akteuren des diskursiven Feldes basieren sollte. Da sich jedoch bereits im Rahmen der ersten empirisch-heuristischen Grobanalyse des massenmedialen Materials zahlreiche Brüche und Spannungen zeigten, die auf einen enormen Facettenreichtum und eine nicht zu unterschätzende Komplexität der öffentlichen Deutungs- und Ordnungsstrukturen hinwiesen, wurde dieses Vorhaben im Verlauf der Analysetätigkeit aufgegeben und das Forschungsprogramm zugunsten einer besseren Tiefenschärfe im Wesentlichen auf die Analyse meinungsführender Printmedien begrenzt. Zudem erfolgte eine Beschneidung des Materials auf den Diskursstrang der Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Den Hintergrund dieser Auswahl bildete insbesondere die Annahme, dass sich in der Thematisierung solcher Ereignisse, verstanden als Krisen und Normbrüche, die Herausbildung, Verfestigung und Verflüssigung von Deutungen und Praktiken familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ besonders deutlich zeigen. Als besonders bedeutsam ist hierbei die Inszenierung des Falls ›Kevin‹ anzusehen, der sich im Jahr 2006 in Bremen ereignete und bei dem ein zweijähriger Junge an den Folgen der Misshandlungen durch seinen Ziehvater verstarb. Es sei »der prominenteste und einflussreichste unter den Kinderschutzfällen aus der jüngeren Vergangenheit, in denen Kinder als Opfer von Misshandlungen zu Tode kamen und die von den Massenmedien zur Sensation stilisiert wurden« (Brandhorst 2015, S. 18). Die detaillierten öffentlichen Verhandlungen zu potenziellen Ursachen und Lösungsmöglichkeiten solcher Fälle sowie die darin enthaltenen Verständnisse, Zuschreibungen und Schuldzuweisungen ermöglichten eine detaillierte Annäherung an das Phänomen familialer Erziehungs(in)kompetenz im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Gleichzeitig wurde somit aber auch die Zielsetzung des Forschungsvorhabens verändert – das Augenmerk lag nun nicht mehr auf der Genese des Kompetenzbegriffs. Stattdessen wurden die unterschiedlichen Narrationen von Familien und ihren Erziehungsleistungen vor dem Hintergrund von Fällen wie ›Kevin‹ sowie die damit einhergehenden diskursiven Ordnungen fokussiert, die in jenen Diskursen – ob intendiert oder nicht intendiert – produziert, transportiert und stabilisiert werden und die somit auch außerhalb des Kontextes konkreter Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung wirksam werden. Es ging also darum, nicht nur unterschiedliche Narrationen zueinander ins Verhältnis zu setzen, sondern eine komplexe Gegenstandskonstruktion herauszuarbeiten (vgl. Fegter et al. 2015, S. 36), um so die Prozesse der diskursiven Konstruktion familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ sowie die zugrundeliegenden Deutungsangebote und Handlungsanleitungen samt der daran beteiligten Institutionen und Akteure rekonstruieren und daran anknüpfend mögliche gesellschaftliche Wirkungen und Folgen sowohl auf der Ebene der Gesellschaft als auch auf der Ebene der Subjekte eruieren zu können. Eine solch umfassende Rekonstruktion der diskursiven Ordnung familialer ›Erziehungskompetenz‹ im Kontext dieses Diskursstranges erforderte einen entsprechenden Ausbau des diskursanalytischen Designs zu einem differenzierten, relationalen methodischen Verfahren, das es ermöglicht, mehrere Ebenen des öffentlichen Diskurses systematisch in den Blick zu nehmen.

I Familiale ›Erziehungs(in)kompetenz‹ als soziales Problem und Forschungsgegenstand

Die Ergebnisse der Diskursanalyse werden im dritten und vierten Teil der Arbeit dargestellt. Dabei werden die verschiedenen Ebenen des diskursiven Feldes familialer Erziehung im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung folgendermaßen berücksichtigt: Teil III konturiert zunächst die zentralen Narrationslinien des Falls ›Kevin‹ und die daraus hervorgehenden Wissens- und Infrastrukturen im Hinblick auf Familie und Erziehung. Sie bilden den inhaltlichen Rahmen, in den die weitere diskursanalytische Auseinandersetzung eingebettet ist. Auf dieser Analyseebene zeigt sich nicht nur die Vielfalt an Deutungen und Praktiken, die mit familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ verbunden sind und im diskursiven Verlauf in unterschiedlichem Ausmaß Einfluss haben. Vielmehr leitet sich aus der vorherrschenden Defizitperspektive der Narrationslinien auch das weiterführende Erkenntnisinteresse ab, innerhalb dieses Diskurses Prozesse sozialer Ungleichheit und Ausgrenzung zu identifizieren. An die Rekonstruktion der Narrationslinien und ihrer Diskurskarriere schließt daher in Teil IV, auf der zweiten Ebene der Analyse, die Rekonstruktion der diskursiven (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ an. Hierbei werden die generierten Wissensbestände und Infrastrukturen insbesondere auf ungleichheitsrelevante und disziplinierende (Wissens-)Strukturen und Machtwirkungen in der Vernetzung mit anderen Diskurssträngen hin untersucht. Dabei werden auch mögliche Auswirkungen dieser Konstruktionen auf Praktiken und Subjektivierungsweisen der beteiligten Akteure als bewusste Strategien oder (unerwünschte) Nebenfolgen in den Blick genommen und vereinzelte abschätzende Prognosen vorgeschlagen. Die Arbeit schließt im fünften Teil mit einer Synthese der zentralen Ergebnisse sowie darauf basierenden Schlussfolgerungen, inwiefern sich mögliche Implikationen für politische, sozialwissenschaftliche und mediale Felder sowie verschiedene Bereiche der sozialen Praxis ableiten lassen. Darüber hinaus werden methodisch-methodologische Chancen und Grenzen des Untersuchungsdesigns diskutiert, wobei auch die Frage zu beantworten ist, inwieweit die erweiterten diskursanalytischen Bezugsrahmen tragen und ob sie zur Harmonisierung der Perspektiven beitragen oder aber bestehende Erklärungen überkomplex werden lassen. Da sich die folgenden Ausführungen vorrangig auf die Rekonstruktion funktionaler Elemente von Familie als Erziehungsinstanz, soziale Gruppe und gesellschaftliche Institution beziehen und weniger deren Bedeutung als Form häuslicher Vertrautheit thematisieren, wird in Anlehnung an Seifert (2009) auch im Weiteren der etwas sperrig klingenden Begriff ›familial‹ dem gängigerem Terminus ›familiär‹ vorgezogen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird zudem an mehreren Stellen lediglich die männliche Form verwendet. Insofern nicht explizit vermerkt, beziehen sich die jeweiligen Ausführungen jedoch immer auf Angehörige beider Geschlechter.

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II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

Annäherungen an diskursive Konstruktionen von Familie und familialer ›Erziehungsinkompetenzen‹ erfordern – insbesondere vor dem Hintergrund der theoretisch vieldeutigen Bestimmungen und vielgestaltigen Forschungslage (vgl. Kap. I, 1-2) – zunächst die Entwicklung eines theoretisch-methodologischen Rahmens. Er soll es ermöglichen, die »Geschichte des kollektiven Tätigkeitssystems mit seinen Regeln, Werkzeugen und Sozialbeziehungen selbst in den Blick zu nehmen« (Grunert 2012, S. 174), also hier familiale Erziehung über konkrete Handlungssituationen und strukturelle Begebenheiten hinaus vor dem Hintergrund kollektiv geteilter Wissensordnungen, in denen sie sich repräsentiert, empirisch zu erfassen. Dies impliziert nicht nur eine Perspektivierung sozialer Phänomene als Herstellungsleistung und eine Berücksichtigung der Entstehung, der Transformationen und des wechselseitigen Bedingungszusammenhanges von Wissensformen und Kommunikation, sondern auch eine Betrachtung der Objektivierungsprozesse, die deren Einschreibung in den kollektiven Wissensvorrat zu erklären vermag. Im Folgenden wird daher zunächst ein entsprechender theoretisch-methodologischer Bezugsrahmen vorgestellt, der diesen Anforderungen gerecht wird und im Wesentlichen an dem Forschungsprogramm der wissenssoziologischen Diskursanalyse (Keller 2001, 2004, 2008a) orientiert ist. An einigen Stellen wird er dabei in Anpassung an den Untersuchungsgegenstand präzisiert und das Erkenntnisinteresse zu einer multimodalen Perspektive erweitert (vgl. Kap. II, 1). Um Hinweise zu konkreten Inhalten und Elementen der Entwicklung von Familie und Erziehung, insbesondere der Herausbildung familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹, zu erhalten, die eine Bildung gegenstandsangemessener Analysekategorien und -verfahren erlauben, waren neben der theoretisch-methodologischen Grundlegung des Forschungsprogramms erste empirisch-heuristische Annäherungen an das Diskursfeld erforderlich. Sie ermöglichten eine begründete Eingrenzung und Verdichtung des weiten diskursiven Analysefeldes (vgl. Kap. II, 2) und machten gleichzeitig dessen Bearbeitung im Rahmen einer mehrere Schritte umfassenden relationalen Analyse verschiedener Ebenen realisierbar (vgl. Kap. II, 3).

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1.

Theoretisch-methodologischer Bezugsrahmen

Zur Rekonstruktion diskursiver Wissens- und Sinnformationen erscheint ein Rückgriff auf diskursanalytische Zugänge vielversprechend. In ihnen können familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ aus einer Analysehaltung des ›Beobachters zweiter Ordnung‹ (Luhmann 1991) zum Thema gemacht werden bzw. zur systematischen »Gegenstandbestimmung« (Keller et al. 2008, S. 11) der empirischen Analysearbeit dienen.1 Gleichzeitig wird die Bedeutung von Kommunikation als Praxis der Sinnzuschreibung und -stabilisierung hervorgehoben. Da die Aussagen als natürliche Daten »von den Interaktanten nicht in Anbetracht der forschungsgeleitenden Fragestellung produziert […] wurden, ist [zudem] die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass sie nicht von vornherein mit den abgelagerten Überzeugungen zur Deckung zu bringen sind« (Reichertz 2007, S. 174). Allerdings lässt sich hierbei nicht von der Diskursanalyse sprechen. Diskursanalytische Forschungsprogramme gehen nicht nur aus unterschiedlichen Disziplinen und Theorietraditionen hervor, sondern werden dort auch mit jeweils unterschiedlichen Inhaltsbestimmungen und Funktionen versehen. Entsprechend sieht sich die gegenwärtige Forschungslandschaft auch an dieser Stelle mit einer vielgestaltigen Diskussion und divergierenden Lesarten konfrontiert. Daher sollen anknüpfend an eine knappe hermeneutisch-wissenssoziologische Perspektivierung von Familie und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ als soziale Konstrukte (vgl. Kap. II, 1.1) zunächst die prominentesten diskursanalytischen Perspektiven im Hinblick auf ihre Anschlussfähigkeit für das Forschungsvorhaben in den Blick genommen werden (vgl. Kap. II, 1.2), bevor sie vor dem Hintergrund der dargestellten theoretischen Grundlegung zu einem tragfähigen Forschungsprogramm für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand und das Erkenntnisinteresse verbunden werden (vgl. Kap. II, 1.3).

1.1.

Familie und Erziehung als soziale Konstrukte – Die hermeneutischwissenssoziologische Grundlegung des Forschungsprogramms

Fundierte Ausgangspunkte einer theoretischen Grundlegung des Forschungsvorhabens finden sich insbesondere in den sozialkonstruktivistischen Annahmen von Berger und Luckmann. Sie führen in ihrem Werk »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« (1980 [1969]) zahlreiche Überlegungen klassischer wissenssoziologischer und phänomenologischer Traditionen wie z.B. von Auguste Comte, Emilie Durkheim, Karl Mannheim, George Herbert Mead oder Alfred Schütz zusammen (vgl. S. 71). Dabei betonen sie vor allem die Rolle der Alltagswelt bei der Entwicklung, Vermittlung und Bewahrung von ›Wissen‹ sowie bei der Konstruktion der ›Wirklichkeit‹ (vgl. ebd., S. 21f.),

1

Bei der ›Beobachtung zweiter Ordnung‹ handelt es sich um ein systemtheoretisches Konzept der Wahrnehmung. Hierbei werden nicht vorrangig die Inhalte der handelnden sozialen Akteure bzw. ersten Beobachter betrachtet, sondern es wird vielmehr rekonstruiert, wie es zu bestimmten Zuschreibungen und Handlungen der ersten Beobachter gekommen ist. Dies soll Hinweise auf selektive Wahrnehmungen und ›blinde Flecken‹ liefern. Beobachter erster Ordnung können hierbei alle Akteure sein, die in irgendeiner Art und Weise wahrnehmen und handeln. Die Beobachtung zweiter Ordnung kann also auch die Selbstbeobachtung einschließen (vgl. Luhmann 1991).

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

die auch im Hinblick auf die Alltäglichkeit des vorliegenden Untersuchungsgegenstandes bedeutsam erscheint. Anknüpfungspunkte und Ausdifferenzierungen dieser zentralen sozialphänomenologischen und sozialkonstruktivistischen Annahmen liefern die neueren Ansätze der hermeneutischen Wissenssoziologie (vgl. z.B. Hitzler & Honer 1997; Knoblauch 1995; Reichertz 1997; Schröer 1994), die im Anschluss an Berger und Luckmann (1989 [1969]) unter Einbezug des interpretativen bzw. hermeneutischen Paradigmas entstanden sind.2 Als Wissen werden aus dieser Tradition heraus im Allgemeinen alle Annahmen, Sinnstrukturen und Aktivitäten verstanden, die von Akteuren als legitim und wahr aufgefasst werden, unabhängig davon, welcher Realitätsgehalt ihnen aus anderen Perspektiven zukommt (vgl. Knoblauch 2005, S. 156). Demnach handelt es sich auch bei den Wissensbeständen zu Familie und Erziehung um eine Summe von »Deutungsschemata« (Hofmann 2009, S. 19), die generell als eine »Grundbedingung und -funktion menschlicher Existenz und menschlichen Handelns« (ebd.) zu verstehen sind und mit denen »sich eine Gesellschaft selbst beschreibt und definiert« (Srubar 2006, S. 140). Als »eine kollektiv verbreitete Sinnformation, die je spezifisch von Individuen adaptiert wird« (Felder 2013, S. 14), erhält Wissen die doppelte Funktion, Wirklichkeit zu erfassen und gleichzeitig zu produzieren. Unter Berücksichtigung der Prämissen des symbolischen Interaktionismus basiert die öffentliche Problematisierung familialer Erziehung somit in erster Linie auf symbolisch vermittelten Prozessen in Interaktionen, wobei erst »die gesellschaftliche Definition und nicht der objektive Charakter einer gegebenen sozialen Bedingung bestimmt, ob diese Bedingung als soziales Problem existiert oder nicht« (Blumer 1975, S. 105). Das Wissen über die Wirklichkeit erschließt sich den Subjekten immer über historisch entstandene und kollektive gesellschaftliche Wissensvorräte aus Handlungsanweisungen, Regeln und Normen, die in unterschiedlichen Situationen und Prozessen angeeignet werden (vgl. Keller 2012a, S. 213). Ein Verstehen solcher subjektiven Konstitutionsleistungen kann als Voraussetzung einer sinnadäquaten Erklärung von Phänomenen erachtet werden kann, die aber immer auch in dem jeweiligen soziokulturellen und -historischen Kontext betrachtet werden muss. Hermeneutisch-sozialkonstruktivistisch angelegte Analysen ermöglichen es folglich, die widersprüchlichen Konstitutions- und Wandlungsprozesse, das Zusammenspiel von Struktur und Kontingenz, die Fragen nach Entwicklungslinien sowie deren Einflüsse als implizites Wissen zu offenbaren (vgl. Hörning & Reuter 2006). In den Worten Garfinkels (1984 [1967]) geht es darum zu eruieren, »was genau es ist, das diese Welt als alltägliche Welt mit ihren so alltäglichen Eigenschaften hervorbringt« (S. 36, zit.n. Scanell 2011, S. 184). Da mit eher handlungstheoretisch ausgerichteten wissenssoziologischen Ansätzen »gesellschaftliche Praktiken und Prozesse der kommunikativen Konstruktion, Stabi-

2

Ebenso wie bei den konkurrierenden Zugängen zu familialen ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Allgemeinen (vgl. Kap. I, 1.) kann auch in Bezug auf Konzepte und Strömungen der hermeneutischen Wissenssoziologie lediglich eine Kurzübersicht über die wesentlichen Punkte gegeben werden, die für den heuristischen Rahmen dieser Arbeit als bedeutsam erachtet werden. Zur ausführlichen und lückenlosen Darstellung einzelner Konzepte und ihrer Entwicklung vgl. z.B. Hitzler et al. (1997); Keller (2004, 2008a) und Knoblauch (2009).

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lisierung und Transformation symbolischer Ordnungen sowie deren Folgen« (Keller 2004: 57) und Problematisierungen nicht adäquat erfasst werden können, finden sich vielversprechende Weiterführungen für das vorliegende Forschungsprogramm insbesondere in wissenssoziologisch fundierten problemsoziologischen Konzepten. Mit ihrer Hilfe können die bisherigen theoretischen Annahmen durch Heuristiken zur Analyse sozialer Probleme ergänzt werden (vgl. z.B. Albrecht et al. 2012; Groenenmeyer 2010; Schetsche 2014). So versucht z.B. Schetsche (2014) Aufschlüsse über die Genese des Problemcharakters sozialer Phänomene zu erhalten und hierbei »zu zeigen, wie das Gemachte zu einem Gegebenen wird und als solches die Möglichkeiten des Machbaren begrenzt« (Meuser 1999, S. 129). Normative Kategorien familialer Erziehung sowie die Kontexte, in die sie eingebettet sind, werden aus der Perspektive einer hermeneutischen Wissenssoziologie somit selbst zum Gegenstand der Analyse. Dies erforderte allerdings eine weitgehende Distanzierung von präskriptiv-normativen und anwendungsorientierten Forschungsperspektiven sowie einen methodologischen Zugang, der es ermöglicht, die Erzeugung und Institutionalisierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ als Problem in ihrer Dynamik aufzuspüren, ohne sie in einem engen Begriffsverständnis vorwegzunehmen. Von Bedeutung ist daher im Folgenden, wie das skizzierte Erkenntnisinteresse und die theoretische Grundlegung methodologischen Anschluss finden konnten.

1.2.

Die diskursive Verfasstheit von Familie und Erziehung – Vielfalt und Potenziale diskursanalytischer Zugänge

Obwohl Diskursanalysen insbesondere in den Erziehungswissenschaften generell noch deutlich unterrepräsentiert sind (vgl. Griese 2012, S. 283; Fegter et al. 2015), zeigt ein Blick in die gegenwärtige Forschungslandschaft, dass sich in den vergangenen Jahren innerhalb der sozialwissenschaftlichen Disziplin ein breites Feld diskurstheoretischer und -analytischer Ansätze entwickelt hat. Sie unterscheiden sich sowohl in theoretischer als auch in methodologischer und forschungspraktischer Hinsicht, was sich trotz einer zumeist konstruktivistischen Grundausrichtung in erster Linie auf verschiedene Theorie- und Forschungstraditionen zurückführen lässt (vgl. Angermüller 2005; Keller 2007a). Der Begriff der Diskursanalyse bezieht sich denn auch weder auf eine einheitliche Forschungsmethode noch auf ein übereinstimmendes Theoriegebäude. Er vereint vielmehr ein heterogenes Feld unterschiedlicher Annahmen und Zugänge und kennzeichnet somit »eher eine Forschungsperspektive auf besondere, eben als Diskurse begriffene Forschungsgegenstände« (Keller 2004, S. 8). Entsprechend muss die Analyse in Anpassung an ihre jeweiligen Forschungsgegenstände, theoretischen Implikationen und Erkenntnisinteressen konzipiert werden. Trotz ihrer heterogenen Beschaffenheit verfolgen diskursanalytische Zugänge hierbei in der Regel traditions- und disziplinübergreifend das Ziel, an Theorietraditionen anzuschließen und dabei ihre analytischen Begriffe und sensibilisierenden Konzepte zu entwickeln. In Abgrenzung zur herrschaftsfreien Diskursethik, wie sie im deutschsprachigen Raum insbesondere von Habermas (1981, 1991) geprägt wurde, ist diskursanalytischen Perspektiven in der Regel darüber hinaus gemein, dass es ihnen weniger um Idealbedingungen intersubjektiver Konsensbildung in Argumentationsprozessen geht.

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

Vielmehr zielen sie auf die Aufdeckung der zugrundeliegenden Konstruktionsprozesse im sozialwissenschaftlichen Kontext und oftmals auch auf die Rekonstruktion damit einhergehender Macht- und Ordnungsstrukturen. Der Begriff ›Diskurs‹ scheint dabei zu einem »nebulösen Allerweltswort« (Bettinger 2007, S. 76) geworden zu sein: »Die inflationäre Verwendung des Wortes ›Diskurs‹ und die nahezu gänzliche Beliebigkeit seiner inhaltlichen Ausfüllung haben kaum dazu beigetragen, ihn als analytische Kategorie zu etablieren, sondern führten vielmehr dazu, dass regelmäßig ein Aufstöhnen zu vernehmen ist, sobald vom ›Diskurs‹ die Rede ist« (Landwehr 2001, S. 65f.). Die Wurzeln des Diskursbegriffes (lat. ›discurrere, discursus‹ = ›hin und her laufen‹, ›umherirren‹) finden sich bereits im Mittelalter, wo der Begriff überwiegend in einer philosophischen Tradition mit Abhandlungen Gelehrter in Verbindung gebracht wurde (vgl. Schalk 1997/98). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwendet Mead (1934) den Terminus ›universe of discourse‹ für die Beschreibung des Zusammenhangs von Sprache und Sinnstrukturen im Rahmen der Entwicklung und Ausarbeitung einer Theorie des symbolischen Interaktionismus. Für die Etablierung einer eigenständigen Diskurstheorie waren zudem insbesondere die Ausführungen des (Post-)Strukturalismus in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts von großer Bedeutung (z.B. Harris 1952; Saussure 1967; Derrida 1992 [1967]). In den hier relevanten Schriften wird Sprache als Ordnungssystem und Regelstruktur gefasst, die sowohl zu ihren einzelnen Elementen als auch zu anderen sozialen Institutionen in Beziehung steht und dadurch eine ›individuenunabhängige‹ Rekonstruktion ihrer Bestandteile und Strukturen ermöglichen soll (vgl. auch Keller 2004, S. 14ff.; Keller 2008a, S. 99ff.; Keller 2007b). Aus diesen Grundannahmen von Diskursen als sprachlichen Ordnungssystemen von Wirklichkeit sind zahlreiche sprachwissenschaftliche Diskursperspektiven entstanden, die mit großer Theorien- und Methodenvielfalt primär linguistisch fundiert sind. Entsprechend richten sie den Fokus auf die Detailanalyse von Sprachsequenzen und -ereignissen, während externe Strukturen und Rahmenbedingungen nur insoweit von Bedeutung sind, als sie im Sprachgebrauch von den Akteuren aktualisiert werden (vgl. z.B. Busse et al. 1994; Warnke & Spitzmüller 2008). In ihrer Bandbreite reichen sie von Verbindungen zwischen Textverstehen und Kognitionsforschung (vgl. z.B. Dijk & Kintsch 1983) bis hin zu quantitativen korpusbasierten Analysen, die sich statistisch-quantifizierend bestimmten Verteilungen von Wort- und Aussageformen widmen (z.B. Pêcheux 1969). Fragen nach Sinnstrukturen von Phänomenen oder dem Zusammenhang diskursiver Konstruktionen und Praktiken, wie sie im Rahmen des vorliegenden Forschungsvorhabens zentral sind, bleiben hierbei weitestgehend unberücksichtigt (vgl. Diaz-Bone 2003; Keller 2008a, S. 119f.). Eine weitere häufig vorzufindende Perspektive stellen verschiedene Ansätze und Varianten historisch-konstruktiver Diskursanalysen dar, die in erster Linie aus geschichtswissenschaftlichen Disziplinen hervorgehen. In ihnen finden historische und soziale Wandelprozesse dementsprechend große Berücksichtigung, wobei zumeist der Anspruch erhoben wird, Sprache als vermittelnde und repräsentative Dimension geschichtlicher Ereignisse systematisch zu berücksichtigen und dabei Ursprünge und Zusammenhänge eindeutiger Reden zu eruieren (vgl. z.B. Brieler 1998; Eder 2006; Landwehr 2008; Wengeler 2003). Die meisten sozialwissenschaftlichen Diskursanalysen gehen gegenwärtig auf Foucault zurück, der den Diskursbegriff insbesondere mit seinen Werken »Archäologie

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des Wissens« (1981 [1969]) und »Ordnung des Diskurses« (1991 [1971]) entscheidend geprägt hat. Er fordert, Diskurse »als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen […]. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses Mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben (Foucault 1981 [1969, S74]). In der Annahme, dass die Gegenstände erst über Sprache hergestellt und als Wissen, das sie beschreibt, konstituiert werden, knüpft Foucault im Wesentlichen an diskursanalytische Überlegungen des (Post)Strukturalismus an, wobei Diskurse gemäß »einem interdependenten Gesamtzusammenhang um die drei ›Achsen‹ Wissen, Macht und Selbstverhältnisse konzipiert sind« (Messerschmidt 2012). Hierdurch grenzt er sich gleichzeitig von den meisten sprachwissenschaftlichen und historischen Ansätzen ab, Regeln und Systeme des Sprachgebrauchs in Bezug zur Welt fokussieren. Im Rahmen von »Überwachen und Strafen« (Foucault 1993a [1975]) erscheinen für Foucault Fragen nach der Strukturierung eines Diskurses, d.h. nach Machtwirkungen und deren Kopplung mit Wissensbeständen zentral, die Diskursformationen begrenzen, bedingen oder institutionalisieren, indem sie bestimmte Machtformationen verstärken oder unterminieren. Foucault selbst hat jedoch nie ein gegenstandsunabhängiges, konsistentes Forschungsprogramm aus seinen Annahmen entwickelt, so dass sein Gesamtwerk einige begriffliche Inkonsistenzen aufweist, viele Aussagen widersprüchlich zeigen und auch sein analytisch-praktisches Vorgehen oftmals undurchsichtig bleibt (vgl. Keller 2008a, S. 143, Andersen 2003, S. 1). Zudem erfordert auch Foucaults philosophisch und historisch geprägtes Vokabular sowie seine dementsprechende Herangehensweise an Phänomene eine gewisse Transferleistung bei der Berücksichtigung seiner Konzepte in den Sozialwissenschaften (vgl. Klemm & Glasze 2005). Demzufolge variieren auch jene Diskursanalysen, die in unterschiedlicher Form und Ausprägung auf die Konzepte Foucaults Bezug nehmen, mitunter sehr stark, was das jeweilige Diskursverständnis sowie den analytischen Zugang und die Affinitäten zu verschiedenen methodischen Schulen betrifft. Gemein ist ihnen jedoch, dass sie sich alle dem Sprach- und Zeichengebrauch widmen und die Auffassung vertreten, dass symbolische Ordnungen bestimmten Regeln unterliegen, die sich als »Realisierung einer Diskursstruktur« (Keller 2008a, S. 175) verstehen lassen und analysiert werden können. Der zugrundeliegende Sinn wird hierbei – im Gegensatz zu den meisten textanalytischen Verfahren – nicht als textimmanente Erscheinung aufgefasst, die autonom innerhalb in sich geschlossener Fälle eruiert werden kann, sondern als Erscheinung, die sich nur in Kombination mit dem entsprechenden Kontext generieren lässt. Folglich steht anders als bei den inhaltsanalytischen Verfahren weniger das ›Wie‹ als das ›Wofür‹ im Vordergrund. Dadurch können auch latente und implizite Muster sowie komplexe aussagenübergreifende Gesamtzusammenhänge berücksichtigt werden (vgl. Keller 2004, S. 22). Inhaltlich sind Arbeiten, die auf Foucault rekurrieren, zumeist stark an bestimmten Einzelkonzepten seiner Diskurstheorie orientiert und beschäftigen sich daher in unterschiedlichen Akzentuierungen mit dem gesellschaftlichen Zusammenspiel von Sprache, Wissen, Macht und institutionellen Praktiken. Die kritische Diskursanalyse (z.B. Fairclough 1995; Jäger 2009; Wodak 2001) knüpft vor allem an Foucaults Diskursformationen und ›Verknappungsmechanismen‹

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

sowie linguistische Ansätze und sprachwissenschaftliche Aspekte an. Zudem bezieht sie psychologisch-marxistische Facetten und Althussers Ideologiekonzept (1973) in unterschiedlicher Ausprägung ein. Im Vergleich zu rein linguistisch orientierten Diskursanalysen finden hierbei verschiedene kollektive Ordnungen bei der Prägung von Sprachereignissen stärkere Berücksichtigung. Damit beschränkt sich die Analyse auch hier nicht auf den Sprachgebrauch und grammatikalische Muster, sondern widmet sich Spracheereignissen im Hinblick auf gesellschaftliche Macht- und Wissensordnungen sowie Praktiken der Diskursproduktion. Konkret bedeutet dies, dass sich die Verfahren der kritischen Diskursanalyse zwar mit Texten beschäftigen, das Vorgehen erschöpft sich durch die Betonung der Differenz von Text und Diskursen aber nicht in einer Textanalyse: »Es ist nicht der einzelne Text/das einzelne Diskursfragment, das wirkt, sondern der Diskurs als ganzer in seinem Fluss durch die Zeit und seiner kontinuierlichen Einwirkung auf Individuum und Gesellschaft« (Jäger 2009, S. 185). Verhandelt werden hierbei insbesondere Diskursverschränkungen, durch deren strategische Verbindung »Wissen prozessiert wird und mit verbundenen Handlungen Macht entfaltet« (Bührmann & Schneider 2008a, S. 25). In kulturalistischen Diskurskonzepten, die weniger eng an die Analyse von Redeweisen und den Einsatz sprachlicher Mittel gebunden sind, werden poststrukturalistische Perspektiven in Anknüpfung an Foucault stärker mit Aspekten des symbolischen Interaktionismus, des Sozialkonstruktivismus sowie der Distinktionstheorien (z.B. Bourdieu) verknüpft. Die interdisziplinären ›Cultural Studies‹ (vgl. z.B. Hall 2000; Hörning & Winter 2000) ermöglichen durch die Beachtung des Dualismus institutioneller Restriktionen und Befähigungen von Handeln somit eine stärkere und umfassendere Einbindung vielfältiger und relationaler wissens-, akteur- und praxisbezogener Momente, wobei deren herrschaftskritischer Bezugsrahmen und der fehlende konzeptionelle – nicht empirische – Akteurbezug jedoch meist zu einer recht einseitigen Analyseperspektive führen (vgl. Keller 2008a, S. 186). Solche subjekt- und machttheoretischen Dimensionen der Foucault’schen Annahmen werden gegenwärtig insbesondere im Rahmen der ›Governmentality Studies‹ (vgl. z.B. Pircher & Reichert 2003) und einiger zumeist politikwissenschaftlich basierter Ansätze der postmarxistisch oder hegemonial orientierten Diskursanalysen (z.B. Laclau & Mouffe 2000) weitergeführt und konkretisiert. Vor allem in den Kontexten von Bildung und sozialer Arbeit erscheint kaum ein Beitrag, in dem nicht auf Foucaults Konzept der ›Gouvernementalität‹ (franz. ›gouverner‹ = ›regieren‹ und ›mentalité‹ = ›Denkweise‹) Bezug genommen wird (vgl. z.B. Bröckling et al. 2000; Kessl 2005; Peters & Olssen 2009). Die Governmentality Studies widmen sich vor allem dem ökonomischen und politischen Charakter von Wissen und dessen Verbindung mit Regierungspraktiken. Dadurch ist die Analyseperspektive in der Praxis zumeist primär zeitdiagnostisch und strukturalistisch angelegt und wird nahezu ausschließlich auf neoliberale Strukturen und Vorgänge bezogen. So ermöglicht sie zwar die Generierung zahlreicher Erkenntnisse im Hinblick auf Machtstrukturen und -beziehungen, stößt aber auch an Grenzen. An dieser Stelle soll keinesfalls bestritten werden, dass das »ökonomische Tribunal« (Foucault 2004 [1978/79], S. 342) sowie entsprechende Regierungspraktiken als Indikatoren von enormer Bedeutung sind. Es ist aber auf die Gefahr aufmerksam zu machen, dass eine allzu schnelle und unbedachte Reduktion auf solche Perspektiven die Analysen komplexer Zusam-

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menhänge simplifizieren und auf eine Ideologie- und Machtkritik einschränken kann. In diesem Fall verkürzt sie auf die »›immer gleiche Rationalität‹ und dieselben ›Strategien und Technologien des Neoliberalismus‹ und [bringt] dadurch [langfristig] eher einen Mangel denn Gewinne« (Griese 2012, S. 282) für die Forschung, insofern zahlreiche andere Phänomene in einen Erklärungsnotstand geraten können (vgl. Guzzini 2001; Siedschlag 1997). Obwohl das heterogene Feld diskursanalytischer Ansätze an dieser Stelle nicht in seiner ganzen Breite diskutiert werden konnte, dürften die skizzierten Positionen verdeutlichen, wie unterschiedlich die gegenwärtigen Ansätze ausgestaltet sind, wobei sie mitunter auch relativ abstrakt bleiben. Zudem lässt die knappe Auflistung der prominentesten Strömungen bereits erkennen, dass im Fokus vieler Zugänge eher Auseinandersetzungen mit Transformationsprozessen in Konversation und Sprachgebrauch bzw. mit Brüchen und Wirkmechanismen hegemonialer Strukturen und Ideologien stehen und sich viele der aufgeführten Konzepte weniger wissensanalytisch fundiert mit dem »Doppelcharakter von Wirklichkeit« (Keller 2008a, S. 67) beschäftigen. Hierdurch fehlen ihnen Anknüpfungspunkte an relative Kategorien der alltäglichen Kommunikation von Wissen sowie an soziale Rahmenbedingungen und Reichweiten im Prozess der diskursiven Konstitutionsleistungen, die jedoch gerade für die vorliegende Arbeit zentral erscheinen. Aus den stärker wissensanalytisch orientierten Zugängen, die Diskurse entweder vorrangig als symbolische, ordnungsbildende Struktur gesellschaftlicher Herrschaftssysteme fassen oder eher praxeologisch-kulturalistisch als Art und Weise deuten, in der »situativ das Symbolische gebraucht und symbolische Ordnung konstruiert wird« (Fegter et al. 2015, S. 14), ließen sich hingegen vielversprechende Anknüpfungspunkte ableiten. Dabei müssen Praxis und Diskurs keinesfalls als Dichotomien verstanden werden: »Praxis und Diskurs sind allenfalls Extreme auf einer kontinuierlichen Achse, die von einer ,reinen‹ Praxis über Formen bezeichneter Praktiken bis hin zu einem ›reinen‹ Diskurs reichen würden, wenn es nicht letztlich unmöglich wäre, von reiner Praxis oder reinem Diskurs zu sprechen. Jeder Diskurs ist als Ordnung von Aussagen eine Form der organisierten Praxis, und jede Praxis kann nur in sinnhaften Schemata realisiert werden« (Traue 2005, S. 38). Im nächsten Abschnitt wird daher der Frage nachgegangen, wie sich das vorliegende Erkenntnisinteresse innerhalb der Vielfalt diskursanalytischer Zugänge in einen tragenden theoretisch-methodologischen Rahmen einordnen lässt, der es erlaubt, den Blick der in der Folge Foucaults oftmals eher strukturalistisch angelegten Diskursanalysen weiter hin zu relationalen und kontextuellen Prozessen der Interaktion und Sinnkonstitution sowie der Perspektivität von Wissensprozessen und deren Produktions- und Zirkulationsweisen zu öffnen (vgl. Felder 2013, S. 15). Die offene und multiperspektivische Ausrichtung des diskursanalytischen Forschungsprogramms bietet hierbei einen Rahmen, der auch einen interdisziplinären und traditionsübergreifenden Blick ermöglicht und somit neue Perspektiven eröffnen kann, ohne dabei den »fachwissenschaftlichen Orthodoxien« (Porsché & Macgilchrist 2014, S. 239) zu unterliegen.

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

1.3.

Verortung des Diskursverständnisses – Verhältnisbestimmungen und gegenstandsbezogene Erweiterungen

1.3.1.

Die Überwindung des Dualismus von Handeln und Struktur

Foucault nimmt in seinem Diskursverständnis »eine Ebene der Wissenskonstruktion in den Blick, die in der wissenssoziologischen Tradition des interpretativen Paradigmas in der theoretischen Konzeption zwar angelegt, aber nicht ausgearbeitet war« (Keller 2001, S. 140). Denn in diskursanalytischer Leseart können die kollektiven Wissensbestände, die aus hermeneutisch-sozialkonstruktivistischer Perspektive zentral für die Rekonstruktion öffentlicher Deutungen familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ erscheinen, bereits als Diskurse gefasst werden, in denen jene Deutungen in verschiedenen Praktiken und Prozessen generiert und transportiert werden. Eine erste systematische wissenssoziologische Perspektive hin zur Diskursanalyse eröffnet sich unter Bezugnahme auf Knoblauch, der mit seinem Konzept der »Kommunikationskulturen« (1995) im Zuge der ›kommunikativen Wende’3 bereits ein Diskursverständnis zugrunde legt, an das die vorliegenden Arbeit grundlegend anknüpft: »Diskurs ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl kommunikativer Handlungen der verschiedensten Akteure und Institutionen, mit denen ein bestimmtes Thema auf mehreren Kontextebenen zugleich (für die Beteiligten oder für andere) relevant gemacht wird. […] So vielfältig die Ausdrucksformen gesellschaftlicher Diskurse sind, so kreisen sie doch um eine begrenzte Anzahl relevanter Probleme. Gesamtgesellschaftlich relevante Probleme finden gleichzeitig ›Artikulation‹ (Wuthnow) in Diskursen, d.h. Diskurse sind durch das ›Problem der Artikulation‹ direkt an gesellschaftliche Relevanzen gekoppelt« (ebd., S. 305). Demnach wäre soziales Handeln ohne Diskurse auf symbolischer Ebene nicht möglich. Sie können sowohl als Basis von Kultur und Gesellschaft als auch als deren Ergebnis verstanden werden. Dadurch wird die dialektische Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft nicht einseitig aufgelöst – weder hin zur bloßen Betrachtung der Seite der Gesellschaft, die den Sinn von Institutionen rein funktionalistisch in diesen selbst verortet, noch hin zur bloßen Betrachtung der Seite des Individuums, in der lediglich der subjektiv gemeinte Sinn sozialer Beziehungen zu finden ist (vgl. Berger/Luckmann 1980 [1969], S. 65). Indem Deutungen und Sinnstrukturen auf diskursive Zusammenhänge angewandt werden, versucht eine solche dialektische und relational verfasste heuristische Rahmung der gegenüber phänomenologisch-hermeneutisch orientierten Ansätzen erhobenen Kritik, sie betrieben eine »Exklusion des Sozialen« (Eickelpasch 3

Mit dem Begriff der ›kommunikativen Wende‹ wird die Phase der angeblichen Ablösung der sozialkonstruktivistischen durch die kommunikative Wissenssoziologie in den 1980er und 1990er Jahren gekennzeichnet, die insbesondere durch die ›Konstanzer Schule‹ (Reichertz 2013a) geprägt ist. In der Verbindung interaktionistischer, strukturtheoretischer und systemtheoretischer Perspektiven wird hierbei vor allem der kommunikative Charakter der aufgeführten Konstruktionsprozesse stärker hervorgehoben. Mit Keller (2008a) lässt sich somit auch von einer Verlagerung des Akzents von der ›sozialen‹ auf die ›kommunikative Konstruktion‹ und auf »empirisch bearbeitbare Forschungsfragen« sprechen, »die sich als Verschiebung von der Ideenanalyse zur Beschäftigung mit Wissen und Sprache in konkreten Handlungsvollzügen beschreiben lässt« (S. 317).

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Familie unter Verdacht

& Lehmann 1983, S. 10) und ignorierten dessen Machtstrukturen, entgegenzutreten sowie die disziplinären Einschränkungen in der Beschäftigung mit familialer Erziehung zu überwinden. Dies betrifft insbesondere das »genuin soziologische Interesse am Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Strukturen und Dynamiken der Erziehung und Bildung« (Bauer et al. 2012, S. 19) als auch die erziehungswissenschaftliche Tendenz, biographische und sozialisatorische Momente familialer Erziehung in den Fokus zu rücken, bei der »vielfach zudem die Absicht einer verbesserten Gestaltung von Erziehungs- und Bildungsprozessen leitend ist« (ebd.; vgl. auch Kap. I, 2). Da die Diskursanalyse nicht auf die sinngenetische Betrachtung konkreter Einzelfälle abzielt, sondern auf die Analyse kollektiver Wissensstrukturen, bedurfte es einer sozialtheoretischen Fundierung, die einzelne Aussagen und Texte nicht, wie in den meisten interpretativen Konzepten qualitativer Forschung üblich, als konsistente Sinnelemente, sondern als einen Ausschnitt von Aussagen umfassender diskursiver Formationen fasst (vgl. Keller 2001). Eine vielversprechende Weiterführung dieser grundlegenden wissenssoziologischen Annahmen im Hinblick auf deren weitergehende diskursanalytische Überführung bieten daher vor allem die Ansätze des Augsburger Arbeitskreises. Sie verbinden zentrale Annahmen der ›sozialen bzw. kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit‹ mit diskurstheoretischen Konzepten Foucaults, die sie zu einem Ansatz der »diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit« (Keller et al. 2005) ausgearbeitet haben. Texte stellen in diesem Verständnis als einzelne Äußerungen temporäre ›Oberflächenphänomene‹ dar, die Aussagen und Deutungen transportieren können und somit Aufschlüsse über die zugrundeliegenden Wissensstrukturen von Phänomenen wie familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ geben können (vgl. Fegter et al. 2015; Martschukat 2008). Der Prozess der Herstellung, des Wachsens und der Verstetigung dieser Sprechweisen und Praktiken bildet hierbei den eigentlichen Analysegegenstand: »Es geht um die Rückwirkung der gesellschaftlichen Konstruktionen auf ihre Konstrukteure. Die Analyse versteht sich damit als Rekonstruktion der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit. Sie zeigt einerseits die Hervorbringung der sozialen Welt(en) durch deren Bürger und andererseits die Bedingungen, die soziale Welten ihren Bürgern auferlegen« (Soeffner 1992, S. 477, Herv. i. O.). Insbesondere Keller zielt mit seinem Programm der ›wissenssoziologischen Diskursanalyse‹ (2001, 2004, 2008a) darauf, einen Bezug zwischen den verschiedenen Zugängen herzustellen. Dazu versucht er den mikrosoziologischen Fokus der hermeneutischen Wissenssoziologie »durch eine Akzentverschiebung von der Konzentration auf die Wissensbestände und Deutungsleistungen individueller Akteure des Alltags hin zur Analyse von diskursiven Prozessen der Erzeugung, Zirkulation und Manifestation kollektiver Wissensvorräte auszugleichen« (Keller 2008a, S. 181). In der Verschränkung diskurstheoretischer Konzepte in der Tradition Foucaults, die in erster Linie strukturelle und institutionelle Prozesse der Wissensproduktion fokussieren, d.h. sich stark dem Spiel von Machtpraktiken widmen, welche die diskursiven Wissensformen regulieren und begrenzen, mit sozialkonstruktivistischen Ansätzen im Anschluss an Berger und Luckmann und der hermeneutischen Wissenssoziologie ermöglicht das Forschungsprogramm nicht nur eine stärkere Rückbindung des Diskursbegriffs an symbolische »Wissensvorräte und Wirklichkeitskonstruktionen, [die] in den unterschiedlichs-

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

ten Kommunikationsprozessen hergestellt, aufrechterhalten, weitergegeben und transformiert werden« (Bosančić 2013, S. 185). Vielmehr erklärt es gleichzeitig theoretisch fundiert die reziproke »fundamentale Dialektik der Gesellschaft« (Berger & Luckmann 1980 [1969], S. 80) in Diskursen, d.h. den Dualismus von Wissen und Handeln in diskursiven Prozessen der Bedeutungszuschreibung, der in anderen diskursanalytischen Ansätzen eher im Vagen bleibt. Die theoretische Konzeptualisierung der wissenssoziologischen Diskursanalyse bietet mit der Anknüpfung an Berger und Luckmann (1980 [1969]) einen wissenssoziologischen theoretischen Ansatz, der an zentrale Forschungstraditionen qualitativer Sozialforschung anschließt und unter Rückgriff auf das interpretative Paradigma und hermeneutische Ordnungsschemata Aufschlüsse über das Verhältnis von konstruiertem Wissen und Gesellschaft zu geben vermag. Gleichzeitig wird unter Rückbindung an die Foucault’sche Diskurstheorie eine Forschungsperspektive entwickelt, die die wissenssoziologische Sinnkonstruktion der Alltagswelt mit einer theoretischen Betrachtungsweise gesellschaftlicher Diskursproduktion verknüpft und damit über sie hinausgeht: »Sie vermeidet gleichermaßen die in Diskurstheorien implizite Essentialisierung bzw. Verdinglichung der Diskurse durch die Einführung eines Akteurskonzepts, mit dem soziale Akteure sowohl als diskursiv konstituierte wie als regelinterpretierend Handelnde, als aktive Produzenten und Rezipienten von Diskursen verstanden werden. Erst dadurch erreicht die Analyse von Diskursen die Tiefenschärfe, die notwendig ist, um das komplexe Wechselspiel zwischen Wirklichkeitskonstruktion, Wirklichkeitsobjektivierung sowie den Interessen und Strategien sozialer Akteure als kontingenten sozialen Ordnungsprozess zu verstehen« (Keller 2013c, S. 45). Vor dem Hintergrund der inflatorischen öffentlichen Problematisierung von Familie und Erziehung erwies sich darüber hinaus das Modell einer wissenssoziologischen Analyse sozialer Probleme nach Schetsche als bedeutsam für die vorliegende Arbeit. Sein ›Kokon-Modell‹ (2014) beruht auf der Annahme, dass selbst unterschiedliche Deutungen eines problematischen Sachverhalts über einen verdichteten »Wahrnehmungskokon« (S. 44) verfügen, in dem die Erkennungsschemata eines Problems gebündelt sind, die dann mittels kommunikativer Akte verstärkt und als Problemwahrnehmung verbreitet werden. In diskursanalytischer Übertragung seines Modells können familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ als diskursiv verfestigtes Problem erachtet werden, das sich als Sachverhalt nicht losgelöst von seiner Problematisierung und den Prozessen diskursiver Zuschreibung rekonstruieren lässt, in die es eingespannt ist und die als Wirklichkeit präsentiert werden (vgl. ebd., S. 43f.). Das Konzept eröffnet somit eine erweiterte Perspektive auf die Problematisierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹, wobei auch hier nicht nur Prozesse der Sinnzuschreibung, sondern auch strukturelle Rahmenbedingungen, Instrumentarien und Ressourcen eine entscheidende Rolle spielen. Mittels dieser Annahmen der wissenssoziologischen Diskursanalyse und der wissenssoziologischen Problemsoziologie kann somit eine Lücke zwischen den Theoriebezügen geschlossen werden, die zunächst wie die traditionelle Spaltung von Ansätzen der Mikro- und Makroebene erscheint, tatsächlich aber zwischen den Polen objektivistisch-materieller und konstruktionistisch-symbolischer Wahrnehmungen ver-

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läuft (vgl. Schetsche 2014, S. 36f.; vgl. auch Kap. I, 1.2). Durch die Betonung genereller Wechselwirkungen von Diskursen und kommunikativen Aushandlungsprozessen eignen sich diese Grundlegungen analytisch »sowohl für Prozesse der gesellschaftlichen Objektivierung von Wissen als auch für diejenigen der sozialisatorischen Aneignung und kreativen Interpretation kollektiver Wissensbestände« (Keller 2008a, S. 14). Als handlungspraktisch-pragmatische und lebensweltbezogene Perspektiven ermöglichen sie es zudem, auch Praktiken und Konstruktionen der Alltagswelt zu analysieren, die gerade beim vorliegenden Untersuchungsgegenstand als bedeutsam erscheinen. Familiale Erziehung kann so in ihrem Aufbau als alltägliche, variable Struktur von Deutungen verstanden werden, »die in Auseinandersetzung mit Kontextbedingungen, im Sinne einer Strukturierung von Anschluss- und Erfahrungsmöglichkeiten, unterschiedliche Kristallisation findet« (Dollinger 2008, S. 78). Dabei werden diese Deutungen mittels Diskursen hergestellt und problematisiert, bleiben aber nicht auf diese begrenzt. Daher sollten die einzelnen Elemente dieser Perspektiven zueinander in Beziehung gesetzt und zu einem integrierenden Konzept verbunden werden, das unterschiedliche Blickwinkel im Hinblick auf die Problematisierung von Familie und familialer Erziehung korrigierend oder verstärkend aufeinander wirken lässt, um so blinde Flecken einzelner Vorgehensweisen zu kompensieren. Wenngleich ein solches selektives Vorgehen dem interdependenten Gesamtzusammenhang der einzelnen Konzepte zunächst widersprechen mag, ergeben sich aus der Fokussierung bestimmter Komponenten entscheidende Vorteile im Sinne einer besseren Anschlussfähigkeit an bestimmte Gegenstände und gegenwärtige Entwicklungen. Diesen flexiblen Anschlussmöglichkeiten wurde gegenüber einer im Vorfeld fixierten und in sich geschlossenen Konzeption der Vorzug gegeben: »Einer solchen Vorgehensweise liegt eine theoriekonstruktive Haltung zugrunde, die davon ausgeht, dass eine Weiterentwicklung soziologischer Perspektiven und Fragestellungen nur dann gelingen kann, wenn sie eine angemessene Balance zwischen der Bewahrung gewonnener Erkenntnisse und der Erkundung neuer Denkmöglichkeiten findet« (Keller 2008a, S. 322).   »Mit dieser Offenheit wird nämlich eine flexible und reflexive Analyse der sozialen Welt gefördert, die einem permanenten Wandel unterliegt. Nur wenn Alternativen zu der von einem selbst favorisierten soziologischen Variante präsent sind, wird man darauf gestoßen, dass man etwas übersehen haben könnte […]. Durch die Auseinandersetzung mit der Variationsbreite soziologischer Paradigmen werden wir geschult, uns nicht bequem im Status quo einzurichten« (Krähnke 2012, S. 147).

1.3.2.

Das Subjekt zwischen Unterwerfung und Eigensinn

Eng verbunden mit dem Dualismus von Handeln und Struktur ist auch die theoretische Konzeptualisierung der Handlungsmacht der Akteure. Hierbei scheinen die aus dem wissenssoziologischen Verständnis zugrunde gelegten Kernannahmen wechselseitig konstituierter Alltagsdeutungen zunächst in Kontrast zu Foucaults diskurstheoretischen Überlegungen zu stehen, insofern diese auch als »Diskurskonstruktivismus ohne Konstrukteure« (Keller 2008a, S. 98) gelesen werden können. Einige Autoren, darun-

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

ter auch Bührmann (2007), machen gegenwärtig jedoch verstärkt darauf aufmerksam, dass Foucaults Zugang durchaus auch als relationale Formierung von Subjekten und Objekten in Machtbeziehungen begriffen werden kann, »als perspektivische Bearbeitung im Hinblick auf eine leitende analytische Fragestellung – nämlich der Frage nach der Formierung bzw. Transformierung moderner Subjektivierungsweisen […]: In diskursanalytischer Perspektive problematisiert Foucault das Subjekt als Subjekt und Objekt von Diskursen. In machtanalytischer Perspektive konzentriert sich Foucault auf die Produktion von Individuen als durch Mikropraktiken der Macht spezifisch habitualisierte Subjekte. Und zu guter Letzt thematisiert Foucault die Formen des Verhältnisses zu sich selbst, durch welche das Individuum sich als Subjekt konstituiert und anerkennt« (ebd., S. 60f.). Foucault räumt den Subjekten hierbei vor allem in seinen »Schriften« (2003) einen deutlich aktiveren Part ein als in den genealogischen Problematisierungen.4 Dabei fungiert die Regierung als Bindeglied verschiedener Beziehungen und Produktionstechniken zwischen Selbst und Herrschaft bzw. Macht:5 »Man muss die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Technikformen –Herrschaftstechniken und Selbsttechniken – untersuchen. Man muss die Punkte analysieren, an denen die Herrschaftstechniken über Individuen sich der Prozesse bedienen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt. Und umgekehrt muss man jene Punkte betrachten, in denen die Selbsttechnologien in Zwangs- oder Herrschaftsstrukturen integriert werden. Der Kontaktpunkt, an dem die Form der Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise ihrer Selbstführung verknüpft ist, kann nach meiner Auffassung Regierung genannt werden« (Foucault 1993b, S. 32). Im Vergleich zur Gouvernementalitätsdiskussion der ›Governmentality Studies‹ (vgl. Kap. II, 1.2) gehen die ursprünglichen Konzepte Foucaults somit weit über primär ökonomisch oder politisch konnotierte Fassungen hinaus. Es geht nicht um eine bloße Unterwerfung unter Regierungsinteressen, sondern auch um ein Werden infolge aller Regeln und Techniken, die das Subjekt bei und auf sich selbst anwendet: »Das Wort ›Subjekt‹ hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden

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Foucaults Werke lassen sich ebenfalls einem Zugang zuordnen, bei dem sich die Zusammenhänge seiner Einzelkonzepte erst retrospektiv unter Berücksichtigung seines Gesamtwerkes erkennen lassen, das durch Brüche, unterschiedliche Schwerpunktlegungen und Analysemethoden gekennzeichnet ist (vgl. Bührmann 2007, S. 60f.), die in ihrem chronologischen Verlauf oftmals in drei Phasen unterteilt werden: eine diskurstheoretische Frühphase, eine machttheoretische Hauptphase und eine gouvernment- und subjekttheoretische Spätphase (vgl. z.B. Dreyfus/Rabinow 1987; Honneth 1985). Insbesondere Dreyfus/Rabinow (1987) weisen jedoch auf deren Verbindung zu einem Gesamtkonzept hin, das sich rückblickend nicht in einzelne »vor- oder nacharchäologische oder -genealogische Phasen« (S. 133, Herv. i. O.) und Elemente einteilen lässt, sondern eine Gesamtstruktur bildet, in der die jeweiligen Konzepte im Zeitverlauf nicht verworfen werden, sondern als Randerscheinung und Grundlage immer wieder in Erscheinung treten. Foucault verwendet die beiden Termini teilweise synonym (vgl. Jäckle 2009, S. 69).

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ist. In beiden Fällen suggeriert das Wort eine Form von Macht, die unterjocht und unterwirft« (Foucault 2003, S. 275). Regierung wird somit nicht auf eine disziplinierende, repressive und unterstützende staatliche Führung begrenzt, sondern in einem weiten Verständnis von Macht auch als produktive Regulierung verschiedener intra- und interpersonaler Prozesse und Wissensverhältnisse verstanden. Die Subjekte bleiben bei Foucault hierbei zwar stark in Machtmechanismen eingebunden, werden gleichzeitig aber auch dazu befähigt, »in ihrem Handeln, in ihrem Widerstand und in ihrer Rebellion diesen Machtbeziehungen [zu] entkommen« (Foucault 2003, S. 115). Obwohl sich Foucault gegen »die Extremposition eines souveränen, sich selbst transparenten, die Diskurse steuernden Subjekts« (Nonhoff 2006, S. 152) stellt, lehnt er es gleichzeitig ab, das Subjekt im Sinne eines »radikalen Strukturalismus als bloßen Spielball von Diskursen oder Disziplinen« (ebd., S. 151) anzusehen und gesteht ihm somit gewisse Freiheitsgrade in der Ausgestaltung von Handlungsanweisungen zu. Dies rückt seine Perspektive in die Nähe von Elias’ Subjektkonstitution, in der die relative Autonomie von Individuen betont wird, die immer zugleich »Münze und Prägstock« (Elias 1987 [1939], S. 84) darstellt. Zwar gibt Foucault wenig Auskunft über die konkreten ›subversiven Potenziale‹ der Subjekte, verzichtet also auf eine konkrete theoretische und methodische Grundlegung des Verhältnisses von Diskursen und Handlungsträgerschaft, womit offenbleibt, vor welchen Hintergründen Individuen auch tatsächlich die angetragenen Wissensbestände annehmen oder ihnen entgegengesetzt handeln (vgl. Spies 2009). Im Folgenden wird dennoch versucht, Foucault handlungstheoretisch zu lesen und seine zentralen Annahmen zu ›Subjekt‹ und ›Macht‹ in das zugrunde gelegte Forschungsprogramm zu integrieren und fruchtbar zu machen. Dadurch können Machteffekte, die auf das Subjekt einwirken, ebenso in den Blick genommen werden wie Widerstände und der Eigensinn der Handelnden. Dabei ist das Subjekt immer vor dem Hintergrund schon vorhandener Diskurse und Praktiken zu betrachten, macht zugleich aber auch einen Teil dieser Strukturen aus. Die sozialen Begrenzungen und die »Freisetzungsdimension« (Helfferich 2012, S. 19) der Subjekte sollten hierbei jedoch ebenso wenig als Dichotomie aufgefasst werden wie die Begriffe ›Praxis‹ und ›Diskurs‹ oder ›Struktur‹ und ›Handeln‹. Denn aus dem vorliegenden Diskursverständnis lassen sich Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ sowohl als Effekte als auch als Produzenten von Diskursen betrachten. Als Produzenten stellen sie nicht nur Deutungen und Praktiken aktiv her, sondern transformieren und transportieren diese auch. Als Effekte integrieren sie diskursive Deutungen und Handlungsanleitungen in die Alltagspraxis familialer Erziehung (vgl. Keller 2008a, S. 290). Dies ermöglicht eine relationale Betrachtung der diskursiven Handlungsanleitungen und der Agency der Subjekte vor dem Hintergrund explizierter Bezugspunkte (vgl. Kap. II, 3.1.1.3).

1.3.3.

Der Diskurs als normative Ordnungsstruktur und regulativer Mechanismus

Eng gebunden an Konzeptionen von Struktur und Handeln sowie die daraus hervorgehende Subjektkonstitution ist auch das Verhältnis von Individuum und sozialen Differenzierungs- und Ausgrenzungsprozessen. In der Annahme, dass normative

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

Setzungen gleichsam konstruiert und konstruierend sind und den Aufbau sowie die Transformation sozialer und kultureller Ordnungen unterstützen und widerspiegeln, ist davon auszugehen, dass vor allem die normative Aufladung des Kompetenzbegriffes mitunter als ein distinktiver Faktor sozialer Differenzierung und als Kontrollinstanz gegenüber nicht erwünschtem Verhalten fungiert. Mit ihm werden Deutungen und Zuschreibungen von »(In)kompetenz« sowie Konstruktionen ›illegitimer‹ Handlungsund Verhaltensweisen mittels Diskreditierungsdynamiken und Ausgrenzungsmechanismen erzeugt und stabilisiert (vgl. Bommes & Scherr 1996, S. 107ff.). Vor diesem Hintergrund können vor allem Etikettierungs- bzw. Stigmatisierungstheorien sowie Devianzkonzepte des symbolischen Interaktionismus wertvolle Anknüpfungspunkte und gegenstandsbezogene Erweiterungen des diskursanalytischen Zuschnitts bieten (vgl. z.B. Becker 1981; Goffman 1975). Familiale ›Erziehungsinkompetenz‹ wird hierbei als ›abweichendes Verhalten‹ bzw. als ›Abweichung zwischen virtueller und aktualer sozialer Identität‹ (Goffman 1975, S. 10) gedeutet. Dadurch stellt sie »[k]eine Qualität der Handlung, die eine Person begeht[, dar], sondern vielmehr eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere und der Sanktionen gegenüber dem ›Missetäter‹« (Becker 1981: S. 8, Herv. i. O.). Eine ausschließliche Beschränkung auf diese Erklärungsoptionen erscheint jedoch insofern problematisch, als sie in weiten Teilen stark in individuenzentrierten Kategorien verbleiben. Auch wenn sich hieraus wichtige Erkenntnisse ableiten lassen, können dadurch relevante kulturelle und institutionelle Machtverhältnisse und -ordnungen der Differenzierung leicht übersehen werden (vgl. Hofmann 2009, S. 15). Die Einbindung dieser Annahmen in das Forschungsprogramm der Diskursanalyse kann diesen Bias korrigieren und den Blick stärker auf strukturelle Faktoren und kollektive Wissenspolitiken richten. Anleitungen hierzu lassen sich insbesondere in Foucaults Gouvernementalitätskonzept finden: Durch die Hervorhebung der Wirkmächtigkeit von Regierungsformen im Hinblick auf deren subjektkonstituierende Effekte sensibilisiert das Konzept nicht nur für die Wahrnehmung von Exklusionsprozessen, sondern verdeutlicht auch, wie durch verschiedene Regierungstechniken soziale Ungleichheiten verfestigt und reproduziert werden können. Grenzen von Machtbeziehungen sowie die ihnen zugrundeliegenden Entwicklungen und Dynamiken können so rekonstruiert werden. Foucault (2007 [1999]) hat hierbei insbesondere auf Prozesse der vertikalen Differenzierung, Markierung und Ausgrenzung des ›Anormalen‹ aufmerksam gemacht, d.h. auf Personen, die sich nicht in vorgegebene Normen einfügen. Allerdings sollte auch an dieser Stelle vermieden werden, die Agency der beteiligten Akteure zu unterschätzen und Ungleichheiten auf unterdrückende Repressionen zu reduzieren. Vielmehr gilt es, die Deutungen und Zuschreibungen familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ sowie damit potenziell einhergehende soziale Differenzierungen als ambivalente Konstruktionen heterogener Akteure zu verstehen. Konstitutions- und Konstruktionsprozesse hinsichtlich Familie und Erziehung können so in Relation zu der sowohl ermöglichenden als auch begrenzenden strukturellen Umgebung gesetzt werden, als »Bündelungen von Wissen, die an unterschiedliche Machtmechanismen und -institutionen gebunden sind« (Waldschmidt 2003, S. 152) und dabei gewisse Machtverhältnisse und Differenzierungen fördern oder zu verhindern suchen. Die Verknüpfung und Relationierung dieser Perspektiven ermöglicht somit eine fundierte Vermittlung zwi-

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Familie unter Verdacht

schen »machtversessenen« und eher »machtvergessenen« Positionen (Berli & Endreß 2013, S. 11).

1.3.4.

Die narrative Diskursstruktur in Prozessen sozialen Wandels

Selbst ein alltägliches Phänomen wie familiale Erziehung ist immer auch »historischkulturell bestimmt und darf nicht als herrschaftsfreier Raum begriffen werden, in dem sich Individualität verwirklichen und Subjektivität ohne Weiteres bestätigen kann« (Krüger 2013, S. 33). Obwohl Prozesse von Entwicklung und Wandel für die Sozialwissenschaften im Allgemeinen und das vorliegende Forschungsprogramm im Besonderen zentral sind, haben sich viele sozialwissenschaftliche Diskursanalysen von historischepistemologischen Erkenntnisinteressen befreit. Verwiesen sei an dieser Stelle mit Schrader et al. (2015) vor allem auf die häufige Vernachlässigung retrospektiver Analysen bestimmter Entwicklungen und zugrundeliegender Ursachen auf Diskursebene. Insbesondere in der gegenwärtigen Vielzahl praxeologisch-pragmatischer Ansätze geraten Fragen der Modifikation und Verknüpfung von Wissensbeständen sowie der historischen Genese von Wissenskomplexen und deren Transformation auch in wissensanalytischen Zugängen häufig aus dem Blick (vgl. Messerschmidt 2012). Die wissenssoziologische Grundlegung der vorliegenden Arbeit ermöglicht es, Prozessen sozialen Wandels stärker Rechnung zu tragen. So verweist Kommunikation als Medium und Speicher von Wissensordnungen sowie (Re-)Produzent der Wirklichkeit per se auf Veränderungsprozesse, die nur aus der Logik ihrer Entwicklungsprozesse heraus angemessen interpretiert werden können (vgl. Elias 1986). Als Bestandteil der diskursiven Ordnungen ist sie immer eingebunden in den »Prozess einer permanenten Produktion, Fixierung und Transformation von Zeichen und Bedeutungen, dessen soziale Strukturierung sich im Sprachgebrauch dokumentiert und darüber zugänglich ist« (Keller 2008a, S. 60). Eine explizitere Berücksichtigung kommunikativer Prozesse sowie ihrer Dynamiken und Verläufe in diskursiven Strukturen erlaubt es, eine wissenssoziologisch orientierte narrative Diskursanalyse einzubinden (vgl. z.B. Arnold et al. 2012; Viehöver 2001). Narrationen können hierbei als Strukturen aufgefasst werden, die soziale Prozesse innerhalb eines bestimmten diskursiven Rahmens erschaffen und mittels bestimmter Regelsysteme als ›Erzählung‹ organisieren, um ihren Deutungen Kohärenz und Kontinuität zu verleihen. Die Narrationsanalyse ermöglicht sonach nicht nur die Rekonstruktion diskursiver Wissensbestände im Zeitverlauf, sondern darüber hinaus eine »systematische Darstellung der strukturellen Zusammenhänge des Erzählens« (Glasze 2008, S. 204), die gleichzeitig eine spezifische kommunikative Wirklichkeit und einen Prozess darstellt. Dies birgt das Potenzial, zeit- und ideengeschichtliche Kontexte der Diskursproduktion sowie deren Funktionen besser nachvollziehen zu können. Wertvolle Hinweise zum Zusammenhang von narrativen Strukturen und sozialem Wandel finden sich neben Elias’ interdependenter Prozesssoziologie (1969) auch in der etwas in Vergessenheit geratenen Sozialtheorie Tardes, die eine Rekonstruktion von Deutungen als narrative ›Ideenketten‹ nahelegt: Für Tarde (2009) bestehen die »wirklichen Ursachen der Veränderungen […] aus einer Kette von allerdings sehr zahlreichen Ideen, die jedoch verschieden und diskontinuierlich sind, obwohl sie durch noch viel

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zahlreichere Nachahmungshandlungen, deren Vorbild sie darstellen, miteinander verbunden sind« (S. 26). Nachahmung stellt folglich den Motor von Innovation und sozialem Wandel dar, wobei Deutungen hierbei nicht nur imitiert, sondern auch transformiert werden und dadurch Veränderungsprozesse einleiten, die für die Entstehung von Institutionen sowie Problem- und Konfliktlösungen von Bedeutung sind. Familiale Erziehung wäre aus diesem Blickwinkel immer auf tradierte Deutungen angewiesen, die nachgeahmt, in diesem Zuge aber auch durch neue Strukturen ergänzt werden: »Jedes Deuten und Handeln greift auf die gesellschaftlich erzeugten, im jeweiligen soziohistorischen Kontext kollektiv verfügbaren typisierten Wissenselemente zurück. Diese werden im Deutungs- und Handlungsprozess aktualisiert, transformiert oder erweitert« (Keller 2012a, S. 214). Auch Viehöver (2012) geht in seiner Konzeption einer ›narrativen Diskursanalyse‹ davon aus, dass Einzelelemente diskursiv zu kleineren und größeren ›Geschichten‹ des Alltags verknüpft werden, die sowohl auf bestehende Wissensstrukturen und -ordnungen rekurrieren als auch im Rahmen der Erzählung neue innovierende Muster generieren und so als »Geburtshelfer möglicher Welten« (S. 181) fungieren. Institutionalisierungsprozesse von Phänomenen wie familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ in einem übersubjektiven gesellschaftlichen Wissensvorrat erfolgen hierbei mit Berger und Luckmann (1980 [1969]) über unterschiedliche Stufen: Zunächst werden Handlungen, die sich bewährt haben, wiederholt, wodurch sie zur Gewohnheit werden. Das heißt, das häufige Wiederholen bewährter internalisierter Handlungen führt zu einer Habitualisierung dieser Praxen, die dann in Interaktionen externalisiert werden. Die Sphäre des Subjektiven wird hierbei in den Bereich des Öffentlichen überführt, wo die routinierten Handlungen und Sinnkonstitutionen ›objektiviert‹, d.h. verdinglicht werden und als Institution in den ›gesellschaftlichen Wissensvorrat‹ eingehen. Von dort können sie wiederum als Plausibilitätsstrukturen zur (De-)Legitimierung und (De-)Stabilisierung institutioneller Ordnungen internalisiert und im alltäglichen Handeln realisiert, gefestigt und transformiert werden. Der Institutionalisierungsprozess einer Handlung kann bei ausreichender Plausibilisierung bis zur allgemeingültigen Norm mit verbindlichem Kontrollcharakter gesteigert werden (vgl. ebd., S. 24ff.). Die ›Geburt‹ familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ benötigt demnach zu ihrer längerfristigen Etablierung Begründungszusammenhänge, die dadurch legitimiert werden, dass das Phänomen einem »objektivierten Sinn kognitive Gültigkeit zuschreibt« (ebd., S. 100) und den »pragmatischen Imperativen die Würde des Normativen verleiht« (ebd.). Es ist anzunehmen, dass bei der Diffusion von Innovationen neben den Ideen selbst vor allem mögliche Interessenkonflikte der Betroffenen sowie deren Auflehnung gegen vorherrschende Normen, Rituale und Praktiken von Bedeutung sind (vgl. Keller 2009, S. 233; Mensch & Schroeder-Hohenwarth 1977; Neuloh 1977). Die scheinbare Objektivität tradierter Wissensbestände erschwert es, solche sozialen Prozesse und Entstehungszusammenhänge zu erkennen, zumal sie häufig von anderen Deutungsangeboten verdeckt werden (vgl. Berger & Luckmann 1980 [1969], S. 95f.). Die zugrundeliegenden Strukturen und Inhalte können jedoch über die Rekonstruktion der narrativen Wissensgenese wieder erschlossen werden. Durch die Einbindung einer Narrationsanalyse kann somit ein diskursanalytisches Forschungsprogramm entworfen werden, das nicht nur zum Verständnis der narrati-

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ven Konstruktion und Verknüpfung von Diskursen beiträgt, sondern in dem auch deren relationale Prozesse und ihr historischer Wandel explizit angelegt sind. Dabei ist diese Analyse weder auf individuelle Konstitutionsakte einzelner Akteure noch auf strukturell-kollektive, insbesondere ökonomische und neoliberale Erklärungsaspekte begrenzt (vgl. Howaldt et al. 2014, S. 12). Außerdem machen die Annahmen innovativer und begrenzender Strukturen durch die Grundlegung eines angestrebten, nie zu erreichenden Gleichgewichts im Nachahmungsprozess auch auf die Konflikthaftigkeit und Problematisierung von Phänomenen aufmerksam: »Je größer das Ungleichgewicht, desto größer ist die zum Ausgleich drängende Spannung, deren Kraft die Sozialinnovationen bewirkt« (Mensch & Schroeder-Hohenwarth 1977, S. 132). So können nicht nur geteilte Deutungen, sondern gerade auch Unterschiede und Divergenzen erklärt werden, die in Anbetracht der allgegenwärtigen Problematisierung und Infragestellung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ für das vorliegende Forschungsvorhaben zentral erscheinen. Die Gesamtheit der narrativen Strukturen, die dazu führen, dass Phänomene deutungsübergreifend etabliert und institutionalisiert werden, können hierbei als Erfolgsgeneratoren verstanden werden (vgl. Keller 2001; Schetsche 2014, S. 111).

1.3.5.

Das Diskursfeld als mehrdimensionaler Raum

Der Ort, an dem diskursive Wissensbestände familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ zirkulieren und Deutungskämpfe stattfinden, kann als »diskursives Feld« (SchwabTrapp 2001, S. 267) gefasst werden. Die Verhältnisbestimmungen und regulativen Mechanismen von Diskurs, Subjekt und Macht entlang der Pole Struktur und Handeln, Unterwerfung und Eigensinn sowie Narration und Objektivation weisen darauf hin, dass das Diskursfeld in dem zugrundeliegenden Diskursverständnis nicht monokausal konstruiert ist. Vielmehr wird es durch viele unterschiedliche Elemente in Prozessen der Strukturierung und narrativen Verknüpfung hervorgebracht, die in Anlehnung an Schmied-Knittel auf verschiedenen Ebenen angesiedelt und rekonstruiert werden können (Klemm & Glasze 2005). Für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit erscheinen hierbei vor allem zwei Ebenen zentral, zwischen denen und innerhalb derer sich die mehrdimensionale Struktur des Diskursfeldes bildet: die Ebene der diskursiven Wissens- und Infrastrukturen, die unterschiedliche konstitutive Wissensbestände und Objektivationen des Phänomens familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ umfasst, und die Ebene der diskursiven Wirkungen und (Neben-)Folgen von Deutungen, Objektivationen und deren narrativer Verbreitung. Da Deutungen von ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ und Positionierungen von Familien in der Regel keinen Selbstzweck verfolgen, sondern ihnen bestimmte Funktionen, Motive und Interessen zugrunde liegen, sind sie immer auch auf die sozialen Akteure zu beziehen, die sie generieren, verbreiten und in sozialen Praktiken umsetzen. Das heißt, Wissens- und Infrastrukturen ändern sich immer auch mit den Verantwortlichkeiten. Bereits Foucault weist in der »Ordnung des Diskurses« (1991 [1971]) vor allem auf die zentrale Stellung der Diskurssprecher und der dazugehörigen Disziplinen hin, die in Diskursfeldern miteinander um Glaubwürdigkeit ringen. Die Aufschlüsselung des Verhältnisses der beiden Ebenen erfordert daher nicht nur die Einbindung narrativer Strukturen und Linien (vgl. Kap. II, 1.3.4), sondern auch den Einbezug der sie

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

tragenden Akteure. Diese ermöglichen nicht nur die narrative Verständigung zwischen den Ebenen, sondern erzeugen, transportieren und stabilisieren dabei auch die enthaltenen diskursiven Strukturen und (Neben-)Folgen (vgl. Viehöver 2013).6 Aus den unterschiedlichen Elementen und deren Formationen ergibt sich somit ein relationales Diskursfeld, das die konzeptionelle Ausgangslage der vorliegenden Diskursperspektive bildet (vgl. Abb. 1).

Abbildung 1: Ebenen und Elemente des Diskursfeldes

Quelle: eigene Darstellung

Die einzelnen Inhalte des Diskursfeldes bedingen und beeinflussen sich immer gegenseitig, so dass die darin enthaltenen Bestandteile stets auf mehreren Ebenen wirksam sind. Sie sind somit nicht als klar voneinander abgrenzbare Dimensionen zu erachten, sondern als leitende und strukturierende heuristische Hilfsmittel zur diskursiven Annäherung an ein Phänomen zu verstehen, die weder eng an Mikrokonzepte von Interaktion noch Makrokonzepte von Struktur gebunden sind. Da jedem Phänomen andere Strukturierungen zugrunde liegen, wurden die aufgeführten Elemente in ihren konkreten Inhalten zunächst möglichst offen gegenüber richtungsleitenden Vorannahmen und theoretischen Festlegungen gehalten. Dies ermöglichte es, sich von der Strukturierung des Feldes anregen zu lassen und so zu verhindern, dass durch das Herantragen allzu enger Operationalisierungen an den Phänomenbereich relevante Elemente übersehen werden.

6

Dieses Verhältnis zwischen den Ebenen und Elementen beschreibt Foucault auch als ›Diskursformation‹. Hierzu zählt er die ›Formation der Gegenstände‹, d.h. die Regeln, Disziplinen und deren Thematisierung, die ›Formation der Äußerungsmodalitäten‹, d.h. die Sprecher, Praktiken und Äußerungsformen, die ›Formation der Begriffe‹, d.h. die rhetorischen Schemata und Argumente der Binnenstrukturierung, sowie die ›Formation der Strategien‹, d.h. der kontextuellen und strategischen Verbindungslinien eines diskursiven Phänomens (vgl. Foucault 1981 [1969], S. 48ff.).

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Familie unter Verdacht

2.

Empirisch-heuristische Vorarbeiten zur Konkretisierung und Eingrenzung des Forschungsfeldes

Aus den theoretisch-methodologischen Grundlegungen und Verhältnisbestimmungen ergeben sich verschiedene Implikationen zur empirischen Umsetzung des Forschungsprogramms, anhand derer erste gegenstandsangemessene Konzeptualisierungen und Vorarbeiten erfolgen konnten. Zentral für den gegenstandsbezogenen und interpretativen Zugang zur öffentlichen Darstellung von Familie und familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ ist die mehrstufige und opportunistische Auseinandersetzung mit dem Material, die mit empirisch-heuristischen Annäherungen und Vorarbeiten zur Präzisierung der zu untersuchenden Diskursarenen und Wissensfelder begann. Das Diskursfeld bildet hierbei den übergeordneten Rahmen (vgl. Kap. II, 1.3.5). In seiner räumlichen Ausprägung repräsentiert es die ›diskursive Arena‹, in der soziale Akteure untereinander aushandeln, worauf sich bestimmte Sachverhalte wie familiale Erziehung in ihrem Wesen beziehen (vgl. Keller 2008a, S. 270). Als wichtige Determinanten dieser Aushandlungsprozesse können das institutionelle Setting und die darin agierenden Akteure angesehen werden. So ist z.B. anzunehmen, dass sich bei der Betrachtung des sozialwissenschaftlichen Fachdiskurses andere Wissensbestände und Deutungen zur familialen Erziehung zeigen, als sie sich im strafrechtlichen Diskurs oder in den diskursiven Verhandlungen einer Elterninitiative zeigen. Darüber hinaus sind aber auch im Hinblick auf das prioritäre Thema eines ›Diskursstranges‹ Unterschiede zu erwarten. Diskursstränge werden als thematisch zusammenhängende Diskursverläufe verstanden, die sich aus einer Vielzahl von Elementen (z.B. Texte) zu diesem Thema, den sogenannten Diskursfragmenten, zusammensetzen (vgl. Jäger 2001, S. 99). Der Gesamtdiskurs lässt sich diesem Verständnis folgend themenbezogen in unterschiedliche Diskursstränge untergliedern. Dabei dürfte z.B. der bildungspolitische Diskursstrang deutlich andere Inhalte und Anforderungen hinsichtlich familialer Erziehung formulieren als z.B. der Diskursstrang ›Betreuungsgeld‹. Nicht zuletzt umfasst das Verständnis der diskursiven Konstruktion familialer Erziehung als Prozess auch eine zeitliche Referenz, so dass Konstruktionsprozesse auch in ihrem jeweiligen zeit- und ideengeschichtlichen Kontext betrachtet werden müssen, von dem sie wesentlich beeinflusst werden. Als auslösendes Moment bestimmter Diskursstränge können in der Regel bestimmte ›diskursive Ereignisse‹ erachtet werden, »die in aller Regel auch durch die Medien besonders herausgestellt werden und als solche die Richtung und Qualität des Diskursstrangs […] mehr oder minder stark beeinflussen« (Jäger 2001, S. 98). Die Gesamtheit aller Wissensbestände und Aussagen zu Familien und ihren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ lässt sich mit Landwehr (2001) als »imaginäres Korpus« fassen, das sich von dem »virtuellen Korpus«, d.h. den prinzipiell zugänglichen Aussagen im Diskursfeld unterscheidet (S. 107). Die Analysearbeit ist somit per se auf das virtuelle Korpus begrenzt. Aber auch dieses ließ eine kaum überschaubare Zahl an Aussagen erwarten: Allein das Stichwort ›Erziehungskompetenz‹ lieferte in einer Google-Abfrage im Jahr 2015 135.000 Ergebnisse, die Suche nach ›familialer Erziehungskompetenz‹ ergab zum gleichen Zeitpunkt 37.900 Treffer. Der Umstand, dass familiale Erziehung viele Akteure und unterschiedliche gesellschaftliche Teilbereiche betrifft, verschärft die Pro-

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

blematik einer umfassenden Analyse zusätzlich. Dadurch wird eine vollständige Erfassung und Sichtung aller verfügbaren Diskurselemente als »riesiges und komplexes ›Gewimmel‹« (Jäger 2001, S. 96) nahezu unmöglich – das Analysevorhaben gerät in ein Dilemma: »Einerseits schließt nämlich die immense Anzahl an Diskursbeiträgen zu diskursiven Auseinandersetzungen jedes allzu detaillierte und damit auch zeitaufwendige Analyseverfahren […] aus rein zeitökonomischen Gründen von vornherein aus. Andererseits ist der Diskursanalyse auch der Weg in die exemplarische Analyse einiger weniger Diskursbeiträge versperrt, weil sie per definitionem ›diskursive Formationen‹ rekonstruiert, die erst aus dem Zusammenspiel – potenziell sämtlicher Beiträge – eines Diskurses erwachsen« (Schwab-Trapp 2008, S. 173). Weder der gesamte ›virtuelle‹ Diskurs noch exemplarische Einzelaussagen bilden geeignete Analysegrundlagen. Es bedarf daher einer Konkretisierung, die nicht nur die immense Anzahl an Diskursbeiträgen reduziert, sondern gleichzeitig die Analyseperspektive auf bestimmte diskursive Formationen familialer Erziehung verengt. Daher wird es in der vorliegenden Arbeit als besonders wichtig erachtet, die Schritte und Selektionsmechanismen in ihren Entstehungsbedingungen sowie die eingeschränkten Wahrnehmungsfelder und Vorannahmen der Autorin im Folgenden bewusst und transparent zu machen (vgl. Froschauer & Lueger 2009, S. 137).7 Die Festlegung und Präzisierung des Diskursfeldes bildete hierbei die erste weitreichende heuristische Entscheidung in der Umsetzung der Diskursanalyse. Sie umfasste ausgehend von der Frage nach den zu analysierenden Diskursarenen und -materialien (Kap. II, 2.1.1 & 2.1.2) auch erste empirische Analysen zur thematischen Kartographie des Diskursfeldes (Kap. II, 2.1.3), um das weite Feld des Forschungsgegenstandes einzugrenzen und die Analysearbeiten theoretisch und empirisch fundiert auf einen bestimmten Diskursstrang und einen zeitlichen Rahmen begrenzen zu können (vgl. Kap. II, 2.2.).

2.1.

Annäherungen an das Diskursfeld familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹

2.1.1.

Die Massenmedien als öffentliche Diskursarena

Das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit richtet sich in erster Linie auf Typologien des gesellschaftlichen Wissensvorrates zu Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹, die durch die wahrgenommene Plausibilität alltagsweltlicher Akteure wirksam werden und somit »Öffentlichkeit und Konflikthaftigkeit diskursiver Prozesse« (Schwab-Trapp 2008, S. 263) voraussetzen. Insbesondere vor dem Hintergrund einer zunehmenden Mediatisierung des Lebens erscheinen daher vor allem massenmedial transportierte Wissensordnungen familialer Erziehung zentral, die durch eine Vielzahl sozialer Prozesse, Praktiken und Informationsflüsse gesteuert werden und in Abhängigkeit von verschiedenen ermöglichenden und begrenzenden

7

Die Transparenz des Forschungsprozesses ist auch im Hinblick auf die Angemessenheit der Methode als wichtiges Gütekriterium in der qualitativen Forschung zu erachten, was nach Bührmann und Schneider (2008) in der gegenwärtigen Forschungslandschaft jedoch häufig nicht berücksichtigt wird (vgl. S. 90ff.).

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Familie unter Verdacht

Bedingungen als öffentlich Sag- und Zeigbares konstruiert werden, auf das soziale Akteure in ihrem Denken und Handeln zurückgreifen können. In Anlehnung an Luhmann spricht Burkart (2002) hierbei auch von Medien als »Spiegel der Gesellschaft« (S. 272), was ausdrücken soll, dass gesellschaftliches Wissen seine soziale Gültigkeit in erster Linie über mediale Verbreitungsformen erhält, so dass bestimmte Vorgänge erst durch ihre Berichterstattung zu Ereignissen werden (vgl. ebd., S. 287) – oder anders formuliert: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien« (Luhmann 1996, S. 9). In ihrer medial vermittelten Erscheinung können Familien und ihre ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ daher als spezifische, fragmentierte und verdichtete soziale Lebenswelt verstanden werden, die als empirisches Untersuchungsfeld »in jeder Skalierung erforscht werden kann, von der kleinsten (sagen wir eine lokale Welt, ein lokaler Raum) bis hin zur allergrößten (in Umfang oder geografischer Ausdehnung)« (Strauss 1978, S. 126). Eine weitreichende konstitutive Aussagekraft bestimmter Wissensbestände kann jedoch vor allem in Diskursen mit allgemeiner Publikumsorientierung aufgespürt werden, während sie in Spezialdiskursen nur eingeschränkt sichtbar wird. Denn im Vergleich zu speziellem Expertenwissen bzw. wissenschaftlichem Wissen verfügt das massenmedial transportierte ›lebensweltliche Wissen‹ nicht nur über größere Reichweiten, sondern unterliegt auch weniger dem möglichen Zweifel, d.h., Wissensbestände erschöpfen sich oftmals in Selbstverständlichkeiten, die in ihrer Reproduktion kaum hinterfragt werden (vgl. Schütz & Luckmann 1975, S. 32). Da sich Expertenwissen in seiner massenmedialen Verbreitung und allgemeinen Adressierung immer auf ein basales und kollektives Problemverständnis beziehen muss, das einem permanentem Wandel unterliegt, bietet der Alltagsdiskurs zudem auch die Chance, »Prozesse der Veränderung wissenschaftlichen Wissens und der Verflechtung lebensweltlicher und wissenschaftlicher Aussagesysteme zu beobachten« (Cornelißen 1982; S. 20). Der Wandel zentraler Deutungen kann dann als Entwicklung verstanden werden, die mit Veränderungen sozialer Lebenswelten und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen einhergeht und medial skandalisiert, aktualisiert und reproduziert wird. Die massenmediale Diskursarena erhält daher in der vorliegenden Arbeit den Vorzug gegenüber speziellen Diskursarenen wie z.B. den Schauplätzen wissenschaftlichen oder politischen ›Spezialwissens‹ bzw. (teil-)öffentlichen diskursiven Arenen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass gänzlich auf Annahmen des ›Expertendiskurses‹ verzichtet werden musste. Zum einen konnten entsprechende Wissensbestände als Kontextmaterial einbezogen werden und zum anderen treffen gerade in massenmedialen Verhandlungen häufig alltägliche gesellschaftliche Deutungen und Expertenwissen aufeinander. Zwar kommt hierbei wissenschaftlich fundierten Konzepten und deren Umsetzung eher eine untergeordnete Rolle zu, der Übergang ist aber mitunter auch fließend (vgl. Keller 2008a, S. 232). Der massenmediale Diskurs ist demnach als eine Art allgemeinverständliche Schnittmenge zu verstehen, der weicheren Formationsregeln und einer umfassenderen kollektiven Bewertung unterliegt als (teil-)öffentliche Spezialdiskurse. Dementsprechend spielen wissenschaftliche und politische Wissensbestände zu Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ in der vorliegenden Untersuchung immer dann

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

eine entscheidende Rolle, wenn innerhalb der öffentlichen Verhandlungen entweder direkt auf sie Bezug genommen wurde oder sie für das Verständnis und die kontextuelle Einbettung von Deutungen hilfreich erschienen. Entsprechende Materialien wurden somit zwar nicht explizit in das engere Materialkorpus eingeschlossen, dienten jedoch an Schlüsselstellen als Hinweislieferanten für Mobilisierungen von Deutungen, da sie spezielle Wissensordnungen konstruieren, die in massenmediale und alltägliche Diskurse explizit oder implizit eindringen und einen Orientierungsrahmen schaffen, der den öffentlichen Diskurs beeinflusst (vgl. auch Cornelißen 1982; Schmid 2008; Schmid 2010; Scholz et al. 2013).8 Sie liefern hierbei nicht nur wertvolle Informationen über das breite Spektrum von Akteuren und Positionen, sondern bieten auch die Möglichkeit, Selektionsprozesse der Massenmedien transparent zu machen (vgl. Keller 2008a, S. 217). Neben diversen Studien und wissenschaftlichen Abhandlungen im Kontext von Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ erschienen hierbei vor allem Gesetzesentwürfe und politische Dokumente sowie interdisziplinäre und mehrperspektivische Materialen wie z.B. die Familienberichte des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend als aufschlussreich, die nach Lamm-Heß (1993) über besonders »vorbildgebenden Charakter« verfügen (S. 22) und Wandelprozesse im Verständnis familialer Erziehung spiegeln. Von Interesse waren aber auch Artikulationen von Entscheidungsträgern, die familienpolitische Maßnahmen gestalten und Gesetzesinitiativen sowie Projekte hervorbringen, die bestimmte Deutungen von Erziehung, Kindheit, Elternschaft und Familie beständig institutionalisieren. Das Material ist demgemäß auf zwei Ebenen angesiedelt: hintergründig auf der Ebene des fachspezifischen Kontextwissens und vordergründig auf der Ebene der Massenmedien mit ihrer Inanspruchnahme der fachspezifischen Wissensbestände.

2.1.2.

Die meinungsführenden Printmedien als Untersuchungsbasis

In Anbetracht der für das Forschungsunternehmen mobilisierbaren Ressourcen wurden die Analysematerialien in einem weiteren Schritt anhand begründeter Strategien auf ein überschaubares »konkretes Korpus« (Spitzmüller & Warnke 2011, S. 83) eingegrenzt, das dennoch eine möglichst umfassende Analyse und Rekonstruktion des Phänomens familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ ermöglichen sollte. Neben theoretischen Vorannahmen zur Beschneidung der Diskursarena (vgl. Kap. II, 2.1.1) zählten hierzu insbesondere die Festlegung von Analysezeiträumen und die Zuordnung von Materialien zu bestimmten Inhalten, wobei die fehlende strikte methodische Systematisierung 8

Dies verweist auf das methodologische Problem der »diskursiven Mobilisierung nicht-diskursiven Wissens im Forschungsprozess« (Winkel 2013, S. 188), d.h. auf das Risiko der Transformation des Diskurses durch die eigene Forschungstätigkeit. Indem der Diskurs um familiale ›Erziehungs(in)kompetenz‹ nicht einfach nur abgebildet, sondern im Rahmen von Publikationen und Vorträgen auch aktiv in ihn eingegriffen wird, handelt es sich – »wie bei jeder (wissenschaftlichen) Sprachpraxis – um ein (re-)konstruktives Tun, das seinen Gegenstand in einer ganz spezifischen Weise hervorbringt, bestätigt und/oder verändert« (Mecheril et al. 2013, S. 12). Wissenschaftler sind somit nicht nur als Beobachter zweiter Ordnung (vgl. ebd.), sondern auch als Konstrukteure zweiter Art zu verstehen, deren Tätigkeit in hohem Maße präskriptiv und performativ ist (vgl. Felder 2013; Keller 2013a). Das Problem kann zwar nur schwerlich umgangen werden, sollte im Forschungsprozess aber stets reflektiert und berücksichtigt werden.

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Familie unter Verdacht

von Diskursanalysen auch hier vielfältige Möglichkeiten eröffnete (vgl. Keller 2008a, S. 270). Im Hinblick auf die Auswahl geeigneter Dokumente des massenmedialen Diskurses betont Schetsche (2014) unter Berufung auf Studien von Wilke (2009) sowie Jarren und Vogel (2009) die »besondere Rolle von Leitmedien als Themensetzer innerhalb der öffentlichen Aufmerksamkeit« (S. 63). Als Leitmedien werden hierbei in der Regel jene Medien bezeichnet, denen ein besonders hoher Einfluss auf die öffentliche Meinung zugesprochen wird und die dementsprechend eine hohe Reichweite aufweisen. Ranglisten deutscher Leitmedien begründen die Aufnahme und Reihenfolge ihres Rankings zumeist damit, dass Journalisten sie als relevant für eigene Recherchen und Orientierungen einstufen, andere Medien sie häufig zitieren oder aber überdurchschnittlich viele wirtschaftliche Meinungsträger zu deren Leserschaft zählen (vgl. Derksen 2014, S. 247). Laut Ergebnissen der Studienreihe »Medien und ihr Publikum« (Engel et al. 2018) erreichen die höchsten Reichweiten – trotz sinkender Raten – nach wie vor die klassischen Presseinhalte. Obgleich die Diffusion von Online-Medien die Vorherrschaft medialer Printmedien bei der Vermittlung und Konstitution von Wissensbeständen in einem nicht deutlich absehbaren Ausmaß beeinflusst, wird die Substitutionsleistung des Internets auf Publikumszeitschriften mittlerweile von den meisten Autoren als weniger stark ausgeprägt eingeschätzt als ursprünglich angenommen (Bahlmann 2011, S. 18; Emmer 2018; Reichmann 2018).9 Dementsprechend haben auch bei Nordmann (2013) die Printmedien, »insbesondere die Qualitätspresse (einschließlich dem SPIEGEL)[,] weiterhin eine Ankerfunktion und auch ein Monopol. Fast alle Grundsatzdebatten in der Bundesrepublik nach 2008 gingen auf die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, die ZEIT, den SPIEGEL, die WELT oder die FRANKFURTER RUNDSCHAU zurück« (S. 56). Die Quality-Alliance-Studien, die in den Jahren 2013, 2015 und 2018 Werbewirkungen erforschten, kommen darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass Qualitätsmedien wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, die Zeit und das Handelsblatt die Wirkung von Werbemitteln durch höhere Glaubwürdigkeit und schnellere Entscheidungen deutlich erhöhen (vgl. IFAK 2018). Ähnliche Effekte lassen sich auch im Hinblick auf andere Wissensbestände erwarten. Zudem gehen Tendenzen der Medienberichterstattung laut einer Studie Kepplingers (1985) dem »Trend der Bevölkerungsmeinung um mehrere Monate voraus« (S. 269ff.). 9

Auch wenn der konstitutive Einfluss der Online-Medien derzeit nicht allzu hoch eingeschätzt wird, ist nicht auszuschließen, dass diese Veränderungen in der Medienkommunikation langfristig dennoch erhebliche Auswirkungen auf diskursive Konstruktionsprozesse haben, da die Etablierung der Netzwerkmedien die (angeblichen) Qualitätskontrollen und die Gatekeeper-Funktionen der Printmedien durch die Implikation von Weblogs, Internetforen, Newsgroups usw. zunehmend auflösen und stattdessen vermehrt kollaborative Prozesse erschaffen könnte, in denen Wissen nahezu ausschließlich durch die Aufmerksamkeitskonzentration der Nutzer selektiert wird (vgl. Bruns 2009). Dadurch würden nicht nur neue Möglichkeiten bereitgestellt, mit Wissen umzugehen, sondern es würde auch ›nicht legitimen‹ Sprechern erlaubt, sich in einen Diskurs einzuschreiben. Somit entstünde ein eigener Diskursraum, der in seiner konstitutiven Funktion nicht unterschätzt werden sollte, da er Akteuren z.B. die Möglichkeit bietet, Netzwerke zu bilden und Deutungen in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken, die bisher wenig massenmediale Repräsentanz gefunden haben und somit prinzipiell Wirkungen auf verschiedenen Ebenen erzielen können (vgl. Bettmann & Schröer 2013; Dahlheimer 2013; Hepp 2013).

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

Winkler (2012) weist außerdem darauf hin, dass die Massenmedien, insbesondere Focus, Spiegel, Stern und die Zeit, gerade im Bereich familialer Erziehung Meinungsführerschaft besitzen (vgl. S. 67f.). Dies ist wohl nicht zuletzt auch auf Selektionskriterien dieser Magazine zurückzuführen, denn hier werden »vor allem Ereignisse und Konstellationen selektiert, produziert und inszeniert, die Anknüpfungspunkte zum Erfahrungsbereich des Publikums aufweisen« (Thomas 2008, S. 245). Während Kontextmaterialien aus anderen Diskursarenen nur an bestimmten Schlüsselstellen hinzugezogen wurden und somit nicht vorab festgelegt werden konnten, wurde das Korpus der Printmedien daher auf jene Medien begrenzt, denen Meinungsführerschaft zugesprochen wird. Das heißt, die primäre Untersuchungsgrundlage bilden Tageszeitungen sowie Wochen- und Nachrichtenmagazine, die sich durch hohe Auflagen, Reichweiten und Glaubwürdigkeit auszeichnen. Bei der Zusammenstellung des vorläufigen Mediensamples wurde zudem auf eine gewisse Proportionalität in den politischen Orientierungen der unterschiedlichen Verleger und Verlagsgruppen geachtet, um potenziell divergierende Wissensbestände möglichst umfassend abdecken zu können, aber auch, um Vergleiche zwischen ihnen zu ermöglichen. Hierzu wurde in erster Linie auf diverse vorliegende Untersuchungen zu den politischen Orientierungen meinungsführender Zeitungen und Magazine zurückgegriffen. Die Ergebnisse verweisen hierbei in ihrer Tendenz über die letzten Jahrzehnte hinweg auf eine eher linksorientierte, liberale Positionierung der Tageszeitung (taz,) der Zeit sowie des Spiegels und eine tendenziell Mitte-rechtsorientierte, konservative Positionierung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der Welt und des Focus, während sich die Süddeutsche Zeitung (SZ) in der Mitte der beiden Pole verorten lässt (vgl. z.B. Jarren & Donges 2002; Kepplinger 1985; Kepplinger 2010; Löblich 2011; Lüter 2004; Pfetsch et al. 2004; Wilke 1998). Jarre und Donges (2002) nehmen an, dass diese Kategorien der tendenziellen politischen Ausrichtungen sowohl den politischen Akteuren als auch den meisten Rezipienten bekannt sind (vgl. Kepplinger 1985, S. 263). Konkret wurden daher meinungsführende und weit verbreitete überregionale Tageszeitungen sowie Wochen- und Nachrichtenmagazine in die Korpusbildung einbezogen, die das politische Meinungsspektrum möglichst breit abdecken: Die Welt, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Süddeutsche Zeitung (SZ) und die Tageszeitung (taz), Der Spiegel, Focus und Die Zeit. Damit erstreckt sich das Sample auch in seinen Erscheinungsorten über weite Strecken des Bundesgebiets. Auf den Einbezug der auflagenstärksten überregionalen Boulevardzeitung Bild musste aufgrund erschwerter Zugangsbedingungen leider verzichtet werden.10 Darüber hinaus wurden auch sogenannte ›Special Interest‹- bzw. zielgruppenadressierte Zeitschriften, Fachzeitschriften und Ratgeberliteratur ausgeschlossen, da angenommen wird, dass in zielgruppenspezifischen Medien, die speziell an Eltern adressiert sind, Deutungen deutlich selektiver in Erscheinung treten als in ›General Interested‹-Medien (vgl. Merten 1999, S. 315). Zudem wurden in den Ausgangskorpus nur die Printausgaben der benannten Medien aufgenommen. Aus forschungspragmatischen Gründen wurden sie erst ab dem Zeitpunkt berücksichtigt, seit dem sie in digitaler Form in Datenbanken archiviert wurden. Diese 10

Die Bild-Redaktion wies bei Anfrage darauf hin, dass prinzipiell kein Archivzugang, sondern lediglich eine kostenpflichtige Recherche durch deren Redakteure möglich sei.

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Familie unter Verdacht

Zeiträume variieren stark von 1947 (Der Spiegel) bzw. 1993 (Focus und Die Zeit) bis heute. Eine Übersicht über die Eckdaten der einbezogenen Printmedien gibt Tabelle 1. Tabelle 1: Die mediale Zusammenstellung des Analysekorpus Medium

Digital zugängliche Jahrgänge (ab)

Genre

Verbreitung (davon ePaper)*

Verlag

Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)

1949

Tageszeitung

250.401 (47.654)

Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH (Frankfurt)

Süddeutsche Zeitung (SZ)

1992

Tageszeitung

354.094 (69.035)

Süddeutsche Zeitung GmbH (München)

Die Tageszeitung (taz)

1988

Tageszeitung

51.138 (15.592)

TAZ Verlags- und Vertriebsges. mbH (Berlin)

DIE WELT

1995

Tageszeitung

156.792 (15.386)

Axel Springer SE (Berlin)

DIE ZEIT

1946

Wochenzeitung

519.306

Zeitverlag G. Bucerius GmbH & Co. (Hamburg)

DER SPIEGEL

1947

Wochenmagazin

721.710 (84.565)

Spiegel-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG (Hamburg)

FOCUS

1993

Wochenmagazin

417.508 (42.206)

Focus Magazin Verlag GmbH (München)

Quelle: eigene Darstellung   *   Die Zahlen beruhen auf den Daten der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

2.1.3.

Analytische Suchbewegungen zur thematischen Kartographie und Verdichtung des Diskursfeldes

Um Aufschlüsse über Themenbereiche und Zeiträume der massenmedialen Verhandlungen und Problematisierungen familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ zu erhalten, die eine weitere sukzessive und systematische Beschneidung des Korpus auf einen handhabbaren Umfang ermöglichen, wurden in einem nächsten Schritt empirische Suchbewegungen zur thematischen Kartographie vorgenommen. Die hermeneutische Anlage der vorliegenden Arbeit schließt hierbei die Nutzung quantitativer Daten oder selektiver Quotenverfahren – insbesondere in der Orientierungsphase als ›Suchstrategie‹ – nicht gänzlich aus, erforderte aber an einigen Stellen eine Modifizierung herkömmlicher Verfahren, um die quantifizierten Daten in Bezug zu diskursiven Wissensstrukturen zu setzen (vgl. Bubenhofer 2013; Keller 2004, S. 75; Schwab-Trapp 2008, S. 198). Da zufällige Stichprobenfehler in Diskursanalysen zu folgenschweren Verzerrungen führen können, die bei großen quantitativen Datenmengen kaum ins Gewicht fallen, wurde in Abgrenzung zu zufälligen oder willkürlichen Auswahlverfahren zunächst auf bewusste und begründete Samplingstrategien zurückgegriffen (vgl. Kelle & Kluge 2010, S. 42; Schreier 2010, S. 241). Neben theoretisch begründeten Vorannahmen handelt es sich hierbei um Verfahren der Schlag- und Stichwortsuche sowie der Themenfrequenzanalyse, mittels derer sukzessive Schlüsselereignisse, -positionen und -texte selektiert wurden, die schließlich zu einem reduzierten Ausgangskorpus für die weitere Analyse führten. Zur thematischen Annäherung und Inhaltssondierung wurden triangulative Global- und Strukturanalysen durchgeführt. Darunter können alle ersten vorläufigen Analysen gefasst werden, die dazu dienten, Entscheidungen im Hinblick auf die weiteren Schritte der Korpuserstellung zu treffen (vgl. Legewie 1994; Rosenthal 2008, S. 93). In dieser ersten Untersuchungsphase ging es somit insbesondere darum, einen Überblick über die strukturelle Rahmung des Gegenstandes zu erhalten, d.h., Kenntnis darüber zu bekommen, in welchen Diskurssträngen und Themenfeldern sich Familie und familiale ›Erziehungskompetenz‹ als diskursive Gegenstände verorten lassen. Darüber hinaus konnten erste Anhaltspunkte ermittelt werden, welche besonderen diskursiven Ereignisse hierbei von Bedeutung sein könnten. Im Rahmen der Global- und Strukturanalysen wurde das zu untersuchende Diskursfeld in einem ersten Schritt anhand thematischer Heuristiken inhaltlich und zeitlich weiter auf bestimmte Diskursstränge, sprich »thematisch einheitliche Diskursverläufe« (Jäger 2001, S. 96 f) beschränkt, die zwar miteinander verknüpft sein können, jedoch über eine jeweils eigene inhaltliche Basis verfügen. Da die vorangegangenen begrifflichen Annäherungen an Familie und Erziehung bereits nahegelegt haben, dass der Kompetenzbegriff eng mit den Termini ›Verantwortung‹ und ›Fähigkeit‹ verknüpft ist und insbesondere im Kontext früher Kindheit problematisiert zu werden scheint, wurden im Rahmen von Schlag- und Stichwortsuchen in den aufgeführten Medien (vgl. Kap. II, 2.1.2) Dokumente recherchiert, in denen familiale ›Kompetenzen‹ und bedeutungsnahe Termini im Kontext innerfamilialer Erziehung explizit benannt werden.Es erfolgte also zunächst eine Diskurseingrenzung durch einen »Minimalbegriff« (Tenorth 1997, S. 975) bzw. einen »kleinsten gemeinsamen Nenner« (Rucker

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Familie unter Verdacht

2014, S. 62) inklusive seiner möglichen Deklinationen und Komposita, aber auch seiner Synonyme und verwandter Begriffe.11 Um die Datenmenge weiter zu reduzieren, wurde die Suche zudem lokal auf Artikel zu Ereignissen und Begebenheiten in Deutschland limitiert. Darüber hinaus wurden Regional- und Sonderausgaben ausgeschlossen, da sie zum einen nur über begrenzte Reichweiten verfügen und zum anderen zu einem regionalen Bias führen könnten. Die Globalanalysen anhand der Stich- und Schlagworte nach den benannten Kriterien erzielten insgesamt 546 Artikel.12 Im nächsten Schritt wurden alle Spiegel- und Focus-Titel in die weitere Analyse aufgenommen, die sich mit dem Themenfeld Familie und Erziehung beschäftigen, da angenommen wird, dass sich vor allem in Titelthemen Schlüsselereignisse abzeichnen, die Anlass zur Thematisierung familialer Erziehung geben. Durch diesen Schritt wurde das vorläufige Korpus nochmal um 91 weitere Artikel auf 637 Artikel erweitert. Aufgrund der hohen Datenmenge konnten die Dokumente nicht vollständig ausgewertet werden. Es ließen sich lediglich Ausschnitte einbeziehen und Entwicklungstendenzen umreißen. Aus diachroner Perspektive zeigte sich im Rahmen dieser ersten Analyseschritte, dass die ›Kompetenz der Eltern‹ im vorliegenden Material erstmals im Jahr 1969 in Erscheinung trat und dort im Hinblick auf die Fähigkeit von Eltern diskutiert wurde, mit sexuellen Fragen der Kinder angemessen umzugehen (»… daß feine Leute über so was reden«13 , Die Zeit, 46/1969). Das Kompositum ›Erziehungskompetenz‹ findet erstmals im Jahr 1977 Eingang in das vorliegende Korpus, wobei der Begriff im Rahmen »verfassungsrechtliche[r] Schranken der Gestaltung der Schule« (»Erst die Eltern, dann der Staat«, FAZ, 21.10.1977) verhandelt wurde. Anschließend findet der Kompetenzbegriff im vorliegenden Material längere Zeit kaum Erwähnung. Die Rede ist stattdessen zumeist von »Fähigkeiten« (z.B. Die Zeit 21/1965; Die Zeit 18/1972) oder »Befugnissen« (z.B. Die Zeit 17/1969) von Familien und Eltern. Erst in den späten 1990er Jahren werden familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ themen- und medienübergreifend verstärkt öffentlich verhandelt und als Problem thematisiert. Der Begriff ›Elternkompetenz‹ tritt im hier zugrunde liegenden Material erst deutlich später im Kontext von Gleichberechtigungsdebatten erstmals in Escheinung (Die Zeit, 48/2001) und bleibt diesem thematischen Feld auch weitestgehend vorbehalten (z.B. Die Welt, 05.11.2002; Die Welt 07.11.2011). 11

12 13

In der Annahme, dass ›(In-)Kompetenz‹ auch mit bedeutungsnahen Termini thematisiert wird (vgl. Höhne 2003, S. 393), wurden zunächst mithilfe von Wörterbüchern und einschlägigen Publikationen Synonyme für ›Erziehungskompetenz‹ eruiert und in eine weitere Schlagwortsuche überführt. Innerhalb der Ergebnisse fanden sich weitere Schlag- und Stichwörter, die zur Komplementierung der Suchstrategie genutzt wurden, während parallel immer wieder Materialsichtungen durchgeführt wurden, um die Liste der Suchbegriffe sukzessive zu ergänzen, bis keine weiteren themenrelevanten Begriffe und Artikel mehr gefunden werden konnten (vgl. zu diesem Verfahren auch Menzel 1998; Derksen 2014, S. 396). Teilweise wurden die Begriffe auch mit Trunkierungszeichen am Wortende und/oder am Wortbeginn versehen und es wurden Verneinungen, Antonyme und Komposita hinzugefügt (vgl. Anlage A 1). Wenn innerhalb der Artikel Bezug auf weitere Artikel genommen wurden, wurden die entsprechenden Referenzartikel ebenfalls in das Ergebnis einbezogen. Zitate, die aus dem hier bearbeiteten Datenkorpus stammen, also aus den genannten Zeitungen und Magazinen, werden kursiv gesetzt, um sie von den Zitaten aus der Forschungsliteratur zu unterscheiden. Dies betrifft auch beispielhaft zitierte Titel entsprechender Artikel und Berichte.

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

Der Zeitraum, in dem der Kompetenzbegriff flächendeckend in den vorliegenden Korpus eintritt, ist deckungsgleich mit jener Zeit, in der sich eine Veränderung machtpolitischer Konstellationen in Form des Regierungswechsels von der konservativen CDU zur liberalen SPD und den Grünen und damit auch eine aktivierende Sozial-, Arbeits- und Bildungsmarktpolitik etablierte sowie verschiedene soziale und kulturelle Modernisierungs- und Restabilisierungsschübe infolge der Wende stattfanden (vgl. Baader 2014). Darüber hinaus wurden kurz nach der Jahrtausendwende die PISA-Ergebnisse veröffentlicht, die in der Inszenierung einer allgemeinen ›Bildungskatastrophe‹ mündeten. In zahlreichen Artikeln wird auch direkt auf dieses Ereignis verwiesen (z.B. »Billige Schelte für die Eltern«, taz 04.01.2002; »Wenn der Staat das Lieben lehrt«, Die Welt 05.11.2002; »Bildung. Setzen, Sechs«, Focus 41/2003). Ab Ende der 2000er scheint die Problematisierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ wieder abzuebben und eher ›latent‹ zu verlaufen. Es ist somit anzunehmen, dass sich zwischen den späten 1990ern und dem Ende der 2000er Jahre themenübergreifend die wesentliche Problemetablierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ vollzieht. Obwohl der ›Kompetenzbegriff‹ in zahlreichen Diskursfragmenten vorzufinden ist, lassen sich im Rahmen der ersten Materialsichtungen keine weiteren expliziten Unterschiede in der inhaltlichen und kontextuellen Verwendung der beiden häufig genutzten Termini ›Erziehungskompetenz‹ und ›Elternkompetenz‹ erkennen. Ferner werden auch keine eindeutigen Differenzierungen zwischen den Begriffen ›Elternschaft‹ und ›Familie‹ sichtbar. Andere Kompetenzformen erbrachten in der Trunkierungssuche kaum Ergebnisse. Der Begriff ›Erziehungskompetenz‹ wird daher auch weiterhin als heuristischer Arbeitsbegriff in einem offenen Verständnis als umfassender funktionaler Teilbereich verschiedener Fähigkeiten und Verantwortlichkeiten von Elternschaft und Familie verwendet, wobei gleichzeitig eine konzeptionelle Ausweitung von Elternschaft auf Familien vorgenommen wurde. Das heißt, nicht nur die Begriffe ›Erziehungskompetenz‹ und ›Elternkompetenz‹, sondern auch ›familiale‹ und ›elterliche‹ Erziehungskompetenz werden – insofern nicht explizit anders vermerkt oder empirisch hergeleitet – im Folgenden in einem weiten Begriffsverständnis synonym verwendet. Dies sollte es ermöglichen, sich vom Forschungsfeld anleiten zu lassen und Perspektiven für verschiedene Konstellationen zu öffnen, statt sie frühzeitig zu verengen und das Feld vorab zu beschneiden, ohne dabei allerdings durch unterschiedliche synonym verwendete Begrifflichkeiten Irritationen hervorzurufen. Um die Thematisierung und Problematisierung familialer Erziehung inhaltlich verorten zu können, wurde das Korpus anschließend einer Themenanalyse unterzogen, um inhaltliche Kontexte aufzuspüren (vgl. Keller 2008, S. 262; Reckwitz 2010). Es galt, die verhandelten Gegenstände der Artikel zu verschiedenen Themenkategorien aufzubereiten und zu ordnen, um zu eruieren, auf welche Ereignisse und Probleme der Kompetenzbegriff im Kontext familialer Erziehung reagiert (vgl. Lueger 2010, S. 206ff.; Junge 2008, S. 102). Im Resultat zeigt sich eine grobe inhaltliche Strukturierung bzw. eine empiriegeleitete Kategorienbildung der Kernthemen und Diskursstränge des Materials.14 Hierbei nehmen insbesondere die Themenkomplexe Förderung und Bildung des 14

Es handelt sich hierbei um ein offenes Verfahren, das lediglich der Orientierung diente und bei dem die Texte nur grob gesichtet wurden, um sie inhaltlich zu verorten und Verläufe sowie Inkon-

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Familie unter Verdacht

Kindes (n = 107), Kindesmisshandlung und Kinderschutz (n = 104) sowie abweichendes Verhalten von Kindern (n = 103) – wenn auch zum Teil mit erheblichen Verschiebungen der konkreten Inhalte – den größten Raum der massenmedialen Verhandlungen um familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ ein. Ab dem Jahr 2000 scheint der Themenkomplex ›abweichendes Verhalten‹ jedoch zugunsten aufkommender Debatten um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie allmählich an Bedeutung zu verlieren. Da Selbstverständliches und Unproblematisches in der Regel keine massenmediale Thematisierung erfährt, sollten Deutungen und Zuschreibungen von ›Erziehungs(in)kompetenz‹ vor allem an jenen Stellen sichtbar werden, an denen sie zum Problem werden. Auffällig erscheint, dass vor allem im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung familiale ›Erziehungskompetenzen‹ nicht nur gehäuft verhandelt wurden, sondern dort auch verstärkt deren Abwesenheit in Form von ›Inkompetenzen‹ diskutiert wurde. Es ist anzunehmen, dass die diskursive Ordnung durch diese Defizitperspektiven nicht unterminiert, sondern vielmehr »legitimiert und als akzeptierte Etikettierung eines Ereignisses oder Sachverhaltes als nicht normenkonform« (Hitzler 1989, S. 334) gestärkt wird: »Sie führen das Nichterlaubte vor und zeigen, was denen passiert, die sich nicht an die Regeln halten« (Bergmann & Pörksen 2009, S. 32). Darüber hinaus lässt sich vermuten, dass insbesondere im Rahmen von Ereignissen, bei denen Kinder Opfer von Gewalt werden, eine besonders hohe emotionale Aufladung der öffentlichen Verhandlungen erfolgt, die deren Latenz aufbricht und zugrundeliegende Wissensstrukturen besonders deutlich sichtbar werden lässt (vgl. Sachweh 2013, S. 59). In der Annahme, dass sich aus solchen Aussagen dann besonders deutliche Hinweise auf umkämpfte moralische Normen und Legitimationen ableiten lassen, wurde die weitere Analyse zugunsten einer besseren Tiefenschärfe thematisch weitestgehend auf den Diskursstrang der Kindesmisshandlung und -vernachlässigung eingegrenzt.

2.2.

Der Diskursstrang der Kindesmisshandlung und -vernachlässigung als thematischer Rahmen

2.2.1.

Vorläuferereignisse der ›diskursiven Explosion‹ – Ein Randthema gewinnt an Bedeutung

Die Anhäufung von Negativberichten im Kontext familialer Erziehung in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre lässt sich mit Foucault (1983) auch als eine »diskursive Explosion« (S. 23) bezeichnen, der immer bestimmte diskursive und nicht diskursive Vorläuferereignisse sowie vorgängige Deutungen und mögliche diskursive Verschränkungen zu anderen Feldern vorausgehen. Problematisierungen erfolgen also nicht im luftleeren Raum, sondern gehen aus bestehenden Wissensstrukturen und Vorläuferproblemen hervor, die als »gesellschaftliche Problemkonstruktionen und -reaktionen an bestimmte historische Veränderungen der Lebensumstände« (Wolff 2010, S. 337) gebunden sind. Dies impliziert, dass diachrone Prozesse einer sich anbahnenden ›Problematisierung‹ sistenzen zu notieren. Die Artikel wurden hierbei jeweils dem Diskursthema zugeordnet, das sie am deutlichsten fokussierten, was nicht bedeutet, dass sie nicht auch anderen Themenbereichen zugewiesen werden könnten. Insofern müssen die Kategorien nicht immer trennscharf sein.

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

innerhalb eines Diskursstranges nicht unberücksichtigt bleiben dürfen, da sich hier Wissensformen herausbilden und modifizieren oder Rahmenbedingungen verändern, die zu Irritationen gewohnter Denkweisen und Praxen führen. Im Hinblick auf moderne Straf- und Überwachungsmaßnahmen hat dies Foucault (1993a [1975]) z.B. bereits im Verschwinden von Hinrichtungen und im Auftauchen der ›Disziplinaranstalt‹ des Gefängnisses gesehen. Mit Schetsche (2014) ist bei der Suche nach solchen ›Vorläuferereignissen‹ eine analytische Differenzierung vorzunehmen zwischen der Existenz sozialer Phänomene, deren Wahrnehmung als Problem und dem Prozess, in dem diese Wahrnehmung kollektive Anerkennung erhält: »Jede Problemkarriere beginnt mit der Problematisierung eines in der Gesellschaft bereits bekannten oder neu konstatierten sozialen Sachverhaltes« (S. 43, Herv. i. O.). Die bloße Existenz eines Sachverhalts ist dabei unerheblich. Um Aufschlüsse über die zunehmende Problematisierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zu erhalten, wurde daher zunächst die Themenkarriere, d.h. die Entwicklung der öffentlichen Verhandlungen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung bis zu ihrem Höhepunkt in den 2000er Jahren grob nachgezeichnet, um auffällige diskursive Ereignisse zu identifizieren.15 Gewalt an Kindern und Kindstötungen stellen kein neues Phänomen dar, sondern wurden in vielen Kulturen lange Zeit offiziell als Methoden der Geburtenregelung und kindlichen Disziplinierung eingesetzt. In der Antike entschied der Vater als Familienträger z.B., ob die Familie ein Neugeborenes annehmen oder es aktiv töten lassen wollte. Legitimiert wurde dies in ärmeren Bevölkerungsschichten in erster Linie mit ökonomischen Erwägungen, in höheren Gesellschaftsschichten meist mit einer Störung der Erbschaftspläne. Von der Antike bis in die Neuzeit hinein lassen sich dementsprechend zahlreiche literarische Belege für Kindesmisshandlungen und -tötungen finden, die aufzeigen, dass Kindstötungen auch im Römischen Reich und in griechischen Staaten bis ins 4. Jahrhundert weder gesetzlich verboten waren noch als moralisch verwerflich galten. Kindsmord wurde bis Ende des 17. Jahrhunderts zumindest inoffiziell gesellschaftlich toleriert und Kindesmisshandlung und -vernachlässigung stellten in jener Zeit keine Strafhandlungen dar (vgl. Ariès 1975, S. 54). Vor allem kleine Kinder wurden – wenn »sie nicht den Vorstellungen der Eltern [entsprachen] – ausgesetzt, vernachlässigt, misshandelt, verstümmelt oder auch getötet« (Bange 2005, S. 13). Noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde zumindest leichte körperliche Gewalt als Disziplinierungsmaßnahme auch in Deutschland von den meisten Eltern praktiziert. Die Zeit verweist diesbezüglich in den 1970ern auf die »berühmte[…] BGHEntscheidung aus dem Jahr 1953 […]: Eltern, die ihre 16jährige sittlich verdorbene Tochter durch Kurzschneiden der Haare und Festbinden an Bett oder Stuhl bestrafen, überschreiten nicht das elterliche Züchtigungsrecht« (Die Zeit 48/1976). Selbst in einem Urteil des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 1986 wurde Eltern das Recht einer »maßvollen körperlichen

15

Die folgenden Ausführungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sollen lediglich einen Überblick geben, der es erlaubt, sich den wesentlichen diskursiven Wandelprozessen und Meilensteinen im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung anzunähern. Zur Themenkarriere vgl. z.B. ausführlicher Ariès (1975), Bange (2005), Fegert et al. (2010) oder Fürniss (2005).

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Familie unter Verdacht

Züchtigung« (Hilgendorf & Valerius 2018) noch zugestanden. Darüber hinaus galten einer Studie von Wimmer-Puchinger et al. (1991) zufolge Ohrfeigen auch zu Beginn der 1990er Jahren noch verbreitet als legitimes Erziehungsmittel, während sie heute strafbar sind und im Allgemeinen als inakzeptabel eingestuft werden (vgl. auch Fürniss 2005; Hömberg 2011, S. 13). Somit lässt sich bereits in diesem kurzen historischen Abriss ein deutlicher Wandel im Hinblick auf den Kinderschutz und die Sorge um Kinder verzeichnen, der insbesondere die letzten Jahrzehnte zu umfassen scheint. Was lange als legitimes Erziehungsmittel galt, scheint nun Anstoß für eine verbreitete Skandalisierung zu geben und lässt entsprechende Auswirkungen auf die normativen Anforderungen und Deutungen von Erziehung und Elternschaft erwarten. Als Präzedenzfall der öffentlichen Verhandlungen um familiale ›Erziehungs(in)kompetenz‹ im Kontext von Kindemisshandlung und -vernachlässigung kann der Fall ›Mary Ellen‹ erachtet werden. In ihm wurde ein fünf Jahre altes Mädchen im Jahr 1874 in New York von seinen Pflegeeltern schwer misshandelt. Während in den Vorjahren Kindesmisshandlung in der Öffentlichkeit kaum eine Rolle spielte, wuchs die Zahl der Artikel in der New York Times, die Gewalt gegenüber Kindern verhandelten, im Jahr 1874 auf rund 30 und im Folgejahr auf knapp 100 Artikel an, bis sie schließlich in den späten 1870er mit knapp 160 Artikeln einen vorläufigen Höhepunkt fand (vgl. Tolasch 2016, S. 39). Tolasch (2016) spricht hierbei von einer »sorgfältig geplante[n] Forcierung öffentlicher Empörung« (S. 39), die in erster Linie der »Legitimation der Etablierung einer bereits geplanten und noch im gleichen Jahr gegründeten ›Society For The Prevention Of Cruelty To Children‹ (SPCC)« (S. 39) diente, die zum Ziel gehabt habe »Kinder – auch ohne ausdrücklichen Misshandlungshintergrund – aus ihrem ›unmoralischen‹ familialen Umfeld zu entfernen und Institutionen zuzuführen« (ebd.). Eckhardt (1998) sieht darin ebenfalls einen bewussten Einsatz des Falls zur Etablierung des institutionalisierten Kinderschutzes. Die Inszenierung von Mary Ellen als ›armes Kind‹ und ›wehrloses Opfer‹, das »ungewaschen und noch in ihren verdreckten Lumpen gekleidet in den Gerichtssaal geführt wurde« (Brandhorst 2015, S. 30), mag hier u.a. als erfolgreiche Strategie zur Erlangung öffentlicher Aufmerksamkeit gedient haben (vgl. ebd.; Fegert et al. 2010, S. 38). Die nächste Welle einer intensiveren öffentlichen Auseinandersetzung mit Kindesmisshandlung und -vernachlässigung lässt sich dann erst wieder gegen Mitte des 20. Jahrhunderts mit der weltweiten Popularisierung des Aufsatzes »Battered Child Syndrome« von Kempe et al. (1962) beobachten, wobei sie jedoch in erster Linie im akademischen Rahmen stattfindet. Vor allem im angloamerikanischen Raum zeigt sich seit den 1960er Jahren eine verhältnismäßig intensive Verhandlung des Themas Kindesmisshandlung und -vernachlässigung (vgl. z.B. auch Lynch & Roberts 1982; Young 1964). Sie schlägt sich u.a. in der Einführung einer Meldepflicht von Verdachtsfällen für viele Berufsgruppen in den 1970er Jahren nieder, die bis heute besteht (Fürniss 2005, S. 20). Was die öffentliche Wahrnehmung von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung in Deutschland betrifft, lässt sich mit Ferguson (2004) hingegen bis in die 1970er Jahre hinein eine weitgehende Leerstelle diagnostizieren (vgl. S. 4). Dieser Befund deckt sich auch mit den Ergebnissen der Schlagwort- und Stichpunktsuchen

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

für diesen Zeitraum im vorliegenden Material (vgl. Kap. II, 2.1.3).16 Im Wesentlichen getragen von der Feminismusbewegung der späten 1960er und 1970er Jahre, erlangt das Thema innerfamilialer Gewalt dann jedoch auch in Deutschland allmählich flächendeckend öffentliche Beachtung, was sich ebenfalls in den vorliegenden Materialien widerspiegelt (z.B. Der Spiegel 15/1970; Die Zeit 13/1974; Der Spiegel 24/1977). Im öffentlichen Fokus der Problematisierung scheint in jener Zeit jedoch weniger das Kind als vielmehr die Frau als Opfer männlicher Gewalt zu stehen (vgl. z.B. Der Spiegel 4/1976). Insbesondere die 1970er Jahre sind dementsprechend geprägt von zahlreichem familienpolitischen Reformen zur Stärkung der Position der Frau, so z.B. von dem ›ersten Gesetz zur Ehe- und Familienrechtsreform‹ (1. EheRG, BGB) im Jahr 1976, in dem Frauen das Recht auf Erwerbstätigkeit zugesprochen wird, sowie von der Reform des Scheidungsrechts (§ 1565), mit der die Schuldfrage bei Beendigung der Ehe abgelöst wird von der Feststellung, dass die Ehe gescheitert ist, und somit auch die Unterhaltsfrage von der Schuldfrage entkoppelt wird, wodurch die Ehe in diesem Rechtsbereich an Bedeutung verloren hat. Die Reform des ›Rechts der elterlichen Sorge‹ (§ 1626) im Jahr 1979 verpflichtet Eltern, ihre Kinder sowie deren Bedürfnisse und Interessen stärker bei der Erziehung zu berücksichtigen und die elterliche Sorge in gegenseitigem Einverständnis zum ›Wohl des Kindes‹ auszuüben (§ 1627). Aus ›elterlicher Gewalt‹ wird nun ›elterliche Sorge‹. Zeitgleich setzen ab den späten 1960er Jahren Debatten um ›Heimskandale‹ ein, die in der Öffentlichkeit von einem konfliktreichen Dissens liberaler und radikaler Positionen begleitet werden (z.B. Der Spiegel 2/1973; Die Zeit 28/1978; Die Zeit 35/1979). Sie tragen sowohl zur Schließung zahlreicher Institutionen aufgrund ›illegitimer Erziehungspraktiken‹ als auch entscheidend zur Weiterentwicklung sozialpädagogischer Handlungsfelder bei.17 In der Folge setzen sich nach Wolf (2010) zu jener Zeit zwei wesentliche Bewegungen im öffentlichen Raum durch: Neben der medizinischen und psychologischen Betrachtung von Kindesmisshandlung als ›Battered Child Syndrom‹ kommt es zur Konzeptualisierung von »›Gewalt gegen Kinder‹ als Herrschafts-, Beziehungs- und Ressourcenkonflikte« (S. 339) (z.B. »Wenn du was sagst, bring‹ ich dich um«, Der Spiegel 29/1984; »Wer züchtigt, liebt«, FAZ 02.06.1993). In den 1980er Jahren wird das Themenfeld der innerfamilialen Kindesmisshandlung, das bis dahin nur vereinzelt Beachtung in der deutschen Forschungslandschaft gefunden hat (vgl. z.B. Ammon 1979; Biermann & Häusler 1969; Gießen 1979),

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Hierbei ist jedoch zu beachten, dass lediglich die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Die Zeit und Der Spiegel in diesem Zeitraum herangezogen werden konnten, da die anderen betrachteten Printmedien erst in späteren Jahrgängen in digitalisierter Form vorliegen (vgl. Kap. II, 2.1.2). Unter ›Heimskandalen‹ werden an dieser Stelle die kontroversen Auseinandersetzungen der 1968er-Bewegung mit der etablierten autoritären Heimerziehung jener Zeit verstanden, die zahlreiche subversive Aktionen einleiteten und in den 1970er und 1980er Jahren schließlich zu Reformen und weitreichenden Veränderungen der Praxis in der gesamten Kinder- und Jugendhilfe führten. Als Ausgangspunkt können die bereits in den frühen 1870er Jahren eingeführten staatlichen Disziplinarmaßnahmen gegenüber Kindern und Jugendlichen angesehen werden, die sich aufgrund von Betteln, Stehlen, Ungehorsam o.Ä. nicht normkonform zeigten. Die Entwicklung eines »staatlichen Zwangserziehungsprogramms« (Dahme & Wohlfahrt 2018, S. 225) vollzog sich zunächst vor allem in einer repressiven und autoritären Heimerziehung. Zu den einzelnen Reformen und Bewegungen vgl. z.B. ausführlicher Kappeler (2018), Rutschky (1995) und Wolff (2015).

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dann allmählich auch hierzulande – insbesondere seitens der Rechtsmedizin – vorangetrieben (vgl. z.B. Trube-Becker 1982). Vermehrte Beachtung findet es in jener Zeit aber auch in der psychiatrischen und psychologischen Forschung zu Ursachen und Folgen von Kindesmisshandlung (vgl. z.B. Engfer 1986; Petri 1989) sowie in der politischen Beschäftigung mit diesem Thema (vgl. z.B. Aktion Jugendschutz 1985; Pfeiffer 1992). Juristisch münden die Auseinandersetzungen im Jahr 1989 in eine UN-Kinderrechtskonvention, zu deren Sicherstellung sich Deutschland im Jahr 1992 verpflichtet.18 Im Jahr 1988 ereignet sich zudem der massenmedial bis dahin aufsehenerregendste und umstrittenste Prozess der Bundesrepublik Deutschland in diesem thematischen Kontext: Eine Mutter wird im sogenannten Fall ›Weimar‹ schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt, weil sie zwei Jahre zuvor ihre beiden fünf- und siebenjährigen Töchter erstickt haben soll. Die Verurteilung der Mutter erfolgt in einem Indizienprozess, wird dann aber im Jahr 1995 durch das Oberlandesgericht aus Mangel an Beweisen wieder aufgehoben (vgl. Cichos, S. 2017; Friedrichsen 1991). Bei der erneuten Aufnahme des Prozesses spielen laut der Zeit die Magazine Stern und Der Spiegel eine bedeutende Rolle, die sich anteilsmäßig an Prozessund Anwaltskosten beteiligen – vermeintlich um sich Exklusivrechte zu sichern (»Der Prozeß um Monika Weimar: Stern und Spiegel helfen mit«, Die Zeit 24/1996). Große massenmediale Aufmerksamkeit erhielt im Jahr 1994 auch der ›Osnabrücker Fall‹.19 In der öffentlichen Berichterstattungen über diesen Fall wird die Familie als Lebensort zunehmend angezweifelt: »Die Idealisierung des Lebensorts ›Herkunftsfamilie‹ schadete den Kindern in tragischer Weise« (Kurek-Bender 2001). In der Konsequenz werden vor allem »Möglichkeiten und Grenzen des staatlichen Wächteramtes« (ebd.) diskutiert.20 Parallel zu den Ereignissen der Fälle ›Weimar‹ und ›Osnabrück‹ scheint sich in jener Zeit eine zunehmende Sensibilisierung der Bevölkerung für die Erkennung und Vermeidung von Kindesmisshandlung zu vollziehen. Allerdings gilt eine Einmischung in die Privatsphäre der Familie dennoch als weitgehendes Tabu: »Nachbarn wollen von Kindervernachlässigung eines jungen Ehepaares nichts gemerkt haben […]. Es war ein Glück für die Kinder, daß der Gasmann nicht dem allgemeinen Trend, nichts zu hören und nichts zu sehen, gefolgt ist« (FAZ, 18.08.1997).

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Das Übereinkommen soll das Kind vor jeder Form der Gewaltanwendung oder Schadenszufügung schützen. Art. 3 Abs. 1 gilt inzwischen uneingeschränkt, so dass »bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorgan getroffen werden, […] das Wohl des Kindes […] vorrangig zu berücksichtigen ist« (Netzwerk Menschenrechte o.J.). Im Fall ›Osnabrück‹ ist die damals sechs Monate alte Laura-Jane an den Folgen grober Vernachlässigung gestorben. Das ›staatliche Wächteramt‹ soll auf der Rechtsgrundlage des BGB und des SGB VIII den Schutz des Kindes gewährleisten. Es ist juristisch dem Elternrecht zwar nachgeordnet, ermöglicht es staatlichen Vertretern jedoch – insofern für das Kindeswohl als erforderlich erachtet –, kompensatorisch in die Elternrechte einzugreifen und die Interessen und Rechte von Kindern und Jugendlichen somit im Bedarfsfall unter Hinzunahme des Familiengerichts auch gegen den Elternwillen durchzusetzen (vgl. Dahme & Wohlfahrt 2018). Ausgesprochen wurde es erstmals in der Weimarer Reichsverfassung von 1919, wodurch die Familie erstmals zum wesentlichen Bestandteil öffentlichen Rechts wurde (vgl. Preisner 2014).

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

»Das eigene Unbehagen wird schnell verdrängt, sich einzumischen gilt immer noch als Tabu« (Der Spiegel 35/1990). Nach der Jahrtausendwende lässt sich insbesondere infolge der Thematisierung des Falls ›Pascal‹ (2001)21 ein weiterer Zuwachs in der medialen Resonanz unterschiedlichster Fälle und Formen von Gewalt und Missbrauch an Kindern skizzieren. Allerdings geht er mit einer gewissen allmählichen Veralltäglichung einher (z.B. »Kindesmissbrauch. Das zerstörte Paradies«, Der Spiegel 36/2002; »Mutter quält Baby fast zu Tode«, Die Welt 06.12.2003; »Kindsmord im Hinterzimmer«, FAZ 27.09.2004; »Zu klein, um sich zu helfen«, taz 11.06.2005) und erreicht im Rahmen der Thematisierung einer Reihe von Kinderschutzfällen in der Mitte der 2000er schließlich seinen vorläufigen Höhepunkt (z.B. »Die schlimmsten Fälle«, Die Welt 30.12.2005; »Kindesmisshandlung. Tod in Bremen«, Die Zeit 19.10.2006; »Fall Mehmet. Hohe Haftstrafen für tödliche Misshandlung«, FAZ 04.04.2007). Parallel hierzu lassen sich in dieser Zeit auch weitere juristische Kinderschutzmaßnahmen verorten, wie z.B. das Kindschaftsrechtsreformgesetz (KindRG) von 1998, in dem die Unterschiede zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern rechtlich nivelliert werden. Nach längeren kontroversen Debatten wird schließlich im Jahr 2000 das Recht auf gewaltfreie Erziehung (§ 1631 BGB) verabschiedet.22 Das darin zum Ausdruck gebrachte Gebot zur gewaltfreien Erziehung »hat jedoch keine unmittelbaren – etwa strafrechtlichen – Konsequenzen, ein Missachten des Gebots ist jedoch als Ausdruck mangelnder Erziehungskompetenz zu verstehen und kann im Rahmen familiengerichtlicher Verfahren, die elterliche Sorge betreffen« (Galm et al. 2007, S. 61f.). Das Gewaltschutzgesetz (GewSchG) und das Kinderrechteverbesserungsgesetz (KindRVerbG) im Jahr 2002 sowie der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung im Sozialgesetzbuch (§ 8a SGB VIII) im Jahr 2005 im Rahmen des Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK) erweitern die Schutzmöglichkeiten von Kindern im häuslichen Bereich.23 Vor allem infolge der Expertenkommission ›Kinderschutz und 21

22 23

Der Fall ›Pascal‹ beschreibt den mutmaßlichen Mord an einem damals fünfjährigen Jungen, der im Herbst 2001 spurlos verschwunden war, nachdem er vermutlich von vier Frauen und acht Männern mehrfach vergewaltigt und schließlich getötet worden war. Über den Fall Pascal wurden zahlreiche Dokumentationen gedreht und Bücher verfasst. Der Verbleib des Kindes ist jedoch bis heute ungeklärt. Vgl. ausführlicher zum Fall ›Pascal‹ z.B. Friedrichsen (2008) und Gräbner (2008). »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig« (§ 1631 Abs. 2 BGB). Das Gewaltschutzgesetz (GewSchG) regelt den Schutz von Personen vor allen Formen der Gewalt im häuslichen Umfeld, während das Kinderrechteverbesserungsgesetz (KindRVerbG) als Weiterentwicklung des Kindschaftsrechtsreformgesetzes von 1998 den Unterschied zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern abschaffte. Zudem führte das Kinderrechteverbesserungsgesetz zu Fassungsänderungen im Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) und sieht unter anderem eine Ergänzung des § 1666 BGB zu familiengerichtlichen Maßnahmen zur Abwendung einer unmittelbar drohenden Kindeswohlgefährdung vor. Mit dem Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK) wird durch den neu eingefügten § 8a gleichzeitig auch das staatliche Wächteramt im Kontext von Kindeswohlgefährdungen konkretisiert und die Verantwortung hierfür verschiedenen Einrichtungen und Diensten zugewiesen. Mit der Aufnahme des Paragraphen in das Kinderund Jugendhilfegesetz (SGB VIII) ist erstmals ein eigener Artikel eingeführt worden, der sich dem Schutzauftrag bei einer Kindeswohlgefährdung in Form einer Einschätzung des Gefährdungsrisikos und der Auseinandersetzung mit geeigneter Hilfe widmet.

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Kinderzukunft‹ (2004) sowie des einberufenen ›Saarbrücker Memorandums‹ (2004) sei es nach dem Fall ›Pascal‹ zu einer Ausweitung staatlicher Eingriffsrechte gekommen (vgl. Wiesner 2008). Es entstanden »Dynamiken, die eine ›Doktrin konsequenten Intervenierens‹ in ihrer relativen Bedeutung deutlich aufwerten« (Bode & Turba 2014, S. 137) und den Kinderschutz auf die Tagesordnung der regelmäßigen Konferenzen der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefs der Länder beförderten, was im Dezember 2007 und im Juni 2008 jeweils in einem Kinderschutzgipfel kumulierte. In den Folgejahren lassen sich weitere Gesetzesinitiativen auf Landesebene24 sowie das im Jahr 2012 in Kraft getretene Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) verzeichnen.25

2.2.2.

Inhaltliche Wendepunkte und Fokusverschiebungen in der diskursiven Formierung

Die Dynamiken einer zunehmenden Problematisierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung scheinen sich in den vergangenen Jahren nicht nur in einer quantitativen Anhäufung von »Diagnose[n] des Familienversagens« (Olk 2007, S. 49) und gegensteuernden gesetzlichen Maßnahmen zu zeigen. Vielmehr zeichnen sich auch mehrere inhaltliche Fokusverschiebungen in der öffentlichen Verhandlung von Kinderschutzfällen ab, die sich vor allem entlang potenzieller Täter- und Opferfiguren, Formen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung sowie der Deutung von Folgen und Personengruppen vollziehen: a) Als mögliche Gefahrenquellen für Kinder und Ursache von Verhaltensauffälligkeiten wurden lange Zeit vorrangig außerfamiliale Faktoren wie fremde Personen, Institutionen, Tendenzen gesellschaftlicher ›Verrohung‹, Peer-Groups oder die Medien gedeutet, denen die Eltern weitestgehend hilflos gegenüberstanden. Mitunter wurden die Eltern sogar selbst als ›Opfer‹ ihrer Kinder wahrgenommen (z.B. »Was haben wir da für ein Ungeheuer?«, Der Spiegel 29/1983; »Terror aus dem Kinderzimmer: Eltern werden von ihrem Nachwuchs tyrannisiert«, Focus 20/1993; »Familie in der Falle«, Der Spiegel 9/1995). Misshandlungen, ungünstige Sozialisationsbedingungen, Scheidungen oder auch kindliche Deprivationen wurden somit zwar thematisiert, jedoch kaum mit familialen ›Kompetenzen‹ in Verbindung gebracht. Weitläufig in Frage gestellt wurden die Fähigkeiten und Verantwortlichkeiten von Eltern in jener Zeit generell nicht, sondern es wurde vielmehr das Ziel verfolgt, »die Familie zu entlasten; den Jugendlichen zu disziplinieren« (Kura 2012, S. 207). Damit standen eher das Wohl der Eltern und der gesamten Gesellschaft sowie deren Schutz vor devianten und ›gefährlichen Kindern‹26 , weniger der Schutz des Kindes im Vorder24

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Rheinland-Pfalz hat z.B. 2008 als erstes Bundesland ein Landesgesetz zum Schutz von Kindeswohl und Kindergesundheit (LKindSchuG) verabschiedet, welches das Einladungswesen zu Früherkennungsuntersuchungen aller Kinder ab dem zweiten Lebensmonat regelt. Das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) soll das Wohl und die Entwicklung von Kindern schützen und fördern. Enthalten ist darin auch das neu geschaffene Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG), das die Zusammenarbeit zahlreicher Akteure im Kinderschutz regelt. Bei dem ›gefährlichen‹ Kind handelt es sich um eine zentrale diskursive Figur, die neben ihrer dominanten Stellung im Mittelalter den massenmedialen Diskurs der 1970er Jahre stark prägte.

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grund (vgl. Kreisky & Löffler 2003, S. 384). Mit der zunehmenden Thematisierung zahlreicher Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung kommt es nicht nur zu einer allmählichen Sensibilisierung im Hinblick auf familiale ›Erziehungsinkompetenzen‹, sondern auch zu einer öffentlichen Fokusverschiebung der ›Täterfiguren‹: Wurden Eltern bis dato zumeist als eher passive Opferfiguren inszeniert und der ›böse Fremde‹ als Täter von ›Triebverbrechen‹ und ›Missbrauch‹ ins Feld geführt (z.B. »Was meint Achmed mit ›ficken‹?, taz 03.12.1993; »Missbrauch. Täter mit Teddybär«, Focus 09.03.1998), geraten nun vermehrt die eigenen Eltern als ›Täter‹ in den Fokus der Berichterstattung (z.B. »Kindesmisshandlungen. Die feindlichen Eltern«, Die Zeit 17/2005; »Kindesmisshandlung. Väter sind die größere Gefahr«, Focus, 06.12.2007).27 Hier scheint sich eine Verschiebung hin zu einem durch die Familie potenziell gefährdeten, vernachlässigten und schutzbedürftigen Kind anzudeuten. Das subjektiv erlebte Leid und das Bedürfnis nach adäquatem Schutz der Kinder treten diskursiv allmählich in den Vordergrund und drängen das Stereotyp der hilflosen Eltern in den Hintergrund (vgl. auch Hoffmeister 2014). b) Während bis weit in die 1980er Jahre vor allem das ›Sittlichkeits- und Triebverbrechen‹ bzw. die ›Unzucht‹ an Kindern im Fokus der Öffentlichkeit stand (z.B. »Wie naiv die Eltern sind«, Der Spiegel 6/1951; »Man hat sich am Riemen zu reißen«, Der Spiegel 46/1971; »Mächtiges Tabu«, Der Spiegel 30/1980), lässt sich seither – nicht zuletzt als Echo auf amerikanische Verhandlungen (vgl. z.B. Rush 1980) – eine deutliche begriffliche Erweiterung der thematisierten Misshandlungsformen, insbesondere im Hinblick auf sexuelle Gewalt gegenüber Kindern, nachzeichnen. Sie umfassen zunächst vor allem Fälle von Sextourismus, Kinderpornographie oder institutionellen Übergriffen wie in den Wormser Prozessen (»Kinderschänder-Prozess. Wie die Schläge eines Hammers«, Focus 13/1997; »Die ›Wormser Missbrauchsverfahren‹ brachten alle mit dem Thema befassten Beratungsstellen in die Defensive«, taz 10.01.1998). Im weiteren Verlauf werden aber auch zunehmend Fälle von Missbrauch und Inzest innerhalb der Familie thematisiert (»Ich bin die Tochter meiner Schwester«, Focus 9/2002; »Risikofaktor Mann«, taz 08.03.2003). Die Rede ist gehäuft von einer »allgegenwärtigen Verdächtigungswelle« (Rutschky & Wolff 1996), innerhalb derer kontroverse öffentliche Diskussionen um einen »Missbrauch mit dem Missbrauch« (Linsler & Rittinger 1992; Jäckel 1997; Rutschky 1995) geführt werden. Die Differenzierung und Ausweitung von Formen der Kindesmisshandlung betreffen – insbesondere nach der Jahrtausendwende und dem erneuten diskursiven Aufschwung sexuellen Missbrauchs mit dem Fall ›Pascal‹ – auch die bis dahin verhältnismäßig

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Hierbei wurde den Kindern – insbesondere vor dem Hintergrund des damaligen Booms der Psychoanalyse – ›gefährliche‹ Neigungen und Triebe zugesprochen wurden (vgl. Hays 1998, S. 64). Die Warnung vor dem ›bösen Fremden‹ galt nach Wehner-Davin (1976) lange Zeit als legitimes Konzept, um den familialen Nahraum vor Anschuldigungen des Missbrauchs zu schützen: »Wer aber wollte das Vertrauensverhältnis zwischen Kind und Eltern, zwischen ihm und den Personen des sozialen Nahraumes von vornherein belasten, um mögliche Extremfälle strafbarer Handlungen, die paradoxerweise gerade dieses Vertrauensverhältnis ermöglicht bzw. begünstigt, zu verhindern? Hieße das nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreiben? – Ergo bleibt nur die Möglichkeit, vor dem fremden Täter zu warnen« (S. 449).

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geringe Beachtung der passiveren Gewaltform ›Vernachlässigung‹. Diese Thematisierung bezieht sich jedoch zunächst weniger auf die Unterlassung existenzieller Versorgungsleistungen der Kinder, sondern auf eine angebliche Verwahrlosung von Kindern infolge mangelnder Disziplinierung und Förderung (z.B. »Das Versagen der Eltern. Statt Frühstück Tom und Jerry«, Der Spiegel 3/2002; »Lernen fürs Leben. Die gute Autorität«, Der Spiegel 3/2004; »Pädagogik. Mehr Disziplin wagen!«, Focus 26/2006). Eine zunehmende Thematisierung von Vernachlässigungen der Grundversorgung von Kindern im Rahmen zahlreicher Kinderschutzfälle kennzeichnet dann vor allem die zweite Hälfte der 2000er Jahre, die als eine neue ›Verdächtigungswelle‹ familialer ›Erziehungsinkompetenz‹ erachtet werden kann (z.B. »Frühwarnsystem für vernachlässigte Kinder«, Die Welt 13.10.2006; »Vernachlässigung. Jugendämter nehmen täglich 77 Kinder in Obhut«, Die Welt 15.07.2008; »Helden im Jugendamt. Vernachlässigte Kinder sterben unter den Augen überforderter Jugendschützer«, SZ 30.11.2007b; vgl. auch Buschhorn 2011, S. 34; Fegert et al. 2010, S. 22; Görgen & Kessler 2013, S. 12). c) Darüber hinaus erweist sich als auffällig, dass die Problematisierung familialer Erziehung sowie des adäquaten Schutzes von Kindern bis zu Beginn der 2000er Jahre zumeist aus dem Blickwinkel späterer Folgen für die soziale Umwelt erfolgte. Insbesondere deviante Jugendliche wurden häufig als Spätfolge familialen ›Versagens‹ gedeutet, während die gegenwärtige Vulnerabilität von Kindern eher nur am Rande Beachtung fand. So wurde z.B. Jugenddelinquenz gehäuft als gesellschaftliche Folge »moralischer Verwahrlosung« (Focus 34/1997) oder Scheidungen gedeutet (z.B. »Psychodrama Scheidung. Veränderungen fürs Leben«, Der Spiegel 8/1992; »Geisel Kind. Scheidung: Die Opfer«, Der Spiegel 33/1993). Aber auch noch im Kontext der veröffentlichten PISA-Ergebnisse in den frühen 2000er Jahren bezogen sich die publizierten Artikel in erster Linie auf die möglichen Folgen einer mutmaßlichen familialen Vernachlässigung für die spätere schulische Laufbahn der Kinder und scheinen somit in erster Linie der Ursachennarration des PISA-Schocks zu dienen. Erst mit der Jahrtausendwende gerät das ›gefährdete Kind‹ und potenzielle Möglichkeiten, es zu schützen, in den Mittelpunkt massenmedialer Berichterstattungen und entsprechender Kinderschutzinitiativen. Der Blick auf Kinder und Kindheiten an sich wird somit allmählich geschärft und sie werden nicht mehr vorrangig hinsichtlich ihrer Entwicklung und Positionierung als spätere Erwachsene betrachtet (vgl. auch Hensen & Schone 2009; Schmid 2010, S. 295; Wilk 1994; Wolff 2015). Die vergleichsweise späte Wahrnehmung kindlicher Bedürfnisse im Kontext von Misshandlung und Vernachlässigung könnte mitunter darin begründet sein, dass Gewalt an Kindern in Form von erzieherischen Züchtigungen im Unterschied zum sexuellen Missbrauch lange Zeit als legitim galt (vgl. Kap. II, 2.2.1). d) Gleichzeitig scheint das ältere, verhaltensauffällige, »offenbar irreparable[…] Kind« (Der Spiegel 31/1992), das »durchweg aus kaputten Familien [stammt], die meist in trostlosen Ghettos der Großstädte wohnen« (Der Spiegel, 28/1998) und lange Zeit als ›Indikator‹ versagender Erziehung zu dienen scheint (z.B. »Kriminelle Kinder. Was tun, wenn schon Zwölfjährige brutale Verbrechen begehen?«, Die Zeit 27/1997; »Kinderkriminalität: Zwischen Rambo und Versager«, Der Spiegel 28/1998), seither eine auffällige Leerstelle zu markieren. Es zeigt sich im massenmedialen Diskurs somit nicht nur eine stärkere Hinwendung zum Befinden der Kinder und ein »wachsende[s]

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

Bewusstsein für kindlichen Schutzbedarf« (Bode & Turba 2014, S. 26), sondern auch eine deutliche Fokusverschiebung in den verhandelten Altersgruppen hin zur frühen Kindheit: »Die Jugendhilfe verwandelt sich in eine Kinderhilfe« (Winkler 2012, S. 108). Sie nimmt damit vorrangig eine Altersgruppe in den Blick, die bis zur Jahrtausendwende kaum öffentlich in Erscheinung trat, da Erziehung überwiegend mit Blick auf ältere Kinder und Jugendliche sowie im außerfamilialen Bereich verhandelt wurde, in dem Kleinkinder bislang kaum in Erscheinung traten (vgl. Gall & Schulz 2003, S. 11). Auch die öffentlich verhandelten Kinderschutzfälle beziehen sich ab dieser Zeit nahezu ausschließlich auf Misshandlungen und Vernachlässigungen in der frühen Kindheit, obwohl diese Altersgruppe einschlägigen Statistiken zu Delikten und Schutzmaßnahmen zufolge deutlich seltener hiervon betroffen zu sein scheint (vgl. Kap. III, 2.2.3). Dieser Wandel im massenmedialen Diskurs ist deckungsgleich mit der allmählichen Herausbildung der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung, die vor allem die frühe Kindheit zunehmend als eigenständige und aktive Entwicklungsphase wahrnimmt (vgl. Mähler et al. 2015, S. 15).

2.2.3.

Kontextualisierung des Diskursstranges

Parallel zu den quantitativen Anhäufungen und inhaltlichen Verschiebungen der massenmedialen Thematisierungen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung kommt es ab Mitte der 2000er Jahre auch zu einer Konkretisierung und Etablierung zahlreicher Maßnahmen im engeren oder weiteren Rahmen des Kinderschutzes. Hierzu zählen neben juristischen Normierungen (vgl. Kap. II, 2.2.1) vor allem der Ausbau präventiver Angebote (z.B. niedrigschwellige aufsuchende Familienhilfen oder das bundesweite Früherkennungsprogramm zur frühzeitigen Feststellung von Entwicklungs- und Gesundheitsstörungen), aber auch unterstützende Hilfen zur Erziehung nach §§ 27-35 SGB VIII (z.B. Erziehungs- und Familienberatung oder sozialpädagogische Familienhilfe) sowie die Vermarktung zahlreicher Elternratgeber, Elternkurse, Familienbildungsmaßnahmen und Beratungsformate, die sich entweder an alle Eltern oder spezielle Zielgruppen richten. Viele dieser Angebote werden seit dem Jahr 2009 offiziell in den ›Frühen Hilfen‹ gebündelt.28 Des Weiteren lassen sich in den vergangenen Jahren deutliche Qualifizierungsbestrebungen von Professionellen erkennen.

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Der Begriff ›Frühe Hilfen‹ wurde bereits in den 1970er Jahren für verschiedene Maßnahmen zur Frühförderung verwendet und im Jahr 2009 von der Arbeitsgruppe »Begriffsbestimmung Frühe Hilfen« im Wissenschaftlichen Beirat des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NFZH) neu definiert: »Frühe Hilfen bilden lokale und regionale Unterstützungssysteme mit koordinierten Hilfsangeboten für Eltern und Kinder ab Beginn der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren mit einem Schwerpunkt auf der Altersgruppe der 0- bis 3-Jährigen. Sie zielen darauf ab, Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Eltern in Familie und Gesellschaft frühzeitig und nachhaltig zu verbessern. Neben alltagspraktischer Unterstützung wollen Frühe Hilfen insbesondere einen Beitrag zur Förderung der Beziehungs- und Erziehungskompetenz von (werdenden) Müttern und Vätern leisten. Damit tragen sie maßgeblich zum gesunden Aufwachsen von Kindern bei und sichern deren Rechte auf Schutz, Förderung und Teilhabe« (Nationales Zentrum Frühe Hilfen 2009). Zu den einzelnen Maßnahmen der Frühen Hilfen vgl. auch ausführlicher Kap. III, 3.4.2.

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Trotz einer verstärkten öffentlichen Verhandlung und Implementierung zahlreicher Maßnahmen finden sich in der einschlägigen Fachliteratur jedoch keine einheitlichen Definitionen zu Formationen und Inhalten von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung (vgl. auch Buschhorn 2001, S. 35). So wird Kindesmisshandlung von Engfer (1995) als »›Beeinträchtigung‹ gefaßt, die durch elterliche Handlungen (wie bei körperlicher Mißhandlung, sexuellem Mißbrauch) oder Unterlassungen (wie bei emotionaler oder physischer Vernachlässigung) zustande kommen« (S. 960). Diese Definition verweist nicht nur auf unterschiedliche Formen und Aktivitätsgrade von Misshandlung, sondern verengt den Kreis der ausführenden Akteure auf die Eltern, der in einer späteren Definition Engfers (2015) auf ›Erziehungsberechtigte‹ erweitert wird, andere potenzielle Akteure jedoch ausschließt (vgl. S. 3). Im Brockhaus (2006) wird Kindesmisshandlung etwas allgemeiner als »Misshandlung von Schutzbefohlenen« gefasst, die eine »erschwerte Form der Körperverletzung nach § 223 b StGB« darstelle (S. 334). Auch hier werden verschiedene Formen unterschieden, wobei Kindesvernachlässigung als »Gefährdung des körperl. und sittl. Wohls eines Kindes (unter 16 Jahren) durch gröbl. Vernachlässigung der Fürsorgepflichten (§ 170 d StGB)« und der »sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlenen und Kindern (§§ 174, 176 StGB)« in die Kindesmisshandlung eingeschlossen sind (ebd.). Der Begriff ›Kindesmisshandlung‹ wird auch bei Egle et al. (1997), Krieger et al. (2007) sowie Mertens und Pankofer (2011) als Überbegriff folgender verschiedener Formen gefasst: a) Körperliche oder physische Misshandlung Hierunter fallen alle Handlungen »die sich gegen den Körper der Betroffenen richten und in der Regel mit Schmerzen, gesundheitlichen Beeinträchtigungen, Ekelgefühlen oder Freiheitsberaubung verbunden sind« (Krieger et al. 2007, S. 14). Formen sind beispielsweise »Ohrfeigen; Schlagen mit Händen, Stöcken, Peitschen; Stoßen von der Treppe; Schleudern gegen die Wand; Schütteln eines Kleinstkindes; Verbrennen mit heißem Wasser oder Zigaretten; auf den Ofen setzen; Einklemmen in Türen oder Autofensterscheiben; Pieken mit Nadeln; ins kalte Badewasser setzen und untertauchen; eigenen Kot essen und Urin trinken lassen; Würgen; Vergiftungen« (ebd.). b) Sexuelle Misshandlung oder sexuelle Gewalt Dies umspannt »jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind auf Grund seiner körperlichen, emotionalen, geistigen oder sprachlichen Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann bzw. bei der es deswegen auch nicht in der Lage ist, sich hinreichend zu wehren und verweigern zu können« (Krieger et al. 2007, S. 21). c) Seelische oder psychische Misshandlung und Vernachlässigung Die seelische oder psychische Misshandlung umfasst »alle Handlungen oder Unterlassungen von Eltern oder Betreuungspersonen, die Kinder ängstigen, überfordern, ihnen das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit vermitteln und sie in ihrer psychischen und/oder körperlichen Entwicklung beeinträchtigen können« (Egle et al. 1997, S. 24). Zur seelischen Misshandlung zählen Mertens und Pankofer (2011) »Ablehnung, Überforderung, Herabsetzen, Demütigung, Ängstigen, Terrorisieren, Isolation, Ausbeutung und Verweigerung emotionaler Zuwendung und Unterstützung«

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(S. 32). Der Begriff der Vernachlässigung beschreibt hingegen die Nichterfüllung elterlicher Pflichten, insbesondere im Hinblick auf Ernährung, Pflege, Förderung und Beaufsichtigung der Kinder, d.h., »Kinder werden vernachlässigt, wenn sie von ihren Eltern oder Betreuungspersonen unzureichend ernährt, gepflegt, gefördert, gesundheitlich versorgt, beaufsichtigt und/oder vor Gefahren geschützt werden« (Egle et al. 1997, S. 22). Obwohl sich bereits in den vergangenen Jahrhunderten verschiedene Hilfs- und Fürsorgeangebote für vernachlässigte Kinder und deren Eltern entwickelt haben, taucht der Begriff der erzieherischen Vernachlässigung erst im 19. Jahrhundert auf (vgl. Galm et al. 2010, S. 10; Uhlendorf 2003, S. 264). Die Anerkennung emotionaler Vernachlässigung erfolgt sogar erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts (Spitz 1945). Einigen Schätzungen zufolge stellen Formen seelischer Gewalt inzwischen die häufigste Form der Misshandlung dar: »Ein Team um Marije Stoltenborgh von der Universität Leiden hat in einer viel beachteten Metaanalyse aus dem Jahr 2012 abgeschätzt, dass angeblich 36,3 Prozent aller Kinder auf der Welt emotionale Misshandlung erfahren (Journal of Aggression, Maltreatment & Trauma). Deutlich niedriger liegen etwa laut WHO die Zahlen für körperliche Gewalt (8,0 Prozent) und sexuellen Missbrauch (1,6 Prozent)« (SZ 15.10.2015). Dennoch konstatiert Sommer (2002) selbst im 21. Jahrhundert: »Obwohl in der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung vielerorts auf die besondere Bedeutung psychischer Aspekte von Gewalt und Gewalt gegen Kinder hingewiesen wird, stellt das Phänomen der psychischen Gewalt gegen Kinder einen in der wissenschaftlichen Forschung und Literatur weitgehend vernachlässigten Problembereich dar« (S. 53). Engfer (2015) grenzt den Tatbestand der Kindesmisshandlung – ähnlich wie im Brockhaus angedeutet – von zugeführten leichten Körperverletzungen ab. Neben der Intensität (z.B. Häufigkeit, Dauer, Schweregrad) der Misshandlung sei auch der Grad der Abweichung von kulturellen Normen entscheidend: Misshandlungen im engeren Sinn »umfassen in der Regel die Fälle, in denen Kinder körperlich verletzt werden« (S. 4). Misshandlungen im weiteren Sinn schließen »Handlungen oder Unterlassungen ein, die nicht unbedingt zu körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen von Kindern führen, die in geringerem Maße als Normabweichung gelten, häufiger vorkommen und auch heute noch von vielen Eltern praktiziert werden (wie häufiges Schimpfen, Schlagen, Bestrafen mit Liebesentzug usw.)« (ebd., S. 4). Unklar bleibt in dieser Definition, wo genau die Grenze verläuft und inwieweit die Schädigung des Kindes bereits eingetreten sein muss bzw. ob eine drohende Schädigung ausreicht, um den Tatbestand der Misshandlung zu konstatieren. Des Weiteren bleibt offen, inwiefern diese Schädigung intendiert sein muss, d.h., ob sie auch fahrlässig geschehen kann und ob es Ausnahmen im Hinblick auf religiöse und kulturelle Praktiken gibt (vgl. Mertens & Pankofer 2011, S. 26f.). Es ist anzunehmen, dass es für die Wahrnehmung misshandelnder Familien einen großen Unterschied macht, ob deren Handeln als bewusst oder gar absichts-

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voll gedeutet wird oder es auch einem Automatismus folgen kann bzw. unbewusst oder fahrlässig vollzogen wird. Die Herausforderungen einer Rekonstruktion der öffentlichen Wahrnehmung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung liegen somit nicht nur in der Komplexität des Erziehungs- und Kompetenzbegriffes, sondern auch in der terminologischen Unübersichtlichkeit von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Die weiteren Ausführungen erfolgen daher, insofern nicht anders vermerkt, in heuristischer Absicht ebenfalls einem weiten Begriffsverständnis, wie Wetzels (1997) es aus kriminologischer Perspektive entworfen hat. Er versteht Kindesmisshandlung als »die Gesamtheit aller Formen negativ bewerteter Einwirkungen, Akte und Unterlassungen, gleich welcher Modalität, die Kinder betreffen« (S. 59). Divergenzen im Hinblick auf Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zeigen sich aber nicht nur beim Begriffsverständnis, das sowohl in synchroner wie auch in diachroner Hinsicht variieren kann, sondern auch im Hinblick auf das Ausmaß solcher Vorkommnisse. Die dürftige und mitunter widersprüchliche Datenlage ist vor allem darin begründet, dass Deutschland neben den Niederlanden der einzige Staat in der EU ist, in dem bislang keine einheitlichen bundesweiten Meldepflichten oder gar ein zentrales Melderegister für Kindesmisshandlung und -vernachlässigung existieren. Solide und gesicherte Zahlen liegen nicht vor, und auch die langfristigen Konsequenzen für die betroffenen Kinder und Eltern können nicht umfassend abgesehen werden (vgl. auch Buschhorn 2012, S. 44f.; European Union Agency For Fundamental Rights 2015; Thurn 2017). Um Aufschlüsse über die Epidemiologie von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zu erhalten, muss daher auf die polizeiliche Kriminalstatistik zu Fällen von Kindesmisshandlung nach § 223b StGB und nach § 170d StGB zurückgegriffen werden, die in Deutschland seit 1971 geführt wird. Darüber hinaus kann die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik herangezogen werden, die seit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes Anfang der 1990er Jahre gültig ist (vgl. Hoffmann 1991; Kraus 2009; Stickdorn 1993). Weitere – wenn auch vage – Hinweise können themenverwandten Statistiken des Statistischen Bundesamtes (z.B. Todesursachenstatistik, Krankenhausdiagnosestatistik) sowie vereinzelten wissenschaftlichen, insbesondere rechtsmedizinischen Untersuchungen entnommen werden. Das Institut für Rechtsmedizin in Bonn diagnostiziert z.B. im Hinblick auf tödlich verlaufende Fälle für den Untersuchungszeitraum 1994-2007, 413 Todesfälle. Für das Jahr 1995 werden die meisten Todesfälle (n = 43), im Jahr 2007 die wenigstens (n = 21) verzeichnet, wobei die Zahlen dazwischen stark schwanken. Der Anteil der kindlichen Todesfälle durch ein Elternteil wird mit insgesamt 19 Fällen im gesamten Untersuchungszeitraum jedoch als relativ gering ausgewiesen (4,3 %), während er im Zeitraum 1970-1993 noch beinahe doppelt so hoch lag (7,9 %) (vgl. Hömberg 2011, S. 40ff.). Fendrich und Pothmann (2009) diagnostizieren seit den 1990er Jahren auf der Basis von Statistiken des Gesundheitswesens, Analysen der Todesursachenstatistik und der polizeilichen Kriminalstatistik sowie der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik ebenfalls insgesamt eine rückläufige Zahl von Kindstötungen, insbesondere infolge von Misshandlung und Vernachlässigung (vgl. S. 1004f.). Eggert-Schmid Noerr (2015) weist unter Bezugnahme auf eine Studie des Bundesjustizministeriums außerdem darauf hin, dass der Einsatz von drastischen Gewaltformen

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insgesamt rückläufig sei (vgl. S. 199). Auch Bode und Turba (2014) konstatieren insgesamt einen Rückgang in der Registrierung leichterer Gewalterfahrungen, jedoch seien laut polizeilicher Kriminalstatistik zeitgleich die gemeldeten Fälle von »Misshandlung von Schutzbefohlenen« sowie Vernachlässigungstatbeständen im Zeitraum der Jahre 2000 bis 2012 um 66 bzw. 64 Prozent deutlich gestiegen (vgl. S. 188). Von allen eingeleiteten Verfahren zur Gefahrenabschätzung des Kindeswohls bewerteten die Jugendämter im Jahr 2016 16 Prozent zweifelsohne als Kindeswohlgefährdungen (»akute Kindeswohlgefährdung«). Dies entspricht einem Anstieg um 3,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr (vgl. Statistisches Bundesamt 2017a). Im Jahr 2017 ließ sich erneut ein leichter Anstieg gegenüber dem Vorjahr um 0,6 Prozent verzeichnen (vgl. Statistisches Bundesamt 2018a).29 Die auffälligsten Entwicklungen im Bereich der erzieherischen Hilfen betreffen laut Kinder- und Jugendhilfestatistik den Bereich der vorläufigen Schutzmaßnahmen bzw. Inobhutnahmen, deren Anzahl seit 1995 (23.432 Fälle) relativ konstant angestiegen sei und sich bis zum Jahr 2013 fast verdoppelt (42.123) bzw. bis zum Jahr 2017 in etwa verdreifacht (61.383 Fälle) habe. Der rasante Anstieg in den vergangenen Jahren sei insbesondere auf die große Anzahl unbegleiteter Flüchtlinge zurückzuführen, die den Hauptgrund (37 %) für die Aufnahme einer Maßnahme ausmachten. Die Heimerziehung und die sonstigen betreuten Wohnformen verzeichneten hingegen lediglich ein Plus von 8 Prozent. Neben der unbegleiteten Einreise aus dem Ausland stellte die Überforderung der Eltern bzw. eines Elternteils (28 %) den zweithäufigsten Anlass der Maßnahmen dar. Der Anteil jener Schutzmaßnahmen, die durch Vernachlässigung oder Anzeichen von Misshandlung eingeleitet wurden, beläuft sich insgesamt auf 17 Prozent. Besonders stark betroffen war die Gruppe der über 14-jährigen Jugendlichen. Im Jahr 2017 war – entgegen dem massenmedial verbreiteten Bild – nur an knapp jedem zehnten Verfahren (9 %) ein Kind unter sieben Jahren beteiligt (vgl. Statistisches Bundesamt 2018b). Die Statistiken variieren somit in den ausgewiesenen Fallzahlen insgesamt sehr stark. Während einige einen Anstieg von Misshandlungs-, Tötungs- und Vernachlässigungsdelikten ausweisen, konstatieren andere eine nicht gerechtfertigte Dramatisierung. Zudem geben die Statistiken das tatsächliche Ausmaß von Kindesmisshandlungen und -vernachlässigungen nur unvollkommen wieder, da sie lediglich Fälle berücksichtigen, die zur Anzeige gebracht wurden oder durch den Tod bzw. einen Krankenhausaufenthalt des Kindes, die Einleitung von Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe o.Ä. registriert wurden. Die statistische Erfassung von Misshandlungs- und Vernachlässigungsdelikten an Kindern wird dementsprechend vor allem in weniger schwerwiegenden Fällen durch eine hohe anzunehmende Dunkelziffer erschwert, wie sie bei Taten im häuslichen Umfeld generell üblich ist (vgl. Berzlanovich et al. 2014). Als problematisch erweisen sich aber auch die schwammigen Grenzziehungen zwischen tolerierten Erziehungsmaßnahmen und Formen von Kindesmisshandlungen und -vernachlässigungen. Während körperliche Gewaltformen verhältnismäßig eindeutig durch juristische Strafnormen erfasst werden, sind vor allem Begriffe wie ›psychische und emotionale Gewalt‹ oder ›seelische Misshandlung‹ immer noch sehr vage ausformuliert (vgl. 29

Der Prozess der Gefährdungseinschätzung erfolgt erst seit Änderung des § 8a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung) im Jahr 2012. Daher liegen hierzu keine älteren Zahlen vor.

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ebd.). Erschwert wird eine Einschätzung der gegenwärtigen Lage nicht zuletzt auch durch die unterschiedlichen Definitionen von Elternschaft und Familie, die dabei die Grundlage bilden, häufig aber den Differenzierungen zwischen sozialer und biologischer Elternschaft sowie der Vielfalt an Formen des Zusammenlebens nicht gerecht werden. Die Frage, ob innerfamiliale Kindesmisshandlungen und -vernachlässigungen in den letzten beiden Jahrzehnten zugenommen haben, kann somit nicht eindeutig beantwortet werden. Steigende Werte angezeigter Misshandlungen oder Vernachlässigungen sowie ein Anstieg von Inobhutnahmen und Hilfen zur Erziehung sind kein verlässlicher Indikator für eine steigende Gefährdungslage von Kindern und erlauben erst recht keine Rückschlüsse auf Veränderungen der tatsächlich vorliegenden ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ von Familien, da sie auch ein verändertes Anzeigeverhalten der Bevölkerung und die häufigere Überprüfung von Familien durch die Jugendämter dokumentieren (vgl. auch Statistisches Bundesamt 2018a) oder aber einen Wandel in den normativen Wissensbeständen und Anforderungen hinsichtlich Familien, Elternschaft und Kindheit zum Ausdruck bringen könnten. Eine eindeutige steigende Gefahrenlage, wie sie aufgrund der zunehmenden massenmedialen Problematisierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung seit den 2000er Jahren zu erwarten wäre, zeichnet sich somit insgesamt keinesfalls eindeutig ab. Dies entspricht auch Schetsches (2003) Annahme, dass »Faktoren wie die Zahl der tatsächlichen Problemopfer, die Schwere und Nachhaltigkeit der angerichteten Schäden oder das Ausmaß der ethischen Verwerflichkeit der Handlungen für die öffentliche Karriere eines sozialen Problems nur eine nachgeordnete Rolle« (S. 15) spielen. Relevanter erscheinen das Skandalöse und Katastrophische: »Die Qualität des Ereignishaften impliziert die Außergewöhnlichkeit eines Phänomens: das alltägliche Einerlei zwischen Arbeiten, Essen und Schlafen ist dafür kein aussichtsreicher Kandidat« (Keller 2003a, S. 401). Es ist außerdem davon auszugehen, dass im Verlauf der Themenkarriere mit zunehmender Problematisierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung »nicht mehr dieser Sachverhalt selbst wahrgenommen [wird], sondern nur das mittels des erfolgreichen Problemmusters verbreitete Wissen über ihn, Zuschreibungen also, die der Logik der betreffenden Problemdeutung folgen« (Schetsche 2014, S. 44). In der Annahme, dass die Lebenswelt auf der routinierten Fraglosigkeit von Deutungen und Praktiken beruht, ist davon auszugehen, dass solche inhaltlichen Verschiebungen der Wissensformen nur dann auftreten, wenn bisherige alltägliche Prozesse auf Irritationen oder Uneindeutigkeiten stoßen, so dass neue, passfähigere Ordnungsstrukturen konstruiert werden müssen (vgl. Keller 2008, S. 290; Keller 2012a, S. 213), denn »solange das Alltagswissen befriedigend funktioniert, besteht i. a. keine Bereitschaft, es in Zweifel zu ziehen« (Berger & Luckmann 1980 [1969], S. 45). Dies bedeutet im Umkehrschluss, »daß ein Bedürfnis nach neuem Wissen nur dort aufkommen kann, wo der Wunsch entsteht, untauglich gewordenes Wissen abzulösen« (Cornelißen 1982, S. 69). Ebenso wie die öffentliche Wahrnehmung des Referenzbereiches familialer Erziehung bislang wenig wissenschaftliche Beachtung erfahren hat (vgl. Kap. I, 1), zeigen sich auch im Hinblick auf Kindesmisshandlung und -vernachlässigung kaum Untersuchungen zu mögli-

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chen Wandelprozessen in der Konstitution familialer Erziehung sowie zu potenziell zugrundeliegenden Irritationen und Brüchen und deren öffentlicher Bearbeitung. Zu den wenigen empirischen Bemühungen der vergangenen Jahre zählen vor allem quantitativ angelegte Studien über die mediale Berichterstattung zu den beteiligten Jugendämter in Kinderschutzfällen (vgl. z.B. Enders 2008) bzw. das generelle Bild des deutschen Kinderschutzes im Rahmen medial präsenter Schutzfälle der jüngeren Vergangenheit (vgl. z.B. Fegert et al. 2010). Qualitative Analysen und theoretische Abhandlungen zu öffentlich generierten und transportierten Spannungen und Strukturen im Kinderschutz sowie zu dessen gesellschaftlicher Entwicklung und Funktionalität finden sich z.B. bei Bode und Turba (2014), Brandhorst (2015), Bütow et al. (2014) oder Patschke (2016). Im Mittelpunkt dieser Untersuchungen stehen vor allem unterschiedliche Akteure und organisatorische Aspekte des Kinderschutzes, wie z.B. das Fehlermanagement in Jugendämtern oder deren Umgang mit familialem Versagen, weniger die darin konstruierten familialen Kompetenzen und Fälle von Misshandlung und Vernachlässigung an sich. Den Fokus auf familiale Akteure richtet hingegen z.B. Tolasch (2016) in ihrer diskursanalytischen Aktenuntersuchung zur normativen Verhandlung und Konstruktion der kindstötenden Mutter. Eine empirische Betrachtung der diskursiven Verknüpfung familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ mit ›Kindesmisshandlung und -vernachlässigung‹ stellt bislang jedoch ein Desiderat in der empirischen Forschungslandschaft dar, das in seinen spezifischen Verflechtungen im Rahmen der vorliegenden Arbeit analytisch aufgeschlüsselt werden soll.

2.2.4.

Der Fall ›Kevin‹ als Schlüsselereignis und Ausgangspunkt der weiteren Analyseschritte

Für die Konzeption der weiteren Analyseschritte ist anzunehmen, dass die zugrundeliegenden de- und restabilisierenden Konstruktionsprozesse familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ fast ausschließlich dort aufgespürt werden können, wo Selbstverständlichkeiten familialer Erziehung vor dem Hintergrund von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung besonders stark ins Wanken geraten und vorhandene bzw. fehlende ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ als problematische Wissensbestände hervorgebracht werden. Mit Eisenegger (2016) lässt sich zudem vermuten, dass ein möglicher Wandel von Wissensbeständen immer in engem Zusammenhang mit bestimmten skandalösen Ereignissen steht, die ihn initiieren, begünstigen oder aus ihm hervorgehen: Die »Skandalisierungs- und Reputationsdynamiken verraten uns viel über den Gesundheitszustand einer Gesellschaft. Sie sind soziologisch äußerst lukrative und ergiebige Untersuchungsgegenstände« (S. 56). Daher wurden im Rahmen der Annäherung an den Diskursstrang in einem letzten Schritt solche skandalösen, außergewöhnlichen Schlüsselereignisse in der massenmedialen Verhandlung am Höhepunkt der Debatten als Ausgangspunkt der weiteren Analysearbeit eruiert. Im Rahmen der ersten analytischen Suchbewegungen zeigte sich bereits, dass sich die massenmedialen Verhandlungen in den 2000er Jahren nicht nur zu verdichten scheinen, sondern sich die meisten Dokumente inhaltlich mit dem Fall ›Kevin‹ befassten. Dies deutet darauf hin, dass die Verhandlung dieses Falls in einem engem Zusammenhang mit

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der zunehmenden Problematisierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ steht. Daher soll er an dieser Stelle näher betrachtet werden: Der Fall ›Kevin‹ kennzeichnet das Leben und Sterben des zweijährigen Kleinkindes Kevin, das im Oktober 2006 ca. fünf Monate nach seinem Tod im Kühlschrank seines Ziehvaters in Bremen aufgefunden wurde. Aus dem Obduktionsbericht geht hervor, dass die Leiche insgesamt 24 Knochenbrüche aufwies, wovon lediglich fünf aus Kevins letztem Lebenstag stammten, während die anderen älteren Datums waren. Darüber hinaus wurden Folgen stumpfer Gewalt an Kopf und Hoden diagnostiziert (vgl. Goldberg 2007). Bereits nach seiner Geburt im Januar 2004 in Bremen verbrachte Kevin die ersten drei Monate seines Lebens mit seiner drogenabhängigen Mutter in einer Entzugsklinik in Heiligenhafen. Daran anknüpfend wurde der Mutter und dem ebenfalls drogenabhängigen Ziehvater Kevins sowohl seitens der Geburts- als auch der Entzugsklinik Hilfe angeboten, welche die Eltern jedoch ablehnten. Erste Hinweise auf eine mutmaßliche Kindesmisshandlung ergaben sich für das Jugendamt bereits im Sommer 2004 in Form eines polizeilichen Notlageberichts, worauf Hausbesuche bei der Familie angeordnet wurden. Im Herbst 2004 wurde Kevin mit Knochenbrüchen in eine Kinderklinik eingeliefert. Da der Kinderarzt einen Missbrauchsverdacht äußerte, wurde die Durchführung Früher Hilfen besprochen. Beschlossen wurden sie jedoch erst Wochen später, nachdem Kevin wegen eines Drogenexzesses der Mutter erstmals im Kinderheim Hermann-Hildebrand-Haus untergebracht worden war. Im Frühjahr 2005 wies der Kinderarzt erneut auf die Gefahr einer Misshandlung Kevins hin und der Ziehvater meldete eine Straftat der Mutter. Das Verfahren wurde jedoch eingestellt und auch die Frühen Hilfen wurden beendet. In dieser Zeit wurde Kevins Mutter erneut schwanger, erlitt jedoch im Sommer eine Totgeburt, in deren Folge sie in die Psychiatrie eingeliefert wurde, wo ein erneuter Entzug der mittlerweile rückfälligen Mutter geplant und durchgeführt wurde. Der Vater wurde in der Zwischenzeit wegen eines Gewaltverbrechens verurteilt. Mehrfach riefen die Anwohner und die einstige Familienhebamme in dieser Zeit die Polizei und informierten sie über die problematische Situation der Familie. Es folgte ein Hausbesuch, der jedoch unauffällig verlief (vgl. Brandhorst 2015, S. 202ff.; Bremische Bürgerschaft 2007, S. 46ff.; Goldberg 2007). Im Herbst 2005 starb Kevins Mutter aus zunächst ungeklärten Umständen. Der Ziehvater Kevins wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und Kevin erneut vom Hermann-Hildebrand-Haus in Obhut genommen und unter Amtsvormundschaft gestellt. Sowohl die Ärzte als auch der Amtsvormund sprachen sich gegen eine Rückführung Kevins in die Familie aus. Gegen Ende des Jahres wurden Ziehvater und Ziehsohn dennoch nach Hause entlassen und der Ziehvater gab vor, mit Kevin zu seiner Mutter nach Kassel umziehen zu wollen, wodurch sich die Zuständigkeit der Ämter ändern würde. Alle Hilfen wurden daraufhin eingestellt. Erst durch die Bewährungshelferin des Ziehvaters wurde Anfang 2006 bekannt, dass die Familie Bremen nicht verlassen habe. Eine neuerliche Hilfeplanung wurde eingeleitet, dieses Mal in Form einer Tagespflege für Kevin und des Besuchs einer Trauergruppe für den Ziehvater. Zudem erhielt die Familie die Auflage, nicht umziehen zu dürfen. Es folgten zahlreiche Berichte und Mitteilungen seitens diverser pädagogischer und medizinischer Fachkräfte an die Amtsleitung, die Sachgebietsleiterin, die Senatorin und den zuständigen Sachbearbeiter über die nach wie vor problematische Situation der Familie. In einer Fallkonferenz wurde das

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Amt zudem auf die Aggressivität des Ziehvaters hingewiesen sowie über Verletzungen bei Kevin und Probleme bei der Durchführung der Tagespflege informiert. Der Ziehvater hatte die Maßnahme abgebrochen, um Kevin alternativ eine Spielgruppe besuchen zu lassen (vgl. Brandhorst 2015, S. 202ff.; Bremische Bürgerschaft 2007, S. 46ff.; Goldberg 2007). Im Frühjahr 2006 wurden auf einer weiteren Fallkonferenz erneute Probleme mit der Kooperation des Ziehvaters bekannt: Er sei weder zur Spielgruppe erschienen, noch habe er die im Rahmen der Früherkennung vorgesehenen Untersuchungen bei Kevin durchführen lassen. Nachdem er weitere Termine verpasst hatte, wurde der Spielgruppenplatz schließlich neu vergeben und auch die Frühen Hilfen immer wieder verschoben, bis die Maßnahme schließlich im Sommer ganz beendet wurde. Nachdem ein neuer Spielkreis gefunden worden war, Kevin aber zu diesem weder erschien noch vom Ziehvater entschuldigt wurde, wurde das Familiengericht darüber informiert. Im Herbst 2006 schaltete sich die Vertretung des zuständigen Sachgebietsleiters ein und plante, nachdem sie die Familie mehrfach nicht zu Hause angetroffen hatte, eine erneute Inobhutnahme Kevins. Nach mehreren Anhörungsterminen erteilte das Familiengericht im Oktober den Herausgabebeschluss. Das Amt konnte beim Vollstreckungsversuch jedoch nur noch die Leiche des toten Kevin bergen (vgl. Brandhorst 2015, S. 202ff.; Bremische Bürgerschaft 2007, S. 46ff.; Goldberg 2007). In unmittelbarer Folge des Leichenfundes trat die Bremer Sozialsenatorin Karin Röpke von ihrem Amt zurück, der Jugend- und Sozialamtsleiter Jürgen Hartwig zeigte sich selbst an und gegen zwei Mitarbeiter des Jugendamtes sowie die Bremer Sozialbehörde wurden Ermittlungen wegen Verletzung der Fürsorgepflicht eingeleitet, was in der Historie bis dahin einmalig war. Bereits im Oktober, kurz nach dem Leichenfund Kevins, veröffentlichte der Justizstaatsrat Mäurer einen Bericht über die Fallchronologie, der auf der Fallakte des Casemanagers basierte. Mäurer diagnostizierte hierbei vor allem Fehlerquellen, die sich auf das unterlassende Verhalten des Casemanagers bezogen und in der massenmedialen Berichterstattung in breitem Maße aufgegriffen wurden (vgl. Brandhorst 2015, S. 117f.). Daran anknüpfend wurde ebenfalls bereits im Herbst 2006 der parlamentarische Untersuchungsausschuss (PU) ›Kindeswohl‹ ins Leben gerufen und mit der Aufklärung der Hintergründe des Falls ›Kevin‹ betraut. Der Ausschuss setzte sich aus sechs Mitgliedern und sechs stellvertretenden Mitgliedern verschiedener politscher Parteien zusammen. In 28 internen und 21 öffentlichen Sitzungen wurden u.a. Prof. Dr. Jürgen Blandow von der Universität Bremen (Experte für Pflegefamilien und Wohlfahrt) und die Sachgebietsleiterin der Betreuungsbehörde im Amt für Soziale Dienste, Frau Rita Hähner, als Experten angehört (vgl. Bremische Bürgerschaft 2007). Als Fehlerquellen diagnostizierte der Ausschuss in seinem Bericht im Frühjahr 2007 insbesondere die schlechten personellen Rahmenbedingungen der Jugendämter, die aufgrund hoher Fallzahlen der Mitarbeiter zu deren Überlastung führten (vgl. ebd., S. 312ff.). Eine zentrale Empfehlung stellte die Einführung eines »Kontrollsystems zum Schutze der Kinder und Jugendlichen« (ebd., S. 327) dar, das auch Eingang in die massenmediale Berichterstattung fand. Es handelt sich um den ersten Fall innerfamilialer Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, bei dem ein solcher Ausschuss initiiert wurde (vgl. ebd., S. 18). Im Herbst 2007, ein Jahr nach dem Leichenfund, begann schließlich der Prozess, der im Frühjahr 2008 zunächst mit

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der Verurteilung des Ziehvaters zu zehn Jahren Haft endete. Das letzte große Ereignis im Fall ›Kevin‹ bildete der Auftakt des Gerichtsverfahrens gegen den Amtsvormund im Frühjahr 2010. Der Vormund musste nach frühzeitiger Einstellung des auf ursprünglich vier Jahre angesetzten Verfahrens im Sommer 2010 eine einmalige Zahlung von 5.000 Euro an den Bremer Kinderschutzbund leisten und die Prozesskosten tragen. Eine Verurteilung des Mannes, der stellvertretend für das gesamte Amt angeklagt wurde, hielt die vorsitzende Richterin für nicht verhältnismäßig. Das Verfahren gegen den Casemanager wurde aufgrund einer psychischen Erkrankung, die mit dem Tod Kevins zusammenhing, und mit einhergehender Verhandlungsunfähigkeit ebenfalls eingestellt (vgl. Brandhorst 2015, S. 118f.). Der gewaltsame Tod des zweijährigen Kevin ging bereits im Oktober 2006 als »nationale Katastrophe« (Die Welt, 17.10.2006) in die öffentliche Berichterstattung ein. Es war nach Brandhorst (2015) der »prominenteste und einflussreichste unter den Kinderschutzfällen aus der jüngeren Vergangenheit« (S. 8). Bereits nach dem Leichenfund Kevins am 14.10.2006 erschien eine Flut an Meldungen. So widmete z.B. am 18.10.2006 allein die Süddeutsche Zeitung (SZ) ganze sechs Artikel diesem Thema. Fegert et al. (2010) diagnostizieren im Rahmen einer Medienanalyse insgesamt 133 Kinderschutzfälle, die zwischen dem 01.01.2007 und dem 17.04.2008 öffentliche Aufmerksamkeit erhielten. Fast die Hälfte (44 %) bezog sich auf Vernachlässigungs- und Verwahrlosungsdelikte, insbesondere den Fall ›Kevin‹ (vgl. ebd., S. 78f.), der selbst heute noch populär zu sein scheint: Eine Google-Suche mit dem Stichwort ›Fall Kevin‹ lieferte im Januar 2019 69.700 Treffer, wovon zumindest die ersten hundert fast ausschließlich auf das Schicksal des misshandelten und verwahrlosten Kindes aus Bremen Bezug nehmen und zum Teil auch aktuelleren Datums sind (so z.B. »Die spektakulärsten Gerichtsprozesse in Bremen«, Weser Kurier vom 02.04.2018; »Gewalt gegen Kinder. Geschlagen, geschüttelt und gequält«, Deutschlandfunk Kultur vom 08.01.2019; »Kinderschutz geht nicht ohne Kommunikation«, nrzplus vom 02.08.2018). Selbst in der freien Online-Enzyklopädie Wikipedia erhält der Fall einen eigenen, durchaus umfangreichen Eintrag.30 Die enorme Medienpräsenz des Falls ›Kevin‹ verweist somit auf dessen Stellung als ein ›Schlüsselereignis‹ in der diskursiven Problemwahrnehmung familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung.

2.3.

Festlegung des Ausgangskorpus zur Feinanalyse

Das Ausgangskorpus wurde entsprechend der hohen Relevanz des Falls ›Kevin‹ in den vorliegenden Materialien vor Beginn der Feinanalysen um Artikel erweitert, die sich inhaltlich mit dem Fall ›Kevin‹ beschäftigen oder in denen dieser zumindest in Kombination mit den Begriffen *Kinderschutz*, *Vernachlässigung* und *Misshandlung* im Kontext familialer Erziehung benannt wird, um so eine gemeinsame Schnittmenge zwischen der Thematisierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ und dem Fall ›Kevin‹ zu erhalten. In der Annahme, dass diskutierte Wissensbestände in der Regel zunächst nicht sehr wirkmächtig sind, sondern erst im Anschluss an deren Verhandlung zu Veränderungen der konsensualen Ordnungsstrukturen führen (Geideck & Liebert 30

https://de.wikipedia.org/wiki/Fall_Kevin.

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

2003), wurde das Material hierbei nicht im Vorhinein auf einen konkreten Zeitraum beschnitten, sondern von dem Fall ›Kevin‹ ausgehend gegenstandsbezogen chronologisch vorwärts und rückwärts ausgeweitet und angepasst, um die Deutungen nicht vorab auf bestimmte synchrone Sinn- und Ordnungsstrukturen zu begrenzen und um die Wissensbestände zu familialer Erziehung sowie die Einschreibung des Kompetenzbegriffs in den innerfamilialen Bereich angemessen rekonstruieren zu können. Berücksichtigt wurden somit auch die Jahre vor den Ereignissen um ›Kevin‹ sowie die Folgejahre bis in die Gegenwart hinein. Mit Bührmann (2007) kann so auch »die Gegenwart im Hinblick auf ihre historischen Bedingungen der Möglichkeit problematisiert« (S. 61) werden. Die konkrete Zusammenstellung des Materials erfolgte auch hier in mehreren Schritten, erstreckte sich über erneute Stich- und Schlagwortsuchen nach dem Fall ›Kevin‹ und den oben benannten Begriffen31 und umfasste Grobsichtungen sowie erste Strukturanalysen des Materials (vgl. Kap. II, 2.1.3). Da Deutungen und Argumente oftmals »durch die großen Maschen eines standardisierten Rasters fallen« (Schwab-Trapp 2008, S. 173), sich jedoch zu tragenden Positionen entwickeln können, wurde der weiteren Analyse auch nach der Konkretisierung des Diskursfeldes ein nach wie vor sehr breites Datenkorpus zugrunde gelegt. Es soll das kollektive Meinungsspektrum und die darin enthaltenen Wissensbestände hinsichtlich familialer Erziehung adäquat repräsentieren, um so die Gefahr einer vorab stark verzerrten und voreingenommenen Begrenzung des Datenmaterials einzudämmen und die Analyse nicht vorschnell auf bestimmte Erklärungen zu reduzieren (vgl. Keller 2008a, S. 213; Schwab-Trapp 2008; Stauff 2005). Dies betrifft sowohl die Nacherhebung von Materialien als auch den offenen Interpretationszusammenhang: »Setzt der Forscher bei der Erhebung standardisierter Daten diese beiden Prinzipien um, dann ist zumindest strukturell die Möglichkeit eröffnet, dass die Daten ihn ins Grübeln bringen, ihn an seinen alten Überzeugungen zweifeln lassen« (Reichertz et al. 2010, S. 50). Die finale Erstellung des Korpus war somit im Anschluss an diese ersten standardisierten Annäherungen Bestandteil der Diskursanalyse. Dementsprechend wurde es im Verlauf der empirischen Untersuchung mittels verschiedener Suchheuristiken auf mehreren Ebenen gegenstandsbezogen angepasst, wobei versucht wurde, im Hinblick auf die vorzufindende Vielfalt keiner Detailfaszination zu erliegen (vgl. Kap. II, 3). Hierbei zeigte sich, dass neben dem Fall ›Kevin‹ zahlreiche weitere Kinderschutzfälle diskursiv in Erscheinung treten, die sich über das gesamte Bundesgebiet erstrecken und in ihrer konstitutiven Bedeutung nicht ignoriert werden sollten. In chronologischer Reihenfolge sind dies • • •

31

der Fall des dreijährigen Niklas aus München (2000), der von seiner drogensüchtigen Mutter eigenmächtig mit Methadon substituiert wurde und daran starb; der Fall des zweijährigen Ben-Randy aus Delmenhorst (2002), der infolge schwerer Gewalteinwirkung durch seinen Stiefvater starb; der Fall des sechsjährigen verhungerten Dennis aus Cottbus (2004), der nach zweieinhalb Jahren in der Gefriertruhe seiner Eltern gefunden wurde;

Die Begriffe wurden auch hier mit Trunkierungszeichen am Wortende und am -beginn versehen.

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• •

• • •

der Fall des sieben Monate alten Colin aus Duisburg (2004), der an den Folgen der Misshandlungen durch seine Eltern starb; der gewaltsame Tod der vierjährigen Nathalie aus Duisburg (2005) durch ihren Stiefvater; der Fall der siebenjährigen Jessica (2005) aus Hamburg, die jahrelang von ihren Eltern in ihrem Zimmer eingesperrt und vernachlässigt wurde, bevor sie schließlich verhungerte; der Aufgriff von Deniz und Ayline aus dem Landkreis Augsburg (2005), einem sieben und vier Jahre alten Geschwisterpaar, dessen Eltern es auf der Straße leben ließen. Die Kinder mussten um Essen betteln und bei Nachbarn Unterschlupf suchen; der Fund von neun getöteten Säuglingen (2005), die in der Nähe von Frankfurt/Oder in Blumentöpfen vergraben worden waren; der Fall ›Benjamin-Pascal‹ im Jerichower Land (2005), der im Alter von zwei Jahren an Unterernährung starb; der Fall des stark unterernährten vierjährigen Mehmet aus Zwickau (2006), der von seinem Vater zu Tode geprügelt wurde; die Säuglingstode in Berlin und Thüringen (2006) – zwei Babys verdursteten, ein weiteres wurde nicht versorgt; die Hungertode des drei Monate alten Andrés in Iserlohn (2007), der 14 Monate alten Jaqueline im nordhessischen Bromskirchen (2007) sowie der fünfjährigen LeaSophie in Köln (2007); der Fall des zwei Monate alten Säuglings Lukas aus Bremen (2007), der von seinem Vater so schwer misshandelt wurde, dass er mit einem Schädelbruch und Hirnblutungen lebensgefährlich verletzt wurde; die Inobhutnahme zweier verwahrloster fünf- und achtjähriger Kinder in Bremen (2008); die Befreiung eines siebenjährigen Mädchens in Bayersried (2008), das sieben Jahre lang von seinen Eltern eingesperrt worden war, und die Inobhutnahme eines 5-jährigen Jungen aus Bobingen bei Augsburg (2008), der um Nahrung betteln musste; der Fall der verhungerten dreijährigen Sarah aus dem fränkischen Thalmässing (2009); die Rettung eines Säuglings in Illertissen (2010), der kurz vor dem Hungertod stand; der Tod der stark unterernährten zweijährigen Lea aus Tirschenreuth (2010) und des fünfjährigen Julian aus Delligsen (2010) infolge schwerster körperlicher Misshandlungen; der Hungertod der knapp zweijährigen Mia in Spaichingen-Aldingen (2012); der Fall der durch stumpfe Gewalteinwirkung getöteten zweijährige Zoe aus Berlin (2012) und der Fall der an einer Methadonvergiftung gestorbenen elfjährigen Chantal aus Hamburg (2012); der Fall des von seinen Eltern totgeprügelten dreijährigen Yagmur aus Hamburg (2013); der Tod des vernachlässigten zweijährigen Anakin aus Arnsberg (2014) infolge einer massiven Unterernährung; der Fall ›Luca‹ in Viersen (2015), in dem ein fünfjähriger Junge von seinem Stiefvater misshandelt und getötet wurde;

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms



der gewaltsame Schütteltod des zweijährigen Lukas in Mörfelden-Walldorf (2015).

Als auffällig erweist sich hierbei, dass viele der Fälle, die sich vor dem Jahr 2007 ereigneten, erst nach dem Fall ›Kevin‹ bundesweit publik gemacht wurden. Das kann als weiteres Indiz für die Positionierung des Falls ›Kevin‹ als Schlüsselereignis gewertet werden.

3.

Umsetzung der Diskursanalyse als dreischrittiges, relationales Mehrebenenverfahren

Im Hinblick auf die empirische Umsetzung der Feinanalysen sollte nicht unbeachtet bleiben, dass vor allem Diskursanalysen, die sich – wie im vorliegenden Verständnis – an Foucault orientieren, mit nicht unerheblichen Problemen konfrontiert sind. Dies ist unter Berufung auf Schwab-Trapp (2013) vor allem darauf zurückzuführen, dass das konkrete methodische Vorgehen in einigen Punkten sehr theoretisch-abstrakt verbleibt und sich so »gegen eine systematische Umsetzung in der empirischen Analyse« (ebd., S. 34) sperrt. Stäheli und Tellmann (2001) bezeichnen dies auch als gewisse »Vorsicht gegenüber totalisierenden Begrifflichkeiten« (S. 238). Gehring (2004) verweist zudem auf Foucaults sehr aufwendige Arbeitsweise, deren einzelne Schritte darüber hinaus wenig detailliert dargestellt werden und so teilweise auch beliebig erscheinen (vgl. S. 155f.). Es handle sich um ein »Vorgehen, das sich einen Teil seiner Regeln erst unterwegs erfindet, weil es problemorientiert ist und sich auf die konkreten Gegebenheiten eines Gegenstandsfeldes jeweils neu einrichten will« (Gehring 2007, S. 22). Auch Foucault selbst äußert hierzu, dass seine »Bücher eine Art tool-box wären, in der die anderen nach einem Werkzeug kramen können, mit dem sie auf ihrem eigenen Gebiet etwas anfangen können« (Foucault 2003, S. 651). Sein Vorgehen lässt sich daher eher als heuristischen Suchprozess denn als eine konkrete Methode bezeichnen: »Für mich war die Archéologie weder vollständig theoretisch noch vollständig methodologisch. […] Dann können wir uns fragen, was denn die Archéologie ist, wenn sie weder eine Theorie noch eine Methode darstellt. Meine Antwort lautet: Sie bezeichnet gleichsam ein Objekt; sie versucht, die Ebene zu bestimmen, auf die ich mich begeben muss, damit die Objekte sichtbar werden, mit denen ich schon lange umgegangen bin, ohne überhaupt zu wissen, dass es sie gibt, so dass ich sie auch nicht benennen konnte« (ebd., S. 191f.). Dies kann sowohl die Heterogenität diskursanalytischer Konzepte im Anschluss an Foucault als auch die oftmals gänzlich fehlende Methodologie- und Methodenreflexion der Anwender erklären (vgl. Keller 2013b, S. 74; siehe auch Kap. II, 1.3). Gleichzeitig gibt diese Offenheit aber auch die Möglichkeit einer flexiblen und reflektierten Anpassung der Methoden an den Forschungsgegenstand familialer Erziehung. Nach den empirisch-heuristischen Vorarbeiten zur Konkretisierung des Diskursfeldes und der Präzisierung der zu untersuchenden Materialien wurden die konkreten Analysekategorien und -verfahren daher in Anpassung an die Ergebnisse der Voranalysen und den theoretisch-methodologischen Rahmen entwickelt und angepasst. Dies erforderte zunächst

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eine Festlegung von Analysekategorien, die einerseits präzise genug sind, um Strukturen und Ordnungen innerhalb und zwischen den Analyseebenen zu beschreiben, andererseits aber den weiteren empirischen Suchbewegungen und Analysen nicht vorgreifen (vgl. Nohl 2013, S. 117). Entsprechend der Konzeptualisierung unterschiedlicher Rekonstruktionsebenen (vgl. Kap. II, 1.3.5) ist die Feinanalyse letztlich als ein aus mehreren Schritten bestehendes Verfahren angelegt. Es beginnt mit der separierten Rekonstruktion einzelner Strukturen, um darauf aufbauend spezifische Typiken entwickeln zu können (vgl. Nohl 2013, S. 103). Erst daran anknüpfend können die weitestgehend unabhängig voneinander rekonstruierten Wissensstrukturen zueinander in Relation gesetzt werden, um Entwicklungen, Wechselwirkungen und (Neben-)Folgen sichtbar werden zu lassen (vgl. Bittlingmayer 2005; Helsper et al. 2013). Diese Organisation der Analyseschritte kann als eine von Foucault inspirierte ›interpretative Analytik‹32 bezeichnet werden (Diaz-Bone 2005; Dreyfus & Rabinow 1987; Keller 2005). Bei dieser bilden die einzelnen Kategorien das »diskurstypische Interpretationsrepertoire« (Keller 2008a, S. 235), verstanden als »das typisierte Ensemble von Deutungsbausteinen, aus denen ein Diskurs besteht und das in einzelnen Äußerungen mehr oder weniger umfassend aktualisiert wird« (ebd.). Da der eher pragmatische Interpretationsbegriff der interpretativen Analytik nicht an konkrete methodische Verfahren geknüpft ist, erhielt an dieser Stelle vor allem die Frage Bedeutung, wie dieses Analyseverfahren auf den verschiedenen Ebenen und im Hinblick auf die unterschiedlichen Analysekategorien methodischen Anschluss finden kann und inwiefern sich hierbei etablierte Methoden der qualitativen Sozialforschung in das Konzept der Diskursanalyse integrieren lassen. Die Anbindung des Forschungsprogramms an die hermeneutische Wissenssoziologie gestattete zwar den Rückgriff auf ein großes Spektrum fundierter Methoden, diese zielen allerdings häufig eher fallorientiert auf den Vergleich einzelner Situationen und Sinnkonstitutionen und nicht auf die Rekonstruktion diskurskonstituierender Elemente. Das machte zunächst eine Anpassung erforderlich. Vielversprechend erschienen hierbei nicht nur narrative, kategorien- und typenbildende Verfahren aus dem ›Werkzeugkasten‹ der hermeneutischen Wissenssoziologie (vgl. z.B. Hitzler & Honer 1997; Reichertz 1997; Soeffner 1982), sondern auch Anleihen aus dem Forschungsprogramm der ›Grounded Theory‹ (vgl. z.B. Clarke 2012; Glaser & Strauss 1998), der Metaphernanalyse (Schmitt 2014) sowie der thematischen Feldanalyse (Rosenthal 2008) und Ritualanalyse (Turner 1989). Sie ließen sich in diskursanalytischer und gegenstandsbezogener Hinsicht an die stärker dem Poststrukturalismus verpflichtete interpretative Analytik (Diaz-Bone 2005; Dreyfus & Rabinow 1987; Keller 2005) adaptieren, um so auch die oftmals charakteristische Bedeutungseinheit einzelner Fälle und Dokumente aufzubrechen (vgl. Keller 2007a). Die einzelnen Arbeitsschritte und die dabei zum Tragen kommenden Analysekategorien und methodischen Verfahren werden im Folgenden zunächst in ihrer Abfolge umrissen (vgl. Kap. II, 3.1 bis 3.3), bevor

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Unter ›interpretativer Analytik‹ ist eine methodologische Position zu verstehen, die in Bezug auf Foucaults Vorgehensweise von Dreyfus und Rabinow (1987) benannt und inzwischen differenziert weiterentwickelt wurde. Dabei variieren die einzelnen Ausführungen stark zwischen strukturalistischen und hermeneutischen Positionen (vgl. Keller 2007a; Truschkat 2013).

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

sie zusammenfassend in das gesamte Analysespektrum und methodische Vorgehen einer relationalen Mehrebenenanalyse eingeordnet werden (vgl. Kap. II, 3.4).

3.1.

Erster Arbeitsschritt: Die Herausarbeitung diskursiver Wissensund Infrastrukturen

3.1.1.

Das Deutungsmusterkonzept als zentrale Analysekategorie diskursiver Wissensstrukturen

  Das Deutungsmuster und seine gegenstandsbezogene Erweiterung zum Problemmuster Es ist anzunehmen, dass Schlüsselereignisse wie der Fall ›Kevin‹ durch neue Wissensbestände und Grenzziehungen zahlreiche etablierte Wissensstrukturen delegitimieren. Gleichzeitig müssen sie aber auch immer über konstitutive Elemente strukturiert werden, die es aufzuspüren gilt: »Die Grenzverletzung zeigt die Grenze auf, der Normbruch offenbart und reproduziert die Norm« (Bergmann & Pörksen 2009, S. 32). Einen Überblick über die strukturierenden Bestandteile der Anforderungen an familiale Erziehung konnten daher vor allem die sinnkonstituierenden Darstellungen von Handlungen und Verhaltensweisen von Familien und anderen Akteuren im Rahmen von Fällen wie ›Kevin‹ geben. Solche Darstellungen enthalten immer auch bestimmte Erkennungsschemata und Wertbezüge und geben Hinweise auf Ursachenzuschreibungen, erwünschte und unerwünschte (Modell-)Praktiken sowie mögliche Bewältigungsformen von ›Inkompetenz‹. In Anknüpfung an das in der Wissenssoziologie etablierte Konzept des ›Deutungsmusters‹ kann angenommen werden, dass diese Elemente nicht immer in Reinform, sondern oftmals auch als Wissensvorrat in Erscheinung treten, in dem sie bereits zu einem »objektiven Sinngehalt« (Schütz 1993 [1938], S. 279) zusammengeführt und verdichtet worden sind. Sie beschreiben dann den »sozial typischen Sinn einer Äußerung« (Keller 2008b, S. 208). Der Begriff des Deutungsmusters hat eine lange Tradition, die zur Entwicklung sehr unterschiedlicher Entwürfe geführt hat.33 Daher sei die Konzeption der vorliegenden Arbeit im Folgenden kurz erläutert. In der diskursanalytischen Übertragung der wissensanalytischen Strukturkategorie des Deutungsmusters wird vorrangig Bezug auf die neueren Ausführungen von Keller 33

Der Deutungsmusterbegriff geht auf Durkheims Konzept der »kollektiven Repräsentationen« (1989 [1898]) zurück. Es diente dazu, verschiedene Ausprägungen von gesellschaftlichen Normen, Ritualen und sozialen Praktiken auf die »unaufhörliche Repräsentationsarbeit« (Bourdieu 1985, S. 16) der Gesellschaft zurückzuführen. In die Wissenssoziologie wurde das Konzept von Schütz (1993 [1932]) als »Typisierung« eingeführt, in der Schemata der typisierten Wissensvorräte von Erfahrungen und Bewältigungsstrategien zusammengefasst sind. Detaillierter bestimmt und ausgearbeitet wurde es daran anknüpfend z.B. von Oevermann (2001 [1973]), der mit ihm »Konsistenzregeln strukturierter Argumentationszusammenhänge« (S. 5) bzw. ein »Ensemble von sozial kommunizierbaren Interpretationen der physikalischen und sozialen Umwelt« (S. 6) beschreibt. Auch Meuser und Sackmann (1992) haben es aufgegriffen, die Deutungsmuster als »kollektive Sinngehalte« (S. 19) fassen, die auf einer tiefenstrukturellen Ebene angesiedelt und dadurch nur begrenzt reflexiv verfügbar, gleichzeitig jedoch relativ autonom und stabil seien (vgl. ebd.). Seither findet sich eine Vielzahl konzeptioneller Bemühungen und theoretischer Begriffsbestimmungen, die jedoch eher zu einer sehr inkonsistenten heuristischen Entwicklung als zur Etablierung eines einheitlichen Theoriegebäudes geführt haben (vgl. Plaß & Schetsche 2017).

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(2013c) sowie Plaß und Schetsche (2017) genommen. Sie vertreten eine starke wissenssoziologische und alltagsintegrierte Konzeption in der Tradition Schützes (1993 [1932]), legen den Fokus aber vor allem auf kollektive, massenmediale Repräsentationen von Deutungsmustern. Eine zentrale Annahme des vorliegenden Deutungsmusterkonzeptes ist es, dass Individuen in ihrer Sinnkonstitution auf kollektive Wissensbestände zurückgreifen, die ihnen als »Formkategorie sozialen Wissens« (Schetsche & Schmied-Knittel 2013, S. 25) und objektive Wirklichkeit erscheinen. In Anlehnung an Keller (2013a) können Deutungsmuster daher verstanden werden als »grundlegende bedeutungs- und handlungsgenerierende Schemata, die durch Diskurse verbreitet werden und nahelegen, worum es sich bei einem bestimmten Phänomen handelt« (S. 216). Sie erfüllen hierbei vor allem die Funktion der Reduktion von Komplexität und Unsicherheit in Handlungssituationen, indem zugrundeliegende kollektive Erfahrungen mittels in der Regel unbewusst ablaufender Erkennungsschemata in künftigen Situationen antizipiert und genutzt werden können. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der Annahme einer immer stärker kommunikativ geformten Kultur relevant, die ehemals stabile ›Wahrheiten‹ durch gesellschaftlichen Konsens substituieren muss und somit auch Unsicherheit und Widersprüche produziert. Hier bildet das Deutungsmuster eine geeignete Kategorie zur Analyse kollektiver Wissensbestände im Hinblick auf die Inhalte und Anforderungen, die mit familialer Erziehung verbunden sind bzw. in Zusammenhang gebracht werden: »Je mehr eine soziale Gruppe aber auf Werte wie Demokratie und Mitbestimmung setzt, desto wichtiger wird der sprachliche Argumentationsprozess und auch die sprachliche Form von Sinnformeln« (Geideck & Liebert 2003, S. 9). Hinsichtlich der öffentlichkeitswirksamen Skandalisierung familialer Erziehung im Kontext von – als soziales Problem verstandenen – Fällen wie ›Kevin‹ eröffnet bereits der klassische symbolische Interaktionismus mit seiner Analyse sozialer Problemkarrieren in öffentlichen Arenen relevante Ansatzpunkte dafür, den klassischen Deutungsmusteransatz auf alltägliche soziale Probleme zu erweitern und zu spezifizieren, ohne dies jedoch systematisch zu entfalten (vgl. Keller 2008a, S. 15). Detaillierte Weiterführungen zur Konzeption eines entsprechenden ›Problemmusters‹ finden sich bei Schetsche (2014) sowie Stallberg und Springer (1983). Problemmuster werden hierbei als Phänomene begriffen die »1) größere Gruppen von Gesellschaftsangehörigen (bis hin zur Gesamtbevölkerung) in ihrer Lebenssituation beeinträchtigen, 2) öffentlich als veränderungsbedürftig definiert und 3) zum Gegenstand spezieller Programme und Maßnahmen gemacht werden« (Stallberg & Springer 1983, S. 14). Im Rahmen der empirisch-heuristischen Vorarbeiten konnte bereits deutlich gemacht werden, dass diese Faktoren alle auf das Phänomen familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ im Rahmen der massenmedialen Verhandlungen des Falls ›Kevin‹ und vieler weiterer Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zutreffen (vgl. Kap. II, 2.2). Ähnlich wie bei Oevermann (2001 [1973]) sind Problemmuster als spezielle Form des Deutungsmusters somit stark an problematische oder krisenhafte Situationen und Begebenheiten gebunden, die mithilfe solcher Deutungs- bzw. Problemmustern bearbeitet werden können. Im Vergleich zu Oevermann geht es Stallberg und Springer (1983) und insbesondere Schetsche (2014) jedoch weniger um die Verankerung einer Deutung in bestimmten Lebenswelten als vielmehr um die Strukturierung des Diskurses durch bestimmte

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Muster, die als theoretische Kategorie Stützen und Orientierungen geben, wenn die symbolische Sinnwelt zum Problem wird (vgl. S. 107ff.). Als zentraler Indikator eines Deutungsmusters dienen Hinweise auf Inkonsistenzen, die aufgrund ihrer Alltäglichkeit häufig nicht unmittelbar sichtbar sind und daher samt ihrer Gültigkeitskriterien rekonstruiert werden müssen. Die Konzeption diskursiver Wissensstrukturen als Deutungsmuster konnte somit dabei behilflich sein, die eruierten problematisch erscheinenden Wissensbestände nicht bloß affirmativ zu reproduzieren, sondern auch die zugrundeliegenden Logiken zu explizieren, auf die sich eine Deutung bezieht, und diese begrifflich zu fassen. Die Metapher als spezifisches Deutungsmuster bildhafter Repräsentationen In Prozessen der Bedeutungszuschreibung ist die alltägliche Metaphorik von Sprache und Bildern oftmals so allgegenwärtig, dass unbemerkt bleibt, in welchem Maße sie sowohl die Gesellschaft als auch die Individuen beeinflusst. Spieß (2014) spricht in diesem Zusammenhang unter Berufung auf Nerlich (2005) von speziellen Diskursmetaphern, die innerhalb eines Diskursfeldes besondere Bedeutung erhalten. Sie prägen in ihrem Wirkungsgrad nicht nur die Ordnungsstruktur eines bestimmten Diskurses, sondern können darüber hinaus auch andere Felder beeinflussen (vgl. Spieß 2014, S. 46). Der Sprachwissenschaftler Lakoff (2006) ist ebenfalls davon überzeugt, dass Metaphern Deutungen entscheidend verändern können. So haben ihm zufolge die ersten Aussagen zu Anschlägen im Irak zur Metapher ›war on terror‹ geführt und letztlich auch zum Dritten Golfkrieg. Auch wenn diese These umstritten ist, so gilt es doch als weitgehend unbestritten, dass Metaphern öffentliche Diskurse entscheidend beeinflussen können. In klassischer sprachwissenschaftlicher Definition ist die Metapher ein »verkürzter Vergleich, der auf außersprachliche Ähnlichkeit rekurriert« (Haverkamp 1996, S. 19). Um ihre Funktionalität zu gewährleisten, müssen Metaphern als kollektiv und lebensweltlich erlernte Muster zur Verfügung stehen, die das Denken und Handeln vorprägen und gleichzeitig den Ausgangspunkt kognitiver Transformationen bieten: »Das Verstehen alltäglicher metaphorischer Redewendungen ist wichtig für die kompetente Teilhabe an der uns umgebenden Kultur. Wir müssen davon ausgehen, dass Metaphern neben überindividuellen und kulturübergreifenden leiblichen Motivationen häufig kulturspezifische Wissensbestände (auch in Form von Stereotypen u.Ä.) zugrunde liegen […], deren Verstehen ein wichtiger Bestandteil kultureller Bildung darstellt« (Gansen 2011, S. 169). Als kollektive Symboliken variieren metaphorische Konzepte dann nicht nur nach dem jeweiligen Kulturkreis, sondern auch nach dem entsprechenden Zeitgeist und Diskursfeld. Oder in den Worten von Lakoff und Johnson (2003): »Die elementarsten Werte einer Kultur sind mit der metaphorischen Struktur der elementarsten Konzepte dieser Kultur kohärent« (S. 31), d.h., die Wirklichkeit wird insbesondere im Hinblick auf alltägliche Phänomene wie familiale Erziehung und Elternschaft in hohem Maße von kulturellen Metaphoriken strukturiert, die Diskurse vernetzen und legitimieren und somit als »rekonstruktionslogischer Schlüssel« (Kruse et al. 2011, S. 52) auch zentral für Konstitutions- und Transformationsprozesse von Phänomenen sind. Auf die große Relevanz metaphorischer Übertragungen im Rahmen von Legitimierungs- und Kon-

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stitutionsprozessen haben bereits Durkheim und Mauss (1993 [1902]) im Rahmen ihrer Konzeption primitiver Klassifikation verwiesen und auch Berger und Luckmann (1980) [1969]) greifen die Möglichkeit einer phänomenologischen Metaphernanalyse zur Erschließung alltäglicher Objektivationsprozesse auf (vgl. S. 22f.). Umso erstaunlicher erscheint es, dass eine fundierte sozialwissenschaftliche Re-Interpretation der eher linguistisch orientierten Metaphernanalyse bislang weitgehend ausgeblieben ist, scheinen wir doch »auf Metaphern und Bilder angewiesen [zu sein], wenn wir etwas als etwas erkennen wollen« (Münkler 1994, S. 7). Vor allem die sozialwissenschaftliche Pragmatik der Metaphernverwendung findet bislang wenig Beachtung bei der Rekonstruktion von Wissensstrukturen (vgl. Schmitt 2014, S. 13). Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Lüdemann (2004): »Die strenge Trennung von Begriff und Metapher, Vernunft und Imagination, Logos und Mythos, wie sie die Rhetorik der Aufklärung seit jeher als möglich verkündet und gefordert hatte, ließ Metaphorik in der Wissenschaft allenfalls als Vorfeld der Begriffsbildung, als Behelf in der noch nicht konsolidierten Situation von Fachsprachen erscheinen. Diese Situation hat sich seither teilweise, wenn auch nicht grundlegend, geändert« (S. 23). Vor allem in den Erziehungswissenschaften sind pädagogische Praktiken mit Schulze (1990) aufgrund ihrer Nähe zum lebensweltlichen Denken und Handeln noch lange Zeit stark mittels Sprachbildern veranschaulicht worden (z.B. Tätigkeiten des Gärtners, Töpfers etc.). Im Zeitverlauf sind sie dann aber zunehmend durch abstraktere Begrifflichkeiten ersetzt worden. Diesen Wandel erklärt sich Schulze analog zu Lüdemann vor allem mit der Furcht der erziehungswissenschaftlichen Disziplin, bei weiterer Nutzung vorbegrifflicher Sprache einen Reputationsverlust zu erleiden (vgl. ebd., S. 100f.). Unabhängig davon ist jedoch anzunehmen, dass sich die Verwendung solcher Sprachbilder im alltäglichen Sprachgebrauch erhalten hat und dort wichtige konstitutive Funktionen erfüllt, die bei der Analyse solcher Diskursfelder berücksichtigt werden sollten. Hierbei war zu erwarten, dass sich vor allem Auseinandersetzungen mit Fällen wie ›Kevin‹ nicht nur durch eine starke emotionale Aufladung auszeichnen, sondern auch durch dichte metaphorische Darstellungen gekennzeichnet sind (vgl. Eisch-Angus 2018; Kaufmann 1970). Vereinzelte Versuche einer Einbettung der Metaphernanalyse in die (Wissens-)Soziologie zeigen sich z.B. bei Junge (2014), Kruse et al. (2011), Maasen und Weingart (2000) oder Schmitt (2004). Laut Kruse et al. (2011) sind Metaphern vor allem als »Symbol- bzw. Zeichensystem im Zusammenhang mit der Repräsentation von Welt und Wirklichkeit« (S. 7) zu sehen und »nicht – wie üblicherweise in der Literatur oder im Alltagsgebrauch – als ein spezifisches rhetorisches Stilmittel« (ebd.). Aus wissenssoziologischer Perspektive stellt Metaphorizität dann keine eindeutige, stabile Eigenschaft eines Begriffes dar, sondern formt sich relativ zu seinem Kontext als flüchtiger Zustand: »Typischerweise versucht ein Diskurs dadurch einer Metapher einen für ihn spezifischen Sinn zu verleihen, dass er sie weitestgehend in sein Vokabular, seine Methoden usw. integriert. Genau durch diese Maßnahmen macht der Diskurs aus der ›lebendigen‹ Metapher‹ eine ›tote‹ – sie wird zum regulären (Wissens-)bestandteil des Diskur-

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ses. Kann ein Diskurs aus einer Metapher keinen Sinn heben, wird sie ausgesondert. Genau zwischen diesen beiden Möglichkeiten liegt der Bereich diskursiver Innovationen: Die Metapher kann nur um den Preis rezipiert werden, dass sich der Diskurs selbst modifiziert« (Maasen 2009, S. 72). Die Bündelung einzelner Sprachbilder zu Metaphernkonzepten wäre somit als weitere spezielle Form des Deutungsmusters zu verstehen. Sie kann als Teil der Sprach- und Bildkultur vor allem Hinweise auf symbolische Ordnungsstrukturen, emotionale Ladungen, soziale Wandelprozesse und normative Relevanzsetzungen geben – Elemente, die in vielen anderen Konzeptionen des Deutungsmusters eher unberücksichtigt bleiben. In der vorliegenden Analysearbeit wurde daher der Versuch unternommen, Metaphern nicht isoliert zu verhandeln, sondern als integralen Bestandteil von Deutungsmustern zu verstehen, der immer auf einen größeren Sinnzusammenhang verweist und empirisch als Variante des Deutungsmusters bearbeitbar gemacht werden kann. Die Positionierung von Subjekten als typisierte und musterhafte ›Identitätsschablonen‹ Des Weiteren war zu erwarten, dass sich gerade bei der Betrachtung des skandalträchtigen Falls ›Kevin‹ neben Ursachenzuschreibungen, Wertbezügen und Bewältigungsmustern der Problematisierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ sowie neben deren bildhafter Repräsentation ein besonders starker Subjektbezug im Hinblick auf Familien zeigt, da nur so eine skandaltypische Infragestellung und Defizitperspektive erfolgen kann: »Ein skandalisierter Beteiligter ist maßgeblicher Bestandteil einer erfolgreichen Skandalisierung« (Ludwig & Schierl 2016, S. 20). Solche diskursiven Subjektkonstitutionen vollziehen sich gemäß Keller (2008a, 2012b) entlang verschiedener a) Subjektpositionen als modellhaften Positionierungsvorgaben und Adressierungen sozialer Akteure durch »Subjektkonzeptionen und daran geknüpfte Handlungsschemata, die im Diskurs formuliert werden« (Keller 2008a, S. 208) (Fremdverständnis, Fremdführung), und entlang von b) Subjektivierungsweisen bzw. der tatsächlichen Subjektivierung als Reaktion der Adressaten auf die herangetragenen Subjektpositionen (Selbstverständnis, Selbstführung) (vgl. ebd.).

Konzeptionell sind die Kategorien der Subjektposition und der Subjektivierungsweise in der Analysearbeit unbedingt zu trennen. Subjektpositionen stellen in erster Linie Deutungen typisierter Akteure dar, an die bestimmte typische Erwartungen und (Kompetenz-)Anforderungen gestellt werden. Sie werden den Beteiligten im Diskurs angeboten und knüpfen an den von Althusser (1977) geprägten Begriff der »sozialen Anrufung« (S. 140) an.34 Keller (2013a) spricht an dieser Stelle auch von »Identitätsschablonen« (S. 217) und Foucault (1988 [1966]) von »Dubletten« (S. 384), die diskursiv

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Der Begriff der ›sozialen Anrufung‹ stellt einen zentralen Ausgangspunkt in Althussers Ideologiekonzept dar. Er beschreibt die Prozesse, in denen sich das Individuum Ideologien unterwirft oder ihnen unterworfen wird. Individuen werden hierbei durch Adressierung bzw. Ansprache als Subjekte konstituiert (vgl. hierzu ausführlicher Althusser 1977).

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erzeugt und mittels derer Subjekte adressiert werden. In ihrer Positionierungsfunktion bündeln sie Wissensvorräte und Motive, in ihrer Bildfunktion verdeutlichen und repräsentieren sie – ähnlich wie Metaphern – diese Positionen, wodurch sie ebenfalls als weitere spezielle Form des Deutungsmusters gefasst werden können. In ihnen werden – bezogen auf die vorliegende Thematik – Anforderungen an Familien »unabhängig vom konkreten Einzelnen als funktionale Einheiten, als Rollenerwartungen verfestigt« (Hitzler 1988, S. 48). Die konkreten Inhalte müssen hierbei nicht zwingend den Handlungsimplikationen des entsprechenden thematischen Diskursfeldes entspringen, sondern können auch aus diskursexternen Entwicklungen und Wissensformen hervorgehen und ebenso wie Deutungsmuster in ihrer Sinnkonstruktion durchaus pluralistisch und widersprüchlich sein. Diskursive Subjektpositionierungen müssen als handlungsanleitende Deutungsmuster auch nicht unbedingt identisch mit den tatsächlichen Subjektivierungsweisen sein, d.h., sie beschreiben nicht zwingend die tatsächlichen Eigenschaften und Handlungsrealisationen der Subjekte, sondern stellen vielmehr eine Zuschreibung dar. Da das Subjekt in der vorliegenden Diskursperspektive nicht als bloße Ausführungsinstitution von Deutungen verstanden, sondern ihm auch die Agency zugestanden wird, reflexiv auf diese Deutungen und auf sich selbst einzuwirken (vgl. Kap. II, 1.3.2), vermag es die generierten Subjektpositionen in seinem Handeln zu stabilisieren, aber auch zu negieren oder zu transformieren. Somit kann die Kategorie der diskursiven Praktiken zur Ebene der Sinn- und Subjektkonstitution gezählt werden, als »kollektive Aufsummierung von Einzelhandlungen« (Hörning 2004, S. 144) bzw. »übersubjektive Handlungskomplexe« (ebd.), die Wissensordnungen zum Phänomen familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ bedingen und verdeutlichen. Dadurch weisen sie nicht nur einen deutlichen konstitutiven Charakter auf, sondern beschreiben auch eine performative Ebene. Hierzu zählen neben Subjektpositionen als diskursgenerierten Modellpraktiken, die Subjektangebote bereitstellen, auch routinierte und vorreflexive Alltagshandlungen, die auf impliziten und vorgängigen Wissensbeständen und Handlungszusammenhängen beruhen und diskursiv sichtbar werden. Die Konstitution des Subjekts kann daher sowohl als Effekt von Diskursen als auch – als Produzent im Zuge der Subjektivierung – als eigenwilliger Akteur (vgl. Bosančić 2013, S. 189; Bührmann 2012, S. 146) rekonstruiert werden.

3.1.2.

Die diskursive Infrastruktur als Strukturkategorie institutionalisierten Wissens

Neben diskursiven Wissensstrukturen und deren Verbindung zu Deutungsmustern stellen institutionalisierte Prozesse und Artefakte als Teile der vergegenständlichten Wirklichkeit wesentliche Faktoren der diskursiven Ermöglichung und Begrenzung dar. Als solche enthalten sie nicht nur Wissensbestände und Handlungsmuster, sondern konstruieren und transportieren auch sinn- und identitätsstiftende Bestandteile und bieten den Beteiligten so einen Orientierungsrahmen, der auf die Wahrnehmung familialer Erziehungsleistungen und den Umgang mit ihnen in Fällen wie ›Kevin‹ wirkt. Zur diskursiven Infrastruktur zählen beispielsweise konkrete Objektivationen von Diskursen, die sich in Form juristischer Regelungen, architektonischer Gebäude oder auch alltäglicher Gegenstände zeigen. Diese Ordnungsstrukturen gehen entweder

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unmittelbar aus der Problematisierung bzw. den Wissensstrukturen der Sinn- und Subjektkonstitutionen hervor oder müssen als bereits bestehende Objektivationen mit dem Problem verbunden werden, denn wenn es für ein soziales Problem keine institutionalisierte Zuständigkeit gibt, fehlen nicht nur Adressaten, an die Bewältigungsvorschläge gerichtet werden können, sondern es fehlen auch Technologien, um entsprechende Maßnahmen einzuleiten (vgl. Anton 2018, S. 81; Groenemeyer 2010, S. 33). Anhand der empirisch-heuristischen Vorarbeiten lässt sich vermuten, dass solche Objektivationen im vorliegenden Diskursfeld vor allem durch Institutionen und Maßnahmen sowie diverse Gesetzgebungen im Rahmen des Kinderschutzes repräsentiert werden, die mittels der Kategorie der »materiellen Infrastrukturen« (Keller 2007a) erfasst werden können. Ein solches Ensemble objektivierter Ordnungsstrukturen entsteht nicht autonom im luftleeren Raum, sondern ist – vor allem im Rahmen von Verhandlungen etablierter Phänomene wie familialer Erziehung oder Kindesmisshandlung – immer auch eingebettet in historische, gesellschaftliche und kulturelle Prozesse (vgl. Keller 2012a, S. 213). Daher vollziehen sich auch die Organisations- und Legitimationsprozesse familialer Erziehung nicht ausschließlich über gegenwärtige Deutungen, Artefakte und Beziehungsgefüge verschiedener Akteure. Sie stabilisieren und transformieren sich vielmehr im Zeitverlauf in Abhängigkeit vom jeweiligen sozialen und kulturellen Rahmen, der mit darüber entscheidet, was thematisierbar ist und welchen Verbreitungsgrad ein Problem in der Öffentlichkeit erhält. In der Annahme, dass familiale Erziehung als »alltägliche Lebensführung« (Diezinger 2008) in eine Vielzahl solcher kulturellen, habituellen, sozialpolitischen und ökonomischen Kontexte eingebettet ist, müssen diese als diskursive Infrastruktur mitgedacht werden. Der Wirkungszusammenhang von ›materiellen Infrastrukturen‹, d.h. die ihnen zugewiesene Bedeutung und ihre alltagskontextuelle Einbettung, ist dabei in zwei Richtungen zu betrachten: Es gibt »die Wirkungen des sozialen Kontextes auf das Artefakt (durch die Herstellung und den Gebrauch) sowie die Wirkungen des Objektes auf den sozialen Kontext (z.B. Bedeutung und Verwendung in sozialen Beziehungen)« (Lueger 2010, S. 99). Zu berücksichtigen ist daher insbesondere der Anlass des erzeugten Artefaktes sowie dessen Verwendung in verschiedenen sozialen Kontexten. Dabei können die Elemente so miteinander verzahnt sein, dass eine eindeutige Zuordnung nicht immer möglich ist (vgl. ebd., S. 102f.). In diesem Zusammenhang war in der vorliegenden Untersuchung auch auf die diskursive (Un-)Sichtbarkeit spezifischer Praxen und struktureller Veränderungen zu achten, denn Praktiken vermögen selbst in ihrer Unsichtbarkeit – oftmals unbewusst und unkontrolliert – neue Wissensbestände zu legitimieren und alte, labile Ordnungsstrukturen entsprechend zu delegitimieren oder aber auch bereits vergessene Wissensbestände als Ausdruck von »accountability« (Giddens 1979, S. 56) wieder in Erscheinung treten zu lassen (vgl. Bührmann & Schneider 2008, S. 50; Jaeggi 2014, S. 96; Keller 2008a, S. 256ff.).

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3.1.3.

Der Einsatz kode- und typenbildender Verfahren zur vorbereitenden Strukturierung und Verdichtung des Materials

Die ersten Analyseschritte bewegten sich innerhalb der beschriebenen Ebenen der diskursiven Wissens- und Infrastrukturen und zielten vorrangig auf die Rekonstruktion von Wissensbeständen, die über sprachliche und symbolische Aussagen generiert und anschließend teils zu Deutungsmustern gebündelt werden. Die Herausarbeitung solcher Strukturelemente konnte theoretisch und empirisch mit dem Kodierungsansatz der Grounded Theory (vgl. z.B. Clarke 2012; Glaser & Strauss 1998) verbunden und so fruchtbar gemacht werden. Dazu wurden die einzelnen Strukturelemente als Kodierfamilien im Sinne eines heuristischen Rahmens bzw. einer heuristischen Suchstrategie eingesetzt, um als Kodes die theoretische Sensibilität für relevante Bedeutungsinhalte und Materialitäten im Hinblick auf das anvisierte Erkenntnisinteresse zu schärfen, die dann empirisch verfeinert und erweitert werden konnten. Im Rahmen der kombinierten Anwendung von Verfahren der Grounded Theory und der interpretativen Analytik (Diaz-Bone 2005; Dreyfus & Rabinow 1987; Keller 2005) war es möglich, sich dem empirischen Material theorie- und regelgeleitet zu nähern. Während die Grounded Theory empfiehlt, das Material zunächst in einzelne Sinnsegmente aufzulösen und diese neu zu kategorisieren, um so Ordnungen zu generieren und explizit zu machen, geht die interpretative Analytik umgekehrt von bereits implizit in den Aussagen enthaltenen Ordnungsstrukturen als Bestandteilen eines Diskurses aus. Die Kombination der beiden Ansätze ermöglichte daher ein gegenseitiges Annähern, wobei mittels der interpretativen Analytik erste Vorannahmen zur Strukturierung des Materials genutzt werden konnten, die den Umgang mit dem umfangreichen Korpus aus forschungsökonomischer Perspektive immens erleichterten. Die Grounded Theory wiederum konnte gleichzeitig für das Entdecken weiterer Strukturen sensibilisieren, von denen aus dann wiederum abstraktere Ordnungen eruiert und generiert werden konnten, um die Ebene einzelner Aussagen und Dokumente allmählich zu verlassen und dabei auch latentes Wissen und Leerstellen zu explizieren. Die Überführung bereits generierter Strukturelemente in ausdifferenziertere Kodierungen konnte die diskursanalytische Übertragung des Verfahrens somit handhabbarer machen und ermöglichte eine reflektierte Interpretation der Produktion und Reproduktion von Deutungen und Symbolen, die kategorial Anschluss findet an formale Theorien (vgl. Truschkat 2013). Als eine wesentliche Bedingung für die erfolgreiche Kombination der interpretativen Analytik mit dem Ansatz der Grounded Theory in diesem ersten Analyseschritt sind die methodologischen Gemeinsamkeiten zu erachten. So teilen beide Ansätze das gemeinsame Ziel, Bedeutungsdimensionen bzw. typische und alltägliche Bestandteile kontrastiv und komparativ zu erfassen, wobei sie beide den Anspruch erheben, interpretativ erklären zu können, warum ein Phänomen auf bestimmte Art und Weise in Erscheinung tritt. Zudem erlauben beide Verfahren den Rückgriff auf ein vielfältiges Methodenrepertoire, »ohne an spezielle Datentypen, Forschungsrichtungen oder theoretische Interessen gebunden zu sein« (Strauss 1991, S. 29). Die Verfahren schließen sich folglich nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig. Dabei ging es in der vorliegenden Umsetzung im Gegensatz zur Zielsetzung der Grounded Theory weniger um die Theorieentwicklung als um eine zirkuläre und kontrastierende Rekonstruktion der

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Wissenselemente auf verschiedenen Ebenen des massenmedialen Diskurses um familiale ›Erziehungs(in)kompetenz‹ im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹. Die Generierung der Kodes erfolgte im Wesentlichen auf der Basis der vorangegangen Ausführungen und in Anlehnung an Schetsche (2014) anhand von sieben idealtypischen Strukturelementen: (1) die Benennung des problematischen Sachverhaltes, (2) das Erkennungsschema mit seinen Identifikationsmerkmalen und Alltagspraktiken, (3) die Beschreibung des Problems in Abgrenzung zu anderen Phänomenen sowie den darin enthaltenen Ursachenzuschreibungen, Verbreitungsgraden, Schuldzuweisungen und Subjektpositionen, (4) die Bewertung des Problems und der zugrundeliegende Wertebezug, (5) die generellen Bekämpfungsvorschläge und die darin adressierten Akteure, (6) die konkreten Handlungsanleitungen, (Modell-)Praktiken und Regelsysteme sowie (7) affektive und symbolische Bestandteile, insbesondere in ihrer Verwendung als Metaphernkonzepte und Diskursstrategien (vgl. S. 111ff.). Obwohl Foucaults interpretative Analytik kaum standardisiertes methodisches Handwerkszeug bereitstellt, konnten neben weiteren Elementen der diskursiven Infrastruktur (vgl. Kap. II, 3.1.2) auch seine gegenstandsbezogenen »Formationen des Diskurses« (1981 [1969]) als »abgrenzbare Diskursgruppierungen« (Keller 2013a, S. 209) dienen. Sie halfen dabei, einen Bruch mit dem »spontanen subjektiven Deuten und Verstehen zu ermöglichen« (Fegter 2013, S. 116) und die einzelnen Elemente schließlich zu Deutungsmustern zu verdichten (vgl. Bosančić 2014, S. 295; Keller 2004, S. 100ff.; Kruse et al. 2011, S. 68; Maasen 2009, S. 73f.). Hierfür wurden in Anlehnung an das Deutungsmusterkonzept und das Grundgerüst der Metaphernanalyse nach Schmitt (2014) Sprachbilder gesammelt und katalogisiert sowie Stellen mit auffälliger symbolischer und metaphorischer Dichte aufgespürt. Darüber hinaus konnten während dieser Kodierungs- und Typisierungsprozesse bereits erste Hinweise auf diskursive Entwicklungslinien, Differenzierungsprozesse und (Neben-)Folgen gewonnen und in Form von Memos festgehalten werden. Das Material wurde in diesem ersten Schritt somit auf der Basis des theoretischen Vorwissens, der Ergebnisse der ersten empirisch-heuristischen Suchbewegungen sowie verschiedener diskursiver Strukturelemente und Formationen in Kombination von Induktion und Deduktion sukzessiv entlang verschiedener heuristischer Strukturelemente und diskursiver Formationen zu gegenstandsbezogenen Kodes generiert, wobei die konkreten Dimensionen erst am empirischen Material rekonstruiert wurden. Dieser erste Arbeitsschritt kann auch als vorbereitendes Verfahren der beiden weiteren Schritte erachtet werden. Zu fragen war hierbei, was im Kontext der massenmedialen Verhandlung von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung unter besonderer Berücksichtigung des Falls ›Kevin‹ unter Familie, Erziehung und Kindheit verstanden wird und welche Wissensordnungen und Subjektkonstruktionen hierbei konstitutiv sind bzw. durch welche Charakteristika sich diese auszeichnen. Darüber hinaus musste sich der Blick darauf richten, ob und warum Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ als problematisch angesehen werden und von welchen Ursachen hierbei ausgegangen wird. Weiter ging es darum, anhand der vorliegenden Dokumente zu rekonstruieren, welche Folgen dem Problem jeweils zugeschrieben, mit welchen Vorstellungen familialer Fähigkeiten und Verantwortlichkeiten sie diskursiv kurzgeschlossen und welche Praktiken und Handlungsanleitungen im Kontext von

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Fällen wie ›Kevin‹ mittels welcher Darstellungstechniken transportiert werden. Hierbei war vor allem auf materielle Infrastrukturen, Objektivationen, Symboliken und Legitimierungen sowie deren Anwendung und die zugrundeliegenden Logiken zu achten, die im Allgemeinen in einem nicht unerheblichen Maße zum Erfolg einer Deutung beitragen (vgl. Schetsche 2014, S. 118f.).

3.2.

Zweiter Arbeitsschritt: Die komparative Rekonstruktion narrativer Leitkonzepte

Während die Herausarbeitung diskursiver Wissens- und Infrastrukturen sowie deren Bündelung zu verschiedenen Formen von Deutungsmustern stark an die Eigenlogiken der daran geknüpften Wissensordnungen gebunden bleibt, können mittels der Kategorie der ›narrativen Strukturen‹ (Arnold et al. 2012; Glasze 2008; Viehöver 2001) die einzelnen rekonstruierten Elemente und deren Verläufe stärker in Beziehung zueinander gesetzt werden. Dieser wissensanalytischen Kategorie liegt die Vorstellung zugrunde, dass Diskurse narrativ in zusammenhängenden Argumentationslinien strukturiert werden, die dann als ›Narrationslinien‹ oder »Story-Lines« (vgl. Keller 2007a) zu einer geschlossenen Erzählung verbunden werden können (vgl. Kap. II, 1.3.4). Vor allem in massenmedialen Diskursen ist ein solches ›Storytelling‹ als spannende und unterkomplexe Unterhaltungsform zu erwarten, bei der sich spezifische narrative Ausformungen herausbilden. Aus diesen wiederum gehen bestimmte Konstruktionen familialer Erziehung hervor, die letztlich auch über Wandlungsimpulse und (Neben-)Folgen entscheiden (Fuchs 2015; vgl. auch Kap. II, 1.3.4). In Abgrenzung zum Deutungsmusterkonzept ging es bei der Rekonstruktion solcher Narrationslinien jedoch nicht nur darum, konsistente Muster bzw. Argumentationslinien hinsichtlich familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ herauszuarbeiten. Vielmehr sollten zudem Hinweise auf Spannungen, deutungsübergreifende Ordnungen sowie etwaige Lücken und Leerstellen ermittelt werden. Denn entsprechend der Auffassung, dass bestimmte Phänomene aus widersprüchlichen Traditionslinien und narrativen Strukturen hervorgehen, werden Problemwahrnehmungen immer dann eingeleitet, wenn unterschiedliche oder gar widersprüchliche Wissensbestände und Deutungsmuster in den Mittelpunkt des Interesses geraten und die massenmediale Wahrnehmung anleiten. Spannungen entstehen mit Jaeggi (2014) insbesondere dann, wenn neue Wissensstrukturen hinzukommen, die nicht zu den bislang etablierten Elementen oder dem bestehenden Deutungsrahmen eines Themas passen, und wenn die schlechte Passung dann zu Konflikten führt, die bisherige Selbstverständlichkeiten ins Wanken bringen (vgl. S. 114). Vor dem Hintergrund der Hypothese, dass soziale Probleme ihre Geltungskraft aus ihrer »lebensweltlichen Authentizität« (Oevermann 2001, S. 20) beziehen, müssen Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung somit zunächst einen Bruch im Fundament etablierter Deutungen familialer Erziehung erzeugen, der die Subjekte dazu zwingt, über die »bisher als selbstverständlich erachteten kulturellen Erfahrungen nachzudenken« (Turner 1989, S. 64) und Familien als selbstverständliche Orte des Aufwachsens in Frage zu stellen. Demzufolge kann gerade »der ›Aufstieg und Fall‹ sozialer Probleme nicht nur über das zugrunde gelegte Problem selbst aufklären, sondern auch unschätzbare Einsichten in

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Prozesse des sozialen Wandels liefern« (Groenemeyer 2012, S. 105). Dies implizierte für die Analyse, dass die rekonstruierten Elemente immer auch in Beziehung zu den materiellen Infrastrukturen sowie zu den historischen und zeitgenössischen Kontexten reflektiert werden mussten, in die sie eingebunden sind, um die zugrundeliegenden mannigfaltigen symbolischen Prozesse und Semantiken aufzudecken, die sich jenseits solcher Rekonstruktionsleistungen kaum erschließen lassen (vgl. Bosančić 2014, S. 207; Schetsche 2014, S. 48). In der konkreten Analysearbeit wurden daher insbesondere Konsistenzen und Widersprüche der Sinn- und Subjektkonstitutionen kontrastiert, über die eine (strategische) Verbreitung und Etablierung von Deutungsmustern und Materialitäten sichergestellt wird. Dabei richtete sich der Blick auch gezielt auf Verbindungslinien zwischen den Deutungsmustern und den institutionalisierten Praktiken (z.B. Maßnahmen und Gesetze) als ›materiellen Infrastrukturen‹, in denen die »performative Kraft« von Wissensordnungen sichtbar wird (Schetsche & SchmiedKnittel 2013, S. 42f.). Die kontextuale Relation zielte vor allem auf die Rekonstruktion übergeordneter Zentralmetaphoriken und Leitkonzepte narrativer Sinnstiftung, die verschiedene Strukturelemente und Deutungsmuster strategisch und zielgerichtet verknüpfen. Da narrative Repräsentationen zumeist stark metaphorisch geprägt sind, konnten vor allem die bereits auf der ersten Ebene eruierten metaphorischen Elemente den Zugang zu solchen Leitkonzepten erleichtern. In Anlehnung an Hroch (2003) wurde der Blick jedoch auch hier weniger auf einzelne Metaphern als vielmehr auf metaphorische Konzepte gelenkt. Hintergrund dieser Fokussierung war die Annahme, dass die einzelnen Metaphern als Bereiche eines Konzeptes (z.B. die Fahrzeugmetapher und die Flugzeugmetapher als Bestandteile des Maschinenkonzeptes) zwar über jeweils eigene Referenzbereiche verfügen, denen auch entsprechende Referenzsubjekte, Signata und Zielbereiche zugeordnet werden können, sich hinter diesen einzelnen Bestandteilen jedoch gemeinsame semantische Kontexte und Vorstellungen verbergen. Die Zusammenführung einzelner Metaphern in übergeordnete Konzepte konnte so nicht nur auf zentrale Leitkonzepte narrativer Sinnstrukturen verweisen, sondern auch Hinweise auf konkurrierende Konzepte und Inkonsistenzen geben sowie das Risiko einer Überinterpretation von Einzelmetaphern abmildern (vgl. Hroch 2003). Gleichzeitig ermöglichte dies eine stärkere kontextuelle Einbettung der im ersten Arbeitsschritt rekonstruierten Deutungsmuster und Diskursstrategien in andere metaphorische Felder und Wissensbereiche, wodurch auch Schnittstellen und ›Diskursverschränkungen‹ sowie komplexe Erzählfiguren aufgezeigt werden konnten (vgl. Keller 2008b; Zepter 2013). Hinweise zu Brüchen und Schwellenzuständen einer angeblichen Krise von Familie und familialer Erziehung konnten dann mittels Turners symbolischer Ritualtheorie (1989) theoretisch fundiert erfasst und sozial verortet werden. Vor allem Turners Konzept der Liminalität konnte an dieser Stelle genutzt werden, um narrative Strukturen in ihrer kulturellen Verfestigung mit dem sozialen und gesellschaftlichen Kontext in Verbindung zu bringen.35 35

Das Liminalitätskonzept wurde von Turner (1998) geprägt und ist Teil einer Übergangsphase, in der sich soziale Akteure befinden, wenn sie sich von etablierten Ordnungen gelöst haben. Turner unterscheidet hierbei in Anlehnung an van Gennep drei Phasen: die Trennungs-, die Schwellen-

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Wie bereits angedeutet, ist davon auszugehen, dass neben historischen und gesellschaftlichen Kontexten immer auch bewährte Deutungen aus anderen Diskursfeldern Einfluss auf die Problemwahrnehmung und deren Narration nehmen. Dies erfolgt über die Adaption von Elementen, die sich als passfähig erweisen, um bestimmte Deutungen zu stabilisieren. Daher wurden auch diskursübergreifende Generierungslogiken, Ereignisketten, ideengeschichtliche Kontexte sowie synchrone und diachrone Erzählzusammenhänge in die Analysearbeit einbezogen. Hierbei erschienen vor allem Verknüpfungen mit thematisch verwandten Diskursfeldern oder Diskursen von allgemeinerem Interesse von Bedeutung, die den Rekonstruktionsrahmen und Resonanzraum der Verhandlungen erweitern. Sie konnten Aufschlüsse darüber geben, in welcher Beziehung eine mögliche Transformierung der Wahrnehmung familialer Erziehungsleistungen mit anderen Begebenheiten steht. Erste Hinweise auf solche Verknüpfungen lieferte bereits die skizzierte Themenkarriere familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung (vgl. Kap. II, 2.2.1 & 2.2.2), die im Rahmen der Rekonstruktion problemkonstituierender Narrationslinien detaillierter entschlüsselt wurde. Auf der Basis der inhaltlichen Sondierungen war daher schon im Vorfeld davon auszugehen, dass die massenmedialen Debatten um Familie und Erziehung im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung mit zahlreichen benachbarten Themenfeldern wie z.B. der Arbeitsmarktpolitik oder dem Bildungsdiskurs und deren Deutungen, Artefakten und Praktiken verknüpft sind (vgl. Kap. II, 2.1.3). In diesem Arbeitsschritt ging es insgesamt vor allem darum, mögliche Erklärungen für die Entstehung, den Verlauf und die Folgen von Strukturierungs- und Legitimierungsprozesse zu finden, die nicht nur zum besseren Verständnis des »ideengeschichtlichen Kontext[es]« (Schetsche 2014, S. 65) beitragen, sondern auch Hinweise auf Erfolgsfaktoren bestimmter Problematisierungen geben, über die Kohärenz und Plausibilität erzeugt und legitimiert werden. Wenngleich die starken konversationsanalytischen Bezüge bzw. die immanente Praxiskritik der ebenfalls von Foucault inspirierten kritischen Diskursanalyse für sich alleine stehend das Analysepotenzial mehr oder minder stark auf eine sprachwissenschaftliche Ideologiekritik verengt (vgl. Keller 2004, S. 156ff.), konnte sie für das vorliegende Forschungsprogramm nicht nur wertvolle Hinweise auf den Gebrauch von Sprache liefern, sondern auch auf die Relevanz ideen- und zeitgeschichtlicher Kontexte und Wandelprozesse hinweisen (vgl. Kap. II, 1.2). Mit ihrem Konzept der ›Diskursverschränkung‹ kann aufgezeigt werden, wie die strategische Verknüpfung von einst separaten Diskursen neue Wissensbestände zu generieren vermag, die in ihren Auswirkungen entscheidend zur (Re-)Konstruktion familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ und die Angliederungsphase. Liminalität ist als Schwellenzustand in die zweite Phase einzuordnen, die durch einen krisenhaften und mehrdeutigen Zustand gekennzeichnet ist. Ergänzend führt Turner eine vierte Phase an, welche die vollständige Bewältigung der Krise und die damit einhergehende Stabilisierung der Ordnung umfasst (S. 204). Liminale Riten sind auf einfache Gesellschaften beschränkt. In Abgrenzung zum klassischen Liminalitätskonzept differenziert Turner hierbei zwischen einfachen Gesellschaften, in denen entsprechend unterkomplexe liminale Schwellenphasen verlaufen, und stärker differenzierten Gesellschaften, in denen liminoide Phasen verlaufen, wenn soziale Strukturen jenseits ökonomischer, sozialer und politischer Zwänge ihre Verbindlichkeit verlieren.

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

beitragen können (vgl. Jäger 2008; Kumięga 2012). Zentral ist dabei die Annahme, dass eine an ähnliche Probleme und anerkanntes Wissen anschlussfähige Problemwahrnehmung die Plausibilität, die Einprägsamkeit und somit auch das Integrations- und Erfolgspotenzial der Problematisierung erhöht (vgl. Schwab-Trapp 2008, S. 182f.). Zu differenzieren war in der Analysearbeit zwischen korpusimmanenten Verschränkungen, die in den Aussagen explizit benannt wurden, und Verknüpfungen mit Ereignissen und Phänomenen, auf die die Sprecher, auch ohne dies explizit zu benennen, in ihren Aussagen indirekt rekurrierten (vgl. Keller 2008, S. 243; Wundrak 2013). Darüber hinaus konnten an dieser Stelle aber auch Metaphern in ihrem Entstehungskontext Aufschlüsse über bestimmte Dynamiken und Entwicklungslinien geben, die sich dann zu ideengeschichtlichen Konzepten verbinden ließen. Mit Blumer (1975) kann davon ausgegangen werden, dass Narrationslinien im Rahmen ihrer diskursiven ›Problemkarriere‹ verschiedene Phasen und Stufen durchlaufen, die darüber entscheiden, ob und in welcher Ausprägung sie wirkmächtig werden.36 Die Rekonstruktion narrativer Strukturen und deren Verläufe stellt demgemäß keine bloße Nacherzählung einer Geschichte dar, sondern diente der Aufdeckung sinnstiftender Strukturen und prozesshafter Dynamiken, die nicht nur die einzelnen Elemente der Ebenen verbinden, sondern den Diskursverlauf durch ihre spezifischen Rückbindungen an soziale, zeitliche und sachliche Kontexte konstituieren, inhaltlich abgrenzen und Deutungen wirkmächtig machen. Narrationslinien können somit auch als Bindeglied zwischen Diskursstrukturen und deren Wirkungen erachtet werden. Die konkrete Analysearbeit umfasste – neben weiteren Schritten der Metaphernanalyse (Schmitt 2014) und grundlegender Verfahren zur (Re-)Konstruktion von Typisierungsleistungen im Sinne der hermeneutischen Wissenssoziologie (vgl. z.B. Hitzler & Honer 1997; Knoblauch 1995; Reichertz 1997; Schröer 1994) bzw. der wissenssoziologischen Narrationsanalyse (Tarde 2009; Viehöver 2011) – auch Verfahren der thematischen Feldanalyse (Rosenthal 1998).37 Zu fragen war in diesem Analyseschritt, vor welchen Hintergründen bestimmte Vorstellungen familialer Erziehung erwachsen sind, was sie zum Teil so problematisch macht und welche antagonistischen Narrative, Entwicklungslinien und Diskursverschränkungen sich hierbei zeigen. Von besonderem Interesse war auch, welche Handlungsanleitungen hierbei narrativ vermittelt werden und mit welchen Praktiken und Institutionalisierungen diese einhergehen.

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Blumer (1975) geht davon aus, dass sich solche Erzählstrukturen in diachroner Hinsicht in einem idealtypischen Entwicklungsmodell der Problemwahrnehmung verallgemeinern lassen, das er als »fünfstufige Karriereleiter« beschreibt: 1.) Auftauchen und Benennung des Problems, 2.) Legitimation des Problems als Verstoß gegen die zugrunde gelegte Werteordnung, 3.) Mobilisierung zum Handeln durch Lösungsvorschläge und Handlungsstrategien, 4.) Ausarbeitung eines offiziellen Handlungsplans zur Problembekämpfung und 5.) Ausführung des Handlungsplans und dessen Institutionalisierung. Rosenthal (1998) verwendet dieses Verfahren der interpretativen Sozialforschung, um Regeln für die Genese biographischer Erzählungen zu eruieren, indem sie Zusammenhänge und chronologische Entwicklungslinien kontrastierend entschlüsselt und in einen Gesamtzusammenhang einbettet. Das eher einzelfallorientierte Verfahren, das auf unterschiedlichen sozialen Ebenen vorgenommen werden kann (vgl. S. 218), wird in der vorliegenden Arbeit somit in diskursanalytischer Übertragung zur relationalen Rekonstruktion spezifischer Narrationslinien angewandt.

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3.3.

Dritter Arbeitsschritt: Die Relationierung der Elemente und Ebenen

3.3.1.

Das Dispositiv als übergeordnete Analysekategorie regulativer Macht-/Wissenskomplexe

Während die narrative Rekonstruktion der Wissensbestände und Ordnungen vor allem Auskunft über die narrationsspezifischen, strukturierenden Grundmuster des Diskurses gibt und neue Perspektiven auf die Zusammenhänge einzelner diskursiver Elemente eröffnete, wurden die darin verbundenen Einzelelemente in einer letzten Analyseeinheit zunächst wieder analytisch aufgebrochen und die aggregierten Einzelanalysen auf den Gesamtdiskurs bezogen und rückgebunden, um auch narrationsübergreifende Strukturprinzipien und Dynamiken in ihrem historischen Kontext und ihrer Funktionalität sichtbar zu machen. Die bisherigen Befunde wurden insbesondere im Hinblick auf übergeordnete Strukturierungs- und Differenzierungslinien betrachtet, die als »diskursive Operatoren« (Vogelmann 2014, S. 21) verstanden werden können. Sie transportieren sinn- und ordnungsbildende Strukturen von Wissen innerhalb verschiedener (Macht-)Beziehungen und liefern somit auch Indizien über die »Weise, in der situativ das Symbolische gebraucht und symbolische Ordnung konstruiert wird« (Fegter et al. 2015, S. 14). Bei der Analyse standen vor allem mögliche Wirkungen und (Neben-)Folgen der diskursiven Strukturen und Narrationen in Relation zu ihren ermöglichenden als auch begrenzenden Faktoren im Blickpunkt, die nur unter Rückbezug auf die narrative Sinnkonstitution des Diskurses angemessen gedeutet und verstanden werden konnten. Als narrationsübergreifende Analyse diskursstrukturierender Macht-/Wissenskomplexe war sie auch um stärker subjekt- und akteursbezogene Perspektiven bemüht, um mit deren Hilfe Deutungen und Praktiken im Hinblick auf Handlungsfähigkeiten bzw. -einschränkungen erklären zu können.38 Um die Gesamtheit der wirklichkeitskonstituierenden Strukturen narrations- und ebenenübergreifend zu erfassen, bedurfte es jedoch zunächst einer umfassenden und übergeordneten heuristischen Kategorie. Foucault (1978) schlägt in diesem Zusammenhang die Kategorie des Dispositivs vor, die er wie folgt definiert: »Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche, ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. Zweitens möchte ich in dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen Elementen sich herstellen kann. […] Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art von […] Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion« (Foucault 1978, S. 119f.). 38

Entsprechend des zugrunde gelegten Subjektverständnisses ist ›Macht‹ hierbei nicht negativ als ›hilflose Auslieferung‹ konnotiert, sondern wird als ein Vermögen ›eigensinniger‹ Subjekte bei der (Mit-)Gestaltung sozialer Praxis gesehen, wenngleich es nicht immer im Subjekt seinen Ausgangspunkt findet (vgl. Kap. II, 1.3.2).

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

Dispositive enthalten im vorliegenden Verständnis somit die Gesamtheit aller Strukturelemente und können daher als ertragreiche Verbindung der Analyseebenen betrachtet werden, mittels derer diskursive Wissensbestände, Praktiken und Entwicklungen enger auf mögliche Folgen und institutionelle sowie gesamtgesellschaftliche Entwicklungslinien bezogen werden können. Vor allem ›konsensuale Sachverhalte‹ können hierbei Aufschlüsse über Deutungshoheiten geben: »Die konsensualen Sachverhalte repräsentieren mithin das Wissen einer Gesellschaft über die thematisierten Sachverhalte, das auch jenseits der konkreten Problemdeutung gesellschaftlich anerkannt ist« (Schetsche 2014, S. 77, Herv. i. O.). Das bedeutet, sie umfassen Deutungsmuster und Narrative familialer Erziehung im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹, die auch geteilt werden, wenn das Phänomen an sich nicht problematisiert wird. Foucaults Dispositivkonzept wird gegenwärtig u.a. von Bührmann und Schneider (2008) differenzierter in den Blick genommen. Ihre Dispositivanalyse kann als methodologisch-methodische Fortführung der Foucault’schen Gouvernementalitätsstudien angesehen werden. Die Autoren machen hierbei im Gegensatz zu den meisten Ansätzen der Governmentality Studies auch auf gegensätzliche Tendenzen aufmerksam, die im Verhältnis zu Diskurs und Macht zu sehen sind (vgl. Bührmann & Schneider 2008, S. 32; Bührmann & Schneider 2012, S. 68), so dass die Analyseperspektive nicht frühzeitig und einseitig auf neoliberale Erklärungsmuster verengt werden muss (vgl. Kap. II, 1.2). Die Integration des Dispositivkonzepts ermöglicht somit eine umfassendere und explizitere abschließende Betrachtung des Phänomenbereiches familialer Erziehung im Kontext von Kindesmisshandlung und –vernachlässigung, als es der Diskursbegriff zu leisten vermag – wenngleich der Begriff als »Gefüge von Diskursprodukten« (Keller 2008a, S. 149) mitunter weit gefasst wird und daher die Konzeptionierung mehrerer Unterkategorien erfordert. Neben Wissens- und Infrastrukturen, narrativen Strukturen und -linien sowie Diskursverschränkungen zählen hierzu auch Techniken, mit deren Hilfe ›gesellschaftliche Normalisierungsprozesse‹ diskursiv konstituiert werden. Sie können mit Foucault (1993a [1975]) als »Disziplinartechniken« gefasst werden, die in ihrer Konzeption große Parallelen zu Elias’ »Figuration« (2006 [1970]) aufweisen. Während Foucaults Ansatz vor allem Aufschlüsse über unterschiedliche Formen von Macht geben kann, berücksichtigt Elias in seinem Konzept stärker die Relativität und enge Verflechtung gesellschaftlicher und individueller Prozesse in der Konstitution von Macht(beziehungen): »Der Begriff der Figuration dient nun dazu, ein einfaches begriffliches Werkzeug zu schaffen, mit dessen Hilfe man den gesellschaftlichen Zwang, so zu sprechen und zu denken, als ob ›Individuum‹ und ›Gesellschaft‹ zwei verschiedene und überdies auch noch antagonistische Figuren sind, zu lockern« (ebd., S. 141). Elias zielte mit der Einführung seines Ansatzes zwar weniger auf die Rekonstruktion von Wirklichkeiten, seine Ausführungen erscheinen jedoch durchaus anschlussfähig für das Konzipieren einer Analysekategorie von Macht-/Wissenskomplexen, die den Blick nicht nur auf Verflechtungen von Wissensbeständen und Akteuren eröffnet, sondern ihn generell auf gesellschaftliche und historische Wechselwirkungen ausweitet. Geht es darum, Sinngrenzen zu erfassen, innerhalb derer sich fortwährend Wirklichkeit konstruiert und die Verbindungen von Wissen, Macht und Rahmenbedingungen in unterschiedlichen Ausprägungen und Stärken eine essenzielle Rolle spielen (vgl. Baumgart & Eichener 1997, S. 170ff.), können die übergeordneten Kategorien der

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›Disziplinartechnik‹ und ›Figuration‹ wertvolle Hinweise geben. Weitere speziellere Unterkategorien bzw. Hilfsdispositive solcher diskursiven Operatoren bilden die ›Klassifikation‹ sowie die ›sozialen Sprecher und Agenten‹, die beide im Folgenden beschrieben werden.

3.3.2.

Die Klassifikation als Wissensbaustein der Differenzierung und Ausgrenzung

Deutungsmuster und Dispositive enthalten immer auch normative Komponenten, die den darin transportierten Wissensbeständen immanent sind und durch die das Verhalten von Personen implizit oder explizit bewertet wird. Sie bieten somit nicht nur Orientierung auf der Basis vorhandener »gesellschaftlicher Wissensvorräte« (Schütz & Luckmann 1980 [1969], S. 262), sondern produzieren auch unterschiedliche unreflektierte Evidenzen und ›Normalitäten‹ mit handlungsaufforderndem Charakter. Das wird z.B. in den generierten Subjektpositionen und Modellpraktiken deutlich, die als eine spezifische Form von Deutungsmustern nie wertfrei sind, sondern immer auch hierarchische Ordnungen enthalten (vgl. auch Kap. II, 3.1.1). Diese Ordnungen fungieren dann als normative Werte, d.h. verhaltensstabilisierende und -steuernde Kriterien der Beurteilung von Handlungen und Ereignissen: »Werte sind stark normativ gefärbt, da sie eine hohe qualitative Komponente des Beurteilens beinhalten […]. Werte besitzen eine selektive Funktion, da sie Wahrnehmungen steuern, eine strukturierende Funktion, da sie die Umwelt organisieren, eine stabilisierende Funktion, da sie verhaltensleitend wirken, eine konformisierende Funktion, da sie sozial vermittelt sind und soziales Verhalten lenken, und eine evaluative Funktion, da sie eigene und fremde Handlungen beurteilen« (Stein 2013, S. 176). Die ersten empirischen Annäherungen an Familie und familiale Erziehung ließen bereits vermuten, dass das Konstrukt familialer ›Erziehungsinkompetenz‹ hierbei nicht nur auf das Vorhandensein bestimmter Fähigkeiten und Verantwortungsbereiche bezogen ist, sondern es gerade in seiner zunehmenden Problematisierung auch auf die andere Seite, die Abwesenheit dieser Merkmale verweist. Dadurch werden ›Defizite‹ und Asymmetrien in gesellschaftliche Wissensbestände familialer Erziehung eingespeist, die als ›Inkompetenzen‹ konstituiert werden, mit denen eine ordnende Funktion verbunden ist. Dies bedeutet, dass Deutungsinhalte und Zuschreibungen von ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ nicht nur Aufschluss darüber geben, welche Wissensformen und Handlungsweisen als ›kompetent‹ gelten. Vielmehr enthalten sie auch Bewertungsmaßstäbe, die darüber informieren, wie hierdurch Ungleichheitsverhältnisse legitimiert und Ausgrenzungsmechanismen in Gang gesetzt werden. Die Unterteilung in ›kompetente‹ und ›inkompetente‹ Familien stellt somit eine machtvolle Praxis dar, die nicht auf eine Realität sui generis verweist, sondern in kommunikativen Prozessen erst das erzeugt, was als ›kompetent‹ oder ›inkompetent‹ wahrgenommen wird (vgl. Künstler 2015, S. 173). Zuschreibungen familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ werden daher in gewissem Maße zu einem Maßstab für Teilhabe, der allerdings kontinuierlich einem sozialen Wandel unterliegt (vgl. Groenemeyer 2001, S. 13). Die darin zugrunde gelegten Diskrepanzen zwischen den Subjekten und gesellschaftlichen Idealen werden jedoch erst in ihrer Rekonstruktion sichtbar. Sie kann somit einen bedeutsamen Erklä-

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

rungsbeitrag für das Verständnis von ›Erziehungs(in)kompetenz‹ im Kontext sozialer Ungleichheit leisten: »Welche Verschiedenartigkeiten wann, wie und aus welcher Position heraus relevant gesetzt und als soziale Ungleichheit bestimmt, beschreib- wie erfahrbar werden, ist dabei einer der zentralen Fragen, die sich theoretische Ansätze zur sozialen Ungleichheit stellen« (Wischermann & Thomas 2008, S. 7). Vor allem Bewertungen des ›Versagens‹ und ›Scheiterns‹ geben immer auch Aufschlüsse über »normative Kategorien« (Nowicka 2014): Sie umschreiben keinesfalls die Qualität einer Eigenschaft oder Handlung, sondern stellen vielmehr eine Bewertung als »eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere« (Becker 1981 [1963], S. 8) dar. Umso erstaunlicher erscheint es, dass die Termini des ›Versagens‹ und ›Scheiterns‹ als tragende Bestandteile und Voraussetzungen von gesellschaftlichem Handeln bislang nicht als Grundbegriffe in die Soziologie eingeführt wurden: »Die Soziologie versteht sich als Wissenschaft vom sozialen Handeln und reduziert zumeist Handeln auf das kulturelle Muster erfolgreichen Handelns. Darüber wird übersehen, dass erst Handlungshindernisse, scheiternde Planungen und Handlungsblockaden Herausforderungen zum Handeln darstellen. Kurz, dass Scheitern eine Voraussetzung des Handelns sein kann« (Junge 2004, S. 11).   »Geht man außerdem davon aus, dass eine Erwartung erst dann entsteht, wenn sie enttäuscht werden kann, kommt man bald zu dem Schluss, dass das Gesellschaftssystem strukturell auf die Möglichkeit des Scheiterns angewiesen ist« (Cevolini 2014, S. 242). Folgt man Baumann (1996), so basiert soziale Ordnung in allen Bereichen auf Akten des Differenzierens und Kategorisierens, um den Zufall einzudämmen und die Welt beeinflussbar zu machen. Vor allem vor dem Hintergrund möglicher Straftatbestände der Kindesmisshandlung und -vernachlässigung war daher im Rahmen einer ›Suche nach Schuldigen‹ mit einer Reihe diskursiver Zuschreibungen des ›Versagens‹ und ›Scheiterns‹ zu rechnen, die evaluativ-bewertend erfolgen und mit normativen Grenzziehungen zwischen ›normal‹ und ›anormal‹, d.h. mit Prozessen der Legitimierung familialer Erziehungsleistungen verfahren, die parallel zur Darstellung legitimer Modellpraktiken verlaufen (vgl. Abels 2009, S. 286ff.). Besonders relevant erscheint in diesem Kontext die Ablagerung bzw. »Sedimentierung« (Schütz & Luckmann 1975, S. 113) differenzierender Ordnungsstrukturen im kollektiven Wissensvorrat, die dort als Strukturschema in gegenwärtigen und künftigen Sinnzusammenhängen dienen und so immer auch soziale Ungleichheiten evozieren (vgl. ebd., S. 24). Sie dienen dabei keineswegs immer der Komplexitätsreduktion und Sicherheit in Handlungssituationen, sondern wirken mitunter auch irritierend und verunsichernd und können gesellschaftliche Strukturen projizieren und Machtverhältnisse symbolisch zur Geltung bringen (vgl. Rademacher 2010, S. 191). Vor allem Subjektpositionen und Modellpraktiken von Familien und Eltern können hierbei als Zwang in Form einer »gesellschaftlich wahrgenommene[n] Normabweichung« (Stallberg & Springer 1983, S. 13), eines »Widerspruches von Sein und Sollen« (ebd.) oder auch einer »Beeinträchtigung individueller Bedürfnisse« (ebd.) in Erscheinung treten. In jedem Fall erweisen sie sich in der Regel als sehr stabil: Ist eine solche Position oder Praxis erst »einmal geformt, so wird sie wiederum durch gesellschaftliche Beziehungen bewahrt«

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(Berger/Luckmann 1980 [1969], S. 185). Diskursive Deutungen und Zuschreibungen von ›(In-)Kompetenz‹ sowie die Konstitution ›illegitimer‹ Subjektpositionen erzeugen und etablieren somit immer auch Devianzkonstruktionen und Stigmata. Ergänzend zu den bisherigen Analysen galt es somit, solche Klassifizierungsprozesse als machtvolle Regulatoren in den Blick zu nehmen und die ungleichheitsrelevante Fundierung bei der Erzeugung von Äußerungen sowie deren immanente Plausibilitätsstrukturen stärker in die Diskursanalyse zu integrieren (vgl. Kap. II, 1.3.3). Damit wurde der Einbezug einer weiteren Analysekategorie nötig, mittels derer solche Ordnungsstrukturen als »mehr oder weniger ausgearbeitete, formalisierte und institutionell stabilisierte Form sozialer Typisierungsprozesse« (Keller 2013a, S. 216) gefasst und rekonstruiert werden konnten. Hierfür schien die wissenssoziologische Kategorie der »Klassifikation« (Keller 2008, S. 244) geeignet, die es ermöglichte, bereits eruierte Wissens- und Infrastrukturen über deren normativ-evaluative Ausprägungen zu Klassifizierungs- und Ausgrenzungsmustern zu erweitern, die dann als hierarchische Ordnungen immer auch eine Unterminierung darstellen. Methodisch stellten sich vor allem Suchbewegungen und Vergleiche zwischen den Inhalten als zentrale Strategien der hermeneutischen Wissenssoziologie (z.B. Hitzler & Honer 1997; Knoblauch 1995; Reichertz 1997; Schröer 1994) als ein wichtiges Prinzip dar, um die Konzepte zu überprüfen, zu differenzieren und zu abstrahieren.

3.3.3.

Soziale Sprecher und Agenten als Analysekategorie des Personals der Erzählung

Bei der Analyse von Dispositiven sollte nicht unberücksichtigt bleiben, dass die einzelnen Elemente nicht nur auf soziale Akteure wirken, sondern immer auch von sozialen Akteuren produziert und transformiert sowie in den Diskurs eingeschrieben und verbreitet werden. Die Genese und der Wandel eines Phänomens wie familialer Erziehung ist daher immer als Ergebnis diskursiver Deutungsarbeit der Akteure in Relation zum entsprechenden sozialen Kontext und dessen Wandel zu verstehen. Bei der Herausarbeitung des Personals der Erzählung konnten insbesondere die eruierten Narrationslinien Aufschluss über soziale Wirklichkeiten geben, wie sie von bestimmten sozialen Akteuren des Diskurses produziert und transportiert wurden: »Institutionen und symbolische Sinnwelten werden durch lebendige Menschen legitimiert, die ihren konkreten gesellschaftlichen Ort und konkrete gesellschaftliche Interessen haben. Die Geschichte von Legitimationstheorien ist immer ein Teil der ganzen Geschichte der Gesellschaft […]. Die Beziehung zwischen den Theorien und ihren gesellschaftlichen Stützformationen ist immer dialektisch« (Berger & Luckmann 1980 [1969], S. 137). Ohne den ›Eigensinn‹ beweglicher Subjekte, der zur Veränderung dominierender Strukturen führen kann, würden somit jegliche Prozesse des Wandels als Antwort auf Konflikte unerklärlich bleiben und damit auch die Frage, wie sich bestimmte Erziehungsleistungen im Zeitverlauf zu ›Kompetenzen‹ verdichten können. Die Ausprägungen und Wirkweisen von Dispositiven, insbesondere Klassifikationen, mussten daher in Relation zu den sozialen Akteuren betrachtet werden. Daher war nicht nur zu sondieren, an welche Adressaten bzw. Adressatengruppen sich klassifizierende

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

Zuschreibungen konkret richten, sondern auch, wer diese Differenzierungen vornimmt und welche Werteordnungen hierbei zugrunde gelegt werden. Von besonderem Interesse war hierbei auch, wie unterschiedliche Akteure und Institutionen mit klassifizierenden Unterscheidungen umgehen und welchen Sinnkonstitutionen sie hierbei folgen. Somit galt es parallel zu den vollzogenen Klassifikationen darzustellen, welche Akteure an diesen Prozessen beteiligt waren, welchen Akteurskonstellationen und Disziplinen sich diese zuordnen lassen, welche widerstreitenden Positionierungen sich hierbei nachzeichnen lassen sowie über welche Ressourcen die jeweiligen Positionen verfügten. Aussagen über Ordnungen und Defizite eines Phänomens geben somit immer auch Aufschluss über Selbst- und Gesellschaftsbilder der Sprechenden. Generell können dabei die Produktion und der Transport von Wissens- und Infrastrukturen sowohl bewusst und intendiert als auch unbewusst und unbeabsichtigt erfolgen. Um eine strategische Form diskursiver Praxis handelt es sich bei den sogenannten ›Diskursstrategien‹ als »dramaturgisch angelegte[n], thematisch begrenzte[n], zeitlich befristete[n] kommunikative[n] Strategien zur Erzeugung öffentlicher Aufmerksamkeit« (Klaus & Thiele 2009, S. 75). Hierbei ist anzunehmen, dass Problemnarrationen und geforderte Bewältigungsmaßnahmen von den beteiligten Akteuren für unterschiedliche Interessen instrumentalisiert werden. Obwohl die sozialen Akteure als Konstrukteur und Träger von Wissensbeständen, Adressaten und Subjektpositionen immer schon implizit oder explizit in die Konzeptualisierung der einzelnen Analysekategorien mit einbezogen sind, stellen sie daher als ›Personal der Erzählung‹ ein zentrales Element des Diskursfeldes dar, das narrativ in Beziehung zu den beiden Ebenen gesetzt werden muss und dadurch nicht nur als zentrale Dimension, sondern auch als Bindeglied zu erachten ist (vgl. Kap. II, 1.3.5). Es handelt sich bei den Diskurssprechern daher um eine weitere Struktur- und Analysekategorie, die nicht nur fragt, wer generell die Träger des Diskurses sind und welche Personen(gruppen) adressiert werden, sondern darüber hinaus auch beschreibt, wie die Beziehungen der sozialen Akteure zwischen Wissensstrukturen, Infrastrukturen und den darin verflochtenen Wissen-/Machtkomplexen und (Neben-)Folgen konkret gestaltet sind. Bei der Anwendung dieser Analysekategorie ging es also in den Worten Schneiders (2015) um den Bereich von sozialen Akteuren und deren »Praktiken, die – mit Blick auf das Verhältnis von Wissen und Macht – als Voraussetzungen wie als Effekte von Diskursen zu fassen sind« (S. 26., Herv. i. O.). Neben Subjektpositionen, die als Modellpraktiken fungieren, und Adressaten, an die bestimmte Aussagenproduktionen gerichtet sind (vgl. Kap. II, 3.1.1), spielen hierbei in Anlehnung an Keller (2012b) vor allem folgende Positionierungen sozialer Akteure eine Rolle: a) Sprecherpositionen bzw. Erzählerpositionen, mit denen sich soziale Akteure in »institutionellen bzw. organisatorischen diskursiven Settings und daran geknüpfte[n] Rollenkomplexe[n]« (S. 98) in Diskurse einschreiben können, wenn es die jeweiligen institutionellen Strukturierungen und Hierarchisierungen zulassen. Institutionelle Interessenlagen und Machtstrukturen müssen hierbei jedoch nicht zwangsläufig und durchgehend mit den in den Diskursen eingenommenen Positionierungen und Effekten deckungsgleich sein.

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Familie unter Verdacht b) Soziale Agenten, die Sprecherpositionen im Hintergrund begleiten, hierbei jedoch nicht selbst sprechen (z.B. Berater). Die Grenzen zu Sprecherpositionen sind oftmals fließend.

Die wissenssoziologische Analysekategorie der Sprecherposition erscheint somit vor allem gewinnbringend im Hinblick auf die Sensibilisierung für Wissensordnungen und deren wirklichkeitskonstituierende (Positionierungs-)Macht. In Bezug auf die sozialen Sprecher und Agenten war daher nicht nur zu fragen, welche Wissensbestände wie und von welchen Akteuren hervorgebracht und realisiert wurden sowie wem diese Konstruktion dient(e), sondern auch nach den Bedingungen, die dadurch umgekehrt den Akteuren auferlegt wurden (Bühler-Niederberger 2008, S. 127f.). Die Möglichkeiten der öffentlichen Interaktion sind hierbei stets auf bestimmte »legitime Sprecher« (Keller 2008b, S. 230) begrenzt, die Bezüge zueinander herstellen und Inhalte festigen. Dadurch wird nicht nur das ›Sagbare‹, sondern auch die Zahl der Sprecher eingeschränkt, d.h., bestimmte Elemente und Personen werden entweder implizit (z.B. durch Vorurteile) oder explizit bevorzugt bzw. ignoriert (vgl. Keller 2008a, S. 56). Dies hat zur Folge, dass Aussagen immer wieder auf ein und dieselben Narrative und Akteure rekurrieren und das Diskursfeld verknappen (vgl. Foucault 1991 [1971], S. 19f.). Neben »Ausschließungssystemen« sowie »Klassifikations-, Anordnungs- und Verteilungsprinzipien« sieht Foucault in dieser »Verknappung der sprechenden Subjekte« (ebd., S. 10ff.) somit ein zentrales Element der Diskursordnung, das sich in seiner Selektivität aber auch den Ausschließungssystemen und Klassifikationsprinzipien unterordnen lässt. So ist es möglich, sich ihm mit Werkzeugen aus der Analysekategorie der ›Klassifikation‹ anzunähern (vgl. Kap. II, 3.3.2). Hierbei musste jedoch beachtet werden, dass sich zwar »spezifische Diskurskoalitionen und Aussagenträger gegenüber anderen durchsetzen, […] die dabei stattfindende diskursive Formierung [jedoch] nicht (oder nur im Grenzfall) als intendierter und kontrollierter Effekt einzelner Akteure« (Keller 2013, S. 208, Herv. i. O.) verstanden werden kann. Nach Luhmann (1975b) beruhen Diskurskoalitionen vor allem auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionssystemen wie z.B. Politik und Wissenschaft. Sie sind immer auch durch funktionssystemspezifische Unterscheidungen geprägt, die einer bestimmten kommunikativen Reproduktionslogik folgen und die Öffentlichkeit mit entsprechenden Sinnhorizonten versorgen. Daher »ist es höchst voraussetzungsvoll, AutorInnen nach der Position, aus der heraus sie sprechen, zu subjektivieren. Auf der Ebene von Äußerungen einzelner AutorInnen wird deutlich, dass ihre Bestimmungen […] [hierbei jedoch] changieren und keineswegs gleichbleibend und widerspruchsfrei sind« (Patschke 2016, S. 12). Der Blick wurde daher weniger auf Einzelakteure oder gruppeninterne Konflikte als vielmehr auf den ›diskursiven Output‹ dieser Konflikte gerichtet, denn »als soziale Probleme bezeichnen wir die Aktivitäten von Gruppen, die – ausgehend von unterstellten Gegebenheiten – Unzufriedenheit artikulieren und Ansprüche geltend machen« (Kituse & Spector 1973, S. 415, zit.n. Groenemeyer 2012, S. 12) und infolge deren Vorgehen es in der Regel zur Institutionalisierung von Problembekämpfungsmaßnahmen kommt (vgl. Löffler 2015, S. 266). Hier erwies sich insbesondere Elias’ relationale Figurationssoziologie (2006 [1970]) als anschlussfähig, um nach Interessen und Ressourcen sozialer Sprecher und Agenten vor dem Hintergrund

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

gesellschaftlicher Entwicklungen zu fragen, ohne mögliche Veränderungen dabei vorschnell an die Macht einzelner Akteure bzw. Akteurskoalitionen zu binden. Im Zentrum der Betrachtung stand hierbei stets der Prozess, in dem nicht die Tätigkeiten und Aussagen einzelner unabhängiger Individuen »den Gang der Geschichte bestimmen« (Baumgart & Eichener 1997, S. 101), sondern unterschiedliche kollektive Akteurskoalitionen, die sich immer in fluktuierenden Machtverhältnissen und Abhängigkeiten bewegen (vgl. Elias 1986, S. 100ff.). Aber auch die Governmentality Studies konnten hierbei – trotz einiger Mängel (vgl. Kap. II, 1.2) – den kritischen Hinweis geben, dass Handlungsträger Evidenzen eines Phänomens vorgeben, um bestimmte Wissenskonfigurationen öffentlich durchzusetzen (vgl. Keller 2008a, S. 186ff.; Schützeichel 2010, S. 182). Um keine voreiligen Kausalschlüsse zu ziehen, wurden die transportierten Narrationslinien in Anlehnung an Rosenthal (2008) und unter Berufung auf Schetsche (2014) zunächst möglichst separiert von ihren Quellen behandelt und erst in einem weiteren Durchgang mit den Diskurssprechern in Beziehung gesetzt. Außerdem konnten »durch diese nachträgliche Vergleichsoperation […] wichtige Informationen über das Verhältnis von lebensweltlichem und wissenschaftlichem Wissen bezüglich des untersuchten Segments sozialer Wirklichkeit gewonnen werden« (Schetsche 2014, S. 80). Brüsemeister (2007) zufolge ist es in der modernen Gesellschaft jedoch zunehmend schwieriger zu eruieren, wer Produzent bestimmter Wissensordnungen ist (vgl. S. 62). Dies ließ erwarten, dass sich eine Unterscheidung zwischen konkreten Meinungen der Sprecher und den rekonstruierten Narrationslinien – insbesondere innerhalb eines begrenzten diskursiven Zeitrahmens – analytisch nicht vollständig rekonstruieren lässt. Die Analyse erfolgte somit vorrangig aus einer »Multi-Aktor-Perspektive« (Jurczyk et al. 2014, S. 12), da angenommen wurde, dass sich Akteurskoalitionen in erster Linie über gemeinsame Narrationslinien formieren (vgl. Keller 2003b, S. 248). In Ergänzung der Diskursanalyse durch Bestandteile einer Dispositivanalyse wurden somit insgesamt vor allem die eruierten Narrationslinien auf ihre ermöglichenden und begrenzenden Bedingungen im Hinblick auf Wissensordnungen, Objektivitäten und Wirkungen bzw. mögliche Folgen empirisch bearbeitet. Zu fragen war dabei zunächst, wie sich Deutungsmuster, materielle Infrastrukturen, Narrationslinien und deren Entwicklungen zueinander verhalten. Des Weiteren galt es zu rekonstruieren, welche ungleichheitsrelevanten sozialen (Wissens-)Ordnungen über Familien und deren ›Kompetenz‹ oder ›Inkompetenz‹ diskursiv formuliert werden und wem dies dient, d.h., welche Akteure, Interessenvertreter und institutionellen Felder davon profitieren (vgl. Wehrheim 2011, S. 59), welche Akteure besonders von defizitären Zuschreibungsprozessen der ›(In-)Kompetenz‹ betroffen sind und in welchem Ausmaß solche Zuschreibungen wirksam werden (können) und dadurch zur Ausgrenzung und Abwertung bestimmter Personen(gruppen) führen. Hieran knüpfte auch die Frage an, inwiefern über deren Ordnungen Machtpositionen, Herrschaftsbeziehungen, Zwänge und Ungleichheiten erzeugt und verfestigt werden und inwieweit sich die Institution der Familie und deren Erziehungsleistungen im Wandel befinden. Die Erschließung dieser Fragen erfolgte in erster Linie über relationale Vergleiche der Strukturkategorien und Narrationslinien, die Aufschlüsse über Interessen, (Macht-)Beziehungen sowie hierarchisierende Momente und Ausgrenzungsakte samt der sie stabilisierenden Dispositive lie-

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Familie unter Verdacht

ferten. Aus forschungspragmatischen Gründen konnten dabei jedoch nur Praktiken, Beziehungen und (Neben-)Folgen aufgeschlüsselt werden, die sich zumindest implizit im Feld der Kommunikation niederschlugen (Pundt 2008, S. 52).

3.4.

Zusammenfassende Darstellung der Analyseverfahren und Synopse des Analysespektrums

Im Rahmen kategorienbildender und typisierender Struktur- und Deutungsmusteranalysen auf der Ebene der Wissens- und Infrastrukturen konnten in einem ersten Schritt die einzelnen Elemente und Dimensionen der Thematisierung und Problematisierung familialer Erziehung im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ sichtbar gemacht werden. Sie ließen sich dabei zu typischen Mustern verbinden, die in ihrer narrativen Strukturierung vor allem Aufschlüsse über synchrone und diachrone Verknüpfungen ermöglichten, deren narrationsübergreifende Bestandteile im systematischen Aufbruch der Narrationslinien relationiert werden konnten. Das Analysespektrum erstreckte sich somit von der Ebene einzelner Dimensionen familialer Erziehung im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung über deren erzählende Rahmung in Form bestimmter Narrationslinien bis hin zur Erschließung und funktionalen Einbettung der umfassenden, mehrdimensionalen Phänomenstruktur. Diese kann analog zu Foucaults ›Diskursformationen‹ als gegenstandskonstituierende Praxis gesellschaftlicher Wissensverhältnisse betrachtet werden, die einzelne Elemente in einen größeren Zusammenhang stellt, hierbei aber immer auch Diskontinuitäten aufweist (vgl. Keller 2008, S. 265). Der Begriff der Phänomenstruktur bezieht sich demnach auf alle im Diskursstrang familialer Kindesmisshandlung und -vernachlässigung konstituierten Elemente und ihren referenziellen Bezug zu familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹, die sich zu einer spezifischen Gestalt bündeln (vgl. Abb. 2). Die einzelnen Analyseschritte zur Rekonstruktion der umfassenden Phänomenstruktur familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ bauten aufeinander auf und stehen in einem interdependenten Zusammenhang. Die Einzelanalysen waren so zu ihrer vollständigen Erschließung immer auf die Ergebnisse der vorangegangenen Analyseschritte angewiesen. Begleitet wurden alle Analysevorgänge von korpusexternen theoretischen Recherchen und Informationssammlungen über das Forschungsfeld und den gesellschaftlichen Kontext, da diese nicht nur inhaltliche Informationen über das breite Spektrum von Akteuren, Positionierungen und Institutionalisierungen liefern konnten, sondern auch Aufschlüsse über weitere Folgen und Leerstellen gaben. Dadurch konnten sie nicht zuletzt die Ergebnisse der Korpusarbeit wechselseitig ergänzen und kontrollieren. Darüber hinaus erfolgte während der Analysearbeiten eine permanente Selektion und Adaption von Materialien und Methoden, um sicherzustellen, dass sie zu den jeweiligen Reflexionsebenen und Analysekategorien bestmöglich passen, und um die Vorteile der einzelnen Untersuchungsansätze möglichst umfassend zu nutzen (vgl. Keller 2008a, S. 268). Kodier- und Kontrastierungsprozesse (Clarke 2012; Glaser & Strauss 1998) wechselten ab dem zweiten Analyseschritt immer wieder mit den hermeneutischen Sequenzanalysen zu den eruierten Schlüsseldokumenten und -stellen (Soeffner 1982) sowie mit methodischen Reflexionsverfahren und der Ausarbeitung neuer Fra-

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

gestellungen, beschreibender Dimensionen und analytischer Kategorien. Kontrolliert wurde dieser Prozess in erster Linie durch die aus der Analyse entstehenden theoretischen Annahmen und analytischen Fragen selbst (vgl. ebd., S. 53). Das heißt, »von den materialimmanenten Bedeutungsstrukturen wird der Blick auf mögliche relevante, theoretische Konzepte gerichtet, während diese wiederum auf auffällige weitere, relevante Dimensionen in den Daten verweisen, auf die hin dann das empirische Material wiederum analysiert wird« (Elliker 2012, S. 79).

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Abbildung 2: Vereinfachte schematische Darstellung der Phänomenstruktur und ihrer Analyseverfahren*

Quelle: eigene Darstellung *   Die Anordnung der Elemente soll lediglich den Aufbau der Analyseschritte und -ebenen verdeutlichen und keine hierarchische Diskursordnung darstellen. Vor dem Hintergrund des skizzierten Diskursverständnisses wird vielmehr davon ausgegangen, dass sich die einzelnen Elemente in komplexen Prozessen wechselseitig strukturieren und bedingen.

II Anlage und Durchführung des Forschungsprogramms

Bei diesem offenen Umgang mit dem Material musste stets berücksichtigt werden, dass Forschende als Beobachter zweiter Ordnung (vgl. Kap. II, 1.2) ebenfalls bestimmten Deutungsperspektiven unterliegen. Sie gilt es permanent zu reflektieren, um die Gefahr einzudämmen, die Perspektive im Sinne eigener Erfahrungen und Interessen zu verengen bzw. den eigenen normativen Rahmen in der Analysearbeit zu reproduzieren. Es wurde daher versucht, in der gesamten Analysehaltung einen »methodischen Zweifel« (Soeffner 1989, S. 44) einfließen zu lassen, der die eigenen Deutungshorizonte bewusst hinterfragt (vgl. auch Keller 2004, S. 64f.; Keller 2008a, S. 234f.). Um sich der Verzerrungen durch die eigene Perspektive bewusst zu werden und bei konkurrierenden Lesearten Konsens herzustellen, erfolgten die einzelnen Analysearbeiten nicht nur unter einer größtmöglichen Verfremdungshaltung und ständigen Prüfung, sondern es wurden zusätzlich in regelmäßigen Abständen Focus-Group-Diskussionen durchgeführt (Helfferich 2011, S. 24f.).39 Die hypothetischen Zusammenhänge wurden dabei abstrahiert sowie zur Plausibilisierung fortlaufend am Datenmaterial überprüft. In Verbindung mit den aufgeführten Analysekategorien sollte so ein Konzept erarbeitet werden, das empirisch gesättigte Aussagen zur diskursiven Konstruktion familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ zulässt. Diese Konzeptualisierung betrifft auch die finale Korpusbildung, für die insbesondere die Verfahren des »Theoretical Samplings« (Glaser & Strauss 1998, S. 51) und des permanenten Vergleichs zentral waren. Schritte der Korpusbildung und -analyse erfolgten hierbei nicht getrennt, sondern alternierend, um immer wieder auf der Basis theoretischer Annahmen das Vorgehen reflektieren zu können und Stellen aufzuspüren, an denen sich relevante Aussagen zu familialer Erziehung und einer unterstellter ›(In-)Kompetenz‹ der Familien sowie weiterer beteiligter Akteure diskursiv materialisieren und zueinander in Beziehung treten. Es handelte sich somit um einen zirkulären Prozess der Datenanalyse und -(nach)erhebung, in dem Daten kodiert und analysiert wurden und parallel hierzu unter Berücksichtigung von Kontextmaterialien entschieden wurde, welche weiteren Daten gegebenenfalls benötigt werden und wo diese zu finden sind. Diese Phasen wechselten sich so lange ab, bis von einer »theoretischen Sättigung« (Glaser & Strauss 1998, S. 68) im Hinblick auf die interessierenden Dimensionen ausgegangen werden konnte. Auf eine vollständige Dispositivanalyse musste hierbei allerdings verzichtet werden. Für sie wäre die Einbindung zusätzlicher methodologischer Ansätze und methodischer Verfahren wie z.B. umfangreicher historischer Archivsuchen oder biographischer bzw. ethnographischer Feldzugänge erforderlich gewesen, die in der vorliegenden Arbeit aus forschungsökonomischen Gründen nicht geleistet werden konnten. Subjektivierungsweisen, historische Entwicklungslinien sowie »symbolische Objektivierungen« (Schneider & Hirseland 2005, S. 260) und »materielle Vergegenständlichungen« (ebd.), in denen Sinnstrukturen eingesetzt, hergestellt und reproduziert werden, konnten daher nur dann in die Analyse einbezogen werden, wenn sie sprachlich in den vorliegenden Materialien verfasst waren. Die Zusammenstellung einer Chronik aller 39

Hierbei wurden einem Personenkreis, der im Hinblick auf soziodemographische Merkmale und Lebenssituation eine große Breite aufwies, ausgewählte Diskursfragmente und Analyseergebnisse vorgelegt und diese hinsichtlich deren ›Gültigkeit‹ diskutiert.

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im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ institutionalisierten Maßnahmen erfolgte aus den genannten Gründen ebenfalls nicht; lediglich an jenen Stellen wurden einzelne Objektivationen einbezogen, in denen sie sprachlich im Rekonstruktionsprozess auftauchten und als relevant erachtet wurden. Gleiches gilt für auditive und ikonographische Merkmale, die gleichfalls aus forschungsökonomischen Gründen nicht dezidiert berücksichtigt werden konnten und nur näher betrachtet wurden, wenn sich im Material explizite Hinweise fanden. Die Analysen und Nacherhebungen fanden im September 2018 ihren Abschluss.

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ – Zur Anerkennung und Institutionalisierung eines sozialen Problems

Aus der narrativen Rekonstruktion der öffentlichen Wissensbestände zur familialen Erziehung im Rahmen des Falls ›Kevin‹ und weiterer Fälle innerfamilialer Kindesmisshandlung und -vernachlässigung lassen sich unterschiedliche Narrationslinien ableiten. Sie weisen inhaltlich zwar in eine Richtung, sind aber nicht in allen konstitutiven Elementen vollständig, kohärent, stringent und trennscharf. Vielmehr vereinen sie auch spannungsgeladene Wissensbestände zum vorliegenden Problem und dem ›richtigen‹ Umgang mit ihm, indem sie die »Widersprüche der Alltagspraxis in sich aufnehmen und darauf zielen, diese ›nach dem Prinzip der Stimmigkeit‹ zu verarbeiten« (Ariès 1975, S. 147). Sie sollten daher – ähnlich wie Deutungsmuster – als »idealtypische Deutungsschemata« (Schütz 1993, S. 259) bzw. »wiederkehrende, typische Interpretationsweisen« (Schünemann 2014, S. 74) verstanden werden, die spezifische diskursive Wissens- und Infrastrukturen verbinden und in Reinform kaum auftreten. Hierbei scheinen vor allem drei Narrationslinien die öffentlichen Verhandlungen wesentlich zu stützen, die im Folgenden detaillierter dargestellt werden: a) die Ausgangsnarration: der Fall ›Kevin‹ als Teil einer sich ausweitende Katastrophe familialer ›Erziehungsinkompetenzen‹ b) die Gegennarration: der Fall ›Kevin‹ als Wegbereiter einer gefährlichen Entmachtung familialer ›Erziehungskompetenzen‹ c) die Alternativnarration: der Fall ›Kevin‹ als Symbol eines unterentwickelten (Risiko-)Managements familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹

Als bedeutsam für die empirische Annäherung an das Phänomen familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ werden jedoch nicht nur die darin narrativ verbundenen Muster aus Wissen und Infrastrukturen erachtet (vgl. Kap. III, 1-3), sondern auch die daraus hervorgehenden übergeordneten konsensualen Sachverhalte sowie deren diachrone Entwicklung im Diskursverlauf (vgl. Kap. III, 4).

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1.

Die Ausgangsnarration: Der Fall ›Kevin‹ als Teil einer sich ausweitende Katastrophe familialer ›Erziehungsinkompetenzen‹

Die Problematisierung von Familie und deren Erziehungsleistungen im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ erfordert zunächst eine Identifizierung des Phänomens als neuralgischer und zu verändernder Sachverhalt. Dabei muss der problematische Charakter überzeugend begründet und in der Regel auch moralisch bewertet und mit Ursachenzuschreibungen bzw. Schuldzuweisungen verbunden werden, um den Status eines sozialen Problems zu erhalten (vgl. Groenemeyer 2010, S. 29). Neben der Initiierung entsprechender Wissensbestände bedarf es daher auch deren erfolgreicher strategischer Einschreibung und Inszenierung: »Dies ist die Aufgabe von Diskursstrategien, spezifischen Techniken der Darstellung von Sachverhalten, welche die Problemwahrnehmung und die mit ihr verbundenen Handlungsanleitungen rhetorisch so absichern, dass es beim Subjekt erst gar nicht zu einem Abwägen kommt, ob ›die Sache‹ näherer Aufmerksamkeit und einen eigenen Ressourceneinsatz wert ist: Bei der Rezeption muss das Individuum das Problemmuster fraglos in seinen aktiven Wissenskorpus aufnehmen und bei der späteren Identifizierung des Problems im Alltag dieses Muster fraglos exekutieren« (Schetsche 2014, S. 128, Herv. i. O.). Bei der diskursiven Etablierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ als Problem spielen daher insbesondere zu Beginn der Debatten strategische Prozesse eine Rolle, innerhalb derer die Dringlichkeit und Veränderungsnotwendigkeit über spezifische Argumentationslinien und Strategien verdeutlicht (vgl. Kap. III, 1.1) sowie soziale Akteure positioniert (vgl. Kap. III, 1.2) und mobilisiert (vgl. Kap. III, 1.3) werden, das Problem zu lösen (vgl. Kap. III, 1.4). Diese Prozesse entscheiden letztlich darüber, welche Aufmerksamkeit und welchen Verbreitungsgrad ein Problem in der Öffentlichkeit erhält. Sie sind somit als Erfolgsgeneratoren und »Versicherungstaktiken« (Beyer 2004, S. 21) zu verstehen, die narrativ eingeschrieben werden müssen, um Deutungen familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ durchzusetzen und abzusichern (vgl. Biesel 2011, S. 65; Schetsche 2014, S. 111).

1.1. 1.1.1.

Die Problematisierung des Falls ›Kevin‹ als epidemisches ›Horrorszenario‹ Die Dramatisierung und Skandalisierung familialen Versagens

Damit der Fall ›Kevin‹ nicht als »einer unter vielen« (taz 26.10.2006), sondern als problematisch wahrgenommen und kollektiv bedeutsam wird, muss er sich in seiner Darstellung zunächst von alltäglichen Begebenheiten abheben. Bei der Inszenierung der Ereignisse wird daher insbesondere in der Ausgangsnarration häufig auf Strategien der Dramatisierung und Skandalisierung zurückgegriffen, um das Geschehen hervorzuheben und die Adressaten dafür zu sensibilisieren: »Taten von Eltern, die ihre Kinder grausam vernachlässigen, verhungern oder verdursten lassen, schockieren auf eine Art wie kaum ein anderes Verbrechen« (taz 14.10.2006a). Mit Derksen (2014) lässt sich hierbei die Tendenz erkennen, »unsichere Prognosen als gesicherte Erkenntnisse« (S. 25) zu vermitteln. Eine solche »Transformation vom Ungewissen ins Gesicherte« (ebd.) begrenzt die Perspektive

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

für die Öffentlichkeit auf eine mutmaßliche Zunahme der Gefährdungstatbestände von Kindern, so dass zwangsläufig der Eindruck entsteht, die innerfamiliale Gefahrenlage habe sich bedrohlich ausgeweitet. So würden Kinder »viel häufiger misshandelt, als es die Öffentlichkeit wahrnehme« (taz 26.10.2006). Es sei »[s]chlimmer, als wir meinen« (Die Zeit 43/2006a). »Immer mehr Eltern wird das Sorgerecht entzogen« (Die Welt 19.07.2008), »immer mehr Kinder werden von Behörden in Obhut genommen« (Die Welt 08.01.2009), »immer mehr Kinder werden aus ihrer Familie geholt und ins Heim gesteckt« (Die Welt 26.06.2009a). Die Diagnose scheint klar: »Immer mehr Eltern sind erziehungsunfähig« (FAZ 17.10.2006c), »immer mehr Eltern versagen« (Die Welt 26.06.2009b) und »immer mehr Eltern sind nicht willens oder in der Lage, ihre Kinder verantwortungsvoll großzuziehen« (Die Zeit 43/2006b). Dass bislang kaum solide und gesicherte Zahlen zu solchen Fällen vorliegen (vgl. Kap. II, 2.2.3), spiegelt sich hier kaum wider. Wenn Zahlen mutmaßlicher Opfer benannt werden, habe es sich, so Schetsche (2014), in der medialen Praxis vielmehr etabliert, diese nach oben zu korrigieren: »Je höher die behauptete Zahl der Betroffenen bzw. Opfer eines Ereignisses oder Zustandes, umso eher findet das Problem seinen Weg in die Massenmedien und umso wahrscheinlicher weckt es das Interesse (und das Engagement!) der Subjekte« (S. 129). Unterstützend werden daher immer wieder Statistiken aufgeführt und ›Experten‹ herangezogen, die nicht nur ein angeblich zunehmendes Versagen familialer ›Erziehungskompetenzen‹ attestieren (»Heute haben wir es mit einer steigenden Zahl erziehungsunfähiger Eltern zu tun«, Die Welt 20.12.2007), sondern auch die steigende Anzahl von Inobhutnahmen als Resultat dieser Entwicklung deuten: »Immer mehr Kinder werden von Behörden in Obhut genommen. Grund sind Fälle wie Lea-Sophie« (Die Welt 08.01.2009). Diese gezielte Selektion und Agendasetzung1 vorhandener Studien zur Kindeswohlgefährdung und -tötung ermöglicht es, Bedrohungsszenarien und Handlungsdruck zu erzeugen und zu verstärken. Dabei wird weitestgehend ausgeblendet, dass Fälle gut behüteten Aufwachsens nach wie vor die Regel darstellen. Es ist daher nicht auszuschließen, dass relevante Daten oder wichtige Hintergrundinfos zu veröffentlichten Studien zugunsten strategisch nutzbarer Bestandteile in der massenmedialen Thematisierung vernachlässigt werden, hohe Dunkelziffern als nicht überprüfbare Stabilisierungsfaktoren missbraucht oder Daten gar vorsätzlich manipuliert werden (vgl. Schetsche 2014, S. 129), d.h. eine Täuschung vollzogen wird als bewusstes »Bemühen einer oder mehrerer Personen, das Handeln so zu lenken, dass ein oder mehrere andere zu einer falschen Vorstellung von dem gebracht werden, was vor sich geht« (Goffman 1977, S. 98). Solche Strategien der Dramatisierung und Skandalisierung sind mit Schimmeck (2011) generell als großer medialer Trend der Gegenwart zu werten. Auch Eisenegger (2016) und Gebards (1988) konstatieren eine generelle Häufung dramatisch inszenierter skandalträchtiger Kommunikationsereignisse seit den 1980er Jahren. Das führt zu 1

Der Agenda-Setting-Ansatz unterstellt anhand verschiedener Konzepte, dass die gesellschaftliche Thematisierung sozialer Probleme durch die Massenmedien darüber entscheidet, welchen Problemen sich eine Gesellschaft widmet. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass Ereignisse oder Einzelfälle diese Situation zwar bestärken oder in eine andere Richtung lenken können, sie jedoch nicht selbständig herstellen (vgl. Martschukat 2008). Der Begriff wird daher an dieser Stelle in seiner allgemeinen Bedeutung als Themensetzung verwendet. Zum Agenda-Setting-Konzept vgl. zum Teil auch kritisch z.B. Ehlers (1983), Maurer (2010) oder Rössler (1997).

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der Annahme, dass »Prinzipien der Affektkontrolle an Bedeutung verloren haben, das Ausleben und Ausstellen von emotionalen Befindlichkeiten akzeptabler geworden ist, die Scham- und Peinlichkeitsschwellen gesunken« (Gerhards 1988, S. 241) sind: »Man muss die Öffentlichkeit schockieren […,] sonst interessiert sich keiner für das Thema« (Focus 42/2006b). Als »Katastrophe« (Die Welt 17.10.2006) lassen sich die Ereignisse dann ausgezeichnet in massenmediale Aufmerksamkeitsordnungen integrieren, die sich »auf die Sensation, das Spektakel, den Skandal, das Dramatische, die Anomalie, also das, was nicht erwartet wird, richten« (Keller 2008a, S. 306). Rutschky (1992) spricht mit Blick auf die Darstellung der mutmaßlichen »Häufung krasser Fälle« (FAZ 12.10.2006) zu einer »Reihe von Kindesmisshandlungen« (taz 18.12.2006a) auch von einer »voyeuristischen Ausbeutung und Anbiederung an menschliches Unglück« (Rutschky 1992, S. 9).

1.1.2.

Familiale ›Erziehungsinkompetenz‹ als Bedrohung der sozialen Ordnung

In der Darstellung der Ereignisse um Fälle wie ›Kevin‹ spielt neben Dramatisierungsund Skandalisierungsstrategien vor allem die strategische Nutzung von Emotionen eine entscheidende Rolle. Der Tod Kevins sei »mehr als das traurige Ende« (Der Spiegel 22/2007) eines »tragischen Fall[s]« (Die Welt 12.10.2006a), der »ganz Deutschland erschüttert« (Die Welt 04.11.2006) und »nicht wütend mache, sondern anekele« (Die Welt 14.10.2006a). Aber auch hinsichtlich anderer Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung herrsche »bundesweit Entsetzen« (Die Welt 21.01.2009), und »in das öffentliche Entsetzen danach mischte sich Fassungslosigkeit« (Die Welt 21.08.2010). Das hierbei häufig verwendete Wort ›Entsetzen‹ leitet sich etymologisch von »außer Fassung kommen« ab, synonym ausgedrückt »aus der Ordnung fallen«– was das Auftreten solcher Fälle exakt beschreibt (Fechtner 2013, S. 223). Schließlich sei es erst einmal »nichts Alltägliches, wenn ein Kind zu Schaden kommt« (Schetsche 2013, S. 50f.). Die Ereignisse erhalten durch diese ›dramatische‹ Störung der Ordnung einen emotionalen Nachrichtenwert, der alte Ordnungen ins Wanken bringt und hierbei sowohl Bedürfnisse nach Information als auch nach Sensation und Unterhaltung erfüllt (vgl. Dresen 2014, S. 128f.). Die massenmedialen Verhandlungen dieser Narrationslinie sind zudem sehr stark von illustrativen Darstellungsformen und bildhaften sprachlichen Schilderungen der emotional aufgeladenen Leichenfunde durchzogen, die »unter die Haut gehen« (Die Welt 21.12.2007) und an die der Narrationsverlauf beinahe durchgehend gebunden bleibt: »Als die Polizisten kurz nach sieben Uhr morgens die Wohnungstür aufbrachen, zeigte der Vater bloß zum Kühlschrank. Dort drinnen lag Kevin. Die Leiche des zweieinhalbjährigen Kindes war kaum 90 Zentimeter groß und erbarmungswürdig zugerichtet: Kevins linker Oberschenkel war gebrochen, ebenso das rechte Schienbein, auch ein Arm. Dazu hatte der blonde Junge schwere Kopfverletzungen, an denen er möglicherweise gestorben ist« (Der Spiegel 42/2006a). »Staatsanwalt Seemann sagte, er habe nie zuvor in seiner langen Zeit bei Gericht eine vergleichbar schrecklich zugerichtete Leiche gesehen« (Die Welt 21.08.2010). »Ein Schöffe kippt beim Anblick von Kevins Obduktionsfotos um, die vorn beim Richter ausgebreitet liegen […]. Ein 37jähriger Bremer Rechtsmediziner berichtete detailliert, was er zu Gesicht bekam, als er am 10. Oktober 2006 zum Fundort gerufen wurde und wenig später auf dem Seziertisch vorfand. Seine Schilderungen gehen für die Zuhörer auch ohne Anschauungsmaterial

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

unter die Haut. In drei übereinander gestülpten gelben Müllsäcken befand sich die Kinderleiche im Kühlschrank, ›eingewickelt in eine grünbräunliche Decke und in ein Frotteehandtuch, umgeben von Fruchtfliegen‹. Die Leiche sei ›stark verfault‹ gewesen, fünf Knochenbrüche und eine Einblutung in der oberen Stirn habe man in der Pathologie an dem 83 Zentimeter großen und 7,2 Kilogramm leichten Kinderkörper festgestellt« (Die Welt 21.12.2007). Auch das vorangegangene »Martyrium« (SZ 23.11.2007a; Der Spiegel 49/2006) der misshandelten Kinder wird eindrücklich beschrieben: »Havemann [Leiter des Berliner Dezernats 12, das auch für Kindesmisshandlungen zuständig ist] blättert Bilder aus Ermittlungsakten auf den Tisch: ausgehungerte Säuglinge, dunkle Striemen von Kleiderbügeln, Glutnarben von Zigaretten, Knochenbrüche, Verbrühungen durch heißes Wasser, Flecken, die von heißen Bügeleisen stammen. Und er erzählt von Kindern, die geschüttelt werden, wenn sie zu viel schreien. Dabei reißen leicht die Brückenvenen, die zwischen Gehirn und Hirnhaut verlaufen. An den Blutungen kann ein Kleinkind durchaus sterben. Häufiger jedoch sind Spätfolgen, schwerste Behinderungen beispielsweise« (taz 28.10.2006b). Die massenmedialen Verhandlungen von Fällen wie ›Kevin‹ sprechen somit vor allem die sinnliche Wahrnehmung an: »Wer versucht sich ein Bild zu machen, spürt ein Entsetzen, das kaum zu steigern ist« (SZ 13.10.2006c). Die guten Visualisierungsmöglichkeiten des Wissens in erschütterten Bildern des Leids bieten eine große Chance, das Problem als solches zu etablieren, denn sie ermöglichen es dem Rezipienten im Sinne einer parasozialen Interaktion, sich mittels Imagination mit den dargestellten Akteuren so in Bezug zu setzen, dass das mediale Miterleben, Mitfühlen und Mitleiden zum Teil auf die reale Lebenswelt des Rezipienten wirken kann, fast als wären sie selbst dabei gewesen (vgl. Hartmann et al. 2004). Die Darstellung der Ereignisse transportiert somit Gefühle, die mit Identifikationsprozessen einhergehen und medial inszeniert und genutzt werden können: »In den Medien wird die Welt nicht einfach gespiegelt, es liegt in der Logik der Medien, das, was sie transportieren, ›interessant‹ zu machen, also nicht etwa eine Information als simple Nachricht weiterzuleiten, sondern deren spezifische ›newsworthiness‹ durch thematische Selektion, Dramatisierung, Skandalisierung, Übertreibung zu inszenieren. Medien können das, was passiert ist, in kleinsten Details und unendlichen Wiederholungen präsentieren und sie können das, was alles passieren könnte, in eindrücklichen Bildern ausmalen« (Bergmann 2002, S. 10). Strategien der Imagination dieser Kinderschicksale erfüllen somit nicht nur eine Informations- und Warnfunktion, in der die Ereignisse als Problem wahrgenommen und verfestigt werden, sondern dienen – ähnlich wie Metaphern – auch dazu, das Problem mittels Visualisierung und Alltagsnähe vereinfacht zu veranschaulichen und verständlich zu machen (vgl. Freitag 2013, S. 372). Indem Familien hierbei als eine sich ausweitende Gefahr für ihre Kinder inszeniert werden, erscheinen die angeblich zunehmenden familialen ›Erziehungsinkompetenzen‹ gleichzeitig als eine zunehmende Bedrohung der sozialen Ordnung. Das kann dazu führen, dass der Wirkungsgrad von kognitiven Mustern deutlich gesenkt wird und die Rezipienten Deutungen von

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Fällen wie ›Kevin‹ weniger mit Blick auf deren Rationalität und Verhältnismäßigkeit hinterfragen. Mittels der strategischen Initiierung und Aufrechterhaltung der unterstellten Gefahrenlage wird diese im Sinne von Ciompis »Theorie der Affektlogik« (1982) zu einem »kognitiven Reiz« in der Wahrnehmung der Rezipienten, der deren Denken kanalisiert und strukturiert. Eine Wahrnehmung der von Familien angeblich ausgehenden Gefahren wird damit schneller und nachhaltiger adaptiert und mit alltagsweltlichen Assoziationen verbunden, die etablierte Wirklichkeitsordnungen restabilisieren oder transformieren können. Angsteinflößende Emotionen und Bedrohungsszenarien können so vor allem Deutungsspielräume und damit das Spektrum interaktiver Sinnkonstitutionen erweitern oder verdichten, denn die meisten Entscheidungen werden emotional getroffen. Auf diese Weise tragen die Inszenierungen als Bedingung zu Handlungsentscheidungen bei und haben dort unterschiedliche Konsequenzen (vgl. Scherke 2014). Dies kann bis hin zu einer permanenten und generalisierten Stimmung der Unsicherheit und der Wahrnehmung einer ›Gefahrengesellschaft‹ führen, in der das öffentliche Interesse an »einer steigenden Zahl erziehungsunfähiger Eltern« (Die Welt 20.12.2007) die Kontingenzangst einer gesellschaftlicher Anomie immer weiter verstärkt (vgl. Schetsche 2014, S. 224). Als nur schwer widerlegbare Sinngebung können solche Ängste zum Äquivalent einer normativ abgestützten Deutung werden, das endlos genutzt werden kann, da es weitestgehend resistent gegen Kritik ist (vgl. Luhmann 1986) und sich in der Regel relativ stabil und überdauernd zeigt. So gesehen sind Gefühle, vor allem Angst und Furcht,2 »als Ursachen und Folgen von Vergesellschaftungsprozessen aus der soziologischen Literatur gar nicht wegzudenken […]. Es gibt keine soziologische Theorie abweichenden Verhaltens, keine Arbeit über soziale Kontrolle, keine soziologische Untersuchung über Macht und Herrschaft, keine Konfliktsoziologie, keine Kultursoziologie und keine Religionssoziologie, bei der nicht an irgendeiner Stelle im Theoriegefüge der Faktor Angst eingebaut wäre« (Bergmann 2002, S. 2). Luhmann (1986) erkannte in der Angst sogar »das vielleicht einzige Apriori moderner Gesellschaften, auf das sich alle Gesellschaftsmitglieder einigen können. Sie ist das Prinzip, das absolut gilt, wenn alle Prinzipien relativ geworden sind« (S. 158). Den zentralen Stellenwert und die Stabilität kollektiver Ängste konnte auch Weber (2015) in seiner Studie zur Bedeutung von Emotionen in internationalen Beziehungen hervorheben, in der er eine weit verbreitete »Angst vor den Deutschen« infolge der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges konstatiert (S. 69ff.). Somit kann auch für Fälle wie ›Kevin‹ angenommen werden, dass die 2

Die im Deutschen häufig vollzogene Abgrenzung der konkreten Furcht von abstrakter Angst findet sich weder in den populären historischen sozialwissenschaftlichen Schriften von Hobbes, Kierkegaard oder Heidegger, auf die häufig rekurriert wird, noch eignet sich eine so verstandene Furcht als Analysekategorie, da »Furcht zwar auf eine Bedrohung gerichtet [ist], […] bei der [aber] die ›Möglichkeit des Ausbleibens‹ […] das Fürchten nicht mindert oder auslöscht, sondern ausbildet« (Heidegger 1927, S. 141) und damit ebenfalls im Abstrakten und Unbestimmten mündet. Dem entspricht auch Hillmanns (2007) Definition von Angst im »Wörterbuch der Soziologie«: Angst ist die »psychologische Bezeichnung für einen spezifisch ausgelösten oder chronischen Affektzustand, der mit Furcht- und Schreckgefühlen verbunden ist. Angst kann sowohl als bestimmte, auf angebbare Personen, Situationen oder Objekte bezogene, wie unbestimmte, vage auftreten« (S. 24). Die Begriffe ›Angst‹ und ›Furcht‹ werden in der vorliegenden Arbeit daher synonym verwendet.

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

emotionalisierten Rezeptionsabläufe und generierten Ängste als wesentliche Erfolgsfaktoren einer öffentlichen Thematisierung familialer ›Erziehungsinkompetenzen‹ als gesellschaftliche Bedrohung gesehen werden können.

1.1.3.

Die metaphorische Inszenierung der Familie als dämonischer Ort moralischer Verunreinigung

Zur intendierten Erzeugung von Emotionen wie Ängsten, aber auch Entsetzen und Mitgefühl werden im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ neben Strategien der Skandalisierung und Imagination auch Metaphern eingesetzt. Als zentral können hierbei die Metaphernfelder der Dunkelheit und des ›Mülls‹ angesehen werden. Die Hypertrophierung familialer ›Erziehungsinkompetenz‹ als ein wesentliches Problem der Gegenwart und eine Bedrohung der Gesellschaft mündet in einer konzeptionellen Dunkelheits- und Verunreinigungsmetapher. Sie tritt als wiederkehrendes Motiv nicht nur punktuell zur Illustration auf, sondern wird narrativ zu einem metaphorischen Feld der »Müllhölle« (SZ 17.05.2010) ausgebaut. Wohnungen jener Familien, in denen sich Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung ereignet haben, werden hierbei als düstere und chaotische Orte inszeniert, die sich in »desolatem Zustand« (SZ 04.09.2013) befinden. Die Rede ist im Fall ›Kevin‹ z.B. von »vermüllten Kellerwohnungen« (SZ 30.07.2008) in einem »Plattenbau« (SZ 23.11.2007a) »im tristen Teil des Arbeiterviertels« (FAZ 13.10.2006b), die einer von »Verwesungsgeruch und Maden« (Die Welt 25.10.2007) durchzogenen »Müllhalde« (SZ 23.10.2006; SZ 30.07.2008) ähneln. Hier sei es »dunkel und kalt, es stank aus dem Kühlschrank« (taz 18.12.2006b). Derartige Beschreibungen finden sich aber auch in den Berichterstattungen zu anderen Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, wie z.B. zum Tod eines misshandelten Säuglings in Illertissen: »Im Kinderbettchen stapelte sich bis zum Gitterrand Müll […]. Das Baby lag abgemagert und apathisch auf einem verdreckten Schlafsofa. Im selben Zimmer hausten drei von Flöhen und Würmern befallene Katzen. Die gesamte Wohnung war voll von gebrauchten Windeln, Katzenkot und verschimmelten Lebensmitteln […]. Überall in der Wohnung herrschte ein Geruch von Urin, Tierkot und Müll« (SZ 17.05.2010). »[Solche Fälle] erschüttern die Öffentlichkeit immer wieder – wie auch der Fund eines toten Babys, offenbar einer Totgeburt, in einer Plastiktüte am vergangenen Donnerstag in Hamburg, unterdessen wachsen Tausende Kinder verwahrlost zwischen Müll, Schnapsflaschen und Psychopharmaka auf, Kinder, die mehr Prügel als Essen bekommen und fast nie saubere Kleidung« (Der Spiegel 42/2006a). Selbst der Körper eines siebenjährigen Mädchens aus Bayersried war bei seinem Auffinden»bis obenhin voller Unrat« (SZ 13.12.2008), und im Fall ›Jessica‹ wird ebenfalls auf deren »vermülltes, finsteres Zimmer« (SZ 13.10.2006a) verwiesen. Dreck und Schmutz gelten seit hunderten von Jahren als Symbole für Sünde und als Antonym der ›reinen Unschuld‹. Auf eine solche Verbindung sind auch Redewendungen wie z.B. »Dreck am Stecken haben« zurückzuführen, die Personen kennzeichnen sollen, die eine schmutzige, sündige oder kriminelle Vergangenheit verbergen (vgl. Krause 2016, S. 50f.). Die Darstellung des trostlosen Lebensraumes der Kinder kann somit nicht nur als Spiegel ihres trostlosen Lebens verstanden werden, sondern auch als Sinnbild der moralischen Verunreinigung und der ›Sünden‹ der Eltern. Die in dieser Müllmetaphorik angelegten Dichotomien von ›Gut und Böse‹ bewegen sich nicht

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nur zwischen den Polen ›sauber/wertvoll‹ und ›schmutzig/wertlos‹, sondern zeigen sich auch in der Kontrastierung von Hell und Dunkel, die sich ebenfalls durch die gesamte Story-Line der Ereignisse zieht. Während Helligkeit und Licht traditionell als Sinnbilder von Wahrheit und Reinheit fungieren (Blumenberg 1960, S. 26f.), stellen düstere und mythische Geschehnisse deren Antagonismus, nämlich die Lüge und die psychische Störung dar: »Man kann sich ›dunkel erinnern‹, das Mittelalter gilt als ›dunkel‹, man sprach von einem ›umnachteten‹ (psychotischen oder dementen) Menschen, und Politiker haben unter bestimmten Umständen einen ›black-out‹. Ob letztere regelmäßig ›unterbelichtet‹ sind, eine ›Mattscheibe‹ oder einen ›Knick in der Optik‹ haben, kann hier nicht untersucht werden, verweist aber auf die Fülle visueller Metaphern für psychische Phänomene« (Schmitt 1995, S. 397). Als Gegenwelt des Scheins und der Helligkeit erlauben die Geschehnisse in Fällen wie ›Kevin‹ einen Blick in die »Untiefen der menschlichen Seele« (Focus 42/2006b) und erscheinen als dunkle, rational nicht nachvollziehbare Ereignisse, in denen Kinder unter Umständen »niemals das Tageslicht gesehen« (SZ 13.12.2008) haben. Die Vergleiche der Obduktionsberichte mit »Kriegsverletzungen« (SZ 18.10.2006a) und »Sektionsprotokollen des Warschauer Ghettos« (ebd.) oder der Assoziation einer mutmaßlichen Bedrohung, die von Familien ausgeht, mit Gefahren durch »Terror« (SZ 30.11.2007a) lassen die Lebenswelt der Betroffenen mitunter gar zu einem Kriegsschauplatz werden, auf dem sich Ereignisse abspielen, die letztlich alle betreffen: »Es gibt Geschehnisse, in deren Dunkelheit sich nicht nur Täter und Opfer verlieren, sondern jeglicher Zeuge, jeder, der nur einmal davon hört […]. Für einen Moment gibt es keine Unbeteiligten mehr. Nur noch Menschen, die am Abgrund stehen und vor dem Schwarzen schaudern« (Focus 50/2007). Wenn Berichte familiale Lebensräume und -welten als einen »unheimlichen, düsteren« (Der Spiegel 49/2006) und »diabolischem Ort« (Der Spiegel 42/2006a) oder eine »fremde, eine unheimliche Welt« (Der Spiegel 49/2006) beschreiben, fügen sich diese Darstellungen zu einem Gesamtbild, dessen Dunkelheit sich über alle Bürger auszubreiten droht: »Die Geschehnisse überziehen ein Dorf, eine Stadt, ein ganzes Land mit einem lähmenden Schatten« (Focus 50/2007). Das Leben und Sterben von ›Kevin‹ und anderen Kinder wird insgesamt in eine mythisch-düstere Metaphorik bis hin zu einer »Horrormythologie der Kindheit« (Honig 1993) überführt: Es sei ein »höllisches Leben und grausames Sterben« (Die Zeit 25/2008) »wie in einem Horrorfilm« (Die Zeit 43/2006b) oder einer »Vorstadthölle« (Die Zeit 51/2007b), die ein »Abschied vom Idyll« (Der Spiegel 49/2006) der Familie zeichnen: »Die Familie ist ein unheimlicher Ort geworden. Sie liefert wenig beruhigende Nachrichten. Neben das vertraute Bild der bürgerlichen Kleinfamilie, die sich am Ende des Tages um den Abendbrotstisch versammelt, ist die düstere Version eines häuslichen Zusammenlebens getreten« (Der Spiegel 49/2006). »[Die Familie] erscheint plötzlich als düsteres Zentrum eines kalten Landes, das trotz allen Reichtums, trotz aller Gesetze und Sozialbehörden nicht in der Lage ist, die Schwächsten und Hilflosesten seiner Gemeinschaft ausreichend zu schützen« (Focus 50/2007). »Folgerichtig ist heute der gefährlichste Ort für Kinder nicht der dunkle Stadtpark, sondern die eigene familiäre Wohnung« (SZ 18.10.2006d).

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

Innerhalb dieses ›Horrorszenarios‹ scheinen Sauberkeit und Reinheit als Kontrastfolie der ›vermüllten‹ Lebenswelten und ›verunreinigten‹ moralischen Lebenslagen zu dienen. So geschehen Verbrechen an Kindern z.B. hinter der Fassade eines idyllischen »rotweiß verklinkerten Hauses im kleinen Ort Darry« (Focus 50/2007), und das saubere »goldglänzende Schloss« (SZ 23.11.2007a) wird als glückliche Gegenwelt, aber auch Fassade moralischer Reinheit inszeniert, hinter der sich häufig die Verschmutzung und das Elend verbergen. Gelingt es jedoch, die Kinder vor deren Tod in eine institutionelle Betreuung zu übergeben, wird diese zumeist wie das Kinderheim ›Hermann-Hildebrand-Haus‹ als geborgenheitsspendende, beschützende Gegenwelt zur ›düsteren‹ Familie inszeniert: »Apfelkuchen, es riecht nach Apfelkuchen an diesem Morgen. Das ist der Duft eines Zuhauses. Im Foyer des Hermann Hildebrand Hauses ist es ganz still, hinter der Tür rechts hört man das Trappeln kleiner Kinderfüße. Ein Mädchen, vielleicht vier Jahre alt, rennt den Flur auf und ab, bestens gelaunt, es winkt durch die Scheibe, versteckt sich neckisch in einer Ecke, lugt lächelnd hervor, winkt wieder. Durch die Tür kommen kann es nicht, der Griff ist auf Augenhöhe eines Erwachsenen. In einem anderen Seitenflügel, schreit ein Baby, auch hier eine Glastür, man sieht eine Frau mit einem Kind auf dem Arm. Die Mutter des Babys ist es nicht. Alles wirkt so beschaulich, so heimelig. Wenn Kevin noch lebte, dann wäre er seit Dienstagmorgen hier, vielleicht würde er mit dem Mädchen rechts durch den Flur toben oder im Arm einer Erzieherin dösen. Und später würde es Apfelkuchen geben. Aber Kevin ist tot« (SZ 13.10.2006a). Diese Kontrastierungen können nicht nur dazu dienen, das Problem angeblich mangelnder familialer ›Erziehungskompetenz‹ in Fällen wie ›Kevin‹ zu einleuchtenden und klar strukturierten Bildern bzw. Sprachgerüsten zu formen, sondern auch bislang Ungesagtes oder weiterhin Unsagbares in verhüllter Form zu thematisieren. So haben Metaphern zwar zunächst unter Umständen eine befremdliche Wirkung, sie zeichnen sich aber durch eine hohe kollektive ›Deutlichkeit‹ aus, während sie als Darstellungsform eher implizit bleiben. Während die metaphorische Übertragung einer Bedeutung in einen anderen Bereich somit zunächst als Störung empfunden werden kann, vermag sie – im Gegensatz zum ›Fremdwort‹ – diese Störung in der Regel durch die Herstellung und Visualisierung einer Ähnlichkeit mit anderen Sachverhalten kognitiv eigenständig zu beheben, so dass ein Sachverhalt auch in seiner impliziten Darstellung verständlich wird. Diverse Studien konnten nachweisen, dass Metaphern hierbei immer die neuronalen Bereiche aktivieren, die mit dem metaphorisch verknüpften Sachverhalt in Verbindung gebracht werden. Emotionen wie Angst, Wut, Trauer, Freude oder Ekel können durch solche metaphorischen Verknüpfungen gezielt hervorgerufen werden. Sie zeichnen sich daher als ideale Ausdrucksmöglichkeit aus, um Wissensvorräte mit Emotionen zu verbinden und in den öffentlichen Diskurs einzuspeisen, zu popularisieren und zu verankern (vgl. Acke 2015, S. 282).

1.2. 1.2.1.

Die Täter-Opfer-Polarisierung als simplifizierendes Strukturkonzept Skrupellose ›Eltern-Täter‹ als Referenzfolie familialer ›Erziehungsinkompetenzen‹

Die dramatisierenden und emotionsgeladenen Darstellungen des ›Horrorszenarios Familie‹ rücken auch die »skrupellosen Eltern« (Der Spiegel 48/2007) und »das allgemeine

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erzieherische Unvermögen der Familien als neue ›Volkskrankheit‹« (Focus 19/2005) in den Vordergrund der Ereignisse. Als Ursachennarration für das Geschehen von Fällen innerfamilialer Kindesmisshandlung und -vernachlässigung wird vor allem darauf rekurriert, dass »ihnen [den Eltern] die Kinder egal oder lästig sind« (SZ 19.12.2007a). So habe Birgit W. ihre Tochter z.B. »aus Gleichgültigkeit und Böswilligkeit über einen längeren Zeitraum bewusst nicht mehr ausreichend gepflegt und versorgt« (SZ 28.09.2010). Ein ähnliches Szenario wird für den Fall ›Lea-Sophie‹ beschrieben: »Weil ihre eigene Mutter es so wollte, verhungerte sie in einem finsteren Zimmer« (Die Zeit 51/2007b). Das Versagen familialer ›Erziehungskompetenzen‹ wird hierbei in erster Linie als gewaltsame Form der Machtdemonstration und bewusster Missbrauch der elterlichen Sorge vor dem Hintergrund mentaler »Gleichgültigkeit und völliger Gefühllosigkeit« (FAZ 19.10.2007) gewertet, wie es sich auch in der Aussage einer Mutter widerspiegelt: »Ich habe dieses Kind in die Welt gesetzt, ich kann damit machen, was ich will […]. Mir tat die Hand vom Schlagen so weh, da musste ich einen Bügel nehmen« (taz 28.10.2006b). Die handelnden Akteure werden hierbei nicht nur ›dämonisiert‹, sondern es erfolgt an einigen Stellen auch eine gewisse Ontologisierung, bei der Eltern als gedachte Objekte entpersonalisiert werden. In der massenmedialen Darstellung des »ungeheuren« (FAZ 20.02.2008) bzw. »ungeheuerlichen« (Die Zeit 43/2006b; Die Welt 13.10.2006) Falls ›Kevin‹ wird der Ziehvater z.B. als bedrohliche »Kampfmaschine« (Die Zeit 25/2008) in Szene gesetzt und immer wieder betont, dass der Mann für seine Gewaltbereitschaft bekannt und mehrfach vorbestraft gewesen sei (z.B. Die Welt 12.10.2006a; FAZ 17.10.2006a; taz 26.10.2006). Analog zu einer ausführlichen Darstellung der »schrankenlosen Gewalt« (FAZ 21.05.2008) und »massiven sozialen Verkrüppelung« (Die Zeit 51/2007b) wird auch dessen körperliche Konstitution sehr detailliert beschrieben und mit imposanten, zum Teil dämonisch-monströsen Zügen versehen, wenn er in Berichten als »hünenhafter Mann« (ebd.) oder »Ausnahmeerscheinung« (ebd.) auftritt, der an den »Leadgitarristen einer Rockband« (ebd.) erinnert. Selbst ein Heimleiter zeigte sich »entsetzt über das Erscheinungsbild des Mannes« (FAZ 13.10.2006a). Diese Zuschreibungen ›dämonischer‹ Eigenschaften von Eltern finden sich keinesfalls nur im Fall ›Kevin‹, sondern zeigen sich auch in der Berichterstattung zu anderen Fällen. So habe z.B. auch der Stiefvater des zu Tode gequälten fünfjährigen Julian an einer »extremen Überreiztheit« (Die Welt 21.08.2010) gelitten. Viele Mütter, so auch Kevins Mutter, seien hingegen als »menschliches Wrack« (FAZ 21.05.2008) anzusehen und somit per se nicht imstande, ihre Erziehungsleistungen zu erbringen. Insgesamt erscheint die Familie in dieser technisierten Metaphorik »sozial völlig aus dem Ruder gelaufen« (Die Welt 19.10.2006) und »kaputt« (Die Welt 23.04.2008). Mitunter erinnern die Porträtierungen aber nicht nur an emotionslose, fremdgesteuerte maschinelle Vorgänge, sondern auch an tierische Wesenszüge: »Zuverlässigkeit, liebevoller Umgang mit dem Kind trete in den Hintergrund, wenn der Hunger nach dem Stoff und die Jagd nach dem notwendigen Geld beginne« (SZ 12.10.2006b) und die Hilfe nicht beim Kind ankomme, sondern »im Hundenapf« (Der Spiegel 48/2007) lande. Misshandelte und verwahrloste Kinder seien »vor die Hunde gegangen« (Der Spiegel, 48/2007) – und oftmals als Kind auch deren Peiniger selbst: »Beim Thema Vater heulen die Schlosshunde auf der Therapiecouch« (Focus 31/2011). Diese Aktivierung wird zum Teil auch durch den räumlichen Kontext bzw. die Positionierung einiger Artikel begünstigt. So ist z.B. ein

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Bericht über verwahrloste Kinder und ›verunreinigte‹ Familienverhältnisse direkt unter einem groß angelegten Artikel über Kinder als Opfer von Kampfhunden platziert, über dem ein großes Foto eines Kampfhundes prangert (SZ 30.07.2008). Diese räumliche Nähe kann im Sinne eines ›Priming‹3 die Verarbeitung der Informationen unbewusst beeinflussen und Assoziationen zum animalischen Wesen misshandelnder Familien als ›Bestien‹ herstellen bzw. verstärken, die dann als solche kognitiv eingeordnet und abgelagert werden. Dies lässt eine starke öffentliche Wahrnehmung der Brutalität solcher Eltern, insbesondere der Väter, in der Öffentlichkeit erwarten. Wird das Erscheinungsbild des Stiefvaters von Kevin oder das von anderen »›Eltern‹-Tätern« (Focus 50/2007) beschrieben, finden sich auch gehäuft Verweise auf deren nahezu ›unmenschliche‹ Augen: »Der Bernd, der hatte so einen komischen Mund. Und die Augen? Ihm in diese Augen zu schauen, das hätten sie nicht gewagt, zu viel Angst hätten sie vor ihm gehabt« (Die Zeit 43/2006b). Das Auge wird gemeinhin als ›Spiegel der Seele‹ gedeutet, in ihm lasse sich der Charakter der Menschen ablesen (vgl. Lowen 1976, S. 245). Mit solchen Hinweisen wird daher das düstere, fremdgesteuerte Wesen der Personen unterstrichen, denn nichts kennzeichne das Böse in dem Maße wie das Auge und der Blick (vgl. Schuller 1993; Seligmann 1985 [1910]). Als besonders unangenehm und unbehaglich gilt es daher gemeinhin auch, angestarrt zu werden (vgl. Firges 1996, S. 9) – ein Vorgang, der ebenfalls häufig mit den entsprechenden Elternteilen in Verbindung gebracht wird: »Seine Augen, sie starrten mich so an!« (Die Zeit 25/2008). »Der schwarz gefärbte Pony hängt ihr in die Augen, der Wollpulli ist zu groß für ihren mageren Körper, die dunklen Augen starren am Richter vorbei« (taz 20.12.2007). Die bedrohliche Deutung unheimlicher Augen lässt sich bis in die griechische Mythologie zurückverfolgen, wo der unergründliche Blick der Medusa jeden Mann zu Stein erstarren ließ. Auch das Verdecken der Augen bei Hinrichtungen soll nicht aus humanitären Gründen eingeführt worden sein, sondern aus Furcht vor dem Blick des Hingerichteten, und der Ritus, einem Verstorbenen nach dem Eintritt des Todes die Augen zu schließen, geht wohl auf ähnliche Ängste zurück (vgl. Rostek-Lühmann 1995). Der Rückgriff auf solche archaischen Ängste, wie er bereits der Stilisierung des Falls ›Kevin‹ als Katastrophe dient (vgl. Kap. III, 1.1.2), kann somit auch bei der Positionierung der skrupellosen Eltern als ›böse Täter‹ als eine tragende Strategie aufgefasst werden, um den Wirkungsgrad der Narrationen zu erhöhen: »Die beteiligten Akteure nutzen symbolisch-kulturelle ›Mittel‹, um ihren Erzählungen Gehör zu verschaffen: verbreitete Metaphern, gängige Erzählmuster, Bilder u.a. m. Die gesellschaftliche Resonanz ist umso größer, je mehr es gelingt, an geläufige soziokulturelle Deutungsmuster anzuknüpfen und diese in die Argumentation einzubauen.

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Der Begriff ›Priming‹ (›to prime‹ = aktivieren, zünden) umschreibt die psychologisch etablierte These, dass »die Verarbeitung einer bestimmten Information zu einer Aktivierung eben dieser und verwandter Informationen führt und dass diese in der Folge bevorzugt genutzt werden« (Felser 2015, S. 230). Der ›Priming-Effekt‹ besagt somit, dass vorangegangene Reize die Verarbeitung nachfolgender Reize beeinflussen. Insbesondere dem ›negativen Priming‹ wird in der Medienforschung eine große Nachhaltigkeit zugesprochen, die in der Regel auch zu einer generell stärkeren Beachtung der beschriebenen Themen und Personen führe (vgl. Mayr & Buchner 2007). Zur Theorie vgl. ausführlicher z.B. Schemer (2013), Scheufele (2011) und Strack et al. (1988).

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Dadurch lassen sich Verbündete im Definitionskampf mobilisieren« (Keller 2003b, S. 244).

1.2.2.

Das historisch etablierte ›moralische Monster‹  als erfolgreicher Anknüpfungspunkt

Die Eltern als ›böse Täter‹ stellen in der aufgeführten Intensität nicht nur einen gewissen Neuigkeitswert dar, sondern halten auch einen Deutungsrahmen bereit, der es ermöglicht, Ereignisse wie den Fall ›Kevin‹ in bereits vorhandene Wissensstrukturen einzuordnen. Neben der Nutzung archaischer Ängste im Allgemeinen scheint sich hierbei vor allem die Anknüpfung an die Historie des Monströsen im Speziellen als erfolgreich zu erweisen, um das konzipierte ›Horror-Szenario‹ weiterzuführen und zu verdichten. Zu nennen ist hier vor allem die Figur des ›Dämons‹ oder ›Monsters‹, auf die bei der Inszenierung der ›bösen Eltern-Täter‹ gehäuft zurückgegriffen wird. Dabei handelt es sich um eine narrative Figur, die über eine lange Historie verfügt. Mit der Figur des Dämons oder Monsters wurde bereits am Ende des 18. Jahrhunderts semantisch auf unterschiedliche Arten und Formen von Devianz reagiert. Entsprechend kann Schmidt (2009) für diverse Zeitungsartikel des 18. und 19. Jahrhunderts nachzeichnen, dass die Deklarierung als ›Monster‹ sich vor allem dazu eignet, moralisches Fehlverhalten zu signalisieren und zu brandmarken, ohne dass dem ein Verbrechen im engeren juristischen Sinne zugrunde liegen muss, denn bei einem Monster handele sich um ein Wesen, das »entgegen allen natürlichen Gesetzen grundlose Freude am Leiden seiner Mitmenschen empfinde« (S. 133). Auch Borgards et al. (2009) sehen in einem Monster seit jeher eine »Gegebenheit, auf die Kultur defensiv reagiert; es entspringt als imaginäre Figuration vielmehr der produktiven Kraft eines kulturellen Entwurfs, an dem die Wissenschaften und die Künste, an dem politische Theorien und soziale Praktiken gemeinsam arbeiten« (S. 10). Die Entwicklung des Monsters von einer fiktiven oder realen Entität (z.B. Schauergeschichten, Freakshows) hin zu einer verbreiten Semantik des 20. Jahrhunderts lasse sich trotz steigender wissenschaftlicher Rationalität in vielen Diskursen nachweisen (vgl. ebd. S. 20), so dass das Monster in der Moderne zu einer allgemeinen Kategorie werde, die reale und fiktive Figuren umfassen kann und »außergewöhnliche, bedrohliche und unnatürliche Abweichungen (an welcher Norm man diese auch messen mag) beinhaltet« (Knöppler 2013, S. 193). Auch Cohen (1996) sieht daher in der Verwendung des Monströsen nicht nur die Intention einer Dämonisierung bestimmter Akteursgruppen, sondern vordergründig vielmehr eine Ordnungsfunktion und Form der Identitätsstiftung, innerhalb derer sich das ›monströse‹ Desinteresse und die Respektlosigkeit gegenüber bestehenden Ordnungen als Sittenverfall spiegle. Das »moralische Monster« (Foucault 2007 [1999]) diene dann als normatives Regulativ und Marker des ›Anormalen‹ und ›Widernatürlichen‹. Es zeige bestehende moralische und kulturelle Differenzen an, wie das gerade in der Kriegspropaganda oder in Horrorfilmen häufig vorzufinden sei, und antworte damit auf latente soziale, politische, religiöse und epistemische Herausforderungen (vgl. S. 12ff.). Somit lässt sich das Monster mitunter auch »als Frühwarnsystem, immer aber als Reflexionsfigur verstehen: als eine Figur, die aus der Reflexion einer Gesellschaft, eines Rechts, einer Kultur auf die

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eigenen Konstitutionsbedingungen und Normalitätsverhältnisse hervorgegangen ist« (Borgards et al. 2009, S. 10): »Die Aufklärung mag Monstrositäten aus der Wirklichkeit verbannt haben, aber Monster bleiben dennoch in vielen Formen erhalten, weil sie anscheinend nützlich sind, um soziale Gruppen und Konzepte wie Menschlichkeit und Moral abzugrenzen und damit eine grundlegende Ordnung der Dinge zu stützen. Trotz der vielen Wandlungen, die Monster seit der Antike durchgemacht haben, bleiben ihre Marker bemerkenswert ähnlich: Hybridität, Überschreitung von ontologischen und moralischen Kategorien und Bedrohung. Die Monster des Horrorfilms sind folglich eine weitere Instanz der anhaltenden Bemühung, Differenzen zu setzen und mit ihren Grenzen und eventuellem Scheitern umzugehen. Wenn diese Kategorien nicht mehr greifen und wir eine Gefahr sehen, die über das hinausgeht, was als natürlich oder moralisch vorstellbar gilt, erschaffen wir Monster« (Knöppler 2013, S. 209). In dem simplifizierenden Rekurs auf die ›Täterschaft‹ von Eltern zeigt sich die Nutzung solcher anti-moderner Archetypen und Ängste im Besonderen: Durch die Darstellung der Eltern als ›Monster‹ werden abstrakte Gefahren »sinnlich erfahrbar« (Schmidt 2009, S. 139). In diesem performativen Akt der Konstitution des Gefährlichen wird der ›moralisch defizitäre‹ Personenkreis der Eltern als ontologisierte Kategorie normativ aufgeladen und mit Kindesmisshandlung und -vernachlässigung öffentlich kurzgeschlossen. Da es sich hierbei um eine allegorische Strategie handelt, die »stärker noch als die metaphorischen Begriffsverwendungen eine Affinität zur Visualisierung, zu bildlichen Darstellungstraditionen« (ebd.) verfolgt, fügt sie sich hervorragend in die dramatisierenden und emotionalisierenden Diskurs- und Imaginationsstrategien der Problemetablierung ein (vgl. Kap. III, 1.1).

1.2.3.

Das gefährdete Kind als Opfer und Objekt der Sorge

Während die ›bösen Eltern-Täter‹ auf der einen Seite der Polarisierung stehen, befinden sich auf der anderen Seite der vorliegenden Subjekt-Polarisierung die Kinder als Opfer, die dadurch ebenfalls als integraler Bestandteil der Problemetablierung zu werten sind, denn »ohne menschliches Opfer kein soziales Problem« (Schetsche 2007, S. 117). Kinder stellen hierbei als wehr- und schutzlose Opfer seit jeher vor allem im Kinderschutzdiskurs eine beliebte Subjektposition dar. Dementsprechend vermerkt Schreiber (1907) in diesem Zusammenhang bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts: »In ungleich verschärftem Maße noch überkommt uns diese Empfindung, hören wir von schwerem Leiden und Qualen, die schon von Erwachsenen erduldet uns heißes Mitleid einflößen, uns aber erschüttern, wenn sie dem Kinde auferlegt sind« (S. 70). Es handelt sich somit um eine bereits anerkannte Opfergruppe, die in zahlreichen Diskursfeldern in Erscheinung tritt. Das erlaubt eine rasche Anbindung an bestehende Problemmuster und -lösungen (vgl. Schetsche 2013). Die Figur des ›gefährdeten Kindes‹ steht dabei in einem starken Kontrast zur Angst vor dem ›gefährlichen Kind‹ (vgl. Kap. II, 2.2.2). Dieses stellte im Mittelalter noch ein weit verbreitetes Motiv dar und wies dabei oftmals ähnlich dämonische Züge auf wie die ›skrupellosen, monströsen Eltern-Täter‹ der vorliegenden Narrationslinie: »Kinder waren für Erwachsene dämonische, animalische, schwach entwickelte und körperlich

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labile Wesen. Viele Pädagogen machten damals die Eltern auf den angeborenen Hang der Kinder zum Bösen aufmerksam, etwa indem sie sie als ›gefräßige Tiere‹ oder als Dämonen darstellten« (Hays 1998, S. 44). Dies kann auch als eine Erklärung und Legitimationsgrundlage der weitgehenden gesellschaftlichen Toleranz gegenüber Kindesmisshandlung und -tötung bis weit ins 17. Jahrhunderts dienen (vgl. Kap. II, 2.2.1). Erst mit der Aufklärungsepoche wurde Kindheit allmählich als eigenständige und schützenswerte Entwicklungsphase anerkannt, und eine »zunehmende Emotionalisierung, öffentliche Hinwendung zur und Verständnis von Kindheit begannen sich abzuzeichnen« (Schmid 2008, S. 31). Die Deutung einer ›gefährdeten‹ Kindheit wurde insbesondere im Rahmen der Sakralisierungs- und Ästhetisierungsprozesse des Kindes zum Genius im 20. Jahrhundert verstärkt und mit der »Ära der Psychologisierung des Kindes« (ebd., S. 32) durch »Pioniere wie Freud, Piaget, Stern, Bühler oder Hetzer vorangetrieben« (ebd., S. 33). Aus der Entdeckung der ›Unschuld‹ ergibt sich dann nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 19224 die ›Fürsorge‹ für das Kind (vgl. Ariès 1975, S. 216; Hays 1998, S. 47). Sie lässt sich auch in der vorliegenden Narrationslinie nachzeichnen und ist am Leid bzw. Schutz des Kindes orientiert: »Die alte Erziehung ging aus von den Schwierigkeiten, die das Kind macht, die neue von denen, die es hat« (Nohl 1927, S. 78). Der Wandel vom ›gefährlichen‹ zum ›gefährdeten‹ und ›zu schützenden Kind‹ als ›Objekt der Sorge‹ wurde schließlich im Jahr 1980 durch die begriffliche Ablösung der ›elterlichen Gewalt‹ durch den Terminus der ›elterliche Sorge‹ auch auf juristischer Ebene vollzogen und das ›Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung‹ (§ 1631 BGB) bis zum Jahr 2000 familienrechtlich durchgesetzt (vgl. Baader 2014). Im Rahmen der Skizzierung diskursiver Vorläuferereignisse konnte bereits gezeigt werden, dass diesen rechtlichen Reformen immer auch eine Zunahme der massenmedialen Berichterstattungen über familiale Erziehung und deren Versagen vorausging (vgl. Kap. II, 2.2.2). Am Ende dieses Prozesses scheint sich somit auch öffentlich ein »Paradigmenwechsel zur Schutz- und Hilfsbedürftigkeit« (Engelhardt 2016, S. 120f.) von Kindern vollzogen zu haben, der den Debatten um Fälle wie ›Kevin‹ zugrunde liegt. Das ›Martyrium‹ der misshandelten und vernachlässigten Kinder wird hierbei aus der Perspektive der Ausgangsnarration nicht nur in Kontrast zu ›sauberen‹ und glücklichen kindlichen Lebenswelten gesetzt, sondern auch zu deren Erscheinungsbild, das eine gewisse kindliche Reinheit und Schutzlosigkeit symbolisiert. Zu den Opfern gehören z.B. ein »Mädchen […] mit erdbeerblondem Haar« (Der Spiegel 29/2010) oder »ein kleiner blonder Junge, der einem sofort leid tat, wenn man ihn sah« (SZ 13.10.2006b). Die Darstellungen erzeugen somit nicht nur Entsetzen darüber, was diesen »schutzlosen Kindern« (SZ 13.10.2006c; taz 21.08.2009) zugemutet wurde, sondern evozieren auch Bilder aus »einer anderen Zeit« (Der Spiegel 29/2010) vor den »grauenhaften Erkenntnissen« (SZ 21.04.2017). Vor allem

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Nachdem die im ausgehenden Mittelalter entstandene Armenfürsorge und Zwangserziehung bis dahin nahezu ausschließlich von karitativen Einrichtungen getragen worden war, schrieb das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) im Jahr 1922 erstmals Ordnungen einer öffentlichen Jugendhilfe gesetzlich fest. Inhaltlich widmen sich die Regelungen vor allem der Sorge für Waisenkinder und der staatlichen Zwangserziehung verwahrloster Kinder. Präventive und unterstützende Angebote waren seinerzeit nicht vorgesehen (vgl. Beeking 1925; Muthesius 1950).

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

Kevin wird in den massenmedialen Verhandlungen in einer Werther-Analogie (»Die Leiden des kleinen Kevin«, Die Welt 06.06.2008a) als das »kleine, unschuldige Geschöpf« (Focus 44/2006) und bemitleidenswerte Opfer mit »Puppengesicht« (Die Zeit 25/2008) inszeniert.5 Bereits der Name ›Kevin‹ eignet sich hervorragend zur Etablierung der Figur des ›schutz- und hilflosen Kindes‹. Etymologisch handelt es sich um den irischen Beinamen ›Caoimhin‹, als Verkleinerungsform von ›caomh‹ = ›schön‹. ›Kevin‹ ist die anglisierte Form dieses irischen Namens, der durch den heiligen Caoimhin bekannt wurde, den Schutzheiligen von Dublin (7. Jh.). Bedeutet ›caomh‹ = ›schön, angenehm‹ (Irisch) und ›coim‹ = ›liebenswürdig, angenehm‹ (Altirisch), so ist Kevin von der Bedeutung her ›der Schöne, Angenehme, Anmutige, Liebenswürdige, der Edle, der Anmutige von Geburt an‹ (vgl. Campbell & Campbell 2017; Kohlheim & Kohlheim 2007). ›Kevin‹ ist das ideale Opfer, das seinem Ziehvater »vollkommen hilf - und schutzlos ausgeliefert« (Die Welt 21.05.2008) ist und so in der Polarisation gegenüber den ›bösen Eltern‹ selbstwirksam inszeniert werden kann.

1.3.

Die strategische Inszenierung von Misstrauen

1.3.1.

Narrative versagender und dysfunktionaler Institutionen als Grundlage der Inszenierung

Im ›Horrorszenario‹ des mutmaßlichen Versagens familialer ›Erziehungskompetenzen‹ im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ kommt nicht nur den Eltern, sondern auch öffentlichen Akteure und Institutionen eine große Bedeutung zu. So werde denn auch, wie es heißt, »das Sozialarbeiter-Credo, für ein Kind seien die eigenen Eltern immer das Beste, von Schicksalen wie dem der siebenjährigen Jessica aus Hamburg-Jenfeld eindrucksvoll widerlegt« (Die Zeit 51/2007b). Vielmehr zeigten Fälle wie diese, »wo staatliches Handeln Gefahr läuft zu versagen« (Die Zeit 51/2007a), denn »niemand ist mehr auf den Schutz des Staates angewiesen als Kinder in Not. Es ist ein tragisches, es ist ein unverzeihliches Versagen, dass Kevin sich nicht auf diesen Schutz verlassen konnte« (Die Welt 15.10.2006). Angebliche Defizite an der gegenwärtigen politischen Steuerung werden im Rahmen der dramatischen Inszenierung von Fällen wie ›Kevin‹ somit auch dadurch kenntlich gemacht, wie öffentliche Akteure, die »doch Kevins Anwalt hätten sein sollen, mit dem kleinen Jungen verfahren« (Die Zeit 25/2008) und wie sie mitunter »gegen den Rat von Forschern und Praktikern« (Die Zeit 24/2011) agierten. »Die Politik nimmt ihre Verantwortung für den Kinderschutz nicht wahr«

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Das ›Martyrium‹ Kevins kann hierbei in Korrespondenz zu den Leiden des Protagonisten in Goethes Briefroman »Die Leiden des jungen Werthers« (1981 [1774]) als kontinuierlicher, qualvoller Weg in den Tod verstanden werden. Unter Berücksichtigung des ideengeschichtlichen Kontextes könnte der Verweis aber auch etwas abstrakter als aktivierende Diskursstrategie gedeutet werden: Ebenso wie viele Leser nach dem Erscheinen von Goethes Roman dem Protagonisten in den Selbstmord folgten, weil sie seine Leiden ›mitfühlten‹, könnte sich hinter der Narration der ›Leiden Kevins‹ die Intention verbergen, einen ähnlichen Effekt des ›Mitleidens‹ hervorzurufen, der die Implementierung verschiedener Kinderschutzmaßnahmen begünstigt. Darüber hinaus kann diese Analogie auch als gezielter Hinweis auf die Abwesenheit christlich-humanitärer Werte in einem ›dämonischen‹ familialen Umfeld gewertet werden, auf das in Goethes Werk im Hinblick auf die Lebenswelt des ›Werthers‹ abschließend dezidiert verwiesen wird: »Kein Geistlicher hat ihn begleitet« (S. 124).

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Familie unter Verdacht

(Die Welt 28.05.2011) und auch »das Jugendamt hätte erkennen müssen, dass ›dringende Gefahr‹ für Leib und Leben des Kindes bestanden habe« (taz 09.06.2010), denn »das Aggressivitätspotenzial des Vaters war riesig, das hätte jedem auffallen müssen« (Die Welt 21.12.2006). Fälle wie ›Kevin‹ würden verdeutlichen, dass sich »die Amtsvormünder heute oftmals lediglich um die Vermögensverwaltung und zu wenig um das Kindeswohl kümmerten« (Die Welt, 03.09.2009). Sie müssten sich so vorwerfen lassen, »trotz Hinweisen auf die Gefährdung des Kindeswohls nicht konsequent eingeschritten zu sein« (Die Welt 08.01.2009). Entsprechend der diabolischen Metaphorik dieser Narrationslinie werde »auf Teufel komm raus die Stellen gestrichen« (Spiegel 42/2006a) und so ein »Teufelskreis« (Spiegel 42/2006a) erschaffen, in dem Jugendämter und Hilfsorganisationen durch mangelnde Möglichkeiten einzuschreiten die Taten von ›teuflischen‹ Eltern begünstigten. Die daraus hervorgehende unterstellte Zunahme ›dämonischer‹ Eltern und entsprechender Kinderschutzfälle müsse dann langfristig zur Folge haben, dass Kinder immer häufiger nur noch ein »Fall bei der ›Mittagsbesprechung‹« (Die Zeit 25/2008) seien. Insbesondere im Fall ›Kevin‹ sei der »Kinder- und Jugendhilfe als Reparaturbetrieb« (taz 29.07.2009) der Fall »aus dem Ruder gelaufen« (taz 28.10.2006a). Obwohl das Jugendamt bereits kurz nach Kevins Geburt »Zweifel an der Erziehungsfähigkeit« (FAZ 13.10.2006a) der Mutter geäußert habe, habe sich die »Rettungsluke« (Die Zeit 43/2006b) wieder verschlossen. Aber auch im Rahmen anderer Vorkommnisse von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung handele es sich um »Fälle, die eher den Verdacht nähren, dass ein Apparat außer Kontrolle geraten ist« (SZ 14.12.2015): das »leckgeschlagene Jugendhilfesystem« (Die Welt 20.05.2008), das erfolglos »ein ums andere Mal in den großen Werkzeugkasten der Jugendhilfe« (Der Spiegel 49/2006) greife. Dadurch herrsche ein »gefährliches Chaos« (Die Welt 03.02.2012), was dafür sorge, dass Kinder »in unserem Land schwächer geschützt als Autos oder Schornsteine« (Die Zeit 51/2007a) seien. Ähnlich wie die im Rahmen der Problemgenerierung vorgenommene Ontologisierung des ›Eltern-Täters‹ zur »Kampfmaschine« (Die Zeit 25/2008), die nur »eingeschränkt steuerungsfähig« (taz 21.05.2008) gewesen sei (vgl. Kap. III, 1.2.1), werden somit auch öffentliche Systeme mitunter als Apparate dargestellt, die ihre Leistung nicht oder nur mangelhaft erbringen. Ontologisierende Metaphern aus dem Bereich der Technik und Mechanik, die vielschichtige Erfahrungen und Begriffe auf Dinge projizieren bzw. als solche behandeln (vgl. Lakoff & Johnson 2003, S. 25), verteilen sich somit als Symbol des Versagens und der angeblich dysfunktionalen Steuerung über die gesamte Debatte. Während die Eltern hierbei in erster Linie von abstrakt-dämonischen Kräften gesteuert zu werden scheinen, treten die Akteure der Kinder- und Jugendhilfe eher als Werkzeug des politischen Steuerungssystems auf: »Für katastrophale Fehlentwicklungen und unsinnige politische Entscheidungen sind sie nicht verantwortlich« (SZ 30.11.2007b). So habe die Missstände nicht der einzelne Mitarbeiter »zu verantworten, sondern derjenige, der ihm diese ›Fälle‹ zuteilt« (SZ 28.10.2006a). Das heißt, einen Fall von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung haben nicht nur die Eltern und auch »nicht einzelne Bedienstete zu verantworten, sondern er ist politisch gewollt. Der Druck kommt von oben aus dem Senat, wo der Verteilungskampf um die Ressourcen tobt, und setzt sich durch die Hierarchie nach unten fort bis zum ausführenden Organ« (Die Zeit 51/2007b). Einzelne Mitarbeiter gehören für »dieses schreckliche Desaster nicht an den Pranger« (Die Welt 26.08.2010) gestellt. Fälle wie ›Kevin‹ scheinen hier als Mahnmal für eine falsche Bewältigungskonzeption zu stehen. Dadurch kommt neben dem Diagnoserahmen zur Identifizierung des

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

Problems auch der Suche nach angemessenen Lösungsmöglichkeiten sowie den entsprechenden Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten eine große Bedeutung zu (vgl. Groenemeyer 2010, S. 29). Allein die Tatsache, dass es »immer mehr erziehungsunfähige Eltern« (FAZ 18.10.2006) gebe, impliziere, dass es nicht »die Eltern sind oder sein können, denen in umfassender Weise das Wohl der Kinder obliegt« (SZ 18.10.2006c), und dass jede zu verzeichnende »Beschwörung der Familie Teil eines gesellschaftspolitischen Rollbacks« (SZ 16.10.2006) sei. Da in Fällen wie ›Kevin‹ auch »Versäumnisse des Staates« (Die Zeit 43/2006b) konstatiert werden, werde sich vor allem die Politik »schon aufraffen« (Die Zeit 51/2007b) und »den Kommunen mehr Mittel an die Hand geben« (Die Welt 26.06.2009b), gleichzeitig aber auch »›eine neue Kultur‹ bei den Jugendämtern fördern müssen« (Die Welt 21.01.2009). Im Gegensatz zu den Eltern und den Fachkräften aus dem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe werden der Staat und die Politik in der Tendenz jedoch eher personifiziert, d.h., ihnen werden als Objekte nicht nur menschliche Merkmale (z.B. Hände) und Handlungsweisen (z.B. aufraffen, geben, fördern) zugewiesen, sondern sie erhalten auch einen deutlich größeren Handlungsspielraum. Die ebenfalls polarisierenden Subjektpositionierungen zwischen einer weitgehend autonomen öffentlichen Hand und vorrangig fremdgesteuerten Dämonen und Maschinen in Kontexten der Familie und der Kinder- und Jugendhilfe eröffnen somit auch einen Perspektivwechsel von vordergründig zugewiesener Schuld zu latenter Schuldunfähigkeit, denn wer über keinen freien Willen verfügt, kann auch nicht selbstverantwortlich schuldig werden. Gleichzeitig entzieht diese Positionierung den Akteuren aber auch zumindest in Teilen ihre Mündigkeit und Handlungsmacht. Letztere scheint allerdings innerhalb fremdgesteuerter Subjektpositionierungen zu variieren. So wird den Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe im Falle erweiterter Steuerungsmöglichkeiten durchaus ein gewisses Maß an Agency zugeschrieben; ihr ›Scheitern‹ ist demnach wohl eher als graduelles denn als absolutes zu werten.6 Denn wer gleichzeitig adressiert und implizit aufgefordert wird, unter besseren Rahmenbedingungen Fehlerquellen zu beheben und das System zu ›reparieren‹, dem werden auch die dafür erforderlichen ›Kompetenzen‹ zugeschrieben (vgl. Drommler & Kuck 2013). Die angeblich ›monströse‹ oder ›kranke‹ Anlage der Eltern impliziert in dieser Narrationslinie hingegen per se eine gewisse Besessenheit von fremden Mächten. Damit bleiben nicht nur externe familiale Rahmenbedingungen als mögliche Ursache von Fällen wie ›Kevin‹ weitgehend unberücksichtigt (z.B. »Versuche, die Schuld an der Tat anderen,

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Während temporäres oder graduelles Scheitern immer noch Handlungsmöglichkeiten impliziert und so nicht ausschließt, das Ziel zu einem späteren Zeitpunkt zu erreichen, da es sich um vorübergehende Ereignisse oder einzelne Facetten eines Ziels handelt, ist der Erfolg beim absoluten Scheitern endgültig unmöglich (vgl. Morgenroth & Schaller 2004). Während die Handlungsfähigkeit und somit auch die ›Erziehungskompetenz‹ der Eltern – zumindest im Zuge dramatisierender Problemnarrationen – nahezu vollständig negiert werden und keine Handlungschancen offenlassen (vgl. Kap. III, 1.1 & 1.2), erhalten die öffentlichen Akteure an dieser Stelle die Möglichkeit der »Scheiternsvermeidung« und »Scheiternsbewältigung«, bei der Handeln die Basis und Voraussetzung sowohl für das Scheitern als auch für dessen Verhinderung darstellt (Junge 2014, S. 16). Die »Bewertungen beziehen sich hier auf die falsche Einschätzung von Handlungsmöglichkeiten, aber die Autonomie des Individuums wird nicht in Frage gestellt« (ebd., S. 17).

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äußeren Faktoren zuzuschieben, lehnt sie [Elisabeth Trube-Becker, erste Professorin für Rechtsmedizin in Deutschland] ab«, taz 22.02.2007), sondern dadurch erscheint auch die Agency von Eltern deutlich begrenzt. Nach traditionell christlicher Auslegung bedeutet Besessenheit, dass »ein Teufel vom Körper eines Menschen Besitz ergreift und ihn so dirigieren kann, als sei es sein eigener« (Rodewyk 1966, S. 20). Auch Goodmann (1991) betont, dass Besessenheit Indiz dafür sei, dass »ein Mensch nicht mehr Herr im eigenen Hause ist, seinen Körper nicht mehr beherrscht, besitzt, sondern ihn mit einem fremden Wesen teilen muss. Etwas ist in ihn gefahren. Dieser Mensch hat nicht mehr die Macht über sich selbst, ist nicht mehr frei« (S. 9). Somit müssen alle Bemühungen des »Sich-Versuchens« (Rucker 2014, S. 77) seitens der Eltern als »ungültig oder gleichgültig gehandelt« (Reichenbach 2001, S. 353, Herv. i. O.) werden, so dass ihnen nahezu jede Möglichkeit der aktiven Problembewältigung versperrt bleibt. Diese geschwächte familiale Position deutet sich in dieser Narrationslinie auch in der häufigen Verwendung von Passivkonstruktionen an (z.B. »Alle Eltern werden […] erinnert«, Der Spiegel 49/2006; »junge Familien werden […] besucht«, taz 18.12.2006a; »der Alltag der Mütter wird […] dokumentiert«, Der Spiegel 49/2006; »Familie wird […] als Problemfall wahrgenommen«, Der Spiegel 49/2006). Insgesamt handelt es sich aus Perspektive dieser Narrationslinie somit um »skrupellose Eltern, [aber nur um] überforderte Jugendämter« (Der Spiegel 49/2006), so dass »klar ist, dass die Kindesmisshandlung kein einmaliges Ereignis ist, die Eltern misshandeln immer wieder« (FAZ 15.04.2009). Es ist nicht auszuschließen, dass diesen Narrativen bereits Lernprozesse vorausgegangen sind, in denen sich bisherige Methoden als wirkungslos erwiesen haben und z.B. der Umgang mit nicht resozialisierbaren ›monströsen‹ Verbrechern in anderen Kontexten Einfluss auf die Wahrnehmung von Eltern genommen hat (vgl. Gurr 1970, S. 25ff.). Der Pessimismus hinsichtlich eines gelingenden positiven Einwirkens auf familiale ›Erziehungsinkompetenzen‹ könnte dann als Fortsetzung eines generellen ›Behandlungspessimismus‹ erachtet werden, der sich in den 1970er Jahren angesichts desillusionierender Ergebnisse, was die Wirksamkeit resozialisierender Maßnahmen bei der Nachsorge von Straftätern anbelangt, breitmachte. Bezeichnet mit dem vielzitierten Schlagwort »nothing works« (Martinson 1974) führte dies zu generellen Zweifeln an der Behandelbarkeit abweichender Personen. An diese kultur- und behandlungskritische Perspektive scheint die Problemnarration hier anzuknüpfen. Insbesondere Fälle von Kindesvernachlässigung lösen laut dem Kinderschutz-Zentrum Berlin (2009) besonders schnell Gefühle von Hilflosigkeit und Resignation aus: »Schädigungen sind schwerer anzugeben und einzugrenzen, Hilfen scheinen schwieriger zu finden und wenig Erfolg zu versprechen. So ist es wohl auch nicht zufällig, dass Fälle von Vernachlässigung am ehesten übersehen werden« (S. 15). Aus diesen Annahmen heraus können jegliche Eingriffe in Familien – zumindest theoretisch – nicht nur als ›Befreiung‹ des mutmaßlich gefährdeten Kindes aus der Gewalt seiner ›monströsen‹ Eltern legitimiert, sondern auch als Versuch der ›Befreiung‹ der Eltern aus einer dämonischen Fremdkontrolle gedeutet werden. Trotz der Attestierung eines multiplen Versagens der Akteure in Fällen wie ›Kevin‹ lassen sich jedoch kaum Annahmen dazu rekonstruieren, welche konkreten Erwartungen und Anforderungen an familiale Erziehung gestellt werden. Die funktionalen Inhalte familialer ›Erziehungskompetenzen‹ scheinen im Wesentlichen auf die

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

Sicherheit und Schutzbedürftigkeit des Kindes sowie eine entsprechende Aufsichtspflicht begrenzt, wobei jedoch nahezu ausschließlich deren Abwesenheit thematisiert wird. Auch dies entspricht dem Charakter dieser Narrationslinie als ›Skandalisierungsnarration‹ und ›behandlungspessimistischer Defizitperspektive‹, in der sich fundierte Handlungsanweisungen für eine mögliche Fremdsteuerung von Familien als sinnlos erweisen müssen. Ebenso wenig erfolgt eine Begründung für die suggerierte Epidemie zunehmender ›Erziehungsinkompetenzen‹ von Familien. Somit bleibt sowohl unklar, wie es zu dieser Entwicklung gekommen sein könnte, als auch, in welchem Ausmaß die ›Monstrosität‹ die entsprechenden Subjekte bereits erfasst habe. Laut Garland (1996) liegt es jedoch in der Natur ›monströser Erscheinungen‹, dass Ursachen und Hintergründe nicht näher hinterfragt werden müssen: »They are treated as an different species of threatening, violent individuals for whom we can have no sympathy and for whom there is no effective help« (S. 461).

1.3.2.

Die anlassspezifische (Re-)Aktivierung der öffentlichen Verantwortung – ›Hinsehen‹ und ›Aufdecken‹ familialer ›Erziehungsinkompetenz‹

Den Kern der Bewältigungsstrategien bildet in der vorliegenden Narrationslinie die ›Wächterfunktion‹ des Staates. Sie impliziere, »›sich schützend vor das Kind zu stellen‹, auch wenn dies ›mit Eingriffen in das elterliche Erziehungsrecht verbunden‹« (Der Spiegel 49/2006) sei. Nach Groenemeyer (2010) basieren solche Deklarationen und Lösungen im Allgemeinen meist nicht nur auf bereits bestehenden Wissensordnungen und Subjektpositionen, die eine rasche kognitive Verknüpfung mit familialen ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ und Fällen wie ›Kevin‹ ermöglichen. Vielmehr wird zudem auch auf bereits anerkannte Adressatengruppen und Artefakte zurückgegriffen: »Perspektiven, Betroffenheiten und Interessen, die weder organisations- noch sanktionsfähig sind, haben von daher kaum ein Chance, direkt die Problematisierung von Problemlösungen zu beeinflussen« (S. 33), denn »solange es keine bearbeitende Stelle gibt, bleiben Problematisierungen vage, umstritten und können als nicht wirklich existent angesehen werden, zumindest sind sie gesellschaftlich kaum relevant« (ebd., S. 14). Die proklamierte Hilfepflicht des Staates wird dementsprechend auch im zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Expertendiskurs deutlich, so etwa in den Beschlüssen des Familienberichtes im Jahr 2006, die eine stärkere öffentlichen Verantwortung bei der frühkindlichen Erziehung fordern und Erziehung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe erachten. Hierbei sei in erster Linie das öffentliche Bewusstsein zu verändern (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2006, S. 14). Im Rahmen von Fragen nach der Schuld und Verantwortung in Fällen wie ›Kevin‹ werden dementsprechend auch in den massenmedialen Verhandlungen nicht nur Eltern, Politik und professionelle Akteure der Kinder- und Jugendhilfe adressiert, sondern die Gesellschaft insgesamt: »Am höllischen Leben und grausamen Sterben des kleinen Kevin tragen viele in Bremen Mitschuld« (Die Zeit 25/2008), denn bei Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zeigen sich oftmals auch »Nachbarn ignorant« (Die Zeit 25/2008). Dies verdeutliche z.B. auch der Fall eines fünfjährigen Jungen aus Bobingen bei Augsburg, der »in der Nachbarschaft um Nahrung betteln musste. Auch bei schlechtem Wetter war der Fünfjährige den ganzen Tag über unzureichend bekleidet im Freien. Das völlig durchnäss-

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te Kind suchte oft Schutz bei Nachbarn und bat dort um Aufnahme« (SZ 13.12.2008). Dieser Wunsch sei ihm jedoch verwehrt geblieben (vgl. ebd.). Und auch Kevin sei »nicht nur an der Erbarmungslosigkeit des Angeklagten, sondern auch an der Konfliktscheu seiner Umwelt zugrunde« (Die Zeit 25/2008) gegangen. Im Rahmen einer möglichen Problembewältigung wird daher zunächst die Nachbarschaft narrativ in »halböffentliche[n] Grenzzonen« (Eisch-Angus 2018, S. 298) platziert und zur rechten Hand des staatlichen Wächteramtes deklariert in einem »Modellraum des alltäglichen Kommunizierens von (Un-)Sicherheit« (ebd.). Denn bislang müssen »Beamte und Staatsangestellte kompensieren, dass die frühere informelle Kontrolle unter Nachbarn und Verwandten weitestgehend verschwunden ist« (FAZ 14.05.2007) und »Nachbarn und Lehrer verschämt wegschauen, obwohl die Hinweise unübersehbar sind« (SZ 12.10.2006c).7 Anstelle der Solidaritätsgesellschaft wird somit eine kollektive Not und Bedrohung in Form einer ›Gefahrengemeinschaft‹ gesetzt. Appelle an die öffentliche Verantwortung erfolgen dann vor allem unter Verwendung einer visuellen und optischen Symbolik. ›Sehen und Wegsehen‹ wird hierbei als Zentralmetapher genutzt, um auf eigene und fremde Perspektiven zu verweisen, aber auch um Verschleierungen und das Wegschauen als »optische Tat« ›sichtbar‹ zu machen (Hahn 2014, S. 173). In vielen Fällen haben »alle Verantwortlichen die Katastrophe kommen sehen und nichts getan, um sie abzuwenden« (FAZ 23.11.2007). Dies zeige sich z.B. im Fall der verhungerten zweijährigen Anakin: »Der Zustand des Kindes muss erkennbar gewesen sein« (SZ 06.09.2017). Der Tod solcher Kinder sei demnach die Folge »augenscheinlicher Vernachlässigung« (Die Welt 13.10.2006) vor »den Augen des Jugendamtes« (Der Spiegel 22/2007) bzw. der »zuständigen Ämter und Behörden« (Die Welt 04.11.2006) und »damit vor den Augen des Staates« (SZ 12.10.2006c). Auch »dem kleinen Kevin waren die Misshandlungen anzusehen, und doch wollte niemand sie erkennen« (SZ 12.10.2006a). »Behördenvertreter kamen und gingen und sahen die Not nicht« (Die Zeit 51/2007b), »obwohl die Hinweise unübersehbar« (SZ 12.10.2006c) waren. Es handele sich somit um ein »Wegsehen mit Todesfolge« (Der Spiegel 42/2006a), einen »Beleg für eine Blindheit der Verantwortlichen« (Focus 50/2007) und »blindwütige Mitarbeiterinnen« (Die Zeit 51/2007b), so dass in Anlehnung an Theodor Heuss’ Äußerungen zur Schuldfrage im Nationalsozialismus auch von der Inszenierung einer »Sünde des Wegsehens« (Bismarck & Hamm-Brücher 1967, S. 11) gesprochen werden kann. Die anlassspezifische (Re-)Aktivierung der öffentlichen Verantwortung erstreckt sich aber auch auf Bilder des ›Verdeckens‹ und ›Versteckens‹ von Ursachen und Umständen im Sichtbaren und »Verborgenen« (SZ 13.10.2006a), denn »die meisten Martyrien spielen sich im Verborgenen ab« (SZ 13.10.2006a). So habe die Mutter von neun Säuglingen in der Nähe von Frankfurt »die neugeborenen Babys mit einer Decke abgedeckt und sei erst wieder zu sich gekommen, als sie tot waren« (Die Zeit 51/2007c), und auch »Angelo blieb 7

Angespielt wird hierbei auf die von Mertens und Pankofer (2011) diagnostizierte westliche bzw. deutsche Hemmung, sich in innerfamiliale Geschehnisse ›einzumischen‹ (vgl. S. 21). Obwohl die Sensibilität gegenüber Gewalttaten und das Wissen sowie die Wahrnehmung negativer Folgen im Kontext von Kinderschutzbewegungen gestiegen sei, könne umgekehrt nach wie vor von der Neigung vieler Personen ausgegangen werden, Vorfälle im näheren Umfeld zu verheimlichen (vgl. auch Honig 1992). Neben angeblicher Ignoranz und bestehender Hemmschwellen könne aber auch eine Rolle spielen, dass ›kleine Ohrfeigen und Klapse‹ von vielen Menschen nach wie vor als legitime Erziehungsmittel gelten (vgl. Mertens & Pankofer 2011, S. 56; Tsokos & Guddat, S. 8).

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unentdeckt« (taz 20.12.2007). Aber auch »Ärzte verstecken sich hinter der Schweigepflicht wie ein Pfarrer« (Der Spiegel 51/2007), und »gerade verantwortliche Politiker sollten sich nicht hinter dieser Forderung verstecken« (Der Spiegel 33/2014). Solche ›Versteckspiele‹ vollziehen sich narrativ in Fällen wie ›Kevin‹ weit über den Tod der Kinder hinaus: »Das wahre Versteckspiel begann erst nach Kevins Tod« (Die Zeit 25/2008). Um auf solche ›unsichtbaren‹ Elemente unter der Oberfläche hinzuweisen, wird an mehreren Stellen auch auf das Eisbergmodell verwiesen und damit gleichzeitig suggeriert, dass es sich bei Fällen wie Kevin keineswegs um ein Ausnahmeereignisse handele, sondern diese nur die »Spitze des Eisberges« (Die Welt 14.10.2006b) in einem Meer solcher Ereignisse darstellten: »Kevin, Lea-Sophie und ›Staufen‹ sind nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs« (FAZ 10.07.2018). Aussagen wie diese enthalten aber nicht nur den mehr oder minder generalisierten Appell an alle familienexternen Akteure, genauer hinzuschauen, sondern verweisen ebenso auf mitunter strategische Verschleierungsmaßnahmen von Eltern. Es gehe hierbei auch um Fälle »von Kindesverwahrlosungen, wo die Eltern die Spuren von Misshandlung und Vernachlässigung so gut es geht vertuschen« (SZ 12.10.2006c). Die Narrative warnen somit auch vor potenziellen Täuschmanövern, in denen die »Familie als Deckmäntelchen fungiert« (SZ 16.10.2006), wobei sie »über lange Strecken einen stabilen, fast bürgerlichen Eindruck« (Die Zeit 25/2008) mache. Dies verstärkt das beförderte Misstrauen in familiale ›Erziehungskompetenzen‹ und appelliert insbesondere an professionelle Akteure, sich von mitmenschlichem Engagement und Solidarität in der Zusammenarbeit zu distanzieren, da ein allzu kooperativer Umgang mit Eltern das Kind gefährde. Dies zeige sich z.B. in den Fällen ›Lea-Sophie‹ und ›Kevin‹: »Zunächst gaben sich die Eltern bei einem unangemeldeten Besuch sehr kooperativ« (Die Welt 29.01.2013). »Wo denn Lea-Sophie sei, fragten die Jugendschützer. Bei Bekannten hieß es – und das wurde geglaubt wie gesprochen« (Der Spiegel 48/2007). Aber auch »in Bremen hatte sich der für Kevin zuständige Sozialarbeiter auf die Prognose des Psychologen von Kevins Vater verlassen. Dieser war der Meinung, der Vater könne für den Jungen sorgen. Das stellte sich als verhängnisvoller Irrtum heraus« (taz 14.10.2006b), und »deswegen bekommt der Vater Kevin ja auch zurück: Weil man die Mutter für diejenige hielt, die Kevin verletzte« (SZ 12.10.2006a). »Das Problem der Behördenmitarbeiter war wohl, dass sie sich von den Drogenkranken etwas haben vorzaubern lassen […]. Wie sonst hätte es zu der Einschätzung des Sozialarbeiters kommen können, der besonders dem vermeintlichen Vater ›ausreichende Kompetenzen im Umgang mit dem Kind‹ bescheinigte?« (Die Welt 19.12.2006) »Wenn aber ein Säugling mit viel Glück gerade noch ein Schütteltrauma überlebt hat und schwerstbehindert bleiben wird, kann doch nicht allen Ernstes noch von einer möglichen Zusammenarbeit die Rede sein« (Der Spiegel 51/2007). Hier wird die »Grundsatzkritik am Betreuungssystem der Hansestadt am deutlichsten: ›Das gesamte Drogenhilfesystem hat ausschließlich das Elternwohl im Auge. Ich frage mich immer: Sehen die das Kind überhaupt noch?‹« (Die Welt 21.12.2006) Der vielgestaltige Appell an mehr »Misstrauen in Eltern« (Der Spiegel 48/2007) »mahnt die Jugendämter, sich stärker an drei Grundregeln zu orientieren: Keine einsamen Entscheidungen, sondern immer das Mehraugenprinzip. Immer das Kind anschauen und nicht darauf vertrauen, was die Akte sagt« (Die Welt 26.06.2009b). »Wir können nicht länger die Augen vor der Tat-

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sache verschließen, dass es auch Väter und Mütter gibt, die mit der Erziehung ihrer Kinder völlig überfordert sind« (Der Spiegel 49/2006). Schließlich waren es meist nur die »kleinen Fehleinschätzungen, die in der Summe zur Katastrophe führten« (Die Welt 04.11.2006) bzw. dazu führen, dass Familien in Fällen wie ›Kevin‹ »völlig außer Kontrolle geraten« (Die Welt 21.05.2008) sind. Mittels Metaphoriken des ›Hinsehens und Aufdeckens‹ kann somit auch verwiesen werden auf ein »Qualitäts- und Mentalitätsproblem in den Jugendämtern, das nichts mit Geld zu tun habe« (FAZ 23.11.2007), und gleichzeitig »die Erkenntnis verstärkt werden […], dass nicht alle Eltern es mit ihren Kindern gut meinen« (FAZ 23.11.2007). Dementsprechend sollen auch andere professionelle Akteure wie z.B. Ärzte »gegenüber den Entschuldigungen der Eltern, die verletzte Kinder zu ihnen brächten, schlicht noch misstrauischer sein« (FAZ 15.04.2009). »Wir können den Geschichten der Eltern nicht trauen« (Der Spiegel Online 22.09.2018). Um Täuschungsmanöver seitens der Eltern zu vermeiden, müsse demzufolge die gesamte Gesellschaft »hinsehen, wo man wegschauen will« (Die Zeit 51/2007a). Das bedeute auch »mit offenen Augen hinschauen« (Die Welt 18.10.2006) und die Kinder im Rahmen eines »Mehraugenprinzips« (Die Welt 26.06.2009b) nicht »aus den Augen zu verlieren« (Die Welt 19.10.2006). Man müsse die Familien »genau im Auge behalten« (Der Spiegel 49/2006) und »nicht länger die Augen verschließen« (Der Spiegel 49/2006), denn »schnell verschwinden sie wieder aus dem Blickfeld« (SZ 13.10.2006c). Im Rahmen polarisierender Bilder des Verdeckens und der Blindheit gegenüber dem Aufdecken und Sehen wird hierbei auch an die Deutungen von Hell und Dunkel aus der Inszenierung der Familie als ›dämonischer Ort‹ angeknüpft (vgl. Kap. II, 1.1): Während ›Wegsehen‹ und ›Verstecken‹ schlimme Folgen haben können, implizieren ›Klarheit‹ und ›Helligkeit‹ metaphorisch die geforderte Erkennung und Besserung der Situation: So »brauchen Ärzte Klarheit darüber, wann sie ihre Schweigepflicht bei Verdacht auf eine Gefährdung des Kindes brechen dürften« (Die Welt 03.09.2009), denn »Ziel sei es darüber hinaus, für Ärzte Klarheit zu schaffen« (Die Welt 13.08.2009). Man müsse aber auch »das Gesetz an dieser Stelle klarer formulieren« (Die Welt 17.06.2009), sonst »würden Ärzte und Hebammen weiter im Unklaren gelassen« (Die Welt 01.07.2009). »Durch die klareren Vorgaben und den intensivierten Austausch von Informationen zwischen den Jugendämtern solle eine Kultur entstehen, bei der Fehlerquellen früh erkannt und behoben werden könnten« (Die Welt 21.01.2009). Manchmal gebe es in Fällen von familialer Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zunächst »kein Licht, keine Erklärung, kein Warum« (Focus 50/2007). Um Klarheit zu erhalten, müssen diese Fälle und die zugrundeliegenden familialen Verhältnisse und behördlichen Schritte daher zunächst ›beleuchtet‹, ›erhellt‹ und ›aufgedeckt‹ werden: Das »beleuchtet einen Konflikt, der vor Deutschlands Familiengerichten Alltag ist« (Der Spiegel 33/2014) und der sich auch im Fall ›Kevin‹ zeige: »Drei Verhandlungstage sind anberaumt, in denen die Versäumnisse der Behörden beleuchtet werden sollen« (Die Welt 18.12.2006). Es gehe also insgesamt darum, »Missstände auf[zu]decken« (Der Spiegel 49/2006) und »Licht ins Dunkel« (taz 08.12.2007) zu bringen, »um Misshandlungen besser aufzudecken« (Der Spiegel 49/2006), denn »der Fall Kevin – das macht ihn wohl so einzigartig – brachte erstmals in erschreckender Klarheit ans Licht, dass an vielen öffentlichen Stellen geschlampt worden war« (Die Welt 21.05.2008). Das weite metaphorische Feld des ›Sehens und Aufdeckens‹ betont somit die hohe Relevanz der Sichtbarkeit familialen Handelns und familialer Lebenswelten, die in dieser Narrationslinie eine wichtige Voraussetzung zur

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

Aufdeckung angeblicher ›Erziehungsinkompetenzen‹ darstellt. Wie mit Fällen wie ›Kevin‹ deutlich werde, gebe es »nicht nur die Verwahrlosung von Eltern und Kindern, es gibt auch eine Verwahrlosung der öffentlichen Verantwortung« (SZ 14.10.2006). Solche Appelle an die öffentliche Verantwortung können laut Beck (1986) dem seit längerer Zeit bestehenden allgemeinen Trend zugeordnet werden, auch weniger offensichtliche Phänomene einer abschätzenden Betrachtung zu unterziehen: »Ins Zentrum rücken mehr und mehr Gefährdungen, die für die Betroffenen oft weder sichtbar noch spürbar sind […], die der Wahrnehmungsorgane der Wissenschaft bedürfen – Theorien, Experimente, Meßinstrumente –, um überhaupt als Gefährdungen sichtbar, interpretierbar zu werden« (S. 35). So wird auch im vorliegenden Datenmaterial »Erziehung […] sehr viel stärker als öffentliche Angelegenheit wahrgenommen« (taz 26.10.2006).

1.3.3.

Familiale Erziehung als öffentliche Aufführung – Vom verborgenen Ort zur öffentlichen Bühne

Aus den aktivierenden Appellen an das ›Hinsehen‹ und ›Aufdecken‹ familialer ›Erziehungsinkompetenzen‹ geht deutlich hervor, dass »jedes Kind […] eine Aufgabe für die staatliche Gemeinschaft« (Die Welt 12.07.2007) sei. Der von außen nicht einsehbare private Lebensraum der Familie erschwert es jedoch, die Gefahrenlagen zu erkennen. Facetten des familialen Zusammenlebens und der daran teilhabenden Subjekte müssen daher in der Argumentation dieser Narrationslinie zunächst performativ sichtbar und ›beobachtbar‹ gemacht werden – »gerade bei kleinen Kindern […] dies sei wichtig, da diese Kinder nicht im Kindergarten oder in der Schule seien und somit nicht im öffentlichen Blickfeld stünden« (Die Welt 13.08.2009). Narrativ inszeniert werden diese Apelle insbesondere mittels einer ausgeprägten Symbolik von Erziehung als ›Aufführung‹ oder »Rollenspiel auf der sozialen Bühne« (Göttlich 2008, S. 146), wobei vor allem auf verschiedene Bedeutungsaspekte von Mimesis sowie auf die Sichtbarkeit von Bühnenbildern und szenischen Anordnungen rekurriert wird, wie sie z.B. in Goffmans ›dramaturgischen Theorie der Selbstdarstellung‹ (2003 [1976]), zu finden sind. In diesem Konzept stellt die ganze soziale Welt eine Bühne dar. Dabei sind die Gesellschaft und jeder ihrer Teilbereiche – z.B. auch die familiale Erziehung – in verschiedene voneinander abgegrenzte Schauplätze aufgeteilt, die jeweils über Vorder- und Hinterbühnen verfügen und dadurch unterschiedliche Formen der Sichtbarkeit und Durchlässigkeit für Außenstehende besitzen (vgl. S. 100). Der Fall ›Kevin‹ avanciert damit in seiner Darstellung zu einem öffentlichen Bühnenbild: »Es ist eine ungeheuerliche Geschichte, die sich in der Stadt Bremen zwischen dem Stadtteil Gröpelingen, dem Jugendamt und weiteren Stellen abspielte« (Die Zeit 43/2006b). Letztendlich wird Kevins Leben und Sterben sogar selbst zum ›Schauspiel‹ bzw. zu der Vorlage für das Theaterstück ›Kaspar Häuser Meer‹ von Felicia Zeller, das im Jahr 2008 seine Uraufführung am Kleinen Haus des Theaters in Freiburg hatte (vgl. taz 23.01.2008). Aber auch in der massenmedialen Berichterstattung über andere Fälle familialer Kindesmisshandlung und -vernachlässigung wird das ›Martyrium‹ der Kinder als Kulisse dargestellt und die Leichen der Kinder werden ›in Szene‹ gesetzt: »Die Kameras sind aufgebaut, die Scheinwerfer auch. Der Blick auf die Gerichtsfassade ist von hier aus auch am schönsten. Öffentlichkeit, ja, die gibt es jetzt mehr als genug. Kevin steht im Rampenlicht – nach seinem Tod […] mit einem Schlag öffnete sich eine Welt, die der Öffent-

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lichkeit allzu lange verborgen geblieben schien […] Scheinwerfer und Mikrofone werden erst aufgebaut, wenn diese Kinder tot sind« (Die Welt 06.06.2008c). »Dann haben die Reporter wieder was zu fotografieren und zu filmen« (Die Welt 13.10.2006). »Es ist eine Szene wie aus einem Horrorfilm« (Die Zeit 43/2006b). »Es war wie im Krimi« (SZ 14.12.2015), und »nicht selten folgt auf das Verbrechen ein erbärmliches Polittheater« (Die Welt 06.06.2008b). Verschiedene Akteure und Faktoren spielen hierbei »Rollen« und »Nebenrollen« (z.B. Die Welt 13.10.2006; Die Welt 19.12.2006; SZ 14.04.2008a; taz 14.10.2006b) und geraten in »Rollenkonflikte« (SZ 18.07.2015) im Rahmen von »Tragödien« (taz 14.10.2006b), »Familiendramen« (Der Spiegel 22/2007) oder »Dramen des Kindes« (SZ 21.04.2007), die sich »abspielen« (Die Zeit 43/2006b). Dabei wird in der Regel »eindeutig den Eltern die Hauptrolle in der Erziehung ihrer Kinder zugewiesen« (Die Welt 23.04.2008). Das Amt sei »nur im Hintergrund tätig« (taz 20.12.2007). Familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ können unter Rückgriff auf solche Termini und Symboliken aus dem Bereich des fiktiven Theaters und Films theatralisch eingefangen und »gezielt und bewusst ästhetisiert und nach außen inszeniert« (Jurczyk 2014a, S. 129) werden, damit sie sichtbar »ans Licht kommen« (SZ 13.10.2006a). Als Schauspiel bewegt sich familiale Erziehung dann nicht nur zwischen den Polen »Berechenbarkeit und Spontaneität«, »Zufall und Gesetzmäßigkeit«, »Taktik und Regeltreue«, sondern auch im Spannungsverhältnis von »Fairness und Täuschung« (Neuberger 1990, S. 163). Täuschung meint dabei das »bewusste Bemühen eines oder mehrerer Menschen, das Handeln so zu lenken, dass einer oder mehrere andere zu einer falschen Vorstellung von dem gebracht werden, was vor sich geht« (Goffman 1977, S. 98). Verstärkt durch die visuellen Metaphern des ›Hinsehens und Aufdeckens‹ (vgl. Kap. III, 1.3.2) wird an dieser Stelle somit nicht nur die Wahrnehmung einer angeblich zunehmenden Gefahr von Fehleinschätzungen im Allgemeinen verstärkt, sondern in der Verknüpfung mit dem Sprachbild der ›Fassade‹ (vgl. Kap. III, 1.1.3) auch die Problematik absichtlicher Täuschungsmanöver verschärft: »Die ›Fassade‹ ist die Schauseite und soll durch ihre Ausschmückungen, durch ihre Ornamente oder auch nur durch ihre Ebenmäßigkeit etwas darstellen. Sie ist für die Öffentlichkeit gedacht« (Kühl 2010, S. 2). Durch Fenster und Türen können zwar Einblicke in das Familienleben hinter der Fassade gewährt werden, aber sie zeigen nicht das ganze ›Theater‹, das manche Eltern, wie z.B. der Ziehvater Kevins, mit einem »beachtlichen Aufwand« (Die Zeit 25/2008) nach außen inszenieren: »Die Wohnung der Familie machte […] ›einen kindgerechten Eindruck‹. Das Kinderzimmer sei liebevoll eingerichtet« (SZ 24.11.2007a); »dort stehen zwei Kinderwagen, ein buntes Kinderfahrrad und ein Plastiktraktor« (FAZ 13.10.2006a). Aber »das ist nur die auf Hochglanz polierte Außenseite einer Geschichte, deren Innenseite sich als umso grauenvoller erwiesen hat« (FAZ 30.08.2011). »Hinter diesem Fenster musste das gerade zweieinhalbjährige Kind einen Leidensweg durchmachen, der umso vermeidbarer erscheint, je genauer man ihn nachzuzeichnen versucht« (Die Welt 13.10.2006). Familien können so auf der Vorderbühne des »Familienspiels« (Focus 26.06.2006) die Rolle der »heilen Familie« (Die Welt 19.12.2006) spielen, während sich auf der Hinterbühne, hinter der Fassade das Grauen zeigt. Aufgeführt werden hierbei eine Vielzahl

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

von Fällen, in denen »alle Bilder täuschen« (Focus 50/2007) und Eltern nahezu theatralisch »erfundene Geschichten präsentieren« (SZ 13.10.2006c): Die »Eltern gaukelten heile Welt vor« (Die Welt 12.01.2007), und »bei angekündigten Hausbesuchen spielten die Eltern heile Familie« (Die Welt 19.12.2006), um »die treu sorgende Mutter vorzugaukeln« (Die Zeit 43/2006b), wie z.B. Kevins Mutter, die »dem Klinikpersonal in den zwei Wochen, die Kevin im Krankenhaus kuriert wurde, ›zugewandt und liebevoll‹ vorkam« (Die Zeit 25/2008). »Und dann zieht meine Schwägerin wieder eine große Show ab […]. Das hat Kevins Vater ja offenbar auch beherrscht« (Die Zeit 43/2006b). Denn »Kevins Vater wird schauspielerisches Talent und ›Trickreichtum‹ im Umgang mit Sozialarbeitern und Ärzten nachgesagt« (FAZ 14.02.2007). Somit sei es »nicht immer einfach, den gekonnten Ausreden mancher Eltern auf die Schliche zu kommen« (FAZ 15.04.2009). Auch in diesem Kontext kann von Priming-Effekten durch die Platzierung der Inhalte ausgegangen werden. So wurden Aussagen zum ›Trickreichtum‹ der Eltern z.B. im Seitenlayout neben einen Artikel zum Karneval in Venedig gesetzt, der mit einem großen Foto von Gauklern und Narren versehen wurde (vgl. FAZ 14.02.2007). Die Argumentationslinie »rechnet damit, dass das Theater, wo es aufgerufen wird, sich verselbstständigen könnte, und versucht es daher in Schach zu halten, dieses Moment zum eigenen Zweck zu regulieren und für sich produktiv zu machen« (Schäfer 2016, S. 22). Auch hier wird eine Mit-Erlebensqualität und die emotionale Nähe zu den Ereignissen aufgebaut, die nachhaltig wirken können, indem sie Gefühle wie Mitleid und Empörung erzeugen: »Die Details, mit denen die Horrorszenarien in ›Bild‹ ausgestattet werden, um den Leser ordentlich zu packen und ihm wohlige Schauer über den Rücken zu jagen, können der ›erschütternden Fallstudie‹ nicht fehlen, die man im Maßstab von eins zu eins vom Leben auf die Bühne bringt« (Rutschky 1992, S. 9). Die Bühne bietet somit auch eine Projektionsfläche, innerhalb derer sich Emotionen sozial akzeptiert entladen können. »Jeder Fall erzählt ein eigenes Drama. Was aber, wenn jedes Drama Teil einer großen Tragödie wäre?« (Focus 50/2007)

1.4.

1.4.1.

›Überwachen und Strafen‹ als gefahrenabwehrende Praxis institutionalisierten Misstrauens Kontrollen als (kurzfristige) Maßnahmen der Gefahrenabwehr und Bestandteil eines umfassenden ›Frühwarnsystems‹

Die Lösungsstrukturen der Ausgangsnarration sind bereits angelegt in der Ursachennarration der weitestgehend fremdgesteuerten ›monströsen‹ Eltern sowie der strategischen Inszenierung von Misstrauen ihnen gegenüber, denn die »Tatsache, wie man einen Begriff definiert und in welcher Bedeutungsnuance man ihn verwertet, enthält bereits bis zu einem bestimmten Grade eine Vorentscheidung über den Ausgang des auf ihn aufgebauten Gedankenganges« (Mannheim 1952 [1929], S. 173). Die angeblich steigenden Zahlen von Kindesmisshandlungen, -vernachlässigungen und -tötungen sowie »Zweifel an der Veränderbarkeit der menschlichen Natur und der Besserungsfähigkeit« (Hirtenlehner et al. 2012, S. 192) der Eltern begründen einen geringen Stellenwert sozialpolitischer Präventions- und Unterstützungsprogramme. Sowohl im Fall ›Kevin‹ als auch im Fall ›Lea-Sophie‹ lehnten die Eltern z.B. »jegliche Beratungsangebote sowie die

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Familie unter Verdacht

mögliche Unterbringung der Tochter in einer Kita ab« (taz 25.11.2007), und auch im Fall eines siebenjährigen Mädchens aus Bayersried konnten unterstützende Angebote an die Eltern nicht greifen: »Die Rettung des Mädchens war purer Zufall« (SZ 13.12.2008). Somit sei es »nicht so sehr eine Frage der Überforderung, sondern eine der Mentalität, ob man sich hinreißen lässt, ein Kind so zu verdreschen, dass es stirbt« (taz 22.02.2007). Durch solche immer wiederkehrenden Hinweise auf das vereinzelte oder generalisierte »Erziehungsversagen« (z.B. Die Welt 23.04.2008; Die Welt 14.07.2010b) der Eltern lassen sich erfolgreiche innerfamiliale Präventions- und Interventionsangebote als »Bruchstellen« (Gille 2012, S. 174) kaschieren und sich stattdessen defamilialisierende Forderungen nach einem größeren Sicherheitsrahmen für schutzbedürftige Kinder ableiten. Es gehe darum, »Kinder aus unwürdigen oder gar lebensbedrohlichen familiären Situationen in Sicherheit zu bringen« (Die Welt 26.06.2009b) bzw. um die Entwicklung eines Systems, das die »Sicherheit in der Familie gewährleistet« (Die Welt 19.12.2006). Im Rahmen der Bewältigung familialer ›Erziehungsinkompetenzen‹ ist nach »dem Fall Kevin in Bremen« (taz 14.10.2006a) daher gehäuft von der Einführung eines »Frühwarnsystem[s]« (z.B. Die Welt 13.10.2006) bzw. von »Frühwarnsysteme[n]« (z.B. taz 04.11.2006) die Rede. Es handelt sich hierbei um einen Begriff, der dem technischen ›Katastrophenschutz‹ entlehnt wurde (vgl. Mertens & Pankofer 2011, S. 112) und hierdurch die Deutung des Problems als eine ›sich ausweitende Katastrophe‹ bestärkt. Im Rahmen des Ausbaus eines solchen »maßgeschneiderten Konzepts der Früherkennung« (Die Welt 14.12.2007a) spielt insbesondere die Beobachtung der kindlichen Entwicklung eine große Rolle: »Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen von Kindern könnten dabei ein wichtiges Hilfsmittel sein. Sie sollten verpflichtend vorgeschrieben werden« (SZ 12.10.2006c). »Untersuchungen per Gesetz verbindlich zu machen, ist richtig. Nur so können Kinderärzte und Jugendämter überhaupt merken, wenn Kleinkinder, die noch nicht in den Kindergarten gehen, vernachlässigt werden« (taz 18.12.2006b). Im Fall Lea-Sophie sei die Mutter z.B. »mit ihrer Tochter fast zweieinhalb Jahre nicht zum Kinderarzt gegangen. Durch diese Verwahrlosung sei der Tod des Kindes begünstigt worden« (SZ 28.09.2010). »Der Bundesrat forderte am Freitag ein Gesetz, das Eltern verpflichtet, ihre Kinder zu den Vorsorgeuntersuchungen den sogenannten ›Us‹ beim Kinderarzt vorzustellen. Wer dies nicht tut, muss mit Sanktionen rechnen. Das Kindergeld wird gestrichen, das Jugendamt eingeschaltet oder beides« (taz 18.12.2006a). Die Forderungen nach solchen verbindlichen Untersuchungen beruhen in erster Linie auf der Umsetzung eines ›verbindlichen Einladungswesens‹ (Die Zeit 24/2011), d.h. einer schriftlichen Aufforderung, den Kinderarzt aufzusuchen. Eltern, die solchen »Pflicht-Einladungen« (Die Welt, 22.05.2008) nicht nachkommen, sollen von Mitarbeitern des Gesundheitswesens aufgesucht werden. Notfalls soll zusätzlich das

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

Jugendamt einschaltet werden.8 Gefordert werden aber auch Hausbesuche in Familien und Notfallindikationen sowie Checklisten in Kliniken, so dass sich »gefährdete Kinder noch in den Geburtskliniken feststellen« (FAZ 26.05.2007) lassen und sich »Mitarbeiter des Jugendamts […] verpflichten, gefährdete Kinder selbst in Augenschein zu nehmen« (Die Welt 01.07.2009). Einem zunehmenden Abbau präventiver Hilfen und Hilfen zur Erziehung steht hierbei eine Vielzahl interdisziplinärer Modellprojekte gegenüber, die vor allem neue »Kooperationswege zwischen Gesundheitswesen und Jugendhilfe erproben« (Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S. 11). In diesem Zusammenhang gehe es in erster Linie um die Verhinderung und Aufdeckung familialer Verhaltensweisen, welche die »körperliche oder geistige Entwicklung ihres Kindes in nicht geringfügigem Maße gefährden« (Kassenärztliche Bundesvereinigung 2005, S. A1159), um »die Entwicklung der gefährdeten Kinder genau im Auge behalten« zu können (Der Spiegel 49/2006). Denn »alles andere wäre nicht nur dumm, sondern auch gefährlich« (FAZ 17.11.2012). Dementsprechend werden die unterschiedlichsten Formen genauer Beobachtung von Kindern und deren Entwicklung als Früherkennungsmaßnahmen in sämtlichen Institutionen der Kindheit zu einer notwendigen Aufgabe und Grundlage der pädagogischen Arbeit deklariert (vgl. Fröhlich-Gildhoff et al. 2013). Als zentrale durchführende Institution solcher Maßnahmen wird insbesondere die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe adressiert: »In Deutschland gibt es rund 600 Jugendämter. Sie sind kommunale Behörden und sollen sicherstellen, dass Kinder geborgen und gesund aufwachsen […]. Das Jugendamt soll aber nicht nur helfen, sondern auch kontrollieren, dass Kinder in ihren Familien nicht vernachlässigt oder misshandelt werden.« (SZ 14.12.2015). »Je früher ein Kind gerettet wird, desto besser ist die Prognose« (Der Spiegel 42/2006a). Man könne »nicht genug Kontrolle für solche Eltern aufbringen« (Die Welt, 12.01.2007). Legitimiert werden solche Forderungen nicht nur über Narrationen eines ›Katastrophenszenarios‹ und eines gefährlichen Potenzials von Familien, sondern auch unter Bezugnahme auf andere Länder, in denen sich entsprechende Standards bereits etabliert haben. Dies soll verdeutlichen, dass »in dieser Republik die Familie oder das, was man dafür hält, mit einem katastrophalen ideologischen Ballast überbaut wurde, als bewussten Gegensatz zur DDR, aber – was geflissentlich übersehen wurde – auch zu Ländern wie Frankreich oder Schweden« (SZ 18.10.2006d). Besonders stark wird hierbei auf skandinavische Länder rekurriert: »Die gemeinschaftliche Verantwortung der Gesellschaft für die Erziehung ist in Schweden viel stärker ausgeprägt als in Deutschland. Dort steht das Wohl des Kindes im Mittelpunkt, bei uns geht es vor allem um die Rechte der Eltern« (taz 26.10.2006). In Schweden registriere man nur halb so viele Fälle von Misshandlungen, weil ein entsprechendes ›Frühwarn-

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Dieses Früherkennungsprogramm umfasst neun Untersuchungen (U1 bis U9), die durch Kinderärzte in den als relevant erachteten kindlichen Entwicklungsphasen durchgeführt werden und auffällige Entwicklungsdefizite und Gefährdungslagen frühzeitig aufdecken sollen. Die Früherkennungsuntersuchungen sind in Deutschland durch das Krankenversicherungsgesetz (KVG) seit 1970 gesetzlich verankert und seither mehrmals erweitert worden (vgl. hierzu ausführlicher z.B. Hellbrügge 1994; Hellbrügge et al. 2001; Esser & Petermann 2010).

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system‹ stärker gesellschaftlich anerkannt sei (FAZ 15.04.2009) und dort auch »die Eltern erzogen« (taz 26.10.2006) würden: »Bis in die 60er Jahre hinein wurden tatsächlich viele Kinder ihren Eltern nur weggenommen, weil diese von den damals strikt protestantischen Normen abgewichen waren. Davon waren beispielsweise sehr viele alleinstehende Mütter betroffen. Seit den 70ern versucht man auch in Schweden, die Kinder möglichst lange bei den Eltern zu lassen und die Familie durch Betreuer zu unterstützen« (taz 26.10.2006). Auch in Ländern wie Dänemark und Finnland habe der staatliche Kinderschutz eine hohe Akzeptanz in der Gesellschaft (vgl. FAZ 14.05.2007; taz 28.10.2006b): »Die Elternhoheit ist in Dänemark keine heilige Kuh« (taz 08.12.2007). Die häufigen Verweise auf skandinavische Länder können außerdem dadurch erklärt werden, dass mit diesen Ländern – nicht zuletzt aufgrund der verhältnismäßig guten Ergebnisse in der PISA-Studie sowie dem hohen Anteil erwerbstätiger Mütter – familien- und bildungspolitischer Fortschritt verbunden wird. Dieses Erklärungsmuster wird in einer Aussage explizit aufgeführt: »Schweden, das bekannt ist für seine fortschrittliche Gleichstellungspolitik, geht auch hier mit gutem Beispiel voran« (taz 14.09.2010). Darüber hinaus werden aber auch andere Staaten mit Verweis auf »Early Excellence Centers« (Großbritannien), Kinderschutzregister (England und USA) sowie generell vorgeblich bewährte Frühwarnsysteme (USA und Kanada) als Vorbilder herangezogen (z.B. taz 18.12.2006b; Die Welt 14.10.2006b; SZ 13.10.2006c) – entsprechend der kausalen Annahme, dass etwas, das andernorts positive Entwicklungen mit sich gebracht hat, auch hierzulande positive Wirkung entfalten müsse. Es entsteht somit insgesamt das Bild, Deutschland sei »im Umgang mit innerfamiliären Problemen immer noch ein Entwicklungsland« (taz 13.07.1998), das massiven Nachholbedarf im Bereich ›kompetenter‹ familialer Erziehung aufweist. Dass allerdings mitunter auch Länder mit bereits implementierten Frühwarnsystemen wie z.B. die USA laut Friedman et al. (2005) hohe Kindstötungsraten aufweisen, wird ebenso wenig thematisiert wie mögliche Übertragungsschwierigkeiten bzw. gegebenenfalls erforderliche Anpassungsmaßnahmen solcher Systeme an deutsche Begebenheiten.

1.4.2.

Die juristische Auflösung der Elternhoheit und die Etablierung punitiver Maßnahmen als langfristige Bewältigungsstrategien

Die Entwicklung eines umfassenden Früherkennungssystems erfordert aus Perspektive der Ausgangsnarration nicht nur die Durchführung von Programmen und konkreten Handlungsmaßnahmen auf der Ebene der durchführenden Akteure, sondern auch deren Sicherstellung durch gesetzliche Änderungen, normative Vokabularien und theoretische Postulate, denn »dass in Jugendämtern Menschen mitunter nachlässig arbeiten, ist indes nur ein Teil des Problems – bislang mangelt es auch an ausreichenden rechtlichen Möglichkeiten, frühzeitig entschlossen eingreifen zu können« (Der Spiegel 22/2007). Dementsprechend wird an mehreren Stellen die Gefahr betont, die vor allem von mangelnden rechtlichen Eingriffsmöglichkeiten und einer fehlenden juristischen Systematisierung des Kinderschutzes ausgehe, und in diesem Kontext insbesondere auf den Fall ›Kevin‹ verwiesen: Dem Heimleiter Pape waren »die Hände gebunden: ›Wenn ich ein Kind gegen den Willen der Behörde hierbehalte, mache ich mich strafbar‹« (Die Welt 13.10.2006). »Eine unverzügliche,

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dauerhafte Trennung des Kindes von Bernd K. im März 2006 [hätte] den Tod Kevins verhindern können« (Die Welt 21.12.2007). Aber die Verantwortlichen »hielten es nicht für nötig, sofort zu handeln und Kevin von seinem Ziehvater zu trennen. Stattdessen verschrieb das Jugendamt ein paar Stunden bei einer Tagesmutter, Krankengymnastik und Sprachförderung« (taz 21.05.2008). Die Jugendhilfe setze »nach und nach jedes Instrument ein, mit denen deutsche Jugendämter gefährdete Familien zu stützen versuchen: Mal sollte sich eine Familienhebamme um die Familie kümmern, dann der Familienkrisendienst, mal sollte es Frühförderung geben für den Jungen. Mal gab es Elternschule für die Mutter, mal sollte das Kind in eine Tagespflege, dann zu einer Tagesmutter, in eine Krabbelgruppe und schließlich in ein Kinderzentrum. Kevin von seiner Familie zu trennen stand aber lange Zeit nicht ernsthaft zur Debatte. Als endlich die Entscheidung gefallen war, ihn in eine Pflegefamilie zu geben, lag der Junge bereits tot im Kühlschrank« (Der Spiegel 49/2006). Diese folgenreichen Ereignisse münden in Kombination mit den artikulierten Zweifeln an der Veränderbarkeit der Natur ›monströser‹ Eltern in dem Schluss, dass »der Staat Familienstrukturen, die völlig zerrüttet sind, nicht nur ergänzen, sondern sie zum Teil auch ersetzen muss« (Die Welt 17.10.2006). »Die Aufgabe des Staates, das Leben von Kindern zu schützen, müsse immer Vorrang haben vor den ›vermeintlichen Rechten völlig aus der Bahn geratener Eltern‹« (FAZ 16.10.2006). Die Ausweitung rechtlicher Möglichkeiten einer Herausnahme gefährdeter Kinder aus den entsprechenden Familien sei daher unumgänglich und im Zweifelsfall lebensweltorientierten Angeboten vorzuziehen. Hier erfährt der Vorrang elterlicher Rechte eine narrative Verschiebung zugunsten des staatlichen Wächteramtes: »Lebensweltorientierung heißt in der Konsequenz, dass Kinder in der Familie belassen werden, so lange es geht. Und dass eine Unterbringung außerhalb der Familie am besten im Nahverkehrsbereich des häuslichen Umfelds, besser noch in der sogenannten Sozialregion des Kindes stattfinden soll. Eine Folge: Ambulante Hilfen werden auch dann noch angewandt, wenn diese offenkundig nicht mehr fruchten. Eine weitere Folge: Eltern stehen vor den Heimen oder Wohnungen von Pflegeeltern und fangen ihre Kinder ab, Kinder fühlen sich ungeschützt und kommen nicht zur Ruhe. Die freien Träger der Jugendhilfe haben schon vor Jahren vor dieser eigentlich gut gemeinten ›Sozialraumorientierung‹ gewarnt; sie führe letztlich zu ›rückwärtsgewandter‹ Kostendeckelung […]. Dem Kindeswohl, dem sich der Staat verpflichtet fühlt, ist nicht gedient, wenn die Re-Ideologisierung des Schutzraumes Familie als Deckmäntelchen fungiert« (SZ 16.10.2006). »Zwangsläufig geht diese Ideologie mit einer Verleugnung der traumatischen Erfahrungen von Vernachlässigung und Misshandlung des Kindes und eine Verleugnung der Erziehungsunfähigkeit der Eltern einher« (SZ 18.10.2006b). In der Konsequenz werden vor allem Forderungen nach einem »Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls« (Der Spiegel 22/2007) laut. So »sollen Familiengerichte bei Vernachlässigung und Misshandlung künftig früher zugunsten des Kindeswohls eingreifen können« (Der Spiegel 22/2007), wenn »die Elternrechte dem Kindeswohl entgegenstünden« (Die Welt 23.04.2008), denn Kindern wie Kevin »hätte der richterliche Blick auf ihr Kindeswohl helfen können« (Der Spiegel 33/2014). Mit einem Ausbau der staatlichen Eingriffsrechte bei gleichzeitiger Beschneidung elterlicher Rechte scheint die Hoffnung verbunden, zumindest auf lange Sicht gewisse Verbesserungen

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für die Situation von Kindern hervorzurufen: »Sollten Kinderrechte deshalb ins Grundgesetz? Ja, das fordern wir [der Kinderschutzbund Berlin] schon lange. Unmittelbar würde es natürlich nichts ändern, aber langfristig haben Gesetze eine normierende Wirkung« (taz 18.12.2007). Im Rahmen der vorliegenden Narrationslinie erscheinen solche juristischen Modifikationen vor allem notwendig, um das angeblich dysfunktionale System der Kinder- und Jugendhilfe zu sanieren und handlungsfähiger machen (vgl. Kap. III, 1.3.1). Mit Pfister (2013) kann aber zudem angenommen werden, dass rechtliche Normen generell vor allem dann von großer Bedeutung sind, wenn es für Gesellschaften darum geht, einerseits bestehende Ordnungen zu stabilisieren und andererseits auf unerwünschte Entwicklungen zu reagieren. Tradierte christliche Normen und Strukturen werden aus dieser Narrationslinie heraus allerdings als Schwachpunkt einer progressiven gesellschaftlichen Ordnung erachtet: »Die Strukturen und Regeln der katholischen Kirche begünstigten die Verschleierung, ebenso staatliche Autoritäten, weil sie ihre Aufgabe nicht wahrnahmen, dem Recht allgemein Geltung zu verschaffen, und es den kirchlichen Einrichtungen ermöglichten, außerhalb der Reichweite der staatlichen Strafverfolgung zu agieren« (FAZ 30.08.2011). Zur Legitimierung von größeren Eingriffsrechten in die Familie wird zudem auch in diesem Kontext verstärkt auf die positiven Auswirkungen von Inobhutnahmen im Hinblick auf das Wohl und den Schutz des Kindes verwiesen: »Nach der Herausnahme folgt in der Jugendhilfe eine ›Inobhutnahme‹. Obhut ist ein altertümliches und ein schönes Wort; es steht für Schutz und im Wortsinne, behütet sein« (SZ, 16.10.2006). Hierfür sei es aber auch »notwendig, Jugendämtern solche Regeln verbindlich vorzuschreiben. Sie gäben ihnen mehr Sicherheit bei den schweren Eingriffen, die sie vornehmen können« (SZ 13.08.2009). Die Erweiterung rechtlicher Eingriffsmöglichkeiten sei jedoch nur als »kleiner Meilenstein im Hinblick auf einen noch ausbaufähigen Schutz gefährdeter Kinder« (FAZ 20.02.2008) anzusehen. Es gehe auch um die Bereitstellung finanzieller Mittel für entsprechende Heimplätze, denn gerade in Fällen wie ›Kevin‹ gebe es zahlreiche Hinweise auf problematische Sparmaßnahmen, die mehrfach kritisiert werden: »Die meisten deutschen Kommunen […] kürzen auch beim Geld für Kinder und Jugendliche. Ein Platz in einem Kinderheim kostet durchschnittlich 3.000 bis 4.000 Euro im Monat. In Bremen gab der Senat daher im August dieses Jahres die Anweisung, ›die Zahl der Fremdplatzierungen auf keinen Fall zu steigern‹. Vielleicht hätte sich Kevins Leben retten lassen, wäre er in ein Heim gekommen« (taz 28.10.2006b). Es lasse sich somit auch »vermuten, dass in Bremen lediglich aus Kostengründen weniger Kinder als früher ins Heim kommen« (FAZ 14.10.2006), aber »es darf nicht sein, dass ein Kind in Lebensgefahr gerät, nur weil es Kosten verursacht« (Focus 42/2006b). »Ein Tag im Heim kostet zwischen 90 und 180 €. Im Fall des kleinen Kevin aus Bremen sind die Folgen zu besichtigen« (SZ 16.10.2006). Es sei fraglich, »wie viele andere ›Kevins‹ ihren Eltern nur deshalb nicht entzogen werden, weil die Stadt nicht für alle Fälle eine Heimunterbringung finanzieren kann?« (FAZ 12. 10.2006) »Aus Finanznot will die Stadt Halle sämtliche Kinder und Jugendliche, die zu ihrem Schutz in Heimen untergebracht sind, nach Hause schicken […]. In der fünf Seiten langen Dienstanweisung wird nur einmal beiläufig das Wort ›Kindeswohl‹ erwähnt. Ansonsten ist die Rede von Erfüllungsständen, Steuerungsempfehlungen, Fachcontrolling, Perspektivklärung und vor allem von fiskalischen Vorgaben, sprich: Einsparungen« (FAZ 07.11.2007). »Sie werden immer wieder angehalten, zu prüfen,

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

ob die billigere Lösung nicht doch noch vertretbar ist. Und die billigere Lösung ist eben die, bei der das Kind in der Familie bleibt und dort unterstützt wird« (Die Zeit 43/2006b). Im Hinblick auf finanzielle Aspekte familienpolitischer Steuerung wird zudem empfohlen, »kein zusätzliches Geld an die Familien zu geben. Dafür soll mehr in soziale Dienstleistungen und in die Infrastruktur fließen« (Der Spiegel 49/2006). Es gehe darum, »Geldleistungen wieder in Sachleistungen umzuwandeln – damit die Hilfe beim Kind ankommt und nicht im Hundenapf« (Der Spiegel 48/2007). Voraussetzung für ein funktionierendes ›Frühwarnsystem‹ sei aber auch eine gute Kooperation zwischen den Verantwortlichen (Die Welt 12.10.2006a). Hier mangele es noch »an wirksamer Vernetzung und systematischer Zusammenarbeit« (Der Spiegel 51/2007), um Informationen über potenzielle Kindeswohlgefährdungen zwischen den Akteuren auszutauschen und so das gesellschaftliche ›Schweigen und Wegsehen‹ (vgl. Kap. III, 1.3.2) zu durchbrechen. Im Lösungszusammenhang adressiert werden auch hier insbesondere politische Akteure: »Vorhandene Strukturen der Gesundheits- und Jugendhilfe sollen besser miteinander vernetzt werden« (Die Welt 04.11.2006), denn »wer eine ›Kultur des Hinsehens‹ verlangt und damit jeden Einzelnen meint, der muss auch sagen, wohin das Hinsehen führt. Der muss denjenigen, die bereit sind, die Augen offen zu halten, auch die Sicherheit geben, dass ihren Hinweisen professionell und kundig nachgegangen wird. Und dass Hilfe erfolgt, wenn Hilfe nötig ist« (Die Zeit 51/2007a). »Die Politik müsse Worten endlich Taten folgen lassen und Netzwerke zur Frühprävention knüpfen« (Die Welt 17.10.2006). »Überall stellt sich aber das Problem, dass der Datenschutz den Informationsfluss zwischen den Behörden […] erschwert« (taz, 14.10.2006c). Der im Jahr 2005 eingefügte § 8a SGB VIII erscheint in dieser Narrationslinie daher nicht ausreichend, um eine solche Zusammenarbeit möglichst reibungslos zu ermöglichen, denn »bislang scheitert die bereits beim letzten Berliner Kindergipfel beschworene Zusammenarbeit von Behörden, Ärzten, Schulen und Kindergärten immer noch am engen Korsett des Datenschutzes« (Der Spiegel 51/2007). Der Paragraph und die darin enthaltene Begrenzung des Rechts der Eltern auf informationelle Selbstbestimmung formuliert lediglich die Befugnis zur Weitergabe von Daten bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung. Demnach dürfen Sozialdaten lediglich im Rahmen der Erfüllung des Schutzauftrags bei einer Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII auch ohne Mitwirkung des Betroffenen erhoben werden (§ 62 Abs. 3 SGB VIII), was eine umfangreiche Vernetzung und Kooperation der professionellen Akteure nach wie vor behindere. Aus diesem Grund wird eine Lockerung des Datenschutzes und die Einführung eindeutiger Verfahrensregeln bei der Feststellung und im Umgang mit Gefährdungsfällen appelliert, um »die relevanten Daten von Bildungs-, Jugend- und Gesundheitsbehörden leichter zusammenführen [zu] können« (taz, 14.10.2006c). So könne »etwa der Datenaustausch zwischen den Jugendämtern sichergestellt werden, wenn Eltern den Wohnort wechseln […]. Auch bräuchten Ärzte Klarheit darüber, wann sie ihre Schweigepflicht bei Verdacht auf eine Gefährdung des Kindes brechen dürften« (Die Welt 03.09.2009). Denn »was nutzt das alles, wenn sie ihre Informationen nicht austauschen dürfen?« (Die Zeit 51/2007a) Nicht zuletzt steht aber auch eine Einführung rigoroserer Strafen auf der Agenda dieser eher punitiv orientierten Narrationslinie, um »demonstrativ die einfache, gleich-

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Familie unter Verdacht

sam biblische Botschaft zu vermitteln, dass wir auf der Seite der Opfer stehen, wenn wir die Täter bestrafen« (Kunz 2005, S. 155). Im Fall des sieben Monate alten Colin, der an den Folgen der Misshandlungen durch seine Eltern starb, votiert der Hauptkommissar z.B. »für schärfere Strafen« (Focus 42/2006b) zum Schutz von Kindern vor ›erziehungsinkompetenten‹ Familien, aber auch zur Abschreckung vor Tatbeständen der Misshandlung und Vernachlässigung: »Etwas mehr als drei Jahre Haft für die Mutter, 22, viereinhalb Jahre für den Vater, 29, ein Urteil, das Sprenger nicht nachvollziehen kann. Die ›Eltern‹ aus Duisburg hatten ihren Sohn verdursten lassen und mit Fäusten traktiert. Zum Zeitpunkt des Todes wog der sieben Monate alte Colin T. nur 4800 Gramm. Am Körper fanden sich 38 Blutergüsse und Prellungen. ›Grausam‹, sagt Sprenger und meint damit sowohl Colins ›Eltern‹ als auch das milde Urteil. ›Es gibt Bereiche von Kriminalität, die eine Gesellschaft einfach nicht akzeptieren darf‹, so der Polizist« (ebd.). Ähnliche Appelle zeigen sich auch im Fall ›Kevin‹: Die Verfahren und die möglichen Strafen können Kevin nicht wieder zum Leben erwecken, aber sie können viele Verantwortliche aufrütteln und zu mehr Sorgfalt ermahnen, denn in ganz Deutschland leben Kinder in Not« (Focus 42/2006a). Es werden somit insgesamt vor allem Forderungen nach konsequenteren Strafverfolgungen, verschärften Gesetzgebungen und politischen Maßnahmen laut, die sich weitaus weniger komplex als in vielen anderen Politikfeldern zeigen und den Adressaten leicht zu vermitteln sind (vgl. Walter 2000, S. 16). Dass z.B. einer Mutter aus Schleswig-Holstein, die ihre fünf Kinder tötete, »›absolute Schuldunfähigkeit‹ bescheinigt [wurde], kann nicht beruhigen. Ja, vielleicht rührt gerade daher der eigentliche Schrecken« (Focus 50/2007). Suggeriert wird, dass es keine Alternativen gibt. Vor allem das ›Monströse‹ mache stärkere Restriktionen und Eingriffsmöglichkeiten in Familien erforderlich (vgl. hierzu auch Reindl & Weber 2002), Maßnahmen, die gleichzeitig auch als Voraussetzung des ›Guten‹ erscheinen. So konstatiert Safranski (1999) in seiner Freiheitsschrift unter Berufung auf Schelling: »Ein Gutes, wenn es nicht ein überwundenes Böses in sich hat, ist kein reelles lebendiges Gutes« (S. 65f.). Maßnahmen der Überwachung und des Bestrafens familialer ›Erziehungsinkompetenzen‹ erscheinen somit aus dieser Perspektive nicht nur legitim, sondern stellen eine notwendige Konsequenz der Ereignisse in Fällen wie ›Kevin‹ dar.

1.4.3.

Die Institutionalisierung und Stabilisierung eines ›Policing Parenthood‹

Die aus dem geforderten Ausbau eines ›Frühwarnsystems‹ und den damit verbundenen Maßnahmen hervorgehenden Narrationen lassen sich zu »symbolischen Sinnwelten« (Berger & Luckmann 1980 [1969], S. 49ff.) eines punitiven und sozialinvestiven Kinderschutzes verbinden, die mit zahlreichen Institutionalisierungen einhergehen: »Eine Debatte über die richtige Form der Staatsinterventionen ist in Gang gekommen, die noch vor ein paar Jahren kaum vorstellbar war. Überall im Lande hat ein Umdenken begonnen« (Der Spiegel 49/2006). Die Anzahl an Technologien, politischen Initiativen und gesetzlichen Neuerungen, mittels derer möglichst umfassende Kontrollen zum Schutz von Kindern vor ›erziehungsinkompetenten‹ Eltern sichergestellt werden sollen, entwickelt sich seit Mitte der 2000er Jahre rasant (vgl. Patschke 2016, S. 9f.). Bereits kurz nach dem Leichenfund Kevins wurden zahlreiche Modellprojekte eingeführt, die zum Teil auch ex-

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

plizit als ›Kontrollen‹ deklariert werden (vgl. z.B. Die Welt 19.10.2006). Kelle und Tervooren (2008) diagnostizieren im Jahr 2008: »Kein institutioneller Bereich der Kindheit hat in der jüngsten Zeit international einen derartigen Ausbau und Institutionalisierungsschub erfahren wie die Maßnahmen zur Früherkennung« (S. 7). Aber auch die Inanspruchnahme medizinischer Kinderschutzambulanzen scheint parallel zur Skandalisierung familialer Kindesmisshandlung und -vernachlässigung in Fällen wie ›Kevin‹ in der Mitte der 2000er Jahren rasant anzusteigen: »Als man in Kassel in den Neunzigern mit der Ärztlichen Kinderschutz- und Kindergynäkologie-Ambulanz begann, ›hatten wir im Jahr 8 Kinder, die vorgestellt wurden. Inzwischen sind es 150‹, so der Vorsitzende der Ambulanz Bernd Herrmann« (Der Spiegel 51/2007). Diese institutionellen Veränderungen können somit durchaus in einem Zusammenhang mit den dramatisierenden, skandalisierten und angsteinflößenden Debatten um familiale Kindesmisshandlung und -vernachlässigung sowie deren ›öffentlichen Aufführung‹ (vgl. Kap. III, 1.3) gesehen werden. »Der Grund für das institutionalisierte Misstrauen gegenüber Eltern in Berlin wie fast überall in Deutschland heißt Kevin. Oder Jacqueline. Oder Jessica. Es sind Kinder, die an Unterernährung, durch Schläge oder Dauerisolation zu Tode gekommen sind. Als die fünfjährige Lea-Sophie, ein Mädchen aus Schwerin, 2007 tot aufgefunden wurde, dehydriert und abgemagert, sah sich die Politik zum Handeln gezwungen« (Die Zeit 24/2011). Neben dem Tod Kevins und weiterer Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, die als wichtige Legitimierungsgrundlage jeglicher Beobachtungs- und Kontrollverfahren fungieren, haben vor allem im Kontext der Früherkennungsuntersuchungen auch medizinische Entwicklungen, wie z.B. die Ausbildung pädiatrischer Spezialdisziplinen, die Einführung der multiaxialen Klassifikation in Deutschland durch Remschmidt et al. (1977) oder die Festschreibung von Vorsorgeuntersuchungen als kassenärztliche Leistung in § 20d, SGB V, diese Entwicklung begünstigt. Während die Überarbeitung des Kindschaftsrechtes im Jahr 1998 einer Etablierung von Kontroll- und Eingriffsverfahren in Familien zunächst entgegenstand und vielmehr das »sinnlose Hereinreden des Staates in bestimmte familiäre Angelegenheiten« (Deutscher Bundestag 1997, S. 17346) einschränken und damit einen Rückzug des staatlichen Wächteramtes indizieren sollte (vgl. Schwab 1998), kann die Verabschiedung des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (KICK) als wesentliche Voraussetzung der Institutionalisierung von Wissens- und Infrastrukturen der ›Überwachung und Bestrafung‹ in der Folge des Falls ›Kevin‹ angesehen werden. Mit dem Gesetz wurden der Schutzauftrag und die Eingriffsbefugnisse des Staates als öffentlicher Garant des Kinderschutzes im Jahr 2005 erweitert und präzisiert.9 Hier knüpft die vorliegende Narrationslinie an, indem bestehende Institutionalisierungen als Berechtigungsgrundlage für den Umgang mit Familien im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung genutzt und gleichzeitig weitere Schritte durch die narrative Verknüpfung mit den ›katastrophalen‹ Ereignissen in Fällen wie

9

Als wesentlicher Auslöser dieser gravierenden Änderung wird häufig der Fall des missbrauchten und getöteten Pascal im Jahr 2003 gedeutet, bei dem trotz zahlreicher Hinweise und belastender Angaben seitens Polizei, Nachbarschaft und Kindergarten nicht in die familiale Privatsphäre eingedrungen wurde (vgl. Kap. II, 2.2.1).

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Familie unter Verdacht

›Kevin‹ gefordert und legitimiert werden. In diesem Kontext kann z.B. das aus den Kinderschutzgipfeln unmittelbar resultierende Gesetz zur Erleichterung gerichtlicher Eingriffe bzw. familiengerichtlicher Maßnahmen (FamFG) im Jahr 2007 gesehen werden. Aber auch die Reform des § 1666 BGB im Jahr 2008, die das im Grundgesetz verfasste »staatliche Wächteramt« (Art. 6 Abs. 2 GG) in seinen Berechtigungen ausweitet, ist hier zu nennen. Interventionen bedürfen seither keiner Belege mehr dafür, »dass die Eltern bei der Erziehung versagt haben« (Die Welt 14.12.2007a), sondern der Staat ist ermächtigt und verpflichtet, in Familien einzugreifen, wenn das »körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes« (§ 1666 BGB) gefährdet erscheint. In diesem Zusammenhang ist letztlich auch der vom Bundesfamilienministerium erarbeitete Entwurf des viel diskutierten Bundeskinderschutzgesetzes im Jahr 2009 zu nennen. Er enthält Reformen, die ebenfalls in diese Richtung zielen und den Forderungen dieser Narrationslinie weitestgehend entsprechen. Dazu gehören z.B. die Aufhebung der Schweigepflicht und die Ausweitung des Schutzauftrages auf weitere Berufsgruppen: »In einem weiteren Punkt sollten Ärzte und andere ›Berufsgeheimnisträger‹ künftig die Befugnis erhalten, bei Verdacht auf eine Gefährdung des Kindeswohls das Jugendamt zu informieren – auch ohne Zustimmung der Eltern« (Die Welt 01.07.2009). »Denn ›wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass sich Ärzte aus Angst, die Schweigepflicht zu brechen, bei einem Verdacht auf Kindesmisshandlung nicht gemeldet haben.‹ Hier schaffe das Gesetz Klarheit und die Sicherheit: Kinderschutz steht über der Schweigepflicht« (Die Welt 21.01.2009). Des Weiteren ziele der Entwurf aber auch auf das Vorhaben, »die Mitarbeiter des Jugendamts zu verpflichten, gefährdete Kinder selbst in Augenschein zu nehmen […]. Nach bisheriger Rechtslage dürfen sie dies nur, wenn eine akute, nicht anders abwendbare Gefahr für das Kind erkennbar ist« (Die Welt 21.01.2009). Anläufe der großen Koalition, sich auf eine Konzeption zu einigen, scheiterten jedoch noch im selben Jahr und führten zu einem diskursiven Aufleben des Falls ›Kevin‹ und anderer Fälle von Kindemisshandlung und -vernachlässigung: »Tatsächlich hat der nun gescheiterte Versuch, den Kinderschutz zu verbessern, einen Vorlauf von anderthalb Jahren. Auf dem Kindergipfel im Dezember 2007 einigten sich die Ministerpräsidenten und Bundeskanzlerin Angela Merkel auf ein Paket von Maßnahmen zum Kinderschutz. Frisch war damals noch die Erinnerung an die fünfjährige Lea-Sophie aus Schwerin, die die eigenen Eltern hatten verhungern lassen. Oder an den zweijährigen Kevin aus Bremen, den das Jugendamt trotz Warnhinweisen bei seinem gewalttätigen Ziehvater ließ, der ihn im Sommer 2006 schließlich zu Tode misshandelte« (Die Welt 21.01.2009). Das Scheitern des Bundeskinderschutzgesetzes wird aus dieser »institutionalisierten Misstrauensperspektive« (Hirseland & Lobato 2012, S. 287) vielfach kritisiert und als folgenschwere Resignation im Hinblick auf den Kinderschutz gedeutet: »Die jetzt weiter bestehende Unsicherheit auf Bundesebene geht voll zulasten unserer schutzwürdigen Kinder« (Die Welt 01.07.2009). Im März 2011 wurde schließlich ein neuer Gesetzentwurf erarbeitet, nicht zuletzt begünstigt durch die Erinnerungen an Fälle wie ›Jessica‹ und ›Kevin‹ sowie die öffentlichen Debatten über Missbrauchsskandale samt der daraus re-

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

sultierenden Diskussionsergebnisse des runden Tisches ›Sexueller Missbrauch‹:10 »Aus der Debatte folgte das Bundeskinderschutzgesetz« (Der Spiegel 33/2014), das Anfang 2012 schließlich in Kraft trat und auch das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) umfasst, das sich stärker der Früherkennung und den Möglichkeiten einer Gefährdungsabschätzung zuwendet. Entsprechende Regelungen werden im § 8a SGB VIII rechtlich verankert, wobei Akteure der Kinder- und Jugendhilfe zur Einhaltung der normierten Abfolge der Vorgehensweisen zur »Einschätzung des Gefährdungsrisikos« verpflichtet werden (§ 79a Art. 2 SGB VIII). Mit Einführung des § 8a KJHG haben Träger somit nicht nur einen Hilfeauftrag, sondern auch einen Schutzauftrag, was den Lösungsvorschlägen der Narrationslinie entgegenkommt. Die vielfach eingeforderte »stärkere Vernetzung« (Die Welt 28.05.2011) aller Akteure im Kinderschutz wird darüber hinaus mit dem Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (§ 3 KKG) juristisch reglementiert. Es verpflichtet alle Länder zum Aufbau und zur Weiterentwicklung von Netzwerken unter Aspekten des Informationsaustausches der Leistungsträger über die jeweiligen Angebotsformen sowie der Klärung struktureller Fragen der Angebotsgestaltung und -entwicklung (Abs. 1). Des Weiteren regelt das Gesetz die Abstimmung von Verfahrensweisen im Kinderschutz (Abs. 2) und den Einbezug aller Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen bzw. Eltern in Kontakt stehen (Abs. 3). Ein direkter Informationsaustausch zwischen verschiedenen Institutionen ohne Gefährdungsgrundlage ist ohne Schweigepflichtentbindung seitens der Eltern datenschutzrechtlich jedoch nach wie vor nicht zulässig (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S. 97). Während sich in diesem Bereich im vergangenen Jahrzehnt einige bundesweite Veränderungen abzeichneten, hat die Bundesregierung eine national einheitliche Regelung gesetzlicher Vorsorgeuntersuchungen unter Berufung auf die fehlende Gesetzgebungskompetenz des Bundes hingegen angezweifelt: »Es liege im Ermessen der Länder, solche Untersuchungen durchzuführen. Dafür müssten sie nicht nach dem Bund rufen« (Die Welt 04.11.2006). In der Folge trafen die Länder entsprechende Regelungen: »Bayern und Hessen planen solch einen Kinder-TÜV, und im Saarland gibt es ihn bereits« (Der Spiegel 48/2007). »In Berlin richtete der Senat an der Universitätsklinik Charité eine ›Zentralstelle für das Einladungs- und Rückmeldewesen‹ ein. Sie erfasst alle erfolgten Vorsorgeuntersuchungen. Wessen Name nicht in den Listen auftaucht, der erhält eine Erinnerung und kurz darauf ein Schreiben vom Gesundheitsamt samt Termin« (Die Zeit 24/2011). Im Jahr 2007 wurden Vorsorgeuntersuchungen bereits in zahlreichen Bundesländern als rechtliche Verpflichtung festgeschrieben (vgl. Turmel 2008, S. 23). Trotzdem »wollen Bund und Länder jedoch gemeinsam erreichen, dass die Einladungen zu den freiwilligen Vorsorgeuntersuchungen für Kinder verbindlicher formuliert werden« (Die Welt 04.11.2006). In einem

10

Bei dem runden Tisch ›Sexueller Missbrauch‹ handelt es sich um eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe, die im Jahr 2010 von der Bundesregierung initiiert wurde, um sich in den Jahren 2010/2011 der Aufarbeitung und Lösung von institutionellem Missbrauch zu widmen. Anlass der Gründung war die Aufdeckung zahlreicher sexueller Missbrauchsskandale in diversen Institutionen freier Trägerschaft, wie z.B. der Odenwaldschule, insbesondere aber unter der Trägerschaft der römischkatholischen Kirche (vgl. hierzu ausführlicher Bergmann 2011).

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Familie unter Verdacht

Papier des Kinderschutz-Zentrums Berlin (2009) wurden außerdem Merkmale zusammengefasst, die auf eine mögliche Gefährdung des Kindes hinweisen und den entsprechenden Akteuren zur Orientierung dienen sollen, wie sie die kindliche Entwicklung »zentral überwachen« (Deutscher Bundestag 2009, S. 29) können. Zu solchen Gefährdungslagen und Hinweisen auf familiales ›Versagen‹ zählen vor allem »kindliche Verhaltensauffälligkeiten, Bindungsstörungen, Entwicklungsbeeinträchtigungen und charakteristische Verletzungen durch aktuelle Misshandlungen« (Kinderschutz-Zentrums Berlin 2009, S. 89f.). Darüber hinaus können aber auch einzelne ausgeweitete Eingriffsmöglichkeiten der Jugendämter auf kommunaler Ebene als Erfolg im Sinne dieser Narrationslinie gewertet werden: »Seit Ende 2010 besucht der Neuköllner Kinder- und Jugendgesundheitsdienst Eltern nicht nur zur Begrüßung ihres Nachwuchses, sondern auch zur Kontrolle. Ein neues Gesetz verpflichtet die Mitarbeiter, bei allen Familien vorstellig zu werden, deren Kind eine Vorsorgeuntersuchung verpasst hat« (Die Zeit 24/2011). »Die Stadt Hamburg zumindest hat jetzt die Befugnisse für die Jugendämter erweitert: Sie dürfen sich zum Beispiel Zutritt zur Wohnung einer Familie verschaffen, die ihre Kinder nicht zur Schule schickt. Früher mussten sie sich abweisen lassen« (SZ 13.10.2006a). Mancherorts »erhalten alle Eltern von neugeborenen Kindern Besuch von einem Vertreter der Kommune« (Die Welt 01.07.2009). Gemeinsam ist den geforderten und umgesetzten Maßnahmen im Kontext dieser Narrationslinie die Hervorhebung der unterstellten enormen Bedeutung einer verstärkten Beobachtung und Kontrolle von Familien, die analog zu Wyness’ (1996) Diagnose einer »policing childhood« (S. 431) als ›policing parenthood‹ bzw. als »methodisierte und überwachte Institutionspädagogik« (Winkler 2012, S. 135) bezeichnet werden kann.

1.5.

Synopse der Erzählstruktur und Leitkonzepte narrativer Sinnstiftung

Die narrative Problemetablierung einer sich ›ausweitenden Katastrophe familialer Erziehungsinkompetenzen‹ wird insgesamt von zahlreichen einzelnen Wissensstrukturen, Infrastrukturen und Deutungsmustern getragen, die sich zu zwei übergeordneten Leitkonzepten bündeln lassen: dem ›Horrorszenario‹ als zentraler Inszenierungsund Mobilisierungsstrategie und dem ›Securization-Konzept‹ als wesentlicher Bewältigungsstrategie. Der narrative Aufbau der Erzählstruktur lässt sich hierbei in einem Entwicklungsmodell vereinfachen, das im Wesentlichen Blumers »Karriereleiter sozialer Probleme« (1975) entspricht: Die Narration beginnt zunächst mit der ›Agendasetzung‹ des Problems und daran anknüpfend dessen ›Legitimierung‹ mittels verschiedener Diskursstrategien und Semantiken. Diese stützen sich in der vorliegenden Argumentationslinie vor allem auf expressive und angsterzeugende Archetypen sowie normative Evidenzen einer fremdgesteuerten Gesellschaft und täuschenden Elternschaft und lassen sich hervorragend in Schreckensbildern inszenieren, denen nur schwerlich widersprochen werden kann (vgl. Albrecht 2001, S. 61). Die Ordnungen werden somit insbesondere über die Inszenierung und regulative Nutzung von Angst hergestellt und zu einer Misstrauensperspektive auf Familien ausgeweitet. Mithilfe ontologischer Metaphernkonzepte der Verunreinigung, des ›Monströsen‹ und ›Animalischen‹ sowie visuell-atmosphärischer Metaphernfelder der Helligkeit und des Sehens lassen sich die ein-

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

zelnen bildhaften Strukturelemente dieser Strategien in ein metaphorisches Gesamtkonzept aus dem Bildbereich des Theaters und Schauspiels überführen. Das ermöglicht es unterschiedlichen Sicherheitsakteuren‹ ›hinter die Kulissen‹ zu sehen und Einfluss auf das inszenierte ›Horrorszenario‹ zu nehmen. Dadurch hat das Problem die Karrierestufe der Handlungsmobilisierung erreicht. Tabelle 2 zeigt, wie sich die metaphorischen Einzelkonzepte über unterschiedliche Referenzbereiche und -subjekte sowie verschiedene bezeichnende Inhalte und Zielbereiche zu einem ›Horrorszenario‹ verbinden lassen.

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Quelle: eigene Darstellung

Erziehung und Kinderschutz

Maschinen, Monster und Hunde

Familie als düsterer Ort und Hinterbühne

Aktivierung von Akteuren

Hell/dunkel

Sehen – Wegsehen

Atmosphärisch-visuell

Familiale Lebensbühne

Ontologisch

Das (Horror-)Szenario als komplexes Bühnenbild familialen Versagens

Referenzbereich

Müll

Konzeptbereich

Konzeptuelle Zentralmetaphorik

Blinde Gesellschaft

Täuschende Eltern

Anomische und animalische Eltern dysfunktionale öffentliche Akteure

›Wertlose‹ Familien

Referenzsubjekt

Tabelle 2: Das ›Horrorszenario‹ als Zentralmetaphorik der narrativen Sinnstiftung

Kultur des Wegsehens

Verschleierung und Verdeckung von Eigenschaften und Handlungen

Fremdsteuerung von Akteuren

Moralische Verunreinigung

Signatum

Kultur des Hinsehens

Aufdeckung und Beleuchtung als Wahrheit und ›Einsicht‹

Kontrolle der Familie

Darstellung und Bereinigung des Unerwünschten

Zielbereich

144 Familie unter Verdacht

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

Die narrativ verbreiteten repressiven Symbole und Rhetoriken des ›Horrorszenarios‹ machen die Narrationslinie nahezu immun gegenüber Widersprüchen (vgl. Schetsche 2014, S. 224). Dadurch aber lassen sie auf der nächsten Karrierestufe, der ›Ausarbeitung eines offiziellen Handlungsplans‹, nur wenig Raum für differenzierte und rational begründete Bewältigungsstrategien, die über die Eindämmung der angeblich zunehmenden Bedrohungslage hinausgehen. Der kriminologische Rahmen, in den die einzelnen symbolischen Strukturelemente in Fällen wie ›Kevin‹ eingebettet und Familien »kriminalisiert« (SZ 20.03.2015) werden, scheint hier nur noch den Rückgriff auf Sicherheitstechniken zuzulassen, deren zentrale Annahmen auch dadurch symbolischen Mehrwert entfalten, dass sie sich in anderen gesellschaftlich relevanten Feldern wie etwa Zuwanderung, Terrorismus, Sucht usw. etablieren konnten. In einem Duktus des ›Überwachens und Strafens‹ (Foucault 1993a [1975]) werden daher auf der letzten Karrierestufe, der ›Ausführung des Handlungsplans‹, auf der Basis der strategischen Legitimierung und Mobilisierung konkrete Forderungen nach einer Ausweitung von Maßnahmen des Kinderschutzes übernommen. Teilweise wurden die formulierten Anliegen auch in die Praxis umgesetzt, wobei sie nicht nur »über Moral legitimiert, sondern vielmehr über einen technokratisch aufgefassten Begriff von Sicherheit« (Lindenberg & Schmidt-Semisch 1995, S. 9) gerechtfertigt werden. Dabei werden vor allem Elemente einer systematischen Erkennung und Kontrolle sichtbar, die mit einem latent immer vorhandenen diffusen Gefühl der Sicherheitsbedrohung begründet werden, wobei »das Gefühl von Sicherheit schwindet und die Akzeptanz von Überwachung und Kontrolle in gleicher Weise ansteigt« (Krause 2015, S. 176). Familiale Erziehung und Sicherheit werden somit vor dem Hintergrund von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung narrativ und symbolisch zu Begriffspaaren verdichtet und ›Kevin‹ wird zu einem Symbol des Kontrollverlustes, der es ermöglicht, entsprechende Sicherheitsstrategien und -artefakte zur Bewältigung des Problems zu legitimieren (vgl. Scherr 1997). Das metaphorische Gesamtkonzept kann im Narrationsverlauf daher entscheidend zur allmählichen Handlungsmobilisierung der Gesellschaft und zur Ausarbeitung und Ausführung eines Handlungsplanes familialer Erziehung beitragen. Es lässt sich damit als zentrale Voraussetzung der narrativen Etablierung eines ›policing parenthood‹ erachten, d.h. einer Problembewältigung durch sicherheitsbasierte Kontrollsysteme. An dieser Stelle sei auch auf die Kluft zwischen realer und erlebter Kriminalität verwiesen: Die erfolgreiche Suggestion einer Bedrohungslage als Basis des Sicherheitskonzeptes ist gerade im Vergleich mit der öffentlichen Thematisierung anderer Gewaltformen interessant. So wird z.B. im Feld häuslicher Gewalt zwischen Erwachsenen – trotz Zunahme registrierter Fälle – nicht von einer steigenden Gefährdungslage ausgegangen: »Es haben heute mehr Handlungen – etwa Handlungen zwischen Ehepartnern – die Chance, Gewalt genannt und strafrechtlich verfolgt zu werden als sagen wir vor dreißig Jahren. Und niemand nimmt an, dass etwa die Ehemänner ihren Frauen gegenüber gewalttätiger geworden wären« (Peters 2015, S. 143). Diese Einschätzung teilen auch Bergmann (2002) und Krause (2015). Sie gehen davon aus, dass die Furcht vor Kriminalität nicht mit der Entwicklung der tatsächlichen Kriminalitätsziffern kongruent ist, sondern der Ausbau von Sicherungssystemen vielmehr eine immense Furcht vor deren Versagen etabliert. Obwohl die realen Bedrohungen für den Menschen im Zeit-

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Familie unter Verdacht

verlauf bereits ohne entsprechende Sicherungs- und Überwachungssysteme kontinuierlich gesunken sind und auch staatliche Maßnahmen wie z.B. Hilfen zur Erziehung nur selten auf diagnostizierte Kindeswohlgefährdungen zurückgehen,11 scheint der Bedrohungsdruck gleichzeitig gestiegen zu sein. Bereits Simmel (1992 [1894]) sah in der Aufrechterhaltung einer solchen generalisierten Bedrohung eines der stärksten »gesellschaftlichen Bindemittel« (S. 663), und auch Marquard (1986) argumentiert ähnlich: »Wo Kulturfortschritte wirklich erfolgreich sind und Übel wirklich ausgeschaltet, wecken sie selten Begeisterung. Sie werden vielmehr selbstverständlich, und die Aufmerksamkeit konzentriert sich dann auf jene Übel, die übrig bleiben. Dabei wirkt das Gesetz der zunehmenden Penetranz der Reste: Je mehr Negatives aus der Wirklichkeit verschwindet, desto ärgerlicher wird – gerade, weil es sich vermindert – das Negative, das übrigbleibt« (S. 37f.). Abbildung 3 gibt einen Überblick über die zentralen Strukturelemente der Narrationslinie:

11

Der Anteil diagnostizierter Kindeswohlgefährdungen soll mit 7-8 % konstant gegenüber den Vorjahren geblieben sein, in denen diese Artefakte noch nicht eingeführt waren (vgl. Bode & Turba 2014, S. 19). Otto und Ziegler (2012) benennen bei etwa zwei Fünftel aller Fälle von Hilfen zur Erziehung unzureichende elterliche Erziehungskompetenzen und/oder familiale Problemlagen bzw. Konflikte als Gründe für die Maßnahme. Etwa zwei Drittel der Fälle gehen ihnen zufolge auf unzureichende Betreuung und Förderung des Kindes oder Kindeswohlgefährdung zurück.

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

Abbildung 3: Zentrale Strukturelemente der Ausgangsnarration

Quelle: eigene Darstellung

 

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Familie unter Verdacht

Die Fälle familialen Versagens resultieren als ›Penetranz der Reste‹ erst aus dem Wissen über mögliche Folgen wie Kindesmisshandlung und -vernachlässigung und nicht aus den Sachverhalten selbst, die mit zunehmendem Wissen immer bedrohlicher wirken und daher kontrolliert werden müssen. Im Hinblick auf ihre einzelnen Wissensund Infrastrukturen erfüllt die vorliegende Narrationslinie somit alle drei Kriterien, die Schetsche (2014) bei der Etablierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ als Problem als zentral erachtet (vgl. S. 49): 1. Der betreffende Sachverhalt, d.h. das Versagen familialer Erziehungskompetenzen im Rahmen von Fällen wie ›Kevin‹, ist als eine ›sich ausweitende Katastrophe‹ nach den vorherrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen als störend und problematisch zu beurteilen. 2. Es existiert mit dem ›gefährdeten Kind als Objekt der Sorge‹ eine bewährte Opferkategorie, die an ihrer Lage schuldlos ist. 3. Eine Bewältigung oder zumindest Abmilderung des Problems bzw. der ›Katastrophe‹ ist im Rahmen der bestehenden normativen Ordnung mit der Einführung eines ›policing parenthood‹ als Lösungsstrategie denkbar und erwünscht.

2.

Die Gegennarration: Der Fall ›Kevin‹ als Wegbereiter einer gefährlichen Entmachtung familialer ›Erziehungskompetenzen‹

In den massenmedialen Verhandlungen des Falls ›Kevin‹ und anderer Fälle innerfamilialer Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zeigt sich neben der Herausbildung einer skandalisierenden und sicherheitspolitischen Narrationslinie, die die familiale ›Erziehungsinkompetenz‹ als eine sich ›ausweitende Katastrophe‹ problematisiert (vgl. Kap. III, 1), eine Gegennarration, die diskursiven Einfluss nimmt, indem sie Ordnungsstrukturen und Wissensbestände der konstituierten Problemwahrnehmung semantisch verändert, mit anderen Sinnwelten kombiniert und aktiv zurückweist. Dieser konstitutive Prozess lässt sich als strategische Nihilierung (lat. nihil = nichts) bezeichnen. In ihm werden Widersprüche zu den strategischen Dramatisierungsversuchen der Ausgangsnarration authentisch plausibilisiert und alles, was außerhalb der eigenen deutungsimmanenten Sinnwelt liegt, mittels »negativer Legitimation« aufgelöst (Berger& Luckmann 1980 [1969], S. 117ff.). Abels (2009) sieht darin eine extreme Form der De-Legitimierung zur Bewahrung der tradierten Ordnung: »Nihilierung ist eine extreme Form, das, was uns nicht vertraut ist, unsere symbolische Wirklichkeit aber aus welchen Gründen auch immer gefährden könnte, als fundamental anders zu definieren und deshalb nach unseren theoretischen oder eingelebten Legitimitätsvorstellungen in Abrede zu stellen […]. Alternativen werden dann auch nicht als Alternativen anerkannt, sondern als Phänomene, die nur anders benannt sind« (S. 111). Hierbei handelt es sich um eine Strategie, die auch in vielen anderen Diskursen wie z.B. dem Umweltschutzdiskurs genutzt wird (vgl. z.B. Liebert 2003, S. 265f.). Ebenso wie andere Legitimationsstrategien verweist sie auf ein »Brüchigwerden traditio-

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

neller Selbstverständlichkeiten« (Bogner 2003, S. 209). Im Rahmen einer solchen Nihilierungsstrategie werden Fälle wie ›Kevin‹ als Einzelschicksale kleiner Minderheiten ausgewiesen. Zumeist wird sehr stark auf moralisch-naturalistische sowie ritualisierte, fundamentalistische Sinnorientierungen zurückgegriffen, die relativ statisch sind und auf Vorstellungen eines familialen Schutz- bzw. »Schonraums« (Schelsky 1953, S. 88) sowie einer »familialisierten Kindheit« (Honig & Ostner 2014) beruhen. Fälle wie ›Kevin‹ werden so zu unangenehmen, kaum abwendbaren, aber seltenen Ereignissen deklariert. Solche Narrative können nur überzeugen, wenn sie die Befindlichkeit der betroffenen Subjekte in ihre Deutungen einbeziehen. Dies geschieht in erster Linie über die Inszenierung familialer Erziehung als ›naturwüchsiges Glück‹ (vgl. Kap. III, 2.1), bei der die gefährliche Familie zur ›gefährdeten Familie‹ umgedeutet wird, die gesellschaftlichem Wandel und staatlichen Interventionen nahezu hilflos ausgeliefert erscheint (vgl. Kap. III, 2.2). Mittels Anknüpfung an konventionelle Subjektpositionen, tradierte Wissensbestände und historische Ereignisse wird hierbei eine ›Geschichte des Mitgefühls‹ inszeniert (vgl. Kap. III, 2.4), in der das Sichern und Bewahren des familialen Nahraums als einzig legitime Bewältigungsstrategie erscheint (vgl. Kap. III, 2.3).

2.1.

Die Nihilierung des Problems – Der Fall ›Kevin‹ als unglücklicher Einzelfall

2.1.1.

Die Bagatellisierung des Falls ›Kevin‹ als moralische Panik

Die Basis der vorliegenden Narrationslinie bildet die Negierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ als soziales Problem. Hierzu zählt vor allem die vermeintliche »Mär von immer mehr Fällen« (Die Welt 06.06.2008b). Während die vorgebliche Häufung von Fällen innerfamilialer Kindesmisshandlung und -vernachlässigung in der Ausgangsnarration als bedeutsame Strategie zur Generalisierung und Betonung einer sich mutmaßlich ausweitenden Gefahrenlage durch familiale ›Erziehungsinkompetenzen‹ genutzt wird (vgl. Kap. III, 1.1), steht die Narrationslinie der Gegennarration einer generalisierten Problematisierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ in vielen zentralen Punkten entgegen. So werden Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zunächst als übertriebene »Einzelfälle« (z.B. Die Zeit 43/2006c; FAZ 15.04.2009; taz 22.02.2007) beschrieben: »Liest man die Zeitungen, könnte man glauben, Kindesmisshandlung sei ein Phänomen des 21. Jahrhunderts« (Die Zeit 51/2007b), aber »im Prinzip werden hier Kinder in Sicherheit groß« (SZ 13.08.2009). »Die Zahl der Kinder, die durch Vernachlässigung oder Misshandlungen zu Tode kommen, ist heute geringer als vor zehn Jahren. Zwar wachsen hierzulande manche Kinder in der Familienhölle auf. Doch diese traurigen Fälle sind Randerscheinungen, nicht die Norm« (Die Welt 23.12.2008). Die Häufigkeit bzw. Eintrittswahrscheinlichkeit innerfamilialer Kindesmisshandlung und -vernachlässigung sei somit eher als gering einzustufen. Es handele sich in Fällen wie ›Kevin‹ vielmehr um »medienpräsente Extremfälle« (taz 19.10.2006), denn »die allermeisten Eltern kümmern sich gut um ihre Kinder« (Die Welt 23.12.2008) und zeigen sich ihren Kindern gegenüber »zugewandt und liebevoll« (Die Zeit 25/2008). Familiales ›Versagen‹ wird zwar nicht abgestritten, dessen Ausbreitung und Problematisierung jedoch

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Familie unter Verdacht

in weiten Teilen abgeschwächt und als »moralische Panik« (Cohen 1972) abgewertet, bagatellisiert und relativiert: Es handele sich um kein »Phänomen der Neuzeit« (Focus 50/2007), aber »spektakuläre Fälle wie diese sorgen für Schlagzeilen und vermitteln ein Bild von der Familie als Hort der Gewalt, der Vernachlässigung und der Überforderung. Das Gros der Bevölkerung aber erlebt Familie ganz anders« (Die Welt 30.01.2007). Die Lage habe sich »nicht dramatisch verschlechtert. Häufigkeit, Art und Ausmaß der Gewalt seien relativ konstant geblieben. Und auch die Hemmschwelle sei bei den Eltern nicht etwa gesunken, wie derzeit suggeriert werde: ›Der Mensch ist im Laufe der Jahre nicht besser oder schlechter geworden‹« (taz 22.02.2007). »Man verweist auf überforderte, bildungsferne und erziehungsunwillige Väter und Mütter und suggeriert somit, dass die Elternrechte dem Kindeswohl entgegenstünden. Doch nur eine kleine Minderheit der Familien ist so kaputt. Extremfälle aber sollten nicht als Maßstab dienen für Gesetzesänderungen, mit denen die Rechte aller Eltern eingeschränkt werden« (Die Welt 23.04.2008). »Man darf die Erziehungskompetenz der Eltern von Kleinkindern doch nicht grundsätzlich anzweifeln, nur weil eine kleine Minderheit der Väter und Mütter ihre Kinder vernachlässigen« (Die Welt 31.07.2007), denn »die meisten – fast alle Eltern – [sind] zum Glück sehr gut darin, ihre Kinder zu schützen, zu hegen und zu pflegen« (SZ 13.08.2009). »Auch wenn es dabei manchen Streit gibt, sind die meisten Familien intakt […;] zwischen den Eltern und ihrem minderjährigen Nachwuchs läuft es im Regelfall gut« (Die Welt 23.12.2008), »so wie es sein sollte – und in den allermeisten Fällen ja auch ist« (FAZ 14.05.2007). Bei der Nihilierung familialer ›Erziehungsinkompetenz‹ als soziales Problem wird nicht nur auf »defensive Darstellungstechniken« (Laux & Schütz 1996, S. 121) zurückgegriffen, die Kindesmisshandlungen und -vernachlässigungen als Sonder- oder Einzelfällen charakterisieren. Vielmehr erfolgt auch die modale Faktizitätsherstellung überwiegend bewertend-assertiv, wobei sie sich vor allem über abgeschwächte Modalpartikel vollzieht, welche die Glaubwürdigkeit der Szenarien in Frage stellen: So »gibt es vermeintlich mehr Fälle« (taz 22.02.2007), die »eine angeblich notwendige Förderung« (Die Welt 23.04.2008) suggerieren. »Hier können Experten nur mit Hilfe der Kriminalstatistik schätzen: Etwa ein Prozent der jährlich geborenen Kinder sind von Verwahrlosung bedroht, glauben sie« (taz 28.10.2006b). »Experten glauben […]« (taz 26.10.2006),bzw. »die spektakulären Fälle von Kindesmisshandlungen […] lassen viele Menschen glauben, jene stünden für einen Trend. Doch statistisch lässt sich das nicht nachweisen« (Die Welt 23.12.2008). »Natürlich sind die allermeisten Kinder nicht von Misshandlung oder Vernachlässigung seitens ihrer Eltern bedroht« (taz 29.07.2009). Darüber hinaus zeigen sich gehäuft »negative Satzadverbien« und Distanzierungsmarker, die den restlichen Teil der Aussage verneinen (z.B. »nirgendwo wird so viel gelogen«, taz 22.02.2007; vgl. auch Freitag 2013, S. 390ff.). Diese strategische Bagatellisierung kann als zentrale Interaktionsstrategie erachtet werden, um Ereignisse wie den Fall ›Kevin‹ ins Vergessen zu katapultieren und im Vergessen zu erhalten (vgl. Zifonun 2011, S. 203).

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

2.1.2.

Familiale ›Erziehungskompetenz‹ als natürliches Glück und passives Erleiden

Ein zentraler Bezugspunkt dieser Narrationslinie stellt die Inszenierung von Familie und Erziehung als höchstes und »stabiles Glück« (Die Welt 23.12.2008) dar, wobei Eltern ihre Kinder entsprechend einer tradierten moralphilosophischen Deutung »dank einer unserer Natur biologisch innewohnenden Notwendigkeit lieben« (Frankfurt 2005, S. 36). Die Familie wird hierbei als »Keimzelle der Gesellschaft« (Der Spiegel 49/2006) und »Ort der Wärme und Geborgenheit« (Der Spiegel 49/2006) gesehen, der »trotz Schlagzeilen über Kindesmisshandlungen« (Die Welt 30.01.2007) im Allgemeinen die Fähigkeit zur ›kompetenten‹ und fürsorglichen Erziehung der Kinder zuzusprechen sei: »Das Zusammenleben mit eigenen Kindern wird von der großen Mehrheit vor allem als Gefühl wahrgenommen, gebraucht und geliebt zu werden, und als Chance auf ein Leben voller Überraschungen« (Die Welt 30.01.2007). »Zweifellos machen Mütter und Väter Fehler bei der Erziehung ihrer Sprösslinge. Doch sie haben ein natürliches Interesse an deren Glück« (Die Welt 23.04.2008). »Das stabile Glück der Familien ist kein Auslaufmodell« (Die Welt 23.12.2008) und Fälle wie Kevin seien »glücklicherweise selten« (Die Welt 04.11.2006b). Die Narrative entsprechen im Wesentlichen Hegels Auffassung, dass sich ›gute‹ Erziehung »im Kreise der Liebe und des Zutrauens bei den Eltern« (Hegel 1972 [1820), § 175) entfalte. Sie wird in der vorliegenden Narrationslinie auch durch bindungstheoretische Annahmen abgesichert: »Normalerweise hat ein Kind im Alltagsleben eine Bindungsperson, die Schutz und Sicherheit gewährleistet« (SZ 11.08.2007). Diese »positive emotionale Beziehung ist der beste Schutz vor Vernachlässigung und Misshandlung« (Die Welt 04.11.2006a), denn die »Bindung der Kinder an die Eltern ist in der Regel stärker als die Verzweiflung« (SZ 16.10.2006). »Ein sicheres Bindungsfundament, das man als Kind emotional verinnerlicht hat, kann einen widerstandsfähiger machen, wenn man durch einen fremden Menschen in eine bedrohliche Extremsituation gerät« (SZ 11.08.2007). Es handele sich um »jene Bindung, ohne die Kinder in große Gefahr geraten, vernachlässigt zu werden […;] es funktioniert über ganz simple Elemente, der größte Schutz für das Kind ist die Bindung« (SZ 07.12.2006). Eine sichere Bindung diene dann nicht nur als Grundlage kindlicher Resilienz, sondern fördere auch andere kindliche Entwicklungsbereiche: »Unstrittig ist in diesem Zusammenhang, dass die Entwicklungschancen und -risiken eines Säuglings oder Kleinkinds von der Qualität früher Bindungen bestimmt werden, allem voran von der Feinfühligkeit der zentralen Bezugspersonen (care-giver). Denn Kinder sind nur bereit zu explorieren sowie im Spiel oder in sozialen Situationen zu lernen, wenn sie sich in einer emotional sicheren Beziehung aufgehoben fühlen. Sicher gebundene Kinder sind auch besser als unsichere in der Lage zu lernen« (FAZ 17.11.2012). Selbst unter Anstrengungen sei Elternschaft und die Bindung an das Kind noch als ›höchstes Glück‹ zu werten: »Die negativen Erfahrungen, die Hölle, der Stress, der Schlafmangel, die Sorgen und Frustrationen lassen sich mit den Methoden der Psychologie erfassen. Nicht messbar sind dagegen die Glücksmomente, die wir mit unseren Kindern erfahren« (Focus 36/2014). Solche Aussagen legen eine Definition von ›Glück‹ nahe, die entgegen der all-

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Familie unter Verdacht

tagssprachlich häufig vorgenommenen Konnotation eines gelingenden und günstigen Ausgangs nicht zwingend impliziert, dass ›Glück‹ im Positiven münden muss. Verweise auf eine solche Deutung finden sich bereits im Grimm’schen Wörterbuch, in dem Glück als »schicksal, geschick, ausgang einer Sach« (Grimm & Grimm 1958 [1854], S. 226) unabhängig von dessen Bewertung definiert wird. Eine solche Auffassung gesteht Familien zu, selbst im ›Glück‹ Fehler zu machen. Dieses Glück »befähigt Frauen zu nie geahnten Höchstleistungen: etwa schlaflose Nächte durchzuhalten. Daraus resultiert die Überzeugung, dass Kinder es am besten haben, wenn sie in den ersten Jahren ganz ihren Eltern überlassen werden« (taz 18.12.2006b) und dass Eltern »besser als der Staat wissen, was gut für ihr Kind ist« (Der Spiegel 49/2006). In dieser Narrationslinie werden die Eltern somit implizit zu ›Experten‹ erhoben, d.h. zu einer Personengruppe, die »bezüglich eines spezifischen Problems [über] ein spezialisiertes Wissen verfügt, ein Wissen, welches hinreichend klar gegliedert und hinreichend präzise ist, um eine Problemsituation analysieren und mögliche Problemlösungen abschätzen zu können« (Schützeichel 2007, S. 547). Trotz dieses ›Expertenstatus‹ lassen sich aber nur wenige explizite Erwartungen und Anforderungen an Eltern ableiten. Die Modellpraxis einer Erziehung als das »Glück der Mutter und der gesamten Familie« (Hauk et al. 2010, S. 61) scheint sich vielmehr durch eine vage positive Haltung gegenüber dem Kind auszuzeichnen, die im Wesentlichen durch »Liebe, Zärtlichkeit und Zuwendung« (SZ 14.04.2008b) gekennzeichnet ist sowie sich in einem »beziehungsorientierten« (FAZ 26.05.2007) Verhältnis zeigt. ›Erziehungskompetente‹ Verhaltensweisen und Handlungen scheinen sich daraus »mit einer gewissen Fraglosigkeit, einfach aus den Wünschen, Interessen und emotionalen Bindungen« (Lohmann 2010, S. 203) zu ergeben. Dies verweist auf ein Kompetenzverständnis, das stark auf anthropologisch-humanistischen Annahmen und dem tradierten kulturellen und historischen Deutungsmuster der ›natürlichen‹ Liebe zum Kind beruht, das trotz aller Veränderungen in der Moderne seit Jahrhunderten bedeutsam ist (vgl. Badinter 1999; Schütze 1986). Als natürlich-intuitive Anlagen und basale Fähigkeiten können grundlegende ›Erziehungskompetenzen‹ dann auch nicht zur Disposition stehen und müssen weder erworben noch sichtbar gemacht werden.

2.1.3.

Familiales Einzelversagen als Schicksal und Folge sozialen Wandels

Indem familiale ›Erziehungskompetenz‹ als natürliches Phänomen innerhalb einer ›liebenden Familie‹ gefasst wird, erfolgt die narrative Begründung des Einzelversagens von Familien in Fällen wie ›Kevin‹ in der Konsequenz mit Verweis auf externe Faktoren, wie z.B. grundlegende Veränderungen in den Familienstrukturen und Bedingungen des Aufwachsens. Rekurriert wird hierbei nicht nur auf den »demografischen Wandel« (Der Spiegel 49/2006),12 sondern auch auf einzelne von diesen Veränderungen betroffenen 12

Als die drei Hauptfaktoren der demographischen Entwicklung werden in der einschlägigen Literatur in der Regel Prozesse der Zu- und Abwanderung, die Geburtenrate und die Sterblichkeit gefasst. Seit den späten 1960ern lässt sich in Westdeutschland ein Geburtenrückgang von etwa 2,5 auf derzeit etwa 1,6 durchschnittliche Geburten pro Frau verzeichnen, der auch als »zweiter demographischer Übergang« (Kaa 1987) bezeichnet wird. Das Fertilitätsniveau befindet sich gegenwärtig laut Statistischem Bundesamt erstmals seit dem Jahr 2012 in einem leichten Aufwärtstrend und rangiert wieder auf einem etwas höheren Niveau. Der Tiefpunkt der endgültigen Ge-

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

Bereiche wie die zunehmende soziale und räumliche Mobilität oder die damit einhergehenden Tendenzen eines Verlustes von Mehrgenerationenbeziehungen und sozialen Netzwerken bei gleichzeitiger sozialer Vereinzelung (vgl. Diewald 1991; Wall et al. 2013), die zum Wegfall wichtiger familialer Unterstützungsquellen geführt haben: »Die ursprünglichen Schutznetze seien nicht mehr selbstverständlich vorhanden. Dazu zählten ›die Großfamilie, die Dorfstrukturen, die Nachbarschaft, aber auch die Kirche‹« (FAZ 16.10.2006). Es sei daher nicht verwunderlich, dass »es mehr und mehr Familien gibt, die keinerlei Rückhalt haben, keinen Partner, keinen Freund, keinen Verwandten, der sie unterstützt« (Die Welt 29.01.2013). »Es gibt kaum noch Großfamilien, in denen viele Kinder mit Geschwistern durch Erwachsene aller Generationen erzogen werden. Dadurch sind wichtige soziale Netze verschwunden« (Der Spiegel 49/2006) und »es sei nicht gelungen ›in modernen Zeiten verlässliche Netzwerke um die Familie herum‹ zu bilden« (Focus 42/2006b). Verwiesen wird somit auch auf die funktionale Modellpraxis von Familie »als eine(r) gesellschaftliche(n) Einrichtung […,] in der absichtsvoll von der älteren an die jüngere Generation Kenntnisse, Fertigkeiten und – nicht zuletzt – Orientierungen, Einstellungen und Haltungen weitergegeben werden, mit dem Ziel, den Familienmitgliedern der nachwachsenden Generation zur kulturellen und gesellschaftlichen Mündigkeit zu verhelfen« (Matthes 2009, S. 109). Eltern, die ihre Kinder misshandeln oder vernachlässigen, fehle es daher häufig an einem »Werte- und Unrechtsbewusstsein« (Focus 42/2006b). Dies resultiere aus »mangelnder Unterstützung dieser überforderten, ›hilflosen Täter‹« (Der Spiegel 51/2007), denn »es ist schwer, Liebe, Zärtlichkeit und Zuwendung weiterzugeben, wenn man sie selbst nicht erhalten hat« (SZ, 14.04.2008b). Die Ursache liege somit im »Individualismus oder Werteverlust« (taz 14.10.2006a) bzw. einem Wandel, »in dem man den Menschen viel zumuten muss« (Focus 04/2007): »Die Familien bröckeln, die Armut nimmt zu, außerdem achten die Menschen nur noch auf sich – aber nicht mehr auf den Nachbarn« (SZ 14.04.2008a). Fälle wie ›Kevin‹ seien somit immer auch als »Ergebnis gesellschaftlicher Fehlentwicklungen« (SZ 18.10.2006c) zu verstehen. Sie erwachsen aus einem »Gefühl der Ohnmacht« burtenrate liegt bislang beim Geburtsjahrgang 1968 mit einem Wert von 1,49 Kindern (vgl. Statistisches Bundesamt 2018c). Der skizzierte Geburtenrückgang korrespondiert mit einer Abnahme der Mehrkinderfamilien, wachsender Kinderlosigkeit von Frauen und einer Zunahme der »späten Mutterschaft«, die vor allem Akademikerinnen betrifft. So ist das durchschnittliche Alter bei der Geburt des ersten Kindes zwischen 1970 und 2017 von 24,3 auf 29,8 Jahre gestiegen (vgl. Statistisches Bundesamt 2013, 2018d). Begründet wird dieser Wandel nicht nur mit dem ›Pillenknick‹, d.h. der Möglichkeit einer Geburtenplanung mittels Empfängnisverhütung, sondern auch mit der verbesserten gesellschaftlichen Stellung der Frau, d.h. höheren Bildungsabschlüssen und Zugängen zu höhergestellten beruflichen Möglichkeiten. Darüber hinaus sinkt seither der Anteil der Eheschließungen kontinuierlich, während die Scheidungsraten und das durchschnittliche Erstheiratsalter steigen: Die Scheidungsrate wird z.B. vom Statistischen Bundesamt im Jahr 2017 mit knapp 38 % ausgewiesen. Für das Jahr 1960 wurde eine Quote von lediglich 11 % registriert (vgl. hierzu ausführlicher Statistisches Bundesamt 2018e). Diese Entwicklungen gehen einher mit einem Monopolverlust der Familie zugunsten anderer Lebensformen wie z.B. nicht ehelichen Lebensgemeinschaften, Singles und Alleinerziehender (vgl. Statistisches Bundesamt 2018f). Zur ausführlichen Darstellung der Prozesse und Faktoren soziodemographischen Wandels vgl. z.B. Beck und Gernsheim (1990), Bertram (1991) sowie Peuckert (2007).

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(Walper 2006, S. 23) in einer »Kultur der Verantwortungslosigkeit« (Die Welt 19.11.2008), die Erosionstendenzen und die Hilflosigkeit der Menschen zum Anlass nehme, staatliche Eingriffe in die Familien zu legitimieren. In der modernen Gesellschaft hätten Solidarität, Mitgefühl und Mitleid ihren Platz an Kontrolle und Ökonomisierungsbestreben verloren. Denn erst »gesellschaftliche Ignoranz« (Die Welt 19.11.2008) und unmoralische Ökonomisierungsbestrebungen hätten die Ereignisse um Fälle wie ›Kevin‹ ermöglicht. Familien würden »kaputtgespart« (Die Zeit 43/2006a) und Menschen vom »Kapitalismus ausgespuckt« (Die Zeit 51/2007b). In Aussagen wie diesen spiegelt sich Anséns Befürchtung wider, dass »ökonomische Überlegungen ethische Überlegungen zunehmend verdrängen und dass das Wirtschaftlichkeitsprinzip den Status einer Norm bekommen soll, womit es auf einer Stufe mit Normen wie Gerechtigkeit, Freiheit oder Menschenwürde stünde« (Ansén 2006, S. 44). Die gesamte »Republik Rabenland« (taz 28.10.2006b) stehe damit einem sicheren, harmonischen Familienleben entgegen, so dass die ›natürlichen‹ familialen ›Erziehungskompetenzen‹ gerade in »Krisenfällen« (Der Spiegel 22/2007) mitunter versagten. Indem Elternschaft und Erziehung als unumstößlich anmutendes »Glück« (Die Welt 23.12.2008; SZ 13.08.2009) und »Schicksal« (Die Zeit 51/2007b; taz 28.10.2006b) verstanden werden, stellen Fälle von Kindesmisshandlungen und -vernachlässigungen aus dieser Perspektive keine beabsichtigte Taten dar, sondern vielmehr ein seltenes »Unglück« (Die Welt 29.01.2013; Focus 04/2007), das den Eltern und dem »kleinen Kind widerfahren kann« (SZ 13.10.2006b) – insbesondere dann, wenn ungünstige Begebenheiten kumulieren. Das ›Scheitern‹ an Erziehungsaufgaben wird somit in Fällen wie ›Kevin‹ auch als »Kinderschicksal« (Der Spiegel 48/2007) bzw. »Los von Kindern« (taz 28.10.2006b) und so als passives »Geschehen« (z.B. Die Welt 29.01.2013; Die Zeit 43/2006b) oder einzelnes »grauenvolles Ereignis« (Die Welt 12.07.2007) wahrgenommen. In diesen passiven Konnotationen von familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ als ›naturwüchsiges‹ Glück bzw. ›Einzelschicksal‹ erscheinen Familien nicht nur gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mehr oder minder hilflos ausgeliefert, sondern mitunter auch von einer höheren, gottesähnlichen Macht gesteuert zu sein: »Die Christen können ja darunter Gott verstehen, andere verstehen etwas anderes, etwa das ›Schicksal‹. ›Gott‹ ist sicher mehr als eine Chiffre. Es ist zumindest ein Hinweis, dass es über den Dächern der Menschen einen Bereich gibt, der uns bestimmt und lenkt, aber das ist nicht immer und für jeden ein persönlicher und lebendiger Gott« (Focus 04/2007). Diese Beschreibung einer Lenkung von Familien durch fremde Mächte weist starke Parallelen zur Subjektposition der Eltern als ›fremdgesteuerte Monster‹ auf, wobei die grundlegenden Motive der Fremdsteuerung jedoch auseinanderzugehen scheinen. Während die ›monströsen‹ Eltern von ›bösen Mächten‹ gesteuert werden (vgl. Kap. III, 1.2), scheint die Lenkung der Ereignisse und Personen in dieser Narrationslinie nicht negativ konnotiert: »Oft steht dahinter nicht böser Wille der Eltern, sondern Überforderung« (FAZ 07.11.2007) in »einer Welt großer Unsicherheiten« (Die Welt 23.12.2008). Die Familien können hierbei in Situationen »geraten« (SZ 25.08.2009), denen nicht gänzlich zu entkommen sei. Die Narrationslinie bleibt in der Konstruktion ihrer Ursachengenerierung somit auffällig passiv, was auch hier als Resultat erfolgloser Problembewältigungsversuche gedeutet werden kann, denn die natürliche Reaktion

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

auf Ängste und suggerierte Gefahren ist seit jeher Flucht, Kampf oder Totstellen. »Wenn all dies nichts nützt, verbleiben nur Resignation oder die Hoffnung auf eine nicht einsehbare Fügung Gottes« (Renn 2014).

2.2. 2.2.1.

Subjekte auf Lebens- und Abwegen eines erweiterten Täter-Opfer-Raumes Eltern als tragische Figuren und Wegbereiter

Die in der Ursachenattribuierung angelegten Muster von ›Glück‹ und ›Schicksal‹ zeigen sich in der vorliegenden Narrationslinie auch metaphorisch in Bildern mühsamer oder versperrter ›Strecken‹ und ›Wege‹. Es seien »viele Steine, die man in den Weg gelegt bekommt‹« (Die Zeit 43/2006b), so dass Familien oftmals »in einem Wust aus Fehleinschätzungen, Bürokratie und Zuständigkeiten auf der Strecke« (Die Welt 12.10.2006a) blieben. Manchmal führe dann »kein Weg vom Davor zum Danach« (Focus 50/2007). Die Rede ist dann von »völlig aus der Bahn geratene[n] Eltern« (FAZ 16.10.2006), die »sich zwischen Erschöpfung, Überforderung und Zusammenbruch bewegen« (taz 20.12.2007) und in einem »Spagat zwischen Ängsten, dem ewigen ›zu spät‹, den Regeln, dem Engagement und dem normalen Alltag« (Taz 23.01.2008) befinden, bei dem sie versuchen, »ihren Kindern Leitplanken aufzustellen« (Focus 26.06.2006). Bei dieser Wege-Metaphorik handelt es sich um ein sehr alltagsintegriertes Bild: Menschen schreiten ständig auf neuen oder alten Wegen, sind auf einem guten Weg oder kommen vom rechten Weg ab, nehmen Umwege oder stehen sich bei Entscheidungen selbst im Weg. Die Metapher des Weges gehört in Blumenbergs Metaphorologie (1960) daher auch dem Typus der ›absoluten Metaphern‹ an, dem auch theoriekonstitutive Bedeutung zugeschrieben wird und der einem beschriebenen Sachverhalt eine hohe integrierende Wirkkraft und Anschlussfähigkeit verleihe (vgl. S. 11f.). Mollenhauer (1997) zufolge handelt es sich bei dieser Metaphorik zudem um ein in der Pädagogik weitverbreitetes Motiv, das darauf aufmerksam machen soll, dass die erziehenden Subjekte weder vollkommen ohnmächtig noch allmächtig sind: »Sie können zwar dem Weg der Geschichte keine breiten, die Infrastrukturen in Form bringenden Straßen bauen, aber sie können, im Bild gesprochen, kleine Pfade schlagen und sie begehbar machen, auch wenn ungewiss sein sollte, wo sie ankommen« (S. 155). Dies entspricht der narrationsimmanenten Subjektpositionierung von Eltern, die sich aufgrund ihrer natürlichen ›Erziehungskompetenzen‹ zwar weitestgehend autonom bewegen und entscheiden können, denen aber durch gesellschaftliche Einflüsse und auferlegte Schicksale immer auch bestimmte Wege und Grenzen vorgegeben werden (vgl. Kap. III, 2.1.2 & 2.1.3). Besonders schwerwiegende Folgen könne es haben, wenn dabei der vorgezeichnete Pfad der »Tugend« (Focus 04/2007) verlassen wird. So war es im Fall von Kevins Stiefvater vor dem Tod Kevins angeblich »der Glaube, der ihn immer wieder vom Weg der Gewalt abbrachte« (Die Zeit 43/2006b). Letztlich habe er, ebenso wie einige andere Eltern, die ihre Kinder misshandelten oder vernachlässigten, »den Weg zurück« (SZ 13.10.2006b) nicht beschreiten können: »Die Wege, tragbare Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen und aufrechtzuerhalten, sind ihnen verschlossen« (Die Zeit 51/2007b). Aber auch öffentliche Akteure wie Mitarbeiter der Jugendämter oder Politiker können »Schritte wagen« (Die Welt 03.02.2012), gehen dabei häufig einen »Schritt weiter« (taz 12.10.2006) bzw. »zu weit« (taz 12.10.2006), »schreiten ein« (Focus 42/2006b) oder

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aber verzichten »auf weitere Schritte« (Die Zeit 51/2007b) und »rennen dem Geschehen stark hinterher« (Die Welt 29.01.2013). Sie bewegen sich somit stets »auf einem schmalen Grat« (SZ 13.10.2006a; taz 14.10.2006b) bzw. »einer Gratwanderung« (Die Welt 26.06.2009a), wobei den Eltern »Beine gemacht werden« (Die Welt 26.06.2009b): Man »hat in den vergangenen Jahren bereits einige Schritte unternommen« (Die Welt 03.09.2009), »vermehrt den Schritt, ein Kind von seiner Familie zu trennen« (Die Welt 03.02.2012), gewagt. »Zehntausende Male schritten Jugendamtsmitarbeiter, Polizisten und Richter zur Tat« (Die Welt 14.07.2010a), zur »Spitze einer Bewegung« (Der Spiegel 33/2014). Wichtig sei daher nun »ein erster Schritt« (Die Welt 23.04.2008) »in die gleiche Richtung« (Die Welt 23.04.2008) »auf einem gemeinsamen Weg« (Focus 04/2007), heraus aus dem »Unbeweglichen« (Die Welt 25.10.2007; Die Zeit 25/2008), aus einer »Handlung, die zugleich die Unfähigkeit zu handeln in sich trägt« (taz 23.01.2008) und Familien zu ›Opfern‹ der vorherrschenden Verhältnisse mache, innerhalb deren sich »naturgemäß« (Die Welt 23.12.2008) das mehr oder minder vorgegebene Schicksal zeige. Indem Eltern als Scheiternden die »Absicht am Scheitern systematisch entzogen« (Klemm 2014, S. 186) wird, rückt sie dies in die Tradition des antiken Helden, der letztlich ebenfalls weder selbstverantwortlich erfolgreich sein noch selbstverantwortlich scheitern konnte, da er lediglich seine von innen vorgegebene Natur und das von außen auferlegte Schicksal erfüllte (vgl. John 2014, S. 217). Bilder des ›Weges‹ können somit auch in der Tradition der Figur des ›Tragikos‹ als Metapher für das Dasein oder den Lebensweg fungieren, im Sinne von Lebensprüfungen einer Heldenreise oder als symbolische Darstellung des seelischen und moralischen Entwicklungsprozesses einer Person zu sich selbst: »In Märchen und Mythen spiegelt sich das archetypische Motiv der Suchwanderung im Motiv ›des sich auf den Weg Machens‹ des Helden oder der Heldin wieder, das ähnlich wie der Heldenweg als Symbol der Selbstfindung und Wandlung des Helden/Heldin verstanden werden kann« (Dürckheim 2004, S. 21). Die Spannungen zwischen öffentlicher Hand und privater Familie sorgen hierbei zwar für ein gegenseitiges ›Sich-im-Weg-Stehen‹ oder eine entwicklungshemmende Unbeweglichkeit, in der aber dennoch »binäre […] Konzepte nicht mehr aufrechtzuerhalten« (Hornung 1996, S. 233) sind und eine eindeutige Frontstellung zwischen ›Täter‹ und ›Opfer‹ das Wesentliche verstellen würde (vgl. Hauer 1987 S. 28). Eine dichotome Täter-Opfer-Konstellation, wie sie sich in der Ausgangsnarration zeigt (vgl. Kap. III, 1.2), lässt sich innerhalb dieser Narrationslinie daher nicht erkennen, sondern die Opferseite scheint vielmehr auch auf die Eltern ausgedehnt: »Die Eltern sind doch in Wahrheit hilflose Täter« (Der Spiegel 51/2007). Die Positionierung von Eltern als ›Tragikos‹ erlaubt dann auch eine strategische Implementierung von ›Narrativen des Mitgefühls‹, die in einer ausschließlichen Täterpositionierung ausbleiben müsste: »Fragt man ihn, was er für ein Typ war, ›der Bernd‹, dann schaut der Doktor eine Weile stumm auf seinen Schreibtisch. ›Ein Christ. Ein sehr gläubiger Mensch. Einerseits. Ein Mensch mit einem hohen Gewaltpotenzial andererseits‹. Über den Glauben hat er viel gesprochen mit seinem Arzt, über die Gewalt auch. […] Wie übel es sei, dass alle jetzt annähmen, der Bernd habe Kevin umgebracht. Er könne sich das nicht vorstellen. ›Ein Mörder war er nicht.‹ Und wenn Bernd

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

das Kind in den Kühlschrank legte, dann nur, weil er sich von ihm nicht habe trennen wollen […]. Die Eltern gingen immer liebevoll mit ihm um‹, sagt er, und dass ›der Bernd‹ verzweifelt gewesen sei, als seine Freundin starb. Er habe sie geliebt. Er habe seinen Sohn geliebt« (Die Zeit43/2006b). Diese Inszenierung von Mitgefühl kann als eine spezielle Form der strategischen Emotionalisierung (vgl. Kap. III, 1.1.2) verstanden werden, mittels derer sich das Problem familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ zwar nicht gänzlich nihilieren lässt, aber das artikulierte Unbehagen und die Zweifel hinsichtlich der Grausamkeit der Ereignisse und Entwicklungen im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ atmosphärisch verstärkt werden können. Die entsprechenden Inszenierungen basieren dann vor allem auf Darstellungen des Leids betroffener Familien: »Der Tod eines Kindes ist wohl das Schlimmste, was Eltern passieren kann […]. In so einer Situation sollte man sie [die Eltern] nicht auch noch unter Generalverdacht stellen« (SZ 24.02.2010), »denn nicht nur diese Kinder haben viel mitgemacht, auch die in der Regel völlig überforderten Mütter und Väter sind arm dran« (Die Welt 14.07.2010a). Auch eine Mutter, deren Kind aus der Familie herausgenommen wurde, erklärte, man werde ihr »diesen Satz falsch auslegen, man werde sagen, sie belaste die Kinder« (Der Spiegel 29/2010), dabei seien die Kinder »›alles, was sie habe‹. Das hat sie jedem, der es hören wollte, immer gesagt« (taz 20.12.2007). Solche Darstellungen werden häufig begleitet von Bildern der ›Last‹ und Verantwortung im Hinblick auf die »Leidensgeschichten« (SZ 14.12.2015) und »massive[n] soziale[n] Verkrüppelungen« (Die Zeit 51/2007b), die Eltern mitunter »davongetragen« (Die Zeit 51/2007b) haben und die immer auch »voll zulasten unserer schutzwürdigen Kinder« (Die Welt 01.07.2009) gehen. Es bestehe die Gefahr, dass die »Familie unter solchem Gewicht zermahlen wird« (Die Zeit 43/2006a). Insbesondere »ökonomische Unsicherheiten seien gerade für Eltern mit minderjährigen Kindern eine extreme Belastung« (Die Welt 23.12.2008), denn »Verantwortung füreinander tragen, heißt Zeit füreinander zu haben, aber auch gemeinsam die Familie zu ernähren« (Der Spiegel 49/2006).

2.2.2.

Das sakrale Kind als familiales Glücksversprechen

Die Subjektposition des Kindes ist in dieser Narrationslinie analog zur Figur der Eltern durch eine historisch geprägte Familialisierung charakterisiert, innerhalb derer es fest im privaten Raum und der ›natürlichen‹ Bindung an seine Eltern verwurzelt ist. Öffentliche Räume und außerfamiliale Beziehungen sind dieser spezifischen Positionierung deutlich nachgeordnet (vgl. Mierendorff 2010, S. 212f.). Außenstehende können so den Wert des Kindes ebenso wie den Wert der gesamten Familie nicht abschätzen, und ihnen kann auch nicht mit Aspekten der Effizienz und Optimierung begegnet werden. Insbesondere das »mütterliche Fürsorgeverhalten« (Der Spiegel 33/2014) erscheint in seiner Konzeption als ›höchstes Glück‹ wenig zielgerichtet und kann in seinem ›natürlich vorgezeichneten Weg‹ kaum dahingehend konzipiert werden, wie es sein sollte (vgl. Lohmann 2010). Es scheint sich in der Regel vielmehr den jeweiligen Situationen und Bedürfnissen des Kindes anzupassen. Zelizer und Rotman (1985) sprechen diesbezüglich auch von einer ›Sakralisierung‹ der Kinder zu nicht mit Geld aufzuwiegenden

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Geschöpfen (S. 4), die vor allem die intrinsischen Aspekte der Eltern-Kind-Beziehung betont und ein liebevolles »beziehungsorientierte[s]« (FAZ 26.05.2007) Verhältnis zwischen den Generationen darüber hinaus als ›natürliche‹ Schutzfunktion für Eltern und Kind konstruiert. Darin drückt sich auch eine gewisse ›Parentifizierung‹ als Rollenumkehr der Abhängigkeit zwischen Eltern und Kindern aus, die sich weniger auf die ökonomische und soziostrukturelle Funktion des Kindes z.B. als künftige ›Arbeitskraft‹ oder ›Rentenversicherung‹ bezieht, sondern sich deutlich subtiler in einer gewissen emotionalen Abhängigkeit der Eltern vom Kind zu vollziehen scheint (vgl. Dornes 2012, S. 308f.). Als »biographisches Glücksversprechen« (Zinnecker 2000, S. 55) und vor dem Hintergrund instabiler Lebenswelten kann das Kind dann nicht nur der (Re-)Stabilisierung des Familien- und Beziehungssystems dienen, sondern auch einer individuellen und emotionalen Bedürfnisbefriedigung der Eltern: »Nicht das Verwandtschaftssystem, nicht die Partner, sondern die Kinder stellen das Zentrum der Familie oder, weiter gefasst, der familienförmigen Lebensgemeinschaften dar. Mit anderen Worten: Man bindet sich nicht, weil man das Erbe zweier Familien weiterführen, weil man eine legitime Form für den Sex haben oder weil man der gemeinsamen Liebe einen Ausdruck verleihen will. Man will vielmehr in erster Linie die Bindung ans Kind, die von keiner der beiden Seiten gekündigt werden kann« (Bude 2014, S. 36). So habe z.B. auch im Fall ›Kevin‹ »der aus dem Gleichgewicht geratene Vater […] das Kind für seine innere Stabilisierung« (Die Zeit 25/2008) benötigt. Im Übergang von der »Elternbestimmtheit des Kindes zur Kindbezogenheit der Eltern« (Honig & Ostner 2014, S. 365) wird das Kind zu einem »Sinn-Mittelpunkt der privaten Existenz« (Butzmann 2000, S. 17) und zur Versicherung der eigenen Identität. »Das Kind soll seine Eltern ›stabilisieren‹« (taz, 24.10.2007), denn es sei für Familien »oft der einzige Wert des Lebens« (SZ 13.10.2006b). Die Subjektposition des Kindes verstärkt somit die Deutungen von familialer ›Erziehungskompetenz‹ als ›natürliches Glück‹ und Elternschaft als gefühlvolle, innige und nicht substituierbare Bindung ans Kind.

2.2.3.

Die Kinder- und Jugendhilfe als gefährliche und illegitime ›Kinderklaubehörde‹

In der Annahme einer weitestgehend ›erziehungskompetenten‹ Familie, deren Fähigkeiten lediglich durch äußere Faktoren eingeschränkt werden, müssen jegliche Eingriffe in den familialen Lebensraum nicht nur als oft unnötig, sondern mitunter sogar als gefährlich gewertet werden, da sie die ›natürliche Bindung‹ zwischen den Generationen stören bzw. gefährden. Wenn gefordert werde, »Eltern die Kinder wegzunehmen, so ist das blanker, gefährlicher Unsinn. Daraus spricht eine nicht zu überbietende Ratlosigkeit« (Die Zeit 51/2007a). Als eine der markantesten Steine, die Familien ›in den Weg gelegt‹ (Die Zeit 43/2006b) werden und zu familialem Versagen führen können, sind aus dieser Perspektive daher neben sozialen Wandelprozessen und ›schicksalhaften Ereignissen‹ die zunehmende De-Intimisierung familialer Lebensräume durch öffentliche Eingriffe anzusehen:

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

»Es gab die spektakulären Todesfälle mit Opfern wie Kevin und Lea-Sophie, und es gab den Kinderschutzgipfel der Bundesregierung mit dem Effekt, dass die Jugendämter nun bundesweit schneller intervenieren« (Die Welt 13.07.2010). Angebracht seien solche Eingriffe jedoch nur in Einzelfällen bei starkem Versagen, und ein »Sorgerechtsentzug könne lediglich ›das letzte Mittel‹ sein« (Focus 42/2006b). »Bisweilen, so Kritiker, handeln die Ämter allerdings überstürzt« (Die Welt 08.01.2009), und es fühlen sich immer mehr »Eltern, deren Kinder vom Jugendamt in Obhut genommen wurden, ungerecht behandelt« (Die Welt 08.01.2009). »Dazu gehöre, dass die Situation von Kindern in Familien häufig falsch eingeschätzt werde« (Die Welt 18.11.2008). Hierbei wird vor allem auf die Folgen der gestiegenen medialen Aufmerksamkeit für innerfamiliale Kindesmisshandlung und -vernachlässigung seit dem Fall ›Kevin‹ verwiesen. Diese habe zu einer Sensibilisierung der Gesellschaft im Hinblick auf familiale ›Erziehungsinkompetenzen‹ geführt, die zur Folge habe, dass Verdachtsmomente früher geäußert und Jugendämter frühzeitiger bzw. vorschnell aktiv werden: »Dass die öffentliche Debatte dabei eine Rolle spielt, legen die Differenzen zwischen den einzelnen Bundesländern nahe. In Bremen, wo der zweijährige Kevin im Herbst 2006 tot in einem Kühlschrank aufgefunden worden war, hat sich die Zahl der Sorgerechtsentzüge mehr als verdoppelt« (Die Welt 19.07.2008). Es werde meist »zu schnell und ohne notwendige Ermittlung von Alternativen« (SZ 14.12.2015) gehandelt. Die Zunahme erfasster Kindeswohlgefährdungen wäre aus dieser Perspektive somit vor allem in einer »Verschiebung der Hellfeld-Dunkelfeld-Relation« (Bode & Turba 2014, S. 20) zu sehen. So sei zunächst unklar, ob die Zahl der Betroffenen tatsächlich zugenommen hat oder es sich lediglich um einen »Kevin-Effekt« (Die Welt 28.05.2011) handelt. Das heißt, hier wäre zu fragen, ob sich infolge der Skandalisierung angeblich zunehmender Kindesmisshandlung und -vernachlässigung die institutionelle und gesellschaftliche Aufmerksamkeit für entsprechende Indizien einer Gefährdung des Kindeswohls erhöht und dadurch bereits zu einer neuen ›Kultur des Hinsehens‹ geführt habe, wie sie in den Bewältigungsvorschlägen der Ausgangsnarration explizit eingefordert wird (vgl. Kap. III, 1.3.2). Die These eines solchen ›Kevin-Effektes‹ deckt sich auch mit diversen Annahmen des sozialwissenschaftlichen Expertendiskurses (Bode & Turba 2014, S. 19f.; Eggert-Schmid Noerr 2015, S. 199; Fendrich & Pothmann 2009, S. 163; Hildebrandt 2008; Schäfer 2011, S. 169) sowie dem Befund der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik, dass sich die Ausgaben der öffentlichen Jugendhilfe für Hilfen zur Erziehung, Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche sowie Inobhutnahmen in den Jahren 2007 bis 2015 fast verdoppelt haben, während sich vor dem ›Fall Kevin‹ kaum Veränderungen zeigten (vgl. Statistisches Bundesamt 2018g). In dieser Narrationslinie kann die Kinder- und Jugendhilfe somit »selbst zu einer Gefahr für die betreuten Menschen werden« (FAZ 17.11.2012). Damit scheint eine Gefährdung des Kindes letztlich weniger von der Familie als in deutlich größerem Umfang von den in der Ausgangsnarration eingeforderten sicherheitspolitischen Maßnahmen des Kinderschutzes auszugehen (vgl. Kap. III, 1.4). Diese Interpretationen der Ereignisse um Fälle wie ›Kevin‹ negieren damit nicht nur die zentralen Annahmen der Ausgangsnarration, sondern bringen auch eine neue Problemwahrnehmung hervor, die

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als eine »Problematisierung der Problematisierung« (Hoffmann & Raupp 2006, S. 473) bzw. ein »soziales Problem zweiten Grades«13 (vgl. Schetsche 2014, S. 79) verstanden werden kann. Wie sich bereits in der metaphorischen Konzeption des ›Weges‹ andeutet, fungieren öffentliche Akteure des Kinderschutzes im Rahmen dieses Problems zweiten Grades und in Kontrastierung zu den eher passiven Subjektpositionen der Eltern und Kinder dann als aktive grenzüberschreitende »Kinderklaubehörde« (Rauschenbach 2014, S. 173). Sie werden so in die Nähe einer Täterpositionierung gerückt. Mittels Umdeutungs- und Transformationsprozessen erscheinen dann weniger die ›Einzelfälle‹ familialer Kindesmisshandlung und -vernachlässigung von Bedeutung, in denen die familialen ›Erziehungskompetenzen‹ versagen, sondern die daraus resultierenden Aktivitäten und Praktiken der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe: »›Der Staat dokumentiert jeden Tag aufs Neue, dass er mit seinen Aufgaben zum Schutz der Kinder schon heute überfordert ist‹, beobachtet Kostas Petropulos vom Heidelberger Familienbüro. Deshalb ist es anmaßend, dass der Staat eine noch größere Rolle beansprucht« (Die Welt 20.12.2007). Es sei eine »Amtsverfehlung« (FAZ 20.02.2008), den Eltern »ein Kind, dem nichts fehlt, das keine Anzeichen von Verwahrlosung aufweist, wegzunehmen, wegen einer ›Momentaufnahme‹, die jedem Mal passieren kann« (SZ 04.09.2013). Die steigende Anzahl von Inobhutnahmen wird somit nicht wie in der Ausgangsnarration als Indiz zunehmender familialer ›Erziehungsinkompetenzen‹ bewertet, sondern umgedeutet zu einer unterstellten zunehmenden Bedrohung der familialen Lebenswelten durch externe Eingriffe. Als Beleg für eine sich ›ausweitende Katastrophe‹ angeblich überstürzten Handelns der Behörden werden zahlreiche Fälle aufgeführt, »in denen Kinder ihren Eltern zu Unrecht entzogen, über Jahre entfremdet und erst nach einem langwierigen Weg durch Instanzen bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wieder zurückgegeben worden seien« (FAZ 20.02.2008): »Dennis aus Cottbus, Jessica aus Hamburg und Kevin aus Bremen. Jeder dieser Namen steht für das Schicksal eines Kindes, das starb, weil die Eltern es misshandelten und vernachlässigten […] Vergessen wird dabei rasch, dass es auch andere Namen gibt: Etwa Nicole und Corinna aus Osnabrück oder die sieben Kinder der Familie Haase aus Nordwalde bei Münster. Deren Eltern wurden die Söhne und Töchter weggenommen, weil Vater und Mutter angeblich zu dumm oder zu lieblos waren, sie großzuziehen« (taz 28.10.2006b). Auch an dieser Stelle wird in ›Narrativen des Mitgefühls‹ auf das Leid der betroffenen Familien verwiesen: »Ich war fassungslos, dass man mir mein Kind wegnimmt, bevor ich überhaupt als Mutter hätte versagen können« (SZ 14.12.2015). Bisweilen werden solche Vorfälle sogar als rücksichtslose ›Verletzung der Menschenrechte‹ skizziert: »Bis heute ist ungeklärt, ob Angelo sie [die Verletzungen] sich tatsächlich selbst zugefügt hat oder ob er verbrüht wurde. In Kassel deutet nichts darauf hin, dass auf die Klärung dieses Details 13

Unter ›Problemen zweiten Grades‹ werden an dieser Stelle solche Formen von Gegendeutungen verstanden, bei denen die Problematisierung anderer Akteure ihrerseits problematisiert wird (vgl. Schetsche 2014, S. 79). Das heißt hier, dass die Popularisierung von familialen ›Erziehungsinkompetenzen‹ als sich ausweitende Katastrophe aus dieser Perspektive selbst zu einem Problem wird.

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

Energien verwendet werden sollen. ›Wir müssen vor Weihnachten fertig werden‹, drängelt der Richter. ›Ich hatte leider zur Tatzeit keine Kamera dabei‹, erwidert unwirsch der Staatsanwalt, wenn man fragt, ob die Todesumstände ihn nicht umtreiben« (taz 20.12.2007). Und auch »in Regensburg kämpft eine Familie seit zweieinhalb Jahren um das Sorgerecht für ihren Sohn. Ein Gericht hatte der Mutter ohne Gutachten die Erziehungsfähigkeit abgesprochen, weil der Verdacht bestehe, sie verletze das Kind absichtlich. In diesem Sommer machte der Fall einer 18-jährigen Gehörlosen aus Düsseldorf Schlagzeilen: Das Jugendamt gab ihr drei Tage altes Baby ohne Vorwarnung in eine Pflegefamilie. Im Jahr 2004 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem ähnlichen Fall entschieden, dass die Bundesrepublik 53 000 Euro Schmerzensgeld an die Eltern zahlen muss. In dem Urteil heißt es: ›Die Wegnahme der Kinder war ein drastischer Verstoß gegen die Menschenrechte‹« (SZ 13.10.2006a). Zur Absicherung der Subjektpositionierung öffentlicher Akteure als ›unberechtigte Eingreifer‹ wird in der vorliegenden Narrationslinie insgesamt gehäuft auf das Erfahrungswissen ausgewiesener Experten verwiesen. Verfrühte Inobhutnahmen werden dabei als gängige Negativpraxis diskursiv eingeschrieben: »›Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt festgestellt, dass sowohl Familiengerichte als auch Jugendämter Kinder oft zu schnell und ohne notwendige Ermittlung von Alternativen in Obhut nehmen beziehungsweise von den Eltern trennen. Und dass sie sich auch bei der Rückgabe von fremduntergebrachten Kindern an die Eltern zögerlich und damit pflicht- und verfassungswidrig verhalten‹ Lore Peschel-Gutzeit – Familienrechtsanwältin« (SZ 14.12.2015). »›Ich werde zunehmend konfrontiert mit Fällen, bei denen in haarsträubender Weise Familien belastet werden durch völlig unberechtigte Interventionen, etwa in Form einer Fremdplatzierung per Inobhutnahme. Und ich spreche nur von Fällen, bei denen das Jugendamt dies auch – natürlich nicht öffentlich – zugegeben hat. Den Optimismus, dass durch massives Eingreifen per se das Gute passiere, kann ich nicht teilen‹ Thomas Mörsberger – Vorsitzender des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht« (SZ 14.12.2015). Mit Aussagen wie diesen werden zugleich die Zweifel bekräftigt, dass die Herausnahme von Kindern deren Schutz und Wohl dienen. Generell gebe es bislang »keine umfangreichen wissenschaftlichen Untersuchungen, die beantworten könnten, wie es ›den Kindern und Jugendlichen nach Inobhutnahmen in den Kinderheimen, in den Pflegefamilien, in den familiengerichtlichen Verfahren, in den Familienhilfesystemen überhaupt gehe« (Der Spiegel 33/2014). Deshalb sei es »absurd, eine Entrechtung der Eltern als Fortschritt für das Kindeswohl zu verkaufen« (Die Welt 23.04.2008). Denn trotz »vieler Fehlentscheidungen« (Die Welt 12.01.2007) bleiben Eltern aus dieser Perspektive »das Beste« (Die Zeit 51/2007b) für das Kind. Demnach sei es in der Regel besser, »das Kind nicht ins Heim zu geben, sondern die ›Ressourcen der Eltern‹ zu nutzen« (Die Zeit 51/2007b). Die Gefahr solcher externen Eingriffe liege nicht nur in ihrer Unverhältnismäßigkeit und der Gefahr einer Zerstörung der Familie, sondern darin, dass sie das Auftreten von Fällen wie ›Kevin‹ sogar noch begünstigen. So sei es zur Verwahrlosung eines siebenjährigen Mädchens in Bayersried z.B. gerade deshalb gekommen, weil »die Mutter, die ihr Kind angeblich abgöttisch liebe, befürchtete, man könne ihr das Mädchen wegnehmen« (SZ 13.12.2008). Jede Form der unerwünschten Intervention sei somit ein »Eingriff in die Privatsphäre der Eltern, des Kindes und in eine Gesamtlage, die sicher nicht dadurch besser wird, dass der Staat die Eltern von ihrer Elternpflicht

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suspendiert und damit die Ursachen eher festschreibt, die zur ›Inobhutnahme‹, wie es heißt, von Kindern führt« (Die Welt 26.06.2009c). Denn »überfordert sind die meisten Eltern nicht mit ihren Kindern, sondern vom Staat« (FAZ 14.12.2007) – mit schwerwiegenden Folgen für die Familien. »Eine Heimunterbringung sei immer ein schwerwiegendes traumatisierendes Ereignis für Eltern und Kinder« (Die Welt 14.07.2010b), und »unter dem Trauma der Heimunterbringung leiden« auch Eltern (Die Welt 14.07.2010a). Hierdurch entstehe eine Frontstellung »[a]llmächtige[s] Amt gegen ohnmächtige Eltern […]. Zurück bleiben oft zerstörte Familien« (Die Welt 08.01.2009).

2.3.

2.3.1.

›Sichern und Bewahren‹ familialer Schutzräume als zentrale Bewältigungsstrategie Die Verteidigung der ›erziehungskompetenten‹ Familie im Kampf gegen außen

Die ›Nihilierung‹ und Umdeutung der Problematisierung familialer ›Erziehungsinkompetenz‹ kann im Rahmen der vorliegenden Narrationslinie vor allem als Abwehrstrategie gegen äußere Eingriffe in den familialen Nahraum gewertet werden, denen Familien angeblich mehr oder minder passiv ausgeliefert sind. Aus dieser Sicht heraus werden die Ereignisse in Fällen wie ›Kevin‹ bewertet und interpretiert:»Wer einmal in die Mühlen geraten ist, kommt so leicht nicht mehr heraus« (SZ 14.12.2015). Die Konzipierung staatlicher Eingriffsrechte als ›traumatische‹ »Entmachtung der Eltern« (Die Welt 23.04.2008) eignet sich hervorragend, um das »schiefe Bild der Familie gerade zu rücken« (Die Welt 30.01.2007) und Familie damit zum »Tabu, ja Sakrileg […] der Unantastbarkeit der Familie [zu erheben], in die von außen keiner einzudringen habe, am wenigsten der Staat« (SZ 18.10.2006c): »Vor der Schulzeit geht uns die Kinderwelt nichts an; was hinter der Wohnungstür passiert, ist per se Privatsache« (Der Spiegel 49/2006). Die Narrationslinie verläuft somit entlang eines tradierten, holistischen Kompetenzverständnisses aus ›natürlichen‹ Fähigkeiten und Verantwortlichkeiten, denen gegenüber nicht nur formale Bildungsbereiche ein vergleichsweises geringes Gewicht erhalten, sondern auch die klassische funktionale Trennung der Institutionen Familie und Schule aufrechterhalten wird. Narrativ bearbeitet wird entsprechend der vorgenommenen Umdeutungs- und Nihilierungsstrategien nicht das Phänomen familialer ›Erziehungsinkompetenz‹, das keinen Problemcharakter erhält, sondern die Gefährdung der Familie und ihrer Kohäsionskräfte durch illegitime Eingriffe als Problem zweiten Grades (vgl. Kap. III, 2.2.3). Im Rahmen einer angeblich zunehmenden Übergriffigkeit staatlicher und medialer Systeme wird hierbei die Vorstellung transportiert, dass Familien einen angemessenen »Schutz- und Schonraum« (Schelsky 1953, S. 88) gegenüber der restlichen Gesellschaft benötigen. Andernfalls würden die Entwicklungen nicht nur die Gefahr unberechtigter Inobhutnahmen bergen, sondern auch die Möglichkeit, dass Eltern »in Zukunft mit Hinweis auf eine angeblich notwendige Förderung des Kindes gedrängt werden, ihren Nachwuchs schon im Säuglingsalter in fremde Hände zu geben« (Die Welt 23.04.2008). Maßnahmen zum Schutz des Kindes wie z.B. die vieldiskutierte Änderung des Grundgesetzes oder die Einführung eines Bundeskinderschutzgesetzes (vgl. Kap. III, 1.4) werden dementsprechend skeptisch betrachtet, denn damit würde »das erreicht,

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was mit Aufnahme von ›Kinderrechten‹ ins Grundgesetz bezweckt gewesen sei: eine weitreichende staatliche Erziehungskontrolle« (FAZ 20.02.2008). Juristische Normierungen werden von ihren Gegnern daher auch als »Trojanisches Pferd« (Deutscher Bundestag 2017, S. 18) bezeichnet, das unschuldig aussehe, aber ein weiteres Tor für Eingriffsmöglichkeiten in den Privatbereich der Familie öffne: »Tatsächlich geht es den Verfechtern einer Grundgesetzänderung aber vor allem darum, die Elternrechte zu schwächen« (Die Welt 23.04.2008), denn »schon jetzt ist es möglich, bei konkretem Verdacht von Vernachlässigung, Misshandlung oder gar Missbrauch die Eltern zu zwingen, ihre Kinder ärztlich untersuchen zu lassen« (Der Spiegel 49/2006). Die zahlreichen Petitionswellen gegen Kindesentziehung und die unterstellte Willkür der Jugendämter, die seit 2007 beim Europaparlament eingegangen sind, entsprechen den Bewältigungsvorschlägen dieser Narrationslinie (vgl. Jäckel o.J.). Die öffentliche Signalisierung einer Gesprächsbereitschaft und erste zustimmende Rückmeldungen seitens des Europaparlaments können als Erfolg im Sinne dieser Perspektive gewertet werden: »Der Petitionsausschuss des Europaparlaments ist der Auffassung, dass die Bundesrepublik Deutschland die Menschenrechte missachtet hat, indem die Organe des Staates zugelassen haben, dass einige von ihren Kindern getrennt lebende Väter und Mütter keinen Umgang mehr mit ihren Kindern haben. ›Wir haben den Eindruck, dass es sich hier um ein wiederkehrendes und strukturelles Problem handelt, dem niemand wirklich zu Leibe rücken möchte. Man steckt lieber den Kopf in den Sand. Das finden wir unmöglich und schockierend […]. Dem Ausschuss lägen 120 Petitionen vor, in denen das Verhalten deutscher Jugendämter angeprangert werde. Daher wird an diesem Donnerstag eine Delegation des EU-Parlaments Vertretern aus Familien- und Justizministerium mehrere Fälle präsentieren, in denen ein vom Staat geduldetes Fehlverhalten deutscher Jugendämter nach Meinung des Petitionsausschusses wahrscheinlich ist‹« (FAZ 24.11.2011). Forderungen nach einer Absicherung dieses familialen Schutz- und Schonraumes und dem Ausbau familialer ›Erziehungskompetenzen‹ im Sinne von Elternrechten stellen somit die zentrale Bewältigungsstrategie des Problems zweiten Grades dar, die sich mitunter auch in einer Kampf- und Gewaltmetaphorik präsentiert: »Um diese Werte müssen wir kämpfen« (Focus 04/2007), denn »wenn man hier nicht aufs heftigste widerspricht, erledigt sich die Sache faktisch von selbst« (SZ 04.09.2013). Es geht dabei vor allem um die Rüstung der Familien gegenüber angeblichen »Übergriffen« (Die Welt 26.10.2010) des »Nanny-Staates« (Die Welt 26.06.2009c). Hinter ihr verbirgt sich eine Reihe tyrannischer Metaphern, die öffentliche Akteure als gewalttätige Eindringlinge und Gegner kennzeichnen. Solche ›Übergriffe‹ sind den Familien wie ein »Tsunami im Indischen Ozean« (Die Welt 04.11.2006b) oder in Form von »Schnellschüssen« (Die Welt 12.10.2006a) widerfahren, »während die vermummten Beamten K.s Wohnungstür mit der Ramme zertrümmerten« (Die Zeit 25/2008), oder es geht um »Militärwaisenhäuser, die elternlose Kinder zum Kanonenfutter […] erzogen« (taz 21.08.2009). Auch im Fall ›Kevin‹ wurde die Wohnung ›gestürmt‹ (Die Zeit 51/2007b). Es »drangen Beamte gewaltsam in die Wohnung ein« (Die Welt 25.10.2007) und »die Verhandlungen mit dem Jugendamt […] drohten auf eine Kampfebene abzurutschen« (SZ 21.10.2006b). Eltern würden hierbei zunehmend »an den Pranger« (Die Welt 26.06.2009b) gestellt und müssten ihre Rechte im Spannungsverhältnis zwischen Öffentlichkeit und Privatheit verteidigen. Hierdurch mutierten sie zu »Überle-

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benskämpfer[n]« (Die Zeit 26/2013) und hilflosen Abwehrkämpfern bzw. »unbewaffnete[n] Blauhelmtruppen« (Focus 26.06.2006) in einer Welt, in der »Leben immer öfter als ein Kampf erscheint« (Die Zeit 43/2006a). Dies zeige sich letztlich auch im »gewaltigen Zusammenbruch von Sozial- und Familienstrukturen« (Die Welt 19.11.2008) und im »Kampf gegen die Zeit« (taz, 23.01.2008). Es stellt sich somit aus dieser Perspektive die Frage: »Warum nehmen Menschen wie Sozialarbeiter diesen Kampf auf?« (taz 23.01.2008), was mitunter durch das Aufzeigen, »wie mörderisch politische Ideologien sein können« (Die Welt 12.10.2006b), beantwortet wird.

2.3.2.

Die (wohlfahrtsstaatliche) Absicherung des familialen Schutzraumes

Die Figur des ›sakralen‹ Kindes als heiliges und schützenswertes Gut (vgl. Kap. III, 2.2.2) verhindert jedoch selbst in dieser Narrationslinie die vollständige Rücknahme öffentlicher Leistungen bzw. den völligen Rückzug öffentlicher Instanzen. Letztere werden in den eingeforderten Bewältigungsmaßnahmen nicht gänzlich aus ihrer Verantwortung entlassen. So habe der Staat durchaus »zur Schaffung positiver Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien beizutragen« (taz 29.07.2009), die »alle um Alltag, Normalität und vielleicht ein kleines Stückchen Glück ringen« (SZ 14.04.2008b), wobei »der Staat nicht stören, allenfalls finanziell fördern darf« (Der Spiegel 49/2006): »Man brauche keinen ›Beistand an Wiege und Wickeltisch‹« (taz 04.11.2006) oder einen »Staat, der schon im Verdachtsfall in die Wohnung stürmt« (Die Zeit 51/2007b), denn »wie die einzelnen Familien ihr Leben organisieren […,] ist nicht Sache des Staates« (Der Spiegel 49/2006). Aber »Kinder brauchen Stabilität und gegenseitige Verantwortung. Wir müssen die Familie unterstützen, wenn wir die Kinder unterstützen wollen« (Die Welt 19.11.2008), insbesondere über Transferleistungen (vgl. Focus 04/2007), denn »›je unsicherer die wirtschaftliche Perspektive ist, desto schwerer ist es für Familien‹« (Die Welt 23.12.2008). Die »Benachteiligung der Unterschichten hebelt Grundrechte aus und verletzt die UNKinderrechtskonvention« (taz 29.07.2009). Es wäre daher eher als diskriminierend zu erachten, »Sanktionen gegen Menschen zu verhängen, die es ohnehin schlecht haben« (Die Zeit 51/2007b). Diese Forderungen nach familialer Autonomie bei gleichzeitiger Sicherstellung familienfreundlicher Rahmenbedingungen entsprechen im Wesentlichen der Annahme, dass es gerade die Unverfügbarkeit über die Individuen und deren Handlungen sei, die das Empfinden von Glück in bestimmten Prozessen wie z.B. der Erziehung ermögliche (vgl. Rosa 2018). Jeder Versuch der Kontrollierbarkeit und Planbarkeit müsse dementsprechend Erziehung und Familie ›entzaubern‹. Hier wird die historische Vorstellung eines »minimalen Staates« (Nozick 1974) im Sinne des Subsidiaritätsprinzips deutlich, dem die Gewährleistung eines eindeutigen »Vorrangs der elterlichen Erziehungsbefugnisse« (Sachße 1994, S. 192) obliege und für den gelte, »dass sozialarbeiterisches und pädagogisches Handeln nur dort eingreifen darf, wo die Funktionsfähigkeit der Familie gefährdet, das Kind gleichsam schon in den Brunnen gefallen ist. Ob die einmal diagnostizierte ›Verwahrlosung‹ eines Kindes durch in der Familie praktizierte autoritäre, antiautoritäre oder gar keine Erziehung entstanden ist, geht die Jugend- und Familienfürsorge prinzipiell nichts an; denn diese hat den welt-

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

anschaulich besetzten Innenraum familiärer Erziehung zu respektieren und kann erst tätig werden, wo die Krise manifest ist« (Flickinger 1991, S. 304). Solche Narrative sind deutlich geprägt von einer ›christlich-abendländischen Kultur‹ und entsprechen damit im Wesentlichen dem Kern der deutschen Familienpolitik (vgl. Link 2002). Dies betrifft nicht nur das normative Werteverständnis, sondern auch das historisch verstärkte Setzen auf Geldleistungen (z.B. Kindergeld, Elterngeld, Betreuungsgeld und Kinderzuschläge), insbesondere über Steuer- und Sozialversicherungssysteme (z.B. Familienlastenausgleich), wobei ehebezogene Leistungen (z.B. Ehegattensplitting) bis heute den kostenintensivsten Punkt darstellen (vgl. Bujard 2014).14 Der Bedeutungsverlust der Ehe infolge der Familienrechtsreform (vgl. Kap. II, 2.2.1) wird hierbei kaum beachtet (vgl. auch Marthaler 2009, S. 198). Jegliche Form finanzieller Einsparungen im Bereich familienpolitischer Maßnahmen erwecke vor dem Hintergrund dieser Narrationslinie vielmehr den Eindruck, »die toten Kinder Kevin und Lea-Sophie würden für den Wahlkampf instrumentalisiert, um ordnungspolitische Vorstellungen durchzusetzen« (taz 29.07.2009), die nahezu ausschließlich auf ökonomischen Gründen basierten: Sie zielten auf die Sicherstellung der »Existenz des Heimes, das nur Geld bekommt für die Kinder, die es tatsächlich aufnimmt und nicht für das Personal, das es auch vorhält, wenn es nicht ausgelastet ist« (SZ 21.10.2006b). »Viele Fälle schlimmster Vernachlässigung hat es zuletzt auch deshalb gegeben, weil die Kommunen an der falschen Stelle gespart haben« (FAZ 14.05.2007), d.h., »es ging weniger darum, was man macht, als darum, was es kostet« (SZ 21.10.2006b). Solche Einsparungen und finanziellen »Sanktionen, etwa die Kürzung des Kindergelds, schaden dann letztlich den Kindern« (taz 28.10.2006a). Vor allem finanzielle Sanktionen gegenüber Familien werden als fragwürdig eingestuft, denn »Untersuchungen haben gezeigt: Sogar in der tiefsten Krise, wenn der Job in Gefahr ist und Armut droht – an ihren Kindern sparen Eltern zuletzt« (SZ 13.08.2009). Dies unterscheide die familiale Erziehung und Versorgung in einem weiteren wesentlichen Punkt von dem »Sparzwang« (SZ 21.10.2006b) und den Fehlkalkulationen der öffentlichen Hand.

2.3.3.

Die (Re-)Moralisierung der Gesellschaft

In den Forderungen nach einer Verteidigung und Absicherungen des familialen Schutzund Schonraumes wird deutlich, »dass die Unterstützung für Familien kein reines Gerechtigkeitsproblem, sondern einen existenziellen Teil der Daseinsvorsorge einer Gesellschaft darstellt« (Bertram & Deuflhard 2014, S. 333), dem nicht ausschließlich mit einer finanziellen Unterstützung der Familien zu begegnen sei: »Auch wenn wohlfahrtsstaatliche Transferleistungen eine wichtige Rolle spielen, sei manches nicht mit noch mehr Geld und Abfindungen, sondern mit einem Bewusstseinswandel in unse-

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Die Gesamtheit der familienpolitischen Geldleistungen ist in ihrer historisch gewachsenen Komplexität nur schwer zu überblicken, die einzelnen Leistungen lassen sich nicht ohne Weiteres voneinander abgrenzen, da viele von ihnen miteinander verknüpft sind oder nur bestimmten Teilgruppen gewährt werden. Zur weiterführenden Lektüre vgl. z.B. Bertram und Bujard (2012) sowie Bujard (2011).

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Familie unter Verdacht

rer Gesellschaft« (FAZ 25.10.2006a) zu lösen. »Es geht nicht nur um Geld. Es geht auch um Haltungen und Werte« (Die Zeit 43/2006b) und »mehr Aufmerksamkeit« (SZ 13.10.2006c). »Die Sicherungssysteme müssen da greifen und dieses Versprechen muss unser Sozialstaat dauerhaft einhalten, wo der Einzelne in seinen Möglichkeiten überfordert ist« (Focus 04/2007). Es gehe auch darum, dass (re-)stabilisiert wird, »was diese Gemeinschaft im Inneren zusammenhält: der Respekt für das Individuum, der Schutz der Menschenwürde« (Die Welt 14.12.2007b), denn »was ist das für eine Gesellschaft, in der solche Untaten möglich sind?« (taz 14.10.2006a) Hierunter fallen vor allem gemeinsame »Überlegungen, welche einem guten, einem gerechten, einem solidarischen Gemeinwesen gelten« (Winkler 2003, S. 294): »Jeder kann mehr beitragen, als er für möglich hält. Und dann hat er auch einen Anspruch, dass ihm die Gemeinschaft zur Seite springt, wenn er sich nicht selbst helfen kann […], dass Kinder, damit sie nicht isoliert und ohne Geborgenheit aufwachsen, eine Gemeinschaft brauchen« (Focus 04/2007). Wie in der Ausgangsnarration wird somit auch hier an die gesamte Gesellschaft appelliert, denn »Kinderschutz ist nicht allein durch staatliche Maßnahmen zu regeln. Unsere Gesellschaft muss kinderfreundlicher werden« (Die Welt 10.05.2007), damit »Kinder und Eltern in ihrer Beziehung geschützt und gestärkt werden« (FAZ 16.10.2006) können. Um den »Stellenwert und die Situation von Familien zu verbessern, sei vor allem ein Umdenken in der Gesellschaft notwendig« (Die Welt 16.10.2006), denn Kinder dürfen nicht »wegen nächtlicher Anfälle für die Nachbarn zur Belastung« (Focus 50/2007) werden. Es sei daher nötig »›mehr Platz für Kinder in den Köpfen und den Herzen der Menschen zu schaffen‹ […] ein Herz für Kinder« (taz 18.12.2006a). Einfühlungsvermögen und Solidarität erhalten an dieser Stelle eine hohe präventive Bedeutung im Hinblick auf Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, die sich jedoch nur unter Mitwirkung der gesamten Bevölkerung und innerhalb gewisser privater Grenzen realisieren lasse. Als Grundlage einer gesellschaftlichen (Re-)Moralisierung und Vergemeinschaftung wird daher vor allem die Existenz normativer Ordnungen und etablierter Wertesysteme aufgeführt, allen voran die rechtlich gesicherte »elterliche Sorge« (z.B. Der Spiegel 49/2006; Focus 44/2006) als das »natürliche Recht der Eltern« (z.B. Der Spiegel 33/2014; FAZ 14.12.2007). Es bilde »(noch) die stärkste verfassungsrechtliche Barriere gegen eine Verstaatlichung der vorschulischen Erziehung« (FAZ 14.12.2007). Das Grundgesetz regelt seit 1949 einen entsprechenden Schutz von Ehe und Familie und verankert die Pflege und Erziehung von Kindern als »das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht« (Art. 6 Abs. 2 GG), wobei insbesondere die Mutter »Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft« (Art. 6 Abs. 4 GG) habe. Somit sei es unter Berufung auf Artikel 6 des Grundgesetzes nicht nur die öffentliche Aufgabe, familiengerechte Rahmenbedingungen sicherzustellen, sondern auch, die Einhaltung normativer Regeln zu kontrollieren: »Die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte des Kindes und trägt Sorge für kindgerechte Lebensbedingungen« (Die Welt 14.12.2007a). Staatliche Eingriffe seien hingegen als »erster Schritt einer Verstaatlichung der Kinder« (FAZ 14.12.2007) zu werten und somit »als drastischer Verstoß gegen die Menschenrechte« (SZ 13.10.2006a) zurückzuweisen. Abgesichert wird die Normierung einer familienfreundlichen Gemeinschaft aber nicht nur über juristische Normen, sondern auch über tradierte philosophische Auffassungen einer auf angeborenen gesetzlichen sowie moralischen Rechten und Pflich-

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

ten basierenden Familie (vgl. Kant 1974 [1797], S. 280). Der Begriff ›Moral‹ scheint sich in diesem Kontext jedoch weniger auf das individuelle sittliche Empfinden eines Einzelnen zu beziehen als vielmehr auf eine Ordnungsstruktur sozialer Sinngebung, wie sie nur die Familie bereitzustellen vermag. Demnach »wäre es verfehlt, Moral auf ihre kognitive Qualität zu reduzieren und ihr einen theorieähnlichen Status zuzuweisen. Moral ist im Wesentlichen gelebte Moral, die in den Handlungen und Entscheidungen der Menschen, eben in ihren kommunikativen Aspekten existiert« (Bergmann & Luckmann 1999, S. 18). Als basaler Bestandteil des Alltagslebens ist sie daher auch in die familiale Erziehung eingeschrieben. Der häufig verwendete Terminus ›Unrecht‹ (z.B. Die Welt 04.11.2006b; Die Zeit 51/2007a) muss sich daher auch nicht zwingend auf konkrete juristische Leitsätze beziehen, sondern kann auch allgemeine und unspezifische Grundwerte, humanitäre Ideen und Gerechtigkeitsgedanken sowie »moralische Verpflichtungen« (FAZ 14.10.2006) betreffen. Zur Relevanzsetzung eines familiengerechten gesellschaftlichen Wertesystems qualifizieren sich insbesondere Wissensbestände, die bereits weitestgehend etabliert und unhinterfragt sind und mittels Sprachbildern eine wohlige Atmosphäre erschaffen können. So werden an einigen Stellen z.B. vertraute familiale Szenen so lange metaphorisiert, bis sie sich im Bild »eine[r] Familie wie aus dem Bilderbuch« (Die Welt 23.12.2008) auflösen. Collins (2013) spricht hierbei von »rhythmic entrainment«, das auf dem Einstimmen einer gemeinsamen Stimmung beruhe, die das Zugehörigkeitsgefühl des Einzelnen zu bestimmten Gruppen sowie die Zustimmung zu den zugrundeliegenden Werten bestärke (S. 136). Vor allem die Adventsund Weihnachtszeit mit den ihr eingebauten Riten und der Besinnung auf christliche Werte, Traditionen und moralische Kodes scheint von Vertretern dieser Narrationslinie genutzt zu werden, um naturalistische und normative (Sprach-)Bilder und Wertverständnisse in den Diskurs um Fälle wie ›Kevin‹ einzuschreiben. So zeigt Die Welt am 23.12.2008 als Gegengewicht zu Fällen von Kindesmisshandlung und -tötung z.B. eine »intakte Familie in fröhlicher Weihnachtsstimmung«, und Der Spiegel (49/2006) thematisiert am 04.12.2006 das »Loblied auf Familie und Mutter« als »christdemokratisches Glaubensbekenntnis«. In der Annahme, »gemeinsamer Glaube und praktiziertes Christentum reichen weiter als parteipolitische Auseinandersetzung« (Focus 04/2007), stellen dann nicht nur humanitäre, sondern mitunter auch christliche Werte und Positionen an vielen Stellen einen wichtigen Referenzpunkt dar: »Ich hätte mir ein klareres Bekenntnis zu den christlichen Wurzeln gewünscht. Niemand bezweifelt, dass sie unser Leben, unsere Gesellschaft maßgeblich prägen. In unserem Grundgesetz heißt es sehr schön: ›In Verantwortung vor Gott und den Menschen‹, also ein klares Bekenntnis, dass all unser politisches Tun von Voraussetzungen abhängt, die wir selbst gar nicht in der Hand haben. Ich frage mich: Kann man das Prägende des Christentums für die alltägliche Politik aufrechterhalten, wenn Politik sich nicht dazu bekennt?« (Focus 04/2007) Die Ausarbeitung möglicher Bewältigungsmaßnahmen ist aus dieser Narrationslinie insgesamt stark an die Existenz tradierter naturalistisch-moralischer und christlichwertkonservativer Grundhaltungen gekoppelt und stiftet nur aus diesen heraus Sinn. So vollziehe sich zwar ein gesellschaftlicher »Wertewandel mit dem klaren Bewusstsein, dass es dabei auch Verluste gibt. Aber sie müssen nicht immer eintreten« (Focus 04/2007), wenn fundamentale christliche Werte stärker im Alltagsleben berücksichtigt werden. Die Be-

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Familie unter Verdacht

zugnahme auf christlich-religiöse Normen und Handlungspraktiken stellt nach Habermas (2005) generell ein beliebtes Korrektiv gegenüber einer vermeintlich »entgleisenden Modernisierung« (S. 11) dar.

2.4.

Die strategische Aktivierung des kulturellen Gedächtnisses

Bei der Legitimierung der narrativen Wissensbestände spielen vor allem tradierte Wissensbestände und Erinnerungskulturen eine große Rolle. Während sich vereinzelte Anknüpfungspunkte an historische Ereignisse und etablierte Muster bereits in der Ausgangsnarration zeigten (vgl. z.B. Kap. III, 1.2.2), scheint in der vorliegenden Narrationslinie noch deutlich häufiger und expliziter auf solche Bezüge verwiesen zu werden. So wird zur Verdeutlichung negativer Auswirkungen staatlicher Eingriffe in die Familien z.B. an einigen Stellen auf Vorfälle in der Ära des NS-Regimes rekurriert. Denn während der nationalsozialistischen Herrschaft hatte die staatliche Kinder- und Jugendhilfe als Teil der Kontroll- und Eingriffsstrukturen weitestgehend die Erziehungsgewalt über die Kinder, die im Sinne der Staatsdiktatur genutzt wurde. Nach Kura (2012) können die Kinderheime jener Zeit retrospektiv eher als ›traumatisierende Verwahranstalten‹ denn als Betreuungseinrichtungen gesehen werden. Diese Missstände und die systematische staatliche Überwachung jener Zeit werden in der vorliegenden Narrationslinie zu gegenwärtigen Veränderungen im Kontext von Familie, Elternschaft und Erziehung in Bezug gesetzt, um so auf die Gefahren einer staatlichen Übergriffigkeit zu verweisen. Die Debatten um familiale Erziehung im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ seien aber z.B. auch »nicht zu verstehen, ohne die Geschichte der deutschen Teilung« (FAZ 17.11.2012). Verweise auf »Eingriffe in die familiäre Autonomie sowohl im Nationalsozialismus als auch in der SEDDiktatur« (FAZ 26.05.2007) sollen verdeutlichen, dass der Schutz des Kindes sowohl in der DDR als auch in der NS-Zeit für die Umgestaltung der Gesellschaft instrumentalisiert wurde: »Sowohl die NS-Diktatur als auch das DDR-Regime griffen mit Zwangsadoptionen und Kontrollbesuchen immer wieder in die Rechte von Familien und Eltern ein« (taz 28.10.2006b). »Im Nationalsozialismus und in der DDR wurden viele Kinder den Eltern weggenommen« (Der Spiegel 49/2006). »Im ›Dritten Reich‹ und auch in der DDR wurden Kinder aus ideologischen Gründen zu Tausenden ihrer Familie entrissen und Pflegeeltern oder Erziehungseinrichtungen übergeben« (Der Spiegel 33/2014). »In zwei Diktaturen wurden die Rechte von Familien missachtet« (FAZ 14.05.2007). »Nach den Erfahrungen des Nazismus und des Kommunismus kommt leicht die Assoziation zu Blockwart und Denunziation auf. Nach zwei Diktaturen soll die Familie ein geschützter Raum bleiben, in den höchstens unabhängige Gerichte eingreifen« (taz 26.10.2006). Die Rede ist auch von Kindesmisshandlung als »Relikt der DDR-Mentalität« (FAZ 24.02.2008) oder als »DDR-Erbe« (taz 25.02.2008) und von der Annahme, dass die »Taten einer Mutter, die neun ihrer Babys gleich nach deren Geburt getötet hatte, als Spätfolge der DDR-Kultur« (taz 14.10.2006a) gedeutet werden könnten. Die Geschichte soll lehren, dass bestimmte Handlungen bestimmte Folgen haben, und ein »pauschales Misstrauen« (taz 28.10.2006b) gegenüber staatlichen Maßnahmen aufbauen, denn »zu Recht ist nach den schlimmen Erfahrungen der NS-Zeit das Erziehungsrecht der Eltern im Grundgesetz

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

ausdrücklich als Abwehrrecht gegen den Staat formuliert« (Der Spiegel 49/2006). An dieser Stelle erscheint auch die Platzierung der Artikel interessant. So ist z.B. ein Artikel, der über angeblich unberechtigte Inobhutnahmen berichtet, unterhalb eines Beitrages mit dem Titel »Warum es für die Zukunft Europas so wichtig ist, dass die NS-Verbrechen niemals relativiert werden« (SZ 13.10.2006d) platziert. Es ist denkbar, dass dieses Priming (vgl. Kap. III, 1.2.1) Eindrücke unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Rezipienten beeinflusst und die Assoziationen mit der NS-Zeit so nochmals verstärkt werden können. Im Nationalsozialismus wurde zudem analog zur Modellpraxis dieser Narrationslinie die ›beständige Familie‹ in Kontrastierung zu den realen Lebensbedingungen besonders deutlich hervorgehoben. Obwohl vor allem die Kriegs- und Nachkriegszeit von einer enormen Pluralisierung der Lebensformen und -bedingungen geprägt war, die kaum diesem Leitbild entsprachen, wurde die Familie im Nationalsozialismus »aus seelischen, sittlichen und volksbiologischen Gründen bewahrt« (Brockhaus 2006). Vor allem die Mutter galt dabei als »Hüterin und Bewahrerin der deutschen Volkskraft« (Harpe 1940, S. 2). Trotz oder vielleicht gerade aufgrund der Divergenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wurde der idealisierte familiale Schonraum, der auch die vorliegenden Narrationen entscheidend prägt, bis weit in die Nachkriegszeit weitergeführt: »Das Bedürfnis nach Emotionalität, Ordnung und Zuflucht in der und durch die Familie wurde aufgrund der belastenden Kriegsjahre für viele Menschen elementar an den Begriff von Familie gebunden« (Schmid 2010, S. 88). Dass tatsächlich nicht die vollständige Familie, sondern die alleinerziehende Mutter, die sich kaum der Erziehung widmen konnte, in der Nachkriegszeit die Lebensrealität abbildete, entsprach »weder strukturell noch emotional dem bürgerlichen Leitbild« (Schmid 2010, S. 88; vgl. auch Kuller 2004, S. 39f.). Dementsprechend galten die hohe Anzahl an Kriegswitwen und die steigende Erwerbstätigkeit von Müttern als problematisch, insbesondere im Hinblick auf die ›Erziehungskompetenzen‹ der Familien, und es wurden »Schäden für die Kinder wegen mangelnder Erziehung und fehlender Kontrolle befürchtet« (Matthes 2009, S. 121; vgl. auch Gläss 1956; Mierendorff 2014). Vor allem mit dem Vorwurf, dass sich Eltern ihrer Erziehungsverantwortung entziehen, wenn sie ihre Kinder in Kindergärten bzw. »Verwahranstalten« (Kuller 2004, S. 288) geben, wurden in jener Zeit Defizite hinsichtlich familialer ›Erziehungskompetenzen‹ artikuliert. Der Nationalsozialismus ist folglich als wichtiger Schauplatz dieser Narrationslinie im Konflikt zwischen den ›Kompetenzen‹ der Eltern und des Staates anzusehen. Dabei wurde der Konflikt z.B. bei Heimunterbringungen von Kindern letztlich jedoch zumeist gegen den Willen der Eltern und zugunsten staatlich beauftragter Akteure aufgelöst: »Wenn die Betroffenen und ihre Erziehungsberechtigten auf keine Weise umzustimmen waren, und wenn nach Ansicht des Experten, auf dessen Meinung es – zumindest in der Wahrnehmung vieler Ärzte und Krüppelfürsorger – schließlich ankam, die Aufnahme in ein Fürsorgeerziehungs- oder ein ›Krüppelerziehungsheim‹ unabdingbar erschien, sollten nach Ansicht einiger Praktiker auch alle rechtlichen Möglichkeiten (z.B. der Anzeige einer Kindeswohlgefährdung) ausgenutzt werden« (Werner 2017, S. 226). Als Begründung für solche Entscheidungen sowie die generelle Etablierung familienunterstützender Maßnahmen wie z.B. ›Mütterschulen‹ nannte z.B. Barth (1967), dass

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die Familien professionelle Unterstützung beim Vollzug des Wertewandels bräuchten, da sie »kaum noch auf vorgezeichnete Umrisse und durch Generationen hindurch erprobte Verhaltensmuster oder auf allgemein als verbindlich anerkannte Normen zurückgreifen können« (zit.n. Kuller 2004, S. 223). Diese Annahme entspricht der narrationsimmanenten Befürchtung einer zunehmenden Verstaatlichung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ aufgrund eines gegenwärtig ebenfalls von Krisen gekennzeichneten intimen familialen Nahraums. Eine weitere zentrale historische Anknüpfungsstelle zur erfolgreichen Etablierung einer Staats- und Institutionenkritik im Kontext des Falls ›Kevin‹ bietet die Hospitalismusdiskussion der 1950/60er Jahre (vgl. Grubenmann 2013). Sie zeichnete ein »Bild vom Kinderheim, das sich in Deutschland hartnäckig hält: Heime gelten als Verwahranstalten, Heime beherbergen Massenschlafsäle und riechen nach Linoleum, Heime können keine Wärme bieten, kein Zuhause sein« (SZ 16.10.2006). Verstärkt werden diese Vorstellungen in der vorliegenden Narrationslinie durch Fotos und Verweise auf die Figur des »armen Waisenkindes«, wie sie bereits in der Populärliteratur des 19. Jahrhunderts gehäuft verbreitet wurde (»Waisenhaus-Elend: Der Film ›Oliver Twist‹«15 , SZ 16.10.2006), oder durch die Darstellung traurig blickender Heimkinder (»Eines der abgebildeten Kinder, ein blondes Mädchen, […] ist das einzige Kind, das lächelt«, taz 21.08.2009). Diese Inszenierungen finden auch in der Aufdeckung und massenmedialen Skandalisierung von Missbrauchsfällen in pädagogischen Einrichtungen wie Heimen und Schulen der 2010er Jahre (vgl. z.B. FAZ 14.03.2010; taz 28.03.2010; taz 15.06.2013) wieder Anwendung und können hier das Misstrauen in staatliche Kinderschutzaktivitäten im Allgemeinen verstärken (vgl. auch Bode & Turba 2014, S. 27; Kersten 2012, S. 356f.; Wolff 2015). Das idyllisch inszenierte Familienszenario kann so von den bedrohlich anmutenden Institutionen abgegrenzt werden und die Gefährdung durch außerfamiliale Akteure und Einrichtungen wird so wieder thematisierbar: »Institutionen […] können selbst zu einer Gefahr für die betreuten Menschen werden. Dieses Risiko ist in den vergangenen Jahren mehrfach sichtbar geworden, vor allem nach der Aufdeckung sexueller Gewalt gegenüber Kindern und Schutzbefohlenen in sogenannten Eliteinternaten, aber auch in der Altenpflege. ›Institutional neglect‹, die Vernachlässigung in der Institution, ist mitunter nicht weniger gefährlich als die Vernachlässigung im Elternhaus« (FAZ 17.11.2012). »In einer Untersuchung von 322 Jugendlichen aus 20 Heimen und 12 Internaten fanden wir eine Lebenszeitprävalenz für Formen von sexueller Gewalterfahrung (sexuelle Belästigung, Exhibitionismus, Penetration et cetera) von 37 Prozent für Jungen und 82 Prozent für Mädchen. Mehr als fünf Prozent aller Jugendlichen wurden zum ersten Mal während der Unterbringung in der aktuellen Einrichtung, die ihren Schutz gewährleisten sollte, Opfer eines Übergriffs mit Penetration« (FAZ 10.07.2018). Es kommt somit in einem anderen diskursiven Rahmen zu einem Wiederaufgreifen der Debatten um familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ und Fälle wie ›Kevin‹. Dieser ist laut Schetsche (2014) nicht ungewöhnlich für Problemkarrieren, denn »hat das Thema das Problem nicht gelöst, muss es als neues Thema wiedergeboren werden« (S. 15). In 15

Der Film beruht auf dem gleichnamigen, 1837-1839 entstandenen Gesellschaftsroman von Charles Dickens und erzählt die Geschichte eines Waisenkindes.

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

diesem Zusammenhang sind z.B. auch die Diskussionen im Skandal um die mutmaßlichen sexuellen Übergriffe auf Kinder an einer Mainzer Kindertagesstätte (vgl. z.B. Die Zeit 49/2015; taz 13.06.2015) sowie die gegenwärtigen Qualitätsdebatten in Kindertageseinrichtungen, insbesondere im Rahmen des neuen ›Gute-Kita-Gesetzes‹16 , zu sehen, bei dem in jüngster Vergangenheit erneut vor allem professionelle Akteure ins Visier der Vorwürfe von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung geraten sind (vgl. z.B. FAZ 19.09.2018; SZ 28.08.2018). Eine weitere auffällige Diskursverschränkung zeigt sich auch in Bezug auf die aktuellen Debatten um das geplante Pflegekindgesetz: »Leider ist es gängige Praxis, Kinder nach einer Inobhutnahme für mehrere Tage oder Wochen von ihren Eltern zu isolieren. Es heißt dann, sie sollen sich erst mal auf ihr neues Leben einstellen. In Wirklichkeit hilft diese Praxis nur den Mitarbeitern der Jugendhilfe, indem sie es Pflegefamilien und Heimen leichter macht, da sie sich zunächst einmal nicht mit den leiblichen Eltern auseinandersetzen müssen. Oft fürchtet man, Kontakte zu den Eltern machten die Kinder rebellisch oder traurig und verhinderten die Akzeptanz der Fremdunterbringung. Diese Praxis ist ein Unding! Die Kinder sollen sich mit den Gründen der Fremdunterbringung auseinandersetzen. Sie sollen wissen, dass es ihre Eltern noch gibt, dass die Eltern sich für die Kinder interessieren, auch, dass sie darum kämpfen, die Kinder wieder zu sich zu holen. Pflegeeltern und Betreuer müssen das aushalten« (SZ 14.12.2015). Neben Verweisen auf reale Ereignisse zeigt sich die Institutionenkritik in der vorliegenden Narrationslinie aber z.B. auch in kritischen Hinweisen zu einer etablierten Jugendliteratur, die aus »dem Internat einen Hort der Freude macht: Enid Blytons Reihe ›Hanni und Nanni‹ als Propaganda für Mütter und Väter: Wer das Beste für seinen Nachwuchs will, gibt ihn am besten ab« (Der Spiegel 13/2010). All diesen Referenzen gemein ist, dass sie das kulturelle Gedächtnis aktivieren, das als generalisierte Erinnerungsform kollektiv geteilter Symbole und Deutungen fungiert, die über die gemeinsamen kommunikativen Erinnerungen einer Alterskohorte hinausgehen: »Dieses Gedächtnis wird von Generation zu Generation weitergegeben und gewinnt auf diese Weise mehr und mehr Bedeutung für jeden, der den Appell der Geschichte zum Mitgefühl hören will. Berücksichtigt man die unzähligen Gewalttaten in der Geschichte der Menschheit, so ist jedes menschliche Wesen mit einer minimalen Fähigkeit Mitgefühl zu empfinden dazu in der Lage, den Appell der Geschichte an das Mitgefühl zu hören – es darf nie wieder passieren. Dieser Appell hat eine wichtige Implikation; die Idee, dass jedes Mitglied der Menschheit ein mögliches Opfer von Grausamkeiten ist, dessen Würde und Leben zerstört werden kann. Folglich könnte jedes menschliche Wesen dem Appell der Geschichte zum Mitgefühl zustimmen. Diese Begründung für den Appell ist empirisch, und sie ist normativ nur schwach aufgeladen, der Appell impliziert keine Notwendigkeit; er kann ignoriert werden; und er öffnet Mo-

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Mit dem am 01.01.2019 in Kraft getretenen Gesetz soll die Qualität in der Kindertagesbetreuung verbessert werden. Dafür stellt der Bund in den kommenden Jahren 5,5 Milliarden Euro für zehn verschiedene Handlungsfelder zur Verfügung. Vgl. hierzu ausführlicher z.B. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2019).

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Familie unter Verdacht

ral für die Macht des Mitgefühls« (Junge 2003, S. 157; vgl. auch Assmann 1997; Vogd 2007). Mit dem Verweis auf einschneidende historische Begebenheiten und deren Verknüpfung mit dem Fall ›Kevin‹ können sogenannte »Erinnerungsinseln« (Horn 1993, S. 176) jederzeit bei den Rezipienten reaktiviert und eine Kohärenz zu den Sinnkonstitutionen und Konventionen der vorliegenden Narrationslinie hergestellt werden. In der Annahme, dass die tragischen Ereignisse der NS-Zeit und die vermeintlich desolaten Zustände in den Kinderheimen und Pflegefamilien der vergangenen Jahrhunderte als Symbole und Narrative des Mitgefühls in einem kulturellen Gedächtnis gespeichert werden, können sie entscheidend zur Stabilisierung der narrativen Wissensbestände beitragen. Dabei ist zu erwarten, dass die Wahrscheinlichkeit, den Appell der Geschichte zum Mitgefühl zu hören, mit der Summe der Grausamkeiten steigt (vgl. Junge 2003, S. 158). Das kann als Erklärung für den Einsatz stark emotional aufgeladener Zeitspannen und Ereignisse wie der Vergehen der NS-Zeit und des institutionellen Missbrauchs dienen. Auch nach Turner (2005) eignen sich solche Diskurs(strang)verschränkungen hervorragend zur Reaktivierung bereits etablierter Wissensbestände, indem sie nicht nur einen Gegenwarts- und Zukunftsbezug herstellen, sondern vor allem in unsicheren Zeiten des Wandels die Möglichkeit bieten, gezielt auf bewährte Symbole zurückzugreifen, um Sicherheit angesichts der Ungewissheit herzustellen (S. 95). Um Störfaktoren im kollektiven Gedächtnis auszuschalten, die bestehende Ordnungen noch tiefgehender gefährden könnten, manipulieren Gesellschaften Teile ihrer Erinnerung in jeder Epoche und passen sie veränderten Bedingungen und gegenwärtigen Ereignissen an. Dabei verschwinden antihegemoniale und partikulare Wissensbestände (vgl. Keller 2011, S. 128f.). Je größer die Veränderungen und Spannungen sind, desto wahrscheinlicher ist vermutlich auch die Reaktivierung tradierter und fundamentaler Ereignisse, Rituale und Handlungsmuster (vgl. Böhnisch 2008, S. 227ff.). Sie erfüllen dann im Wesentlichen drei verstärkende Funktionen: »Sie steigern durch eine Kollektivsymbolik den Gruppenzusammenhang, sie legitimieren Institutionen und Autorität, und sie etablieren Wertstrukturen und prägen Verhalten« (Assmann 1999, S. 85f.). Indem sich die Narrationen dabei vorwiegend auf vorgelagerte Normen und historisches Hintergrundwissen beziehen, stellen sie zwar weniger einen Zukunfts- als vielmehr einen Vergangenheitsbezug her, ermöglichen aber gleichzeitig eine Deutung der Familie als »Zukunftsmodell, als Retterin einer untergehenden Gesellschaft, als Schutzraum gegen die Unbilden einer sich auflösenden, das Individuum der Isolierung preisgebenden Welt« (SZ 16.10.2006). Diese Deutung rückt nicht nur die normative Dimension familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ in den Fokus, sondern trifft generell eine Schwachstelle einer normativ zunehmend haltlosen Politik. Dadurch kann sie sich als ein zeitgemäßes Thema in einer zunehmend komplexen Welt etablieren, in der die Menschen Halt suchen und in der es daher Normen und Institutionen zu bewahren gilt, da über sie die »moralische Bindung« (Volbers 2014, S. 62) einer Gesellschaft erst konstituiert wird. »Allein schon wegen der hohen Alltagsrelevanz und der tiefen Verankerung von Traditionen in sozialen Praxen, auch von Familien, scheint es wenig sinnvoll, sich ›leichtfertig‹ vom Traditionsbegriff zu verabschieden« (Götte 2013, S. 23).

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

2.5.

Synopse der Erzählstruktur und Leitkonzepte narrativer Sinnstiftung

Die Problemwahrnehmung und -anerkennung der vorliegenden Narrationslinie beginnt im Unterschied zur Ausgangsnarration nicht mit der Agenda-Setzung eines sozialen Sachverhaltes als Problem, sondern mit der Nihilierung des Problems sich angeblich ›ausweitender familialer Erziehungsinkompetenzen‹. Die Erzählstruktur des Problems zweiten Grades setzt somit bereits auf der zweiten Stufe von Blumers Karriereleiter (1975) an: der ›Legitimation‹, indem sie im Wesentlichen an bereits eingeführte Konzepte der Ausgangsnarration anknüpft und diese umdeutet. Die Problematisierung einer vermeintlich gefährlichen Entmachtung familialer ›Erziehungskompetenzen‹ kann somit als Reaktion auf die Ausgangsnarration bzw. Ausdruck von »accountability« (Giddens 1979, S. 56) gewertet werden. Der weitere Narrationsverlauf wird dann im Wesentlichen von Elementen eines kulturellen Gedächtnisses und bewährten Konzepten von Familie und Elternschaft getragen, die über deutlich weniger innovative Bestandteile verfügen als die Ausgangsnarration. Hierzu zählen z.B. die Darstellung von Erziehung als quasi natürliches, intuitives Phänomen, die Vorstellungen eines stabilen und glücklichen familialen Nahraums in einer auf christlich-wertkonservativen Normen beruhenden Gesellschaft oder die Grundlegung einer Weltanschauung, die auf schicksalhaften Notwendigkeiten bzw. göttlichen Vorsehungen und moralischen Glücksversprechen fußt. Somit spielt vor allem die Zentralmetaphorik einer ›schicksalhaft-natürlichen Ordnung‹ eine bedeutsame Rolle bei der erfolgreichen Legitimierung und strategischen Handlungsmobilisierung der Narrationslinie, die sich im Wesentlichen über die Bildbereiche des Weges, der Last und des Kampfes erstreckt (vgl. Tab. 3).

173

Quelle: eigene Darstellung

Versperrte und vorgezeichnete (Ab-)Wege von Familien, öffentlichen Akteuren und Erziehung

Last familialer Lebensbedingungen

Verteidigung des familialen Glücks gegen außen

Weg

Last

Krieg und Kampf

Ontologisch-orientierend

Die schicksalhaftnatürliche Ordnung‹ als familiales Glücksversprechen

Referenzbereich

Konzeptbereich

Konzeptuelle Zentralmetaphorik

Familie und Öffentlichkeit als Antagonisten

Spannungs-verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit

Belastende äußere Einflüsse wie z.B. ökonomische Unsicherheiten

Grenzüberschreitungen

Die Kinder- und Jugendhilfe als illegitim einschreitende Instanz Familien in der Gegenwart

Natürliche Anlagen und Grenzen der Selbststeuerung

Signatum

Familien als Tragikos

Referenzsubjekt

Tabelle 3: Die ›schicksalhaft-natürliche Ordnung‹ als Zentralmetaphorik der narrativen Sinnstiftung

Schutz des familialen Schonraums

(Wohlfahrts-staatliche) Absicherung als Entlastung von Familien

Rückzug auf einen ›gemeinsamen Weg‹

Orientierung am ›Pfad der Tugend‹ bzw. der tradierten Werteordnung

Zielbereich

174 Familie unter Verdacht

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

Obwohl die Erzählstruktur eher ›antiaufklärerisch‹ wirkt, vermögen die zahlreichen bildspendenden Bereiche und Symboliken eine legitime Ordnung herzustellen, die gerade durch ihre Unberechenbarkeit stabilisierend wirken kann: »Eine geordnete Welt kann den Zufall viel leichter – zum Beispiel als Wunder – integrieren, weil sie ohnehin auf der Unberechenbarkeit (Jenseitigkeit) der ordnenden Instanz beruht; sie wird als überzeitlich stabil (statisch, wesentlich) und als unbezweifelbar gegeben (wirklich) verstanden. Ihre Ordnung wird durch den Zufall also geradezu bekräftigt« (Schweer & Müller 2014, S. 41). Durch diese Ordnungen erhalten die transportierten Wissensstrukturen »nicht nur einen besonderen (abgeleiteten) Wirklichkeitsstatus, sondern sie demonstrieren gleichzeitig auch ihre Passung an nicht nur allgemein anerkannte, sondern sogar sozial unhinterfragbare Wissensbestände, was ihnen zusätzliche Legitimität verleiht« (Schetsche 2014, S. 132), den Adressaten Handlungssicherheit geben kann und die Möglichkeit einer Externalisierung von Schuld bietet. Eine strategische und aufwendige Inszenierung dieser bereits etablierten Wissensordnungen ist zur Wahrnehmung und Anerkennung des Problems dann zwar nicht zwingend nötig, kann deren (Re-)Stabilisierung aber begünstigen. Hierbei werden die Elemente vor allem über verstärkende Narrative des Mitgefühls und der Kontingenz transportiert. Dieses auf historischen Ereignissen und tradierten moralischen Bewertungen beruhende Konzept bietet dann auch die Basis, um die Narration einer autarken und zu schützenden Familie zur »sozialen Norm zu erheben, der niemand öffentlich widersprechen kann, ohne sich zumindest moralisch-diskursiven Sanktionen auszusetzen« (ebd., S. 131). Die Narrative speisen sich somit insgesamt aus einer Mischung retraditionaler Verklärung und normativer Idealvorstellungen zu einer ›Sakralisierung‹ der Familie, die im Wesentlichen über die Darbietung einer ›schicksalhaft-natürlichen Ordnung‹ als zentrale Legitimierungs- und Mobilisierungsstrategie sowie ein bewahrendes ›Tradierungskonzept‹ als Handlungsplan und zentrale Bewältigungsstrategie narrativer Sinnstiftung transportiert werden (vgl. Abb. 4). Aus diesem Verständnis heraus erhält die Familie einen Wert an sich, und selbst wenn ihr tradierte erzieherische und fürsorgliche Funktionen entzogen werden, löst sie sich nicht auf, sondern schrumpft zu einer »weitgehend funktionsentlasteten und autoritätsgeschwächten Kleinfamilie – das Glück im Winkel« (Scannell 2011, S. 278) als »Teilbereich einer gesellschaftlich hergestellten, symbolischen Sinnwelt« (Berek 2009, S. 21).

175

176

Familie unter Verdacht

Abbildung 4: Zentrale Strukturelemente der Gegennarration

Quelle: eigene Darstellung

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

3.

Die Alternativnarration: Der Fall ›Kevin‹ als Symbol eines unterentwickelten (Risiko-)Managements familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹

Neben dramatisierenden Narrativen einer vermeintlich unberechenbaren Gefahr aufgrund sich ausweitender familialer ›Erziehungsinkompetenzen‹ (vgl. Kap. III, 1) sowie deren weitestgehender Nihilierung (vgl. Kap. III, 2) tritt noch eine dritte Narrationslinie diskursiv in Erscheinung. Damit muss sich die Ausgangsnarration im Diskursverlauf nicht nur der Konkurrenz einer Gegendeutung stellen, sondern auch einer alternativen Narrationslinie bzw. einer narrativen Überführung der Problematisierung derselben Sachverhalte. Die skizzierte Gefahrenlage der Ausgangsnarration begründet hierbei die angenommene Notwendigkeit eines Handlungsbedarfes im Hinblick auf sich angeblich ausweitende ›Erziehungsinkompetenzen‹. Diese greift die vorliegende Narrationslinie auf und nutzt sie zur Entwicklung alternativer Erklärungsmodelle, die Möglichkeiten bieten, die generierte Bedrohungslage einzudämmen und das Problem so besser bearbeitbar zu machen. Inhaltlich knüpft die Alternativnarration somit in weiten Teilen an die Ausgangsnarration an, indem viele dort generierte Elemente aufgegriffen und unter einer Bedrohungsannahme subsumiert werden. Gleichzeitig lassen sich die enthaltenen Wissensstrukturen dieser dritten Narrationslinie an vielen Stellen aber auch graduell von diesem Szenario abgrenzen bzw. erweitern dieses um Alternativdeutungen und Ordnungsstrukturen, die mitunter auch auf Wissensbeständen der Gegennarration beruhen. Es handelt sich somit um eine vielschichtige Problemnarration, die sehr viele und zum Teil widersprüchliche Annahmen umfasst. Die »diskursive[n] Formationen« (Foucault 1981 [1969], S. 48ff.) dieser Narrationslinie bieten daher aber auch verhältnismäßig umfangreiche Erklärungen, die sich mittels verschiedener Elemente zu einem komplexen Strukturschema des ›Risikomanagements‹ zusammenführen lassen. Hierbei treten vor allem Möglichkeiten und Grenzen kontrollierender und regulierender Elemente von Erziehung in den Vordergrund (vgl. Kap. III, 3.1), wobei die Subjekte als entwicklungsfähige ›Laien‹ und als Humankapital angesehen werden (vgl. Kap. III, 3.2.), die es im Rahmen einer marktgesellschaftlichen Sicherheitsordnung zu aktivieren gilt (vgl. Kap. III, 3.3 & 3.4).

3.1.

3.1.1.

Die Rationalisierung des Problems – Der Fall ›Kevin‹ als kalkulierbares Risiko Die (ökonomischen) Grenzen einer repressiven Überwachung

Wenngleich auch aus der vorliegenden Perspektive Kontrollmechanismen familialer Erziehung als wichtig erachtet werden, um Fälle wie ›Kevin‹ zu verhindern, greift die Alternativnarration die Institutionalisierung eines umfassenden, repressiven ›policing parenthood‹ und einer »neuen Lust am Strafen« (Dollinger & Schmidt-Semisch 2011) als Ausgangslage auf, um sie weitestgehend zu negieren: »Populistische Forderungen nach lebenslangen Strafen und der mediale Pranger, an den rückfällige Sexualstraftäter und die über Lockerungen entscheidenden Richter oftmals gestellt werden, führen nicht weiter« (FAZ 10.07.2018). Begründet wird dies vor allem damit, dass solche Maßnahmen immer auch »Investitionen« (Die Welt 04.11.2006a) darstellen, die nicht »rentabel« (SZ 18.10.2006c) erscheinen:

177

178

Familie unter Verdacht

Bei Früherkennungsuntersuchungen handele es ich um eine »Art gut gemeinte Rasterfahndung nach Kindern in Gefahr. Die meisten Bundesländer entschieden sich, den säumigen Eltern nicht nur Erinnerungsbriefe zu schicken. Eine Inspektion im Kinderzimmer sollte den Grund für die verpasste Vorsorge ergründen. Dreieinhalb Jahre später weiß man: Das Massenscreening hat den Kinderschutz nicht verbessert. Stattdessen ist eine neue Sozialbürokratie entstanden, die Eltern verschreckt und die Personalnot in vielen Jugend- und Gesundheitsämtern weiter verschärft« (Die Zeit 24/2011). Aber auch »die Kontrollbesuche halten […] von der wirklich wichtigen Arbeit ab« (Die Zeit 24/2011). »In jedem Fall würden sie mehr Arbeit für die ohnehin überlasteten Jugendämter bedeuten« (Die Welt 20.12.2007), »weil es auf eine Kontrollbürokratie hinausläuft« (taz 18.12.2007). Zudem seien diese Verfahren »für den Staat erheblich teurer« (FAZ 14.10.2006) und somit »fast immer eine Bankrotterklärung des Staates, der das Wächteramt innehat« (Die Welt 14.07.2010a). Neben dem bürokratischen und finanziellen Aufwand für das überlastete System der Kinder- und Jugendhilfe wird aber auch auf »Pannen« (SZ 30.12.2006) und Zweifel an der Wirksamkeit solcher Maßnahmen als weiteres »zentrale[s] Manko« (SZ 13.10.2006c) hingewiesen. So vermögen »Inspektionen im Kinderzimmer« (Die Zeit 24/2011) oder ein »Kinder-TÜV« (Der Spiegel 48/2007) die Gefahrenlage aus dieser Perspektive zwar einzudämmen, sie aber nicht zu beseitigen. Vor allem in Hinblick auf ein frühzeitiges Erkennen und eine präventive Gegensteuerung familialen ›Erziehungsversagens‹, d.h., bevor erste Probleme eingetreten sind, wird eine gewisse Skepsis deutlich, die nicht nur die Effizienz, sondern bereits die Effektivität dieses Vorgehens anzweifeln lassen: »Eltern, die ihre Kinder misshandeln, werden das nicht gerade dann tun, wenn die Untersuchung ansteht« (taz 18.12.2007), und diese »lägen oft Monate oder sogar Jahre auseinander« (Die Welt 19.10.2006). »Selbst, wenn sich alle Eltern an eine Untersuchungspflicht hielten, würde ein Kinderarzt bestenfalls darauf aufmerksam, wenn ein Kind bereits Opfer von Misshandlungen wurde« (SZ 13.10.2006c). »Dazu kommt, dass viele Fachleute warnen, dass Zwangsuntersuchungen uns in falscher Sicherheit wiegen. Blaue Flecken sind nach ein paar Tagen verschwunden« (Der Spiegel 49/2006). Gerade »bei sexuellem Missbrauch oder psychischer Misshandlung seien Hausbesuche zur Gefahreneinschätzung ungeeignet« (Die Welt 01.07.2009). Die narrative Inszenierung sicherheitspolitischer Maßnahmen als »hochproblematisch« (taz 28.10.2006a) oder zumindest zweifelhaft im Hinblick auf ihre Wirksamkeit lässt den Einsatz öffentlicher Mittel als verschwenderisch erscheinen. Es wird entsprechend vor einem »Allround-Familien-Überwachungssystem« (Der Spiegel 51/2007) gewarnt: »Die Kontrollen sind teuer und bringen wenig« (Die Zeit 24/2011), und auch »eine Änderung des Grundgesetzes klingt doch eher nach Politiker-Aktionismus« (taz, 18.12.2007), denn »kein Gesetz kann helfen, wenn Menschen versagen« (Focus 42/2006c). »Die bremische Situation zeigt, dass es vor allem auf den Einsatz wirksamer Förder- und Schutzinstrumente ankommt. Ob angesichts existierender landesverfassungsrechtlicher Kinderrechte, die eher als symbolisch anzusehende Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz zu neuen wirksamen Maßnahmen führen würde, muss angezweifelt werden« (FAZ 08.01.2008). In Aussagen wie diesen lässt sich eine Kritik an der sicherheitspolitischen Steuerung des Kinderschutzes erkennen, die vor einem übertriebenen und vorzeitigen Aktionismus warnt:

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

»Immer, wenn wieder etwas Schlimmes passiert und ein Kind zu Tode kommt, werden hektisch Maßnahmen eingeleitet« (Die Welt 03.02.2012). »Es ist deshalb geradezu obszön, auf den Tod von Lea-Sophie mit dem hohlen Aktionismus zu reagieren« (Die Welt 14.12.2007b). »Wir haben kein Verfassungs-, sondern ein Vollzugs- und Qualitätsproblem vor Ort« (Die Welt 06.06.2008b). »Es bewegt sich nur auf Projektebene. In der Fläche muss sich was ändern« (Der Spiegel 48/2007). »Wichtiger als neue Vorschriften seien konkrete Hilfen für Kinder und Eltern in schwierigen Lebenssituationen, heißt es in einer am Montag verbreiteten Erklärung […]. Je mehr die Eltern den Eindruck gewönnen, dass sie ›überwacht‹ werden sollten, desto weniger seien sie bereit, Unterstützung anzunehmen« (Die Zeit 49/2011). Vereinzelte Untersuchungen, in denen »die Wirksamkeit der Maßnahmen und Vernetzungen untersucht wurden« (Die Zeit 43/2006), seien erst lange nach dem Fall ›Kevin‹ erfolgt. Bis dahin hätten entweder überhaupt keine zuverlässigen Daten hierzu vorgelegen oder aber sie seien vom Umkreis der Initiatoren kontrollierender Maßnahmen und Modellprojekte selbst erhoben worden und seien daher durchaus kritisch zu hinterfragen: »Zusammen mit Pfeiffers Kriminologischem Forschungsinstitut will CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen in zwei Wochen ein Modellprojekt starten […]. Laut Pfeiffer haben ähnliche Projekte in den USA, wo 24 000 Kinder vergleichbar betreut werden, bereits gezeigt: ›Nichts ist billiger, nichts ist effektiver.« (Der Spiegel 42/2006a). Dementgegen zeige sich in den im Jahr 2010 veröffentlichen Ergebnissen der staatlich finanzierten und vorangetriebenen Evaluationen des Erinnerungssystems: »Weniger effektiv kann Geld für den Kinderschutz kaum ausgegeben werden […] Ein Bericht des Gemeinsamen Bundesausschusses fand keine internationale Studie, die belegt hätte, dass sich mit Vorsorgeuntersuchungen Kindesmisshandlungen aufdecken lassen« (Die Zeit 24/2011). Demnach seien Maßnahmen wie Vorsorgeuntersuchungen »nicht sehr gut darin sind, Entwicklungsdefizite festzustellen […]. Falls diese Untersuchungen also nicht besser werden, besteht weiterhin das Risiko, dass ernsthafte Anzeichen einer Gefährdung unentdeckt bleiben« (SZ 28.10.2006d). Auch »Hinweise auf misshandelte oder verwahrloste Kinder kommen in erster Linie von Bekannten, Nachbarn, Angehörigen, der Polizei, dem Kindergarten oder der Schule. Von Ärzten oder Psychologen gab es kaum Meldungen, obwohl sie seit 2012 von der Schweigepflicht entbunden sind« (FAZ 25.02.2014). Studien, die ein Scheitern von Maßnahmen konstatieren, würden jedoch kaum öffentlich thematisiert, sondern vor allem Aussagen, die sich weiterhin auf den »Erfolg der Projekte« (SZ 19.12.2007a) und Maßnahmen berufen. Unterstützt werden diese Zweifel durch Verweise auf Begebenheiten in Großbritannien, die als Negativfolie einer umfassenden staatlicher Kontrolle und Überwachung dienen: »In Großbritannien zu Beginn der Ära Blair versuchte man es mit dem Zugriff aufs Private. Leistungen gewährte der Staat nur noch als Gegenleistung für eine Veränderung der Lebensweise, der Ernährungsgewohnheiten, der Erziehung der Kinder, des TV-Konsums oder des Suchtverhaltens der Erwachsenen. Der überwachende Supernanny-Staat ließ sich aber nicht durchhalten, er kann sich nicht in jedes Kinderzimmer, in jede Speisekammer fräsen« (Die Zeit 43/2006c).

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Familie unter Verdacht

Die Aussagen verweisen somit insgesamt auf die Forderung nach einer rationalen Überprüfung und Reflexion der Ereignisse und Verfahren, um Kinder »effizienter schützen« (Die Welt 26.08.2010) zu können.

3.1.2.

Familiale ›Erziehungsinkompetenz‹ als kontrollierbares Wagnis

Eine zentrale Strategie der Alternativnarration, familiales ›Versagens‹ in Fällen wie ›Kevin‹ zu rationalisieren, stellt die Transformation der skizzierten Bedrohungs- und Gefährdungslage in eine Risikosemantik dar. Dabei werden unbeeinflussbar erscheinende Begebenheiten wie das Dämonische und das natürliche Schicksal, die in der Ausgangsebenso wie in der Gegennarration eine prominente Stellung erhalten, tendenziell im kalkulierbaren »Risiko« (z.B. Die Welt 29.01.2013; Focus 50/2007; taz 14.09.2010) aufgelöst. Der Risikobegriff selbst bleibt hierbei jedoch in weiten Teilen unbestimmt. Gleiches lässt sich auch für die einschlägige Fachliteratur konstatieren. Hier wird der Terminus im Allgemeinen als ›Wagnis‹ oder ›Unsicherheit mit Wahrscheinlichkeiten‹ gefasst, detaillierte Erläuterungen finden sich jedoch kaum (Kratzheller 1997, S. 12). Verhaltensweisen, die als Risiko deklariert sind, beinhalten in der Regel aber »ein Schädigungspotenzial gegenüber dem eigenen Leben oder der Umwelt bzw. den Lebensbedingungen« (Raithel 2011, S. 25) oder nach Pfitzner (2001) die »Möglichkeit, dass eine Handlung oder Aktivität einen körperlichen oder materiellen Schaden oder Verlust zur Folge hat oder mit anderen Nachteilen verbunden ist« (S. 64). Als bedeutsam erscheint an dieser Stelle vor allem die in den 1980er Jahren entworfene Zeitdiagnose der »Risikogesellschaft« (Beck 1986). Deren zentrale Annahme besteht darin, dass die Moderne seit der Industrialisierung mit Nebenfolgen wie z.B. einem verstärkten Armutsund Gesundheitsrisiko einhergehe, die sich im Rahmen der Globalisierung auf immer mehr Bereiche ausgedehnt hätten. Damit seien Risiken mittlerweile auch nicht mehr zwingend an den Ort ihrer Entstehung gebunden und daher oftmals schwer zu erkennen, ohne deshalb weniger gefährlich zu sein: »Ihrem Zuschnitt nach gefährden sie das Leben auf dieser Erde, und zwar in all seinen Erscheinungsformen« (Beck 1986. S. 29). Risikosemantiken bezogen sich sowohl in wissenschaftlichen als auch in öffentlichen Diskursen zunächst nahezu ausschließlich auf technische und ökologische Faktoren. Im Zeitalter der großen Umweltkatastrophen wie Waldsterben, saurer Regen, und Atomkraftunfälle trafen sie so einen empfindlichen Nerv der Gesellschaft. In den späten 1980ern schrieben sie sich dann allmählich themenübergreifend in eine Vielzahl von Diskursen und Bereichen ein, in denen dadurch oftmals eine »zuvor schicksalhafte Lebensbedingung zur Entscheidungssituation« (Zillien 2013, S. 177) wurde. In letzter Konsequenz wird hierbei dann auch der Mensch selbst zum Risiko ernannt. Als Risiko verstanden, treten Fälle wie ›Kevin‹ dann nicht mehr ›schicksalhaft‹ und ›unberechenbar‹ ein, sondern folgen gewissen Wahrscheinlichkeit, die sie kalkulierbar erscheinen lassen: »Eine sofortige medizinische Maximalversorgung hätte jedenfalls die Schmerzen lindern und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch den Tod des Kindes verhindern können« (Die Welt 25.10.2007). »Im Krankenhaus, das bestätigen Brandverletzungsexperten, wären seine Wunden ›mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit‹ geheilt worden« (taz 20.12.2007).

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

»›Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit‹ hätte so der Tod Kevins verhindert werden können« (Die Welt 21.05.2008). Die Popularisierung und Etablierung des Risikobegriffs im Rahmen von Fällen wie ›Kevin‹ stellt folglich bereits selbst eine Form der Bewältigung dar, nämlich eine »Verwissenschaftlichung von Unsicherheit« (Groenemeyer 2015, S. 13), innerhalb derer Angst rationalisiert und Gefahren an die vermeintliche Realität steigender Gefährdungsraten angepasst, normalisiert sowie in einem gewissen Maße vorhersehbar werden: »Risiko bedeutet die Antizipation der Katastrophe. Risiken handeln von der Möglichkeit künftiger Ereignisse und Entwicklungen, sie vergegenwärtigen einen Weltzustand, den es (noch) nicht gibt« (Beck 2007, S. 29). Die vorliegende Narrationslinie nutzt somit das dramatische Potenzial des Falls, um familiale Erziehung in eine technisch-rationale Argumentationslinie zu überführen, in der das Risiko zum Motor und Äquivalent für die normativ abgestützte Sinngebung wird (vgl. Sutter 2010, S. 109). Der Begriff selbst kann dabei in das Vokabular der Bedrohung eingeordnet werden: »Risiko muss minimiert oder sogar ausgeschlossen, auf jeden Fall kontrolliert werden« (Krause 2015, S. 176). Die narrative Strukturierung dieser Argumentationslinie beginnt somit bereits mit der Inszenierung einer alternativen Bewältigungsstrategie, die gleichzeitig als Voraussetzung für weitere Überführungen und Lösungsvorschläge angesehen werden kann.

3.1.3.

Die Normierung und Normalisierung von Kindheit, Familie und Erziehung

Mit der Einführung des Risikozusammenhangs gewinnen Indikatoren und Marker an Bedeutung, die frühzeitig auf riskante Entwicklungen hinweisen sollen, denn »wenn nicht gewartet werden soll, bis Katastrophen manifest werden, dann ist ihre Entstehung in einem Stadium aufzuspüren, indem noch kaum etwas sichtbar ist« (Dollinger & Schmidt-Semisch 2016, S. 8). Die Benennung und Festlegung solcher Indikatoren erfordern zunächst aber eine Normierung und Normalisierung17 verschiedener Elemente und Bereiche, die mit dem Problem in Verbindung stehen. Hierzu zählen z.B. die Normalisierung kindlicher Entwicklung und familialer ›Erziehungskompetenzen‹ sowie die Normierung kindlicher Störungen und ungünstiger familialer Lebensbedingungen, aus denen dann gewisse Schlussfolgerungen gezogen werden, die bestimmte Prognosen zulassen. Dies soll Fälle familialen ›Versagens‹ bereits im Vorfeld verhindern und die in der Ausgangsnarration verbreitete Angst einer Ausweitung der Katastrophe eindämmen. Wenngleich die Gefahr dabei nicht vollständig eliminiert werden kann, lassen solche Indikatoren ihr Eintreten doch abschätzbarer erscheinen, als es im Rahmen einer blinden, generalisierten Symptombekämpfung der Fall wäre (vgl. Luhmann 1986, S. 169ff.). Im Hinblick auf ›Kevin‹ stellt sich in diesem Zusammenhang zunächst die »Frage, ob Kevin altersgerecht entwickelt war« (Die Welt 21.12.2007) und seine Familie eine 17

In Anlehnung an Foucault (1983 [1976]) differenzieren die weiteren Ausführungen zwischen den Begriffen ›Normierung‹ und ›Normalisierung‹. Während sich ersterer auf die Erfüllung moralischer oder juristischer Handlungs- und Verhaltensweisen bezieht, umschreibt letzterer jene ›normalen‹ Handlungs- und Verhaltensweisen innerhalb der Grenzen des Gegensatzpaares ›optimal‹ und ›anormal‹ (vgl. S. 237).

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Familie unter Verdacht

»gute Entwicklung« (Der Spiegel 49/2006) oder zumindest eine »unbeschädigte Entwicklung« (Focus 44/2006) gewährleisen konnte. Hierbei zeige sich, dass Kevin als »Frühchen zur Welt gekommen« (Die Welt 28.05.2011), »unterversorgt und entwicklungsverzögert« (taz 21.05.2008) sowie »schwächer und kleiner als andere Kinder« (SZ 12.10.2006a) gewesen sei. Daraus lasse sich dann folgern: »Schon als Kevin geboren wird, ist er ein typisches Hochrisikokind« (Die Zeit 51/2007b). Ähnliches werde auch in anderen Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung deutlich, z.B. »in Lea-Sophies kurzem Leben ist offensichtlich nichts normal« (FAZ 23.11.2007). »Zum Schluss habe Lea-Sophie nur noch 7,4 kg gewogen. Normal wären in dem Alter um die 20 Kilogramm« (SZ 23.11.2007a). Die Beispiele sollen verdeutlichen, dass es auch in Fällen wie ›Kevin‹ Indikatoren für Abweichungen von einer ›normalen‹ Entwicklung gegeben habe, deren Erkennung und entsprechende Bekämpfung die ›Katastrophe‹ hätten verhindern können. Ergo geraten in den Fokus der Narrationslinie Vergleiche und Bewertungen von Verläufen und Rahmenbedingungen von vermeintlich »normal[er]« (z.B. Die Zeit 51/2007b; taz 14.09.2010) bzw. ›unnormaler‹ Kindheit. Dies kann als Versuch aufgefasst werden, eine Art »Einmaleins des Familienlebens« (Focus 26.06.2006) zu entwickeln und Abweichungen davon frühzeitig sichtbar zu machen. Hierbei zielen diese Bemühungen allerdings nicht – wie in der Ausgangsnarration – vorrangig auf eine allgemeine Diagnostik und Erkennung von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, sondern darüber hinaus auch auf die Normierung einer Vielzahl kindlicher Störungen mit dem Ziel, künftig selektiver intervenieren zu können und so auch Maßnahmen wie Früherkennungsuntersuchungen effizienter zu machen. Die Risikosemantik ist daher untrennbar verbunden mit der Entstehung von Verfahren der Messung, die in ihrem Ursprung nicht an einem künstlich generierten Ideal orientiert, sondern an empirischen Durchschnittswerten der realen Lebenswelt ausgerichtet sind, die erst im Rahmen von Normalisierungsprozessen zur Norm werden. Neben bestimmten Entwicklungsverläufen von Kindern stellen aus dieser Risikoperspektive auch bestimmte Verhaltensweisen und Erziehungsvorstellungen von Eltern sowie das familiale Lebensumfeld kalkulierbare Risikoindikatoren dar, anhand derer sich die Eintrittswahrscheinlichkeit familialen ›Versagens‹ ermitteln lassen soll. Auch die Annahme einer gewissen sozialen Prägung des Risikos spielt hier eine große Rolle: Häufig haben die betroffenen »Eltern aus ihrer eigenen Kindheit massive soziale Verkrüppelungen davongetragen […,] oft war schon die Jugend der Eltern von Sozialhilfeabhängigkeit und Gewalt geprägt« (Die Welt 20.12.2007) und »oft wuchsen sie selber in von Missbrauch gezeichnetem Umfeld auf« (FAZ 17.10.2006b). Und »Kinder, die verwahrlosen und misshandelt werden, kommen später selten gut durchs Leben« (Der Spiegel 42/2006a). »Aus schwachen Kindern werden schwache Erwachsene, die wieder schwache Kinder haben« (Die Zeit 51/2007b), wenn dieser Kreis nicht unterbrochen werde (vgl. hierzu ausführlicher Kap. III, 3.4.1; IV, 1.3). Tendenzen einer solchen indikatorengestützten Kalkulation und Vermessung menschlicher Eigenschaften, Entwicklungen und Verhaltensweisen zeichnen sich keinesfalls erst in jüngerer Zeit ab, sondern sind im Kontext genereller Normalisierungsund Standardisierungsprozesse18 zu sehen, die sich seit der Aufklärung in Form von 18

Der Begriff ›Standardisierung‹ wird hier in Abgrenzung zu dem häufig synonym verwendeten Begriff ›Homogenität‹ verwendet, der in erster Linie die Abwesenheit von Heterogenität und Diver-

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

Verfahren und Denkweisen in vielen gesellschaftlichen Bereichen niederschlagen. Sie lassen sich analog zur Diagnose der Risikogesellschaft in eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung einordnen und sind somit keineswegs auf den pädagogischen Bereich begrenzt. Mit den Bemühungen um eine verbesserte Hygiene zur Verhinderung der hohen Kindersterblichkeit (vgl. Eckart & Kneuper 2006) und der Entwicklung »medizinischer Arithmetik« (Turmel 2008, S. 20) wurden bereits im 18. und 19. Jahrhundert erste Grundlagen geschaffen, um epidemiologische Daten zu erheben (z.B. Isle-ofWight-Studie 1964-197419 ) und Personen nach festgelegten Merkmalen zu vergleichen. Eine Ausweitung dieser Entwicklung lässt sich seit dem 19. Jahrhundert in immer mehr Lebensbereiche verzeichnen. Erste Kommensurationstendenzen außerhalb des Humanbereiches zeigen sich schon in der historischen Normierung von Sprachen und effizienten Papierformaten, die sich seither zunehmend in die Humanwissenschaften z.B. in Form von Tabellen und Diagrammen zu »Normalverläufen« von Krankheiten ausdehnen (vgl. Harden & Backett-Milburn 2008; Weiß 2010). Insbesondere aus der Entstehung der statistischen Bevölkerungswissenschaften, die auch den Anfang der empirischen Sozialwissenschaften markiert, erwächst eine Vielzahl von Kategorisierungen und Klassifikationen, die methodische Vergleiche zwischen ›guten‹ und ›schlechten‹ Bedingungen und Verläufen erlauben und sich seit den 1960ern zunehmend um die Einführung entsprechender Messverfahren erweitern: »In der Praxis des Arztes, in der Schule, in der Wohnung der Familien durch die häusliche Krankenschwester […] wird beobachtet, gemessen, gewogen, physisch und später auch psychologisch beurteilt, kurz, in neu entstehenden Kategorien beschrieben und klassifiziert« (Turmel 2008, S. 27). »Intelligenz wird als IQ gemessen, Emotionalität als EQ, Bildungserfolge anhand von Notenskalen, wie gut verliebte Menschen zueinander passen in Scores und Umweltzerstörung wahlweise in Euro oder Dollar« (Distelhorst 2014, S. 80). Diese Prozesse der Normierung und Kalkulation verdienen besondere Aufmerksamkeit, denn »sobald sich der Kodex elementarer Lebensregeln der Kindheit ändert, deutet das auf einen grundlegenden Wandel des kulturellen Normensystems und der Wissenskultur einer Gesellschaft hin« (Gall & Schulz 2003, S. 7).

3.2.

Die Auflösung des Täter-Opfer-Raumes in ökonomisierte Tauschund Lernwelten

3.2.1.

Eltern als Laien in familialen Bildungs- und Lernwelten

Eine weitere zentrale Umdeutung von Elementen der Ausgangs- und der Gegennarration nimmt die Alternativnarration bei den enthaltenen Subjektpositionen vor. Unter der Annahme einer »menschlichen Beschränktheit« (Reichenbach 2000, S. 128) bzw. der

19

sität beschreibt, während ›Standardisierung‹ eher auf die »Vereinheitlichung vielgestaltiger Prozesse oder Gegenstände nach einem vorab festgelegten Maßstab, mithin auf die Gleichförmigkeit des Unterschiedlichen« (Bernhard 2010, S. 41) zielt. Im Rahmen der Isle-of-Wight-Studie wurden mehrere Hundert Kinder über ein Jahrzehnt hinweg begleitet, um Risiko- und Schutzfaktoren von Lebensbedingungen zu eruieren und zu klassifizieren. Vgl. hierzu ausführlicher Rutter (1989).

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Familie unter Verdacht

Vorstellung »der Mensch bleibt sich gleich« (taz 22.02.2007) werden ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ in den beiden anderen Narrationslinien als relativ statische, unabänderliche Eigenschaften skizziert, was eine Entwicklung der beteiligten Subjekte zweifelhaft erscheinen lässt und somit auch deren Handlungsfähigkeit im Hinblick auf Problemlösungsmöglichkeiten begrenzt. Am deutlichsten tritt dies in der Deskription des fremdgesteuerten ›Monsters‹ (vgl. Kap. III, 1.2.) zu Tage, aber auch in der Gegennarration erscheinen die narrativ konstruierten Handlungsspielräume der Subjekte gering und werden stark durch die Macht des Schicksals, natürliche Anlagen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen beeinflusst. Bereits hinter der zentralen Konzeption familialer ›Erziehungsinkompetenzen‹ als ›Einzelschicksal‹ zeigt sich der übergeordnete Gedankengang einer Verkettung ungünstiger Bedingungen, die die Eltern als ›Tragikos‹ weitestgehend aus der aktiven Steuerung ihrer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ entlassen (vgl. Kap. III, 2.2.1). Was die »Selbststeuerungsfähigkeit« (Kaufmann 1995, S. 163) betrifft, steht die Figur des ›Tragikos‹ der Figur des boshaften, ›erziehungsinkompetenten Monsters‹ somit nicht diametral gegenüber. Gemeinsam haben beide, dass sie als bedingt entwicklungsfähige Subjekte aus der aktiven Problembearbeitung weitestgehend ausgeschlossen sind. Dies folgt unabhängig der Deutung, ob es sich in Fällen wie ›Kevin‹ um eine ›missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge‹ (vgl. Kap. III, 1.2) oder um ›unverschuldetes Elternversagen‹ (vgl. Kap. III, 2.2) handelt. In der vorliegenden Narrationslinie wird diesen eher passiv angelegten Elternfiguren die Subjektposition des ›Laien‹ gegenübergestellt und mit ihr die Möglichkeit, familiale ›Erziehungskompetenzen‹ aktiv herzustellen und zu entwickeln. Besonders betont wird hierbei die Bedeutung der ›Familie als Bildungs- und Lernwelt‹ (vgl. Lange & Soremski 2012, S. 227), die sich auch in einschlägigen Fachdiskursen verstärkt nachweisen lässt und spätestens mit der vorliegenden Narrationslinie auch in öffentliche Debatten um Fälle wie ›Kevin‹ Einzug erhält. Indem die Eltern dabei sowohl zu lehrenden als auch zu lernenden Subjekten werden‹ stellt ›Erziehungskompetenz‹ keine ›natürliche‹, weitgehend unbestimmte, emotionsbasierte und holistische Facette des Elternseins dar. Vielmehr handelt es sich hier um eine differenzierte Fähigkeit, die im Sinne von ›Elternschaft als Profession‹ oder ›wissenschaftlicher Elternschaft‹ im Handeln angeeignet werden kann und als ›Lerngegenstand‹ professionell, nachvollziehbar und korrigierbar ist (vgl. Nawrotzki 2009, S. 128; Tolasch 2016, S. 76). In Abgrenzung zur ›tragischen Familie‹ impliziert die Subjektposition des ›Laien‹ damit nicht nur, dass Eltern keinen Expertenstatus qua Geburt ihrer Kinder erhalten, sondern auch, dass nicht aus jeder guten Gesinnung und engen Beziehung zwingend ›kompetentes‹ Handeln resultieren muss: »Elternkompetenz erwirbt man nicht im Kreißsaal. Die Geburt ist nur der Startschuss zu einem langjährigen Lernprozess, der Eltern immer wieder neu herausfordert« (Die Welt 07.11.2011). Der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen (2005) konstatiert ebenfalls: »Elternkompetenzen sind prinzipiell lernbar« (S. 16). Die Figur des ›lernfähigen Laien‹ knüpft stark an zentrale Konzepte der Wissensgesellschaft20 und Positionen des Bildungsdiskurses an, die spätestens seit Beginn der 20

Der Begriff ›Wissensgesellschaft‹ wurde in erster Linie von Lane (1966) geprägt, der ihn im Hinblick auf die generell wachsende gesellschaftliche Bedeutung wissenschaftlichen Wissens verwendete. Eine breitere wissenschaftliche Rezeption erfuhr er bei Bell (1973), der ihn in erster Linie zur

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

2000er Jahre – nicht zuletzt begünstigt durch den ›Pisa-Schock‹ – auch auf den Bereich der frühen Kindheit übergreifen und sich in den Folgejahren, einhergehend mit einer zunehmenden Professionalisierung frühkindlicher Erziehung, immer weiter ausdehnen (vgl. Kap. II, 1.1). Der Wunsch und die generelle Befähigung, »gute Eltern« (Die Welt 14.07.2010a) bzw. eine »gute Mutter« (SZ 14.04.2008b) zu sein, werden den Subjekten hierbei jedoch auch nicht wie in der Ausgangsnarration per se abgesprochen, sondern bleiben diskursiv erhalten: »Man muss sich dabei vor Augen halten, dass auch gefährdete Eltern ihre Kinder in der Regel nicht misshandeln oder vernachlässigen wollen« (SZ 04.11.2006). »Die meisten Eltern sind betroffen darüber, was passiert ist« (SZ 11.08.2007), denn oftmals sei es so, dass die Eltern »den Tod des Kindes nicht beabsichtigt haben« (Die Zeit 25/2008) und auch eine misshandelnde Mutter ihr Kind liebt: »Sie liebt ihre Tochter, das glaube ich schon […,] was für eine Liebe das auch immer ist. Eine Liebe jedenfalls, unter der das Kind auch leidet« (Die Zeit, 43/2006b). »Sie wollte eine gute Mutter sein, aber nicht immer gelang es ihr« (Der Spiegel, 29/2010). »Wenn die Mutter oder der Vater doch gewalttätig würden, geschehe dies aus Überforderung oder Ohnmacht. Die meisten Eltern schämten sich dafür« (FAZ 25.02.2014). In diesen Aussagen wird gleichzeitig auf den unterstellten Ursachenzusammenhang einer zunehmenden Überforderung und Verunsicherung von Familien mit familialem ›Versagen‹ hingewiesen. Hierbei handelt es sich um ein Erklärungsmuster, das auch die wissenschaftliche Diskursarena (vgl. Kap. II, 1.1) und die Deutungen der Gegennarration (vgl. Kap. III, 2.2.1) stark prägt. Neben einem generellen Zuwachs inkohärenter und mitunter widersprüchlicher Wissensbestände scheinen auch hier Erosions- und Säkularisierungstendenzen eine zentrale Rolle zu spielen. Vor allem infolge demographischer Veränderungen, wie des Geburtenrückgangs, des zunehmenden Verschwindens von Mehrgenerationenhaushalten und des Verlusts enger Verwandtschaftsbeziehungen, machen immer weniger Eltern vor der Geburt des eigenen Kindes Erfahrungen im Umgang mit kleinen Kindern. Dadurch scheint ihnen »die intuitive Sicherheit abhandengekommen zu sein, wie man den Nachwuchs denn erziehen soll« (Focus 26.06.2006), d.h., »viele dieser Mütter hätten das intuitive Gefühl verloren, wie ein Kind gefördert werden muss« (SZ 07.12.2006). Dementsprechend müssen viele Eltern »erst von Grund auf lernen, was es bedeutet, verantwortungsvoll ein Kind zu versorgen und zu erziehen« (Die Welt 14.07.2010a). Ihnen fehle häufig nicht nur fundiertes professionelles Wissen, sondern oftmals auch die »Selbstverständlichkeit und die Alltagserfahrung im Umgang mit Kindern«, weil »sie beispielsweise in einer kleinen Familie oder als Einzelkind aufgewachsen sind« (Rupp 2003, S. 50). Daher müssten sie das, »was frühere Generationen ganz einfach nebenbei ›mitbekamen‹ […,] erst als Erwachsene lernen« (ebd.). Während Eltern hierfür in der Gegennarration auch vor dem Hintergrund sozialen Wandels noch »so genannte Basiskompetenzen« (Focus 22/2002) unterstellt werden, die bei der Gewährleistung günstiger Rahmenbedingungen in der Regel als ausreichend erachtet werden, besteht aus

Darstellung einer wechselseitigen Abhängigkeit von Wissenschaft und Technologie nutzt. In den späten 1990er Jahren findet das Konzept schließlich auch verstärkt Eingang in öffentliche Debatten um die gestiegene Relevanz von Wissen als Ressource für ökonomische und gesellschaftliche Innovationsprozesse (vgl. hierzu ausführlicher Hebestreit 2012, S. 29ff.).

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Familie unter Verdacht

Perspektive der Alternativnarration Handlungsbedarf. Inwieweit dabei auf bestehende Kompetenzen aufgebaut werden kann oder den Eltern zunächst »schlichtweg die Kompetenz zur Erziehung und Betreuung ihres Nachwuchses abgesprochen« wird, variiert innerhalb der Narrationslinie. Einige Vertreter sprechen von dem Erfordernis einer vollständigen »Wiederherstellung ihrer Elternkompetenz« (Der Spiegel 22/2007), denn »Eltern fehle die Fähigkeit« (Die Welt, 10.05.2007) dazu, andere nennen »Defizite in der Erziehungsfähigkeit« (taz 14.10.2006c) und betonen, »bei den Eltern sind Erziehungs- und Versorgungskompetenzen vorhanden« (Focus 42/2006a). Daher müsse man »Eltern ertüchtigen und deren Kompetenz steigern« (Die Welt 14.12.2007a) bzw. die »Elternkompetenz steigern« (Die Welt 14.12.2007a). »So soll die Erziehungskompetenz der jungen Mütter und auch Väter verbessert werden« (Die Welt 04.11.2006a). Das »Risiko von Misshandlung und Vernachlässigung« (taz 18.12.2007) ist im Rahmen der vorliegenden Narrationslinie somit nicht nur wie in den anderen beiden Narrationslinien stark an die Existenz familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ gebunden, sondern durch die Anlage der ›lernfähigen Eltern‹ auch eng mit dem Risiko verknüpft, fehlende ›Erziehungskompetenzen‹ nicht frühzeitig zu erkennen, (wieder-)herzustellen und ausreichend auszubauen. Mit den Forderungen nach einer ›Steigerung‹ bzw. ›Verbesserung‹ familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ werden jedoch nicht nur risikominimierende Maßnahmen angesprochen, sondern gleichzeitig auch Prozesse der Optimierung angestoßen: »Während die Moderne lange Zeit auf Normalität orientiert war und dem in einer Rhetorik von Maß und Mitte Ausdruck verliehen hat, scheint die Gegenwart nichts so sehr abzulehnen wie Mittelmäßigkeit. Nicht Normalität und Mittelmaß, sondern Originalität und Spitzenleistung scheinen das Gebot der Stunde. Exzellenz ist längst zu einem Leitbegriff des Mobilisierens und Optimierens […] avanciert, der weit über die wissenschaftspolitische Debatte hinaus in nahezu allen Bereichen Fuß gefasst hat« (Peter 2014, S. 10). Diese Entwicklung ist eng mit der Tendenz zur ›optimierten Elternschaft‹ verknüpft und verweist darauf, dass die Sicherstellung der ›Qualität‹ familialer Erziehung umfangreicherer Fähigkeiten bedarf als die basale Gewährleistung von Schutz und Sicherheit: »Kinder stark zu machen für das Leben, sie zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu erziehen verlangt von Eltern und Institutionen nicht nur Kenntnisse über Entwicklungs- und Erziehungsfragen« (Focus 35/2005). Familien stellen so ein wichtiges Humanvermögen21 bereit, bergen aber auch das Risiko, diese Anforderung im Rahmen einer massiven »Krise der Kompetenz« (Grabowski 2014, S. 11) nicht zu erfüllen.

3.2.2.

Das optimierbare Kind als riskantes Humankapital

Die Thematisierung des misshandelten ›Kevin‹ eröffnet nicht nur die Möglichkeit, eine normabweichende kindliche Entwicklung zu skizzieren, sondern im Rahmen von

21

Der Begriff ›Humanvermögen‹ wurde bereits mit dem Fünften Familienbericht (1994) in den familienpolitischen Diskurs eingespeist, um die »bedeutsamen Leistungen von Familien zu verdeutlichen und die Forderungen nach einem gerechten Ausgleich für die Leistungserbringung zu unterstützen« (Huinink 2009).

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

Normalisierungsprozessen auch die Sozialform einer ›optimalen‹ Kindheit aufzuzeigen. Die vergleichende Orientierung an einer Norm des Bestmöglichen wird hierbei mit der Anforderung verbunden, Familien und »Kinder bestmöglich zu fördern« (Die Welt 23.04.2008). Das basale Schutzbedürfnis des Kindes erfährt dabei – analog zu der konstitutiven Auffassung entwicklungsfähiger Eltern – eine Erweiterung zum ›Förderbedürfnis‹ des Kindes. Das ›optimierte Kind‹ als Ziel und Resultat gelungener Erziehung ist somit eng verknüpft mit der Modellpraxis der ›professionalisierten Elternschaft‹ (vgl. auch Dimai 2012, S. 75; Steffens et al. 2010, S. 120). Die zugrunde gelegten Logiken lassen sich hierbei einem Argumentationsstrang zuordnen, der sich im 20. Jahrhundert – nicht zuletzt auf der Basis der sich etablierenden Neurowissenschaften – entwickelte und im Wesentlichen auf der »Hänschen-These« beruht. Dabei wird »in Analogie zu dem Sprichwort: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr, davon ausgegangen, dass in der frühen Kindheit Grundlagen für das spätere menschliche Dasein gelegt werden, welche unwiderruflich sind und später nicht nachgeholt werden können« (Grubenmann 2013, S. 37).22 Mit Becker (2006) umfasst dies – trotz der Annahme einer lebenslangen Entwicklungsfähigkeit – auch eine »frühkindlich-deterministische Auffassung« (S. 84), die insistiert, dass Kinder »künftig wesentlich früher und nachhaltiger gefördert werden« (ebd.). Während der frühen Kindheit lange Zeit wenig Beachtung geschenkt wurde (vgl. Kap. II, 2.2.2), gilt sie somit vor allem aus dieser Perspektive als entscheidende Entwicklungsphase, in der die ›Weichen‹ für das ganze Leben gestellt werden: »Wir wissen heute durch die Hirnforschung, dass im Alter zwischen zwei und vier Jahren entscheidende Weichen für die gesamte spätere geistige Entwicklung gestellt werden« (Der Spiegel 49/2006). Erste Ansätze für einen solchen »Imperativ zur bestmöglichen Förderung« (Seehaus 2014, S. 35) zeigen sich bereits bei Kant (1983 [1803]). Er bezeichnete die Optimierung des Kindes als ›Erziehungskunst‹: »Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessern Zustande des menschlichen Geschlechtes, das ist: der Idee der Menschheit, und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen werden. Dieses Prinzip ist von großer Wichtigkeit. Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, daß sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen« (S. 704). Bestrebungen eines planbaren Formens und Machens waren historisch aber auch in der NS-Zeit mit dem Ziel der »Typenzucht« stark ausgeprägt (vgl. Höltershinken 2013, S. 32ff.). Die Subjektposition des ›optimierten Kindes‹ ist somit insgesamt in der Tradition eines sich seit der Aufklärung ausdehnenden Förderdiskurses zu sehen, dem sich die Familie als Bildungs- und Lernwelt unterordnen lässt und der stark von der empirischen und evidenzbasierten Bildungsforschung getragen wird (vgl. Kap. II, 1.1). Entsprechend dem rahmenden Risikozusammenhang der vorliegenden Narrationslinie orientiert sie sich dabei weniger am individuellen, einzelnen Kind, sondern an ›Standards‹ kindlicher Entwicklung und an Indikatoren möglichen Misslingens sowie an

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Eine Fortführung dieser Deutung findet sich insbesondere im aktuellen Diskurs um frühkindliche Bildung und Frühförderung (vgl. z.B. Becker 2006; Stamm 2011).

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Familie unter Verdacht

den ihnen immanenten Vorstellungen zu Durchschnitten und Regelmäßigkeiten. Indem Gegenwart und Zukunft des Kindes dabei in ihrer Totalität als zunehmend planbar gedacht werden (vgl. Honig 2019), erhalten Fragen nach familialen ›Erziehungskompetenzen‹ als »Investitionen in Humankapital« (Der Spiegel 9/2008) einen neuen Bezugsrahmen, innerhalb dessen sich die Frage stellt, »was Kindheit ist und sein soll« (Baader 2014, S. 416). Hierbei wird der Blick dann – ähnlich wie bei der Subjektposition der Eltern – verstärkt auf die Funktionalität von Kindern als »wertvollste Ressource« (SZ 18.10.2006c) gerichtet. In der Annahme »dass die Kinder von heute eine Investition in die Zukunft und in unsere Gesellschaft von morgen sind« (SZ 28.10.2006b), werden sie vor allem in ihrer Funktion als künftige »Arbeitskraft« und »Rentenversicherung« wahrgenommen (Bühler-Niederberger 2003, S. 193f.) und so zum »Hoffnungsträger der Gesellschaft« (Correll & Lepperhoff 2013, S. 81)23 . Das Kind wird demnach in gewisser Weise zu einem ›Produkt‹ bzw. einer ›Ware‹, bei dem die Eltern nicht nur die Sicherheit, sondern auch die ›Qualität‹ gewährleisten müssen.Das Risiko einer vermeintlichen Krise familialer ›Erziehungskompetenz‹ bringt analog zum ›Risiko Familie‹ auch das »Risiko Kind« (Betz & Bischoff 2013) hervor, das als Humankapital ebenso wie die Eltern immer mit dem Risiko einer ›geringen Qualität‹ und »Rendite« (taz, 14.10.2006e) für Familie und Gesellschaft verbunden ist. Eng verbunden mit der Inszenierung des ›Risikos Kind‹ ist auch der häufige Hinweis auf mögliche Folgen einer familialen Überbehütung des Kindes, die als riskante Negativpraxis der kindlichen ›Optimierung‹ Eingang in die Narrationslinie findet. Obwohl gewisse Tendenzen einer ›Parentifizierung‹ (vgl. Kap. III, 2.2.2) auch im Rahmen der vorliegenden Narrationslinie durchaus gebilligt werden oder gar erwünscht erscheinen, wird eine allzu enge, nahezu symbiotische Eltern-Kind-Bindung als egoistische und schädliche Bedürfnisbefriedigung seitens der Eltern abgewertet, die dem Kind schade. Tyrells (1981) populäre Diagnose, dass Kinder »mit aller Hingabe geliebt werden im Bewußtsein, daß das absolut natürlich und angemessen ist, also mit unbedingter kultureller Rückdeckung« (S. 420), wird somit aus dieser Perspektive negiert und ein solches Verhalten der Eltern entsprechend kritisiert: »Sie suchen vielleicht einen Wert für ihr Leben, und dieser mag für sie darin liegen, dass jemand ausschließlich auf sie angewiesen ist […]. Als Wert ist Angewiesenheit fragwürdig! Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass sie Kinder bekommen. Aber sehr wahrscheinlich ist, dass es bei einem Angewiesensein unter solchen Bedingungen zu einem GAU kommen muss, denn ein Kind braucht an erster Stelle etwas – und genau das bekommt es bei diesen Eltern nur eingeschränkt oder gar nicht. Diese Eltern wollen in erster Linie empfangen, weil sie selbst Defizite haben, und können erst an zweiter Stelle geben« (SZ 18.10.2006e). »Wenn man sich um ihre Kinder kümmert, reagieren sie oft neidisch, man muss sie entschädigen. Viele reagieren wie trotzige kleine Kinder« (Die Welt 10.05.2007).

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Diese Funktionalisierungstendenz von Kindern als ›Hoffnungsträger der Gesellschaft‹ ist nicht neu und erinnert an die Ausrichtung der öffentlichen Sorge um Kindheitsbelange bis zum 19. Jahrhundert, die zu jener Zeit vor allem auf das Kind als benötigte Arbeitskraft fokussiert war (vgl. Fegert et al. 2010, S. 34).

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

Ein Kind wie im Fall ›Kevin‹ trotz unzureichender familialer ›Erziehungskompetenzen‹ und ohne externe Unterstützung »zu behalten aus morbider Anhänglichkeit« (Die Zeit 25/2008) entspringe daher eher dem »tödliche[n] Mythos vom Mutterglück« (taz 18.12.2006b). Ebenso fragwürdig sei es, »das ›Kind als Therapeutikum‹ einzusetzen. ›Das ist ein völlig unzulängliches Argument‹« (Die Welt 10.05.2007). Solche Verschränkungen mit thematischen Diskurssträngen um ›Affenliebe‹ bzw. ›Helikoptering‹24 werden an zahlreichen Stellen deutlich (z.B. »Alles haben, alles wollen, alles dürfen. Die verwöhnten Kleinen«, Der Spiegel 33/2000a; »Achtung Eltern! Sie tun alles für ihr Kind – und schaden ihm«, Der Spiegel 33/2013). Dabei wird mit den darin aufgeworfenen Fragen, ob ›Überfürsorge‹ »Affenliebe ist oder vielleicht doch Kindesmisshandlung« (SZ 27.02.2007) oder ›Affenliebe‹ zu Kindesmisshandlung führe (SZ 02.08.2000), eine sehr enge Verbindung zur Kindesmisshandlung hergestellt. Aber auch in der sozialwissenschaftlichen Diskursarena wird die emotionale Verdichtung moderner Familienbeziehungen mitunter skeptisch betrachtet und hierbei gehäuft auf die dadurch beförderte »Gesellschaftsferne der Mutter-Kind-Beziehungen« (Honig & Ostner 2014, S. 368) verwiesen. Sie könne bis hin zu einer »völligen seelischen Abhängigkeit zu den überfürsorglichen Eltern« (Meysen 2006, S. 91) führen, kann aus dieser Sicht also als ein Versagen familialer ›Erziehungskompetenzen‹ gewertet werden. Während das Fehlen enger Bindungen zwischen Eltern und Kind aus der Perspektive der Gegennarration als Gefahr für die kindliche Entwicklung erscheint (vgl. Kap. III, 2.1.2), werden in dieser Argumentationslinie in der Umkehrung gewisse Ängste vor dem ›gefährlichen Kind‹ als Folge einer ›überbehütenden‹ Elternschaft geschürt (z.B. »Wie Eltern ihre Kinder zu Tyrannen machen«, Die Welt 23.05.2016), die sich auch in vereinzelten Hinwendungen zu stärker formenden und repressiven Methoden der Erziehung zu äußern scheinen. Zu nennen sind hier in jüngster Zeit z.B. die viel diskutierte Schlaferziehung oder das Einsperren von Kindern: »Nach den Helikoptereltern und der Tigermutter 25 gibt es eine neue Bewegung in den USA, die diesmal nur das Beste für die Kleinsten will« (Focus 25/2018).26 Während

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Der Begriff ›Affenliebe‹ kennzeichnet »eine durch Übertreibung schädliche Liebe zu Kindern, da die Äffin ihr Junges aus Liebe zuweilen so herzen soll, daß es erstickt« (Pierer 1857, S. 154). Der Terminus entwickelte sich bereits im 18. Jahrhundert und kann als klare Gegenpositionierungen zum ›Mutterkult‹ erachtet werden, der es darum ging, die starke affektive Fixierung der Mutter auf ihr Kind zu diskreditieren. Auch wenn Mutterliebe seinerzeit im dominierenden Werteverständnis als eines der wichtigsten Elemente der Kindererziehung galt, nahmen viele zeitgenössische literarische Werke auch die Ängste vor ›erstickenden‹ Müttern auf (vgl. Hays 1998, S. 74). Dennoch hat dieses Konstrukt im Vergleich zur positiv konnotierten ›Mutterliebe‹ keine kollektive Deutungsmacht erhalten (vgl. Tyrells 1981, S. 421f.). ›Helikoptering‹, d.h. das Kreisen der Eltern über dem Kind, kann als eine moderne, missbilligende Weiterführung des Phänomens seit dem Ende des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Der Begriff ›Tigermutter‹ wurde von Amy Chua-Rubenfeld in ihrem umstrittenen Buch »Battle Hymn of the Tiger Mother« (2011) geprägt, das eine sehr strenge und leistungsorientierte Erziehung propagiert und damit seinerzeit aufsehenerregende Debatten auslöste. Interessanterweise scheint sich der Begriff bis heute in dieser geschlechtsspezifischen Variante zu erhalten. Diese weiterführenden Positionen werden in den Debatten um Fälle wie ›Kevin‹ zwar kaum explizit thematisiert, es ist aber anzunehmen, dass sie als latente Sinnformeln einen gewissen Einfluss auf die Wahrnehmung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung haben.

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Familie unter Verdacht

die Subjektposition des ›gefährlichen‹ Kindes in den vergangenen Jahrzehnten im öffentlichen Diskurs nahezu vollständig von den Subjektpositionen des ›gefährdeten Kindes‹ bzw. ›Risikokindes‹ abgelöst wurde (vgl. Kap. II, 2.2.2), wird sie in den Debatten um den ›Fall Kevin‹ an dieser Stelle sowohl explizit in Form des ›tyrannischen, überbehüteten Kindes‹ als Folge eines misslungenen ›Optimierungsprozesses‹ als auch implizit im generellen ›Risiko Kind‹ in gewisser Weise fortgeführt bzw. wiederbelebt. Die Position des Kindes erhält dadurch einen ambivalenten Charakter.

3.2.3.

Die Kinder- und Jugendhilfe als überlastete Dienstleistungsorganisation

Ebenso wie die Funktion des Kindes in dieser Narrationslinie von einem ›persönlichen Glücksversprechen‹ (vgl. Kap. III, 2.2.2) zu einer gesellschaftlich relevanten Absicherung durch sich entwickelndes Humankapital umgedeutet wird und die Bedeutung der Familie eine Transkription zur gesellschaftlichen »Ressource« (SZ 18.10.2006c) erfährt, die vor allem die effiziente Nutzung familialer ›Erziehungskompetenzen‹ als gesellschaftliche Ressourcen im Blick hat und deren Zerfall entsprechend am »materiellen Wohlstand zehre« (Die Welt 23.12.2008), erscheint auch die Kinder- und Jugendhilfe in der Semantik eines ›ökonomischen Risikomanagements‹ als Element eines rationalen Versorgungs- und Tauschgeschäftes. In diesem Geschäft stellt das Humankapital in Form von ›Erziehungsleistungen‹ und ›gelungenen Kindern‹ dann die Tauschware zwischen der Kinder- und Jugendhilfe als Dienstleister des Kinderschutzes und den Eltern als ›souveränen Marktteilnehmern‹ dar (Naegele et al. 2010, S. 168). Relevanz hat aus dieser Perspektive somit weniger der strukturelle Erhalt der Familie als sinnstiftende und Halt gebende Lebensform, sondern vielmehr der Erhalt der Familie in ihrer Humankapital bildenden Funktion. Diese Narrationen treffen nicht nur den Nerv der Risiko- und Wissensgesellschaft, sondern entsprechen auch dem Zeitgeist des Neoliberalismus. Aus dessen Perspektive erweist sich die ›Krise‹ der Familie und ihrer ›Erziehungskompetenzen‹ weniger als eine autonome Krise, sondern als der Spiegel einer krisenhaften Gesellschaft, in der Fälle wie ›Kevin‹ letztlich eine gesamtgesellschaftliche »Systemfrage« (Bode et al. 2012) in der »Krise des Wohlfahrtsstaates« (Schmid 1984) darstellen. Entsprechend wird ihnen mit Narrativen begegnet, die zu einem großen Teil dem heterogenen Feld neoliberaler Argumentationen zugeordnet werden können, in denen eine Übertragung des Marktwettbewerbes auf soziale Aufgaben vorgeschlagen wird (vgl. Giersch 1991, S. 15f.).27 Kulturelle, ökonomische und strukturelle Ver-

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Der ›Neoliberalismus‹ hat seinen Entstehungshintergrund als Ideengeschichte und Regulierungsmechanismus in der Zeit der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren (vgl. z.B. Trube 2003). Er umfasst verschiedene Schulen und konzeptionelle Ansätze, die zum Teil stark variieren. So wird der Staat z.B. im klassischen Liberalismus als Hindernis der freien Marktwirtschaft erachtet, während er im Ordoliberalismus als ein entscheidendes Instrument der Marktförderung gekennzeichnet ist. Allen Konzepten ist jedoch gemein, dass sie alle auf den grundlegenden gemeinsamen Prinzipien der individuellen Autonomie und des freien Marktes basieren (vgl. Biebricher 2012). Im Gegensatz zur ersten ›neoliberalen‹ Schule im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise der 1920er Jahre, die ein Versagen der reinen Marktwirtschaft attestierte und daher einen starken, eingreifenden Staat forderte, wird mit dem gegenwärtigen neoliberalen Modell in der Regel vielmehr das Ziel verbunden, die Staatsaufgaben im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft und ökonomischer Denkstrukturen sehr stark einzuschränken (Fuchs 2014, S. 63ff.).

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

änderungen der Gesellschaft, die sich seit den 1970er Jahren abzeichnen, werden hierbei eingebettet in generelle globale Ökonomisierungstendenzen, deren »kapitalistische Handlungslogik« seit den 1980er Jahren stark steigt und sich auf immer mehr gesellschaftliche Lebensbereiche ausdehnt (vgl. Lessenich 2009, S. 133), wobei sie sich mit gewisser Zeitverzögerung auch in der Deutung familialer Erziehungsleistungen niederschlägt. Aus dieser Perspektive werden familien- und kinderfördernde Maßnahmen zu »Investitionen, die sich lohnen« (FAZ, 25.03.2015), da sie entscheidend über den zukünftigen Wert der Kinder als ›Ware‹ entscheiden. Deutungen einer Kinder- und Jugendhilfe als »Konzern« (taz 29.07.2009) und Erziehung als ›Geschäft‹ zeigen sich auch in diversen Kontextmaterialien wie z.B. der Kurzfassung eines Gutachtens des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2005b): »Das Leben mit Kindern vollzieht sich heute zunehmend unter Bedingungen der ›Informalisierung‹, […] die das ›Erziehungsgeschäft‹ als eine schwierig zu bewältigende Aufgabe erscheinen lässt« (S. 7), was mit Oelkers (2009) schließlich »dazu geführt hat, dass sich die Jugendhilfeträger zunehmend als Dienstleistungsorganisationen verstehen« (S. 141). Dementsprechend wird die Kinder- und Jugendhilfe in der Alternativnarration auch nicht wie in der Ausgangs- und der Gegennarration vorrangig als ›Wächter‹ (vgl. Kap. III, 1.3.1) bzw. ›Bereitsteller familienfreundlicher Rahmenbedingungen‹ (vgl. Kap. III, 2.3.2) adressiert, sondern in eine vermittelnde Position gerückt. Bei dieser geht es darum, eine ›Erziehung‹ der Eltern zur ›Optimierung‹ der Kinder vorzunehmen, um so den »Ausverkauf von sozialpädagogisch richtigen und notwendigen Entscheidungen« (Die Welt 14.10.2006b) zu verhindern und den Eltern »Fehler im Umgang mit ihren Kindern« (Die Welt 04.11.2006a) aufzuweisen. Eine erfolgreiche (Wieder-)Herstellung und Förderung von ›Erziehungskompetenzen‹ ist daher zudem eng geknüpft an die Qualifikation der professionellen Akteure, die sie bereitstellen. Die Rede ist von Jugendamtsmitarbeitern bzw. »Case-Managern, die früher Sachbearbeiter hießen« (SZ 13.10.2006b). »Sie müssen dementsprechend managen: Hilfe für ihre Klienten organisieren, bei freien Trägern einkaufen und dabei aufs Budget achten« (Die Zeit 43/2006b). Aussagen wie diese verweisen gleichzeitig darauf, dass hierbei vor allem die Effizienz nicht aus dem Blick geraten dürfe, weil der »wichtigste Maßstab die Kosten-NutzenRechnung nach rein betriebswirtschaftlichen Kriterien ist« (taz 29.07.2009). Dennoch gehe es »nicht ohne zusätzliche Mittel« (taz 27.10.2011) seitens des Staates. Das »Versprechen muss unser Sozialstaat dauerhaft einhalten« (Focus 04/2007) – jedoch »mit dem langfristigen Ziel, Gesundheitsausgaben zu sparen« (Die Welt 14.10.2006a), denn »mit einem Dollar können so vier Dollar an Folgekosten eingespart werden« (Die Welt 04.11.2006a). Mit der Aufforderung, regulierendes erstklassiges Handeln unter möglichst kostenminimierten Bedingungen zu gestalten, wird ein gesamtgesellschaftlicher Wettbewerb um Familien als »Kunden« (FAZ 17.11.2012) auf dem ›Erziehungs- und Betreuungsmarkt‹ rund um das Kind etabliert, das als ›Ware‹ im Bedarfsfall auch »enteignet« (Die Welt 09.05.2017) werden kann. Familien und professionelle Fachkräfte sichern sich in dieser Logik nicht nur ihren Fortbestand und das Wohl des Kindes, sondern sind auch gesellschaftlich dazu aufgefordert, einen entscheidenden Beitrag zur »gesellschaftlichen Wohlstandwahrung und -sicherung« (Schneewind 1998, S. 14) zu leisten. Im Sinne einer ökonomischen Selbstregulierung werden somit alle Akteure der Dominanz des Marktes unterworfen und staatliche Aufgaben und Verantwortlichkeiten auf ein Minimum begrenzt. Diese

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Familie unter Verdacht

Inszenierungen können in Anlehnung an Höhne (2012) als eine »komplexe Transformation« von Strukturen und Deutungen von Erziehung und Familie in ökonomische Gesetzmäßigkeiten verstanden werden, die sich einsetzen lassen, um die Effizienz auf der Basis von »rationalistisch-technologischen Steuerungsvorschläge[n]« und mittels »marktförmiger Mechanismen und Instrumente« zu steigern (S. 807). Durch den angeblichen Anstieg der Fallzahlen, in denen Familie »nicht funktioniert« (SZ 13.10.2006b), seien die »arbeitsmäßig überlasteten Sozialbehörden« (Die Welt, 06.06.2008c) hiermit jedoch bislang überfordert: Nicht nur »deren Strukturen sind überlastet« (taz 18.12.2007), »das System ist überlastet, die meisten [Kinder] werden in einem Heim untergebracht oder können nur kurz in eine sogenannte Bereitschaftspflegefamilie« (Der Spiegel 33/2014). Aber »nicht nur Jugendamtsmitarbeiter seien vielfach überlastet, auch Familienrichter hätten schon jetzt viel zu tun« (Der Spiegel 22/2007) und »auch die Staatsanwaltschaft wies auf die ›massive Überlastung‹ hin« (Die Welt 26.08.2010). Wie bei den Subjektpositionen der Eltern und Kinder werden somit auch bei den Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe sowohl Potenziale als auch Grenzen der Handlungsmacht aufgeführt, die verallgemeinernde und endgültige Verantwortungs- und Schuldzuweisungen in Fällen wie ›Kevin‹ sowie eine entsprechende Positionierung von Akteursgruppen im Täter-Opfer-Raum schwierig erscheinen lassen. Während die TäterOpfer-Polarisierung der Ausgangsnarration (vgl. Kap. III, 1.2) in der Gegennarration bereits sowohl auf der Opfer- als auch der Täterseite erweitert wurde (vgl. Kap. III, 2.2), scheint sie hier nahezu vollständig aufgelöst zu werden.

3.3.

3.3.1.

Die strategische Mobilisierung der Subjekte in einer selbstwirksamen Bewältigungspraxis Das unternehmerische Selbst als übergeordnete Subjektposition

Als Voraussetzung für die erfolgreiche (Wieder-)Herstellung bzw. den Aufbau familialer ›Erziehungskompetenzen‹ wird nicht nur die angenommene Lern- und Entwicklungsfähigkeit der beteiligten Subjekte angesehen, sondern auch deren Bereitschaft, aktiv mitzuwirken. Dies scheint jedoch immer mit einem gewissen Risiko verbunden, das es zu minimieren gilt. Diese Minimierung erfolgt aus der vorliegenden Alternativnarration nicht nur auf der Basis diverser Standardisierungs- und Kalkulationsprozesse, sondern auch über Aktivierungsstrategien, die in erster Linie über Individualisierungsprozesse und Androhungen des Scheiterns verlaufen. Die Grundlage hierfür bildet die Transformation einer Gefahrenlage, der man hilflos ausgeliefert ist, in ein Risiko, das man selbst steuern kann, denn »damit liegt die Verantwortung bei den handelnden Personen« (Richter 2009, S. 98) und Scheitern wird zu einem ›individuellen Versagen‹ (Die Zeit 43/2006b). In den Vorstellungen entwicklungsfähiger und optimierbarer Akteure ist das potenzielle Risiko eines ›Versagen‹ oder ›Misslingens‹ bereits angelegt, wobei vor allem auf das Risiko möglicher volkswirtschaftlicher Folgeschäden verwiesen wird (vgl. Betz & Bischoff 2013). Anhand der Verknüpfung des Erziehungssystems mit der »Selektion des Wirtschaftssystems« (Luhmann 1990, S. 90) werden die beteiligten Akteure dann einerseits in der Denkfigur eines »unternehmerischen Selbst«

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

(Bröckling 2007)28 auf sich selbst verwiesen, unterliegen aber anderseits den Gesetzen des Marktes und der Politik, wodurch sie gleichermaßen selbst- wie fremdbestimmt sind. Mit dieser instrumentell-funktionalistischen Verantwortungsrhetorik verändert sich in dieser Narrationslinie die ordnungsbildende Struktur familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ von einem strukturellen, dispositionalen Problem zu einem individuellen, performativen Handlungsproblem. Hierbei wird die realisierte Leistung – je nach Auffassung – zum Bestandteil oder zum Maßstab zielgerichteter Kompetenzen erhoben (vgl. Treptow 2014), was zugleich eine »stetige Option zur Verbesserung impliziert« (Ott 2011, S. 47). Entsprechend dieser Transformationen müssen Anrufungen und Schuldzuweisungen nicht generalisierend an bestimmte Akteursgruppen erfolgen, sondern können wie im Fall ›Kevin‹ auch an einzelne Individuen gerichtet werden: »Dem Casemanager sind bei der Fallbearbeitung gravierende Fehler unterlaufen. Insbesondere die mangelhafte Risikoeinschätzung sowie die nicht vorhandene Fallsteuerung und Kontrolle dürften maßgeblich dazu beigetragen haben, dass Kevin nicht vor der Gewaltanwendung durch seinen Ziehvater geschützt wurde« (FAZ 20.04.2007). Es gehe um »die persönliche Schuld der beiden Mitarbeiter, nicht nur um das Versagen der Amts-Organisation« (FAZ 16.05.2009). Auch »der Rücktritt der Sozialdemokratin ist nicht die formelhafte Übernahme von ›politischer Verantwortung‹, er ist Ausdruck persönlicher Schuld« (Die Welt 12.10.2006b). In Umkehrung der ontologisierenden Tendenzen der Ausgangsnarration werden hierbei mitunter auch Organisationen personifiziert und zu »gesellschaftlich verantwortlichen Subjekten« (Fechtner 2013, S. 224f.) gemacht, die mit menschlichen Qualitäten versehen werden. Prozesse des Verhaltens und Handelns werden sozusagen vom Menschen auf das Objekt übertragen und in den Vordergrund gestellt. Das heißt, Institutionen wie der Staat, das Jugendamt, die Familie oder die Länder werden mit kognitiven und emotionalen Eigenschaften, Identitäten und Intentionen belegt. So erhalten sie eine Position, von der aus sie als ›Person‹ adressiert und aktiviert werden können. In Fällen wie ›Kevin‹ sei z.B. »Vater Staat« (SZ 14.10.2006) ebenso wie »viele Jugendämter überfordert« (taz 14.10.2006a). Familien erhalten »Besuch vom Jugendamt« (Die Zeit 24/2011), Jugendämter werden »um Hilfe gerufen« (Die Zeit 25/2008), die Bundesländer sollten »ihr Herz […] werfen« (taz 27.10.2011) und die Gesellschaft ist »schockiert« (Die Zeit 25/2008) oder »wundert sich« (Die Welt 19.12.2006). Durch die Personifizierung wird es möglich, Organisationen und Institutionen ebenso wie menschliche Akteure in die Verantwortungsrhetorik einzubinden: »Verantwortung und Zuständigkeit wird auf mehrere Schultern verteilt […,] die Verantwortung wird atomisiert« (Die Zeit 43/2006b): »Es liegt in unseren Händen« (SZ 18.10.2006a). Solche personifizierenden und aktivierende Anrufungen streuen

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Das ›unternehmerische Selbst‹ kann als Fortführung des Aufklärungsmodells der Frühgeschichte und des Homo oeconomicus sowie als eine Weiterentwicklung von Foucaults Machtanalytik betrachtet werden. Es wird insbesondere von Vertretern der ›Gouvernementalitätsstudien‹ seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend als Produkt verschiedener diskursiver und nicht diskursiver neoliberaler Praktiken interpretiert (vgl. hierzu auch Kap. II, 1.2.2 & 1.3.1 sowie einschlägig Bröckling 2007 und Bührmann 2012).

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Familie unter Verdacht

über die gesamte Problemnarration und erhalten dadurch eine starke »gesamtinhaltliche und damit zugleich auch intensive kognitive Wirkung« (Thome 2011, S. 68), die als bedeutsamer Motor einer Institutionalisierung von ›Hilfen zur Selbsthilfe‹ verstanden werden kann.

3.3.2.

Die Aktivierung des unternehmerischen Selbst in Semantiken von (Un-)Glück, Spiel und Wettkampf

Die Aktivierung des ›unternehmerischen Selbst‹ vollzieht sich nicht nur über eine ökonomisch-funktionalistische Verantwortungsrhetorik und personifizierte Anrufungen, sondern auch in metaphorischen Feldern. Insbesondere auf Elemente des Schau- und Glücksspiels wird dabei zurückgegriffen. Es kann an Bestandteile der Theatermetaphorik und der Glückskonzeption der Ausgangs- bzw. Gegennarration angeknüpft werden, die zu einer ›Spielmetaphorik‹ erweitert bzw. transformiert werden. Solche Übergänge zum Spiel finden sich nach Goffman (1977) überall in der Gesellschaft, so dass es oftmals schwierig sei, sie zu erkennen (vgl. S. 61). Als Metaphernfeld macht die Spielmetaphorik im vorliegenden Kontext vor allem auf die performativen Komponenten von Erziehung aufmerksam. Ebenso wie die Risikosemantik verweist sie sowohl auf die Möglichkeit des Gewinnens als auch die Option des Verlierens oder Scheiterns: Meist seien es jedoch die Kinder, die in diesem ›Spiel‹ verlieren: »Verlierer gibt es bei den Auseinandersetzungen in Jugendämtern und vor Gerichten immer wieder – allzu häufig sind es die Kinder« (Der Spiegel 33/2014). Aber auch die Eltern können ihre Chancen auf Erfolg ›verspielen‹ (»Ich habe sonst samstags geputzt, aber ich muss mich an die Auflagen halten, sonst habe ich verspielt«, Der Spiegel 29/2010) und zu »Verlierern« (Der Spiegel 33/2014; Die Zeit, 25/2008) werden, ebenso wie Aktivitäten der Behördenmitarbeiter ›scheitern‹ oder ›erfolglos‹ bleiben können: »Ein solcher Schritt bedeutet schließlich gerade für engagierte Mitarbeiter, einzugestehen, dass die eigenen Bemühungen gescheitert sind« (Der Spiegel 49/2006). Der Heimleiter »Pape versuchte sogar mit Kevins Kinderarzt beim Jugendamt zu intervenieren. Ohne Erfolg« (Der Spiegel 42/2006a). Im ›Fall Kevin‹ gab es keine ›Gewinner‹, »niemand geht hier als Sieger heraus« (Die Welt 26.08.2010). ›Spiel‹ kann in der hier angelegten Metaphorik sowohl als ›Schauspiel‹ wie auch als ›Wettkampf‹ gedeutet werden. Das ermöglicht eine diskursive Kopplung von Befähigung und Sichtbarkeit, mittels derer die aufgeführten ›Erziehungskompetenzen‹ nicht nur beobachtbar und evaluativ bewertbar, sondern auch ›trainierbar‹ gemacht werden können. In Abgrenzung zum Metaphernfeld des Theaters und Schauspiels (vgl. Kap. III, 1.3.3) ermöglicht das ›allgemeine‹ Spiel den Subjekten, eigenständig zu denken und zu handeln und nicht nur das in der Theaterrolle bzw. der jeweiligen Lebenswelt und -lage vorgegebene Skript nachzuahmen bzw. als Marionette oder »Puppe« (Die Zeit 25/2008) von außen geführt zu werden. Als Spieler haben die Akteure zwar auch ein vorgegebenes standardisiertes Regelwerk einzuhalten, dessen Umsetzung und Ausgestaltung liegt jedoch im Wesentlichen bei den jeweiligen Personen (vgl. Kühl 2010). Erziehung sei dadurch zwar »immer noch kein Kinderspiel« (Der Spiegel 20/2008), aber die Akteure können als weitestgehend eigenverantwortliche Subjekte über »das Familienspiel entscheiden« (Focus 26.06.2006). Der Ausgang ist in diesem Zusammenhang jedoch ebenso wie der Ausgang jedes Spiels nur bedingt vorhersehbar und erfordert stets eine gewisse Ri-

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

sikobereitschaft (vgl. Kühl 2010). Im Fall ›Kevin‹ war es z.B. bereits zu spät, »bis der Ball endlich ins Rollen kam« (Die Welt 06.06.2008c), weil einzelne Teile nicht erfolgreich zu einem umfassenden ›Risikomanagement‹ verbunden wurden (»Der Fall Kevin wird zum Puzzlespiel«, Die Welt 21.12.2007). Erziehung und die (Wieder-)Herstellung von ›Erziehungskompetenzen‹ bleiben somit auch in dieser Perspektive ein Wagnis, dessen Ausgang jedoch stark von den beteiligten Akteuren mitbestimmt wird. Durch die immer mitschwingende Androhung des ›Verlierens‹ bzw. ›Scheiterns‹ können sie daher mobilisiert werden, die eigenen Kräfte und Fähigkeiten einzusetzen (vgl. auch Distelhorst 2014, S. 14; Fenner 2003, S. 588f.; Ruckenstuhl 2006, S. 67f.). Eingeschränkte Handlungsoptionen und kontraproduktive Begebenheiten, wie sie z.B. strukturelle Rahmenbedingungen sowie Gesetze des Marktes und der Politik darstellen, werden entsprechend der Spiel- und Wettkampfmetaphorik als Hürden für eine erfolgreiche Umsetzung familialer ›Erziehungskompetenzen‹ betrachtet, die es aktiv zu »senken« (Die Welt 12.07.2007) gilt. Die Rede ist z.B. von »hohen rechtlichen Hürden« (Der Spiegel 22/2007) bzw. dem Recht als »›unnötig hohe Hürde‹ für einen Eingriff« (Der Spiegel 22/2007) oder von der »Hürde, einfach nicht zu Untersuchungen zu gehen« (taz 28.10.2006a). Generell sollten Akteure für den Kinderschutz »ihr Herz rasch über die Hürde werfen« (taz 27.10.2011), auch »wenn die Hürden sehr hoch sind« (Die Welt 03.02.2012). Dafür »erforderlich sind Gesetze und Regeln, die Handlungsspielraum lassen« (Die Zeit 51/2007a). Ähnliche metaphorische Aktivierungsstrategien zeigen sich in der Verwendung von architektonischen Konzepten des Bauens. So sollen z.B. Beziehungen und Vertrauen zwischen den beteiligten Subjekten »aufgebaut« (Der Spiegel 49/2006; taz 08.12.2007), Brücken »gebaut« (Der Spiegel 49/2006), Schutzmechanismen »eingebaut« (Der Spiegel 49/2006) und die Jugendhilfe »ausgebaut« (Die Welt 16.12.2006) werden, wobei Eltern und Familien »gestützt« (Der Spiegel 49/2006; Die Welt 06.06.2008c) sowie Belastungen »abgebaut« (Der Spiegel 33/2014) werden sollen, »denn ist der Kontakt zu den Familien in ruhigen Zeiten aufgebaut, kann man helfen, ehe die Probleme sich türmen« (FAZ 14.05.2007). Bilder des ›Wettkampfes‹ und des ›Bauwerks‹ ermöglichen somit vor allem die Deutung, dass Subjekte selbst in Fällen wie ›Kevin‹ nie absolut, sondern nur graduell gescheitert sind: »Es ist nie zu spät für Erziehungskorrekturen« (Der Spiegel 33/2000b). Als Aktivierungsstrategie kann aber auch die Verwendung einzelner Elemente des Metaphernfeldes ›Glück‹ angesehen werden. Es bekommt im Rahmen der Konzeption von Erziehung als ›natürlich-schicksalhaftem Glück‹ bereits in der Gegennarration eine zentrale Stellung zugewiesen (vgl. Kap. III, 2.1.2.). In der vorliegenden Narrationslinie erfährt dieses Konzept in Anlehnung an den Metaphernbereich des ›Spiels und Wettkampfes‹ jedoch eine intrinsische Transformation zur Deutung von ›Glück‹ als Resultat aktiver Leistung; dessen Kehrseite ist dann das ›Unglück‹ durch mangelnde Leistung. Das Glücksempfinden ist nicht wie in der Gegennarration durch Elternschaft per se gegeben, sondern entspricht dem eher transitiv-technischen Glücksverständnis, der in Autonomie freigesetzte, leistungsbereite Mensch sei erfolgreich und glücklich. Glück ist so gesehen nicht als natürliche Anlage gegeben, sondern kann – je nach Erfolgslage – schwanken: »Die Gefühle der Frau schwanken stark […] mal ist sie glücklich mit ihrem Kind, am nächsten Tag würde sie es am liebsten weggeben« (SZ 14.04.2008b). Der wesentliche Unterschied zwischen den Konzepten beider Narrationslinien vollzieht sich somit vor allem an der Linie von Disposition und Autonomie. Während im Argumentationsstrang

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der Gegennarration niemand selbsttätig »Erfolg haben oder eigentlich scheitern kann, wenn er selbst im Unglück doch nur das sowieso schon beschlossene Schicksal erfüllt« (John 2014, S. 217), implizieren die Konstruktionen von ›Glück‹ und ›Erfolg‹ als individuellen Herstellungsleistungen den Gedanken, dass sie als Ergebnis richtigen Handelns plan- und steuerbar und folglich in keinem ihrer Bestandteile vollkommen zufällig sind. Hierdurch transportieren sie – ebenso wie die Metaphoriken aus dem Bildbereich des ›Wettkampfes‹ – nicht nur den narzisstischen Wunsch zu gewinnen bzw. die Androhung zu scheitern, sondern auch den »Glauben an eine gerechte Welt‹, in der Leistung ›belohnt‹ und fehlendes Engagement ›bestraft‹ wird (vgl. Lerner 1975; Lerner 1977). Aber auch ökonomische Sprachbilder wie z.B. »Investition« (Die Welt 04.11.2006a) »Budget« (Die Zeit 51/2007b) »Rentabilität« (SZ 18.10.2006c), »Rendite« (taz 14.10.2006e) oder »Güterabwägung« (FAZ 14.10.2006) können durch die Implementierung in die Bildbereiche des Spiels zu leichter nachvollziehbaren Semantiken werden. Sie lassen sich dann mit einiger Selbstverständlichkeit feststellen, ohne sie gegen kontroverse Stimmen vertreten zu müssen, denn Alltagskonzepte des Bauens und des Glücks sowie die »Dramatik sportlicher Wettkämpfe« (Bröckling 2017, S. 100) sind simpler gestrickt als das »Gewusel der Märkte« (ebd.). Durch die Verknüpfung mit dem Glauben an eine ›gerechte Welt‹ werden ökonomische Semantiken dann in der Regel auch nicht als ungerechtfertigt erlebt (vgl. Dornes 2012, S. 257). »Zusammenpassen müssen die sprachlichen Bilder nicht, aber in ihrer Gesamtheit bilden sie so etwas wie eine Brille, durch die der Mediennutzer Ereignisse konturiert, die ansonsten schwer verständlich wären. Es handelt sich um Bilder der Denormalisierung, die auch höchst ungewöhnliche Handlungen der Staaten als geboten und ohne Alternative dastehen lassen« (Knobloch 2009, S. 2). Nach Schmidtke und Schröder (2012) eignet sich das metaphorische Feld des Gewinnens und Scheiterns zudem besonders für die massenmediale Problembearbeitung, weil es ähnlich wie die Figur des ›scheiternden Tragikos‹ der Gegennarration (vgl. Kap. III, 2.2.1) Identifikations- und Projektionsprozesse anstößt, die wesentlich zum Erfolg der Narration beitragen können: »Das dramatische Potenzial des Scheiterns wird über diese Verschmelzung schließlich zum Stoff, aus dem Medienträume sind. Denn er eignet sich für die massenmediale Berichterstattung deshalb besonders, weil es passfähig auf die Informations- und Unterhaltungsbedürfnisse des Publikums trifft. Scheitern als ›Kehrseite der Medaille‹ hat vor dem Hintergrund dieser Logik einen Nachrichtenwert und kann in der medialen Verwertungskette als Thema – ähnlich wie Dopingskandale – publikumswirksam auf vielfältige Weise inszeniert werden« (Schmidtke & Schröder 2012, S. 128f.). Es ist daher anzunehmen, dass insbesondere die Androhung eines ›Scheiterns‹ von Familien, wie sie der Fall ›Kevin‹ transportiert, Identifikations- und Projektionsprozesse bei den Rezipienten in Gang setzt, die ähnliche Wirkungen erzielen wie die Emotionalisierungsstrategien der Ausgangs- und der Gegennarrationen und die daher auch als solche zu verstehen sind.

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

3.4.

3.4.1.

Die Etablierung von ›Hilfen zur Selbsthilfe‹ als risikobasiertes Kontrollsystem Die Professionalisierung der Akteure als zentraler Handlungsplan

Die Annahme einer gewissen Vorhersehbarkeit von Fällen wie ›Kevin‹ infolge rationaler und begründbarer Risikoeinschätzungen ermöglicht es schließlich, Familien in ihren ›Erziehungskompetenzen‹ gezielter und frühzeitiger im Sinne einer »präventiven Sicherheitsordnung« (Trotha 2010) zu unterstützen, bevor die Katastrophe eintritt. Hierfür müssen Maßnahmen zur Bewältigung familialen ›Versagens‹ dann auch nicht auf die Bereitstellung verbesserter Rahmenbedingungen (vgl. Kap. III, 2.3) oder auf generalisierte repressive Maßnahmen des Kinderschutzes (vgl. Kap. III, 1.4) begrenzt werden, die teuer seien und die Gesellschaft zudem »in falscher Sicherheit wiegen« (Die Welt 19.10.2006). Den »Eltern das misshandelte Kind wegzunehmen, schützt zwar das Kind, aber dies ist als alleinige Maßnahme nicht ausreichend, weil diese Eltern oft noch ein zweites oder drittes Kind bekommen« (SZ 11.08.2007; vgl. Kap. III, 3.1.1). Frühzeitige präventive Angebote seien daher nicht nur möglich, sondern auch zwingend nötig, um vor allem »volkswirtschaftliche Folgeschäden« (Die Welt 14.10.2006b) wie im Fall ›Kevin‹ zu vermeiden und brachliegende Ressourcen zu mobilisieren: »Das Problem des Erziehungsversagens löst man nicht mit mehr Geld, sondern mit mehr Prävention« (Die Welt 14.07.2010b). »Erfahrungen aus den USA und Kanada hätten gezeigt, dass sich das investierte Geld später mehrfach amortisiere« (Die Welt, 14.10.2006a). »Ein Land, das in seine benachteiligten Kinder investiert, spart später bei der Kriminalitätsbekämpfung, bei den Kosten für Gefängnisse und Psychiatrien, bei den Sozialeinrichtungen der Nachsorge« (Die Zeit 51/2007b). »Durch frühzeitige Erkennung und Mobilisierung können somit ›Reparaturkosten‹ gespart [werden], die anfallen, wenn Kinder auf Grund von Verwahrlosung später schwer krank oder kriminell werden« (Der Spiegel 42/2006a), d.h., »wenn es gut geht, spart sich der Staat auf diese Weise sogar Geld – Geld, das er später in den Ausbau von Jugendhaftanstalten stecken müsste« (SZ 14.10.2006). »Überträgt man solche Erkenntnisse über Folgeverläufe auf Daten deutscher Krankenkassen, kann man die gesellschaftlichen Folgekosten abschätzen. In der Deutschen Traumafolgekostenstudie kamen wir bei einer moderaten Schätzung auf Kosten von elf Milliarden Euro im Jahr für Folgen belastender Kindheitserfahrungen« (FAZ 10.07.2018). Aus dieser Perspektive scheitern wohlfahrtsstaatliche Lösungsmodelle somit nicht an einer vermeintlichen ›Monstrosität‹ der Familie oder unvorhersehbaren Schicksalsschlägen, sondern am beständigen Festhalten an angeblich bewährten und idealisierten Familienmodellen, die aus ökonomischer Sicht nicht haltbar seien: »›Weil die Ehe gefördert wurde, ging die Familie zugrunde‹, so klagte bereits vor zehn Jahren der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Wolfgang Zeidler, Regierung und Parlament an« (Dettling 1995, S. 139). Es gehe also nun darum, »jene Logik wieder einzuführen, die mit der Einführung der staatlichen Sozialversicherung verloren gegangen ist. Es muß wieder, wenigstens teilweise, auch ökonomisch vernünftig sein, mit Kindern in die eigene und in die Zukunft der Gesellschaft zu investieren« (ebd.). Hierfür sei es aber auch nötig, Möglichkeiten zu erschaffen, »frühzeitiger und stärker auf die Eltern einzuwirken« (Der Spiegel 22/2007):

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»Kinder brauchen Stabilität und gegenseitige Verantwortung. Wir müssen die Familie unterstützen, wenn wir die Kinder unterstützen wollen« (Die Welt 19.11.2008). »Wir müssen Eltern unterstützen« (Die Welt 19.11.2008) und »so früh wie möglich Hilfsangebote machen« (Die Welt 14.07.2010b). Sowohl die Förderung als auch »der Schutz von Kindern kann nur erfolgreich sein, wenn wir die Chance haben, die Anzeichen für Verwahrlosung und Misshandlung frühzeitig zu erkennen« (Die Welt 23.10.2006), »bevor die Hilflosigkeit in Gleichgültigkeit oder Zorn gegen das Kind umschlägt« (SZ 19.12.2007b). »Wenn Sozialdienste den Müttern langfristige Unterstützung anbieten, wenn sie in Gesundheitsfragen beraten und praktische Unterstützung bei der Erziehung geben, sinkt die Zahl der Gewalttaten erheblich« (SZ 13.10.2006c), denn »der Wille sei da, aber um ihn umzusetzen, fehle häufig das Werkzeug« (SZ 14.04.2008b). »Wir wollen die gesellschaftliche Verantwortung für Kinder stärken. Das heißt: intensive fachliche Begleitung für alle Eltern« (Der Spiegel 49/2006). Zur Bereitstellung entsprechenden Werkzeuges bedürfe es zunächst eines »Marktes für Dienstleistungen« (taz 29.07.2009), der Eltern dazu »befähigt« (FAZ 17.11.2012), ihre Kinder zu erziehen. Das müsse man den Kindern »garantieren« (SZ 18.10.2006a). Im Fokus steht dabei die Ausschöpfung von Möglichkeiten der Prävention statt der Substitution, wobei »die Eigenkräfte der Familie gestärkt und unterstützt werden« (Hauck & Noftz 2000, S. 2) sollen. Für Vertreter dieser Narrationslinie eröffnet insbesondere die Annahme einer gewissen sozialen Prägung (vgl. Kap. III, 3.1.3) Möglichkeiten, auf solche Prozesse bereits im Vorfeld Einfluss zu nehmen, durch »Formen der Primärprävention, die aus der Annahme einer ›sozialen‹ oder ›traumatischen‹ Vererbung darauf ausgerichtet sind, das kumulative Einwirken ungünstiger Entwicklungsfaktoren bereits während der Kindheit zu verhindern« (Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S. 77). Denn »es wird sich mittelfristig nur etwas ändern, wenn es gelingt, die unheilvolle Verkettung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg zu unterbrechen« (Die Zeit 43/2006c): »Eltern können selbst so starke Nöte haben, dass sie sich ihren Kindern nicht hinreichend feinfühlig zuwenden können. Oder sie können selbst so wenig geliebt und gefördert worden sein, dass sie ihren Kindern kaum Anregungen geben können. Kinder, die in solchen Verhältnissen aufwachsen, müssen die Chance bekommen durch weitere Beziehungsangebote Bindungssicherheit zu entwickeln, etwa durch eine liebevolle, geduldige Förderung in der Kita, durch die Großmutter, die Nachbarin und andere hilfreiche, feinfühlige Beziehungspersonen« (FAZ 17.11.2012). Die Frage, wie der Kreislauf sozialer Vererbung durchbrochen werden kann, wird insbesondere im Rahmen der Diskussion um ein mögliches Entschädigungsrecht unter Rekurs auf Fälle wie ›Kevin‹ ab dem Jahr 2017 vermehrt zum Thema, wobei der Blick generell erstmals stärker auf die Folgen von Misshandlungen für die Kinder gerichtet wird: »In vielen dieser Familien scheinen Eltern in einem Kreislauf aus Gewalt und Misshandlung gefangen. Was muss geschehen, damit diese grausame Gesetzmäßigkeit durchbrochen wird?« (Der Spiegel 7/2017) »Die längst überfällige Reform des sozialen Entschädigungsrechts mit der flächendeckenden Einführung solcher Trauma-Ambulanzen, getrennt für Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene, steht – wie schon in der vergangenen Legislaturperiode – aber-

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

mals auf der Agenda der künftigen Regierungsparteien. Neben Hilfen und Unterstützung ist auch ein veränderter gesellschaftlicher Blick auf die Betroffenen wichtig. Viel zu oft werden diese nur als Opfer bemitleidet. Stattdessen müssen auch ihre Stärke und die Kompetenzen gesehen werden, mit denen sie versuchen, mit dem Erlebten umzugehen. Notwendig sind nicht Mitleid, sondern Hilfe und Unterstützung, um ein möglichst gelingendes Leben führen zu können und in unserer Gesellschaft dazuzugehören« (FAZ 10.07.2018). Der frühzeitige Aufbau von ›Erziehungskompetenzen‹ und Schutzfaktoren könne hierbei als eine Art Impfung wirken, die gleichzeitig auch zu einer erhöhten Stressresistenz in Belastungssituationen führen könne. Bedeutsam sind demnach insbesondere kompensatorisch wirkende Faktoren, die pathogene Langzeitfolgen wie Kindesmisshandlung oder -vernachlässigung verhindern und zum Aufbau gewisser »Resilienzen« führen sollen, wie sie im sozialwissenschaftlichen Fachdiskurs bereits seit Längerem diskutiert werden (vgl. z.B. Rolf & Johnson 1999).Mittels frühzeitiger Präventionsangebote an die gesamte Familie werde »zwar die individuelle Traumatisierung bundesdeutscher Kinder durch ›partiell autoritäre‹ oder überforderte Eltern nicht ausgeschlossen, aber kollektive Traumatisierungen werden durch entsprechende Frühsozialisationsstrukturen in diesem Bereich wenigstens nicht vorprogrammiert« (Großkopf 2017, S. 93). Das erklärte Ziel der vorliegenden Narrationslinie ist es folglich, »Karrieren abweichender Entwicklung zu verhindern. Dadurch wird es möglich, weniger sanktionierend und mehr ressourcenorientiert (belohnend) zu handeln« (Hünersdorf & Toppe 2011, S. 214) sowie durch die Verstärkung ambulanter Angebote kostenintensivere stationäre Maßnahmen zu umgehen (vgl. Richter 2018). Neben der Risikoperspektive müssen dabei vor allem die optimistischen Bilder einer ›Entwicklungselternschaft‹ und einer ›souveränen Marktteilnahme‹ von Eltern (vgl. Kap. III, 3.2.1) als entscheidende Voraussetzung erachtet werden, um Bewältigungsmaßnahmen in die Problemwahrnehmung einschreiben zu können, mittels derer die eruierten Risikofaktoren zwanglos und gezielt abgebaut werden können, statt die selbsttätigen Handlungs- und Bewältigungsmöglichkeiten durch generalisierende vorverlagerte und stark kontrollierende bzw. sanktionierende Zugriffe zu unterminieren. Unter dem Motto »Erziehungskompetenz von Eltern lässt sich schulen« (SZ 04.09.2013) und »Liebe lernen« (SZ 14.04.2008b) wird daher auf »ein Bündel von Maßnahmen« (Der Spiegel, 48/2007) wie z.B. die »Elternschule« (z.B. Der Spiegel 51/2007; Die Welt 28.05.2011; Die Zeit 43/2006b) oder einen »Kurs für Erziehungskompetenz« (Der Spiegel 33/2014) verwiesen, in denen »Eltern lernen, verantwortlich mit ihren Kindern umzugehen« (SZ 28.10.2006d), um so »die Elternkompetenz steigern« (Die Welt 14.12.2007a) zu können. Aus dem Umstand eines mutmaßlichen Verlustes basaler intuitiver ›Erziehungskompetenzen‹ infolge des sozialen Wandels werden somit – im Unterschied zur Gegennarration – nicht vorrangig Forderungen nach einer (Re-)Stabilisierung bewährter Wissensbestände und Formen des Zusammenlebens abgeleitet (vgl. Kap. III, 2.3.3). Erhoben werden vielmehr kompensierende Professionalisierungsanforderungen, die den Zugang zu Informationen und bereichsspezifischem Wissen zu einer wichtigen Bezugsquelle im Erziehungsprozess machen. Diesem Duktus folgend wird im Rahmen der (Wieder-)Herstellung familialer ›Erziehungskompetenzen‹ verstärkt auf prädiktive und freiwillige Unterstützungsangebote als ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ gesetzt:

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»Dies stellt für Mütter und Väter eine Herausforderung dar, bei deren Bewältigung wir ihnen helfen müssen. Die Erziehungskompetenz zu fördern bedeutet daher, Mütter und Väter für die Stärken ihrer Kinder zu sensibilisieren und sie in die Lage zu versetzen, die bestmöglichen Umstände für deren Entwicklung zu schaffen« (Focus 35/2005). »Diese Frauen sollen lernen, wo sie sich in einer Krise Hilfe holen können« (Die Welt 14.10.2006a), damit sie sich z.B. »durch eine erfolgreiche Bildung und Ausbildung aus ihrem Milieu befreien« (FAZ 25.10.2006a) können. Gesetzt wird somit vor allem auf eine »›höhere Verbindlichkeit‹ statt auf Zwang« (taz 04.11.2006). Man wolle »nicht bestrafen, sondern Probleme lösen« (SZ 24.11.2007b). Daher sei es wichtig, »dass das alles ohne Zwang abläuft« (taz 28.10.2006b). Solche Forderungen können vor allem an vorhandene Formen und Programme der Elternbildung anknüpfen, in denen »Eltern lernen können, ihr Erziehungsverhalten zu reflektieren und zu verbessern« (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005b, S. 22). Zu nennen sind hier insbesondere verschiedene Trainingsprogramme, Ausbildungen und Seminare (vgl. SZ 11.08.2007) aus dem Bereich der Familienbildung, die häufig nicht nur auf die (Wieder-)Herstellung, sondern auch auf eine Optimierung familialer ›Erziehungskompetenzen‹ ausgerichtet sind. Meist handelt es sich dabei um generalisierte Programme, die sich nicht an eine spezifische Zielgruppe richten (vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2005, S. 62). Die in diesem Rahmen geforderten Angebote und Maßnahmen gehen im Wesentlichen auf die Tradition der klassischen ›Mütterschulen‹ zurück, die dadurch legitimiert wurden, dass die meisten Eltern ihrer Erziehungsaufgabe nicht nachkämen und auch nicht fähig dazu seien (vgl. Kuller 2004, S. 230).29 In den gegenwärtigen Angeboten zeigt sich jedoch eine deutliche inhaltliche Verschiebung von den ursprünglich eher hauswirtschaftlichen Inhalten zu pädagogisch und psychologisch orientierten Themen, die sich bereits in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts abzeichnete. Lengwiler und Madarász (2010) sprechen hierbei von einer »liberalen Wende des Präventionsdiskurses« (S. 22). Erzieher, Juristen, Seelsorger und weitere Professionelle werden hierbei verstärkt in die institutionelle Beratung von Eltern eingebunden, die nun zumeist nicht mehr in ›Mütterschulen‹, sondern in ›Familienbildungsstätten‹ stattfinden, in denen die Entwicklungs- und Persönlichkeitsförderung zum zentralen Thema erhoben wird (vgl. ebd.). Es handelt sich bei diesen Angeboten in erster Linie um universelle Präventionsprogramme zur Steigerung der ›Erziehungskompetenz‹ sowie um selektive Präventionsprogramme, die der Veränderung und Verhinderung eines wahrscheinlich 29

Die erste deutsche Mütterschule wurde im Jahr 1917 von der Kindergärtnerin Luise Lampert in Anlehnung an Friedrich Wilhelm August Fröbel in Stuttgart gegründet und zielte insbesondere darauf, die hohe Säuglingssterblichkeit zu bekämpfen, indem die innere Haltung der Mütter verändert werden sollte (vgl. Kuller 2004, S. 253). Die Einrichtungen und Maßnahmen für Eltern, die meist durch Ärzte, kommunal oder privat getragen wurden, umfassten in der Weimarer Republik vor allem den Bereich der Ehe- und Sexualberatung und richteten sich in erster Linie an Frauen in materieller Not (vgl. ebd., S. 228f.). In der Etablierung der ersten Mütterschulen zeichnete sich somit gleichzeitig die Konstruktion der hilfsbedürftigen Mutter ab, die mittels Armenpflege, Mütterberatung u.Ä. gefördert werden müsse (vgl. Kuhlmann 1989, S. 260). Erziehung müsse die Mutter »ebenso wie jede andere Arbeit, die man auf sich nimmt, einmal gelernt haben« (Hetzer 1929, S. 7).

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

eintretenden oder bereits vorhandenen ungünstigen Verhaltens dienen. Die Eruierung von Risikoindikatoren bietet hierfür die Grundlage (vgl. Kap. III, 3.1), wobei aus Sicht der Alternativnarration stets universellen oder selektiven präventiven Verfahren der Vorzug gegenüber indizierten Präventionsmaßnahmen gegeben werden sollte, da diese nicht erst greifen, wenn bereits »kritisch zu beurteilende Abweichungen oder Störungen aufgetreten [sind], die mit problematischem Erziehungsverhalten in Verbindung stehen« (Lengwiler & Madarász 2010 S. 23). Einen vorläufigen Höhepunkt findet die Debatte um solche Fördermaßnahmen familialer ›Erziehungskompetenz‹ im Jahr 2010 in den Forderungen nach einer »Ausbildung für Eltern« (SZ 11.08.2007) oder dem Erwerb eines »Eltern-Führerscheins« (Der Spiegel 49/2006) bzw. der Durchführung von »Elternführerscheinkursen« (taz 20.12.2010; vgl. auch Hartung 2012, S. 969). Mit Stecher und Zinnecker (2007) lässt sich bei dieser Entwicklung analog zu einer »Scholarisierung« der Kindheit (S. 400) von einer zunehmenden ›Scholarisierung‹ der Eltern sprechen. Im Fokus der (Wieder-)Herstellung familialer ›Erziehungskompetenzen‹ scheinen somit insgesamt vor allem differenzierte, messbare sowie ökonomisch verwertbare Wissensfacetten und Fertigkeiten zu stehen, die komplexere Ausdifferenzierungen in mehrdimensionale Konstrukte erlauben (vgl. Grabowski 2014). Zu nennen wären hier z.B. verschiedene Aspekte früher Bildung (vgl. Die Welt 16.10.2006) oder unterschiedliche »Konfliktbewältigungsstrategien« (FAZ 18.10.2006). Obwohl gerade im Rahmen von Debatten zur Kindesvernachlässigung vor allem Mängel der Betreuung oder ›Versorgungskompetenz‹, d.h. eine Förderung der körperlichen Entwicklung, der Pflege und Ernährung diskutiert werden müssten (vgl. Buschhorn 2012, S. 153), taucht diese Kompetenzfacette in den Imperativen dieser Narrationslinie jedoch kaum auf. Aber auch schwer operationalisierbare Elemente wie Zuwendung und Liebe, Solidarität und Empathie werden zugunsten standardisierter, rationaler Wissensbestände zurückgedrängt und weichen einem Programm der permanenten Wissensaneignung und Bewährung (vgl. Lenz & Scholz 2013, S. 274). Im Vergleich zu den anderen beiden Narrationslinien, die stärker auf natürlich-intuitive und implizite Wissensstrukturen rekurrieren und dabei den Fokus vor allem auf den Ist-Zustand des Kindes richten, scheint der Kompetenzbegriff an dieser Stelle somit deutlich stärker auf bildungsrelevante Inhalte gerichtet, eher kognitiv fundiert und als Prozess und Ergebnis zukunftsorientierter zu sein, wodurch er enger an den Bildungsbegriff gebunden wird: »Während die Erziehung eher auf die Entwicklung weltanschaulicher, ethischer und ästhetischer Einstellungen und Verhaltensdispositionen bezogen ist, betrifft Bildung stärker den Vorgang sowie das Ergebnis der Persönlichkeitsentwicklung in Institutionen durch Vermittlung und Aneignung von in Bildungsprogrammen definierten Inhalten (Wissen) und Qualifikationen (Kompetenzen)« (Reuter 2011, S. 177). Mit dem Imperativ einer professionalisierten Elternschaft, die zum Ziel habe, sich selbst und das Kind zu bilden, ist die ›Natürlichkeit‹ von Erziehung »in Widerspruch getreten zu Prozessen der Pädagogisierung der Kindheit bzw. der familialen Sozialisation einerseits und der tatsächlich komplexeren und vielfältigen Umfeldbedingungen andererseits« (Griese 2007, S. 49). Die bildungsökonomische Begriffsfundierung der vorliegenden Narrationslinie passt auch zu dem Befund von Kilian und Lüttenberg

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Familie unter Verdacht

(2009), dass die sprachlichen Konstruktionen von Kompetenzen mit der Integration bildungsökonomischer Aspekte nach PISA generell nicht nur deutlich zugenommen haben, sondern der Referenzrahmen des Kompetenzbegriffes sowie die Inhalte ›guter‹ Erziehung durch die zunehmende Diffusion bildungswissenschaftlicher und ökonomischer Annahmen in den Bereich (familialer) Erziehung erweitert werden. Dies bedeutet, ›Erziehungskompetenz‹ wird in diesem Verständnis als bildungsökonomischer Sammelbegriff marktgängiger Funktionen gefasst, bei dem qualitative Aspekte elterlicher Erziehung und kindlicher Entwicklung zugunsten des ökonomischen Nutzens, der Evidenz und der Wettbewerbsfähigkeit aus dem Blick geraten (vgl. Seithe & Heintz 2014, S. 11). Die Anforderungen an familiale ›Erziehungskompetenzen‹ werden dabei um organisatorische Fähigkeiten und Managementstrategien ergänzt, die effizient sein müssen; sie fallen somit eher in ein strategisches Wissens- und Qualifizierungsmanagement (vgl. Plankensteiner 2013, S. 9f.; Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2006, S. 13), das vor allem auf explizites Wissen fokussiert, das »artikuliert und übertragen, formalisiert, strukturiert und vermittelt werden kann« (Kübler 2009, S. 125). Der Begriff ›Bildung‹ verweist somit ebenso wie die Subjektpositionen des ›Laien‹ und die des ›unternehmerischen Selbst‹ auf Formen der ›Selbsthilfe‹ bzw. »Prozesse, in denen Individuen sich in Auseinandersetzung mit kulturellen Überlieferungen und eigenen Erfahrungen befähigen, eigensinnig und eigenständig zu denken und zu handeln. Emphatisch formuliert: auf Prozesse der Selbstbildung zum autonomen selbstbewussten und selbstbestimmungsfähigen Subjekt« (Bauer et al. 2012, S. 14). Beabsichtigt sei damit eine positive Einwirkung auf das »Erziehungsverhalten, die Bewältigung alltäglicher schwieriger Situationen bis hin zur Erarbeitung einer verbesserten Alltagsorganisation mit veränderten Strukturen und in den Familienalltag etablierten Ritualen« (Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2005, S. 100): »Es gehe darum, Kinder und Eltern auch in ihrer Beziehung zueinander zu schützen und zu stärken« (Die Welt, 16.10.2006). Somit »muss [es] uns um den Alltag der gefährdeten Kinder gehen« (Der Spiegel 49/2006). Dies impliziere aber auch, dass auf das Angebot ›aufsuchender Hilfen‹ nicht gänzlich verzichtet werden könne: »Familien in Schwierigkeiten brauchen keine Strafmaßnahmen, sondern aufsuchende Hilfe« (taz 04.11.2006), denn »sie sind zunächst durchaus ansprechbar, wenn sie Hilfe angeboten bekommen« (SZ 04.11.2006). »Besser wäre es, Leute einzustellen, die vor Ort helfen« (Der Spiegel 49/2006), denn »wir brauchen Modelle, die früher ansetzen und den Eltern Hilfe anbieten, wenn sie sich überfordert fühlen« (taz 18.12.2007). Dies erfordere jedoch zunächst die Entwicklung von Ansätzen, die bereits pränatal und unmittelbar nach der Geburt von Kindern greifen: »Was tatsächlich fehlt ist eine systematische Begleitung aller Neugeborenen« (FAZ 14.12.2007). Neben geeigneten Angeboten bedarf es aus dieser professionslogischen Perspektive aber auch entsprechender ›Experten‹ im Sinne einer »erweiterten Elternschaft« (Tsokos & Guddat 2014, S. 224), die solche Maßnahmen durchführen und Familien anleiten können (vgl. Kap. III, 3.2.3). Konkret gefordert wird daher nicht nur, dass Eltern je nach persönlichem Förderbedarf »speziell geschult« (FAZ 04.11.2006) und professionalisiert werden, sondern auch, dass z.B. »mehr Medizinkenntnisse in den Jugendämtern« (FAZ 15.04.2009) erworben werden. »Gerade, weil die Anforderungen unübersichtlicher gewor-

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

den seien, müssten Jugendämter professionell geführt werden […]. Außerdem sind sie dringend auf Supervision und Weiterbildung angewiesen« (SZ, 14.04.2008a). Aufgefordert, sich mit immer mehr pädagogischem, juristischem und behördlichem Wissen auszustatten, sind neben den Familien und Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe besonders Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen: »Viele Ärzte wissen über ihre Rechte und Pflichten im jeweiligen Bundesland nicht Bescheid« (SZ 20.07.2009), d.h., »letztlich fehle es den meisten Medizinern nämlich nicht an Mumm, sondern schlicht an der Diagnosesicherheit bei solch kritischen Verdachtsfällen – und falsche, weil voreilige Beschuldigungen, die eine Mutter in Untersuchungshaft bringen, würden schließlich auch den betroffenen Kindern wenig helfen« (Der Spiegel 51/2007). »Es hilft einem gefährdeten Kind auch nicht, wenn die Hebamme in einer Geburtsklinik die Risiken in einer Familie erkennt, aber dann nicht weiß, mit wem in den Ämtern sie sich besprechen kann« (SZ 24.10.2011). Eine »Initiative schult im Saarland und in einigen Kreisen in Hessen flächendeckend Krankenhäuser und Ärzte« (SZ 19.12.2007b). Man müsse aber auch generell »Standards sichern und Impulse für eine gezielte Qualitätsentwicklung geben« (FAZ 17.11.2012), die als »Orientierungs- und Vergleichsrahmen« (Schäfer & Thompson 2015, S. 8) dienen und im Idealfall so operationalisiert werden können, dass sie sich präzise messen und hinsichtlich ihrer Risikopotenziale kalkulieren lassen. Es gehe darum, »verbindliche Maßstäbe zu entwickeln, wann sich ein Kind in einer kritischen Situation befindet. Ein Wörterbuch der dafür notwendigen Begriffe soll die Verständigung zwischen allen beteiligten Akteuren erleichtern. Geplant ist auch ein Handbuch mit sozialrechtlich und datenschutzrechtlichen Aspekten. ›Wir brauchen klare Strukturen für die Zusammenarbeit‹« (Die Welt 04.11.2006a), »evidenzbasierte Qualitätsstandards« (FAZ 17.11.2012) und bedürfen »fachlicher Kriterien« (taz 14.10.2006b). Diskussionen um Potenziale und Möglichkeiten des Ausbaus und der Weiterentwicklung vorhandener Richtlinien und Angebote können im gesamten Zeitverlauf der Debatten bis in die Gegenwart hinein immer wieder durch Fälle wie ›Kevin‹ bestärkt und legitimiert sowie entsprechend aktualisiert und erweitert werden: »Für die Verwirklichung von Lösungen braucht es systematische Konsensfindungsprozesse zwischen den Professionen, kontinuierliche Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote, eine Verbesserung der Möglichkeiten der Krankenversorgung, eine Reform des sozialen Entschädigungsrechts und endlich eine rechtliche und finanzielle Absicherung von Beratungsansprüchen Betroffener und der Selbsthilfearbeit. Notwendig ist auch die Verbesserung der Perspektiven fremduntergebrachter Kinder unter Berücksichtigung der Unterstützungsbedarfe der leiblichen Eltern. Neue Herausforderungen durch digitale Entwicklungen müssen ebenso aufgegriffen werden wie neue Erkenntnisse in den Tatsachenwissenschaften in ihrer Bedeutung für die Rechts- und Hilfepraxis« (FAZ 10.07.2018). In den aufgeführten Bewältigungsvorschlägen familialer ›Erziehungsinkompetenz‹ im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ zeigt sich hierbei insgesamt – ähnlich wie in der Gegennarration – deutlich die Vorstellung eines ›minimalen Staates‹, der nur in ›Einzelfällen‹ bzw. unter Vorzeichen der Risikobehaftung eingreift. Anders als bei der Gegennarration soll dessen Aufgabe jedoch nicht vorrangig darin bestehen, strukturelle Rahmenbedingungen zur (Wieder-)Herstellung von ›Erziehungskompetenzen‹ bereitzustellen,

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Familie unter Verdacht

sondern vor dem Hintergrund entwicklungs- und handlungsfähiger Subjekte vor allem Möglichkeiten der ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ zu schaffen. Im Vordergrund steht die Herausbildung von Praktiken, die das System der Kinder- und Jugendhilfe als wichtige Dienstleistungsorganisation und tragende Säule im Risikomanagement fördern, es gleichzeitig aber auch strukturell entlasten.

3.4.2.

Die Ausweitung und Verstetigung einer prädiktiven Sicherheitsordnung

Parallel zur narrativen Einschreibung und Legitimierung präventiver Unterstützungsangebote und -maßnahmen in die Debatten um familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Rahmen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung entwickeln sich im Diskursverlauf eine Vielzahl von Infrastrukturen, die diesem Verständnis entsprechen. Bereits das im Jahr 2005 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK) befasst sich im Rahmen der Neuregelung des § 8a SGB VIII mit Verfahren zur Abwendung einer unmittelbar drohenden Kindeswohlgefährdung, die entsprechende Indikatoren bzw. »gewichtige Anhaltspunkte« (§ 8a Abs. 1 SBG VIII) und eine enge Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure erfordern. Fälle wie ›Kevin‹ können hierbei – wie auch der Fall ›Pascal‹ verdeutlicht (vgl. Kap. II, 2.2.1) – als wichtige Wegbereiter und ›Dringlichkeitsindikatoren‹ bei der Einführung und Umsetzung solcher Maßnahmen angesehen werden. Dies zeigt sich auch in der Etablierung zahlreicher Modellprojekte unmittelbar nach dem Fall ›Kevin‹, die nicht in allen Ausführungen oder Einzelelementen als ›Kontrollen‹ erachtet werden können (vgl. Kap. III, 1.4.3), sondern mitunter auch als frühzeitige und kalkulierte Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung in den Diskurs eingehen. Entsprechende Projekte wurden vor allem in jenen Gemeinden implementiert, in denen sich bereits medienwirksame Fälle ereignet haben. Zu nennen ist hier z.B. das Programm ›Guter Start ins Kinderleben‹. Hierbei handelt es sich um eines der ersten vom Bundesfamilienministerium initiierten Modellprojekte, die in den Wochen nach dem Leichenfund Kevins auf den Weg gebracht wurden: Es »findet jeweils in mindestens einer Stadt und einem Landkreis in Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz und Thüringen statt« (taz 04.11.2006). »Fachleute wollen Familien, die sie für gefährdet halten, Hilfe anbieten« (taz 04.11.2006). »Der Alltag der Mütter wird unter anderem mit einem Video dokumentiert, um ihnen Fehler im Umgang mit ihren Kindern vor Augen zu führen« (Die Welt 04.11.2006a). ›Pro Kind‹ stellt ein weiteres vom Bundesfamilienministerium ins Leben gerufenes Modellprojekt dar, das ebenfalls unterstützende Angebote bereithält: »In Hannover, Braunschweig, Göttingen, Wolfsburg und Celle sollen Familienhebammen ab November 280 werdende Mütter betreuen, die mit einem Baby eventuell überfordert wären. Nach Hinweisen von Ärzten, Mitarbeitern in Beratungsstellen oder Lehrern bekommen ausgewählte Schwangere ab dem vierten Monat Unterstützung angeboten« (Die Welt 14.10.2006a). Hebammen sollen »schon vor der Geburt in die Familien gehen, um überforderten Paaren zu helfen, und danach, um auch Gefahren rechtzeitig zu erkennen« (Der Spiegel 48/2007).

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

Ein ähnliches Vorgehen zeigt sich im Rahmen des ›Dormagener Modells‹. Hier »erhalten alle Eltern von neugeborenen Kindern Besuch von einem Vertreter der Kommune, der eine Ratgeberbroschüre überreicht und der Familie Hilfe anbietet« (Die Welt 01.07.2009). In Hamburg hingegen »kommen Paten des Kinderschutzbundes schon in die Entbindungsstationen und bieten Hilfe an« (taz 18.12.2007). Genauso im Programm ›ISPA‹ in Iserlohn, dem Ort, in dem im Sommer 2007 »im Alter von nur drei Monaten« der »kleine André« stirbt (Die Zeit 51/2007c). Die Initiative ›KFDN (Keiner fällt durchs Netz)‹ zielt ebenfalls durch die Bereitstellung speziell geschulter Hebammen darauf, frühe Zugänge zu belasteten Familien zu schaffen und Unterstützungsangebote bereitzustellen, da »die Hilfsangebote für notleidende Familien und schutzbedürftige Kinder in Deutschland unterentwickelt seien« (FAZ 20.02.2008) und sich Fälle wie der von ›Kevin‹ vermeintlich insbesondere in Familien ereignen, die wenig Unterstützung durch ein funktionierendes soziales Netzwerk erfahren (Die Zeit 43/2006a). Daher »müssen in den Kommunen, in jedem einzelnen Stadtviertel enge Strukturen geknüpft werden, mit denen Eltern kontinuierlich, informell und zwanglos unterstützt werden« (taz 18.12.2006b). Der angestrebten Vernetzung und Verstetigung solcher Maßnahmen und Angebote kommt die Gründung des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) im Jahr 2007 entgegen, das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ins Leben gerufen wurde und als »eine Einrichtung [gilt], die eine intensivere Zusammenarbeit von Gesundheitsvorsorge sowie Kinder- und Jugendhilfe anstrebt« (Die Welt 12.07.2007) und öffentlichkeitswirksam arbeitet (vgl. auch Kap. II, 2.2.3). Das NZFH kann daher auch als institutionalisiertes Risikomanagement familialer Erziehung verstanden werden, bei dem Systeme aus den Bereichen Frühförderung, Schwangerschafts(konflikt)beratung, medizinische Versorgung/Gesundheitsförderung sowie Kinder- und Jugendhilfe mit gesetzlichen Normen verknüpft und zentral gebündelt werden (vgl. Sann & Schäfer 2008, S. 106). Als zentrale Einrichtung des präventiven Kinderschutzes soll es in erster Linie Frühe Hilfen fördern, unterstützen und begleiten und entsprechende Angebote der verschiedenen Bereiche koordinieren (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S. 13). Anspruch auf Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 bis 35 SGB VIII haben Familien dann, wenn »eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet« (§ 27 Abs. 1 SGB VIII) werden könne, die Grenze für eine Gefährdung des Kindeswohls aber noch nicht überschritten sei, so dass einer Verfestigung ›inkompetenter‹ Erziehungsbedingungen noch entgegengewirkt werden könne (vgl. Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention: Informationszentrum Kindesmisshandlung/Kindesvernachlässigung 2006, S. 62). Der Begriff ›Frühe Hilfen‹ soll dabei den eher negativ konnotierten und in der Vergangenheit mit ›Katastrophenschutz‹ assoziierten Begriff des ›Frühwarnsystems‹ ablösen und den Hilfeaspekt stärker in den Vordergrund rücken (vgl. Mertens & Pankofer 2011, S. 112). Bislang finden jedoch beide Begriffe diskursiv Anwendung und werden je nach Form und Zielsetzung der Maßnahmen präferiert (vgl. Kap. III, 1.4.1). Erste Aktivitäten des NZFH gab es bereits vor der offiziellen Gründung im Rahmen des Nationalen Aktionsplans für ein kindergerechtes Deutschland (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2006). In diesem sind umfangreiche Maßnahmen aufgeführt, »mit denen die Bedingungen des Aufwachsens verbessert und

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Familie unter Verdacht

die Rechte von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien gestärkt werden können« (ebd.). Zudem legte das BMFSFJ bereits im Jahr 2007 das Handbuch »Familienbildung als Angebot der Jugendhilfe« als »eine umfassende Darstellung der Familienbildung als Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe« (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2007) vor. Im Rahmen des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) wurden die Frühen Hilfen für Familien im weiteren Verlauf dann immer weiter ausgebaut und hierbei ein Rahmen geschaffen, gezielter auf Familien einzuwirken und Kinder dadurch wirksamer vor Misshandlung und Vernachlässigung zu schützen. Im Sinne einer möglichst frühzeitigen Präventionsarbeit wurde der Adressatenkreis im Jahr 2012 mit der Einfügung von § 16 Abs. 3 SGB VIII zur Konkretisierung der Regelungen zur allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie entsprechend dem frühpräventiven Charakter der vorliegenden Narrationslinie ausdrücklich auf werdende Eltern erweitert: »Müttern und Vätern sowie schwangeren Frauen und werdenden Vätern sollen Beratung und Hilfe in Fragen der Partnerschaft und des Aufbaus elterlicher Erziehungs- und Beziehungskompetenzen angeboten werden« (§ 16 Abs. 3 SGB VIII). Hierzu sollen vor allem niedrigschwellige Bildungsangebote für Eltern entwickelt werden, die »das empirisch geprüfte Wissen über kindliche Entwicklungsprozesse und konkretes erzieherisches Handeln im Alltag vermitteln. Hauptzielgruppen sollen junge und künftige Eltern sowie Eltern, die zu bestimmten Problemen Klärungsbedarf haben, sein« (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005b, S. 24ff.).Gleichzeitig kommt dies durch eine im Vergleich zur ursprünglichen Fassung im Jahr 2009 deutlich offenere Formulierung der Regelpflicht zu Hausbesuch und Inaugenscheinnahme bei Anhaltspunkten (Art. 2 BKiSchG) auch den Forderungen entgegen, repressive aufsuchende Maßnahmen nach Möglichkeit zugunsten freiwilliger Angebote zurückzunehmen. Das Jugendamt ist demnach nur dann zum Hausbesuch verpflichtet, wenn dies nach fachlicher Einschätzung des Risikos im Einzelfall geboten erscheint. Dies treffe nur dann zu, »wenn dadurch der wirksame Schutz des Kindes nicht in Frage gestellt ist und die Durchführung des Hausbesuchs nach fachlicher Einschätzung erforderlich ist« (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2018a). Andernfalls können Alternativen gewählt werden. Ein weiterer zentraler Baustein der Initiativen zu Frühen Hilfen und deren Verzahnung sowohl untereinander als auch mit anderen Systemen stellen die im Jahr 2009 eingerichteten ›koordinierenden Kinderschutzstellen‹ (Koki) dar (vgl. Mertens & Pankofer 2011, S. 115f.). Sie können als Reaktion auf die Forderungen verstanden werden, die »Arbeit der Jugendämter soll[e] effizienter werden« (Die Welt 17.06.2009). Hinsichtlich der geforderten Effizienz von Maßnahmen und Angeboten aus dem Spektrum Früher Hilfen sind zudem in einem ›Qualitätsarbeitsbuch‹ entsprechende »Verfahrensstandards beschrieben und festgehalten worden« (FAZ 18.07.2007). Hierunter kann auch die Entwicklung verschiedener standardisierter Bögen gefasst werden, mittels derer ›Risikofaktoren‹ kindlicher Entwicklung erfasst und festgehalten werden können: »Im Bezirk Berlin-Reinickendorf arbeiten die Mitarbeiter des Jugendamtes daher mit Vorgaben, die sich an den so genannten Stuttgarter Kinderschutzbogen anlehnen. Darin wird zur

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

Risikoermittlung etwa die körperliche und seelische Verfassung des Kindes abgeschätzt, aber auch die Beziehung der Eltern zum Kind und deren soziale Situation« (taz 14.10.2006b). Entsprechende Kriterien einer ›normalen‹ kindlichen Entwicklung werden z.B. durch den gemeinsamen Bundesausschuss geregelt (§ 26 Abs. 2 SGB V). Die Implementierung Früher Hilfen ist somit insgesamt im Sinne einer Schutzmaßnahme von Kindern weniger als Erstreaktion auf Gefahren bzw. eines Versagens familialer ›Erziehungskompetenzen‹ zu erachten, sondern als Bündel von Maßnahmen, die sich mit effizienten Möglichkeiten und Fragen des ›wirksamen und unwirksamen Kinderschutzes‹ (vgl. FAZ 08.01.2008) befassen. Einer solchen inhaltlichen Ausgestaltung wird auch mit dem ›Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (§ 3 KKG) entsprochen. Das Gesetz regelt seit dem Jahr 2012 nicht nur die Rahmenbedingungen verbindlicher Netzwerke im Kinderschutz (§ 3 Abs. 1 KKG), sondern mit Einführung von § 3 Abs. 4 und § 74 Abs. 1 b KKG besteht auch die juristische Verpflichtung, dass durchgeführte Leistungen »die Situation von Kindern und Jugendlichen in vielen Lebensbereichen wirksam verbessern« (Der Spiegel 33/2014) müssen. Die Qualitätsentwicklung wird nun Bestandteil der Gewährleistungspflicht des Trägers (§ 79 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Das verpflichtet ihn nicht nur zur Weiterentwicklung, Anwendung und Überprüfung von Grundsätzen und Maßstäben für die Bewertung der Qualität sowie zu geeigneten Maßnahmen zu ihrer Gewährleistung (§ 79 a), sondern lässt die Entwicklung fachlicher Standards zum Teil der Gesamtverantwortung werden (§ 79 Abs. 2 SGB VIII-E). Qualitätsentwicklung und -sicherung werden hierbei auch zur Voraussetzung für die finanzielle Förderung von Maßnahmen (§ 74 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1). Dementsprechend werden im Rahmen der Verabschiedung des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) auch Paragraphen im SGB VIII ergänzt, die Erhebungsmerkmale regeln und Maßnahmen und Entwicklungen nachvollziehbarer sowie deren Steuerung zielsicherer und effektiver machen (Verbesserung der Statistik zum Kinderschutz: §§ 98, 99 SGB VIII-E). Die Einführung von Kinderschutzerhebungen in die Kinder- und Jugendhilfestatistik soll darüber hinaus dazu dienen, die statistische Datenlage zu verbessern und wertvolle Hinweise auf Indikatoren zu liefern (§§ 98, 99, 103 SGB VIII-E). Ebenfalls in den Rahmen des Verständnisses von Erziehung als Tausch- und Lernwelt lassen sich auch die deutlichen Professionalisierungsbestrebungen der vergangenen Jahre einordnen, die sich z.B. in der Akademisierung des Erzieherberufes, der Entstehung und des Ausbaus von Interessenverbänden, der Erweiterung und inhaltlichen Neujustierung der Weiterbildungslandschaft sowie dem Wachstum von Ressourcen zur disziplinären Wissensproduktion zeigen (vgl. Wildgruber & Becker-Stoll 2011, S. 63). Solche Tendenzen spiegeln sich auch in den Inhalten vieler Modellprojekte wider. So werden für das Dormagener Modell z.B. »Ärzte und die freien Träger von Kitas geschult« (taz 28.10.2006b), und auch in den Projekten ›Ekib‹ und ›ISPA‹ (Iserlohner Paten) agieren »extra ausgebildete Paten« (taz 28.10.2006b). Mitunter werden auch Ehrenamtliche durch Erziehungs- und Familienberatungsstellen geschult, um Eltern zu unterstützen (vgl. FAZ 18.07.2007). Das eingerichtete NZFH fördert neben dem Auf- und Ausbau unterstützender Leistungen für Familien auch Qualifizierungsangebote für Fachkräfte zur Wahrnehmung und Einschätzung von Risiken und Belastungen, welche die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Arbeitsbereich der Frühen Hilfen fördern sollen (vgl.

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Familie unter Verdacht

Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S. 13). Allein um die Einhaltung der Richtlinien in § 1666 Abs. 3 BGB bei den Trägern zu gewährleisten, wurden im Jahr 2008 über tausend Kinderschutzfachkräfte ausgebildet (vgl. Schimke 2012, S. 174). Das entspricht ebenfalls der narrationsimmanenten Annahme, nur »geschultes Personal könne beobachten, was die Kinder wollen, und ihre Einschätzung an Richter weitergeben« (Der Spiegel 33/2014). Einen weiteren Schub verzeichnen solche Professionalisierungstendenzen im Rahmen der Missbrauchsskandale in den 2010er Jahren: »Fast alle Berufsgruppen haben sich seit dem sogenannten Missbrauchsskandal 2010 durch Aus-, Fort- und Weiterbildung qualifiziert. Digitalisierung und e-Learning spielen für den Wissenstransfer eine immer größere Rolle. Entsprechende Programme müssen als dauerhaft lernende und sich weiterentwickelnde Plattformen verstetigt werden. Fortbildungspflichten wie in den Heilberufen oder bei Fachanwälten unterstützen die Verbreitung entsprechenden Wissens. Allein die Richterschaft, die über den sensibelsten Bereich entscheidet, nämlich über Eingriffe in Grundrechte, wurde unter Hinweis auf die richterliche Unabhängigkeit bislang systematisch von einer Fortbildungspflicht ausgenommen. Wenigstens die freiwillige Teilnahme an qualitätsgesicherten Fortbildungsprogrammen sollte unmittelbar durch eine Anrechnung auf die Pensen gefördert werden. Darüber hinaus müssen trotz der eher zaghaften Andeutungen im Koalitionsvertrag Fortbildungsverpflichtungen auch für Richter die Regel werden« (FAZ 10.07.2018). Begleitet werden diese Entwicklungen von einem enormen Zuwachs (populär-)wissenschaftlicher Ratgeberliteratur, die sich sowohl an Eltern als auch an professionelle Fachkräfte richtet (vgl. auch Kap. II, 2.2.3). Das führt gleichzeitig zu einer tendenziellen Abwertung aller Wissensformen, die nicht professioneller Feder entsprungen sind. Den weiteren Aus- und Aufbau Früher Hilfen sowie den Einsatz von Familienhebammen unterstützt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Zeitraum 2012-2016 durch eine auf vier Jahre befristete Bundesinitiative, die mit 51 Millionen Euro ausgerüstet wurde. Um das Engagement der Bundesinitiative weiter zu verstetigen, hat der Bund im Anschluss daran einen Fonds zur Sicherstellung der Netzwerke und der psychosozialen Unterstützung von Familien angelegt (§ 3 Abs. 4 KKG). Die daraus hervorgehende Bundesstiftung Frühe Hilfen hat im Januar 2018 ihre Arbeit aufgenommen und alle wichtigen Akteure im Kinderschutz, wie z.B. Jugendämter, Schulen, Ärzte, Beratungsstellen und Polizei, in einem Kooperationsnetzwerk vereinigt. Der Stiftung steht nun ein dauerhafter jährlicher Etat in Höhe von 51 Millionen Euro zur Verfügung (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2018a). Entsprechend der Annahme, dass es nicht nur »angesichts der Fälle misshandelter und verwahrloster Kinder in jüngster Vergangenheit« notwendig sei, »konkrete Hilfe zu leisten« (Die Zeit 49/2011) und diese zu verstetigen, sondern auch »bereits funktionierende Initiativen bekannt zu machen« (ebd.), wurde hierfür in § 2 KKG auch eine juristische Verbindlichkeit zur Information der Eltern über Unterstützungsangebote in Fragen der Kindesentwicklung verankert: Eltern sowie werdende Mütter und Väter sollen über Angebote in der lokalen Umgebung zur Beratung und Hilfe in Sachen Schwangerschaft, Geburt und kindliche Entwicklung in den ersten Lebensjahren informiert werden (§ 2 Abs. 1, 2 KKG). Mit dem Netzwerk Frühe Hilfen konnte somit ein Bündel an Maßnahmen institutionalisiert werden, das die Narrative einer kalkulier-

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

ten frühzeitigen Präventionsarbeit, insbesondere in Form einer ›Hilfe zur Selbsthilfe‹, entscheidend unterstützt.

3.5.

Synopse der Erzählstruktur und Leitkonzepte narrativer Sinnstiftung

Die Erzählstruktur der Alternativnarration beginnt ebenso wie die Gegennarration mit der Anknüpfung an die inszenierte Gefahrenlage der Ausgangsnarration auf der zweiten Stufe von Blumers ›Karriereleiter sozialer Probleme‹ (1975). Sie verläuft dann vor allem entlang der ›Legitimation‹ und Darbietung alternativer Handlungspläne und Formen der Problembewältigung. Dies geschieht im Wesentlichen auf der Basis strategischer Umdeutungen von Konzepten der Ausgangs- und Gegennarration: erstens der Transformation der Ursachenattribuierung einer unberechenbaren Gefahrenlage in ein kalkulierbares Risiko und zweitens der Überführung eingeschränkt handlungsmächtiger Subjektpositionen in handlungs- und entwicklungsfähige Akteure. Hierbei wird eine Perspektive entworfen, innerhalb derer Subjekte vor allem im Hinblick auf ihren Wert als Humanvermögen betrachtet werden, das zum Gegenstand von Messbarkeit und systematischer Risikominimierung wird. Dies geschieht vor allem über normalisierende Strategien der Standardisierung und Ökonomisierung sowie der Aktivierung und Professionalisierung. Sie münden letztlich in zwei übergeordneten Leitkonzepten narrativer Sinnstiftung: in der strategischen Inszenierung eines ›performativen Spielfeldes‹, das den Akteuren innerhalb eines kalkulierbaren Schadenpotenzials und der Grenzen des ökonomisch Machbaren einen verhältnismäßig großen ›Spielraum‹ zur Selbststeuerung und Selbsthilfe gewährt, sowie in einem entsprechenden ›aktivierenden Risikokonzept‹ im Rahmen der potenziellen Bewältigungsmöglichkeiten. Das ›performative Spielfeld‹ setzt sich im Wesentlichen aus metaphorischen Elementen des ›Spiels und Wettkampfs‹, insbesondere dem Training, den Hürden und diversen ökonomischen Sprachbildern zusammen (vgl. Tab. 4). Die Zentralmetaphorik des Spiels ermöglicht vor allem die narrative Verknüpfung von Handlungsfähigkeit und Verantwortung sowie von Leistung und Erfolg. Sie werden als entscheidende Voraussetzung für die ›Ausführung des Handlungsplans‹ in Form einer Etablierung von ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ als risikobasiertes Kontrollsystem angesehen. Abbildung 5 zeigt die einzelnen Elemente, die im Wesentlichen zur narrativen Strukturierung der Linie beitragen. Als zentrale Erfolgsfaktoren können hierbei die Überwindung des Behandlungspessimismus der Ausgangsnarration sowie der Erhalt des Glücks- und Gerechtigkeitsversprechens der Gegennarration erachtet werden. Da allen Akteuren der Status handlungsmächtiger Subjekte zugewiesen und keinem der beteiligten Akteure ein absolutes Versagen unterstellt wird, ist darüber hinaus anzunehmen, dass dieses Alternativnarrativ bei einem breiten Publikum Zuspruch erfährt.

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Quelle: eigene Darstellung

Spiel und Wettkampf als performatives Handlungsfeld aktiver Subjekte

Konzeptuelle Zentralmetaphorik

Erziehung als lernund ›trainierbare‹ Leistung

Ungünstige Rahmenbedingungen als Hürden

Erziehung als rationales Versorgungsund Tauschgeschäft

Hürden

Ökonomische Sprachbilder

Referenzbereich

Training

Ontologisch

Konzeptbereich

Die Subjekte als ›souveräne Marktteilnehmer‹

Belastete Familien

Scheiternde und gewinnende Subjekte

Referenzsubjekt

Tabelle 4: ›Spiel und Wettkampf‹ als Zentralmetaphorik der narrativen Sinnstiftung

Aufbau eines effizienten Risikomanagements

Überwindung der Hürden durch die Subjekte

Belastende äußere Einflüsse wie z.B. ökonomische Unsicherheiten Rationalisierung von Erziehungsprozessen

Aktivierung, Leistungssteigerung

Zielbereich

Erfolg als Resultat aktiver Leistung, Misserfolg als Resultat mangelnder Leistung

Signatum

210 Familie unter Verdacht

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

Abbildung 5: Zentrale Strukturelemente der Alternativnarration

Quelle: eigene Darstellung

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4.

Der Dualismus von Tradition und Innovation – Ein modernisierungs- und ritualtheoretischer Blick auf die Diskurskarriere der Erzählstrukturen

Die Rekonstruktion der narrativen Strukturen in der massenmedialen Darstellung der Ereignisse im Fall ›Kevin‹ und weiteren Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zeigt, dass die Anerkennung und Institutionalisierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Wesentlichen anhand drei konkurrierender Narrationslinien verläuft, die hinsichtlich wahrgenommener Problembestandteile, Ursachen und Lösungen mitunter weit auseinandergehen (vgl. Kap. III, 1-3). Es ist davon auszugehen, dass die einzelnen Elemente den Diskurs nicht nur in unterschiedlicher Art und Weise beeinflussen, sondern dies auch in unterschiedlichem Ausmaß geschieht. Insofern verlaufen die Problemkarrieren der einzelnen Narrationslinien nicht parallel und linear, sondern sind von unterschiedlichen Dynamiken, Inkonsistenzen, Brüchen und Ambivalenzen geprägt. Hier spielen auch aktuelle Ereignisse und Kontexte sowie der »Zeitgeist und die damit verbundenen gesellschaftlichen Stimmungen« (Baader 2014, S. 447f.) eine große Rolle. Zwar scheinen alle Narrationslinien das letzte Karrierestadium der Problemetablierung erreicht zu haben, d.h., alle Problemwahrnehmungen haben öffentliche und staatliche Anerkennung gefunden und auch die darin aufgezeigten Lösungsvorschläge wurden in unterschiedlicher Weise institutionalisiert. Es ist jedoch anzunehmen, dass zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschiedene Narrationslinien und Strukturelemente den Diskurs dominieren, während andere zeitgleich an Bedeutung verlieren. Die Einzelbetrachtung der Narrationslinien lässt daher nur bedingt Rückschlüsse auf hegemoniale Deutungen und Entwicklungen in Bezug auf das Phänomen familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ zu. Um konkretere Hinweise auf den Erfolg und die Wirkmacht einzelner Sinn- und Infrastrukturen zu erhalten, werden daher im Folgenden die Dynamiken und Verläufe der Narrationslinien, die gemeinsam die Diskurskarriere bilden, aus diachroner Perspektive in ihrer Gesamtheit und Relation betrachtet. Hierbei lassen sich im Wesentlichen vier Phasen nachzeichnen: die Polarisation der Konzepte in der Etablierungsphase (vgl. Kap. III, 4.1), die Transformation und Transkription etablierter Deutungsinhalte in einer liminalen Phase (vgl. Kap. III, 4.2.1), die zyklische Virulenz der Narrationslinien in der Phase der (Wieder-)Eingliederung und (Re-)Stabilisierung (vgl. Kap. III, 4.2.2) sowie die Verankerung und Archivierung der Narrative in einem kohärenten Deutungsmuster und einem pluralistischen Verständnis familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ (vgl. Kap. III, 4.3). Die Aufrechterhaltung dieses »Rationalitäten-Pluralismus« (Abels 2009, S. 12) stellt hierbei keine »Sachnotwendigkeit« (Groenemeyer 2010, S. 32) dar, sondern verweist vielmehr auf die Existenz unterschiedlicher »kultureller Kategorisierungsschemata sozialer Probleme« (ebd.), die immer auch stark von dem jeweiligen ›ideengeschichtlichen Zeitgeist‹ geprägt sind und aus modernisierungstheoretischer Perspektive insbesondere anhand der »Freisetzung der Individuen aus traditional gewachsenen Bindungen, Glaubenssystemen und Sozialbeziehungen« (Peuckert 2008, S. 326) erklärt werden können. Mittels Theorien der späten Moderne kann die narrative Struktur des Diskurses daher auch als Krisenerzählung gefasst werden, die im Wesentlichen durch Diagnosen der Pluralisierung, Säkularisierung und Individuali-

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sierung geprägt ist (vgl. z.B. einschlägig Beck et al. 2001; Giddens 1995a; Nassehi 2006). Dabei werden das Ausmaß und der Verlauf dieser gesellschaftlichen Prozesse aus den verschiedenen Perspektiven der Narrationslinien sehr unterschiedlich eingeschätzt und sowohl mit einer vermeintlichen Erosion und Ent-Traditionalisierung von Familien (vgl. Kap. III, 4.1.2) als auch mit Auffassungen eines strukturellen Wandels als Chance in Verbindung gebracht (vgl. Kap. III, 4.2.1).

4.1. 4.1.1.

Der Fall ›Kevin‹ als Krisenerzählung einer entgleisten Modernisierung Erfolgsfaktoren der polarisierenden Konzepte zu Beginn der Diskurskarriere

Mit der diskursiven Einschreibung familialer ›Erziehungsinkompetenz‹ als eine sich vermeintlich ›ausweitende Katastrophe‹ sowie deren Legitimierung und ›explosive Verbreitung‹ tritt der Sachverhalt bereits unmittelbar nach dem Leichenfund Kevins als anerkanntes Problem in die öffentliche Diskussion um innerfamiliale Kindesmisshandlung und -vernachlässigung ein (vgl. auch Kap. II, 2.2.4). Unter Berücksichtigung der Ritualtheorie Turners (1989) kann diese ›diskursive Explosion‹ daher auch als »soziales Drama« (S. 251) gefasst werden, das einen Bruch mit etablierten Wissensordnungen auslöst, der zu »Unterbrechungen der Routine« (Jaeggi 2004, S. 361) und Störungen anerkannter Ordnungsstrukturen im Hinblick auf Familie und Erziehung führt. Diese Störung wird narrativ zu einem krisenhaften ›Horrorszenario‹ ausweitet, das Debatten um Erziehung auslöst, die Familie aus einer privaten Sphäre herauslösen und sie als zentrale Institution des Aufwachsens in Frage stellen. Etablierte Praktiken werden hierbei als nicht ausreichend erachtet bzw. bewährte Reaktionen und Lösungen des Problems scheinen nicht mehr zu greifen und somit nicht mehr ausreichend legitimiert. Vor allem die Beziehungen von Deutungen und Praktiken zu den sie regelnden Institutionen und Konventionen werden in der skandalisierenden Ausgangsnarration inkohärent und scheinen nicht mehr im Einklang mit familialen und gesellschaftlichen Funktionssystemen zu stehen. Die in der Ausgangsnarration verbreiteten Wissensstrukturen müssen sich jedoch bereits zu Beginn der massenmedialen Verhandlungen den Logiken der Gegennarration stellen. Damit zeigt sich schon unmittelbar nach dem Leichenfund Kevins eine ausgeprägte Polarisation in der Wahrnehmung der Ereignisse, der Subjektpositionen und der entsprechenden Lösungsmöglichkeiten, die für die weitere Problemwahrnehmung konstitutiv zu sein scheint. Indem die Ereignisse im Fall ›Kevin‹ an die jeweiligen Wertvorstellungen der beiden Narrationslinien angebunden werden, etablieren sich mitunter widersprüchliche Auffassungen einer »notorisch kriminellen Energie« (Kersten 2012, S. 7) und einem »Durchschnittsversagen« (ebd.) von Familien einerseits sowie deren Positionierung als Opfer ›übergriffiger‹ Jugendämter anderseits, die beide im Rahmen der öffentlichen Meinungsbildung massenmedial verbreitet und diskutiert werden. Der Fall ›Kevin‹ markiert somit eine entscheidende »Wegmarke« (Mikler 2005, S. 80), an der divergierendes Wissen und dessen Verschiebungen diskursiv werden und sich ein erklärungsbedürftiger Wandel im gesellschaftlichen Denken über familiale Erziehung im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung abzeichnet.

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Aus modernisierungstheoretischer Perspektive verweisen die unterschiedlichen Sinnkonstitutionen in erster Linie auf bereits vorangegangene gesellschaftliche Wandelprozesse, in denen bestimmte Deutungen von Familie und Erziehung Teile ihrer kollektiven Selbstverständlichkeit schon verloren haben. Mit dem Fall ›Kevin‹ werden diese zunehmend »widersprüchlich, konflikthaft, individuumabhängig, erweisen sich als zustimmungsbedürftig, auslegungsbedürftig, offen für interne Koalitionen und soziale Bewegungen« (Beck 1991, S. 50). Begünstigt wird dies durch die generellen Veränderungen der Institution Familie. Sie hat sich, wie die Sozialwissenschaften zeigen, in den vergangenen Jahrzehnten von einer beständigen und dauerhaften sowie weitestgehend autonomen Institution zu einem Konstrukt entwickelt, dessen Inhalt und Funktion durch die rechtlichen Grundlagen zwar weitestgehend staatlich bestimmt werden, an die aber gleichzeitig auch ein zunehmender Pluralismus konkreter Anforderungen und Erwartungen herangetragen wird. In den Vordergrund treten die gelebten Beziehungen und deren Dynamik, in der sich Paare über ihre Erwartungen und Vorstellungen von Elternschaft verständigen und Kompromisse aushandeln müssen. Die Rede ist von einem Abbau von Hierarchien und dem Verlust verbindlicher (Geschlechter-)Rollen in Form eines Wandels vom »Befehlshaushalt« zum »Verhandlungshaushalt« (Nave-Herz 2012, S. 45; Peuckert 2007, S. 51f.). König (1974) spricht bereits in den frühen 1970er Jahren von »rein familialen Leistungen« (S. 69), deren Inhalte immer weniger durch bestimmte Normen definiert werden und den beteiligten Akteuren zunehmende Freiheiten in der Ausgestaltung lassen. Familie und Elternschaft stellen somit Institutionen dar, die immer weniger durch ein bestimmtes Verhalten, gesellschaftlich definierte Hierarchien oder Aufgabenverteilungen, sondern vielmehr durch ihre individuelle Ausgestaltung gefasst werden (vgl. Finger-Trescher 2010, S. 20f.). Damit hat sich vor allem die Ehe als einst fester und verlässlicher Bestandteil der Familie zu einer formal unverbindlichen Beliebigkeit entwickelt. Nach Helming (2014) findet Familie daher gegenwärtig in einer weit gefassten Definition »immer dort statt, wo Menschen in generationaler Perspektive auf Dauer angelegte Sorgebeziehungen leben. Dabei kann es sich um Primärfamilien mit und ohne Trauschein, um Stiefund Patchworkfamilien, um neue Partnerschaften nach einer Trennung handeln oder auch um multilokale Familienformen wie ›Living-Apart-Together‹, zumeist aufgrund beruflicher Mobilität oder von Scheidungssituationen, oder um Pflege- und Adoptionsfamilien« (S. 71f.).Kinder werden zwar nach wie vor als relativ fester Bestandteil angesehen, aber nicht zwingend zur Voraussetzung deklariert.30 Angesichts der skizzierten Kontinuitätsbrüche, Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen31 , die als Nebenfolge des Wachstums, d.h. der Ansammlung und der 30

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So zumindest im Großteil der sozialwissenschaftlichen Literatur. In den Politikwissenschaften wird hingegen zumeist die generative Beziehung als zentrales Kriterium von Familien herangezogen (vgl. Gerlach 1996, S. 30; Herlth & Kaufmann 1982, S. 2). An einem weiten Familienbegriff orientiert sich auch z.B. der Psychologe Schneewind (2010): »Familien sind biologische, soziale oder rechtlich miteinander verbundene Einheiten von Personen, die – in welcher Zusammensetzung auch immer – mindestens zwei Generationen umfassen und bestimmte Zwecke verfolgen« (S. 35). Neben Veränderungen im Bereich der Ehe und der Fertilität und den damit verbundenen Verschiebungen in der Dominanz von Familienformen und Verbindlichkeiten sind in diesem Kontext vor

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Ablösung von Wissensbeständen im Zeitverlauf der Moderne verstanden werden können (vgl. Beck & May 2001, S. 250ff.; Hasenmüller 2013, S. 119; Jaeggi 2014, S. 361ff.), wäre der Fall ›Kevin‹ nicht als direkter Auslöser der narrativen Polarisierung zu sehen. Er wäre vielmehr der Verstärker bereits bestehender Diskrepanzen und ›Influencer‹ entsprechender Wissensstrukturen mit Blick auf die öffentliche Wahrnehmung von Familie und deren Erziehungsleistungen im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Als Träger einer rasanten Verbreitung mitunter widersprüchlicher Wissensbestände kann er dann aber auch gleichzeitig als ein weiteres Symptom des »Brüchigwerden[s] traditioneller Selbstverständlichkeiten« (Bogner 2003, S. 209) erachtet werden. Die polarisierenden Bekämpfungsvorschläge des Schützens und Eingreifens der Ausgangs- und Gegennarration können vor diesem Hintergrund als erste simplifizierende Anpassungsversuche erachtet werden, Ordnungen (wieder-)herzustellen und ihnen eine (narrative) Form zu verleihen. Die thematisierten Lösungen stehen hierbei im Wesentlichen in der Tradition der ersten Aushandlungsprozesse des Wohlfahrtsstaates und der Verabschiedung der ersten deutschlandweiten Kinderschutzgesetze in der Kaiserzeit. Diese wurden insbesondere von Aufforderungen um die Sorge der damaligen Jugend beherrscht und können nach Simon (1922) als »Kampf um Jugendrecht und Staatsinteressen gegenüber Elternrecht und Unternehmerinteressen« (S. 9) gedeutet werden (vgl. auch Bylow & Vaillar 2014, S. 13). Entsprechend werden vor allem bewährte spannungsgeladene Akzente aufgegriffen, die bereits die öffentlichen Debatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägten (vgl. Tenorth 2010, S. 206f.). Aus beiden Perspektiven geht es laut Reckwitz (2017) letztlich jedoch keinesfalls um eine Substitution staatlicher Sicherungsstrukturen im Wandel zur »Gesellschaft der Singularitäten.« In dieser ersten Phase der Diskurskarriere werden somit vor allem bereits etablierte Deutungen reanimiert, die zum Teil als »Notlage aus dem Blick der Gesellschaft geraten, also gleichsam kollektiv vergessen worden« (Schetsche 2014, S. 64) sind. Beide Narrationslinien können dabei erfolgreich an andere, bewährte diskursive Formierungen und Vorläuferereignisse wie z.B. andere Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung oder die Hospitalismusdebatte anknüpfen, die bislang ebenfalls ungelöst blieben (vgl. Kap. II, 2.2.1). Das bedeutet, dass die massenmediale Berichterstattung allem weitere binnenfamiliale Veränderungen und komplexe gesellschaftliche Veränderungsprozesse zu nennen, die jedoch diskursiv nicht alle explizit Beachtung erhalten und am deutlichsten in den Narrativen der Gegennarration zu Tage treten (vgl. Kap. III, 2.1.3), wobei sie implizit jedoch auch in den anderen Narrationslinien eine Rolle spielen. Hierzu zählen z.B. Säkularisierungsprozesse, die Wohlstandsentwicklung, die Bildungsexpansion und die gesellschaftlichen Mobilitätserwartungen, die auch mit einer gestiegenen Erwerbsbeteiligung der Frau und einer veränderten Rolle der Väter bei der familialen Erziehung einhergehen (vgl. Geißler 2002, S. 348). Zu beachten sind aber auch religiöse Kontextualisierungen und Erosionserscheinungen (vgl. Kap. III, 2.2.1). Die einzelnen Prozesse sozialen Wandels detailliert darzustellen würde zu weit vom Thema dieser Arbeit wegführen, weshalb auch im Folgenden nur ausschnitthaft auf Entwicklungen und Begriffsbestimmungen verwiesen wird, die im Rahmen der Konstruktionsprozesse familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ in Fällen wie ›Kevin‹ als besonders bedeutsam erachtet werden bzw. besonders wirksam und erklärungsmächtig zu sein scheinen. Zur detaillierteren Darstellung sozialer Wandelprozesse im Hinblick auf die Institution Familie vgl. z.B. einschlägig Ecarius (2007), Kersten (2012) und Nave-Herz (2002, 2012).

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zunächst vor allem alten Traditionen verpflichtet ist, es speisen sich in der Auseinandersetzung mit dem Fall ›Kevin‹ und den damit verbundenen Entwicklungen aber auch immer wieder neue Elemente narrativer Sinnstiftung und Bestandteile anderer Diskursstränge ein. So entstehen neue Deutungszusammenhänge, die ihren Geltungsbereich auch auf allgemeine Aspekte der Familie und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ auszudehnen scheinen. Die erfolgreiche Problemetablierung scheint somit insgesamt stark an Prozesse der Reaktivierung und Überlagerung bestehender inkonsistenter Problemdeutungen geknüpft, deren öffentliche Verbreitung durch die polarisierenden Darstellungen sowie die weniger komplexen Sinnstrukturen und einfach darzustellenden normativen und sicherheitspolitischen Maßnahmen der Ausgangs- und Gegennarration kurz nach dem Bekanntwerden des Falls ›Kevin‹ begünstigt wird (vgl. Schetsche 1996, S. 173; Schetsche 2000, S. 85ff.).

4.1.2.

Der Kulturpessimismus der Ausgangs- und Gegennarration als Karrierebruch

Bewährtheit und Deutungsmacht von Narrativen ergeben sich immer aus der Problemlösefähigkeit der Denkweisen, die sich so »qua integrierender Narration reflexiv auf diese Lösung beziehen« (Jeaggi 2014, S. 350f.) und sich im Rahmen der Deutungen von Ausgangs- und Gegennarration entsprechend unterschiedlich zeigen. Die Vorschläge zur Ursachenbekämpfung müssen sich hierbei notwendigerweise immer auf die Kausalattribuierungen der Ursachennarrationen und die darin angelegten Subjektpositionen und Modellpraktiken beziehen: »Nur was dort als Problemursache genannt ist, kann hier explizit Gegenstand von Bekämpfungsmaßnahmen werden« (Schetsche 2014, S. 116). Während die Ausgangsnarration mit ihren behandlungspessimistischen Sicherheitsrhetoriken zwar ›Alarm schlägt‹, sich aber wenig innovativ gibt und somit in erster Linie versucht, die Folgen einzudämmen, lässt sich die Gegennarration einem ›reflexiven Fundamentalismus‹ zuordnen, dem es darum geht »zerbrochene Werte und Selbstverständlichkeiten […] erneut als wahr und wirklich zu begründen und gegen eine ›maßlose‹ Modernisierung zu verteidigen« (Beck et al. 2001, S. 49). Die beiden Narrationslinien legen der jeweiligen Problembearbeitung aus modernisierungstheoretischer Perspektive somit zumindest implizit eine individualisierungskritische Gesellschaftsdiagnose zugrunde, die einen Wandel vom moralisch-inklusiven zum anomisch-exklusiven Staat beklagt. Zeigen soll sich dies vor allem in Ausführungen einer ignoranten (vgl. Kap. III, 1.3.2) und erodierenden Gesellschaft (vgl. Kap. III, 2.1.3), in denen sich Eltern einer angeblich epidemischen Ausweitung monströser Wesenszüge (vgl. Kap. III, 1.2.1) bzw. schicksalhaften Entgleisungen (vgl. Kap. III, 2.2.1) nahezu ohnmächtig hingeben müssen. Ausgangsnarration und Gegennarration deuten den Fall ›Kevin‹ somit als Indikator einer Gefahrenlage für die Institution Familie, die bis hin zur Annahme eines Funktionsverlustes und der allmählichen Auflösung familialer ›Erziehungskompetenzen‹ reicht, wobei die Chancen, diese Entwicklung aufzuhalten, vor allem aus Perspektive der Ausgangsnarration fragwürdig erscheinen. Angesprochen ist hier auch die vermeintlich gefährliche »liberale Ideologie«, die »dem Sparzwang unheilvoll entgegen[kommt]« (Die Zeit 51/2007b) und die sowohl einer umfassenden Securization als auch einer wohlfahrtsstaatlichen Absicherung »zum Abbau familialer und gemein-

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schaftlicher Abhängigkeiten und Zwänge« (Ullrich 2005, S. 109) entgegenstehe. Die Ausgangs- und Gegennarration müssen sich aufgrund ihrer narrativ angelegten Sinnstruktur im Erklärungszusammenhang von Fällen wie ›Kevin‹ somit auch im weiteren Diskursverlauf auf den Entwurf weniger komplexer, kulturpessimistischer Lösungen einfach darzustellender normativer und sicherheitspolitischer Maßnahmen begrenzen. Wenngleich insbesondere die komplexitätsreduzierende Darstellung der Ausgangsnarration als ein wesentlicher Grund für den Erfolg dieser Narrationslinie bei der diskursiven Problemeinschreibung erachtet werden kann, unterliegt sie dadurch gleichzeitig logischen Einschränkungen. Damit aber kann die Angst vor dem Eintreten weiterer ›Katastrophen‹ geschürt, jedoch nicht langfristig eingedämmt werden. Durch die scheinbar vorrangige Funktion der Narrative, die öffentliche Wahrnehmung und die öffentlichen Emotionen zu mobilisieren, wirkt die Ausgangsnarration im Gegenteil eher »antiaufklärerisch«, »da sie eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Problematik verhindert und Ängsten und Mythenbildung Vorschub leistet« (Schubarth 1999, S. 240). Die permanente emotionale und moralische Erschütterung führt dem Rezipienten vielmehr immer wieder aufs Neue Gefahren und Unsicherheiten der familialen Erziehung vor Augen. So verbleiben familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ in einem engen Zusammenhang mit kollektiven Ängsten; die Gefahrenlage für das Kind als ›Objekt der Sorge‹ wird dem Rezipienten immer wieder vorgeführt und perpetuiert, bis sie letztlich in einer Endlosspirale mündet. Narrativ entworfene Bewältigungsstrategien, die, wie z.B. das Bremer Sofortprogramm, häufig sogar explizit als Erstmaßnahme inszeniert werden, können somit eher als kurzfristige »Artikulation und Bearbeitung von Sicherheitsbedürfnissen, als quasi magische Versuche, Unsicherheit zu bannen« (Scherr 1997, S. 259) und die soziale Ordnung vorübergehend zu (re-)stabilisieren, interpretiert werden, weniger als wirksame längerfristige Lösung. Dies birgt die Gefahr, dass die vermeintliche ›Krise der Familie‹ bzw. familialer ›Erziehungsinkompetenz‹ in eine »Sicherheitshysterie umschlagen könnte, in der letztlich alles und jeder verdächtig erscheint« (Castel 2005, S. 90). Denn »kein noch so gutes Kinderschutzgesetz wird 100 Prozent Sicherheit garantieren« (Die Welt 03.02.2012), und somit können auch die wahrgenommenen Probleme niemals umfassend gelöst werden. Die allgegenwärtige »Angst, zu spät zu reagieren« (Der Spiegel, 29/2010), bleibt erhalten und lässt familiale ›Erziehungsinkompetenzen‹ zu einem Problem werden, das schwierig flächendeckend zu beeinflussen oder gar abzuwenden scheint. Dies kann als Erklärung dafür dienen, warum die Narrationslinie nach der ersten Thematisierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ an Deutungsmacht einzubüßen und in den öffentlichen Verhandlungen zunehmend randständig zu werden scheinen. Ähnliches zeigt sich bei der Gegennarration. Es ist anzunehmen, dass vor allem die narrativ zugrunde gelegte eingeschränkte Agency der Akteure in beiden Narrationslinien zu Zweifeln an der Angemessenheit der Problemwahrnehmung oder zumindest der gewählten Maßnahmen führen. Wenn Narrative sich beständig und dauerhaft etablieren sollen, benötigen sie nicht nur einfach nachvollziehbare und plausible Argumentationslinien, die ihre Existenz legitimieren, sondern sie müssen sich im Rahmen der Problembewältigung auch als dienlich und förderlich erweisen. Dies betrifft vor allem die Phasen der Genese und (Re-)Stabilisierung von Ordnungen nach der Problemetablierung. Denn wenn die im Rahmen einer anerkannten Problemnarration generierten

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Lösungsvorschläge sich als nicht hilfreich erweisen, können die gesamten Strukturen einer Narrationslinie in Frage gestellt werden (vgl. Waldschmidt et al. 2007). Dies kann zu einem Bruch im linearen Karriereverlauf des Diskurses führen, der nach alternativen Lösungsmöglichkeiten verlangt, wenn nach der erfolgreichen öffentlichen Thematisierung keine weiteren, ergänzenden Erklärungspotenziale oder weiterführende Lösungen angeboten werden, um dem Problem entgegenzuwirken (vgl. Schetsche 2014, S. 67ff.).

4.2.

Diskursive Versuche der Wiederherstellung einer sozialen Ordnung

4.2.1.

Der Kulturoptimismus der Alternativnarration als Ausgangspunkt riskanter Innovationen

Nach der erfolgreichen Polarisationsphase des Diskurses durch die Sinnstrukturen der Ausgangs- und der Gegennarration sowie nach ersten Versuchen einer ›(Wieder-)Eingliederung‹ der jeweiligen Deutungen und Praktiken in soziale Ordnungsstrukturen tritt die Alternativnarration in die Verhandlungen ein. Unter sie werden viele Elemente der skandalisierenden Bedrohungsnarration und deren enormer emotionaler Wirkkraft subsumiert, sie führt aber auch Elemente der Gegennarration nach einer Transformation in die eigene Sinnkonstitution weiter. Diese Phase nach der erfolgreichen Problemetablierung kann mit Turner (1989) auch als ›liminale Phase‹ bezeichnet werden, die zeitlich zwischen der Auflösung etablierter Ordnungen durch das ›soziale Drama‹ und deren Wiederherstellung einzuordnen ist. Während die Ausgangs- und die Gegennarration trotz einiger innovativer Momente im Wesentlichen auf eine Erneuerung der »Herrschaft der alten Grenzen« (Beck et al. 2001, S. 39) zielen, entgegnet die Alternativnarration diesem Prozess mit eher kulturoptimistischen begrifflichen Neubestimmungen und veränderten artikulierten Ansprüchen an familiale Erziehung. Sie sind mit Traue (2010) sowohl als Symptom als auch als aktive Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen zu sehen (vgl. S. 49). Die Argumentationslinie gründet somit aus modernisierungstheoretischer Sicht nicht auf einem ›reflexiven Fundamentalismus‹, der »alte Wissens- und Ordnungsstrukturen zu (re-)stabilisieren versucht, sondern auf einem ›reflexiven Pluralismus‹, der »die Dynamik des Modernisierungsprozesses« (Beck et al. 2001, S. 49) aufnimmt und Modellpraktiken unter Rückgriff auf etablierte Strukturen an neue Variationen familialen Zusammenlebens anzupassen scheint. Während die Ausgangs- und Gegennarrationen folglich in dem wahrgenommenen instabilen gesellschaftlichen Gefüge den Ausgang einer ›Erosionsgeschichte‹ sieht (vgl. Kap. III, 4.2.1), nimmt die Alternativnarration diese Instabilität zum Ausgangspunkt ihrer Mobilisierungsversuche. Bedeutsame Unterschiede zeigen sich demzufolge weniger in der Annahme eines sozialen Wandels der Institution Familie als in deren Interpretation, wobei der innovative ›Zeitgeist‹ der Alternativnarration zum wesentlichen Erfolgsfaktor in dieser Phase der Diskurskarriere zu werden scheint. Denn obgleich die Alternativnarration chronologisch etwas später in Erscheinung tritt, kann sie bereits wenige Wochen nach dem Fall ›Kevin‹ eine hegemoniale Position als ›Masterframe‹ einnehmen, das den weiteren Verlauf der Debatten dann als ›Realität‹ zunehmend zu bestimmen scheint. Dies entspricht Kellers (2008a) Auffassung, dass Neu- und Umorientierungen bereits anerkannter Wissensbestände als »Irritationserfahrungen auf der Ebene

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kollektiver Wissensvorräte bzw. symbolischer Ordnungen zum Katalysator von Diskursen werden, die ›neue‹ Interpretationen generieren und damit in Konkurrenz und Herausforderung zu den etablierten Diskursformationen treten« (S. 291). Der Wechsel in der Dominanz der Konzepte muss daher nicht auf Veränderungen des Phänomens selbst oder auf einem etwaigen wissenschaftlichen Fortschritt bzw. der Existenz neuer Erkenntnisse auf diesem Gebiet basieren. Er kann vielmehr auf die jeweils kollektiv wahrgenommene Angemessenheit der Versuche einer Wiederherstellung der sozialen Ordnung zurückgeführt werden, die in ihrer zeitgenössischen Kontextualität betrachtet werden müssen (vgl. Elias 1986). Cremer-Schäfer und Steinert (2014) zeigen, dass sich der Erfolg von Narrativen insbesondere in Abhängigkeit von der ökonomischen und politischen Konjunktur historisch stetig wandelt. Während in Zeiten einer fordistisch-wohlfahrtsstaatlichen Regulation Institutionen wie die Familie ideologisch bedeutsam seien und staatlich in sie investiert werde, zeige sich in Zeiten ökonomischer Rezession ein deutlicher Rückgriff auf ein Vokabular der Selbstverantwortung und Degradierung (S. 66). Dies kann als weitere Erklärung für die Deutungshoheit der Alternativnarration im Zeitraum einer sich allmählich zuspitzenden Finanzkrise im Jahr 2007 dienen. Es ist zudem davon auszugehen, dass die Verknüpfung des kontrollierenden ›Sicherheitsversprechen‹ (vgl. Kap. III, 1.5) mit einem autonomen ›Glücksversprechen‹ (vgl. Kap. III, 2.5) zu einem umfassenden ›Risiko- und Erfolgskonzept‹ (vgl. Kap. III, 3.5) die Zahl der Zustimmenden erhöht und insbesondere unsichere Vertreter anderer Narrationslinien für diese Perspektive gewonnen werden können.

4.2.2.

Die zyklische Virulenz der Narrationslinien

Versuche der (Wieder-)Herstellung sozialer Ordnungen können letztlich immer nur in einer (Re-)Stabilisierung des Ausgangszustandes, einer Neuorientierung und Etablierung neuer Wissensordnungen oder aber in einer dauerhaften Erhaltung der konstituierten Spannungen münden (vgl. Schetsche 2014, S. 95f.). Obwohl die Alternativnarration mit ihren innovativen Wissensbeständen hierbei vor allem in der zweiten Phase der Diskurskarriere dominant zu sein scheint, verläuft diese Entwicklung in der diachronen Betrachtung nicht gradlinig, so dass Wissensstrukturen der Ausgangs- und Gegennarration nie vollständig abgelöst werden. Die beobachtete Dominanz der Alternativnarration ist somit weder konstant noch endgültig, sondern tritt nach der Phase der ersten (Wieder-)Eingliederungsversuche (neuer) Ordnungsstrukturen in der massenmedialen Debatte eher wellenartig in Erscheinung. Insofern kann auch künftig erst einmal von einer dauerhaften Bewahrung der konstituierten Spannungen ausgegangen werden. Insbesondere dann, wenn neue Begebenheiten oder Widersprüche Eingang in das Diskursfeld finden oder sich Rahmenbedingungen ändern, lassen sich immer wieder rückläufige Phasen der Alternativnarration ausmachen, in denen die beiden anderen Narrationen wieder deutlich an Überlegenheit gewinnen (vgl. Schaufler & Signitzer 1990). Solche Phasen zeichnen sich vor allem beim Auftreten erneuter skandalöser Ereignisse und Diskursspitzen wie z.B. weiterer Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, bei Prozessen gegen die Beteiligten, Gesetzesänderungen oder den katholischen Heimskandalen ab, in denen aktuelle Ereignisse mit Fällen wie ›Kevin‹ auf unterschiedliche Art und Weise verbunden werden und hierbei andere Deutungen ver-

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decken: »So sehr die Skandalisierung von sexueller Gewalt gegen Kinder wie jüngst in Staufen zu einer notwendigen gesellschaftlichen Debatte beiträgt, sosehr können einzelne Fälle den Blick auf die Gesamtdimension des Problems verstellen« (Faz, 10.07.2018) Hagemann (2015) konnte auch für andere Diskursfelder nachzeichnen, dass sich dadurch mitunter auch »lange Perioden der relativen Stagnation […] immer wieder mit solchen Phasen des schnellen Umbruchs« (S. 41f.) abwechseln. An jenen Stellen bieten vor allem die Narrative einer generalisierenden Gefahrenlage mit ihrer emotionalen Aufladung und den darin angelegten punitiven Wissensstrukturen sozialen Akteuren ein Ventil. Nach dem ersten erneuten ›Schock‹ scheinen sie jedoch immer wieder an Präsenz zu verlieren, während gleichzeitig zumeist eine Transformation der Ausgangsnarration in die rationaleren Erklärungsmuster der Alternativnarration stattfindet, die eine potenzielle Übersättigung der Rezipienten durch das Dramatische und Skandalöse einzudämmen vermag, die eine weitere Verhandlung des Problems sich vermeintlich ausweitender ›Erziehungsinkompetenzen‹ gefährden könnte. Aber auch die Gegennarration eignet sich hervorragend, um solche erneuten Irritationen abzumildern, da sie keine aufwendigen Neuorientierungen oder -interpretationen von Sinnstrukturen voraussetzt, sondern mit ihr tradierte ›Rezepte‹ vorliegen, die aufgrund ihrer langen Bewährtheit Irrtümer zunächst unwahrscheinlich erscheinen lassen. Giddens (1996) sieht vor allem im narrationsimmanenten »Fundamentalismus der Familie« (S. 325) ein »Verteidigen der von der Tradition überlieferten formelhaften Wahrheit« (ebd.), das eindeutige Lösungen bei Alltagsirritationen bereithält. Diese können zunächst wieder »naturwüchsig« (Oevermann 2005, S. 20) fortgeschrieben und reproduziert werden und so die Suche nach neuen Lösungsmöglichkeiten umgehen, während sie gleichzeitig Sicherheit geben und weitere Irritationen durch Passungsprobleme vermeiden (vgl. Abels 2009, S. 254; Jurczyk 2014a; Keddi 2014). Da weniger der Rationalitätsgehalt, die Beweiskraft und die Beeinflussbarkeit der Narrative entscheidend zu sein scheinen als vielmehr der Prozess der ordnungsstiftenden Sinnkonstruktion (vgl. Jaeggi 2014, S. 24) und da sich die Kategorien einer erodierenden Familie vor diesem Hintergrund als sinnvoll erweisen, werden sie auch dann nicht vollständig aufgegeben, wenn sie an Plausibilität einbüßen. Daher benötigt vor allem die tradierte Gegennarration wenig innovative Entwicklungslinien und rationale Begründungen, um diskursiv erhalten zu bleiben. Der Grund ihrer latenten Beständigkeit ist somit vor allem in der Bewahrung des Traditionellen und Bewährten zu sehen. Die retraditionalisierte Sehnsucht nach Familie sowie ein diffuses ›Früher‹ als Vergleichsmaßstab treten im chronologischen Verlauf immer wieder in Erscheinung und zeigen sich auch in anderen Diskursen wie z.B. den Debatten um den demographischen Wandel oder um eine Pluralisierung von Familienformen (z.B. »Die Sehnsucht nach Familie«, Der Spiegel Spezial 04/2007 oder »Die neue Lust auf Familie«, FAZ 11.03.2017). »Familie wird so wieder einmal zum Zentrum einer rückwärtsgewandten Sehnsucht nach Geborgenheit und Schlichtheit und vor allem geordneter Verhältnisse zwischen den Geschlechtern sowie der stilisierten Ferne von den als kalt abqualifizierten gesellschaftlichen und politischen Strömungen« (Lange & Alt 2009, S. 32). Die Karrieren der einzelnen Narrationslinien können somit im diskursiven Verlauf weder als erfolgreich noch gescheitert erachtet werden, sondern scheinen ebenso wie

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viele andere Narrative durch die Geschichte hinweg immer alternierend aufzutreten und sich neu zu formatieren, da sie bislang nicht zur endgültigen Lösung des Problems geführt haben (vgl. z.B. Brandhorst 2015, S. 34; Kuhlmann 1989, S. 257). Mit Schetsche (2013) werden sie hierbei in eine »zyklische Virulenz« (S. 46) verwiesen, in der das Problem – wenn auch in unterschiedlichen Erscheinungsformen – bestehen bleibt und die dominierenden Wissensbestände und Lösungsvorschläge der Narrationslinien vor allem in Abhängigkeit von den diskursiven Kontexten und Infrastrukturen alternieren. Aus diachroner Perspektive können die Narrationslinien mit Siegenthaler (1990) daher auch als »Kontinuität in der Diskontinuität« verstanden werden. Es treten so gesehen jeweils jene Narrationslinien in den Vordergrund, die nicht nur am adäquatesten auf die gegenwärtigen Entwicklungen des Problems reagieren, sondern sich mittels der integrierten Wissensbestände auch am stärksten darauf beziehen. Dabei ist insgesamt anzunehmen, dass sich Bestandteile aller Narrationslinien immer dann besonders deutlich zeigen, wenn bewährte Ordnungs- und Sinnstrukturen stark ins Wanken geraten und Ereignisse für Verunsicherung sorgen, z.B. wenn Familie wie im Fall ›Kevin‹ zu einem »Ort [wird], den es eigentlich gar nicht geben kann: einen Ort, oben im fünften Stock, an dem in den vergangenen Monaten die Naturgesetze außer Kraft waren. Das Gesetz, dass Eltern Kinder ernähren. Das Gesetz, dass die Erhaltung der eigenen Art Vorrang hat« (Der Spiegel 48/2007). Der massenmediale Diskurs um familiale ›Erziehungs(in)kompetenz‹ im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ erweist sich in der chronologischen Abarbeitung der inkonsistenten Karriereverläufe einzelner Narrationslinien trotz einiger Diskursspitzen und Abschwüngen aber insgesamt als stabil. Dies lässt sich nicht nur den unterschiedlichen Strategien und Erfolgsfaktoren der einzelnen konstituierenden Narrationslinien in ihrem zyklischen Auftreten zuschreiben, sondern auch weiteren narrationsübergreifenden Faktoren und konsensualen Sachverhalten, die selbst dann geteilt werden, wenn die Problemwahrnehmung widersprüchlich ist. So ist der Kreis der potenziell Betroffenen mit der Adressierung von Familien und Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe im Allgemeinen relativ groß, was die Generierung von Aufmerksamkeit für das Thema begünstigt. Gleichzeitig bleibt das Feld der Subjekte aber überschaubar und durch die Positionen der Eltern, der Kinder sowie der Kinder- und Jugendhilfe als Vertreter des öffentlichen Kinderschutzes klar strukturiert. Aber auch die gesellschaftlich anerkannten Opfergruppen des ›gefährdeten‹ bzw. ›sakralen‹ Kindes oder ›Risikokindes‹ erhöhen die Durchsetzungschance der Problematisierung (vgl. Schetsche 2014, S. 49). Mittels bildhafter sprachlicher Schilderungen der emotional aufgeladenen Ereignisse in Fällen wie ›Kevin‹ lässt sich das zugrundeliegende Wissen zudem sehr gut visualisieren. Das befördert die massenmediale Thematisierung und ermöglicht zahlreiche Bezüge zu und Verschränkungen mit anderen Debatten und Themenfeldern, wie z.B. institutionellen Betreuungsformen, PISA oder verschiedenen Kriminalitätsdiskursen. Diese unterstützen eine erfolgreiche Fortschreibung der Problemdeutungen, da bestehende und bereits etablierte Narrative lediglich modifiziert werden müssen, indem sie z.B. neue Erkennungsschemata definieren (vgl. Schetsche 2014, S. 50ff.). Hierbei wirken sich insbesondere Komplementaritätseffekte wie die Anschlussfähigkeit an Institutionen, mentale Muster oder Rituale als begünstigend aus (vgl. Hasenmüller 2013, S. 210ff.). Eine Stabilisierung des Diskurses unterstützt aber auch die konsensuale »moralische (und

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Familie unter Verdacht

gesellschaftspolitische) Hilfepflicht des Sozialstaates« (vgl. Schetsche 2014, S. 52, Herv. i. O.), die, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß und in verschiedenen Formen, aus allen drei Narrationslinien heraus eingefordert wird. Hierbei wird narrativ in der Regel nicht zwischen sozialstaatlichen und privaten Hilfsorganisationen und Verbänden differenziert, sondern alle außerfamilialen Instanzen unter staatlich-institutionellen bzw. öffentlichen Institutionen als mehr oder minder simplifizierender Gegenpol der Familien subsummiert. Diese Konsolidierung kann sich durch ihre unterkomplexe Reduktion der ›Realität‹ ebenfalls begünstigend auf die Festigung des Diskurses auswirken. Als diskursiver Motor sind nicht zuletzt die zahlreichen Praktiken, Initiativen und Organisationen im Rahmen der Problembekämpfung anzusehen, die für eine beständige Institutionalisierung der unterschiedlichen Problemwahrnehmungen sorgen.

4.3. 4.3.1.

Familie und Erziehung unter Kontingenzvorbehalt Narrative Zeitstrukturen in der diskursiven Archivierung des Falls ›Kevin‹

In den Versuchen der Stabilisierung einer sozialen Ordnung spielen neben konsensualen und inkonsistenten Wissens- und Infrastrukturen vor allem Zeitstrukturen eine bedeutsame Rolle, in denen die diskursive Verarbeitung des Falls ›Kevin‹ und weiterer Kindesmisshandlungen und -vernachlässigungen in permanenter zirkulärer Aktualisierung der Ereignisse erfolgt. Obwohl bereits vor dem Fall ›Kevin‹ einige Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung medial aufgegriffen wurden (vgl. Kap. II, 2.2.1), fällt auf, dass der Tod Kevins zunächst als Zeitraffer-Ereignis präsentiert wird, das mehr oder minder einzigartig, schlagartig und unvorhersehbar eintritt. Erst Tage und Wochen später werden vorangegangene und darauffolgende Fälle wie z.B. der Tod von Jessica, Dennis oder Mehmet sukzessive mit dem Fall ›Kevin‹ in Verbindung gebracht (z.B. FAZ 17.10.2006b; SZ 21.10.2006a). Deren »Leidensgeschichten« (SZ 14.12.2015) werden als ›Vorläufer‹ bzw. ›Nachfolger‹ zu einer »Chronologie verhungerter und vernachlässigter Kinder« (FAZ 23.11.2007) bzw. einer »Chronik des Grauens« (Die Welt 06.06.2008b) »und der Verwahrlosung« (SZ 30.07.2008) verdichtet. Der Fall ›Kevin‹ stellt als Ausgangspunkt dieser Verknüpfung auch insofern eine Besonderheit dar, als im Kontext öffentlicher Verhandlungen von Kindesvernachlässigung, -misshandlung und -missbrauch lange Zeit eher auf gesichtslose Statistiken als auf konkrete Fälle rekurriert wurde oder lediglich die Orte des Geschehens und nicht die Namen der Opfer verbreitet wurden, wie z.B. im Rahmen der Fälle ›Weimar‹ und ›Osnabrück‹ (vgl. Kap. II, 2.2.1). Erst mit dem Missbrauchsfall ›Pascal‹ und insbesondere seit dem Fall ›Kevin‹ zeigt sich eine deutliche Abwendung von aggregierten Zahlen und eine Hinwendung zu ›namhaften‹ Fällen (vgl. auch Görgen & Kessler 2013, S. 13). Die namentliche Benennung der Kinder und die bildhafte Schilderung der Ereignisse vermögen in der Folge nicht nur eine gewisse emotionalen Nähe und Betroffenheit der Rezipienten herzustellen (vgl. Kap. III, 1.1.). Vielmehr führt die Darstellung des »Martyriums« (SZ 23.11.2007a; Der Spiegel 49/2006) als »Albtraum dieses Kinderlebens« (SZ 13.10.2006c) auch dazu, dass die Nennung der »Namen von Jessica, Kevin, Dennis und einer Reihe anderer Kinder« (Der Spiegel 49/2006) bereits wenige Wochen nach Bekanntwerden des Falls ›Kevin‹ auszureichen scheinen, um auf den Themenkomplex Kindeswohlgefährdung zu verweisen, entsprechende Situationsdefinitionen

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

vorzunehmen und Handlungen auszulösen, die weit über den konkreten und singulären Fall hinausreichen. Durch die Verknüpfung zahlreicher weiterer Fälle von Kindesmisshandlungen, aber auch vermeintlich unberechtigter Inobhutnahmen mit dem Fall ›Kevin‹ zu einer »Kette von Fehleinschätzungen« (Die Welt 12.10.2006a) werden dann auch weniger populäre Vorfälle (z.B. »Sabine, heute 22«, »Tobias aus dem Raum Fürstenfeldbruck in Bayern«, Der Spiegel 42/2006a) nicht eigenständig wirksam, sondern durch ›Kevin‹ gestützt. Im Rahmen permanenter Wiederholungen, zirkulärer Aktualisierungen und der Verkettung mit ähnlichen Begebenheiten und Gefahrenlagen entwickelt sich der Fall im Diskursverlauf dann allmählich zu einem ›Zeitlupen-Ereignis‹ (Roqueplo 1986) und einem beständigen Problem. Er wird zum Inbegriff, »Symbol« (FAZ 17.10.2006b) und »Sinnbild« (taz 14.09.2010) für »Grauen, Verwahrlosung und Tod« (Die Zeit 43/2006a), aber auch für familiales und institutionelles Versagen. Die Rede ist von einem »KevinSyndrom« (Die Welt 09.05.2017), in dem die problematisch erscheinenden Elemente aus verschiedenen Perspektiven zusammengeführt und verallgemeinernd auf andere Situationen und Ereignisse übertragen werden. »Fälle wie der von Lea-Sophie, Jessica oder Kevin« (SZ 14.04.2008a) sowie von »ungezählten anderen Kindern« (SZ 30.11.2007c) bleiben dadurch »bis heute mit dem Namen Kevin« (FAZ 17.11.2012) verbunden. Jeder Tatort scheint zu einem Ort zu werden, »wo das Schlimme einen Namen trägt« (Die Zeit 51/2007a), und der Name ›Kevin‹ selbst Jahre später in anderen diskursiven Kontexten, wie z.B. der institutionellen Frühbetreuung (FAZ 17.11.2012) oder der Heimerziehung (SZ 18.07.2015), bestimmte Verknüpfungen zu den Ereignissen des Falls zu aktivieren. Diese öffentliche Ausweitung der ereignisbezogenen Deutungsprozesse ist, so der Eindruck, bis in die Gegenwart ungebrochen (»Lara-Mia, Jessica und andere: Tödliche Fälle seit 2005«, NDR 19.01.2017; »Elf Jahre nach Kevins Tod«, Weser Kurier 05.10.2017; »Der Tod von Kevin war ein Einschnitt«, Weser Kurier 22.04.2018; »Kevin – und die Angst vor dem fatalen Fehler«, Die Welt 14.05.2018). Aus chronologischer Perspektive kann in diesem beständigen Rekurs auf den Fall ›Kevin‹ die Herausbildung eines eigenständigen wirkmächtigen Deutungsmusters von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung gesehen werden, das sich ähnlich wie andere historische Ereignisse allmählich im kulturellen Gedächtnis zu archivieren scheint (vgl. Kap. III, 2.4). Welzer (2002) weist im Zusammenhang der Entstehung und Stabilisierung eines solchen kollektiven Sinnschemas auch auf verschiedene Ergebnisse der interdisziplinären Hirn- und Gedächtnisforschung hin, aus denen hervorgehe, dass die Prägnanz des Erinnerns in nicht unerheblichem Maße von Emotionen abhänge, die mit einem Ereignis verbunden sind (vgl. S. 153). So vermögen die emotionalisierenden Ausgangs- und Gegennarrationen trotz abnehmender Dominanz auch noch in späteren Phasen der Diskurskarriere einen entscheidenden Beitrag zur Stabilisierung dieser Wissensbestände zu leisten, wobei die »genannten Erscheinungen oberflächlich als Synonym heutiger Kindheit und somit für alle Kinder gleichermaßen gültig interpretiert« (Kränzl-Nagl & Mierendorff 2007, S. 6) werden. Im Unterschied zu Links (1978) Begriff des ›Kollektivsymbols‹ trägt die Rede von einem kollektiven Gedächtnis des Falls ›Kevin‹ jedoch den »sehr unterschiedlichen Eigenarten der verschiedenen Mitglieder des Kollektivs« (Latour 2006, S. 504; vgl. auch Kap. II, 3.3.1) Rechnung. So befinden sich die enthaltenen Deutungen hinsichtlich der Wahrnehmung von Familie und Erziehung zwar durchgehend im »Modus der Rivalität« (Jaeggi 2014, S. 350), sind

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Familie unter Verdacht

aber im Deutungsmuster ›Kevin‹ auch kohärent verfasst. Als kommunikativ vermitteltes Symbol erfüllt das Deutungsmuster ›Kevin‹ dann vor allem die komplexitätsreduzierende Funktion, die Vielzahl von Situationen, Handlungen und Verhaltensweisen in ordnungsbildende Sinnzusammenhänge zu verweisen. Dadurch können sie als Praxis des Erinnerns in einem wechselseitigen Spannungsverhältnis den gesamten Diskurs stabilisieren, wobei die gemeinsame Problemwahrnehmung des Falls an sich jedoch als voraussetzungsvoll erachtet werden muss.

4.3.2.

Familie und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ in einer ›Kultur der Kontingenz‹

Die narrative Aufrechterhaltung eines Spannungsfeldes unterschiedlicher Sinnstrukturen im Deutungsmuster ›Kevin‹ bedeutet in der Folge: »Orientierung kann nicht mehr anhand der Berufung auf eine einzige Legitimation erfolgen, sondern muss sich vielen teilweise widersprüchlichen Rechtfertigungsforderungen stellen. Umgekehrt kann keine Institution mehr auf eindeutigem Handeln beruhen« (Abels 2009, S. 152). Dies entspricht einer zentralen Annahme der hermeneutischen Wissenssoziologie, dass Phänomene wie familiale Erziehung nach der Erosion vieler tradierter Institutionen in der Moderne nunmehr weniger von Institutionen getragen werden als von Kommunikationsprozessen bzw. »Kommunikationskulturen« (Knoblauch 1995). Dabei lässt sich vermuten, dass gerade die Vervielfältigung von Deutungsangeboten und eine zunehmende mediale Wissensvermittlung als »Therapie für Zweifler« (Abels 2009; S. 120) fungiert, die tradierte Normen und Handlungsmuster zunehmend ersetzt. Die Säkularisierung sinnstiftender Institutionen werde somit zum Ausgangspunkt von Heterogenität und Pluralisierung »symbolischer Sinnwelten« (Berger & Luckmann 1980 [1969], S. 112), die nun immer stärker kommunikativ verhandelt bzw. ›gebastelt‹ werden müssen (vgl. Hitzler & Honer 1994, S. 310). Für die Konstitution des Phänomens familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ lässt sich dementsprechend mit Kaufmann (1995) eine »Kultur der Kontingenz« (S. 33) diagnostizieren, die sich aus sehr unterschiedlichen und mitunter kontroversen Wahrnehmungen, Wissensbeständen und Expertenmeinungen zusammensetzt und familiale ›Erziehung‹ ebenso wie alle anderen Institutionen zunehmend unter »Kontingenzvorbehalt« (Hettlage 2003, S. 26) stellt. Wie in der einschlägigen sozialwissenschaftlichen Literatur (vgl. Kap. II, 1.1.1) werden somit auch in den massenmedial verbreiteten Narrativen sehr unterschiedliche Ansätze und Konzepte im Hinblick auf die Inhalte und Strukturierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ deutlich. Auch wenn sie häufig nicht näher benannt oder erläutert werden, sondern sich meist lediglich indirekt aus den Ursachennarrationen, Subjektpositionen und angestrebten Bewältigungsmöglichkeiten ableiten lassen, ist doch zu konstatieren, dass sie von einem eher basalen Niveau bis hin zu elaborierteren Formen reichen. Der Blick auf die Diskurskarriere der Narrationslinien verdeutlicht, dass sich diese Unterschiede in der Begriffsexplikation nicht nur mit der generell mangelhaften terminologischen Fundierung des Kompetenzbegriffes begründen lassen (vgl. Kap. II, 1.1.1), sondern auch als Resultat verschiedener Weltsichten im Allgemeinen und unterschiedlicher Perspektiven auf Fälle wie ›Kevin‹ im Speziellen zu werten sind. Diese führen zu ent-

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

sprechend unterschiedlichen Sinnkonstitutionen und stehen nicht nur einem linearen Diskursverlauf, sondern auch einer einheitlichen und universellen Deutung der betreffenden Phänomene entgegen. Wer oder was als ›kompetent‹ bezeichnet werden kann, bleibt letztlich deutungsabhängig und wird unter Berücksichtigung und Betonung verschiedenster Aspekte mit unterschiedlichen Inhalten und Ausprägungen verknüpft. Obwohl die Auffassungen von Familie und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ ein sehr divergentes Bild ergeben, lässt sich narrationsübergreifend zunächst ein Strukturelement ausmachen, das den Diskurs um familiale Erziehung im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ bedeutsam prägt und daher auch dem Deutungsmuster ›Kevin‹ immanent ist: die »intuitive Plausibilität« (vgl. Renn & Jäger 2013, S. 108) eines vermeintlich multifaktoriellen Wirkzusammenhangs zwischen familialen ›Erziehungs(in)kompetenzen‹, familialen ›Scheiterns‹ und Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, auf den alle Narrationslinien abstellen. Mögen die Ursachenzuschreibungen, der Ausprägungsgrad und der Handlungsbedarf hinsichtlich des ›Sachverhaltes‹ deutlich variieren, scheinen sich die Begriffe aus allen Deutungsperspektiven doch proportional zueinander zu verhalten, wobei die terminologischen Grenzen mitunter auch nahezu vollständig verschwimmen. Fälle wie ›Kevin‹, in denen Eltern »bei ihrer wichtigsten Aufgabe versagen« (Die Welt, 14.07.2010a), werden dadurch zu einer symbolischen Ausdrucksform familialer ›Erziehungsinkompetenz‹. Diese Verknüpfung, welche die diskursimmanente Defizitperspektive auf Eltern und familiale Erziehung zu schärfen vermag, wird selbst dann geteilt, wenn familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ nicht als soziales Problem, sondern lediglich als ›tragische Einzelfälle‹ (vgl. Kap. III, 2.1) gewertet werden. Gemein ist den narrativen Konzeptionen familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ auch, dass sie immer in einem engen Zusammenhang mit der jeweils zugrundeliegenden Modellpraxis von Familie zu sehen sind, wobei sich in den Materialien vor allem zwei zentrale funktionale Deutungen von Familie charakterisieren lassen, die Jurczyk (2014b) generell in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit Familie und Erziehung für konstitutiv hält: a) Familie als »System persönlicher, fürsorgeorientierter und emotionsbasierter Generationen- sowie Geschlechterbeziehungen, die verbindlich sind« (S. 50). b) Familie als »Strukturelement von Gesellschaft, welches unverzichtbare Leistungen für Wirtschaft, Staat und Gesellschaft erbringt, Humanvermögen produziert« (ebd.).

Bei der ersten Deutung handelt es sich um eine Perspektive, innerhalb derer die Familie in erster Linie als emotionaler Stabilisator der einzelnen Familienmitglieder fungiert, wie sie vor allem in der Gegennarration sehr deutlich wird (vgl. Kap. III, 2). Die zweite Deutung hebt demgegenüber eine Dimension von Familie hervor, die sich vor allem auf ihre gesamtgesellschaftliche Funktionalität bezieht, wie sie in der Ausgangs- und insbesondere der Alternativnarration betont wird (vgl. Kap. III, 1 & 3). Im Fokus steht dabei die Auseinandersetzung mit der sozialen Realisierung und Steuerung von Elternschaft als »ein[em] System, das das Engagement […] für die Pflege, Fürsorge und Erziehung ihrer Kinder koordiniert« (Wedekind & Ottomeyer 2005, S. 368). Dadurch treten Elemente individueller Sinnstiftung und Stabilisierung tendenziell in den Hintergrund.

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Familie unter Verdacht

Das Phänomen Elternschaft an sich wird narrationsübergreifend hingegen noch weniger expliziert und daher auch nicht ersichtlich vom Überbau der Familie abgegrenzt. Elternschaft und Familie scheinen in ihren Begrifflichkeiten vielmehr gleichsam synonym verwendet zu werden, und auch auf ein erweitertes Netzwerk von Geschwistern, Großeltern und ›Wahlverwandtschaften‹, das gegenwärtig als wichtige instrumentelle und emotionale Unterstützungsform in der Diskussion steht (vgl. Dahlheimer 2013), wird außerhalb der Sinnkonstitutionen der Gegennarration (vgl. Kap. III, 2.1.3 & 2.3.3) kaum Bezug genommen. Dass Familien als Lebenswelt von Kindern gewisse Erziehungsaufgaben zugewiesen werden, scheint hingegen aus allen Perspektiven unbestritten. Die konkreten Erwartungen und Anforderungen bleiben jedoch ebenfalls widersprüchlich und insgesamt eher diffus. Ähnliches konnten Betz et al. (2013) auch für die politische Diskursarena konstatieren: »Diskutiert wird indessen lebhaft, wie diese Rolle auszugestalten ist, angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen mit Blick auf neue Grenzziehungen zwischen familialer und öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen. […] Debattiert wird zudem, welche Eltern ihre Aufgabe erfüllen und ihre Verantwortung wahrnehmen (und welche nicht) und wie Eltern unterstützt werden können, um ihrem Erziehungsauftrag vor dem Hintergrund der skizzierten Herausforderungen nachzukommen« (S. 69). Der Kompetenzbegriff findet hierbei vorrangig in den beiden Schlagwörtern ›Erziehungskompetenz‹ und ›Elternkompetenz‹ Anwendung, zwischen denen inhaltlich jedoch ebenfalls nicht näher differenziert zu werden scheint, so dass die Begriffe weitestgehend synonym verwendet werden. Auch inhaltlich bleiben die Termini trotz ihrer häufigen Verwendung relativ unbestimmt, wobei sie sich insgesamt auf ein komplexes Konstrukt aus »Fähigkeiten« (z.B. Die Welt 10.05.2007; taz 14.10.2006c; taz 28.10.2006b) und »Wissen« (z.B. Der Spiegel 49/2006; Focus 42/2011) zu beziehen scheinen, das aber auch mit »Zuständigkeiten« bzw. »Verantwortlichkeiten« (z.B. Die Welt 26.08.2008; Die Zeit 43/2006b; Focus 04/2007) in Verbindung gebracht wird. Damit zeigen sich im diskursiven Gebrauch narrationsübergreifend im Wesentlichen zwei strukturierende Facetten des Begriffs, die Grabowski (2014) auch in anderen Diskursfeldern als leitend für die inhaltliche Strukturierung des Kompetenzbegriffes erachtet: a) »Kompetenz als Fähigkeit zur Bewältigung von Problemsituationen« (S. 18) und b) »Kompetenz als Befugnis oder Zuständigkeit, in bestimmten Situationen (auf der Basis einer angemessenen Befähigung oder Legitimation) zu handeln« (ebd.).

Diese zwei Bestandteile entsprechen ebenfalls den meisten Kompetenzdefinitionen des sozialwissenschaftlichen Fachdiskurses. Mit Euler und Bauer-Klebl (2009) lässt sich die erste Begriffsfacette etwas differenzierter betrachten, indem Fähigkeiten entweder »als gegeben festgestellt oder als Ziel des Lernens verstanden werden« (S. 28) können. In der massenmedialen Auseinandersetzung mit Fällen wie ›Kevin‹ lassen sich diesbezüglich sowohl Auffassungen von Kompetenz als ›natürlich-intuitive‹ bzw. wesensbedingte Anlage erkennen, die sich nur bedingt zielgerichtet beeinflussen lässt (vgl. Kap. III, 1 &

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung

2), als auch ein Verständnis von Kompetenz als erwerbbare ›Fertigkeit‹ (vgl. Kap. III, 3), die »von Wissen fundiert, durch Werte konstituiert, als Fähigkeiten disponiert, durch Erfahrungen konsolidiert, auf Grund von Willen realisiert« (Erpenbeck & Heyse 2007, S. 163) werde. Vor allem in der Modellpraxis der Familie als ›Bildungs- und Lernwelt‹ (vgl. Kap. III, 3.2) sind familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ somit eher in einer intermediären Systematisierung und Verbindung einer Vielzahl bereichsspezifischer kognitiver Verfügungen mit konkretem Handeln zu verstehen. Im vorliegenden Material erhält der Begriff familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ zudem vor allem innerhalb der zentralen Metapher des (Schau-)Spiels (vgl. Kap. III, 1.3.3 & 3.2.3) eine erweiterte Ausrichtung auf den Output, d.h. die Sichtbarkeit vermeintlicher (Un-)Fähigkeiten zur Problembewältigung, in der die Performanz als realisierte Leistung zum Bestandteil des ›Bühnenspiels‹ und ›Wettkampfes‹ um Kompetenzen wird. Familiale Erziehung im Alltag produziert sich, wie Hettlage und Bellebaum (2014) unter Berufung auf Goffman aufzeigen, somit »als kleines oder größeres ›Drama‹ der Selbstdarstellung vor anderen« (S. 28). Der darin anklingende (Wett-)Kampf von Familien um Anerkennung ist bereits im Wortursprung des Kompetenzbegriffes angelegt. Etymologisch leitet sich der Begriff aus dem lat. ›competere‹ ab, was sich mit ›zusammenfallen, zusammentreffen‹ und ›ausreichen, entsprechen‹, aber auch ›kämpfen‹ übersetzen lässt und dadurch bereits die verschiedenen konstitutiven Elemente einschließt: Zum einen handelt es sich bei diesem Phänomen um ein Konglomerat verschiedenster Wissensbereiche, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die in dem Terminus zusammenfallen, zum anderen ist eine gewisse performative Leistungsorientierung und Bewertung bereits angelegt: Um ›kompetent‹ zu sein, muss man sich anstrengen, muss ›kämpfen‹, um den gestellten Forderungen ›auszureichen‹ und zu ›entsprechen‹ (vgl. Wollersheim 1993, S. 89). Dies betrifft auch den Kampf von Familien gegen außen (vgl. Kap. III, 2.3.1) und verweist auf die Aktivierung der Potenziale von Akteuren, die ihre Fähigkeiten ausbauen können und dadurch auch an Autonomie gewinnen. Somit lässt sich in dieser narrativen Inszenierung von Kompetenz auch eine Handlungskomponente als externalisierte Kompetenzfacette verzeichnen, die in spezifischen Praktiken und Verhaltensweisen beobachtbar wird (vgl. Grubenmann 2013; Treptow 2014). Solche performativen Konzepte ermöglichen eine umfassendere Betrachtung und Bewertung einzelner Bereiche, als internalisierte Kompetenzkonzepte es zu leisten vermögen, und können daher auch als Antwort auf die gegenwärtige Komplexität von Familie und Erziehung verstanden werden. Die Ebene der Performanz als sichtbare Ausdrucksform von Kompetenz stellt dementsprechend einen wichtigen Bezugspunkt in der Kalkulation von Risiken sowie in der ›Überwachung‹ und (Wieder-)Herstellung bzw. dem Ausbau von ›Erziehungskompetenzen‹ dar: »Mit dem Begriff sollen konkrete Anwendungssituationen in den Blick geraten, in denen der Handelnde nicht bloß über ›träges Wissen‹ verfügt, sondern auf Basis einer unterstellten latenten, generativen Disposition dieses Wissen auch in neuen Situationen in angemessene Handlungen umsetzen kann« (Otto & Schrödter 2010, S. 165). Die Performanz scheint somit in der dargestellten Handlung nicht nur Ausdruck zu sein, sondern das Ausgedrückte erst hervorzubringen, wenn die Handlung vollzogen wird (vgl. Fischer-Lichte 2012, S. 44.). Ein solches Kompetenzkonzept, das nicht nur die Existenz bestimmter Fähigkeiten und Fertigkeiten umfasst, sondern auch den performativen Aspekt betont, dies nach außen unter

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Familie unter Verdacht

Beweis zu stellen, wird in den Erzählstrukturen der Gegennarration in der Konstruktion des familialen ›Schutz- und Schonraums‹, der gerade vor solchen Einblicken in die familialen ›Erziehungskompetenzen‹ schützen soll, explizit negiert (vgl. Kap. III, 2.3). Die Alternativnarration entspricht mit ihren innovativen Konzeptionen von ›Erziehungskompetenz‹ als einer komplexen, zielgerichteten, ausbaufähigen Wissens- und Handlungskomponente den zentralen Ergebnissen einer Literaturrecherche von Ott (2011) zur allgemeinen Diskurskarriere des Kompetenzbegriffs. Hierbei verweist er darauf, dass der Kompetenzbegriff nicht nur viele benachbarte Begriffe wie ›Fertigkeiten‹, ›Fähigkeiten‹, ›Wissen‹ oder ›Handlungsfähigkeit‹ zunehmend abzulösen scheint, sondern selbst auch eine konnotative Schwerpunktverlagerung auf zielgerichtete Fähigkeiten und Fertigkeiten erfährt und letztlich als »Bildungskategorie ausgebaut und etabliert wird« (S. 13). Im alternierenden Hervortreten der Narrationslinien werden aber auch die vergleichsweise eher tradierten Kompetenzverständnisse der anderen beiden Narrationslinien immer wieder diskursiv eingeschrieben und aktualisiert. Sie symbolisieren so gleichzeitig den andauernden Widerspruch zwischen romantischen und aufklärerischen Ideen von Erziehung und Familie. Antworten auf die Frage, ob familiale ›Erziehungskompetenzen‹ in ihrer Konnotation als ›Befugnis oder Zuständigkeit‹ den Familien überlassen oder ergänzt bzw. substituiert werden sollte, variieren dementsprechend ebenfalls zwischen den Narrationslinien, wobei eine hohe zugewiesene Verantwortung nicht zwingend deckungsgleich mit hohen zugeschriebenen Fähigkeiten sein muss. Die zugewiesene Zuständigkeit bzw. Verantwortlichkeit scheint vor allem eng gebunden an die jeweiligen Annahmen zu vorliegenden Dispositionen, Handlungsfähigkeiten und Bereitschaften der Familien, ›Erziehungskompetenzen‹ erwerben, ausbauen und in entsprechenden Situationen nutzen zu können. Tabelle 5 gibt einen Überblick über die Strukturierung der Kompetenzbegriffe der drei rekonstruierten Narrationslinien. Im vorliegenden Material spiegelt sich somit die gesamte Komplexität des Phänomens ›Erziehungskompetenz‹ sowie die Widersprüchlichkeit darüber wider, was denn nun eine ›gute Elternschaft‹ und ›Erziehung‹ ausmache, die sich auch im aktuellen sozialwissenschaftlichen Diskurs zeigt (vgl. Kap. II, 1.1). Die einzelnen Wissens- und Infrastrukturen der Narrationslinien sind hierbei zu einem komplexen Strukturprinzip zusammengewachsen, das in dem terminologisch unscharfen »Catch-all-Term« (Bittlingmayer & Bauer 2008, S. 164) der Kompetenz repräsentiert wird und somit Evidenz suggeriert, ohne übereinstimmende inhaltliche Strukturen oder theoretische Konzepte des Phänomens zugrunde zu legen (vgl. auch Reutter 2009, S. 36f.).

›Natürlich-intuitive‹ Anlage

Soziale Prägung und möglicher Erwerb

›Erziehungs(in)kompetenz als passives Erleiden (Kap. III, 2.)

›Erziehungs(in)kompetenz‹ als kontrollierbares Risiko und selbstbestimmte Herstellungsleistung (Kap. III, 3.1. & 3.3)

Quelle: eigene Darstellung

Wesensbedingte, ›monströse‹ Anlage

›Erziehungsinkompetenz‹ als epidemische Gefahr (Kap. III, 1.)

Anlage/Erwerb

Teilweise vorhanden

Vorhanden

Nicht vorhanden

Zuschreibung von Fähigkeiten

Tabelle 5: Die Strukturierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ in den Narrationslinien

Externalisiert

Internalisiert

Externalisiert

Kognition/ Performanz

Zugewiesen im Rahmen eines ›kalkulierbaren Risikos‹

Zugewiesen unter familienfreundlichen Rahmenbedingungen

Nicht zugewiesen

Verantwortlichkeit des Inhabers

III Narrationslinien familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung 229

IV Narrationsübergreifende (Macht-)Positionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

In Abhängigkeit von den jeweils zugrundeliegenden Wissensstrukturen und ›ideengeschichtlichen Kontexten‹ können nicht nur die Erzählstrukturen des Falls ›Kevin‹ und die darin enthaltenen Deutungen familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ sehr unterschiedlich ausfallen, sondern dieser »mehrdimensionale Deutungshorizont« (Nohl 2013, S. 36) ist gleichzeitig auch stark an unterschiedliche Zielsetzungen, Interessenlagen, Motive und (Macht-)Beziehungen gebunden, die Familie und Erziehung auf verschiedene Art und Weise ordnen und beeinflussen. Eine reduzierte Betrachtung der einzelnen Narrationslinien und ihrer Dynamiken würde sich demzufolge als verkürzt erweisen. Daher wird der Blick im Folgenden aus einer genealogisch orientierten Perspektive stärker von den Inhalten der Begriffe ›Familie‹ und ›Erziehungs(in)kompetenz‹ auf die darin enthaltenen Imperative und Kategorisierungsschemata sowie deren potenzielle intendierte und nicht intendierte Wirkweisen und (Neben-)Folgen gelenkt. Insbesondere vor dem Hintergrund der enormen Medienpräsenz und Wirkmacht des Falls ›Kevin‹ als kollektives Deutungsmuster familialen und staatlichen ›Scheiterns‹ (vgl. Kap. III, 4.3.1) werden Umbrüche und Dynamiken in den Auffassungen und Bewertungen von Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ (vgl. Kap. III, 4.1; 4.2) sowie die zahlreichen Gesetzesänderungen und Initiativen in den Bereichen Kinderschutz und Erziehungshilfen der letzten Jahre (vgl. Kap. III, 1.4.3 & 3.4.2) häufig als unmittelbare Reaktionen auf solche Fälle gedeutet (vgl. Brandhorst 2015, S. 25; Hehl 2017; Macsenaere et al. 2014; Patschke 2016, S. 25; vgl. auch Kap. II, 2.2.4). Hehl (2017) sieht in der öffentlichen Debatte des Falls ›Kevin‹ sogar den wichtigsten Auslöser für die nach der Jahrtausendwende aufkommende Kindeswohldebatte, und für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2013) »markiert es eine qualitative Veränderung der gesellschaftlichen Ansprüche und des Umgangs staatlicher Institutionen mit Familien, die ein Jahrzehnt zuvor nicht erkennbar war« (S. 38). Wenngleich die Wirkmacht des Falls auf strukturierende Wissensordnungen und Praktiken an dieser Stelle nicht bestritten werden soll, wird aus der vorliegenden Perspektive auf die Unterstellung eines einfachen Kausalzusammenhangs verzichtet. In der Annahme, dass solche Prozesse nicht linear verlaufen, sondern dass sich die massen-

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Familie unter Verdacht

medialen Verhandlungen, die Wissensstrukturen und die Herausbildung damit verbundener Artefakte gegenseitig beeinflussen, können entsprechende Veränderungen im Ergebnis sowohl als »Kevin-Effekt« (Der Stern 10.03.2008; Die Welt 28.05.2011) als auch als konstitutive Voraussetzung einer erfolgreichen massenmedialen Etablierung des Falls verstanden werden, die sich wechselseitig bedingen. Demnach repräsentiert der Fall ›Kevin‹ Ursache, Instrument und Folge zugleich. Es geht somit im Nachstehenden weniger um die Analyse eines richtungsweisenden, einseitigen Ursache-WirkungZusammenhangs zwischen dem Fall ›Kevin‹ und der Wahrnehmung von Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ als um die Rekonstruktion bedeutungstragender Bestandteile und regulativer Dispositive, die ebenso wie die Strukturelemente der einzelnen Narrationslinien widersprüchlich sein und miteinander konkurrieren können, was zu komplexen Veränderungsprozessen auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedene Richtungen zu führen vermag (vgl. Keller 2007a; Winkel 2013). Mit Foucault (1991 [1971]) gesprochen handelt es sich um unterschiedliche Regulierungstechnologien, die Debatten familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ als ›Diskursordnungen‹ oder gemäß Elias (2006 [1970]) als ›Figurationen‹ durch Regelsysteme, Strukturprinzipien und Praktiken formieren und in öffentliche Narrationen einspeisen. Im diskursiven Raum des Falls ›Kevin‹ und weiterer Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung scheinen vor allem das Kind(eswohl) (vgl. Kap. IV, 1) und die Familie als Lebensformen und -welt (vgl. Kap. IV, 2) solche narrationsübergreifenden, regulierenden Technologien bzw. diskursive Operatoren zu bilden. Denn obgleich deren konkrete Deutungsinhalte immer relativ sind, scheinen sie alle mit einem gewissen Aufforderungscharakter verbunden zu sein und dadurch die Wahrnehmung von Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ maßgeblich zu beeinflussen. Das Zusammenspiel aus Wissens- und Infrastrukturen und deren diskursive Dynamiken prägen somit auch den Auf- und Ausbau sozialer und kultureller Ordnungen sowie Vorstellungen darüber, was als ›normal‹ bzw. im Umkehrschluss als ›problematisch‹ oder ›unnormal‹ gilt (vgl. Toppe 2009). Bei der Betrachtung diskursiver Operatoren sind vor allem die narrativen Positionierungen von Familien und anderen Akteuren von Interesse, an denen die Relationierung der Differenzierungs- und Aufforderungsformen maßgeblich hängt. Sie werden von Diskurssprechern und Handlungsträgern artikuliert und transportiert, wobei immer auch unterschiedliche Interessen und Ressourcen daran gebunden werden (vgl. Keller 2008a, S. 262; Vogelmann 2014, S. 125). Daher ist anzunehmen, dass die Inhalte der Narrationslinien (vgl. Kap. III, 1-3) in ihren unübersichtlichen, verflochtenen Entwicklungspfaden (vgl. Kap. III, 4) sowie die damit einhergehenden Akte des Klassifizierens und Ausgrenzens (vgl. Kap. IV, 2) auch davon abhängen, wer die normativen Bewertungen vornimmt und deren Etablierung und Institutionalisierung unterstützt (vgl. Wildgruber 2011, S. 33). Neben der Frage nach dem ›was‹ und ›wie‹ erscheint somit auch die Frage nach dem ›wer‹ zentral. Anknüpfend an die Rekonstruktion narrativer Ordnungspraktiken von Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ soll eruiert werden, welche Bedeutung verschiedenen Institutionen und Funktionssystemen, wie z.B. der Wissenschaft und der Politik, bei der Konstruktion familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ und diskursiven Operatoren im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zukommt, d.h., welches Wissen durch wen (re-)produziert

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

und verbreitet wird, wie es strategisch umgesetzt wird sowie welche Akteure, Interessenvertreter und institutionellen Felder davon profitieren. Zudem soll an dieser Stelle auch der Frage nachgegangen werden, welche gruppenspezifischen Besonderheiten sich dabei identifizieren lassen, wie sich die Sprecherpositionen zueinander verhalten und welche Gruppen im Ringen um Deutungsmacht dominieren (vgl. Kap. IV, 3). Mit Berger und Luckmann (1980 [1969]) bilden die mitunter auch unbewussten und unbeabsichtigten Konstruktionen von Wissensordnungen den Rahmen, in dem die Subjektivierung der Akteure stattfinden kann (S. 145). Daran anknüpfend ist daher zu beleuchten, wie diese Ordnungen im Zusammenspiel der Akteure in manifestierten Praktiken und Objektivationen »normativ pädagogisch disziplinierend« (Moran-Ellis & Sünker 2010, S. 217) auf die Lebenswelt der Familien und anderer Akteure wirken können (vgl. Kap. IV, 4). Dabei ist die »Symmetrie zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit niemals statisch, niemals ein unabänderlicher Tatbestand […]. Sie muß immer in actu produziert und reproduziert werden« (BERGER & LUCKMANN 1980 [1969], S. 144f.). Erst aus diesen »Interdependenzketten« (Elias 1979, S. 381) bilde sich die Bedeutungs- und Sinnstruktur bzw. die soziale Ordnung einer Gesellschaft, die den Akteuren wiederum auferlegt werde. In solchen konfliktreichen Subjektivierungsprozessen kann es daher auch immer zur Konstitution stabiler Spannungsverhältnisse kommen (Adloff 2005). Sie scheinen sich im vorliegenden Material in unterschiedlichen Formierungen vor allem hinsichtlich der beiden Pole Autonomie und Zwang abzuzeichnen (vgl. Kap. IV, 4.2) und in kollektiven Interaktionen und (Macht-)Beziehungen zu stabilisieren: »Die ›Umstände‹, die sich ändern, sind nichts, was gleichsam von ›außen‹ an den Menschen herankommt; die ›Umstände‹, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst« (Elias 1969, S. 316).

1.

Das Kind(eswohl) als diskursiver Operator

Trotz divergierender Erwartungen und Anforderungen an Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ scheint sich narrationsübergreifend ein gemeinsamer Ankerpunkt und ein zentrales Leitziel in den massenmedialen Diskurs um den Fall ›Kevin‹ und weitere Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung eingeschrieben zu haben: das »Gut, das eigentlich über allem steht: das Kindeswohl« (SZ 14.12.2015). Als diskursiver Operator erhält es die zentrale Aufforderung einer ›kindeswohlorientierten‹ Erziehung. Sie bildet zugleich den Maßstab für die zugeschriebenen ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ und fungiert somit als Differenzierungslinie zwischen ›kompetenter‹ und ›inkompetenter‹ Erziehung bzw. Elternschaft (vgl. Kap. IV, 1.1). Zentral erscheint hierbei vor allem die relationale Positionierung des Kindes, die das ›Kindeswohl‹ erst mit Bedeutung füllt und dementsprechend völlig unterschiedliche Praktiken anleiten kann, wobei das ›Kind‹ zur Projektionsfläche der jeweiligen Deutungen und zum Indikator einer gelungenen Erziehung wird (vgl. Kap. IV, 1.2).

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1.1.

Das Kindeswohl als Differenzierungslinie und Maßstab familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹

Das Kindeswohl kann in den massenmedialen Verhandlungen von Fällen wie ›Kevin‹ nicht nur als gegebener und unhinterfragbarer »Bezugsrahmen der sozialen Ordnung« (Schäfer & Thompson 2015, S. 26) verstanden werden, sondern mitunter zeigen sich auch deutliche Bemühungen, das »Interesse des Kindes zur Richtschnur der Rechtsprechung« (Der Spiegel 33/2014) zu machen. Dies äußert sich z.B. im Jahr 2008 mit dem »Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls« (Der Spiegel 22/2007), durch das »Familiengerichte bei Vernachlässigung und Misshandlung künftig früher zugunsten des Kindeswohls eingreifen können« (Der Spiegel 22/2007). Aber auch in den ›Hilfen zur Erziehung‹ bildet das ›Kindeswohl‹ den zentralen Orientierungspunkt für Interventionen und Rechtsansprüche (§ 27 Abs. 1 SGB VIII). Die internationalen juristischen Entwicklungen und Regelungen zum Haager Kinderschutzübereinkommen zielen in dieselbe Richtung, insofern gegenwärtig nicht mehr die ›Harmonisierung der Rechtssysteme‹ im Fokus stehen soll, sondern das Kindeswohl: »Die Regelungen des Kinderschutzübereinkommens orientieren sich in erster Linie am Kindeswohl und erst in zweiter Linie an dem bestehenden Harmonisierungsbedürfnis der Staaten. Der Begriff kommt nicht nur, wie sonst, in der Präambel vor. In seinen Regelungen zur Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen, zum anzuwendenden Recht und zur Zusammenarbeit zwischen den Staaten wird die Berücksichtigung des Kindeswohls für die Umsetzung der Übereinkommen festgeschrieben« (Schwarz 2011, S. 39). Die verstärkten Versuche, das Wohl und die Entwicklung von Kindern zu begreifen und zu sichern, sind mit Scholz (2013) auch damit zu erklären, dass die »Entwicklung des Kindes als Modell für Entwicklung schlechthin genommen wird« (S. 54) und somit nicht nur auf die Kinder, sondern auch auf den ›Gesundheitszustand‹ einer Gesellschaft und der ihr innewohnenden Institutionen und Systeme zurückprojiziert werde. Entsprechend sollen jegliche »Gefahren für ihr Wohlergehen« (SZ 26.09.2012) im gesamtgesellschaftlichen Interesse möglichst eliminiert werden. Demnach erscheint es folgerichtig, dass die diskursiven Zuschreibungen familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ in allen Narrationslinien mehr oder minder eng an den Trennlinien von »Kindeswohl« und »Kindeswohlgefährdung« (z.B. Der Spiegel 29/2010; Die Welt 13.10.2006; Die Welt 21.01.2009; taz 29.07.2009) sowie der Orientierung an der vagen Vorstellung einer »gewaltfreie[n] Erziehung und Bildung« (Die Welt 23.04.2008) verlaufen. ›Erziehungskompetenz‹ wird hierbei nicht nur zur Grundbedingung einer ›kindeswohlorientierten‹ Erziehung, sondern deren Realisierung und Ausprägung scheint sich gleichzeitig im ›Kindeswohl‹ zu spiegeln bzw. sich daran zu messen. Damit steht auch »das Verhalten eines Kindes in engem Zusammenhang zu den Erziehungskompetenzen und -praktiken seiner Eltern« (Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S. 90). ›Erziehungsinkompetenz‹ wird zunehmend zum Synonym einer »Nichtgewährleistung einer dem Kindeswohl entsprechenden Erziehung« (§ 27 Abs. 1 SGB VIII). Vor dem Hintergrund dieser diskursiven Koppelungen kann das ›Kindeswohl‹ dann als Indikator verstanden werden, der die familiale ›Erziehungskompetenz‹ re-

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

präsentiert. Entsprechend erscheint es legitim, »das Kindeswohl zu überprüfen« (Die Welt 12.10.2006c), um den »Kindern bestmögliche Entwicklungschancen zu bieten« (Die Welt 20.12.2007). Kindliche »Entwicklungsdefizite« oder »Entwicklungsverzögerungen« (SZ 04.11.2006), die anschaulich von den jeweils vorgegebenen Normen einer ›normalen‹ Kindheit abweichen, werden somit vor allem im Rahmen der normalisierenden Tendenzen der Alternativnarration als wesentliche Gefahren oder Risikomarker erachtet, an denen sich die familialen ›Erziehungskompetenzen‹ der Eltern maßgeblich messen lassen müssen. Sie rechtfertigen denn auch den Einsatz am »Kindeswohl orientierter Standards« (FAZ 25.10.2006b) und entsprechender kindeswohlprüfender und -sichernder Verfahren als ein fundamentales Steuerungswerkzeug familialer Erziehung. Das Kindeswohl erscheint dann gleichbedeutend mit einer gelingenden kindlichen Entwicklung, die auf der Grundlage angenommener kindlicher Bedürfnisse und vergleichender Entwicklungsverläufe eingeschätzt wird (vgl. Jacob & Wahlen 2013). Entsprechend dieser engen Verknüpfung von Kindeswohl, familialer ›Erziehungskompetenz‹ und mitunter auch Kindesentwicklung bedarf es mit Einführung des § 27 SGB VIII im Unterschied zu den Eingriffsvoraussetzungen von § 1666 BGB auch keiner ›Kindeswohlgefährdung‹ mehr, sondern es genügt eine »dem Wohl des Kindes nicht entsprechende Erziehung« (§ 27 Abs.1 SGB VIII), um Interventionen einzuleiten. Dadurch erhält der Kindeswohlbegriff neben einer moralischen auch eine juristische Funktion als Prüfdeterminante und normative Entscheidungsgrundlage (vgl. Buschhorn 2011, S. 34; Gerlach 2017, S. 137). Das ›Wohl‹ des ›sicheren‹, ›sakralen‹ oder ›optimalen‹ Kindes kann daher auch verstanden werden als ein »diskursiver Operator, der in den Praktiken, in denen er gebraucht wird, die Machtbeziehungen, die Wissensformationen und die Subjektivierungen transformiert« (Vogelmann 2014, S. 21, Herv. i. O.) und sich hierbei unterschiedlichen Interessen und Zielsetzungen anpassen lässt. Begünstigt wird dies insbesondere durch die unklare Terminologie des ›Kindeswohls‹. Ebenso wie viele andere Begriffe im Kontext familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ und von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung sind auch die Termini ›Kindeswohl‹ und ›Kindeswohlgefährdung‹ nicht eindeutig definiert. Die Begriffsverständnisse divergieren in der wissenschaftlichen Diskursarena nicht nur in Abhängigkeit vom jeweiligen disziplinären Hintergrund, sondern lassen auch von Autor zu Autor weite Definitionsspielräume zu (vgl. Fendrich/Pothmann 2010, S. 1003). Der Begriff scheint somit nicht vorrangig auf das individuelle Wohlergehen des Kindes zu rekurrieren, sondern auf Einschätzungen zu dessen körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung, d.h., es geht um »die körperliche und seelische Verfassung des Kindes« (taz 14.10.2006b). Als Beginn der ›Begriffskarriere‹ lässt sich das Inkrafttreten des BGB im Jahr 1900 datieren, das sich auf die Gewährleistung des »körperlichen, geistigen und seelischen Wohls des Kindes« (Gerlach 2017, S. 137) bezieht. Unter dem Begriff ›Kindeswohlgefährdung‹ können im Umkehrschluss nahezu alle »Gewaltformen wie Vernachlässigung, Misshandlung und sexueller Missbrauch gegenüber Kindern« (Buschhorn 2011, S. 34) sowie laut Artikel 36 der UN-Kinderrechtekonvention »alle[n] sonstige[n] Formen der Ausbeutung, die das Wohl des Kindes in irgendeiner Weise beeinträchtigen« (Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2018b), gefasst werden. Es handelt sich somit auch juristisch nicht nur um einen un-

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bestimmten Begriff, sondern auch um einen »Rechtsbegriff, welcher nicht allgemein positiv beschrieben werden kann, sondern ausschließlich in einer negativen Beschreibung die Grundlage für die Begrenzung und Einschränkung des Elternrechts bildet« (§ 1666 BGB). Hinzu kommt die uneindeutige zeitliche Dimension des Terminus. So bleibt häufig unklar, ob Gefährdungen bereits Schädigungen implizieren und sich Gefährdungseinschätzungen dementsprechend auf das gegenwärtige Wohl beziehen oder ob eine Gefährdungsannahme als Prognose auch auf die Zukunft gerichtet sein kann. Die Abgrenzung zwischen einer »dem Wohl des Kindes nicht entsprechenden Erziehung« nach § 27 SGB VIII und einer »Gefährdung des Kindeswohls« nach § 1666 BGB erscheint somit ebenfalls nicht trennscharf. Obwohl der Begriff als »Orientierungs- und Entscheidungsmaßstab familiengerichtlichen bzw. kindschaftsrechtlichen Handelns« (Dettenborn 2007, S. 47) und als »Instrument und Kriterium der Auslegung von z.B. Kindesinteressen« (ebd.) dient, »fehlt es ihm selbst an schlüssiger Auslegung« (ebd.). Die Einschätzung und Auslegung einer Gefährdung bleibt daher stets dem jeweiligen Geheimnisträger im Einzelfall überlassen (vgl. Steinbüchel 2012). Dabei wird »man sich über bereits eingetretene Schäden bei Kindern vermutlich noch eher […] einigen können als über angenommene, zukünftig möglicherweise oder wahrscheinlich zu erwartenden Beeinträchtigungen« (Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S. 29). Die terminologische Unbestimmtheit und relativ hohe Auslegungsfreiheit des ›Kindeswohls‹ und der ›Kindeswohlgefährdung‹ werden mitunter auch damit begründet, dass »die Vielfalt individueller, familiärer und sozialer Verhältnisse und dessen, was für einen Minderjährigen in einer bestimmten Situation die beste Entscheidung ist, […] nach einem weit und allgemein gehaltenen Kindeswohlbegriff [verlangt], der dieser Vielfalt von Verhältnissen und Gegebenheiten Rechnung trägt« (Nickel-Schampier 2017, S. 68). Vor allem die »Nicht-Möglichkeit einer positiven Beschreibung ergibt sich aus der Schwierigkeit einer absoluten und allgemein objektiven Auffassung von Kindeswohl« (Wazlawik 2011, S. 16). Bei dem Versuch einer engeren Festlegung würde man sich in »unabgrenzbaren philosophischen Schilderungen verlieren, zumal das, was als gut für Kinder gilt, was also ihrem Wohl entspricht, nicht allgemeingültig bestimmbar, sondern immer auch von kulturell, historisch-zeitlichen oder ethnisch geprägten Menschenbildern abhängt« (Schone 2008, S. 25). Das ›Kindeswohl‹ wird demnach »einseitig als wohlwollender Eingriff von außen durch kompetente Erwachsene gedacht« (Bischoff et al. 2013, S. 29). Unabhängig davon, ob der Begriff hierbei mit einer ›gelingenden Entwicklung‹ des Kindes verknüpft wird oder sich vorrangig auf dessen Schutz und körperliche Unversehrtheit bezieht, erscheint es somit legitim, ihn aus den jeweils perspektivisch angenommenen Kindheitsbedürfnissen abzuleiten (vgl. Nauerth 2009, S. 226), welche die Familien ›kompetent‹ erfüllen müssen. Fraglich bleibt dabei jedoch, ob es sich tatsächlich immer um einen ermittelten »spezifischen erzieherischen Bedarf« (Schmid & Wiesner 2005, S. 280) handelt, der vorrangig auf das »Seelenheil« (Fegert et al. 2010, S. 34) des Kindes zielt, oder nicht häufig vielmehr historisch etablierte Zweckrationalitäten im Fokus stehen, die das Kindeswohl und eine ›kindeswohlorientierte‹ familiale Erziehung nach ihrem jeweiligen Nutzen für die Gesellschaft bewerten (vgl. Nauerth 2009, S. 226). Letzteres würde die Eigeninteressen bestimmter Akteursgruppen in den Vordergrund stellen und entspräche dem Bild, dass »allein das Argument des Kindeswohls – so wie es der Staat definiert – entscheidet« (Die Welt 23.04.2008). In die-

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

sem Zusammenhang diagnostiziert auch Sünker (2010), »dass seit den Anfängen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation Kinder und Kindheit(en), bei aller systematisch festzuhaltenden Differenz in Semantik und Konzeptualisierung und in divergierenden Weisen je nach Interessen und Positionen, zur ›Zukunft‹ von Gesellschaft erklärt werden« (S. 75). Hierbei tritt das ›Kindeswohl‹ in einer Selbstverständlichkeit in Erscheinung, die darauf hinweist, dass sich der Begriff, obwohl inhaltlich diffus, soweit etabliert zu haben scheint, dass auf Explikationen der zugrundeliegenden Inhalte verzichtet wird. Das ›Kindeswohl‹ kann dann sowohl als Legitimationsgrundlage dienen, die Lebensführung und ›Erziehungskompetenz‹ von Eltern zu beschränken oder auszubauen oder aber ein ›funktionales Risikomanagement‹ zugunsten gesellschaftlicher und ökonomischer Systeme in den Vordergrund rücken. Indem die Begriffe des ›Kindeswohls‹ und der ›Kindeswohlgefährdung‹ letztlich jedoch inhaltsleer bleiben, erwachsen aus ihnen hohe Definitionsspielräume und in der Folge, insbesondere im Zusammenhang mit der normativen Aufladung der Termini, Möglichkeiten, sie mit unterschiedlichen Interessen und Zielsetzungen zu verbinden. Das aber lässt sie nicht nur zu einem Maßstab und einer Kontrollinstanz werden, sondern auch zu einem »trojanischen Pferd« (Trotha 2008, S. 89) und einem distinktiven Faktor, der Differenzen und Ungleichheiten sozialer Ordnungen reproduzieren und stabilisieren kann (vgl. Bommes & Scherr 1996, S. 107f.; Tolasch 2016, S. 78). Denn alle Erziehungsleistungen, die nicht der jeweils zugrunde gelegten ›Kindeswohlorientierung‹ entsprechen, werden dann zu Formen einer »nicht der Norm entsprechenden« (SZ 23.11.2007b) Erziehung und damit zum Gegenstand von normativen Zuschreibungen.

1.2.

Die Auflösung des Kindes in der Projektionsfläche unterschiedlicher Ordnungen

Obwohl das Kind mit dem Kindeswohlbegriff im Zentrum des Interesses zu stehen scheint, bekommt es als »menschliche[s] Maß« (taz 22.02.2007) im massenmedialen Diskurs um Fälle wie ›Kevin‹ insgesamt eine auffallend passive Stellung zugewiesen: Sowohl die ›gelingende‹ als auch die ›misslingende‹ familiale Erziehung wird am Kind vollzogen. Agency wird ihm dabei kaum zugedacht und aktive Kinderfiguren, wie sie in einigen anderen Diskurssträngen und -feldern mitunter skizziert werden, scheinen hier einen Status des Unsagbaren zu erhalten und aus dem Diskurs um familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung ausgegrenzt zu werden. Zu nennen wären z.B. Positionierungen von Kindern als »Bösewichte« (Lehmann 2015), »Liebestöter« (Maier 2008) oder »gefährliche care-receiver« (Baader et al. 2014, S. 10, Herv. i. O.), die dem ›Kind als passives Opfer‹ entgegenstehen und von denen anzunehmen ist, dass ein öffentliches Sprechen über diese Figuren und die damit verbundenen Problemfelder zu einer Modifizierung des Diskurses führen würde, der die Macht des ›Kindeswohls‹ in seiner Funktion als diskursiver Operator abschwächen würde. Obwohl die Figur des ›gefährlichen Kindes‹ (vgl. Kap. II, 2.2.2) sowohl in der sozialen Prägung, d.h. der möglichen Entwicklung vom kindlichen Opfer zum späteren Täter (vgl. Kap. III, 3.1.3), als auch im ›Risiko Kind‹ (vgl. Kap. III, 3.2.2) implizit bereits angelegt ist, wird sie nicht weitergeführt.

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Ebenso wie Bischoff et al. (2013) es für den familienpolitischen Diskurs nachzeichnen konnten, scheint somit auch in den massenmedialen Debatten um Fälle wie ›Kevin‹ weniger das aktive, individuelle Kind im Fokus zu stehen, sondern die »Notwendigkeit der frühen Nutzbarmachung kindlicher Potenziale« (S. 29). Damit werden Kinder in erster Linie über ihren gegenwärtigen und zukünftigen Wert für die jeweiligen Eltern oder die Gesellschaft bewertet und damit implizit verdinglicht. Das ›Kindeswohl‹ ermöglicht hierbei deutlich mehr Möglichkeiten der Herstellung und Etablierung von Narrationen, Praktiken und deren Objektivationen als der Begriff des ›Kinderschutzes‹, der lediglich die Sorge um das Kind, aber nicht dessen Potenziale und Funktionen umfasst. Unter dem Deckmantel des ›Kindeswohls‹ wird das Kind dann nicht nur zu einem »Prüfstand der elterlichen Leistung« (Seehaus 2014, S. 244), der weit über bloße Sicherheitsaspekte und die juristisch verankerte Sorgepflicht hinausgeht, sondern das Kind erhält als ›Indikator‹ auch selbst sowohl eine objektivierte als auch performative Dimension. Objektivierende Tendenzen zeigen sich bereits auf sprachlicher Ebene in der deutlich passiven grammatischen Konstruktion der Berichterstattung über ›Kevin‹ und andere Fälle misshandelter und vernachlässigter Kinder in einem »Modus des Erleidens« (Helfferich 2012, S. 12). So seien die Kinder z.B. »schwer misshandelt worden« (taz 09.06.2010), »wurden getötet« (z.B. Focus 50/2007) oder sind »aufgefunden worden« (taz 20.12.2010). Es tauchen nahezu keine aktiven Verben auf. Verstärkt wird die passive Figur des Kindes aber auch in diversen Objektivationen wie z.B. dem Anspruch auf erzieherische Hilfen (§ 27 SGB VIII), der ausschließlich den Personensorgeberechtigen zusteht und nicht dem Kind. Die passive massenmediale Konstruktion des Kindes zeigt sich aber auch in der Konservierung des Falls ›Kevin‹ als namhaftes Deutungsmuster im kulturellen Wissensvorrat (vgl. Kap. III, 4.3.1). Sie kann als Deonymisierung und somit spezielle Form der Bedeutungsverallgemeinerung angesehen werden, in der der Eigenname ›Kevin‹ an Bedeutung verliert. Demgegenüber scheint der Körper der »Kinderleiche« (Die Welt 12.10.2006b) eine herausragende diskursive Stellung einzunehmen, während den Kindern eine Leibhaftigkeit bereits zu Lebzeiten verwehrt zu bleiben scheint.1 Sie werden misshandelt oder vernachlässigt und nicht zuletzt wie Tiere in der Wohnung eingesperrt (vgl. z.B. Die Zeit 17/2005; taz 28.10.2006b). In der Begrenzung der Kinder auf ihre objektivierte Körperlichkeit verlieren sie nicht nur ihre Individualität, sondern ihr Körper wird auch zu einem Appellativum umgedeutet, mit dem verallgemeinernd auf familiale, gesellschaftliche und politische Unzulänglichkeiten hingewiesen werden kann. Kevin ist nicht mehr das Kind, sondern »er ist jetzt der Fall Kevin aus Bremen« (SZ 13.10.2006b). So gehört »der geschundene Leib […] nicht länger dem Individuum, sondern verkörpert alle misshandelten Kinder der 1

Die Trennung bzw. der Dualismus von Körper und Leib geht im Wesentlichen auf die anthropologisch-phänomenologisch fundierten Arbeiten Plessners (1975 [1928]) zurück, der dem Zusammenspiel von Körper und Leib ein Großteil seines Gesamtwerkes widmete. Dass der Mensch in Abgrenzung zum Tier sein Handeln reflektieren und sich somit auch nach außen positionieren kann, sieht Plessner im Wesentlichen in seiner ›Leibhaftigkeit‹, die sich aus dem ›Leib‹ entwickele, der im Gegensatz zum ›Körper‹ über ein Selbstbewusstsein verfügt (vgl. Plessner 1975 [1928], S. 291f.). Demnach kann lediglich der Körper als Objekt von außen beobachtet werden, während der Leib nur subjektiv von innen erfahren werden kann (vgl. Gugutzer, 2004, S. 152f.).

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

Republik […,] es macht den ›wirklichen‹, den realen Kevin unsichtbar« (Brandhorst 2015, S. 352), bis er gänzlich »verstummt« (Focus 42/2006a). Ebenso wie den vermüllten Dingen, zwischen denen die misshandelten Kinder mitunter aufgefunden wurden (vgl. Kap. III, 1.1.3), kommt den toten Körpern der Kinder zwar keine Agency zu, sie erhalten aber insbesondere im Deutungsmuster ›Kevin‹ einen deutlich performativen Charakter: »Kevins toter Körper erzählt genug über das, was er [der Ziehvater] dem Kind angetan hat« (Die Zeit 25/2008). Somit sind die Kinder auch in ihrer körperlichen Reduktion »durchaus noch als Aktanten zu betrachten, die durch ihr Zusammenwirken eine Situation herstellen können, auf die durch sie betroffene Menschen reagieren müssen« (Fischer-Lichte 2012, S. 177). Denn jene objektivierenden Inszenierungen und Reduktionen auf eine körperliche Materialität verleihen dem Kind Eigenschaften eines »materiellen bildspendenden Bereichs« (Kruse et al. 2011, S. 78, Herv. i. O.), der durch unterschiedliche funktionale Kinderbilder wiederbelebt werden kann. Das auf seine Körperlichkeit begrenzte Kind wird somit zu einer »Art Puppe« (SZ 07.12.2006) bzw. zu einer Marionette eines (Schau-)Spiels (vgl. Kap. III, 1.5 & 3.5), die nicht nur entsprechend der zugrundeliegenden Begriffsexplikationen, Interessen und Zielvorstellungen gesteuert werden kann, sondern die diese dann in ihrem Abbild auch sichtbar nach außen zu tragen vermag und so auf den öffentlichen Diskurs einwirkt. Angesichts dessen kann die zunehmende Ausrichtung familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ an einer ›kindeswohlorientierten‹ Erziehung nicht nur anhand sozialer Wandelprozessen und einer damit einhergehenden Erosion sozialer Sicherungs- und Wertsysteme erklärt werden, in der Kinder wichtige Humanressourcen für die Gesellschaft (vgl. Kap. III, 3.2.2) und Stabilisatoren von Familien (vgl. Kap. III, 2.2.2) bilden, sondern auch mittels der vielfältigen Möglichkeiten einer Funktionalisierung des Kindes als Projektionsfläche und Appellativ verschiedenster Deutungen. So lassen sich letztlich auch die lebenden Körper kontrollieren und im Rückbezug auf die jeweils als gültig ausgewiesenen Wissensbestände bearbeiten und vermessen. Der Körper und nicht der Leib wird zum eigentlichen Erkenntnisorgan und zum »Gegenstand der Verwissenschaftlichung« (Zillien et al. 2015, S. 91), während das leibliche Verstehen der Kinder situativ und flüchtig bleibt. Dieser Vorgang lässt sich mit Foucault unter dem Begriff der »medizinischen Disziplinierung« fassen, deren Vollzug er bereits für die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nachweist. Diese Disziplinierungsform umfasse alle Regulationsmechanismen, die auf die Generierung eines ›normalen‹ bzw. ›gut entwickelten‹ Körpers zielen und zunehmend in einem Optimierungsprozess zu münden scheinen (vgl. Foucault 1983 [1976]).

2.

Diskursive Akte des Ausgrenzens und Unterdrückens von Familien

Die Annahme des Kindes(wohls) als Maßstab und Resultat einer ›kompetenten‹ Erziehung (vgl. Kap. IV, 1) ist diskursiv immer auch an verschiedene Normalitätsvorstellungen von Familien und elterlichen Eigenschaften gebunden. Auf diese Weise werden bestimmten Familien höhere ›Erziehungskompetenzen‹ zugesprochen als anderen. Solche Ordnungen legitimer und illegitimer Modellpraktiken und Subjektpositionen werden besonders in den Bewertungen eines vermeintlichen Versagens oder Scheiterns von

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Familien in Fällen wie ›Kevin‹ deutlich, die immer auch spezifische Verhältnisse von Individuum und Gesellschaft repräsentieren. Durch Zuschreibungen des Scheiterns und Versagens wird im vorliegenden Material somit nicht nur auf eine enge Verbindung zwischen familialen ›Erziehungsinkompetenzen‹ und Kindesmisshandlung und -vernachlässigung abgestellt (vgl. Kap. III, 4.3.2), sondern diese Praxis wird in Akten des Ordnens und Klassifizierens auch an bestimmte Personengruppen und Erkennungsschemata gebunden. Diese dienen dann als ein »wahrnehmbares Kennzeichen, mit dem Differenz als Differenz markiert« (Lindenhayn & Sties, S. 11, Herv. i. O.) wird und das als »Gegenstand komplexer lokaler Aushandlungen in hohem Maße kontextabhängig« (ebd. S. 14) ist. Ebenso wie die zugrundeliegenden Problemwahrnehmungen stellen solche Kategorisierungen keinen objektiven Tatbestand dar. Vielmehr repräsentieren sie eine »historisch spezifische Deutung sozialer Tatsachen« (Endreß 2013, S. 26) als Resultat von Selbst- und Fremdzuschreibungen, die in jeweils eigenen Äquivalenzketten mit Bedeutung gefüllt und dann im Sinne eines ›Doing-social-Problems‹ (Groenemeyer 2010) zumeist als evident und selbstverständlich präsentiert werden. Sie stellen im Ergebnis »soziale Landkarten dar, auf denen Grenzen gezogen werden und Entfernungen zwischen Positionen und Gruppen bestimmt werden« (Berger 1988, S. 508). Während die Markierung von Eltern als ›versagende Monster‹ (vgl. Kap. III, 1.2.1) wenig Möglichkeiten der internen Kategorisierung lässt – »denn dem Monster sind wenige Grenzen gesetzt; es ist eine Kategorie jenseits von Kategorien« (Knöppler 2013, S. 196) –, eröffnen die Positionierungen von Eltern als ›Tragikos‹ (vgl. Kap. II, 2.2.1) und vor allem als ›Risiko‹ (vgl. Kap. III, 3.2.1) die Möglichkeit, bestimmte Familienformen oder Eigenschaften der Eltern mit familialem ›Versagen‹ kurzzuschließen. Die narrativen Kategorisierungen reichen im vorliegenden Material dementsprechend von einer Diskreditierung der pauschalisierten Gesamtheit der Familien (vgl. Kap. IV, 2.1.) über einzelne biologische und kulturelle Gruppierungen (vgl. Kap. IV, 2.2) bis hin zu differenzierten hierarchischen Anordnungen bestimmter Personenmerkmale, Lebensformen und -lagen (vgl. Kap. IV, 2.3). Neben kollektiven, sozialen und kulturellen Unterschieden kommen hierbei auch individuelle und natürliche Differenzen wie z.B. Persönlichkeitseigenschaften und Geschlechtsunterschiede zum Tragen. Die kategorisierenden Praktiken narrativer Sinnstiftung lassen sich zwar vorrangig bestimmten Narrationslinien zuordnen, es fließen aber immer auch Strukturelemente anderer Problemnarrationen ein, so dass eine trennscharfe Zuweisung nicht möglich ist. Gemein ist ihnen jedoch, dass sie alle auf mehr oder minder subtilen Formen der Klassifikation, Hierarchisierung und Ausgrenzung basieren. Weiterführende Fragestellungen und strategische Hintergründe der wirklichkeitskonstituierenden, hierarchisierenden Prozesse und (Positionierungs-)Mächte werden zumeist ebenso überdeckt wie die Interaktionen, in denen sie permanent verhandelt und reproduziert werden (vgl. Honig 2019). So wird ihnen als Steuerungs- und Differenzierungsfaktoren in der Öffentlichkeit verhältnismäßig wenig Beachtung geschenkt. Als ›soziale Landkarten‹ regulieren sie jedoch nicht nur die diskursiven Wissens- und Sinnstrukturen, die dazu führen könne, dass Familien oder zumindest bestimmte Teilgruppen irreversibel in ihrer Reputation beschädigt werden (vgl. Ludwig & Schierl 2016). Vielmehr rechtfertigen sie auch die selektive Anwendung bestimmter Maßnahmen. Damit wirken sie als Objektivationen und institutionalisierte Praktiken unmittelbar auf den Alltag der Fami-

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

lien ein und führen dazu, dass bestimmte Personengruppen beabsichtigt oder unbeabsichtigt gefördert und andere diskreditiert werden können. Die einzelnen Praktiken des (kategorisierenden) Ordnens und Ausgrenzens werden im Folgenden differenzierter entschlüsselt.

2.1.

2.1.1.

Die öffentliche ›Vorführung‹ als performative Praxis einer generalisierenden Stigmatisierung Die ›Mär vom immer mehr‹ als Inszenierungsform eines Generalverdachts gegenüber Familien

Im Rahmen der diskursiven Entwicklung des Falls ›Kevin‹ als ein auf Bremen begrenztes Problem (z.B. Die Welt 12.10.2006b; Die Welt 13.10.2006), dann aber der »Bremer Linie« (Die Welt 12.10.2006c) zur »nationalen Katastrophe« (Die Welt 17.10.2006), die zunehmend mit anderen Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung verknüpft wird (vgl. Kap. III, 4.3.1), scheint das ›Versagen der Familie‹ zunehmend zu einer allgemeingültigen Bezugsgröße (»Deutschland misshandelt seine Kinder«, Tsokos & Guddat 2014) und damit auch zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu werden: »Die deutsche Familie wird von allen Parteien neuerdings als Problemfall wahrgenommen« (Der Spiegel 49/2006). Solche Schilderungen und Inszenierungen, die insbesondere durch die Ausgangsnarration in den Diskurs eingespeist werden, sind zumeist nicht nur sehr expressiv und dramatisierend, sondern häufig auch von stark verallgemeinerndem Charakter: »Der Skandal ist ein alltäglicher, und die Familie leider für viele Kinder kein Schutzraum, sondern Tatort« (FAZ 10.07.2018). Im Rahmen dieser Entwicklungen spielen Nomen eine interessante Rolle: Institutionalisierende Formulierungen wie »die deutsche Familie« (Der Spiegel 49/2006) oder das »Schutzsystem Elternhaus« (SZ 29.12.2007) verweisen z.B. auf die mehr oder minder homogene Gruppe einer »überwältigende[n] Mehrheit der Eltern, [die pauschal] unter Verdacht gestellt werde« (FAZ 26.05.2007). Hierdurch wird das Versagen familialer ›Erziehungskompetenzen‹ im Einzelfall »ohne systematisch empirische Überprüfung, sozusagen pars pro toto, verallgemeinert zum Versagen der Mehrheit der Eltern« (Ostner 2009, S. 50, Herv. i. O.) und als beherrschender Lebensstil gedeutet: »Nur noch am Rande war von den Eltern die Rede, die sich liebevoll um ihre Kinder kümmern. Im Mittelpunkt standen Väter und Mütter, die sich keinen Deut darum scheren« (Die Zeit 43/2006b; vgl. auch Kap. III, 1.1). Klassifizierende Ordnungen familialer Settings werden in diesem Duktus der »Mär vom ›immer mehr‹« (Die Welt 06.06.2008b) kaum vorgenommen. Vielmehr werden Praktiken, die bestimmte ›problematische‹ Personenkreise fokussieren, eher als eine »gravierende Schwachstelle« (Die Welt 12.07.2007) des Kinderschutzes erachtet, wie z.B. der Fall des misshandelten zweijährigen Ben-Randy zeigt: »Die Familie sei nicht als Problemfall bekannt. Also hielten die Mediziner still und versorgten zehn Tage lang die schmerzenden Wunden des hilflosen Kleinkinds. Dann holten die Eltern den Jungen ab« (Der Spiegel 51/2007). Die Narrative richten sich vielmehr wiederkehrend und in totalisierender Weise auf die Familie als Ganzes und setzen sie so als gesamtgesellschaftliche Bedrohung nicht nur in den Kontext eines Niedergangs oder »Zerfall[s] der Familie« (Die Welt 23.12.2008; vgl. Kap. III, 4.1.2), sondern stellen auch ihre Mitglieder und deren ›Erziehungskompetenzen‹ nahezu vollständig über alle Gesellschaftsschichten hinweg

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242

Familie unter Verdacht

in Frage. Dadurch wird die Familie an sich pathologisiert und gerät in eine »Logik des Verdachts« (Scherr 2014, S. 17): »Misshandelte Kinder sind weder Einzelfälle noch Delikte einer sozialen Schicht« (FAZ 15.04.2009). »Die soziale Lage der Familie spielt keine Rolle« (SZ 24.03.2009). »Es ist ein großer Blödsinn, zu glauben, Misshandlungen gebe es nur in der Unterschicht. Im Gegenteil, wer wohlhabend und gebildet sei, misshandle sein Kind nicht weniger häufig als etwa ein Hilfsarbeiter. Allenfalls anders« (taz 22.02.2007). Auch »die Hintergründe dieser Taten ähneln sich fast immer« (Der Spiegel 42/2006a). Erfolg als Gegenstück des totalen Versagens und Scheiterns familialer Erziehung wird nicht nur nahezu ausgeklammert, sondern zudem bereits im Vorfeld mit der Aussicht auf ein Scheitern verknüpft. Das Scheitern wiederum wird so als Form der Inkompetenz (re-)produziert und selbst zu einer stigmatisierenden Zuschreibung (vgl. Peeck 2014, S. 78). Durch sie kann letztlich der kleinste Hinweis auf potenzielles Versagen von Eltern zur Gefahrenlage für das ›Kindeswohl‹ stilisiert werden und entsprechende Gegenmaßnahmen sowie Macht- und Herrschaftsverhältnisse können legitimiert werden, um eine sich vermeintlich ausweitende Gefahrenlage einzudämmen. Metaphoriken des ›Monströsen‹ und der ›Verunreinigung‹ können diese Wirkung als »kulturelle Skripts« (Schröder 2012, S. 145) vor allem durch ihre Volksnähe und ihre Ausdruckskraft verstärken und »unter dem Eindruck einer Konsensorientierung symbolisierter Handlungs- und Deutungsmuster auf höchster Ebene der Legitimierung« (vgl. Dreher 2012, S. 133) festigen. Denn in diesen Sprachbildern finden sich neben Diffamierungsaspekten vor allem Elemente eines »immanente[n] Gefahrenpotenzial[s], das durch die Metapher des Mülls und die angelagerten Aspekte der Ansteckung und Verschmutzung transportiert wird« (Farzin 2016, S. 148). »Die Bedrohung durch den Müll, seine ›agency‹, vermag daher geradezu ein apokalyptisches Szenario heraufzubeschwören« (Fischer-Lichte 2012, S. 178). So lassen sich elterliche ›Erziehungskompetenzen‹ generell diskreditieren und es wird der vielschichtigen Realität mit vereinfachten Konstruktionen ›monströser‹ Eltern und ›dämonischer‹ Familien begegnet (vgl. Kap. III, 1.2.1). Die damit einhergehende Überformung von Unterschieden kann die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit von Familien und ihren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ zu einem konsistenten Ganzen zusammenbringen und Familien so zu einem Repräsentant der Gefahr und des Versagens machen, der dann auch als »Ventil der Abfuhr von Ängsten und Unsicherheiten« (Peters 2015, S. 139) genutzt werden kann, denn ohne solche ›Sündenböcke‹ falle es zunächst schwer, das Geschehene zu begreifen und den Schmerz einzuhegen (vgl. ebd.). Die Inszenierung der dichotomen Konfliktsituation des erwachsenen Täters auf der einen Seite und des unschuldigen kindlichen Opfers auf der anderen Seite (vgl. Kap. III, 1.2) bietet somit vor allem in der Ausgangsnarration die Möglichkeit klarer einseitiger »(Vor-)Verurteilungen« (Schetsche 2003, S. 12). Dies kann unabhängig von einem realitätsgerechten Anspruch zu einer Wahrnehmung führen, in der das ›Scheitern‹ von Familien in Fällen wie ›Kevin‹ exemplarisch für die Gesamtheit aller Familien stehen kann, während es sich tatsächlich eher um extreme Einzelfälle handelt (vgl. Schetsche 2014, S. 132). Diese mögliche Wirkweise lässt sich mit dem ›Halo-Effekt‹ aus der sozialpsychologischen Wahrnehmungsforschung beschrei-

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

ben, der davon ausgeht, dass besonders dominante Ereignisse oder Eigenschaften einer Person oder Gruppe andere überstrahlen und so auf die gesamte Beurteilung der Person oder Gruppe wirken. Verstärkt werde dies insbesondere durch die Hervorhebung der fokussierten Begebenheiten und Eigenschaften sowie mangelnder Informationen zu anderen Ereignissen und Merkmalen (vgl. Rosenzweig 2008, S. 234). Eine solche kognitive Verzerrung wird auch durch verschiedene Metaphern wie z.B. das EisbergModell gestützt (vgl. Kap. III, 1.3.2), das durch den Hinweis auf ›unsichtbare‹ Elemente unter der Oberfläche gleichzeitig dazu verleitet, »sich gerade nicht im Detail mit dem zu beschäftigen, was unterhalb der Wasseroberfläche liegt« (Kühl 2012, S. 68). Diese Metapher stellt generell ein beliebtes Bild dar, um komplexe Zusammenhänge zu verschleiern, und fand bereits in den 1970er Jahren im Kontext von Misshandlung in der Darstellung eines problematischen Ausmaßes alltäglicher Bedrohung Verwendung (Der Spiegel 19/1972).

2.1.2.

Die ›Ver-Öffentlichung‹ familialer ›Erziehungsinkompetenz‹ als Form des Vertrauensentzuges

Mit der medienwirksamen und bildhaften Inszenierung und Verbreitung von Fällen wie ›Kevin‹ werden nicht nur im Allgemeinen Erziehungspraktiken öffentlich sichtbar, die zuvor nicht die Intimsphäre der Familie verlassen haben. Es rücken insbesondere jene in den Vordergrund, die als defizitär ausgewiesen werden. Die massenmedialen Auseinandersetzungen mit ›versagenden Familien‹ und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ stellen somit auch insofern eine Neubestimmung von Familie und der darin eingebundenen Elternschaft dar, dass deren ›Erziehungskompetenzen‹ hierbei nicht nur nahezu generalisierend in Frage gestellt werden, sondern auch öffentlich sichtbare Eingriffe sowie performative Prüf- sowie Verpflichtungsdimensionen hinzukommen: »Mit einer stärkeren ›Ver-Öffentlichung‹ privater Zusammenhänge werden Einblicke in strapazierte familiale Lebensarrangements gewährt, die auch einen stärkeren amtlichen Zugriff auf Familie legitimieren und damit zugleich Verschiebungen im Verhältnis von öffentlicher und privater Sphäre aufzeigen bzw. dieses mit Blick auf Zuständigkeiten normativ reformulieren« (Richter et al. 2009, S. 1). Ein vermeintliches Versagen familialer ›Erziehungskompetenzen‹ wird somit nicht nur öffentlich postuliert, sondern es wird performativ zugänglich und korrigierbar, so dass Gelingen und Misslingen familialer Erziehung in der Performanz vor anderen eine neue Relevanz erhält: »Einen Nagel nicht in die Wand schlagen zu können, kann zwar ärgerlich für mich selbst sein, aber erst durch mein Eingeständnis und die Bitte um Unterstützung, zum Beispiel bei meinem Nachbarn, wird der Misserfolg auch für jenen sichtbar und bewertbar« (Dreke 2005, S. 127). Im Rahmen der massenmedialen Berichterstattungen etabliert sich im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ somit narrationsübergreifend ein Diskurs, der die objektivierten Leistungen fokussiert und familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ einem breiten Publikum sichtbar macht. Das greift nicht nur tief in den familialen Nahbereich ein, sondern setzt Familien auch den Bewertungen der Gesellschaft aus (vgl. Gerlach 2017, S. 67). In Prozessen des ›Displaying Familiy‹ (Finch 2007) wird familiale Erziehung nicht nur zu einer öffentlichen Praxis, sondern auch einer narrativ eingeforderten »kulturellen

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Familie unter Verdacht

Aufführung« (Gebauer & Wulf 1998, S. 141; vgl. auch Kap. III, 1.3.3). Dies entspricht Williams (1998) These eines generellen Wandels hin zu einer »dramatisierenden Gesellschaft«, in der »das Fließen von Handlung und schauspielerischem Handeln, von Darstellung und künstlerischer Umsetzung […] in den Rang einer neuen Konvention, den eines grundlegenden Bedürfnisses aufgerückt« (S. 240) sei und sich die Akteure immer wieder neu verwirklichen und ›in Szene‹ setzen müssen: »Das Selbst als dargestellte Rolle ist also kein organisches Ding […]; es ist eine dramatische Wirkung, die sich aus einer dargestellten Szene entfaltet, und der springende Punkt, die entscheidende Frage ist, ob es glaubwürdig oder unglaubwürdig ist« (Goffman 2003 [1976], S. 231). Das bedeutet, familiale ›Erziehungskompetenz‹ muss »wie ein gutes Schauspiel inszeniert werden, das einem Skript gehorcht, dennoch improvisiert wird« (Winkler 2012, S. 33). Insgesamt lassen sich mit Knoblauch (2009) drei verschiedene Ebenen der Theatralität im vorliegenden Material skizzieren: Bei der ›Inszenierung‹ auf der ersten Ebene werden bestimmte Sachverhalte, Handlungen und Prozesse nicht nur dargestellt, sondern dramatisiert. Mit der ›Verkörperung‹ werden dann auf der zweiten Ebene die handelnden Personen stärker fokussiert, die sich implizit oder explizit auf einer Bühne bewegen und beobachtet werden können, wodurch sie das Merkmal der Performanz erfüllen. Erst auf der dritten Ebene, der ›Realisierung‹, werde jedoch die theatrale Ordnung entfaltet (vgl. S. 224). In der Folge führt die Theatralisierung familialer Erziehung zu einem entsprechenden doppelten Wandel der Öffentlichkeit: ›Szenen‹ familialer Erziehung werden für ein großes Publikum sichtbar; die Akteure präsentieren nicht nur, sondern müssen ihr Handeln darauf einstellen, d.h., sie müssen das ›Bühnenspiel‹ der Familie nicht nur ›aufführen‹ (vgl. Kap. III, 1.3.3), sondern werden auch ›vorgeführt‹. Pranz (2009) spricht hierbei auch von einem »doppeltem Publikumsbewusstsein« (S. 29), das als »Katalysator des Theatralen« (ebd.) fungiere und so zu erhöhten Performanzanforderungen und der Aneignung von »Inszenierungswissen im Alltag« (Fischer-Lichte 2012, S. 291f.) führe. Familien geraten so immer mehr in eine Position der Rechtfertigung bzw. (Gegen-)Darstellung; ihnen wird eine gewisse »Kompetenzdarstellungskompetenz« (Pfadenhauer 2003) als »Potential zum selbständigen Handeln in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen« (Arnold 2001, S. 176) abverlangt. Dies birgt die Gefahr, dass Leistungen und Kompetenzen, die sich der Sichtbarkeit und Darstellung nach außen entziehen, an Legitimität verlieren (vgl. Treptow 2015, S. 2f.) und durch die ›Ver-Öffentlichung‹ familialer Erziehungsleistungen es zu einer zunehmenden Konzentration auf die performativen Bestandteile familialer Erziehung kommt. Sie wiederum können so in funktionalistischer Weise zu Fragen eines »Outputs« (kurzfristige Ergebnisse) und eines »Outcomes« (langfristige Effekte) verkürzt werden (vgl. Schmidt-Hertha 2011, S. 153) – wie es sich in der über weite Strecken des Diskursverlaufs dominierenden Alternativnarration andeutet. Durch die »Allgegenwart der Medien und ihre Durchdringung aller Lebensbereiche« (Kübler 2011, S. 35) können Familie und Beziehung längst nicht mehr als »makrosoziologisch unschädliches Betätigungsfeld« (Berger & Kellner 1965, S. 231) angesehen werden, »in dem der einzelne seinen weltschaffenden Neigungen nachgehen kann, ohne wichtige soziale, ökonomische und politische Bereiche zu stören« (ebd.). Familie und Erziehung erhalten in der Außendarstellung vielmehr einen eigenständigen Sinngehalt als »theatralisierte Wirklichkeit« (Soeffner 2004: S. 236), die sich vor allem mit der

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

Inszenierung der ›katastrophalen Ereignisse‹ im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ selbst hervorbringt, reproduziert und manifestiert. Die nahezu ausschließliche Verhandlung von ›Extremfällen‹ kann hierbei zu Reputationsverlusten der Institution Familie führen, die sich vertrauensverändernd auswirken können, wenn sie in die Wirklichkeitsdeutungen der involvierten Akteure aufgenommen werden: »Durch ein ›mediales Habichtverhalten‹, also eine permanent übertriebene und sachlich nicht mehr gerechtfertigte Fokussierung der Medien auf das Skandalöse kann es regelrecht pervertiert werden. Das Ergebnis kann ein massiver Vertrauensentzug sein« (Neu 2004, S. 20), der durch die Zuweisung der ›Anomalität‹ dieser Verbrechen begünstigt wird. Denn »die Tötung des eigenen Kindes ist kein normales Delikt: Es unterminiert das Grundvertrauen, das wir in Menschen haben – nämlich dass sie nicht imstande wären, ihre eigenen Kinder zu quälen und töten: ganz gleich, was sie sonst an Verächtlichem zu tun imstande sind« (taz 14.10.2006a). Vor allem im Defizitdiskurs familialer ›Erziehungsinkompetenzen‹ in Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung geht es somit nicht mehr nur um die Darstellung des vermeintlichen Versagens an sich, sondern auch um die Sichtbarkeit der Folgen, die das Vertrauen in eine ganze Institution nachhaltig beeinflussen können. Die öffentliche Thematisierung von Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ kann daher letztlich insbesondere aus Perspektive der Gegennarration das zerstören, was sie inszeniert: die Privatheit. »Das klingt nach Betrug, nach Einbruch in einen Haushalt, in eine Familie« (FAZ 14.05.2007). Hierbei stellen jedoch nicht die generelle Sichtbarkeit von Familien sowie gewisse staatliche Eingriffsrechte in deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ an sich neue Erscheinungen dar, waren diese doch die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte über ›Normalität‹.2 Die Innovation scheint weniger in 2

Es sollte berücksichtigt werden, dass es sich bei dem Phänomen familialer Erziehung aus historischer Perspektive nicht wie häufig angenommen um ein seit jeher bestehendes privates Gut handelt, sondern dass sich die Familie als private und intime Lebensform erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit der Herausbildung verschiedener Familienformen einbürgerte und den Begriff des ›Hauses‹ allmählich ablöste. Dies zeigt sich auch noch im etymologischen Ursprung des Begriffs ›Familie‹: Abgeleitet von lat. ›famulus‹ (›der Diener‹), bezeichnet der Terminus den Besitzstand des Hausherrn, dem nicht nur blutsverwandte Frauen und Kinder untergeordnet waren, sondern der auch die Dienerschaft und das Vieh einschloss – eben alle Mitglieder, die unter einem Haus (›hus‹) lebten. Erst in Zeiten des Aufkommens und der Etablierung der bürgerlichen Familien gehört das Dienstpersonal, insofern es noch im Haus lebte, nicht mehr zum Kreis der Familie, sondern die Familie bestand nur noch aus direkten Verwandten des Hausherrn und seiner Frau, die in der Regel jedoch ebenfalls nicht mehr mit der Kernfamilie zusammenlebten. Zu jener Zeit übernahmen auch die Franzosen das Wort ›privé‹, abgeleitet vom lat. ›privatus‹, in ihren Wortschatz auf, um den häuslichen Bereich vom öffentlichen Staatsapparat abzugrenzen (vgl. Kersten 2012, S. 187f.). Den Weg in den deutschen Sprachgebrauch fand das Wort ›familia‹ erst im 18. Jahrhundert, ebenfalls als Lehnwort aus dem Französischen zur Beschreibung des zusammenlebenden und wirtschaftenden Personenkreises (vgl. Gestrich 2010, S. 4.) Mit Herausbildung der Kernfamilie wurden der zusammenlebende Personenkreis und die Anzahl der Generationenverhältnisse dann immer weiter intimisiert und es zeigt sich in der Öffentlichkeit das allmähliche »lautlose Verschwinden der Familien und der Kinder« (Dettling 1995, S. 130). Noch im offenen Haushalt hingegen waren die Handlungen von Familien bis weit ins 19. Jahrhundert hinein gegenüber der Außenwelt relativ transparent und familiale Angelegenheiten wurden mitunter auch öffentlich verhandelt. Darüber hinaus waren die Eltern auch in jener Zeit bei Weitem nicht die einzigen Instanzen der Vermittlung von Wissen und Werten, sondern standen in Konkurrenz mit zahlreichen

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Familie unter Verdacht

einer Verschiebung von der privaten in die öffentliche Sphäre zu liegen, sondern in einem Verschwimmen ihrer Grenze sowie einem Wandel der dabei genutzten Kanäle und Praktiken, die insbesondere durch eine ansteigende Politisierung und Demokratisierung neue Anforderungen an die Subjekte bereithalten (vgl. Beck 1996, S. 312; Beck et al. 2001, S. 38). Sie können hierbei nicht nur größere Reichweiten verzeichnen, sondern auch neue Möglichkeiten der öffentlichen Diffamation und des Vertrauensentzuges bereithalten, die als nicht intendierte Nebenfolge in Erscheinung treten oder sich auch zielgerichtet nutzen lassen.

2.2.

Die ›patriarchalische Familie‹ als (re-)stabilisierende Modellpraxis hierarchischer Geschlechter- und Familienordnungen

2.2.1.

Die ›intakte Kleinfamilie‹ als idealisierte sozialstrukturelle Norm

Die Vergesellschaftung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ erfolgt in den Sinnstrukturen der Gegennarration vor allem über normative und biologische Ordnungen, insbesondere über die »natürliche Einheit der Familie« (Hegel 1972 [1820], S. 211), die philosophisch und sozialgeschichtlich als eine »sich empfindende Einheit« (Lohmann 2010, S. 210) verstanden werden kann und auf einer auf Liebe gründenden Gemeinschaft beruht, die zunächst keiner zusätzlichen Verpflichtung bedarf (vgl. Frankfurt 2005, S. 209). Dies zeigt sich vor allem in der vielfachen Beschwörung der »Dreieinigkeit von Vater, Mutter, Kind […], die ›heiligste und wichtigste‹ Form der menschlichen Bindung« (Der Spiegel 49/2006), die, als »›Keimzelle der Gesellschaft‹, einen Ort der Wärme und Geborgenheit« (Der Spiegel 49/2006) symbolisiert. Polygame Lebensformen oder Scheidungen sind in dieser Modellpraxis nicht vorgesehen. Dies wird auch in Appellen an die Ehe als einzig legitime Lebensform und als einzig angemessener Ort des Aufwachsens für Kinder deutlich, die daher gefördert werden müsse: »Um Bindungsscheue zur Heirat zu ermutigen, will Duncan Smith Eheverträgen rechtlich bindenden Status zubilligen« (Die Welt 19.11.2008). »Die Kirche setzt sich dafür ein, dass gerade die Ehe als Ort und Ausdruck dieser dauerhaften Verantwortung erkannt und gelebt wird. Wir wollen junge Menschen dafür gewinnen, dass sie die innere Einheit von Ehe und Familie wiederentdecken. Selbstverständlich sehen wir unsere Aufgabe auch bei denen, die andere wie man heute sagt familiale Lebensformen wählen, besonders wenn es um Kinder geht. Aber das kann nicht das Werteverständnis umwerfen« (Focus 04/2007). Das deutungsimmanente Glücksversprechen dieser Narrationslinie (vgl. Kap. III, 2.1.2) richtet sich somit ausschließlich an eine ganz bestimmte Familienform, nämlich die Ehe als ›Normalfolie‹ familialen Zusammenlebens, deren Bedeutung auch juristisch abgesichert wird: »Familie hat eine verlässliche Partnerschaft und Zusammengehörigkeit zur Voraussetzung, die sich in der Ehe ganz entfaltet. Über diese Voraussetzung zu schweigen verstößt erstens gegen das Grundgesetz und zweitens gegen die menschliche Erfahrung« (Focus 04/2007), denn »Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung«

anderen Institutionen wie z.B. Familienbildungsstätten, Schulen, Nachbarn, Freizeitorganisationen (vgl. Kuller 2004, S. 223).

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

(Art. 6, Abs. 1 GG). Demzufolge stellen Abweichungen hiervon, wie sie z.B. in den Lebensformen lediger oder geschiedener Paare repräsentiert werden, ›Gefahrenmodelle‹ für die darin lebenden Kinder dar: »Es hat sich eine gefährliche Lücke aufgetan für die Kleinen, seit das Mutter-Vater-Kind-Modell zerbrochen ist« (Der Spiegel 3/2002). »Scheidungskinder sind Problemkinder, die der besonderen Zuwendung bedürfen […]. Die staatliche Fürsorge schaffte nur ungenügenden Ersatz für die seelischen und sozialen Defizite dieser Kinder« (Die Welt 13.07.2001). Die Narrative greifen hierbei auf bewährte Inszenierungen zurück, die bereits in der Neuzeit mit Vorliebe als Negativfolie und Warnbild inszeniert wurden. Zu nennen wäre hier z.B. der bis ins 18. Jahrhundert nahezu ausschließliche Rekurs auf die Täterschaft lediger Mütter im Rahmen von Kindstötungen (vgl. Swientek 2004).3 Weiterführungen solcher defizitären Ausweisungen unvollständiger Familien zeigen sich z.B. in Erziehungsdiskursen über unvollständige Familien der Nachkriegszeit (vgl. Matthes 2009, S. 121) und in den Scheidungsdiskursen der 1970er bis 1990er Jahre (z.B. Der Spiegel 5/1989; Der Spiegel 33/1993; Die Zeit 37/1977). Letztlich waren auch Kevins Eltern »nicht miteinander verheiratet« (SZ 13.10.2006b) und Mehmets Stiefvater nur der ›Lebensgefährte‹ der Mutter (Die Welt 17.10.2006; taz 22.02.2007). In all diesen Familien wurde die »innere Einheit von Ehe und Familie« nicht »als Ort und Ausdruck dieser dauerhaften Verantwortung erkannt und gelebt« (Focus 04/2007) und in der Logik dieser Ordnung dadurch ein Versagen familialer ›Erziehungskompetenzen‹ begünstigt. Zu den als illegitim inszenierten Familienformen zählen neben nicht verheirateten bzw. geschiedenen Elternpaaren aber auch z.B. Mehrkindfamilien. Entsprechend heißt es z.B. im Fall ›Anakin‹, »die neunfache Mutter sei überfordert gewesen, da seien die kleinen Kinder offenbar nicht genügend beachtet worden« (SZ 06.09.2017). Auch im Fall ›Luca‹ soll »die Mutter, die noch drei andere Kinder hatte, […] mit Luca von Anfang an überfordert« (SZ 14.12.2015) gewesen sein. Aussagen wie diese reaktivieren und stabilisieren somit die Vorstellung einer ›Normalfamilie‹ als »der ganz normale Verbund aus Mutter, Vater und mindestens einem Kind« (Der Spiegel 49/2006) und verteidigen diese Familienform nach außen, als hätte es nie andere Formen familialen Zusammenlebens gegeben und als könne jede Abweichung hiervon als eindeutiges Indiz einer Auflösung der Institution Familie verstanden werden. Diese vor allem im Rahmen der Gegennarration mehrfach proklamierte These einer sich andeutenden Erosion der Familie als Folge der Pluralisierung von Lebensformen (vgl. auch Kap. III, 2.1.3 & 4.1.2) scheint jedoch bereits insofern problematisch, als sie empirisch nicht belegt werden kann. Seit jeher hat es verschiedene Familienformen nebeneinander gegeben, von denen zumeist zwar eine vorherrschend, aber nie alleinstehend war (vgl. Gerlach 2017, S. 23). Formen und Bedingungen familialen Zusammenlebens haben im Laufe der Geschichte mehrfach einen Strukturwandel

3

Unabhängig davon, dass eine Schwangerschaft außerhalb der Ehe per se den geltenden Normen jener Zeit widersprach und unverheiratete Mütter öffentlich geächtet wurden, existieren kaum Belege über Kindstötungen durch verheiratete Mütter. Aufgrund der mit einer Schwangerschaft verbundenen Degradierungen lediger Frauen ist es zwar durchaus naheliegend, dass Kindstötungen in dieser Lebenslage gehäuft vorkamen, dass sie – insbesondere vor dem Hintergrund der Geburtenkontrolle – jedoch ausschließlich in dieser Familienform auftraten, erscheint fraglich.

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durchlaufen, innerhalb dessen sie sich stets verändert und angepasst haben an die »historisch unterschiedlichen Lebensräume und Lebenssituationen […] und nicht in einer einzig richtigen ›natürlichen‹ oder einer biologisch oder historisch vorgegebenen Form« (Büchner et al. 2010, S. 11) vorlagen. Eine Dominanz der in der Industrialisierung entstandenen, auf die Ehe gründenden ›bürgerlichen Kleinfamilie‹ zeigte sich in der Vielfalt der Lebensformen lediglich innerhalb einer sehr kurzen historischen Phase, die jedoch insbesondere aus Perspektive der Gegennarration »als die gute alte Zeit von vielen zur Norm auch für Gegenwart und Zukunft verklärt wird« (Dettling 1995, S. 133). Nach der Entstehung der ›bürgerlichen Kleinfamilie‹ wurde die Bedeutung von Ehe und Familie als institutionalisierte, autarke Sozialform vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts während der Weltwirtschaftskrise und in den (Nach-)Kriegszeiten nochmal bekräftigt, bot sie doch als soziale Struktur eine wichtige Schutzfunktion bei körperlichen Gebrechen und Armut, während staatliche Sicherungsangebote weitestgehend zusammengebrochen waren (vgl. hierzu einschlägig z.B. Nave-Herz 2002). Unterbrochen von den Zerrüttungen der beiden Weltkriege, die viele Frauen alleinerziehend hinterließen, blieb sie als Familienform in den von der Industrialisierung geprägten Gebieten bis in die 1960er Jahre, in ländlichen Gebieten noch bis in die 1980er Jahre dominant (vgl. Schmid 2010, S. 88). Danach verliert die bürgerliche Kleinfamilie allmählich wieder ihre Monopolstellung und Formen, die zuvor eher marginal vertreten waren, verzeichnen an Zuwachs (Nave-Herz 2002). Das Leitbild der bürgerlichen ›Normalfamilie‹ »entstand lediglich als eine Möglichkeit, und dies nur für eine kleine Elite der Gesellschaft während einer kurzen Phase der menschlichen Geschichte« (Ahnert 1998, S. 15f.). Die Existenz familialer Lebensformen variiert allerdings nicht nur im Spiegel historischer Ereignisse, sondern auch mit Blick auf die jeweils zugrunde gelegten Definitionen von Familie sowie je nach eingesetzter Methode bei der Erfassung von Lebensformen. So werden z.B. mit der Darstellung sinkender Eheschließungsraten und steigender Scheidungsraten häufig generelle Auflösungstendenzen suggeriert, die jedoch eher als Ergebnis eines statistischen Artefakts denn als solide Befunde zu werten sind (vgl. Bauerreis & Bayer 1995). In der Nachkriegszeit zeigte sich z.B. aufgrund der vielen Kriegsopfer eine Häufung alleinerziehender ›Trümmerfrauen‹, ohne als solche definiert zu werden. Vielmehr galten sie als Ehefrauen oder Witwen, so dass Alleinerziehende in jener Zeit – trotz großer Dominanz – statistisch kaum in Erscheinung traten. Im Unterschied dazu werden unter dem Merkmal ›alleinerziehend‹ bis heute häufig auch jene Personen erfasst, die zwar der juristischen Deklaration dieses Merkmals entsprechen, sich tatsächlich jedoch in nichtehelichen Lebensgemeinschaften befinden. Den Ergebnissen des Mikrozensus zufolge ist die Zahl der unverheirateten zusammenlebenden Eltern von 2007 bis 2017 um 31 Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum sank die Anzahl der Ehepaare um 6 Prozent (Statistisches Bundesamt 2018h, S. 52). Schätzungen des Statistischen Bundesamtes zufolge lebten bereits zu Beginn der 1990er ca. 24 Prozent der als alleinerziehend deklarierten Personen in nichteingetragen Lebensgemeinschaften (Nestermann & Stiehler 1998, S. 33).4 Obwohl die Diskussionen 4

Obwohl das Statistische Bundesamt im Jahr 2005 seinen Familienbegriff erweiterte und nicht nur Ehepaare, sondern auch nichteheliche und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften so-

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

um vermeintliche Auflösungstendenzen der Familie seit jeher meist deutlich ehe- und »scheidungsfixiert« (Dettling 1995, S. 130) sind, zeigen sich selbst im Hinblick auf die Scheidungszahlen keine Tendenzen, die ein solches Szenario rechtfertigen würden. Die Anzahl der Ehescheidungen scheint gegenwärtig nicht zuzunehmen, sondern eher zu stagnieren – nicht zuletzt deswegen, weil es immer weniger Eheschließungen gibt. Das bedeutet jedoch nicht, dass weniger Paare in eheähnlichen Verhältnissen zusammenleben. Auflösungstendenzen können dementsprechend insgesamt lediglich bei einem engen Familienverständnis bestätigt werden, das an die Vorstellung einer historischen Momentaufnahme der bürgerlichen Kleinfamilie geknüpft ist. Gleichzeitig kann die gegenwärtige Vielzahl von Familienformen als Anzeichen einer zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz eines differenzierten und erweiterten Familienverständnisses infolge eines Rückgangs gesellschaftlich-konventioneller Zwänge gesehen werden. Das führt zur Wiederherstellung eines gesellschaftlicher Zustandes, der in der deutschen Geschichte eher die Regel als die Ausnahme war: »Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein war in ländlichen Gegenden nur die Hälfte aller Erwachsenen verheiratet. In Preußen etwa ergab eine Volkszählung im Jahre 1871, daß nicht einmal die Hälfte aller Preußen im Stand der Ehe lebten. Nie zuvor und nie danach wurde so viel und so früh geheiratet, waren so viele Deutsche im Stande der Ehe, haben sich so viele Frauen so sehr und ausschließlich um Familie und um Kinder und natürlich um die dazu gehörenden Männer gekümmert wie in den fünfziger und in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts« (Dettling 1995, S. 133). Dafür, dass solche Veränderungen im Kontext von Familie nicht zwingend mit einer Auf- oder Ablösung familialer Verbindungen einhergehen müssen, spricht auch die nach wie vor sehr hohe emotionale Relevanz der Familie für einzelne Gesellschaftsmitglieder (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2017) sowie die damit verbundenen emotionalen und instrumentellen Unterstützungsleistungen: »›Die gegenseitigen Hilfs- und Unterstützungsleistungen der Generationen sind beeindruckend‹« (Die Welt 23.12.2008). Dies lässt eine gegenwärtig hohe Bedeutung starker emotionaler Beziehungen erahnen, die nicht ohne Weiteres durch andere Bindungsformen kompensiert werden kann (vgl. Dahlheimer 2013, S. 117). Die vorliegenden Daten sagen somit bestenfalls etwas über Auflösungstendenzen der Ehe, nicht aber der Familie aus und müssen ebenso wenig wie die gegenwärtig geringe Fertilitätsrate5 und

5

wie Alleinerziehende mit leiblichen Kindern, Stief-, Adoptiv- oder Pflegekindern als ›Eltern-KindGemeinschaften‹ zu erfassen versucht, muss sich dies in den Daten nicht zwingend niederschlagen, da sich die Befragten häufig selbst in die tradierten Kategorien ›verheiratet‹, ›geschieden‹, ›verwitwet‹ und ›ledig‹ einordnen. Die Zahl der unverheirateten Paare, die nicht in einem gemeinsamen Haushalt leben, wird im Mikrozensus sogar erst seit dem Jahr 2017 erfasst (vgl. Huinink 2009). Laut Statistischem Bundesamt betragen die Effekte zunehmender Kinderlosigkeit gegenwärtig etwa 26 % und die Abnahme des Kinderreichtums 68 % auf den gesamten Rückgang der Kohortenfertilität (vgl. Bujard 2016). Gleichzeitig werden je 1.000 Einwohner jährlich nur noch knapp fünf Ehen geschlossen (1950: 11 Eheschließungen je 1.000 Einwohner) und nach der derzeitigen Scheidungsrate mehr als ein Drittel (35 %) aller in einem Jahr geschlossenen Ehen im Laufe der nächsten 25 Jahre wieder geschieden (vgl. Statistisches Bundesamt 2016).

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Familie unter Verdacht

die Abnahme von Drei-Generationen-Familien zwingend als Indiz eines »Werteverfalls« (Lübbe 2001) oder einer »Gesellschaft von Einzelgängern« (Hoffmann-Nowotny 1984) gedeutet werden. Vor allem jedoch sagen sie zunächst nichts über die Befindlichkeiten ihrer Mitglieder sowie deren familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ aus. Dessen ungeachtet speist sich insbesondere die Gegennarration jedoch sehr stark aus normativen Vorstellungen und verklärenden Bildern vergangener Familienverhältnisse. Dies lässt die Gegenwart defizitär erscheinen, denn »je positiver das Bild der vergangenen Familie gemalt wird, desto negativer sieht die Gegenwart aus und umgekehrt. Deshalb ist es notwendig, sich über den Vergleichsmaßstab, also die Familien der Vergangenheit, klar zu werden« (Rosenbaum 2014, S. 19). Ähnlich wie in der Ausgangsnarration eine Kluft zwischen realer und erlebter Kriminalität transportiert wird (vgl. Kap. III, 1.5), scheint sich hier eine Kluft zwischen realen und erlebten Wandelprozessen von Familienformen aufzutun. Sie kann auch an dieser Stelle eine reale Tragweite haben, indem sie z.B. zur Abwertung aller familialen Kollektive führt, die der normativen Modellpraxis einer ›intakten Kleinfamilie‹ nicht entsprechen. Selbst in den Deutungen der Ausgangs- und Alternativnarration lassen sich – wenn auch mit weniger starken Bezügen – Tendenzen zur ›Normalisierung‹ des Leitbildes einer bürgerlichen Kernfamilie erkennen, die Kessl et al. (2015) für die gesamte bundesdeutsche Kinder- und Jugendhilfe als strukturbildend sehen. Diese Familienform wird mitunter als ›glänzende Gegenwelt‹ zu den anderen Formen familialen Zusammenlebens präsentiert (vgl. Kap. III, 1.1.3). Aus der Risikoperspektive der Alternativnarration wird sie zwar nicht explizit als unverzichtbare, »unveränderliche Grundlage familialer Lebenskonzepte« (Richter et al. 2009, S. 4) eingefordert und als eine wichtige Voraussetzung gedacht, häufig aber trotzdem durch eine Art ›umgekehrte‹ Argumentation als Normalitätsfolie inszeniert. Insbesondere alleinerziehende Frauen stehen häufig im Verdacht, ›erziehungsinkompetent‹ zu sein und gefördert werden zu müssen: »Alleinerziehende benötigen, wie die Studien zeigen, besonders häufig intensive Hilfe« (SZ 24.03.2009). »In den meisten Fällen [überforderter Eltern], nämlich bei mehr als 10.000 Kindern, war ein alleinerziehender Elternteil betroffen« (Die Welt 26.06.2009a). »Kinder alleinerziehender Mütter mit häufig wechselnden ›Gast-Vätern‹ [sind] bis zu sechsmal häufiger Misshandlungen ausgesetzt als Kinder, die mit zwei Eltern aufwachsen« (Die Welt 19.11.2008). Eine solche Abweichung von der Modellpraxis der ›Normalfamilie‹ wird in diesem Deutungshorizont jedoch weniger als Krisensymptom, sondern als ›Risikofaktor‹ wahrgenommen (vgl. Kap. IV, 2.3). Dessen Problematisierung scheinen auch entsprechend andere Faktoren zugrunde zu liegen: »Wenn Ehen scheitern und Eltern sich trennen, werden für viele Familien die wirtschaftlichen Probleme noch größer« (Die Welt 23.12.2008) – Aussagen wie diese legen nahe, dass es hierbei weniger um die Bedrohung tradierter Familienordnungen als um die Bedrohung der existenziellen Daseinsvorsorge geht.

2.2.2.

Biologistische Differenzierungslinien zwischen ›echten Vätern‹ und ›bösen Stiefvätern‹

Die Inszenierung der ›bürgerlichen Kleinfamilie‹ als Leitbild, Glücksversprechen und implizite Voraussetzung familialer ›Erziehungskompetenz‹ wird zumindest marginal

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

auch durch Verweise auf »psychobiologische Studien« (Die Zeit 26/2013) gestützt, die Differenzlinien familialer ›Erziehungskompetenzen‹ nicht nur anhand kulturell gelebter Familienmodelle erklären, sondern auch in Bezug auf die Differenzierung leiblicher und sozialer Elternschaft. Das knüpft die Normalitätsfolie zusätzlich eng an die biologische Abstammung. Der Begriff der ›Kleinfamilie‹ ist somit nicht nur als Hinweis auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaftsform zu verstehen, sondern darüber hinaus, da sie in der Regel nur den Teil der Blutsverwandten repräsentiert, auch als Angabe der ›biologischen Abstammung‹. Im Fall ›Kevin‹ wird denn auch nach dem Bekanntwerden der Verwandtschaftsverhältnisse an mehreren Stellen betont, dass es sich bei dem ›Täter‹ um Kevins »Ziehvater« (z.B. Der Spiegel 51/2007; Focus 50/2007; taz 09.06.2010) handelt, »den Lebensgefährten von Kevins Mutter Sandra, aber nicht der leibliche Vater des Jungen« (SZ 21.05.2008) und den »Mann, den alle für Kevins Vater hielten, der aber an dem Kind in Wahrheit keine Rechte hatte« (Die Zeit 25/2008). »Dass Bernd K. nicht der leibliche Vater war, wusste zu der Zeit noch niemand« (Die Welt 06.06.2008c). Es »stellte sich erst nach dem Tod von Kevin heraus. Warnzeichen gab es mehr als genug« (Die Welt, 19.12.2006). Mit dem Verweis auf den lediglich »vermeintlichen Vater« (Die Welt 19.12.2006), der nicht einmal mit der Mutter Kevins verheiratet war (SZ 13.10.2006b), wird die ›unrechtgemäße‹, nicht leibliche Elternschaft betont und die diskursive Differenzierung zwischen sozialem und biologischem Vater narrativ hervorgehoben. Auch in einem anderen Fall von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung in München habe der Ziehvater »sein Stiefkind nicht annehmen können« (taz 22.02.2007), was durch den Befund einer zitierten Studie generalisiert wird, in der Leipziger Rechtsmediziner und Soziologen herausgefunden haben, »dass wesentlich häufiger die neuen Partner der Kindsmütter zu Tätern werden« (FAZ 18.10.2006). Dem Ziehvater als dem »angeblichen Kindsvater« (Die Zeit, 25/2008) wird dadurch eine deutlich geringere Verantwortung und eine weniger tragfähigere Beziehung zu ›seinem‹ Kind zugeschrieben als dem leiblichen Vater, dessen Verbleib im vorliegenden Datenmaterial wie auch in vielen anderen verhandelten Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zumeist ungeklärt bleibt. Auch der Rechtsanspruch des Vaters auf die Pflege und Erziehung seiner Kinder, der als Teil der Elternrechte vor allem in den Legitimierungsstrategien der Gegennarration deutlich hervorgehoben wird (vgl. Kap. III, 2.3.1), scheint sich zum Teil ausschließlich auf den leiblichen, biologischen Vater zu beziehen, auf den umgekehrt aber auch das Kind ein Recht habe: »Ein Blick in die Menschen- und Kinderrechtskonvention zeigt, dass ein Kind das Recht auf ein Familienleben mit dem biologischen Vater hat« (Die Welt 14.10.2006b). Daraus folgt wohl, dass »natürliche Liebe […] dann [fließt], wenn die Rechtsbeziehung mit der ›natürlichen‹ Elternschaft übereinstimmt« (Schutter 2011, S. 67). Die nicht biologische Vaterschaft ohne jegliche ›natürliche‹ Bindung kann somit auch in Fällen wie ›Kevin‹ dazu dienen, eine »Erklärung für das Unfassbare zu finden« (taz 14.10.2006a). Die biologische Vaterschaft scheint umgekehrt »bis zu einem gewissen Maße auch gegen kinderwohlgefährdendes Verhalten aufwiegbar zu sein« (Klinger 2015, S. 232f.), so dass die biologische Abstammung mitunter auch andere rechtliche, soziale und kulturelle Begründungszusammenhänge aushebelt. Analog zu der »bösen Stiefmutter« als Konvention im Märchen wird der Ziehvater im Fall ›Kevin‹ zum ›bösen Stiefvater‹, der nicht nur Kevin, sondern auch dessen Mutter quält, als »einer, der mit seiner Waffe andere bedrohte, auch Nachbarn, der aus dem Ge-

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fängnis ausgebrochen ist und womöglich am plötzlichen Tod seiner Freundin, Kevins Mutter eine Mitschuld trägt. Auch dazu wird gegen ihn ermittelt. Keiner, den man sich als Vater wünscht« (Die Zeit 43/2006b). In vielen Märchen über ›böse Stiefmütter‹ war in der Urfassung zunächst von einem leiblichen Elternteil, der Mutter, die Rede. Erst Wilhelm Grimm ersetzte »dann ganz im Zeitgeist der Romantik und einer Verklärung der Mutterrolle die Muttergestalt durch eine Stiefmutter, und viele Märchenherausgeber nach ihm taten dasselbe. Damit wurde die Darstellung negativer Eigenschaften einer leiblichen Mutter auf die Stiefmutter verlagert« (Lehmann-Scherf 2013, S. 182), denn »hier finden wir diejenigen Beziehungen, die am schädlichsten gekennzeichnet sind« (ebd., S. 186). Dieses populäre Deutungsmuster der ›bösen Stiefmutter‹ zeigt sich bereits im massenmedialen Diskurs um Kindesmisshandlung der 1970er (vgl. z.B. »Das kleine Mädchen und die böse Stiefmutter«, FAZ 01.06.1976). In den Narrationen von Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung der vergangenen Jahre scheint analog zur Transformation der ›bösen Mutter‹ zur ›bösen Stiefmutter‹ eine weitere Transformation zum Deutungsmuster des ›bösen Stiefvaters‹ stattzufinden, in der die biologische Abstammung als narrative Differenzierungslinie familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ fungiert.

2.2.3.

Die geschlechtsspezifische Vergesellschaftung familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹

Die Modellpraxis der ›bürgerlichen Kleinfamilie‹ ist nicht nur eng gebunden an die biologische Abstammung und normalisierte Formen des Zusammenlebens, sondern auch an eine bestimmte Form der Arbeitsteilung, in der Väter als Ehemänner und Hausherren (mhd. ›herre‹ = ehrwürdig, höhergestellt) über die Frauen und die jüngeren Generationen herrschen (vgl. Kersten 2012, S. 181f.). Darin verankert ist eine Differenzierung zwischen einer weiblich konnotierten und im Privatraum angesiedelten ›Erziehung‹ und einer eher mit Männlichkeit verknüpften ›Bildung‹ im öffentlichen Raum (vgl. Baader et al. 2014, S. 7). Im Idealfall ist der Mann im bürgerlichen Familienmodell bis heute Alleinverdiener und Versorger der Familie, der den überwiegenden Teil seiner Lebenszeit außerhalb des Hauses verbringt. Während der Vater dennoch den ›wahren Lehrer‹ (Rousseau 1971 [1762], S. 22) verkörpert, bekommt die Frau als ›Hausfrau‹ in der Kultur des »Home, sweet home« (Segalen 1998, S. 40) neben ihrer Funktion als Mutter die Verantwortung für den Haushalt und die Verpflegung des Ehemanns zugewiesen (vgl. Rosenbaum 2014, S. 19ff.). »Aus der Hand der einen muß das Kind in die Hand des anderen übergehen« (Rousseau 1971 [1762], S. 22). An diese Arbeitsteilung ist auch die im 18. und 19. Jahrhundert gängige Vorstellung gebunden, dass Kinder in den ersten beiden Lebensjahren keiner intendierten Erziehung und Förderung bedürfen, sondern es ausreichend sei, sie lediglich im Sinne von ›sauber und satt‹ zu betreuen. Trotz ihrer untergeordneten Position erhält die Mutter als ›intuitive Expertin‹ in der Versorgung des Kindes hierbei eine hohe Relevanzsetzung. Die Mutter-Kind-Beziehung wird so zum »wichtigsten Symbol von zwischenmenschlichen Beziehungen, die frei sind von Konkurrenz und eigennützigem Individualismus« (Hays 1998, S. 229f.). Die Annahme, dass vor allem die Kinderbetreuung durch die Mutter »vorzüglich« (Hegel 1972 [1820], § 175) sei, entspricht den Wissensbeständen des tradierten kulturellen Deutungsmusters der ›natürlichen (Mutter-)Liebe‹ als »intuitive mütterliche Kompetenz« (Focus 19/1996).

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

Dieses Muster ist eng mit dem Modell der ›bürgerlichen Familie‹ verknüpft und tritt daher ebenfalls seit dem 18. Jahrhundert diskursübergreifend in vielen Kontexten in Erscheinung.6 Bekräftigt wird das Deutungsmuster gemeinsam mit dem Leitbild der bürgerlichen Familie insbesondere in der NS-Zeit durch entsprechende Forschungsergebnisse, die vermeintliche Geschlechterdifferenzen und somit die bessere ›Eignung‹ der Frau gegenüber dem Mann in den ersten Jahren der Kindeserziehung anhand kognitiv-biologischer Argumente, wie z.B. die »zarte Beschaffenheit der Gehirnfasern« (Malebranche zit.n. Ziegler 2013, S. 1), erklären. Familienbildungs- und Familienberatungseinrichtungen wurden in jener Zeit zwar als Formen »kompensatorischer Erziehung« ausgebaut, erschienen letztlich jedoch nicht sehr attraktiv, weil die ›natürliche‹ Bindung an das Kind als angenommene Voraussetzung für eine ›gute Erziehung‹ fehlte (vgl. Honig & Ostner 2014; Kuller 2004, S. 234). Was die narrative Konstruktion familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ betrifft, dominiert vor allem in der Gegennarration dieses traditionelle Arrangement der Geschlechter des bürgerlichen Leitbildes. Obwohl jegliche Geschlechtsdifferenzierungen rechtlich bereits im Jahr 1994 nivelliert wurden7 und sich diese Narrationslinie im Allgemeinen sehr stark an juristische Normen anlehnt, wird die enge sinnhafte Verknüpfung von Weiblichkeit und Erziehung bewahrt. Subjektpositionen, die der »Idealvorstellung einer engagierten Mutter« (Der Spiegel, 49/2006) widersprechen, werden in der Auseinandersetzung mit Fällen wie ›Kevin‹ negativ konnotiert und als Abweichung der Norm erachtet: »Ich habe noch keine Frau kennengelernt, die nicht unbedingt eine gute Mutter sein wollte« (SZ, 14.04.2008b). Tendenzen einer »Entgeschlechtlichung der Elternrolle« (Scholz 2013, S. 323) lassen sich zwar nachweisen,

6

7

Bis ins 18. Jahrhundert wurde Müttern eine solche starke und emotionale Bindung an die eigenen Kinder noch weitestgehend abgesprochen. Eine ›gute Familie‹ war in erster Linie durch die patriarchale Struktur und das gemeinsame Wirtschaften geprägt und die ›gute Frau‹ zeichnete sich vor allem durch ihre Arbeitskraft und den Gehorsam gegenüber ihrem Mann aus, während eine gewichtige Positionierung der Frau als Mutter in jener Zeit meist ausbleibt. Die Mutter-KindBeziehung hob sich somit eher durch ihre ökonomische Relevanz hervor. Ob Eltern Emotionen gegenüber ihren Kindern bis dato nur nicht zugestanden wurden oder aber tatsächlich bei den meisten nicht vorhanden waren, ist bis heute umstritten. Gut belegt scheint hingegen, dass den Kindern jener Zeit keine große Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die Betreuung und Erziehung der Kinder erfolgte eher nebenbei und häufig nicht durch die Eltern, sondern wurde von Hauspersonal wie Ammen, Knechten oder Mägden verrichtet. Von einer intensiven, zuwendungsorientierten und liebevollen Betreuung der Kinder durch die Mutter war die Praxis weit entfernt. Als weitere Indizien benennt Badinter (1999) gehäufte Vorkommnisse einer Verweigerung des Stillens oder eine Selektion der Kinder nach Geschlecht und Geburtenfolge. Sowohl Ariès (1975) als auch Shorter (1977) leiten zudem aus der hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit ab, dass vor allem Mütter in nicht geringem Ausmaß den Kindstod herbeigeführt haben, und gehen daher von einer hohen Dunkelziffer an Kindsmorden aus. Umgekehrt wurde die geringe Bedeutung einer liebevollen Mutter sicher auch durch die hohe Kindersterblichkeit begünstigt (vgl. Segalen 1990). Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Konstrukt der Mutterliebe vgl. auch Schütze (1986) und Tenorth (2005). »Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin« (Art. 3 Abs. 2 GG).

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Familie unter Verdacht

scheinen aber dennoch auf geschlechtsspezifischen Erwartungen zu beruhen. So werden Väter zwar zumeist in die Aufgaben familialer Erziehung eingebunden, es erscheint aber legitim, dass sie aufgrund beruflicher Aktivitäten nur eingeschränkt zur Verfügung stehen (»[I]hm war der Junge entglitten, vor lauter Arbeit in seiner Kfz-Werkstatt fand er einfach nicht genug Zeit für das Familienleben«, Die Welt 29.01.2013). Ganz in der Tradition der ›bürgerlichen Familie‹ scheint sich die Aufgabe der Väter vielmehr auf die finanzielle Versorgung zu erstrecken: »Mütter, die Zeit haben; Väter, die den Wohlstand sichern« (Der Spiegel 33/1993). Die rechtlich verankerte Pflicht zur »elterlichen Sorge« (Art. 6 Abs. 2 GG) differenziert sich in diesem Verständnis daher eher in eine der Mutter zugewiesene ›Personensorge‹8 und eine den Vätern obliegende ›Vermögenssorge‹ – »verantwortlich für Kevin war Bernd K. nicht« (SZ 12.10.2006a). Verantwortungs- und Schuldzuschreibungen für die familiale Erziehung sowie Kindesmisshandlung und -vernachlässigung werden gebunden an das traditionelle Bild des »maskulinen Familienernährers« und der »femininen Frau, die ihre Erfüllung als unterordnungsbereite Ehefrau und Mutter sucht« (Haubl 2012, S. 39f.). Entsprechend richtet sich auch die Anklage im ›Fall Angelo‹ »einzig gegen die Mutter« (taz 20.12.2007). Aber nicht nur im Hinblick auf zugewiesene Verantwortlichkeiten, sondern auch in Bezug auf natale Bemächtigungsstrukturen werden geschlechtsspezifische Klassifikationen vorgenommen. Väter werden hierbei zumeist als eher unwissende und hilflose Figuren inszeniert, die zwar zur Zuneigung gegenüber dem Kind fähig scheinen (»Bei der Geburt eines Kindes wollen Mütter und in den allermeisten Fällen auch die Väter gute Eltern sein«, Die Welt 14.07.2010a), denen es im Hinblick auf Betreuung und Sorge von Kindern jedoch an ›natürlicher Intuition‹ mangelt: »So erklärte beispielsweise das Hamburger Landgericht 1990 einem unverheirateten Vater, dass er seinem Kind ›Geborgenheit naturgemäß nicht geben‹ könne« (Der Spiegel 33/1993). Vätern wird an keiner einzigen Stelle des untersuchten Korpus eine solche ›natürlich-intuitive‹ Wahrnehmung kindlicher Bedürfnisse explizit zugesprochen. Die traditionell etablierten ›naturgemäß angelegten‹ Unterschiede im konkreten Erziehungsverhalten und -vermögen bleiben somit diskursiv erhalten und (re-)stabilisieren das tradierte Geschlechter- und Familienverständnis. In erster Linie werden so die Mütter adressiert und deren Aufopferungsbereitschaft für die Kinder als selbstverständlich inszeniert: »›Sie sind alles, was ich habe‹. Das hat sie jedem, der es hören wollte, immer gesagt. Obwohl sie sich zwischen Erschöpfung, Überforderung und Zusammenbruch bewegte und darüber medikamentensüchtig wurde. Obwohl sie den Haushalt, die Pflege, die Versorgung, die Förderung, die Erziehung für so viele kleine Menschen allein unmöglich bewerkstelligen konnte. Obwohl die Männer, die sie hatte, nicht taugten als Familienväter, gewalttätig wurden oder, wie der letzte, als Betrüger im Gefängnis saßen« (taz 20.12.2007). Die vermeintlich geschlechtsbedingte mangelnde ›Erziehungskompetenz‹ der Väter scheint hingegen ein ›Versagen‹ in Fällen wie ›Kevin‹ zu entschuldigen oder zumindest zu relativieren: Der Vater war »offenbar überfordert mit der Betreuung des Kindes« (taz 21.05.2008), »sogar ein Vater, der in normalen Verhältnissen lebt, wäre mit einem kleinen Kind 8

Juristisch umfasst die Personensorge »die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthaltsort zu bestimmen« (§ 1666 BGB).

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überfordert« (SZ 13.10.2006b). Entsprechend der tradierten Vorstellung, dass »eine Mutter einen Vater ersetzen kann, ein Vater eine Mutter aber nicht« (Der Spiegel 11/1980), entsteht der Eindruck, dass Vätern bestenfalls der Vorwurf gemacht werden kann, dass sie nicht auf weibliche ›Unterstützerinnen‹ z.B. in Form einer »Gemeindeschwester« (Die Welt 23.10.2006), von »Erzieherinnen« (Der Spiegel 51/2007) oder »Familiengesundheitspflegerinnen« (taz 20.12.2010) zurückgegriffen haben – wobei die geschlechtsspezifische Benennung dieser Personengruppen ebenfalls die Wahrnehmung von Kindererziehung als weibliche Aufgabe verdeutlicht. Es lässt sich somit insgesamt ein Gefälle in den Erwartungshaltungen gegenüber den Geschlechtern feststellen, wobei die Ansprüche an die Mütter insgesamt deutlich höher ausfallen und sich hierbei – ähnlich wie Krumbügel (2015) es in Schwangerschaftsratgebern und Correll (2010) in politischen Dokumenten nachzeichnen konnten – eine »Leerstelle der Ansprüche an Vaterschaft« (ebd., S. 270) zeigt. Der liebende Vater bleibt trotz der vieldiskutierten »Generation ›neue[r] Väter‹« (FAZ 20.02.2007) im vorliegenden Material eine Fiktion. Erst im Jahr 2017 wird die diskursive ›Abwesenheit der Väter‹ im vorliegenden Datenmaterial explizit aufgegriffen und mögliche Hintergründe beleuchtet: »41 Prozent der Männer aber müsse man als ›abwesende Väter‹ beschreiben. Bei ihnen verwehrt entweder das Jugendamt oder die ehemalige Partnerin den Kontakt zum Kind. Oder der Vater sucht ihn von sich aus nicht mehr. Von diesen Vätern leide ein großer Teil unter Ängsten, Depressionen, psychischen Störungen. Manche haben Straftaten begangen, sind drogenabhängig. Das sei, so Nowacki, die Gruppe der Männer, bei denen ›einiges an Problemen‹ zusammenkommt« (Der Spiegel 7/2017). Während der ›abwesende Vater‹ in Fällen wie Kevin bis dato keine weitere Erwähnung findet, wird auf ein Fehlen der Mutter an mehreren Stellen dezidiert hingewiesen (z.B. »nach dem Tod der Mutter«, Die Welt 21.12.2006; »seit dem Tod der Mutter«, Die Welt 14.10.2006a; »im Zusammenhang mit dem Tod der Mutter«, Die Welt 12.10.2006a; »vor allem nach dem frühen Tod der Mutter wochenlange Lücken«, Die Zeit 51/2007b).9 Die ›natürliche Bindung‹ der Eltern an das Kind wird somit in Fällen wie ›Kevin‹ insgesamt je nach Geschlecht relativiert. Dabei stellt das Geschlecht nicht nur eine Abstammungskategorie dar, die Zusammen- und Zugehörigkeit ausdrücken soll, sondern wird zu einer Klassifizierungsvariable. Die naturalistisch-biologische Differenzierung der Geschlechter kann zunächst auch als Erklärung dafür dienen, dass sich das Deutungsmuster eines ›liebenden Vaters‹, der vor allem vor der Geburt und in der postnatalen Phase in der Regel biologisch deutlich weniger eng an das Kind gebunden ist, im Gegensatz zur Mutterliebe bis heute nicht gleichwertig durchsetzen konnte. Insbesondere die mangelnden Fähigkeiten des Ziehvaters Kevins erscheinen unter Berücksichtigung der biologischen Abstammung somit doppelt entschuldbar und die diskursiv vollzogene Entkopplung biologischer und sozialer Elternschaft wird durch die Deutung einer ›legitimen stiefväterlichen Inkompetenz‹ noch verstärkt. 9

Diese Differenzierung folgt im Wesentlichen auch der tradierten Praxis, Kindsväter in Überlieferungen von Kindstötungen nicht zu erwähnen, da sie bis ins 18. Jahrhundert im Schutz der Staatsund Kirchenmacht standen (vgl. Geyer-Kordesch 1993).

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Eine solche Vorstellung von Geschlecht als Differenzkategorie etablierte sich jedoch erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts parallel zur Herausbildung der ›bürgerlichen Familie‹ und der damit einhergehenden Formen der Arbeitsteilung sowie zur Entwicklung des Deutungsmusters ›Mutterliebe‹ (vgl. Müller 2003, S. 15f.), wobei die Geschlechtskategorie kulturelle und biologische Differenztypologien zusammenführt.10 In diesem Kontext verweisen Kutscher & Richter (2011) sowie Haubl (2012) auch auf die generell vorherrschende gesellschaftliche Differenzierung zwischen männlicher Wahlfreiheit und einer auf »natürlichen Instinkten beruhende[n] mütterliche[n] Verantwortung« (Villa 2006, S. 68). Geschlechtsspezifische Differenzierungen zeigen sich nicht nur im massenmedialen Diskurs, sondern auch in professionellen Feldern sozialer Praxis wie z.B. der Familientherapie: »Indem der Kinderliebe Bedingungslosigkeit zugewiesen wird, ist es irrelevant, ob die Liebe des Vaters bedingungslos, bedingt oder überhaupt vorhanden ist. Sie wird an dieser Stelle nicht erwähnt. Zwar spricht Juul an anderer Stelle von Vaterliebe, allerdings stelle das Fundament der Vater-Kind-Beziehung die bedingungslose Kinderliebe dar. Die einzige Liebesverpflichtung des Vaters bestehe darin, auf die bedingungslose Liebe zu reagieren. Im Gegensatz dazu wird der Mutter durchaus Bedingungslosigkeit zugewiesen. Demzufolge kann der Unterschied zwischen Mutter- und Vaterliebe wie folgt umschrieben werden: Die Mutter macht etwas für das Kind, weil sie es liebt. Der Vater macht etwas für das Kind, weil das Kind ihn liebt« (Höher & Mallschützke 2013, S. 248). Ähnliche Tendenzen der Geschlechtspolarisierung konnten auch Bauer und Wiezorek (2009) im Hinblick auf Leitbilder professioneller Sozialpädagogen sowie Scholz (2013) hinsichtlich der Inhalte gegenwärtiger Elternratgeber feststellen: »Die Mutter ist weiterhin vorrangig zuständig für die Kinder, der Vater erscheint als bloße Ergänzung der Erziehung […], der mütterliche Erziehungseinflüsse ergänzen, begleiten und – wo erforderlich – auch kompensieren kann« (S. 323). Die narrative Konstruktion einer solchen Differenzierungsvariable transportiert nicht nur »›Bilder‹ vom Normverhalten und von optimaler Funktionalität des sozialen Systems Familie […], sondern auch die Bewertung von Verhalten in der sozialen Interaktion sowie in unseren Köpfen. Sie gibt implizite oder explizite Maßstäbe zur Beurteilung von Rollenverhalten, insbesondere natürlich Geschlechterrollenverhalten, an die Hand und greift in Lebensbereiche ein, die uns so privat erscheinen und doch gesellschaftlich erzeugt sind« (Gerlach 1996, S. 15). Somit produziert und stabilisiert sie eine Ordnung, innerhalb derer die ›biologische Mutter‹ als zentrale Leitlinie fungiert und als Grenze gegenüber dem ›Anormalen‹ gezogen wird. Das rückt die Narrative in die Nähe eines sozialen Rassismus, der insbesondere vom Ende des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts bei den Nationalsozialisten große Popularität erfuhr und in dessen Rahmen soziale Probleme

10

Zu der biologischen Komponente des ›sex‹ gesellen sich seit dem 20. Jahrhundert zahlreiche weitere Unterscheidungskategorien wie z.B. ›Gender‹ als Form der kulturellen Ausprägung des Geschlechtes (Müller 2003, S. 101f.) oder ›Geschlecht als Leistungsklasse‹ der körperlichen Konstitution (Müller 2006).

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

in eine »biologisch determinierte Minderwertigkeit« (Kuhlmann 1989, S. 78) transformiert wurden.

2.2.4.

Das weibliche ›Mängelwesen‹ als mythologische (Re-)Souveränisierungsstrategie eines modernen Antifeminismus

Ebenso wie die Modellpraktiken der ›bürgerlichen Kleinfamilie‹ sind auch die Subjektpositionen der ›liebenden, fürsorglichen Mutter‹ mit einer Abwertung jeglicher davon abweichender Lebensformen verbunden. In den Debatten um den Fall ›Kevin‹ lassen sich somit nicht nur Narrationen einer ›natürlichen Mutterliebe‹ erkennen, sondern in deren Umkehrung auch deutliche weibliche Defizitmarkierungen. Mütter, die an ihrer Erziehungsaufgabe scheitern, werden unter Bezugnahme auf naturalistisch-biologische Differenzierungskategorien per se als ›widernatürlich‹ wahrgenommen und die ›inkompetente‹ Mutter wird zur Gefahr, während Gleichberechtigungsbemühungen wie das Aufkommen der ›neuen Vaterschaft‹, die einer Geschlechtshierarchie entgegenwirken und geschlechtsspezifische Ungleichheiten zumindest partiell aufheben können, im Kontext des Falls ›Kevin‹ – insbesondere in den Narrativen der Gegennarration – kaum zu greifen sind. Die weiblichen Defizitmarkierungen können hierbei auch als eine Weiterführung der historisch etablierten Figur der Frau als ›gefährliches Mängelwesen‹ gewertet werden, die es aus Perspektive eines naturalistischen tradierten Antifeminismus zu kontrollieren und zu beherrschen gilt. Im Datenmaterial findet sich eine Reihe historischer Bezüge, die bis in die Antike zurückreichen und eine solche Annahme stützen. Zu nennen ist in diesem Kontext z.B. ein Hinweis auf die Figur »Medea, die ihre Söhne massakrierte, um sich an Jason zu rächen« (Focus 50/2007) und die in Wissensbeständen der Kunst und Mythologie untrennbar mit dem Phänomen Kindsmord verknüpft ist (vgl. Feichtinger 1992) – insbesondere dann, wenn die Mutter ihr Kind aus Rachegefühlen gegenüber dem Kindsvater tötet (vgl. Raic 1997, S. 27).11 Darüber hinaus lassen sich aber auch Vergleiche der Mütter in Fällen wie ›Kevin‹ mit Figuren der Literaturgeschichte finden: »Die Kindsmörderinnen von einst hießen Evchen Humbrecht 12 oder Gretchen13 . Gretchen wurde von Faust geschwängert und Evchen Humbrecht von Leutnant von Gröningseck, der ihr die Ehe versprochen hatte. Evchen floh beschämt aus ihrem Elternhaus und tötete ihr Neugeborenes in einem Wutanfall. Auch Gretchen brachte ihr Kind um und wurde darüber wahnsinnig« (SZ 19.12.2007a). In diesen Ausführungen zeigt sich das literarisch häufig rezipierte Bild der unberechenbaren, mitunter gefährlichen Natur der Frau, die der Vernunft und Leistungskraft eines Mannes an ihrer Seite bedarf und im privaten Schutzraum der Familie verbleiben sollte, um Unruhe im öffentlichen Raum zu vermeiden (vgl. Haag 2014). Sowohl Medea als auch Gretchen oder Evchen wären vermutlich nicht in diese Situation geraten, wenn sie »an andere, Männer und Kinder, gebunden« (Brückner 1983, S. 171) geblieben wären. Aber auch die »rothaarige Frau« des Jugendamts, »deren

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12 13

Bei der Kindsmörderin Medea handelt es sich um eine Sagenfigur der griechischen Mythologie, die sich durch die Tötung ihrer Kinder an ihrem untreuen Ehemann Jason rächte (vgl. hierzu ausführlich z.B.Bourget et al. 2007; Lütkehaus 2007). Vgl. Wagner (1983 [1776]). Vgl. Goethe (1986 [1808]).

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Job es sei, sich ebenso präzise wie unauffällig ein Bild von den Verhältnissen zu machen, in denen Menschen leben«, erinnert entfernt an das Bild einer Hexe, die lediglich unter einem Vorwand Nettigkeiten in der Familie austauscht, dies jedoch tatsächlich tue, um »zu ergründen, ob hier womöglich ein Kind schlecht aufgehoben ist« (FAZ 14.05.2007). Gleichzeitig spielen diese Figuren aber auch auf den Opferstatus der ›Täterinnen‹ an, die alle betrogen oder verlassen wurden und so dem in der Gegennarration inszenierten Bild der Eltern als ›Tragikos‹ entsprechen (vgl. Kap. III, 2.2.1): »Auch Gretchen brachte ihr Kind um und wurde darüber wahnsinnig […]. Die Gretchens waren Opfer, die zu Täterinnen wurden« (SZ 19.12.2007a). Als biologische ›Mängelwesen‹ folgen und spiegeln die Frauen nicht nur eine Natürlichkeit und Instinktdetermination, sondern werden auch zum Opfer der Bedingungen, unter denen sie leben (vgl. Allkemper 1990, S. 130). Besonders deutlich zeigt sich dies im Medea-Mythos: »Die Position der Frau wird von Beginn an als weniger vorteilhaft erkannt, dies spitzt sich jedoch zu, wenn sie Mutter wird, da sie dann in noch größere Abhängigkeit gerät. Sie sehen den Kindsmord demnach nicht als Racheakt, sondern als verzweifelten Ausweg ihrer Situation, in die sie von der Gesellschaft und insbesondere dem Mann als Geschlecht gedrängt wurden. Doch die Frau leidet unter dieser und trifft die Entscheidung unter großem emotionalem Druck und in verzweifelter Lage […]. Der Tod ist nicht unbedingt als Tod zu verstehen, sondern entweder als Trennung von dem Ehemann, die den gesellschaftlichen und sozialen Tod bedeuten kann« (Trost 2013, S. 122f.). Diese Opfermarkierung erlaubt es, »Medea als Kindsmörderin darzustellen, ohne dass der Zuschauer sie gänzlich dafür verurteilt« (ebd., S. 134). Die widersprüchliche und ambivalente Figur ›Medea‹ bindet die Vielfalt der Konfliktfelder und Grenzüberschreitungen ein, die sich auch im gesamten Diskurs um familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ in Fällen wie ›Kevin‹ widerspiegeln und etablierte kulturelle Ordnungen zu bedrohen scheinen. Hierzu zählen z.B. gesellschaftliche Werteordnungen, Familiensysteme, Mütterlichkeit und Gender (vgl. hierzu einschlägig auch Stephan 2006). In der Annahme, dass Mythen als kollektive Bilder ähnlich wie soziologische Normen fungieren, verweist die mehrfach auftretenden Nennung antiker Frauenfiguren auf einen reaktionären Rückbezug, auf die Versinnbildlichung der dämonischen und unberechenbaren Frau, die als »kollektives Geschlechterwissen« (Dölling 2007) alle Geschlechterordnungen als Gefahr markiert, die nicht dem tradierten hierarchischen Paternalismus entsprechen. Vergleiche der modernen ›Kindsmörderin‹ mit der literarischen Gretchen-Figur oder der mythischen Gestalt der ›Medea‹ sowie die metaphorische Nähe zur Figur der ›Medusa‹ richten den Blick auf die fiktive Gestalt der »mordenden Mutter« (Friedrich 1958). Ähnlich wie bei anderen mythischen Frauenfiguren, wie z.B. den ›Sirenen‹ oder der ›Hydra‹, weist dies darauf hin, dass man sie nur eindämmen oder unschädlich machen kann, wenn man sie in ihrer natürlichen Rolle und Funktion belässt, sie gesellschaftlich ignoriert und jede Form der Autonomie unterdrückt (vgl. Arend 2000; Stoll 1980 [1884]). Insbesondere »der Medea-Komplex setzt wie kein anderer die Geschichte der Unterdrückung der Frau in Szene« (Case 2005, S. 256). Er stabilisiert und legitimiert damit patriarchalische Wissensordnungen: »Der Mythos tendiert dazu, patriarchale Denkmuster zu beglaubigen, Weiblichkeit in Frauenbildern zu fixie-

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

ren und funktional auf männliche Schicksale auszurichten« (Biesenbach & Schößler 1998, S. 32). Wenn man die verbesserte gesellschaftliche Stellung der Frau durch höhere Bildungsabschlüsse und Zugänge zu höhergestellten beruflichen Möglichkeiten als Ursache vereinzelt vorkommender ›Erziehungsinkompetenzen‹ deutet, verdeutlichen solche Repressionen den deutungsimmanenten konstitutiven Sinn der Gegennarration. Dementsprechend hat Soeffner (1999) bereits vor Längerem gefordert, »systematisch die strukturellen Konstitutionsbedingungen dieser Mythen zu untersuchen« (S. 43), d.h. »die Genres und Erzählformen […], Symbolisierungen und Bauelemente […], historischen Argumentations- und Zitierlinien (›Diskurse‹), die Verfahren der Perspektiven-, Erwartungs- und Konsenskonstruktionen. Wenn es aber um das Beschreiben, das auslegende Verstehen und Erklären sozialer Orientierung, sozialen Handelns und sozialer Handlungsprodukte gehen soll, wird man um diese grundlegenden Analysen nicht herumkommen – es sei denn, man selbst fühle sich in den jeweiligen Mythen wohl« (ebd.). Folgt man Biesenbach und Schößler (1998), so kann in dem Verweis auf mythische Frauenbilder jedoch nicht nur eine Stabilisierung tradierter Ordnungen gesehen werden. Im Gegenteil lässt er sich auch als Hinweis auf einen progressiven Bruch mit dem tradierten Mutterbild deuten, der Zweifel an einer »verordnete[n] Praxis glücklicher Mutterschaft« (S. 33) streut. Der Figur Medea wurden durch die Mutterschaft z.B. gesellschaftliche Zwänge auferlegt, denen sie nicht gerecht werden kann oder will. Medea verkörpert so das Bild der »aufopferungsvolle[n] Mütter, die den ›sozialen Tod […] in der Familie‹ sterben und dennoch bei dem Versuch, dem von ihnen selbst internalisierten Mutterideal ›im tagtäglichen Leben‹ zu entsprechen, nur scheitern können« (Löchel 2016). Dennoch bleibt das Resultat dasselbe: Die ›moderne‹ Mutter wird wie einst das mythische Mängelwesen zum Problem für die Familie und zur Gefahr für das Kind und somit auch für die tradierte Sinnwelt, die von antifeministischen Männerrechtlern als Re-Souveränitätsstrategie verwendet werden kann: »Es ist eine Strategie, um männliche Herrschaft in Zeiten des Wandels zu stabilisieren« (Lücke 2013) und die autonome, selbstorganisierte Mutter zur Gefahr für die Familie zu degradieren (vgl. Weber 2006, S. 152). Hierunter könnte dann auch die seitens der Alternativnarration als Negativpraxis inszenierte zu starke Bindung der Frau an das Kind im Sinne eines ›Helikopterings‹ (vgl. Kap. III, 3.2.2) gefasst werden, welche die Vorherrschaft und Stellung des modernen Mannes zumindest innerhalb der Familie bedroht und ihn aus der exklusiven Mutter-Kind-Bindung ausschließt (vgl. Schütze 2000). Somit können nicht nur Mütter, die der Modellpraxis der ›liebenden Mutter‹ nicht vollständig entsprechen, als defizitär ausgewiesen werden, sondern es kann auch ein überhöhter ›Mutterkult‹ zu einer Negativfolie der selbstbezogenen und narzisstischen Mutterschaft mutieren. Solche Ordnungen »mögen oft als ›Aberglauben‹, ›Irrationalitäten‹, ›bloße Trägheit der Tradition‹ usw. abgetan werden. Wenn wir jedoch nach Mertons Ansicht entdecken, dass sie eine latente Funktion haben – eine unbeabsichtigte Folge oder eine Menge von Folgen, die die kontinuierliche Reproduktion der jeweiligen Praktik sichern helfen –, dann demonstrieren wir, dass sie keineswegs so irrational sind« (Giddens 1995a, S. 63). Die Etablierung einer Praxis, in der die Zurückweisung der Frau in Rollen der moder-

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nen Arbeitsteilung angelegt ist und in der die Notwendigkeit suggeriert wird, dass der Mann über die potenziell gefährliche Frau wacht, kann dann nicht zuletzt dazu führen, dass die Isolation oder gar Misshandlung von Frauen legitim erscheint. Insbesondere wenn man auf die historische Entwicklung des Modells der bürgerlichen Familie schaut, in der die Vergewaltigung von Ehepartnerinnen bis zum Jahr 1997 juristisch erlaubt war, ermöglicht die Berufung auf die Modellpraxis der bürgerlichen Familie und die Subjektposition der ›gefährlichen Frau‹ somit nach wie vor eine »immanente Legitimierung und Perpetuierung von Grenzüberschreitungen, wie Gewaltakte gegen andere Familienmitglieder« (Bauer et al. 2015, S. 36). Dabei berechtigt vor allem die ›natürliche‹ Machtposition des Mannes zu Sanktionen und Züchtigungen gegenüber Frauen, aber auch den hierarchisch ebenfalls niedriger gestellten Kindern (vgl. Kessl et al. 2015, S. 66ff.). Der familiale Schonraum wurde erst im Jahr 2000 mit der Neufassung des »Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung« (§ 1631 BGB) um diese Freiheit beschnitten. Die normative Struktur dieser Deutungsmuster restabilisiert somit nicht nur geschlechts- und generationale Ordnungen, sondern kann auch gerade hervorbringen und befördern, was im Kontext des Falls ›Kevin‹ zu bewältigen ist: innerfamiliale Gewalt und somit auch Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Bereits durch die passive Subjektkonstruktion des Kindes in der Gegennarration (vgl. Kap. III, 2.2.2) erhalten Familien letztlich »gerade mit Bezug auf ihre liebende Fürsorge auch einen Autoritätsanspruch, der ihnen gestattet, auch gegen die Interessen des Kindes« (Lohmann 2010, S. 210) den »Schrei nach Zucht und Ordnung« (Focus 09/2009) durchzusetzen und damit auch ein gewisses Maß innerfamilialer Gewalt an Kindern zu legitimieren (vgl. Fegert et al. 2010, S. 26ff.). Wensierski (2006) betont, dass es noch in den 1950er Jahren gängige Praxis gewesen sei, körperliche Gewalt unter Bezug auf solche Positionen als »Christlichkeit« und »Erziehungsnotwendigkeit« auszuweisen, obwohl gerade jene christlichen Positionen gleichzeitig normative Perspektiven eines gewaltfreien Zusammenlebens postulieren (S. 9ff.). Wenngleich die heutigen Wissensbestände und Argumentationslinien nicht mehr dem Zeitgeist der 1950er entsprechen, zeigt sich, dass nach wie vor tradierte Ordnungen zur Legitimierung herangezogen werden können, die Differenzen als natürlich gefasste ›Wesenseigenschaften‹ interpretieren und die Positionen von Frauen und Kindern in Familien dadurch schwächen können.14 Das zugrunde gelegte Natürlichkeitsargument trägt jedoch stets eine positive Konnotation in sich, die sich als ein »affirmative Verneigung vor der umfassenden Funktionalität evolutionär etablierter Passungen und Mechanismen jenseits menschlicher Rationalität fassen lässt: ›Das‹ was die Natur so eingerichtet hat‹, müsse demnach gut und richtig sein« (Heimerdinger 2017, S. 127). Damit bleiben das ›weibliche Mängelwesen‹ ebenso wie die ›glücklich-kompetente‹ Mutter als Mythen nahezu immun gegen Falsifizierung.

14

Zu diesem Ergebnis kommen auch Görgen und Kessler (2013), die über eine Datenbankrecherche 1.063 Publikationen zu Gewalt an Kindern bzw. Kinderschutz im Zeitraum von 1949 bis 2009 analysiert haben.

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

2.3.

Die Markierung von ›Risiko- und Problemfamilien‹ als klassifizierende Praxis sozialer Hierarchisierung

2.3.1.

Die Unterschichtsdebatte als Ausdrucksform soziokulturalistischer Differenzierungen

Spätestens mit Einschreibung der Alternativnarration in den massenmedialen Diskurs um Fälle wie ›Kevin‹ gerät nicht nur das generelle ›Risiko Familie‹ stärker in den Blick, sondern im Rahmen der Normierung und Normalisierung von Familie und Erziehung auch Fragen danach, welche Familien ihre ›Erziehungskompetenzen‹ entfalten können und welche Faktoren diese Entfaltung begünstigen oder hemmen (vgl. Tervooren 2008, S. 43). Hierdurch scheinen sich Transformationen vom ›Risiko‹ bzw. ›Problem‹ zur »Problemfamilie« (z.B. Der Spiegel 49/2006; taz 20.12.2010) bzw. »Risikofamilie« (z.B. Der Spiegel 42/2006a; Die Welt 20.12.2007; taz 12.04.2007) oder gar »Hochrisikofamilie« (Die Zeit 51/2007b) zu vollziehen, in denen bestimmten Familien eine hohe Wahrscheinlichkeit graduellen Scheiterns an ihrer Erziehungsaufgabe zugeschrieben werden. Der Anteil der so deklarierten Risikogruppen an der Gesamtelternschaft wird im Fachdiskurs auf 20 bis 30 Prozent geschätzt (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S. 83f.). »Die Auswertung dieser Fragen ermöglicht erstaunlich präzise Prognosen: Etwa achtzig Prozent der Risikofamilien lassen sich identifizieren. Diese Risiken gilt es dann zu minimieren« (SZ 13.10.2006c). »In jedem fünften Fall gab es Anzeichen entweder für Misshandlung oder für Vernachlässigung« (Die Welt 14.07.2010b). So auch im Fall der Vernachlässigung und Misshandlung Kevins: »Anzeichen dafür hatte es seit Kevins Geburt am 23. Januar 2004 gegeben, so viele und so deutliche, dass es vielen immer noch unfassbar erscheint« (taz 24.10.2007). »Die Leiterin, Heike Seifert, warnte schon damals«, denn »Warnzeichen gab es mehr als genug« (Der Spiegel 48/2007). Vor allem die Modellpraxis der Familie als ›Bildungs- und Lernwelt‹ (vgl. Kap. III, 3.2) scheint von dem begrifflichen Gegensatzpaar des »normalen Bürgers« (Die Zeit 51/2007b) und der ›Problem- bzw. Risikofamilie‹ strukturiert zu werden. Die Abgrenzung erfolgt vor allem über materielle und soziokulturelle Begebenheiten, aber auch über »intakte Familienstrukturen und stabile Elternpersönlichkeiten« (taz 14.10.2006d). Diese Konzeptualisierung unterstellt weniger einen ›quasi-natürlichen‹ Zusammenhang (vgl. Kap. IV, 2.2), sondern vielmehr einen sozialen und statistischen Kausalzusammenhang zwischen bestimmten sozialen und personalen Faktoren und einem ›Versagen‹ familialer ›Erziehungskompetenzen‹, das zwar nicht zwingend eintreten muss, aber doch in pauschalisierender Weise wahrscheinlich erscheint. Das führt dazu, dass auch hier bestimmte Gruppen von Familien als Merkmalsträger bestimmter Eigenschaften unter den ›Generalverdacht‹ der ›Erziehungsinkompetenz‹ gestellt werden (vgl. Berli & Endres 2013, S. 9f.). Diese Form der Klassifizierung steht in enger Verbindung mit der narrativen Transformation einer vermeintlichen Gefahrenlage sich ausweitender ›Erziehungsinkompetenzen‹ in ein kalkulierbares Risiko (vgl. Kap. III, 3.1.2). Denn sobald man »in einem Monstrum ein Monstrum erkennt, beginnt man damit es zu zähmen, aufgrund des ›als‹ – man erkennt es als Monstrum, es mit den Normen zu vergleichen, es zu analysieren, folglich zu beherrschen, was diese monströse Gestalt an Entsetzli-

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chem haben könnte« (Derrida 1998, S. 391f., Herv. i. O). Die abwertende Konnotation, die dem ›Monströsen‹ immanent ist, bleibt jedoch für bestimmte Personengruppen erhalten: »Das sind nicht alles Monster-Eltern, die ihre Kinder hassen. Aber auffallend oft finden gefährliche Zwischenfälle eben bei sehr jungen, überforderten, arbeitslosen Eltern statt« (Der Spiegel 51/2007). Mittels »Risikosemantiken« wird hierbei nicht nur »Risikoverhalten« festgelegt, sondern auch eine Zuschreibung über die »Betroffenheit von sozialen Risiken« (Dollinger 2015, S. 44) vorgenommen, die darauf zu zielen scheint, einheitliche Strukturen sowie rationale Organisations- und Handlungsabläufe zu entwerfen, um so die Anfälligkeit für Zufälliges oder Unerwartetes zu minimieren. Mit dem ›Fall Kevin‹ wird der Blick nicht nur verstärkt auf »Mütter« (Die Zeit 24/2011; FAZ 29.11.2007) und »Alleinerziehende« (z.B. Die Welt 23.12.2008; Die Welt 14.07.2010b) gelenkt, die als ›Risikogruppe‹ für Kindesmisshandlung und -vernachlässigung konstituiert werden (vgl. Kap. IV, 2.2). Die ›Verdachtsmomente‹ werden auch an andere soziodemographischen Merkmale geknüpft, z.B. an einen niedrigen Bildungsstand und geringes Einkommen, d.h. an »materielle und ideelle Armut« (SZ 30.11.2007b): »Die meisten Fälle, sind sich fast alle Experten einig, geschehen in armen Familien« (taz 28.10.2006b), »die großen Risikofaktoren wie mangelnde Chancengleichheit in der Bildung hängen nun einmal oft mit Armut zusammen. […] Es ist doch klar, dass die Verzweiflung bei armen Eltern zunimmt, und damit steigt leider auch das Risiko von Misshandlung und Vernachlässigung« (taz 18.12.2007). »Die schlechte soziale Lage, der alltägliche Stress und der erlebte Ausschluss führen dazu, dass die Kinder in ihrer Entwicklung massiv benachteiligt sind. Seelische und körperliche Krankheitssymptome treten bei ihnen um ein Vielfaches häufiger auf; sie haben eine um etwa zehn Jahre geringere Lebenserwartung als Kinder, die in Wohlstand und sicheren sozialen Verhältnissen leben. Bei der Bildung herrscht ebenfalls krasse Ungerechtigkeit« (taz 29.07.2009). Diese Kategorien entsprechen im Wesentlichen den Risikoindikatoren, die auch im sozialwissenschaftlichen Fachdiskurs, wie z.B. dem Bildungsbericht (Dipf 2010), aufgeführt werden. Dabei klassifiziert die Autorengruppe drei ›Risikolagen‹: Erwerbslosigkeit (»soziales Risiko«), geringes Einkommen (»finanzielles Risiko«) und keinen oder einen niedrigen Schulabschluss bzw. Ausbildungsstatus (»Risiko der Bildungsferne«) (vgl. S. 27). Diese Risikolagen korrespondieren zudem weitestgehend mit den gängigen Dimensionen sozialer Ungleichheit moderner Gesellschaften (vgl. Hradil 2001, S. 27ff.). Im Umkehrschluss werden die Faktoren Erwerbstätigkeit, ›ausreichendes‹ Einkommen und erfolgreicher Schul- bzw. Ausbildungsabschluss der Eltern als mehr oder minder konstitutiv für ein ›gelingendes‹ Aufwachsen von Kindern erachtet (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005a, S. 168): »Ein Mangel an ökonomischen Ressourcen ist ein wesentlicher Risikofaktor auch für die Erziehungstätigkeit der Eltern, indem er kurzfristig und situationsgebunden elterliche Erziehungskompetenzen beeinträchtigen, im Falle chronischer Mangellagen aber auch langfristig verhindern kann, dass sich elterliche Kompetenzen im Umgang mit den Kindern überhaupt herausbilden und verfestigen« (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005b, S. 15).

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Vor dem Hintergrund der starken Berücksichtigung finanzieller und materieller Aspekte werden familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext des Falls ›Kevin‹ zu einer Facette des Kinderarmutsdiskurses, der insbesondere zu Beginn der 2010er Jahre verstärkt massenmedial in Erscheinung tritt (z.B. Der Spiegel 4/2010) und lediglich in den Inszenierungen der Ausgangnarration als »die Mär vom armen Kind« (Der Spiegel 39/2010) bagatellisiert wird: »Hunderttausende Kinder gelten in Deutschland als arm, doch ihr größtes Problem ist nicht der Mangel an Geld. Viele leiden unter Verwahrlosung und der Gleichgültigkeit ihrer Eltern. Selbst die jüngsten Hartz-IV-Pläne der Regierung bieten da keine Lösung« (Der Spiegel 39/2010). Durch die ansonsten zahlreich attestierte »Korrelation von Familienarmut und Kinderleid« (FAZ 14.05.2007) steht der Diskursstrang dann auch in einer engen Verbindung mit den diskursiven Ordnungen der ›kulturalistischen Unterschichtsdebatte‹, die in etwa zeitgleich mit dem Fall ›Kevin‹ Eingang in den massenmedialen Diskurs findet. Als ein entscheidender Auslöser und Motor der öffentlichen Debatten kann ein Interview mit dem damaligen Bundesvorsitzenden der SPD Kurt Beck im Jahr 2006 angesehen werden, in dem er erklärt, dass es in Deutschland ein zunehmendes Problem mit der ›neuen Unterschicht‹ gebe. Als Ursache benennt er das vermeintlich mangelnde Interesse ›armer Familien‹ daran, dass es den eigenen Kindern in Zukunft finanziell gut gehe. Diese These sorgte massenmedial für enormes Aufsehen und wurde in zahlreichen Berichterstattungen mit den Ergebnissen einer Studie im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung verbreitet, die auf ein deutliches Wachstum jener Unterschichtsgruppen hinweist (vgl. z.B. Der Spiegel Online 16.10.2006a; FAZ 17.10.2006e). Christa Müller, die Frau Oskar Lafontaines, handelte sich im selben Jahr »viel Kritik ein mit der Aussage, man müsse mit staatlicher Familienberatung ›die Reproduktion des asozialen Milieus‹ begrenzen« (taz 19.10.2006). Das zeitliche Zusammentreffen dieser Debatten mit dem Fall ›Kevin‹ dürfte eine diskursive Verknüpfung der beiden Diskursstränge begünstigt haben. Dafür spricht, dass auch Fälle wie ›Kevin‹ in der Tagespresse gehäuft als »ein Phänomen der Unterschicht« (taz 28.10.2006b) bzw. als »Unterschichtenphänomen« (Die Welt, 20.12.2007) oder »Problem der Unterschicht« (FAZ 14.05.2007) verhandelt werden. Zudem betonen weite Teile des sozialwissenschaftlichen Diskurses seinerzeit deutliche Zusammenhänge zwischen der sogenannten ›Unterschicht‹ und der Misshandlung bzw. Vernachlässigung von Kindern (vgl. z.B. Bender & Lösel 2005). Es handele sich um eine »Debatte, die ›Unterschichtseltern‹ zu Versagern stempelt und dem persönlichen Elend mit staatlicher Überwachung und Strafe begegnet« (taz 29.07.2009). Der Fall ›Kevin‹ belebe dabei »tatsächlich den Geist der 1950er Jahre wieder« (taz 29.07.2009). Laut Iller (2012) handelt es sich bei dieser Diskursverschränkung um eine »künstlich erzeugte Verknüpfung von Ereignissen und Eigenschaften, die nur deshalb als relevant eingestuft werden, weil sie in einer gewissen Häufigkeit auftreten. Erst durch die Interpretation durch Menschen wird daraus ein quasi naturgesetzlicher Zusammenhang erstellt« (S. 79). Einer dieser verknüpften Zusammenhänge scheint hier bereits der Name ›Kevin‹ zu sein, denn diverse linguistische und kultursoziologische Studien legen nahe, dass Eltern aus unterschiedlichen Bildungsschichten auch unterschiedliche Vornamen auswählen: Während Eltern höherer Statusgruppen zumeist traditionelle deutsche Namen wählen, seien in Familien der ›unteren Mittelschicht und Unterschicht‹ vor allem Namen aus trivialen US-Medien populär (vgl. z.B. Gerhards 2003; Utech 2011). Die Ergebnisse einer Studie der Arbeitsstelle für Kinderforschung an der Universität Ol-

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denburg zeigen demgemäß, dass einige Vornamen bestimmte Vorurteile hervorrufen, so dass mit Vornamen auch Vorannahmen zu Eigenschaften und Verhalten von Kindern und ihren Familien verbunden werden (vgl. Kaiser & Kube 2009). »Besonders ›Kevin‹ hat sich als stereotyper Vorname für einen ›verhaltensauffälligen‹ Schüler herausgestellt. In einem Fragebogen fand sich der Kommentar ›Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose!‹« (ebd.). Der Name ›Kevin‹ vermag somit bei vielen Rezipienten bereits im Vorfeld Assoziationen mit der ›Unterschicht‹ zu evozieren, wodurch er sich hervorragend zur Inszenierung eines ›armen Kindes‹ als ›Opfer der Unterschicht‹ eignet. In der Mitte der 2000er Jahre tauchte auch der negativ konnotierte Begriff »Kevinismus« auf, den die Satire-Website »Uncyclopedia«15 definiert »als Unfähigkeit, menschlichem Nachwuchs menschliche Namen zu geben. Kevinismus führt bei den Erkrankten und vor allem bei deren Nachwuchs zur sozialen Isolation«. Der Begriff wird im Zeitverlauf auch in den massenmedialen Verhandlungen des Falls ›Kevin‹ aufgegriffen: »Kevinismus als vermeidbare Kinderkrankheit« (Die Welt 23.12.2007). Als »Bezeichnung für weniger kluge Zeitgenossen« (FAZ 26.07.2015) fungiert zudem auch der Begriff ›Alpha-Kevin‹, der im Jahr 2015 bei der Online-Abstimmung für das Jugendwort des Jahres kurzzeitig die Rangliste anführte: »Jugendwort des Jahres: Läuft nicht bei ›Alpha-Kevin« (FAZ 26.07.2015). Eine Verknüpfung des Falls ›Kevin‹ mit der Unterschichtsdebatte wird vermutlich jedoch nicht nur durch den Namen des Kindes, sondern auch durch gewisse ›PrimingEffekte‹ (vgl. Kap. III, 1.2.1) verstärkt. So erfolgt die Positionierung von Meldungen zum Fall ›Kevin‹ im Seitenlayout der Printmedien in markanter Weise häufig neben anderen Artikeln oder Bildern der ›Unterschichtsdebatte‹ (z.B. FAZ 16.10.2006; FAZ 17.10.2006b). Der Begriff ›Unterschicht‹ scheint sich in Verbindung mit dem Fall ›Kevin‹ nicht nur zu einem ›Schock-Wort‹ zu entwickeln, sondern auch zu einer ›moralischen Kategorie‹ (Virchow 2008, S. 251), unter der zahlreiche negativ konnotierten Elemente subsumiert werden und sich insgesamt eine »Ablehnung der Lebensmuster kleiner Leute« (Bühler-Niederberger 2010, S. 25) auszudrücken scheint: ›Unterschichtseltern‹ fehle es an »Netzwerken, praktischer Hilfe, finanzieller Unterstützung, an Zuwendung und Wertschätzung, es fehlt an allem« (Die Zeit 43/2006a). »Unterschichtseltern? Versager!« (taz 29.07.2009) »Wer in diesem Milieu aufgewachsen ist, leidet nicht zwangsläufig materielle Not, dafür sorgt der Sozialstaat. Aber es fehlt alles andere, was ein erfülltes Leben ausmacht – ein Erfolg, auf den man stolz sein kann, die Anerkennung von außen. Oft ist sogar der Wunsch erloschen, dass es dem eigenen Nachwuchs einmal besser gehen möge« (Der Spiegel 49/2006). Sprachwissenschaftler wie Nübling et al. (2012) sprechen in diesem Kontext nicht nur von »Etikettierungen« (S. 112), sondern mitunter auch von »Hetzkampagnen« (ebd.), die unter Rückgriff auf Begriffe wie »Unterschichtsfamilie« (z.B. Der Spiegel 49/2006), »Unterschichtseltern« (z.B. taz 29.07.2009), »Problemfamilie« (z.B. Der Spiegel 49/2006), »Krisenfamilie« (z.B. FAZ 13.10.2006b) oder »Risikofamilie« (z.B. Die Welt 20.12.2007) erfolgen. Der oftmals unterstellte kulturalistische Kausalzusammenhang zwischen ›Unterschicht‹ und Kindesmisshandlung bzw. -vernachlässigung wird im vorliegenden Material lediglich an einer Stelle von Michael Havemann, dem einstigen Leiter des Landes15

https://de.uncyclopedia.wikia.com/wiki/Kevinismus.

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kriminalamtes Berlin, kritisch aufgegriffen, hierbei zugleich jedoch eine andere Differenzierungsvariable eingeführt, die sich auf die Form familialer Kindesmisshandlungen bezieht, die in Abhängigkeit von der jeweils zugehörigen Gesellschaftsschicht variiere: »LKA-Chef Havemann hat da andere Erfahrungen. Bei Misshandlungen, sagt er, stammen die Täter aus einem ›breiten gesellschaftlichen Spektrum‹. Der Unterschied sei nur: Grausamkeiten gegen Kinder in Mittel- und Oberschicht äußere sich weniger häufig in körperlicher Gewalt: ›Wenn eine Mutter den Hamster der Tochter im Klo runterspült, dann ist das eine seelische Misshandlung, aber dem Kind sieht man nichts an‹« (taz, 28.10.2006b). Das Phänomen emotionaler Misshandlung, das mit Herrmann et al. (2008) als der »potenziell schwerwiegendste Einflussfaktor für eine beeinträchtigte, seelische oder geistige Entwicklung des Menschen« (S. 198) anzusehen sei, wird hierbei zu einem ›Phänomen der Mittel- und Oberschicht‹ erhoben. Demgegenüber konnte Raic (1997) in ihrer Studie zumindest für die Jahre 1970-1993 nachweisen, dass Kindstötungen am häufigsten in gehobenen Schichten auftraten (vgl. S. 76f.). Andere Autoren teilen solche Differenzierungen nicht. Die Rechtsmediziner Tsokos und Guddat (2014) gehen vielmehr davon aus, dass auch die Rate körperlicher Gewalttaten gegenüber Kindern in gut situierten Familien nicht deutlich geringer ausfalle als im restlichen Teil der Gesellschaft: »Einiges spricht dafür, dass körperliche Kindesmisshandlung in gut bürgerlichen Einfamilienhäusern nicht sehr viel seltener vorkommt als in bildungsfernen Wohnsilos. Nur verstehen es die prügelnden Akademiker besser, ihre Gewalttaten zu verbergen – oder zumindest nachträglich zu bedauerlichen Unfällen umzudeuten. Nur allzu oft lassen sich Jugendamtsmitarbeiter zudem von klangvollen Titeln und respekteinflößenden Wohnadressen beeindrucken« (S. 47). Obwohl z.B. im Fall ›Lukas‹ ein Säugling aus gut situierten Familienverhältnissen im Sommer 2007 schwer misshandelt und lebensgefährlich verletzt wurde, nimmt lediglich die Süddeutsche Zeitung in einem kurzen Artikel Bezug auf die Ereignisse. Dies geschieht in relativierender Weise unter Betonung, dass die Ermittler »Parallelen zum Fall des kleinen Kevin« (SZ 01.08.2007) schnell ausgeschlossen haben: »Es gebe keinen Verdacht auf mögliche Fehlentscheidungen der Sozialbehörde« und »das Umfeld des kleinen Lukas ist nach Angaben der Ermittler ebenfalls nicht mit dem von Kevin vergleichbar« (ebd.). Dies legt die Vermutung nahe, dass vor allem durch die enge diskursive Anbindung familialen ›Versagens‹ an soziale Deprivationen eher Fälle wahrgenommen werden und über sie berichtet wird, wenn sie den Rahmenbedingungen –insbesondere dem sozialen Milieu des Falls ›Kevin‹ – ähneln. Dadurch geraten gut situierte, bislang unauffällige Familien bei der Einschätzung möglicher Gefahrenlagen und Straftatbeständen eher in den Hintergrund. Dies reicht dann »bis hin zur Vermutung direkter Zusammenhänge zwischen sozioökonomischen familialen Lebenslagen und der Vernachlässigung sowie dem Missbrauch von Kindern, wie sie sich bspw. in den einschlägigen Kinderschutzdebatten und den darauf ausgerichteten politischen Programmatiken sowie auch in konkreten Praxiskontexten manifestieren« (Drößler et al. 2011, S. 126). Mit Fegert et al. (2010) ließe sich vor diesem Hintergrund von einer gewissen ›Immunisierung der Ober-

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schicht‹ gegenüber Kindesmisshandlung und -vernachlässigung sprechen (S. 20f.). Die Anfänge einer solchen selektiven Immunisierung reichen in diesem Zusammenhang zurück bis ins 19. Jahrhundert, als viele Kinderschützer die oberen Schichten – denen sie selbst angehörten – als »immun gegen das Problem der Kindesmisshandlung« (ebd. S. 20) auswiesen. Weitere Tendenzen einer solchen soziokulturellen Kontextualisierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Hinblick auf die soziale Lage der Familien zeigen sich im öffentlichen Fürsorgerecht zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das verstärkt auf Familien aus Arbeiterhaushalten angewandt wurde (vgl. Wapler 2015, S. 50). Ähnliche Selektionskriterien und Immunisierungsstrategien gegenüber der ›Oberschicht‹ konnten Brosius und Eps (1993) später aber auch im Kontext massenmedialer Verhandlungen fremdenfeindlicher Anschläge nachweisen (vgl. S. 523f.). Somit lässt sich insgesamt eine deutliche diskursive Kontrastierung der ›Familie aus der Unterschicht‹, in der z.B. ›Kevin‹ »unter denkbar ungünstigen Verhältnissen aufwuchs« (taz 21.05.2008), zur ›gut situierten Familie der Mittel- und Oberschicht‹ nachzeichnen: Dort würden die Kinder »seltener krank, entwickeln sich besser, machen bessere Schulabschlüsse und kommen seltener ins Gefängnis« (Die Welt 04.11.2006a). Eine solche Ungleichheitsideologie, die Subjekte verstärkt anhand materieller Ressourcen und ihrer ökonomischen Verwertbarkeit beurteilt, bezeichnet Heitmeyer (2001) als »autoritären Kapitalismus« (S. 497), der im vorliegenden Material insbesondere von Diskurselementen der Alternativnarration getragen wird und letztlich zur Etablierung und Stabilisierung eines neuen diskursiven Klassenbewusstseins führen könne.

2.3.2.

Konstitutionelle und biographische Risiko- und Differenzkategorien

Neben ökonomischer und bildungsbezogener Armut scheint bei der Generierung der ›Risiko- bzw. Problemfamilie‹ in Fällen wie ›Kevin‹ auch der Drogenkonsum von Eltern eine entscheidende Rolle zu spielen: »Süchtige Eltern seien immer noch besser als keine Eltern – was für ein Irrsinn« (Die Welt 12.10.2006a). »Der Fall deute darauf hin, dass der Täter an einer extremen Überreiztheit im Zuge eines andauernden Amphetaminkonsums gelitten habe. Diese Substanzen haben eine aufputschende Wirkung. Der chronische Schlafmangel hat wiederum zur Folge, dass der Konsument dünnhäutig und extrem gereizt ist« (Die Welt 21.08.2010). Eine Rolle wird den angeblich »schwerwiegenden Mängeln im Bremer Sozial- und Drogenhilfesystem« (Die Welt 21.05.2008) zugeschrieben: »Mit seiner Kritiklosigkeit gegenüber den sozial Schwachen, mit seiner akzeptierenden Drogenpolitik hat sich der Stadtstaat in den letzten Jahrzehnten ohnehin als vermeintliches Dorado für die Bankrotteure dieser Republik empfohlen« (Die Zeit 25/2008). »Auch Kevin zählte zu dieser Risikogruppe: Seine inzwischen verstorbene Mutter war – wie der Ziehvater – drogenabhängig« (Die Welt 21.05.2008). »Wie kann es das Jugendamt zulassen, dass ein kleiner Junge bei einem Drogensüchtigen aufwächst?« (Die Welt 12.10.2006a) Im Fall ›Kevin‹ wird das Suchtproblem des »drogensüchtigen Ziehvaters« (Die Zeit 51/2007c) zu Beginn der Diskurskarriere sogar häufig als einziger Problemindikator benannt (z.B. »Der gewaltsame Tod seines Mündels durch den drogensüchtigen Ziehvater«, Die Welt 26.08.2010). Arbeitslosigkeit, Bildungsniveau, Wohnort und Vorstrafen

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

treten als auslösende oder begünstigende Faktoren erst deutlich später im Zusammenhang mit der ›Unterschichtsdebatte‹ diskursiv in Erscheinung. Zunächst wird somit »drogenabhängigen Eltern« (FAZ 14.10.2006), »rauschgiftabhängigen Eltern« (FAZ 14.10.2006) bzw. »drogen- und alkoholabhängigen Eltern« (SZ 21.10.2006b) der Status als vorrangige ›Risiko- und Problemgruppe‹ zugewiesen: »Alkoholkrank, drogenabhängig, psychisch schwerst defizitär, das sind die, über deren Kindern täglich eine Katastrophe hängt« (Die Welt 19.10.2006). Als kritisch eingestuft werden in diesem Kontext aber auch die oftmals angeblich mangelnden Fertigkeiten der Sozialarbeiter, die »wenig Erfahrung mit Drogenabhängigen« (Die Welt 12.01.2007) besäßen, und ihre daraus resultierende Bereitschaft, sich von der positiven, dramaturgischen Inszenierung mancher Eltern täuschen zu lassen: »Das Problem der Behördenmitarbeiter war wohl, dass sie sich von den Drogenkranken etwas haben vorzaubern lassen« (Die Welt 19.12.2006; vgl. auch Kap. III, 1.3.3). Neben Lebenslagen und Substanzabhängigkeiten kommt aber auch den Biographien der Eltern als klassifizierende Indikatoren familialer ›Erziehungsinkompetenz‹ große Bedeutung zu. So wird an mehreren Stellen auf die Annahme einer gewissen sozialen Prägung verwiesen (vgl. Kap. III, 2.1.3 & 3.1.3). Diesen Thesen folgend wäre Drogenmissbrauch nicht nur als Indikator familialen ›Versagens‹ anzusehen, sondern ebenso wie materielle und ideelle Armut unter Umständen auch als dessen Spätfolge bzw. als Traumata-Vererbung aufzufassen: »Die damals 33 Jahre alte Mutter war HIV-positiv, litt an Hepatitis C und unter massiven Alkoholproblemen und hatte einige Entziehungskuren hinter sich. Ihr Vater hatte sich das Leben genommen, als sie sechs war. Mit 16 startete sie eine Drogenkarriere. Die Jugend des vermeintlichen Vaters (39) schilderte Mäurer als ›ein einziges Trauma‹: Dessen eigener Vater, Alkoholiker, hatte sich vergiftet, als der Sohn 13 war. Fortan startet der Sohn seine Drogenkarriere und verbrachte die Hälfte seines künftigen Lebens in Haft« (Die Welt 19.12.2006). »Die Gefahr, dass Männer, die in ihrer Kindheit misshandelt wurden, später schwere Gewaltverbrechen begehen, sei 10x so hoch« (FAZ 17.11.2010). Die Annahme, dass Eltern häufiger in ihren ›Erziehungskompetenzen‹ versagen, »wenn ihnen als Kind selbst Gewalt angetan wurde« (Focus 42/2006b) entspringt einer Kausalattribuierung, bei der seit den 1990er Jahren gesellschaftliche Missstände, biographische Erfahrungen und traumatische Erlebnisse zunehmend auf die Entwicklung der Kinder projiziert werden (vgl. z.B. Bois-Reymond 1994). Das manifestiert sich mitunter auch in Aussagen wie dieser, »dass Spatzeneltern selten Adlerküken ausbrüten« (Focus 35/2001). Verschiedene aktuelle neurobiologische und entwicklungspsychologische Studien gehen ebenfalls davon aus, dass insbesondere ungünstige soziale Rahmenbedingungen und traumatische Vorfälle in den ersten drei Lebensjahren zu einer erhöhten Stressanfälligkeit und schlechteren Copingmöglichkeiten im Erwachsenenalter führen. Das habe zur Folge, dass einwirkende Belastungen bei jenen ›Risikogruppen‹ deutlich schneller eine Überforderung darstellen als bei resilienten Personen und zudem häufig in psychischen Erkrankungen münden, die dann wiederum das Risiko für delinquentes und kriminelles Verhalten, z.B. in Form von Kindesmisshandlung, erhöhen (vgl. Heinz 2009). Das Kinderschutz-Zentrum Berlin (2009) benennt demgemäß ebenfalls »eigene Erfahrungen von Misshandlung oder Vernachlässigung in der Kindheit, Alkohol/Drogen-

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sucht eines Elternteils, psychische oder intellektuelle Beeinträchtigung eines Elternteils, rigide Erziehungspraktiken, konflikthafte Beziehung der Eltern (mit Gewaltausbrüchen/häusliche Gewalt), eingeschränkte Fähigkeit mit Stresssituationen umzugehen, negative Erwartungen an die persönliche Entwicklung und die Entwicklung der Familie« (S. 89f.) als relevante familiale Risikofaktoren, die sich im Wesentlichen mit den aufgeführten Indikatoren in den massenmedialen Debatten um Fälle wie ›Kevin‹ decken. Dieser Kreislauf der sozialen Vererbung steht vor allem in den Deutungen der Alternativnarration in engem Zusammenhang mit der bildungsökonomischen Konnotation des Risikos, denn »das hat Folgen, die sich erst in den Bildungsberichten und dann in der Arbeitslosenstatistik nachlesen lassen« (Der Spiegel 49/2006). Obwohl weder ältere Studien noch jüngere neurobiologische Forschungsergebnisse solche Kausalzusammenhänge eindeutig bestätigen können (vgl. Tsokos & Guddat 2014, S. 29f.), werden ähnliche Annahmen auch im Rahmen anderer Ereignisse der letzten beiden Jahrzehnte, so z.B. beim ›Amoklauf von Erfurt‹ oder beim ›Amoklauf von Winnenden‹, gehäuft als Erklärungsmuster und Basis für die Legitimierung von Bewältigungsstrategien herangezogen.16 In eine ähnliche Richtung gehen auch Vermutungen über eine akut eingetretene Erkrankung der Eltern misshandelter oder vernachlässigter Kinder, z.B. über das Vorliegen einer Psychose, die u.a. durch die geburtsbedingten Hormonumstellungen (Wochenbettdepression) noch Jahre nach der Geburt ausgelöst oder durch die Geburt verschlimmert werden könne. Dabei »versetze die Anstrengung der Geburt seelisch labile Mütter in derart großen Stress, dass eine ›akute Persönlichkeitsstörung‹ den Tötungsimpuls auslösen könne« (Focus 50/2007). Kevins Mutter war z.B. eine solche »nervlich labile Mutter« (Focus 42/2006b), deren »Vater hatte sich das Leben genommen, als sie sechs war« (Die Welt 19.12.2006). Auch hier sollen wieder insbesondere in der Kindheit selbst erlebte Traumata und Verluste, die nicht bewältigt und überwunden wurden, Mütter dafür anfällig machen, den psychischen und physischen Belastungen der Geburt eines Kindes nicht angemessen begegnen zu können, und in der Folge die Entstehung von emotionalen Spannungen und Psychosen begünstigen (vgl. Cartwright 2002; Papapietro & Barbo 2005; Swientek 2004).Das Versagen familialer ›Erziehungskompetenzen‹ im Fall ›Kevin‹ kann somit auch als Resultat des mehrmals aufgeführten pränatalen Verlustes des zweiten Kindes einer labilen Mutter gedeutet werden (z.B. Der Spiegel 42/2006a; Die Zeit 25/2008).

2.3.3.

Subjektpositionierungen in vertikalen Niveaustufen und evidenzbasierten Risikopopulationen

Die Markierung von ›Risiko- oder Problemfamilien‹ erstreckt sich häufig nicht nur auf einzelne Merkmale, sondern auf das Vorliegen mehrerer Indikatoren, die dann in der 16

Bei dem ›Amoklauf von Erfurt‹ erschoss ein 19-Jähriger an seiner ehemaligen Schule 16 Personen und tötete sich anschließend selbst. In Winnenden tötete ein 17-Jähriger zunächst 15 Menschen und dann sich selbst. In beiden Fällen wird unter anderem die unterstellte Kausalbeziehung zwischen Videospielen mit gewalttätigen Inhalten als ungünstiger Einfluss und deren Wirkung in Form von ausgeübter Gewalt zu einer hegemonialen Deutung (vgl. z.B. Die Welt 26.04.2005; FAZ 16.05.2002). Das führt etablierte angstschürenden Diskurse der vorangegangenen Jahrzehnte um die negativen Auswirkungen neuer Medien auf Kinder und Jugendliche fort (vgl. z.B. Der Spiegel 51/1977; Der Spiegel 42/1999). Vgl. hierzu ausführlicher z.B. Beyer (2004) und Schattauer (2010).

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Kategorie der »Multiproblemfamilie« (z.B. Die Zeit 38/2014) kumulieren. Hierbei wird z.B. geringe Bildung mit materieller Armut in Verbindung gebracht und Eltern der ›Unterschicht‹ unterstellt, sie seien »geistig wenig rege« (FAZ 17.10.2006b).17 Subjekte in der Kategorie der ›Multiproblemfamilie‹ können dann als »Verlierer« (Der Spiegel 33/2014; Die Zeit 25/2008) »in sozialen Brennpunkten« (Die Zeit 51/2007b) und »Problemstadtteilen« (Die Zeit 43/2006a) bzw. einem »Multiproblemmilieu« (Die Welt 29.01.2013) ausgewiesen werden, die konstitutive Erwartungen und Anforderungen an familiale Erziehung »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« (taz 20.12.2007) nicht erfüllen: »Armut allein [ist] noch kein Risikofaktor. Doch in sozial schwachen Milieus treten Arbeitslosigkeit, Geldmangel und Alkohol- oder Drogenabhängigkeit oft geballt auf – zum Schaden der Kinder, die in solchen Prekariatsfamilien aufwachsen« (Die Welt 20.12.2007). »Auffallend oft finden gefährliche Zwischenfälle eben bei sehr jungen, überforderten, arbeitslosen Eltern statt« (Die Welt 20.12.2007). »Demnach zählten insbesondere junge Mütter mit ›geringer Bildung‹ und geringem ›Selbstwertgefühl‹ zum Kreis der Täterinnen« (Focus 50/2007). »Verlierer sind vor allem einkommensschwache und kinderreiche Familien, auch Alleinerziehende und Studenten« (FAZ 14.12.2007), »erstgebärende Schwangere, die sich in einer sozialen Problemlage befinden, die minderjährig sind, keine Ausbildung oder Gewalt in der Familie erlebt haben« (FAZ 04.11.2006), und »weil diese Mütter – ein paar Väter sind auch darunter – häufig gleichzeitig von Armut betroffen sind, häufen sich die Probleme: Es fehlt das Geld, der Job und teilweise die Kompetenz, mit den Kindern umzugehen« (SZ 24.03.2009). »Hier kommen sehr viele Risikofaktoren für Vernachlässigung und Misshandlung zusammen« (taz 18.12.2007). Indem das ›Risiko Familie‹ über merkmalsspezifische Indikatoren unterschiedlichster Ausprägung legitimiert wird, werden auch die Argumentationsmuster und Bezugsgrößen komplexer. Die öffentliche Beschämung und Exklusion erfolgt weniger als universelles naturalistisches Schema, sondern als partikularistische Inszenierung von Differenz. Anhand unterschiedlicher Ausprägungsmerkmale und Gefährdungsgrade werden dabei komplexere Einteilungen in bestimmte ›Risikofamilien‹ vorgenommen. Dies führt nicht nur zur Bildung bestimmter qualitativer Kategorien, sondern ermöglicht darüber hinaus auch eine Differenzierung ›(in)kompetenter Elternschaft‹ in differenzierte »Niveaustufen« (Grubenmann 2013, S. 61). So ermöglichen die generierten ›Risikoindikatoren‹ eines familialen ›Versagens‹ es nicht nur, Familien hinsichtlich ihre Unterschiede zu erfassen, sondern diese Unterschiede auch in verschiedenen Abstufungen und Merkmalskombinationen als ›gut‹ ›besser‹ oder ›schlechter‹ zu bewerten. Hinweise auf die jeweilige Einordnung der (de-)klassifizierten Subjekte geben in semantischer Form auch Orientierungs- und Sozialstrukturmetaphern sowie dichotome Metaphoriken von ›oben/unten‹ bzw. ›innen/außen‹, die auf der Basis der von ihnen repräsentierten Ordnung zumindest implizit Bewertungen dessen enthalten, was sie

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Diese Annahme entspricht im Wesentlichen der ›Wissenskluft-Perspektive‹. Die These wurde erstmals von Tichenor et al. (1970) als »Increasing Knowledge Gap« formuliert und besagt, dass Bevölkerungsgruppen mit höherem sozialem Status und/oder höherer Bildung schneller an dem wachsenden Informationsfluss der Gegenwartsgesellschaft partizipieren als andere, so dass eine zunehmende Wissenskluft zwischen status- bzw. bildungsniedrigen und -hohen Gesellschaftsgruppen entstehe (S. 159) (vgl. hierzu kritisch Kap. IV, 4.1.2).

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veranschaulichen (vgl. Witte 2016, S. 31). Familien wie die von ›Kevin‹ werden so eingeführt als »Bildungsschwache und etliche andere Schwache, die man Randgruppen der Gesellschaft nennt und die deshalb auch oft an den Rändern der Städte leben, am Rande der Aufmerksamkeit« (taz 23.01.2008). Für ›Kevin‹ und andere Kinder, die misshandelt und vernachlässigt wurden, »war dieser Rand ein Abgrund« (SZ 13.08.2009). Die räumlich vollzogene Ordnung richtet den Blick somit an den »Rand der Gesellschaft« (SZ 13.08.2009), wie im Fall ›Kevin‹, dessen Wohnort »in Bremen ganz unten ist« (SZ 12.10.2006a). »Vom ersten Atemzug an lebt das Kind am Rand der Gesellschaft […,] ganz im Westen […] am Ende einer Sackgasse« (SZ 13.10.2006b). Die Bilder entwerfen aus einer »ordnungs- und konsenstheoretischen Perspektive« somit eine vertikale Spaltung der Familien anhand einer räumlichen horizontale Spaltung zwischen einer »integrierten Mehrheit (Zentrum) und einer ausgeschlossenen Minderheit (Randzone) […] das ›Innen‹ [wird] dabei als weitgehend geordnet, funktional, homogen und auf Konsens basierend, kurzum als integriert und unproblematisch konzipiert, während die im ›Außen‹ angesiedelten (Problem-)Gruppen und Individuen außerhalb der Gesellschaft verortet werden und zugleich als Ort und Quelle der Unordnung, der Störung, der Desintegration, der Dysfunktion, der Pathologie – letztlich also als Bedrohung des ›geordneten Innen‹ wahrgenommen werden« (Anhorn 2014, S. 26). Hinweise auf einen »Wendekreis der Sackgasse« (SZ 13.10.2006b) lassen sich als Möglichkeit und impliziten Appell interpretieren, Familien zu unterstützen und sie aus dem Abseits der gesellschaftlichen Teilhabe zu befreien, damit sie nicht »in ihrem eigenen Sumpf untergehen und ihre Kinder mit hinabzuziehen drohen« (SZ 16.10.2006). »Das Fenster ist offen« (SZ 13.10.2006b). Nach Heitmeyer (2001) dienen solche hierarchischen Symboliken und Zuschreibungen jedoch meist nicht vorrangig der Definition oder Problembehebung, sondern werden häufig explizit dazu verwendet, die Erzeugung von Ungleichheiten zu legitimieren. Ebenso wie die Symboliken des generalisierten Sündenbocks (vgl. Kap. IV, 2.1.1) und des weiblichen Mängelwesens (vgl. Kap. IV, 2.2.4) verschleiern sie soziale Ungleichheiten und Ausgrenzungsmechanismen und festigen sie gleichsam. Die Orientierungsmetaphorik wird hierbei insbesondere in der Gegennarration oft von Bildern einer schweren Last begleitet. Jenen Familien »fällt Erziehung schwerer. Nur wer wenig hat, muss automatisch öfter nein sagen« (Focus 09/2009). Das sei »schwer erträglich« (taz 20.12.2007) und nur durch das ›Glück‹ der Mutterschaft wieder positiv aufzuwiegen: »Es sind transzendentale Erlebnisse, die das Negative mehr als aufwiegen […]. Wenn ein Architekt einen bröckelnden Bogen stärken will, erhöht er die Last, die auf ihm ruht, und gibt ihm dadurch mehr Halt. Kinder haben eine ähnliche Wirkung. Die zusätzliche Last stärkt uns und gibt unserem Leben langfristig ein festeres Fundament« (Focus 36/2014), bevor »Familienstrukturen zusammenbrechen« (Focus 21/2012). Diese ›Metaphern der Last‹ zeichnen sich somit ebenfalls durch räumliche Oben-untenDichotomien als Sinnbild des gesellschaftlichen und moralischen Standortes aus (vgl. Lakoff & Johnson 1997, S. 14). Sie untermauern tradierte soziale Ungleichheiten, die »durch die sozial abgeleiteten und anerkannten Auslegungs- und Typisierungsschemata« (Schütz 2011 [1957], S. 229) gestützt werden. Selbst in der Inszenierung von Mitleid

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und Mitgefühl gegenüber gescheiterten Familien in Narrationen der ›tragischen Familie‹ (vgl. Kap. III, 2.2.1) wird bereits ein hierarchisches Verhältnis transportiert. Denn in der Argumentation Kleres (2015) ist es gerade das Mitleid, »welche[s] die Wertigkeit und Überlegenheit des oder der Bemitleidenden bestätigt und festigt und damit Herrschaft über Menschen in Not behauptet« (S. 272). Menschen werden dabei »nicht mehr wie in der Moderne ausgebeutet, sondern ausgedeutet« (Kucklick 2014, S. 11, Herv. i. O.). Heterogenität innerhalb der Kategorien wird insgesamt weitestgehend nivelliert und andere Merkmale und Eigenschaften der entsprechenden Personen geraten in den Hintergrund, so dass auch hier von einem ›Halo-Effekt‹ ausgegangen werden kann (vgl. Kap. IV, 2.1.1), durch den die klassifizierenden Wissensordnungen als etwas Unhinterfragtes erscheinen und sich dementsprechend weitestgehend resistent gegen Kritik und Falsifikation erweisen (vgl. Hünersdorf & Toppe 2011). Dadurch gerät in den Hintergrund, dass Typisierungsschemata und Risikoindikatoren erstmal nichts über deren Angemessenheit und Realitätsgehalt aussagen und selbst empirisch evidente Faktoren nicht per se zu einem Eintritt des Risikos führen müssen. Mit der Einführung des ›Risikos‹ in den massenmedialen Diskurs um Kindesmisshandlung und -vernachlässigung erfährt vor allem der strukturelle Lebensraum eine deutlich Bedeutungsaufwertung. In diesem Zuge werden die Kategorie der ›Risiko- oder Problemfamilie‹ ebenso wie die Kategorien des ›Monsters‹ und des ›Kriminellen‹ unabhängig von einem tatsächlich eintretenden abweichenden Verhalten erschaffen und greifen vor dem Eintritt eines möglichen devianten Verhaltens (vgl. Foucault 1993a [1975], S. 324). Es geht somit streng genommen nicht um »Verdachtsklärung« (Pütter et al. 2005, S. 8), sondern um »Verdachtsschöpfung« (ebd.), die jedoch in Abgrenzung zur Gefahr durch das Monströse oder zu ›natürlichen‹ Differenzierungslinien vorrangig auf statistischen Wahrscheinlichkeiten beruht. Diese ›statistische Verdachtsschöpfung‹ birgt zum einen die Gefahr, dass normative Zuschreibungen auch dann in bekannten Kategorien verbleiben, wenn ein Zusammenhang mit einem Eintritt familialen ›Versagens‹ nicht bestätigt werden kann, und zum anderen enthält sie das Potenzial, einer »weitreichenden Problematisierung Vorschub [zu] leisten« (Paul 2011, S. 143). Vor allem der Umstand, dass die Variable ›Wahrscheinlichkeit‹ im Hinblick auf menschliches Verhalten schwer zu messen ist und nicht wie bei Naturkatastrophen und technischen Unfällen gänzlich in statistische Muster zu passen scheint, führt dazu, dass Prognosen zwar als Indiz bei der Risikokalkulation dienen können, es in der Erziehung aber ebenso wie im (Bühnen-)Spiel innerhalb des ›Skriptes‹ zu Abweichungen, Unberechenbarkeiten und Ungeplantem kommen kann (vgl. Crozier & Friedberg 1977, S. 113): »Regeln rechnen mit dem Üblichen, dem Durchschnittlichen. Die dunkelsten Seiten, die Abgründe erreichen sie nicht« (Die Zeit 51/2007a) und können so auch »die Anarchie persönlicher Dramen« (ebd.) nicht erfassen. In den Narrationen von Erziehung als ›Risiko‹ bleibt jedoch häufig unberücksichtigt, »dass Erziehung keine technologische Handlung ist, die quasi gesetzesmäßig in immer gleicher Form vollzogen werden kann« (Iller 2012, S. 78). Diese Unberechenbarkeiten werden in der massenmedialen Debatte um Fälle wie ›Kevin‹ jedoch zumeist ebenso wenig thematisiert wie die Möglichkeit, bei der statistischen Ermittlung von ›Risiko- und Problemgruppen‹ einem Artefakt aufzusitzen oder Korrelation mit Kausalität zu verwechseln.

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Die Inszenierung drogenkonsumierender Eltern als ›Hauptrisikogruppe‹ entspricht so z.B. dem »logisch scheinenden Befund, dass Drogensucht der Eltern ein erhöhtes Misshandlungsrisiko für Kinder sei« (taz 28.10.2006b). Immerhin scheint auch der fachwissenschaftliche Diskurs diese Annahme in weiten Teilen zu bestätigen: So sehen Tröbs et al. (2010) im Drogen- und Alkoholkonsum in der Familie eine »spezielle Prädisposition bzw. [einen] Risikofaktor« (S. 78) für Kindesmisshandlungen. Landgraf et al. (2010) ziehen aus einer Studie mit 59 Kindern und Jugendlichen, die mit der gesicherten Diagnose Kindesmisshandlung im Kinderzentrum der Universität Leipzig stationär betreut wurden, das Fazit, dass der Drogenkonsum der Eltern für eine Kindesmisshandlung zwar einen sozialen Risikofaktor darstelle, können jedoch nur in etwa jedem sechsten Fall Alkohol- oder andere Drogenprobleme in der Familie bestätigen (vgl. S. 153). Auf einen solchen relativierenden Befund verweist in den vorliegenden Materialien der massenmedialen Verhandlungen um Fälle wie ›Kevin‹ lediglich ein Artikel, in dem die Rechtsmedizinerin Ulrike Böhm zitiert wird: »Tatsächlich scheint Suchtverhalten keine so zentrale Rolle zu spielen, wie man nach dem Tode des kleinen Kevin in Hamburg (dessen Leichnam sein drogenabhängiger Vater im Kühlschrank verbarg) oder weiterer Fälle annehmen könnte« (FAZ 18.10.2006). Die Ergebnisse einer Analyse von Fegert et al. (2010) zu Kinderschutzverläufen, die im Zeitraum 2007 bis 2008 im Magazin Der Spiegel thematisiert wurden, deuten ebenfalls nicht darauf hin, dass Suchtmittelmissbrauch der Eltern häufig mit Fällen von Kindesmisshandlung korreliert. Nur in wenigen Fällen wurde angegeben, dass es Hinweise auf Drogenkonsum in den jeweiligen Familien gab (vgl. S. 83). Dennoch werden Sucht und Abhängigkeit diskursiv weitestgehend mit ›Erziehungsinkompetenz‹ gleichgesetzt und der Drogenmissbrauch von Eltern wird in weiten Teilen des vorliegenden Korpus zu einem zentralen Hauptrisikofaktor für Kindesmisshandlung und -vernachlässigung generalisiert und dementsprechend z.B. die Frage aufgeworfen, »ob man ein Frühgeborenes, das eine komplizierte intensivmedizinische Versorgung und einen Drogenentzug hinter sich hat, in die Hände seiner drogensüchtigen Eltern zurückgeben darf« (Die Welt 06.06.2008c). Schließlich könne man ein Kind »nicht ungestraft vor einen fahrenden Zug werfen oder nach wiederholter Misshandlung seinen schwer drogenabhängigen Eltern überlassen. Beides ist […] äquivalent, und beides ist grob fahrlässig« (taz 14.10.2006d). Eine Differenzierung der Ausprägungsgrade von Suchtmittelmissbrauch erfolgt hierbei oftmals nicht. Zu abweichenden ›Risikoeltern‹ zählen dann mitunter auch bereits jene Mütter, die »wegen Rauchens auffallen« (FAZ 26.05.2007): »Wenn ihre Kinder im Kindergarten oder in der Schule waren, saß Patricia P. gern im Garten und rauchte. Das unterschied sie von anderen Müttern im Dorf« (Der Spiegel 29/2010). Ähnliche Tendenzen zeigen sich auch bei weiteren isolierten Merkmalen, die als zentrale ›Risikoindikatoren‹ eingeführt werden, bei den sich in empirischen Studien jedoch keine oder nur geringe kausale Auswirkungen auf die ›Erziehungskompetenz‹ der Eltern und die Entwicklung des Kindes nachweisen lassen. So sei z.B. der Status ›alleinerziehend‹ nicht allein wirksam, sondern er werde in »spezifischen Kontexten gleichzeitig mit und durch andere Differenzen konstruiert, artikuliert und sozial realisiert« (Strasser 1997, S. 10). Damit erscheint aber der mehrfach nahegelegte Kausalzusammenhang zwischen der Familienform ›alleinerziehend‹ und dem ›Versagen‹ familialer Erziehungskompetenzen‹ fraglich. Allerdings zeige sich gerade in dieser Personengruppe ein deutlich erhöhtes Armutsrisiko (vgl. Hoheisel 2014), dem als kumu-

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

lative Problemlage mit der Konstruktion der ›Multiproblemfamilie‹ begegnet wird. Die Klassifikation der Familienformen scheint auch hier auf dem statistischen Artefakt zu beruhen, dass alle Personen mit dem Status ›alleinerziehend‹ die Kinder auch tatsächlich alleine erziehen und sich ›vollständige‹ Familien diese Aufgaben tatsächlich teilen – die Vielfalt an Lebensformen, wie z.B. Patchworkfamilien oder nicht verheiratete Paare, die sich hinter der statistischen Kategorie ›Alleinerziehend‹ verbergen können, finden so bei der Einstufung dieser Familienform als ›Risikogruppe‹ keine Berücksichtigung (vgl. auch Kap. IV, 2.2.1). Unberücksichtigt bleiben in den kategorisierenden Ordnungen außerdem viele Kriterien abseits sozioökonomischer und demographischer Kategorien, wie z.B. die empirisch nachweislich hohe Bedeutung eines sozialen Netzwerkes (Buhr & Huinink 2011, S. 224). Auch was das Merkmal ›Arbeitslosigkeit‹ als Risikomarker familialer ›Erziehungsinkompetenz‹ angeht, erfolgt oftmals eine reduzierte Darstellung vermeintlich riskanter Zusammenhänge, bei der häufig übersehen zu werden scheint, dass Erwerbstätigkeit keine Garantie für ein hinreichendes Einkommen darstellt und daher das ›Risiko‹ einer relativen Armut keinesfalls aufhebt (vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2005, S. 71). Hinzu kommt, dass bei dem implizit unterstellten Zusammenhang elterlicher Erwerbstätigkeit und familialer ›Erziehungskompetenz‹ die konkreten Arbeitsbedingungen der Eltern zumeist nicht berücksichtigt werden, die sich jedoch vor allem über die verbleibenden zeitlichen und körperlichen Ressourcen ebenfalls auf die Gestaltung von Erziehungsprozessen auswirken dürften. Zum Geschlecht als ›Risikoindikator‹ liegen seitens des sozialwissenschaftlichen ›Expertendiskurses‹ ebenfalls durchaus divergente Ergebnisse vor: Laut Kriminalstatistik werden Frauen im Allgemeinen seltener kriminell als Männer. Im Jahr 2005 war nur etwa ein Viertel (24 %) der Tatverdächtigen weiblich, bei schweren Gewalttaten wie Mord, Totschlag, Raub oder schwerer Körperverletzung waren es sogar nur 13 Prozent. Setzt man diese Zahlen in Relation zum Tatort, ergibt sich jedoch ein anderes Bild: So werden seit Aufzeichnungsbeginn insgesamt zwar deutlich weniger kriminelle Handlungen von Frauen erfasst als von Männern, dies gilt jedoch lediglich für den außerfamilialen Bereich. Im Fall der aufgeklärten Kindstötungen durch die Eltern waren laut der Aufzeichnungen der 1980er und 1990er Jahren doppelt so häufig Mütter die Täterinnen wie Väter (vgl. Bundeskriminalamt 2006). Für die folgenden Jahrzehnte weist das Bundeskriminalamt (2018) vergleichbare Zahlen aus. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Hömberg (2011) im Hinblick auf alle Todesfälle Minderjähriger durch Elternverantwortung, die am Institut für Rechtsmedizin in Bonn im Zeitraum 1994 bis 2007 untersucht wurden: »Mütter waren häufiger Täterinnen (n = 9) als Väter (n = 6)« (S. 57). Anders soll es sich jedoch beim Tatbestand der Misshandlung von Kindern verhalten; hier weist die Kriminalstatistik überwiegend männliche Tatverdächtige aus (vgl. Bundeskriminalamt 2018). Auch Böhm diagnostiziert zumindest für den Zeitraum 1990 bis 1999 mehr männliche Täter, die Kinder misshandeln, als Frauen – mit und ohne Todesfolge (vgl. FAZ 18.10.2006). Die Annahme, dass von Müttern ein höheres Risiko des Erziehungsversagens und einer daraus folgenden Kindesmisshandlung und -vernachlässigung ausgehe, erweist sich mit Blick auf diese Studien somit als weniger naheliegend, als es der Risikozusammenhang unterstellt. Obwohl gerade die Befreiung des Menschen aus einer natürlich-mythischen Gefahr zum eigentlichen Ziel eines pro-

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gressiven Risikomanagements erklärt wird, läuft die Inszenierung von Geschlecht als Risikokategorie somit Gefahr, selbst rationalistische Konzeptionen in eine Mythologie umzukehren, in der nicht erwiesene Zusammenhänge mit einem faktischem Wahrheitsanspruch als zweite Natur präsentiert werden (vgl. Kap. IV, 2.2.4). Die insgesamt widersprüchlichen Ergebnisse der Kontextmaterialien des ›Expertendiskurses‹ hinsichtlich verschiedener statistischer Zusammenhänge zwischen diskursiv ausgewiesenen ›Risikoindikatoren‹ und den realen Tatbeständen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung bzw. eingeschätzten mangelnden ›Erziehungskompetenzen‹ scheinen so nicht nur aus unterschiedlichen Untersuchungsgruppen und -zeiträumen zu resultieren, sondern auch auf divergierenden Auffassungen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zu beruhen, die jedoch massenmedial kaum dargelegt werden und die Gesamtzusammenhänge somit immens verkürzen. Auffällig ist im Rahmen der klassifizierenden Konstitution der ›Risiko- und Problemfamilie‹ zudem, dass Familien mit Migrationshintergrund eine weitgehende diskursive Leerstelle bilden, während sie in vielen benachbarten Diskursfeldern und -strängen als anerkannte ›ethnisch-kulturelle Risikogruppe‹ vermeintlich defizitären Verhaltens häufig den Gegenstand einseitiger Problematisierungen und negativer Kontextualisierungen bilden (vgl. Klinger 2015; Peeck 2014). Vor allem im themennahen frühkindlichen Bildungsdiskurs spielt die kulturelle und ethnische Herkunft im Rahmen der Konstitution von ›Problem- und Risikofamilien‹ auch massenmedial eine große Rolle (vgl. z.B. Dirim & Mecheril 2009; Hamburger 2005, S. 7). Oftmals wird das populäre Stereotyp des repressiven arabischen Mannes bemüht (vgl. Kunz 2011). Im vorliegenden Material werden solche Assoziationen hingegen bereits im Jahr 2006 explizit entkräftet: »Auch was Migrantenfamilien betrifft, sprechen die Zahlen der Berliner Polizei eine andere Sprache als die der Forscher. Die meinen, dass dort die Eltern öfter zuschlagen, die Beamten stellen bisher ›keine diesbezüglichen Auffälligkeiten‹« (taz 28.10.2006b) fest. In den Fällen ›Mehmet‹ ›Anakin‹ und ›Yagmur‹ deutet der Name der Jungen zwar auf einen nicht deutschen Hintergrund der Familien hin, explizit benannt oder gar problematisiert wird dies jedoch nicht. Stattdessen wird auch hier auf andere ›Risikofaktoren‹ wie z.B. den geringen sozialen Status der Familie verwiesen (z.B. »Der arbeitslose Dreher«, taz 22.02.2007; »der arbeitslose Mann«, FAZ 17.10.2006d). Die Ursache für diese Leerstelle bleibt offen, es lässt sich jedoch vermuten, dass ethnisch-kulturelle Merkmale zumindest aus einer Risikoperspektive heraus keine hohe Attraktivität besitzen, da sie einer ›souveränen Marktteilnahme‹ der Familien nicht per se entgegenstehen. Honig (1992) resümiert bereits für die 1980er Jahre, dass die Bemühungen, einen »abgrenzbaren Typus von Familienproblemen« oder einen »Typus der Gewaltfamilie« zu eruieren, insgesamt als nicht erfolgreich erachtet werden können: Die »Versuche, Gruppen von Risikofaktoren zu bestimmen, Risikopopulationen zusammenzustellen und Ursachen familialer Gewalt trennscharf zu bestimmen, müssen als gescheitert angesehen werden« (S. 13). Obwohl also ein Zusammenhang der genannten Indikatoren mit Kindesmisshandlung und -vernachlässigung empirisch zum Teil nicht bestätigt werden kann, erhält Wissen, das diese Beziehungen als entsprechend ungültig nachweist, im vorliegenden Material keine Deutungsmacht. Vielmehr scheint insgesamt eher nahegelegt zu werden, dass solche Risikofaktoren zwingend zu negativen Resultaten führen müssen (vgl. Hermanns & Hille 1987, S. 124; Hongler & Keller 2015): »Kinder-

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armut ist ein solcher Faktor […]. Es ist doch klar, dass die Verzweiflung bei armen Eltern zunimmt, und damit steigt leider auch das Risiko von Misshandlung und Vernachlässigung« (taz 18.12.2007). Solche unterkomplexen Kausalannahmen bleiben diskursiv erhalten, und Merkmale wie Geschlecht, Familienstand, Einkommen und Drogenkonsum transportieren auf subtile Art und Weise vermeintlich evidente Wissensbestände, die nicht nur Normalitätsvorstellungen und erstrebenswerte Praktiken zugrunde legen (vgl. Hartmann 2009; Betz & Bischoff 2017), sondern aus horizontalen, wertfreien Unterschieden vertikale, bewertete Differenzen erschaffen (vgl. Hartmann 2009; Keller 2008a, S. 15; Ott 2011, S. 50). Insbesondere die Deklaration der Mutter als ›evidenzbasierte Risikogruppe‹ vermag das ›natürliche‹ Erklärungsmuster des biologischen und kulturalistischen ›weiblichen Mängelwesens‹ komplementär zu verstärken. Die Einteilung von Familien als Zugehörige einer bestimmten (Risiko-)Gruppe führt somit zu einer Differenzsetzung, die »erst einen Unterschied schafft, der einen Unterschied macht« (Hirschauer 2014, S. 170). Indem Wertigkeiten an bestimmte Strukturmerkmale geknüpft werden, erfolgt letztlich keine Bewertung der ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ von Familien, sondern eine Bewertung der Familien selbst, so dass jedes Handeln zum Ausdruck ihres Erziehungsvermögens und dieses zum Ausdruck ihrer selbst wird: »Zur Diskussion steht nicht der Wert von Handlungen, sondern der Wert von Menschen. Wer hat heute einen Platz in der Gesellschaft und wer hat keinen, wessen Person ist gefragt und wer ist überflüssig« (Distelhorst 2014, S. 72). Daraus kann ein Alltagsbewusstsein entstehen, das zunehmend in einen inneren Widerspruch zu solidarischen Orientierungen und Logiken gerät und Eltern in prekären Lagen mitunter in die Nähe der Sozialfigur des »Dilettanten« (Weber 1976 [1922]; Reichenbach 2001) rückt, der sich zwar an bestehenden Ordnungen orientieren, jedoch nicht an ihnen partizipieren kann. Ähnlich wie Webers Dilettantismus des Herrschers, dessen Qualitäten, Wissensbestände und Fähigkeiten zugunsten der »Expropriation durch das fachgeschulte Beamtentum« (Weber 1976 [1922]), § 15) an Bedeutung verlieren bzw. ihm abgesprochen werden, finden sich hier Tendenzen einer parallelen Entwicklung in der Differenzierung der ›risikobehafteten Problemfamilie‹ und der ›optimierbaren Normalfamilie‹. Dies kann reale Konsequenzen haben, die bis hin zu einem Funktionsverlust oder Ausschluss bestimmter familialer Kollektive führen und somit auch aktiv soziale Probleme produzieren und verstärken können, denn den »Opfern und Verlierern der Gesellschaft wird nicht Mitleid oder Solidarität entgegengebracht, sondern Verachtung und Schmähung« (Rheingold-Institut 2010, S. 6). Die öffentliche Anrufung von Risikofamilien als gesellschaftliche ›Randgruppen‹ kann somit nicht zuletzt über diese Bewertung das gefährden, was sie zu schützen und zu fördern vorgibt: das ›Kindeswohl‹ (vgl. Klundt 2017, S. 32ff.).

3.

Das Diskursensemble der medienöffentlichen Sprecherpositionen

Bislang wurden die Deutungen und ihre sozialen Wirksamkeiten weitestgehend unabhängig von den beteiligten Akteuren verhandelt, um sie offen für verschiedene Auslegungen, Kontexte und (Neben-)Folgen zu halten. In den vorangegangen Ausführun-

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gen konnte so bereits deutlich gemacht werden, wie bestimmte Narrative und Objektivationen im Diskursverlauf als Mittel zur Differenzkonstruktion und zur Etablierung einer Überlegenheitsstruktur bestimmter Familienkonstellationen und Eigenschaften von Eltern gegenüber anderen beitragen können, die eine Trennung von ›normal‹ und ›anormal‹ bzw. ›kompetent‹ und ›inkompetent‹ ermöglichen. Um die eruierten Narrationslinien und die darin enthaltenen Operatoren auch in ihrer Funktion als Disziplinartechnik differenzierter berücksichtigen zu können, werden im Folgenden die zentralen Sprecherpositionen des Diskurses in ihren Machtpositionen, -beziehungen und Pfadabhängigkeiten durchleuchtet. In den massenmedialen Debatten um familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ in Fällen wie ›Kevin‹ zeigt sich dabei ein komplexes Zusammenspiel aus Medienvertretern (vgl. Kap. IV. 3.1.2), Vertretern verschiedener Politikfelder unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung (vgl. Kap. IV, 3.2) sowie ›Expertenkulturen‹ aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und mit deutlich geringerem Anteil aus Praxisfeldern der Erziehung und des Kinderschutzes (vgl. Kap. IV, 3.3). Familien treten als direkt oder indirekt betroffene Akteure des Problemdiskurses hingegen fast gar nicht als Sprecher in Erscheinung. Trotz entscheidender Diskurspositionen erhalten sie somit – ähnlich wie die Praxis sozialer Arbeit – wenig Sprecherpositionen bei der diskursiven Konstruktion familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ (vgl. Kap. IV, 3.4).

3.1.

3.1.1.

Relativierung und Stärkung von Macht in diskursiven Akteurskonstellationen Der Zusammenschluss legitimer Sprecherpositionen zu ›Denkkollektiven‹ der öffentlichen Meinung

Mit Blick auf die Dynamiken und Verläufe von Diskurskarrieren scheint sich bereits anzudeuten, dass bestimmte Akteure ihre Deutungen besser öffentlich durchsetzen können, also über größeren Einfluss und Rückhalt verfügen und so auch mehr Unterstützer für die Verbreitung ihrer Positionen aktivieren können als andere (vgl. Keller 2008b; Schetsche 2000, S. 85). Elias und Scotson (1993) konnten z.B. im Rahmen ihrer Untersuchung von ›Etablierten‹ und ›Außenseitern‹ nachweisen, dass die Meinungen der etablierten Einwohner, die über einen besseren Zugang zu öffentlichen Institutionen verfügten, eher die Chance hatten, sich zu kollektiven Standpunkten zu entwickeln. Sie »monopolisierten sämtliche Posten, mit denen soziale Macht verbunden war« (S. 84). Es ist davon auszugehen, dass die Anerkennung und Durchsetzung bestimmter Sprecherpositionen und ihrer Deutungen somit – zumindest in Teilen – immer auch von institutionalisierten Regelsystemen und entsprechenden institutionellen Zugehörigkeiten abhängen (vgl. Betz & Bischoff 2017). Der Einfluss bestimmter Akteure sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies nicht gleichbedeutend mit Deutungshoheit ist. Eine solche hängt nicht ausschließlich von den Sprechern und ihren Ressourcen ab, sondern wird letztlich auch von den Rezipienten sowie sozialen und gesellschaftlichen Kontexten gesteuert, die ihre Durchsetzung begünstigen oder hemmen (vgl. Aulenbacher 2003, S. 113). Foucault bezeichnet diese vielfältigen Kontextabhängigkeiten von Äußerungen als »Ritual der Umstände« (Foucault 1991 [1971], S. 11), das den Bereich dessen, was zu bestimmten Ereignissen und Begebenheiten gesagt wer-

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

den kann, weiter einschränkt. Dieses Ritual definiert dann z.B. auch die Qualifikation, welche die Sprecher besitzen müssen, um dem »Diskursensemble« (ebd., S. 28f.) zugehörig zu sein. Darüber hinaus entscheidet es darüber, was gesagt werden kann, mit welchen disziplinären Wissensbeständen es verknüpft werden kann, wie es gesagt wird, in welchem Rahmen es gesagt wird, wer es sagt und wer dabei adressiert wird (ebd., S. 27). Generell kann jedoch angenommen werden, dass »kein individueller Akteur, wie handlungsmächtig und mit welchen sozialen oder ökonomischen Ressourcen er auch ausgestattet sein mag, ein soziales Problem allein zur Anerkennung führen kann« (Schetsche 2000, S. 85). Letztlich speist sich so auch die diskursive Konstruktion familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ weniger aus einzelnen Sprecherpositionen und Strukturen, sondern aus dem Zusammenspiel verschiedener legitimer Gruppen unterschiedlicher Professionen sowie der Maßnahmen und Praktiken, die in immer wieder unterschiedlichen Verbindungen und Koalitionen ›Aktor-Netzwerke‹ eingehen. Je stabiler und handlungsmächtiger sich die Kooperationen erweisen, desto größer ist die Chance auf Anerkennung (vgl. Reichertz 2013b; Schetsche 2013). In eine ähnliche Richtung zielt auch Elias’ Figurationsbegriff (1986), den er entwickelte, um das Verhältnis von Akteuren und gesellschaftlichen Begebenheiten in einer sich stets im Wandel und im Prozess befindenden Verflechtung zu beschreiben (vgl. Kap. II, 3.3.1). Vor dem Hintergrund dieser Annahmen wendet sich die folgende Analyse der Sprecherpositionen weniger den Motiven und Wissensbeständen einzelner Sprecher, sondern deutlich fokussierter den daraus hervorgehenden Kollektiven und Akteurskoalitionen zu, die an diesen Prozessen beteiligt sind. Mit den Worten Flecks (1980) können sie als »Denkkollektive« gefasst werden, d.h. als »Gemeinschaft[en] der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen« und dadurch über eine »gerichtete Wahrnehmung« verfügen (S. 54f.). Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich nicht auch innerhalb eines Kollektivs gegensätzliche oder widersprüchliche Aussagen finden lassen (vgl. Messingerm & Wypchol 2013, S. 233). Es ist vielmehr sogar davon auszugehen, dass kollektive Positionen immer auch gewisse Elemente aus unterschiedlichen Deutungen und Perspektiven enthalten, die individuellen Modifikationen unterliegen, im Großen und Ganzen jedoch »im Einklang mit den Vorstellungen einer Bezugsgruppe [stehen], die über die Angemessenheit der Handlung wacht und die die Macht hat, diesen Vorstellungen Geltung zu verschaffen« (Peters 2002, S. 115). Dieses ›Wächteramt‹ der Bezugsgruppe ist dabei nicht als stabiler Zwang zu verstehen, sondern vielmehr als Produzent und Regulator öffentlicher Meinung zu erachten (vgl. Karis 2012). Unter öffentlicher Meinung lassen sich in Übereinstimmung mit Noelle-Neumann (1989) alle Deutungen und Praktiken verstehen, »die man öffentlich äußern oder einnehmen muss, wenn man sich nicht isolieren will. Isolationsfurcht eines einzelnen, sein Bedürfnis akzeptiert zu werden einerseits, und die von Öffentlichkeit als Urteilsinstanz gestellte Forderung zur Konformität mit etablierten, allgemein gebilligten Meinungen und Verhaltensweisen anderseits konservieren eine bestehende Ordnung« (S. 92). Eine allzu deutliche Abwendung von den kollektiv gültigen Wissensbeständen und Praktiken kann daher erhebliche Folgen für den einzelnen ›Abweichler‹ haben und zu Ausschlüssen oder Reputationsverlusten führen. Diese Gefahr spiegelt sich auch in dem journalistischen Kommentar zu einer Äußerung der Rechtsmedizinerin Elisabeth Trude Becker wider, einer »Frau, die sich ihre Aussagen sehr genau überlegt.

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Natürlich ist ein Satz wie ›Der Mensch bleibt sich gleich‹ in ihrem Fachgebiet ein Wagnis. Würde er sich als falsch erweisen, ihre in Jahrzehnten erworbene Reputation wäre gefährdet« (taz 22.02.2007).

3.1.2.

Die Medien als Inszenierungsmaschinen im ›emotionalen Kollektiv‹ der massenmedialen Öffentlichkeit

Innerhalb des Diskursensembles aus Journalisten, Politikern und ›Experten‹ zeigen sich im vorliegenden Material nicht nur verschiedene Koalitionen, sondern auch unterschiedliche Anordnungen der diskursiven Interaktanten. Mit Goffman (1977) lässt sich hierbei die Figur des Sprechers bzw. ›authors‹ im Hinblick auf die Beziehung des Sprechers zu seiner Aussage differenzieren: Während dem ›principal‹ als Urheber einer Aussage die volle Verantwortung für deren Inhalt zukommt, setzt der ›animator‹ die Aussagen eines Urhebers lediglich als Vermittler ein (S. 519). Die meisten Artikel des Korpus sind von Pressesprechern, Redakteuren und Journalisten der jeweiligen Zeitschriften und Magazine verfasst, wodurch die Figur des Medienvertreters als ›animator‹ sehr häufig vorzufinden ist, nämlich immer dann, wenn Aussagen von Politikern oder ›Experten‹ nicht als direktes Zitat Eingang in den Diskurs finden, sondern lediglich indirekt vermittelt werden. Zu den Urhebern gesellt sich somit noch die Position des Vermittlers, wodurch Sprecher und Adressaten ihren interaktiven Zusammenhang verlieren. Die Möglichkeit daraus hervorgehender bewusst eingesetzter oder impliziter Verzerrungen müssen bei der Interpretation ebenso berücksichtigt werden wie die Kontextualität von Aussagen, die vor allem bei der Verwendung einzelner Äußerungen und Zitate häufig nicht zum Vorschein kommt und daher ebenso verzerrend wirken kann. Aber nicht nur die Sprecher(positionen) selbst, sondern auch die politischen, massenmedialen sowie evidenz- und erfahrungsbasierten Wissensbestände sind in den Verhandlungen familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ in Fällen wie ›Kevin‹ eng miteinander verknüpft, d.h., die Disziplinen sind nicht frei von Einflüssen anderer Bereiche und umgekehrt. Sie können z.B. Positionen anderer Disziplinen auch gezielt instrumentalisieren und Akteurskonstellationen in ihrer Reputation dadurch medial auf- oder abwerten. Während sich die jeweiligen Zielvorstellungen der interagierenden Akteursgruppen bereits den Bewältigungs- und Lösungsvorschlägen der Narrationslinien entnehmen lassen, können die tatsächlich zugrundeliegenden Interessen und Strategien nur indirekt rekonstruiert werden, zumal Akteure und Rezipienten in den Massenmedien intransparenter füreinander werden (vgl. Schetsche 2000, S. 103; Sutter 2010, S. 110). Ebenso wie Vertreter politischer Parteien oder wissenschaftliche Sprecher können auch Akteure aus der Gruppe der Medienvertreter als ›kooperierende Akteure‹ bezeichnet werden, die gemeinsam wie eine einzige Person handeln. In Anlehnung an die Sozialtheorie Tardes sowie die darauf basierende wissenssoziologische Akteur-NetzwerkTheorie sind sie hierbei zu verstehen als »Akteure oder genauer Beteiligte am Handlungsverlauf, die darauf warten, eine Figuration zu erhalten« (Latour 2007, S. 123f.). Dies führt zu einer »Verdinglichung von kommunikativem Handeln, die selbst wiederum einen Einfluss im menschlichen Handeln entfaltet« (Hepp 2013, S. 105). Die Medien sind dadurch sowohl als »Inszenierungsmaschinen« (Krotz 2003, S. 23) zu erachten,

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

die Deutungen bereitstellen, als auch als Vermittler zu sehen, die einem großen Publikum Flächen der Nutzung und Aneignung anbieten (vgl. Loos & Schäffer 2014; Thomas & Krotz 2008). Dabei entscheiden sie jedoch über die Durchsetzung legitimer Deutungen, indem sie als »vierte Gewalt« (Voltmer 2008) oder ›kollektives Gatekeeping‹ (Keyling 2017) fungieren. In diesen Prozessen zeigt sich allerdings keine Allmacht der Medien, denn auch sie sind angewiesen auf die Orientierung an bzw. die Befolgung spezifischer inhalts- und darstellungsbezogener Regeln zur Komplexitätsreduktion, verbunden mit »moralischer Urteilskraft sowie konkreten Ratschlägen und Problemlösungen« (Schmied-Knittel 2008, S. 136). Karmasin (2005) konnte hierzu im Rahmen einer von ihm durchgeführten Studie nachweisen, dass vor allem bei Journalisten ethische und moralische Grundsätze zeitweise auch mit ökonomischen und strukturellen Zwängen in Konflikt geraten (S. 151ff.). Sowohl die Autonomie als auch die Wirkmacht der Medien sollte daher generell nicht überschätzt werden: »Massenmedien sind in einer derartigen Vorstellung nicht deswegen mächtig, weil sie im Sinne von Repressionsthesen bestimmte Vorstellungen durchsetzen oder Einstellungen hervorrufen, nicht, weil sie in bestimmter Weise durch ihre technische Beschaffenheit die Wahrnehmung determinieren, sondern weil sie Gegenstände herstellen, von denen man sprechen kann, in einem unauflösbaren Verhältnis: Auf der einen Seite produzieren Massenmedien Sagbarkeiten und mithin Diskurse, auf der anderen Seite werden die Räume des (massenmedial) Sagbaren durch den Diskurs systematisch begrenzt« (Karis 2012, S. 69f.). Als prägende Kräfte und Alltagskulturen unterstützen Medien vor allem die Konstitution sozialer Wirklichkeit und die Strukturierung des Alltags. Sie helfen, Konflikte zu bewältigen sowie Beziehungen zu regeln, und können dadurch auch umgekehrt Irritation hervorrufen oder als Mittel zur Durchsetzung von Modellpraxen und Ungleichheiten im Kampffeld um Deutungsmacht gezielt gesteuert und eingesetzt werden (vgl. Thomas & Krotz 2008). Dadurch bilden sie eine ›Bühne‹, auf der Wissen nicht nur bereitgestellt und vermittelt, sondern auch selektiert, kanalisiert und verzerrt wird (vgl. Lück et al. 2015; Sachweh 2010, S. 76). Individuen sind insbesondere dann auf solche kollektiv verfügbaren Interpretations- und Deutungsangebote angewiesen, wenn es sich um die Deutung von Ereignissen handelt, die sich wie im Fall ›Kevin‹ in der Regel nicht im eigenen Erfahrungsraum der jeweiligen Adressaten ereignen (vgl. Neidhardt et al. 2004). Daher ist anzunehmen, dass vor allem den Massenmedien bei der Verbreitung des Wissens über familiale ›Erziehungs(in)kompetenz‹ als Selektionsinstanz, Vermittler und Kommentator trotz allem eine wichtige chronistische Orientierungs- und Lenkungsfunktion zukommt: »In einer hochgradig [medial] vermittelten Welt ist es nicht möglich, die Beziehung zwischen Politik und der Umwelt oder der Gesellschaft und der Familie zu analysieren, ohne die Wichtigkeit der Medien anzuerkennen – all diese Sphären und deren Überschneidungen sind [medial] vermittelt worden« (Livingstone 2009, S. 5, i. d. Übersetzung v. Hepp 2013, S. 106). Vor allem im Rahmen der hohen medialen Präsenz von Fällen wie ›Kevin‹ sowie der generellen »Rückkehr der öffentlichen Beschämung und Scham kommt es zu einer dauernden und öffentlichen Terrorisierung derjenigen, die die Norm verletzt haben, und zwar durch die bewusste Nutzung emotionaler Mechanismen in der Öffentlichkeit« (Karstedt 2003, S. 263f.). Die

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im 18. Jahrhundert eingeleiteten und vor allem im Nationalsozialismus des 20. Jahrhunderts verstärkten Prozesse einer Verbannung der Öffentlichkeit aus der Familie erfahren in der Folge nicht nur eine Rückkehr bzw. erneute Stärkung (vgl. Kap. IV, 2.1.2), sondern vielmehr eine Umkehr, indem die Öffentlichkeit als ›emotionales Kollektiv‹ auftritt und eine neue Verknüpfung zwischen Politik, Familie und öffentlicher Meinung entstehen lässt. Hierbei ist nicht zuletzt zu berücksichtigen, dass Massenmedien auch Wirtschaftsbetriebe sind und entsprechend agieren, sprich den Fokus insbesondere auf die Erwirtschaftung von Gewinnen richten (vgl. Schetsche 2014, S. 138). Objektivität und Passivität der Medien können daher nicht unterstellt werden. Zudem müssen sich alle Akteurskonstellationen, im Besonderen die Medien, immer auch selbst stabilisieren und »zur Erhaltung des Systems immer wieder neue Aussagen produzieren und mithin Aufmerksamkeit generieren« (Karis 2012, S. 68). Sie befinden sich somit in der ambivalenten Position zwischen der Chance, Neues berichten zu können, und der Anforderung, dies tun zu müssen. Während Medienvertreter in den Debatten um familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung somit vermutlich in erster Linie das Ziel verfolgen, Aufmerksamkeit zu erhalten, permanent Inhalte mit Neuigkeitswert bereitzustellen sowie in Koalitionen mit anderen Sprechern des Diskursensembles ihren Bekanntheitsgrad zu stärken, ist anzunehmen, dass die Debatten politischen Sprechern vor allem als Steuerungsinstrument bei der Bewahrung oder der Neujustierung sozialer Ordnungen im Sinne der eigenen Herrschaftsstabilisierung dienen. Im Hinblick auf die Sprecher verschiedener Expertenkulturen lässt sich vermuten, dass die Einspeisung disziplinärer Wissensbestände und entsprechender Erfahrungen insbesondere der Reputation bestimmter Personenkreise und Fachgebiete dient. Die sich daraus ergebenden Kooperationsmöglichkeiten und Machtpotenziale der beteiligten Akteure können die Chance auf Anerkennung der verbreiteten Narrationen deutlich erhöhen (vgl. Schetsche 2013).

3.2.

3.2.1.

Fälle wie ›Kevin‹ als ›nützliche Gesetzwidrigkeit‹ politischer Sprecherpositionen Parteipolitische Positionen

Die Politik nimmt als Institution und Vertreter des Sozialstaates seit jeher eine bedeutsame Rolle in der Problembewältigung sozialer Probleme ein, zu denen familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zählen: »Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich der Sozialstaat im Kontext der Thematisierung sozialer Probleme entwickelt und bis heute bedingen sich beide wechselseitig: Ohne soziale Probleme keine Notwendigkeit für die Entstehung des Sozialstaates – und ohne Sozialstaat keine Instanz, die erwartbar für die Bearbeitung der Forderungen von Problemakteuren verantwortlich ist« (Schetsche 2014, S. 156). Im Rahmen der massenmedial verhandelten Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung geraten Bund, Länder und Kommunen somit vor allem im Bewältigungszusammenhang familialen Versagens als Adressaten unterschiedlicher Anrufungen in den Fokus der Öffentlichkeit und initiieren eine Vielzahl politischer und juristischer Aktivitäten (vgl. auch Kap. III, 1-3). Politische Akteure nehmen allerdings nicht nur als Adressaten, sondern

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

seit jeher auch als Sprecher mit einem »auf Macht und Herrschaft in der Gesellschaft und auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens« (Neumann 1979, S. 432) gerichteten Agieren eine bedeutsame Stellung in Diskursen sozialer Probleme ein. Thematisch ist indes nie zuvor »das Thema Familie so intensiv durch die Politiker in den Mittelpunkt gestellt [worden] wie seit dem Jahr 2005« (Kersten 2012, S. 303). Dabei lassen sich aber keinesfalls einheitliche Meinungen oder eine konsistente Ordnungsstruktur der »politisch fungierenden Öffentlichkeit« (Habermas 1962, S. 88) verzeichnen.18 Während sich die CDU seit jeher als »die Familienpartei Deutschlands« (CDU/CSUFraktion im Deutschen Bundestag 2013) versteht, zu deren Wesensart es gehöre, »dass man Gutes bewahren will« (Die Welt 11.03.2013), stellt die Thematisierung familialer Erziehung im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ vor allem in Sprecherkonstellationen, die sich eher dem liberalen politischen Spektrum zuzuordnen lassen, einen gewissen Neuigkeitswert dar. Noch im Jahr 1998 bezeichnet der amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) Familienpolitik als »Gedöns« (Sauer 2008, S. 41). Dann aber scheinen sich, ausgehend von der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik der 1990er, entsprechende Strategien der Liberalen seit den 2000ern verstärkt zu einer aktivierenden Familienpolitik auszuweiten. Es kommen in diesem Zuge nicht nur gewisse Zweifel an bestehenden sozialen Systemen auf, sondern es werden auch Aktivierungsappelle an die darin agierenden Individuen deutlich. Sie lassen sich spätestens mit dem Einsetzen einer Sozialpolitik des »Forderns und Förderns« im Rahmen der »Agenda 2010« sowie im Zuge der Bundestagswahl 2009 auch im vorliegenden Korpus u.a. in Anrufungen von Eltern als aktive ›Marktteilnehmer‹ und in ›Attacken‹ auf die Unterschicht verzeichnen (vgl. Schimmeck 2011; vgl. auch Kap. III, 3.3; Kap. IV, 2.3.1). Gleichzeitig wurde in Deutschland das Thema ›Sicherheit‹ nach einer Analyse Reubands (2002) bereits im Jahr 1997 als bedrohliches Problem von der SPD in den Wahlkampf eingeführt, das sich zunehmend auf den privaten Bereich der Familie auszuweiten scheint. Im Gegensatz zu den Bemühungen um eine Reform des Sozialstaates seitens der SPD sehen einige Medienvertreter eine immer stärkere Hinwendung der CDU/CSU zum bewahrenden ›Familienstaat‹: »Konservativ kommt von bewahren«, so CDU-Generalsekretärin Kramp-Karrenbauer in einer Pressemitteilung (Die Welt 19.02.2018). Das gehe mit einer Vielzahl an geldwerten Investitionen einher, was sich im Wesentlichen in den Forderungen der Gegennarration zeigen soll (vgl. Kap. III, 2.3.2): »Die Unionsparteien, besonders die CSU, sind im Begriff, ihre Identität an immer mehr und immer stärker verzettelte Geldleistungen für Familien zu knüpfen« (Die Welt 07.07.2012). Diese Investitionen in Familien werden seit der Großen Koalition jedoch auch immer deutlicher von sozialpolitischen Aktivierungstendenzen durchzogen. So basiert das im Jahr 2007 eingeführte Elterngeld z.B. auf dem vorangegangenen Nettoeinkommen der Bezugsberechtigten, und auch von dem progressiven Steuersystem können besserverdienende Eltern am meisten profitieren. Insofern gehe

18

Die Ausführungen in diesem Kapitel skizzieren nur einige wesentliche Punkte parteipolitischer Sprecherpositionierungen, die aus dem vorliegenden Datenmaterial hervorgehen bzw. sich daraus ableiten lassen. Die Darstellungen erfolgen aus forschungsökonomischen Gründen in stark vereinfachter und verkürzter Weise. Für eine vertiefte und detailliertere Auseinandersetzung mit parteipolitischen Positionen in öffentlichen Diskursen über soziale Probleme vgl. z.B. Raschke und Tils (2007), Thränhardt (1993) oder Rinke und Frevel (2017).

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Familie unter Verdacht

es bei den familienpolitischen Maßnahmen insgesamt um »Wohltaten für Wohlhabende« (Butterwege 2006, S. 4) und damit um Leistungs- statt Bedarfsgerechtigkeit. In der Gesamtschau werden so zwar gewisse parteiliche Präferenzen gegenüber den skizzierten Narrationen und Ordnungsstrukturen deutlich, eine eindeutige parteipolitische Zuordnung der Sprecher zu den jeweiligen Narrationslinien bzw. entsprechenden Bewältigungsstrategien und Lösungsvorschlägen lässt sich mit Blick auf das vorliegende Korpus jedoch nicht durchgängig vornehmen. Auch die Annahme, dass die verschiedenen Zeitungen und Wochenmagazine bestimmte konservative oder liberale Werthaltungen präferieren, kann anhand des zugrunde gelegten Materials nicht eindeutig bestätigt werden. Dies deutet somit auch darauf hin, »dass eine (sehr) enge politische Bindung der Tagespresse an politische Parteien, wie sie lange Zeit vorherrschte (Parteipresse, Parteirichtungspresse) nicht mehr vorhanden ist« (Jarren & Donges 2002, S. 263) und somit auch nicht vorschnell kollektive Politinteressen der Medien unterstellt werden können und sollten. Zeigen sich also Uneindeutigkeiten im Hinblick auf die Kohäsion der großen politischen Parteien, scheint im Kontext familialer Kindesmisshandlung und -vernachlässigung jedoch weitgehende parteiübergreifende Einigkeit zu herrschen, was die Notwendigkeit eines Ausbaus des Kinderschutzes betrifft. Sowohl Vertreter der CDU/CSU als auch der SPD betonen immer wieder dessen hohe fachliche und politische Relevanz und sprechen sich größtenteils dafür aus, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen (vgl. z.B. Der Spiegel 51/2007; Der Spiegel 33/2014; Die Welt 20.12.2007). Unterstützung erhalten sie auch aus den Reihen der Linken und der Grünen: »Wer Kinderschutz will, darf sich der Aufnahme der Kinderrechte in die Verfassung nicht verweigern« (Die Welt 14.12.2007a). Bei der konkreten Umsetzung von Lösungsvorschlägen wie z.B. dem Bundeskinderschutzgesetz kommt es jedoch zwischen den Jahren 2009 und 2012 immer wieder zu Spannungen zwischen den Parteien. Nach der Vorlage eines ersten Entwurfes seitens der CDU im Jahr 2009 ist das Gesetz noch »vor der Sommerpause nach massiver Kritik von Fachleuten von der SPD gestoppt worden« (Die Welt 03.09.2009). Obwohl sich alle Parteien für eine Verbesserung der Kinderrechte aussprachen, sind sie »wegen politischer Differenzen in der laufenden Legislaturperiode mit ihrem Vorhaben gescheitert, ein Kinderschutzgesetz zu verabschieden« (Die Welt 13.08.2009). Das wiederum mündet in gegenseitigen Schuldzuweisungen, die vor allem in Der Welt detailliert verfolgt werden: »Gegenseitige Schuldzuweisungen in der Koalition […]. ›Nun schieben sich CDU und SPD gegenseitig die Schuld zu‹ […]. ›Aus meiner Sicht war es Absicht der SPD, dieses Gesetz scheitern zu lassen‹, sagte Laschet. Man habe Familienministerin von der Leyen den Erfolg nicht gegönnt. Die SPD wiederum beklagt, dass die CDU am Ende auch nicht mehr einem Entschließungsantrag zustimmen mochte, der das Kinderschutzgesetz in der kommenden Legislaturperiode noch einmal auf die Tagesordnung gesetzt hätte« (Die Welt 01.07.2009). »Die GrünenFamilienexpertin Ekin Deligöz kritisierte den ›Wahlkampf‹ der Ministerinnen: ›Es hat einen fahlen Beigeschmack, jetzt ein Gesetz anzukündigen, das in fachlich vernünftiger Form schon längst fertig sein könnte‹. FDP-Kinder- und Jugendexpertin Miriam Gruss warf der großen Koalition vor, beim Kinderschutz ›ihre Pflichten grob vernachlässigt‹ zu haben. ›Besonders schwer wiegt das Scheitern des Kinderschutzgesetzes‹, betonte sie« (Die Welt 03.09.2009).

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

Entsprechende Mahnungen seitens der schwarz-gelben Koalition an die SPD zeigen sich auch im politischen Diskursfeld vor der Verabschiedung des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) im Jahr 2011: »Wer entsetzliche Schicksale wie die von Kevin, Lea-Sophie oder Jessica verhindern will, der darf das Bundeskinderschutzgesetz jetzt nicht blockieren. Bereits im Jahr 2009 ist ein Kinderschutzgesetz am Widerstand der SPD gescheitert« (CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag 2011). Die Weiterentwicklung des Kinderschutzes auf der Basis des Bundeskinderschutzgesetzes und der Bundesinitiative Frühe Hilfen ist schließlich auch Bestandteil des Koalitionsvertrages der 18. Legislaturperiode im Jahr 2013: »Wir wollen den auf der Grundlage des Bundeskinderschutzgesetzes umfassend verbesserten Kinderschutz kontinuierlich weiterentwickeln. Hierzu werden wir die im Rahmen der Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes und der bestehenden Bundesinitiative Frühe Hilfen gewonnenen Erkenntnisse in sämtlichen Bereichen des Kinderschutzes umsetzen. Wir werden auch die Errichtung, Ausgestaltung und weitere Umsetzung des bereits gesetzlich geregelten Fonds zur dauerhaften Sicherstellung der Netzwerke Frühe Hilfen und der psychosozialen Unterstützung von Familien an diesen Erkenntnissen ausrichten. Wir werden auch die Voraussetzungen weiter verbessern, damit Kinder- und Jugendhilfe und Gesundheitswesen enger kooperieren. Wir werden Studien auflegen, die die Qualitätsstandards für Auswahl und Eignung von Prozessbeteiligten und Familienpflegern in Familienangelegenheiten untersuchen. Wir wollen das Ineinandergreifen von Gewaltschutz und Umgangsrecht in Bezug auf das Kindeswohl wissenschaftlich untersuchen« (Haerder et al. 2013). Aber auch hier werden wieder ähnliche Spannungen und Blockaden deutlich, wie sie sich schon in den Vorjahren zeigten: »Vor einem Jahr scheiterte ein Gesetzentwurf der SPDBundestagsfraktion, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, an der schwarz-gelben Mehrheit. In den Koalitionsverhandlungen fielen die Kinderrechte weitgehend unter den Tisch, weil die CDU blockierte« (Der Spiegel 33/2014). Ähnlich antagonistische Stimmen – auch zwischen Bund, Ländern und Kommunen – zeigen sich im gesamten Diskursverlauf, insbesondere mit Blick auf die Durchführung konkreter Maßnahmen des Kinderschutzes und der Förderung familialer ›Erziehungskompetenzen‹ sowie deren Finanzierung: »Die SPD schlägt vor, kein zusätzliches Geld an die Familien zu geben. Dafür soll mehr in soziale Dienstleistungen und in die Infrastruktur fließen« (Der Spiegel 49/2006). »Für die Familienhebammen will der Bund in den kommenden vier Jahren insgesamt 120 Millionen Euro zur Verfügung stellen, also 30 Millionen Euro jedes Jahr. Nach diesem Modellprojekt sollen aber die Länder zahlen. Die fürchten, dass sie das nicht können. So verlangt Manuela Schwesig, SPD-Vize und Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern, eine ›dauerhafte Mitfinanzierung‹. Es gehe nicht ohne zusätzliche Mittel« (taz 27.10.2011). »Für die SPD ist eine bessere Prävention auf diesem Gebiet wichtig« (Die Welt 17.06.2009). Das gilt auch für die Grünen: »Viel wichtiger sei es, überforderten Eltern rechtzeitig Hilfe anzubieten […]. ›Viele Fälle von schlimmster Vernachlässigung hat es in den letzte Monaten auch deshalb gegeben, weil die Kommunen so viel gespart haben‹, sagt die grüne Familienexpertin Ekin Deligöz« (taz 18.12.2006a).

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Die Rede ist daher gehäuft von einer Instrumentalisierung von Fällen wie ›Kevin‹ für den Wahlkampf (taz 29.07.2009) bzw. einem »›Wahlkampfscharmützel auf dem Rücken unserer Kinder‹« (Die Welt 01.07.2009). Hierfür spricht nicht zuletzt das häufige Wiederaufgreifen solcher Fälle vor den Bundestagswahlen in den Jahren 2009, 2013 und 2017.

3.2.2.

Innerparteiliche Spannungen im politischen Feld

Die bereits in den 1990er Jahren häufig geäußerte These, dass die Bedeutung von Familien seitens linker und liberaler Stimmen unterschätzt werde, während die Konservativen »sie nicht mit Freiheit, Emanzipation und moralischer Kompetenz des einzelnen zusammenzudenken« (Dettling 1995, S. 131) versuchten, lässt sich im vorliegenden Material nicht durchgängig bestätigen. Das liegt nicht nur an den mitunter uneindeutigen und wechselnden parteilichen Positionierungen, sondern auch an einem zeitweise geringen innerparteilichen Konsens. Anders gesagt kommt es nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der beiden großen etablierten Parteien zunehmend zu Uneindeutigkeiten und einem gewissen Deutungspluralismus. Die Ursachen hierfür werden sehr vielfältig ausgewiesen. Modernisierungstheoretisch lassen sich die Spannungen anhand der Erosion traditioneller Institutionen und ihrer Bedeutung für das politische Handlungswissen erklären. Aus diesem Grund können die politischen Sprecher sich immer weniger an bisherigen Werten und Normen orientieren: »Durch den Bruch mit den Traditionen der Industriegesellschaft wird alles diskutierbar und verhandelbar; Entscheidungsgrundlagen müssen neu festgelegt werden. Dies bewirkt eine Politisierung sämtlicher Lebensbereiche« (Münch 2004, S. 507). In der politologischen Parteienforschung wird aber auch z.B. »die andauernde Führungskrise der SPD« (Ding 2014, S. 129) benannt. So seien sich die Sozialdemokraten von Anfang an nicht einig darüber gewesen, wie der Sozialismus und die gesellschaftliche Demokratie realisiert werden könnten und sollten. Vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses zwischen Arbeiterbewegung und politischem Establishment gab es ständige Richtungskonflikte, die bereits auf die inhärenten Widersprüche des 1891 beschlossenen Erfurter Programms zurückgingen (vgl. ebd.). Die Inkonsistenzen im Hinblick auf Bewältigungsmöglichkeiten familialen Versagens in Fällen wie ›Kevin‹ sind aus dieser Sicht vor allem als neuer Ausdruck tradierter Konflikte um die Leistungsfähigkeit des Sozialstaates zu werten. Bei der CDU handele es sich hingegen von ihrer Gründung an um eine Partei, die sowohl eine Stimmenmaximierung als auch eine Regierungsbeteiligung anstrebe und daher stark konsensorientiert sowie gegen eine innerparteiliche Demokratie ausgerichtet sei (vgl. ebd. S. 190). Während innerparteiliche Unstimmigkeiten der SPD somit bereits seit ihrer Gründung immanent sein sollen, können die Gründe für solche Spannungen innerhalb der CDU vor allem in dem Umstand der schwachen großen Koalition sowie der dafür erforderlichen zwischenparteilichen Konsensfindung in den Jahren nach dem Fall ›Kevin‹ gesehen werden. Je mehr Konflikte sich innerhalb der Parteien auftun, desto weniger überzeugen sie, so dass sich in den Regierungsjahren Unterschiede verwischen, die dann in den Wahlkämpfen wieder deutlicher betont werden. Die Abkehr von der eigenen Parteiposition während einer Legislaturperiode könne dann auch zur Herausbildung einzelner Faktionen führen, so Köllner (2004, S. 15). Diese wiederum

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

können Fragmentierungen der Parteien begünstigen und die Handlungs- bzw. Regierungsfähigkeit beeinträchtigen. »Dies ist dann gegeben, wenn die informellen Strukturen gegen den Geist der formalen Elemente verstoßen oder der formale Rahmen nur als ›Wirt‹ für parasitäre Aktivitäten und Prozesse informeller Natur genutzt wird. Von einem Spannungsverhältnis kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn die informellen Strukturen klar den formalen untergeordnet sind« (ebd.). Aus modernisierungstheoretischer Perspektive lassen sich solche Faktionen dann auch als Verlagerungen der politischen Debatte in unterschiedliche Teilöffentlichkeiten bzw. »Singularitäten« (Reckwitz 2017) deuten, die wiederum als pluralistische Koexistenzen inkludierend wirken können oder aber eine weitere Zergliederung begünstigen und ihre Berechtigung fraglich erscheinen lassen (vgl. Köllner 2004, S. 20). Tendenzen einer temporären Überordnung informeller Akteurskonstellationen und Narrationen zeigen sich vor allem innerhalb der eher konservativ verorteten Parteien CDU und CSU. Während einige parteizugehörige Sprecher mit ihren Forderungen das Ziel verfolgen, den Stellenwert der Familie zu erhöhen und diese im Sinne »Starke Familien – starker Staat« (Focus 2/2008) zu stärken, zielen insbesondere seit den 2000er Jahren auch innerhalb von CDU/CSU einige Akteure verstärkt auf Maßnahmen ab, welche die Familie »nicht nur ergänzen, sondern sie zum Teil auch ersetzen« (Die Welt 17.10.2006). Noch in den späten 1990er Jahren »lehnen CDU/CSU eine rechtliche Absage an elterliche Gewalt gegen Kinder als unzumutbaren Eingriff in die Privatsphäre« (taz 13.07.1998) einstimmig ab. Die zumeist geschlossene Positionierung von CDU-Mitgliedern und -Anhängern in familienpolitischen Debatten der Vergangenheit (z.B. bei der Einführung des Ehegattensplittings im Jahr 1958) auf das traditionell bürgerliche Leitbild scheint sich zunehmend in widersprüchliche Stellungnahmen und parteiinterne Konflikten zwischen »bewährten Traditionen und christliche[n] Werten« (Messingerm & Wypchol 2013, S. 207) einerseits und deren Modernisierung andererseits zu verwandeln: »Welchen Schaden das klassische Familienbild genommen hat, war vergangene Woche auf dem Parteitag der CDU in Dresden gut zu beobachten. Zu den wenigen Anträgen, die dort diskutiert und verabschiedet wurden, gehörten zwei, in denen sich die Union für mehr staatliche Einmischung aussprach […]. Bei der anderen großen Volkspartei der gleiche Befund. Der Staat sei gefordert, mehr denn je, hieß es in der internen Diskussion zum neuen Grundsatzprogramm der SPD […]. Gerade in der Familienpolitik haben sich CDU und SPD immer deutlich unterschieden. Jetzt muss man den Eindruck haben, dass sich die Union auch hier den Positionen der Sozialdemokraten annähert« (Der Spiegel 49/2006). Solche zwischenparteilichen Annäherungen zeigen sich z.B. besonders deutlich zwischen der seinerzeit amtierenden Familienministerin Ursula von der Leyen und den Parteivertretern der Länder in den Äußerungen zu den vielfach geforderten Früherkennungsuntersuchungen im Jahr 2007: »Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) sprach sich am Wochenende für verbindliche Vorsorgeuntersuchungen aus […]. Niedersachsens Sozialministerin Mechthild Ross-Luttmann (CDU) forderte in der Bild am Sonntag eine ebenfalls verpflichtende Sonderuntersuchung auf

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Familie unter Verdacht

Misshandlungen beim Kinderarzt« (taz 25.11.2007), und auch »der familienpolitische Sprecher der CDU/CSU, Johannes Singhammer, forderte eine höhere Verbindlichkeit für die Teilnahme von Kindern an Früherkennungsuntersuchungen« (taz 13.10.2006). Als »Familienrevolutionärin«, »Supermutterpowertochter« und »Mutter der Nation« betitelt, überraschte Ursula von der Leyen bereits im Wahlkampf 2005 mit ihren Plänen zum Krippenausbau und der Akzeptanz neuer Lebensformen (Der Spiegel Online 22.03.2009). Von der Leyens Verständnis von Familienpolitik, das sich von der tradierten, konservativen Narration des ›Sicherns und Bewahrens familialer Schutzräume‹ und den entsprechenden ›Erziehungskompetenzen‹ (vgl. Kap. III, 2.3) zu lösen scheint, führt dementsprechend auch im Kontext des Falls ›Kevin‹ zu einem parteiinternen »Kulturkampf um Kinder in der Union« (Messingerm & Wypchol 2013, S. 177). Vergleichbare Entwicklungslinien lassen sich auch bei llse Falk, Mitglied im CDU-Bundesvorstand, nachzeichnen: »Sie hat nach dem Abitur eine Gartenbaulehre gemacht, aber sich dann der Erziehung ihrer vier Kinder gewidmet. Im Bundestagshandbuch gibt sie als Tätigkeit ›Hausfrau‹ an. Sie ist als stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union im Bundestag für Familienpolitik zuständig. Die Frau entspricht der christdemokratischen Idealvorstellung einer engagierten Mutter. Nun denkt sie über die Entwicklung ihrer eigenen Position nach: ›Ich habe einen sehr langen Weg hinter mir‹, sagt sie. ›Ich musste akzeptieren, dass Familie nicht immer so leistungsfähig ist, wie wir das früher dachten‹« (Der Spiegel 49/2006). An dieser Stelle wird auch die in der Gegennarration betonte Funktion der Familie deutlich vorgehoben, die vor allem in ihrer Reproduktions- und Betreuungsleistung zu liegen scheint. Ähnliche diskursive Variationen bzw. Verschiebungen der Wertvorstellungen deuten sich in den bildungspolitische Debatten an, die sich seit den 1980er Jahren deutlich zu verändern scheinen: »Die CDU, sagte er [der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth], werde ›den gefährlichen Tendenzen zur Ganztagsschule, die den elterlichen Einfluss entscheidend schmälert‹, nicht folgen. Spätestens mit dem Pisa-Schock verstummten die kritischen Stimmen« (Focus 44/2014). Wiederum beharrlichere, konservativere Linien und weitestgehend innerparteiliche Übereinkunft zeigen sich innerhalb der CDU hingegen im Jahr 2017 bei der Verabschiedung des umstrittenen ›PflegekinderGesetzes‹ kurz vor der Bundestagswahl: »Das Gesetz, das die neue Familienministerin Katarina Barley (SPD) noch vor der Sommerpause durch die Gremien bringen wollte, darf wohl als gescheitert gelten. Die Union will allenfalls Teilen des Paketes zustimmen, der verbesserten Heimaufsicht etwa oder den Schutzkonzepten für minderjährige Flüchtlinge. Bei dem Herzstück aber, der Reform des Pflegekinderwesens, legt sie ihr Veto ein. Sie fürchtet, dass der Staat künftig noch leichter als bisher Kinder dauerhaft aus ihren Familien nehmen und die leiblichen Eltern entmachten kann« (Die Welt 19.06.2017). Interne Konflikte im Werteverständnis deuten sich aber nicht nur bei den konservativen, sondern auch bei den historisch eher liberal orientierten Parteien SPD und FDP an: »Während im Kinderschutzantrag der Liberalen das Wort Grundgesetz nicht vorkommt, vertreten

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Teile der Fraktion durchaus die Auffassung, dass Kinderrechte mit Verfassungsrang ausgestattet werden müssten« (Die Zeit 51/2007d). Neben inner- und zwischenparteilichen Spaltungen wird in den Debatten um familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ in Fällen wie ›Kevin‹ zudem eine tendenzielle Loslösung konservativer Parteien von konfessionell gebundenen Positionen deutlich, die historisch gesehen lange über große diskursive Deutungsmacht verfügten. Hier zeigt sich ein genereller Rückgang an Redeanteilen kirchlicher Vertreter. Ihr Einfluss scheint zu schwinden und sie erhalten nur noch punktuell Sprecheranteile in der Gegennarration, wobei ihre Position zudem meist durch ›animators‹ (Goffman 1977) vertreten wird. Mit Karstedt (2003) könnte hierfür als Erklärung dienen, dass es für die herrschende christliche Moral »de facto keine Herrschenden mehr« (S. 272) gebe. Die dennoch vorgenommene Bezugnahme auf (christliche) Sprecher und deren Werte kann hier als Versuch interpretiert werden, dessen ungeachtet die »moralische Korrektheit des Deutungsmusters« (Höffling et al. 2002) zu legitimieren. Da die Argumentationsgrundlagen in der Regel bereits Bestandteil kollektiver Wissensordnungen sind (vgl. Kap. III, 2.3.3), können vor allem konservative Sprecher fundamentalistische Positionen jederzeit wieder in knappen Sätzen in einer Selbstverständlichkeit und Unterkomplexität vertreten, »als sprächen sie nur das aus, was ›die schweigende Mehrheit‹ denkt« (Klaus & Thiele 2009, S. 87). Dies entspricht dem Konzept der Pfadabhängigkeit, das davon ausgeht, dass Systeme und Strukturen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt eingeführt und dann anhaltend angewandt wurden, nur schwer zu reformieren sind (vgl. Pierson 2000). Entsprechende Politstrategien können somit vor dem Hintergrund einer angenommenen Pfadabhängigkeit von Machtverhältnissen auch als »institutionelle Investitionseffekte« erachtet werden, welche die Hoffnung in etablierte Ordnungsstrukturen und die zugehörigen Institutionen verstärken, da diese lukrativer und sicherer erscheinen als ein Systemwandel (vgl. Hasenmüller 2013, S. 125). Die politischen Sprecherpositionen scheinen sich somit insgesamt nicht vorrangig durch Parteizugehörigkeiten bestimmten Deutungen und Narrationslinien zuzuordnen, sondern sich vielmehr in bestimmten Faktionen zu bündeln, die ein gemeinsames kurz- oder langfristiges Ziel verfolgen. Die informellen und formalen Akteursstrukturen und -koalitionen speisen sich hierbei aus den unterschiedlichen Kompetenzen, Erfahrungen und Reputationen ihrer Angehörigen, auf deren Wahrnehmung sie wiederum Einfluss haben. Der Rückbezug auf die Gruppe verhindert dabei, dass Sprecher als Einzelpersonen bei nicht kollektiv akzeptierten Aussagen ihre Reputation verlieren und ihre Narrationen komplett aus dem Diskurs ausgeschlossen werden. Richten sich Einzelakteure jedoch allzu stark gegen den hegemonialen Deutungshorizont der zugehörigen Faktion, Partei oder Regierungskoalition, kann dies unter Umständen durchaus zum Gruppenausschluss führen. Eine Auflösung und Abgrenzung von kollektiven und dominanten Positionen birgt für Sprecher und Sprechergruppen somit immer das Risiko eines potenziellen Machtverlustes. Daher sind auch kurzzeitige Einigungen, wie z.B. das Übereinkommen im Bundeskinderschutzgesetz und in der Bundesinitiative Frühe Hilfen, nicht zwingend als tatsächliche Meinungsübereinstimmungen zu deuten, sondern können auch als Kompromiss zur Vermeidung von Ausschlüssen gesehen werden (vgl. Schetsche 2014, S. 136). Mit Schetsche (2014) ist davon auszugehen, dass Erfolg und Aufrechterhaltung von gemeinsam geteilten Narrativen und Lösungen vor

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allem von der Existenz gewisser Freiheiten, gemeinsamer Interessen, der Beteiligung einflussreicher Einzelakteure sowie der vorhandenen Konkurrenz und deren Rückkoppelungsdynamiken in Alternativ- und Gegendiskursen abhängen (vgl. S. 107). Somit ist anzunehmen, dass das gemeinsame Ziel, öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen, von den beteiligten Akteuren zunächst als relevanter erachtet wird als die Nachteile durch nicht geteilte Interessen. Sobald die Nachteile jedoch diesen Synergieeffekt übersteigen, nimmt die Wahrscheinlichkeit gemeinsamer inner- und zwischenparteilicher Positionen und Maßnahmen ab (vgl. ebd., S. 105). Diese Annahmen entsprechen im Wesentlichen dem etablierten medientheoretischen Konzept der ›Schweigespirale‹, das besagt, dass Akteure nicht durch die Äußerung einer anderen Meinungen isoliert werden möchten und sich daher innerhalb eines gewissen Rahmens eher fügen und schweigen, wodurch dominierende Positionen eines Diskurses verstärkt werden können (vgl. Bonfadelli & Friemel 2011, S. 234ff.).

3.2.3.

Politische Strategien der Immunisierung und Herrschaftsstabilisierung

Trotz Spannungen und Widersprüchen scheint vielen der politischen Sprecher(koalitionen) zunächst gemein, dass sie generell dazu neigen, skandalöse und spektakuläre Ereignisse wie den Fall ›Kevin‹ im Sinne ihrer eigenen Interessen zu instrumentalisieren: »Es gehört zu den Manövern populistischer Politik, in der Bevölkerung Ängste zu schüren, die die Politik dann ›ernst nimmt‹ und deren Bearbeitung sie sich zu widmen verspricht« (Stehr 2016, S. 81). Während aus der Opposition gestellte Gesetzesinitiativen so z.B. zunächst im Plenum abgelehnt wurden, konnten erst »vor dem Hintergrund einer breiten öffentlichen Meinung mehr Initiativen in den Bundestag eingebracht und eine höhere Regulierungsdichte erreicht« (Görgen & Kessler 2013, S. 14) werden. Die machtvolle Position der (Massen-)Medien kann somit von politischen Vertretern genutzt werden, um die eigene Position zu stärken. Je größer der Skandal, desto konkreter lassen sich die Forderungen formulieren und entsprechend höher fällt die Anerkennung für politische Akteure aus, wenn sie Abhilfe vorschlagen und Adressaten als Problemverursacher bestimmen, ohne selbst schuld an den Problemen zugewiesen zu bekommen (vgl. Stallberg & Springer 1983, S. 35f.). Als Sprecher im Namen des ›Kindeswohls‹ können sich Politiker hierbei sowohl als imaginäres ›Wir‹ im Sinne einer universalistischen politischen Moral positionieren als auch in Abgrenzung und Gegenüberstellung zu einem konstruierten ›Anderen‹ eine partikularistische politische Moral vertreten (vgl. Pohlmann 2003, S. 236f.) und so die eigene Machtposition im politischen Kräftespiel sowie die Stellung ihrer Gruppe gegenüber anderen Sprechern ausbauen. Die Herstellung solcher Gruppenzugehörigkeiten lässt sich häufig auch sprachlich an den verwendeten akteursspezifischen Pronomina erkennen. So heißt es oft ›wir‹ (z.B. »wir müssen Eltern unterstützen«, taz 14.10.2006c), ›alle‹ (z.B. »Sie alle können sich ihre Betroffenheitsadressen sparen«, Die Welt 14.10.2006b) oder ›uns‹ (z.B. »uns in falscher Sicherheit wiegen«, Der Spiegel 49/2006; »wir sollten uns auf die Frage konzentrieren«, Focus 04/2007). Der Sprecher markiert dabei als Teil dieser Systeme das inklusive ›Wir‹, das als Gegenbild zu einem exklusiven ›Sie‹ oder ›Ihr‹ fungiert (vgl. Freitag 2013, S. 379ff.). Zugleich können diese Konstruktionen aber auch als universalistische, mobilisierende Strategie angesehen werden, mittels derer z.B. unter Verweis auf die schutzlosen Kin-

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der an die Schuldgefühle eines solidarischen ›Wir‹ appelliert werden kann: »Wir sind es unseren Kindern schuldig, sie bestmöglich vor Vernachlässigung und Misshandlung zu schützen« (CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag 2011). »Das sind wir Opfern wie Kevin immer noch schuldig« (Der Spiegel 51/2007). Im Regelfall interagieren politische Akteure hierbei nicht nur aus eigener Motivation, sondern politischer Handlungsbedarf wird auch massenmedial eingefordert: »Die strukturelle Kopplung des politischen mit dem medialen System bietet deshalb Problemakteuren die Möglichkeit, über die Mobilisierung der öffentlichen Meinung Druck auf politische Entscheidungsträger auszuüben« (Schetsche 2014, S. 158). Ohne darauffolgende Reaktionen politischer Akteure können empfundene Bedrohungen durch vermeintlich ›erziehungsinkompetente‹ Familien oder defekte soziale Systeme dann zur Mobilisierung breiter Bevölkerungsgruppen sowie zur (De-)Legitimierung wirksamer Politiken führen. Lash (1996) sieht vor allem in sozialen Problemen, die staatliche Zugriffsmöglichkeiten zu sozialen Kontrolle erhöhen, ein hohes Skandalisierungspotenzial (vgl. S. 349). Ihm können politische Akteure in der Regel auf drei Arten begegnen, die sich alle auch im Kontext des Falls ›Kevin‹ finden und die sich im Wesentlichen auf einen unterschiedlichen Umgang mit dem Subsidiaritätsprinzip zurückführen lassen. So können politische Akteure auf öffentliche Anrufungen zur Bewältigung sozialer Probleme erstens das Problem als solches anzweifeln und banalisieren sowie die Problematisierung zweiter Ordnung als Usurpation bekämpfen (vgl. Kap. III, 2), zweitens das Problem und die Handlungsnotwendigkeit anerkennen, dabei aber die eigene Verantwortung zumindest in Teilen zurückweisen (vgl. Kap. III, 3), oder aber drittens sowohl familiale ›Erziehungsinkompetenz‹ als soziales Problem anerkennen als auch die Zuständigkeit für dessen Bewältigung in Form einer Substitution weitgehend annehmen (vgl. Kap. III, 1; vgl. auch Schetsche 2014, S. 158). Häufig vollziehen sich die Reaktionen jedoch zunächst über »rhetorische Pirouetten der Politiker« (Die Zeit 43/2006b) sowie verschiedene Strategien der Verschleierung und Verantwortungsverschiebung, die charakteristisch für das politische Sprecherfeld sind. Hierzu zählen vor allem die Feindbildetablierung, die moralisierende Systemkritik und die Aktivierung der Akteure. Am deutlichsten zeigt sich die Feindbildetablierung im narrationsübergreifenden politstrategischen Rückgriff auf die Figur des ›Anderen‹. Dieser ›Andere‹ wird zum Verdichtungssymbol für Erfahrungen von Kontrollverlust und Verunsicherung und dadurch zu einem politischen Problemfeld, das es ermöglicht, Unsicherheiten zu forcieren und Formen staatlicher Handlungsmacht aufzuzeigen, wie sie in anderen politischen Bereichen oftmals nicht mehr nachvollziehbar inszeniert werden können (vgl. Reindl & Weber 2002; Scherr 1997). »Für Lea-Sophie hieß das nun, dass sie allein war unter Feinden: ihren Eltern« (Der Spiegel 48/2007). »Es geht um das Problem der Eltern, die dem Kind feindlich gesinnt sind« (SZ 19.12.2007a). Weitere Indizien für eine Absicherung der eigenen (Macht-)Position mittels einer solchen Feindbildetablierung zeigen sich z.B. auch in der begleitenden symbolischen Materialisierung des ›bösen Stiefvaters‹ (vgl. Kap. IV, 2.2.2), dessen komplexe Eigenschaften auf wenige Merkmale reduziert werden, die alle als klassische Anzeichen der Feindbildetablierung gewertet werden können (vgl. Kliche 1998). Besonders deutlich geschieht dies im vorliegenden Material unter Zuhilfenahme primitiver Konstitutionen, wie z.B. der Inszenierung von Eltern als »Monster« (z.B. Die Welt 14.07.2010a). Foucault (2003) definiert das Monster als Wesen,

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das »qua Existenz und Form nicht nur eine Verletzung der gesellschaftlichen Gesetze darstellt, sondern auch eine Verletzung der Gesetze der Natur. In seinem doppelten Register stellt es durch seine bloße Existenz einen Rechtsbruch dar« (S. 76). Ähnlich verhält es sich aber z.B. auch bei der Konstruktion der ›autonomen Frau‹ als ›Rabenmutter‹ (vgl. Kap. IV, 4.2.3). Die doppelte Überschreitung der Grenzen des ›Normalen‹ in diesen Figuren ermöglicht politischen Sprechern nicht nur moralisch fragwürdige Markierungen, sondern auch die Durchsetzung von Maßnahmen und Aktivitäten, ohne zuvor eine zeitaufwendige Spurensuche betreiben zu müssen, da sie unmittelbar Schuldige für das Unfassbare liefern können (vgl. Foucault 2003, S. 106f.). »Der Sündenbock wird ins Rampenlicht geschoben, lenkt alle Aufmerksamkeit auf sich, und das Publikum ist befriedigt« (Bergman & Pörksen 2009, S. 27). Eine weitere Markierung stellt die Positionierung von ›Risiko- oder Problemfamilien‹ als ›Sündenböcke‹ dar. Diese Ordnungen sichern ebenfalls eine »hohe und schnelle Handlungsfähigkeit, indem sie von irritierender Komplexität entlasten[,] und sie verweisen auf Verantwortlichkeiten, an die man sich halten kann« (vgl. Neidhardt 1988, S. 179). Eine Typisierung negativer Sozialfiguren ist daher auch in anderen politischen Kontexten und Diskursen nicht ungewöhnlich (z.B. ›der Sozialschmarotzer‹ oder ›der Zuwanderer‹) und zeigt sich vorwiegend, wenn es um vermeintlich neuerliche Grenzüberschreitungen geht (z.B. Erhöhung des Arbeitslosengeldes oder Terrorismus) (vgl. z.B. Girstmair et al. 2011, S. 133).19 Die vermeintlich eindeutigen und unumstößlichen Bestimmungen von ›Sündenböcken‹ können mit Bergman und Pörksen (2009) eine Entlastungsfunktion bieten bzw. eine Strategie darstellen, um von weiteren Schuldigen abzulenken und »einen Skandal elegant aus der Welt zu schaffen« (S. 27). Indem bestimmte Subjekte bzw. Gruppierungen die Schuld stellvertretend für die Gesellschaft tragen, begünstigen sie insbesondere bei politischen Vertretern »eine Verdrängung des Schuldbewusstseins, die sich ein eventuelles Fehlverhalten im Amt vorhalten lassen müssen« (Schockenhoff 2013, S. 214). Emotionen wie Empörung und Wut können dann von den politischen Akteuren weg auf andere Subjekte oder gesellschaftliche Strukturen gerichtet werden. 19

Hierbei kommt es auch immer wieder zu Verknüpfungen und Verschränkungen zwischen verschiedenen Diskursfeldern. Die Referenzfolie der ›gefährlichen autonomen Frau‹ bettet z.B. auch Elemente der Erwerbsarbeit mit ein, wodurch sie nicht nur zu einer Gefahrenfigur des Patriarchats wird (vgl. Kap. IV, 2.2.4), sondern mitunter auch die Gefahr birgt, dass dadurch dem »Wohlfahrtsstaat eine zentrale und tragende Stabilitätssäule« (Aulenbacher & Dammayr 2014, S. 162) im Bereich unbezahlter Sorgearbeit wegbricht. Vor allem bei Sprechern einer moralisch-tradierten Perspektive scheinen diese Ängste zumindest latent enthalten zu sein und werden daher in erster Linie durch das etablierte naturalistische Deutungsmuster der ›Mutterliebe‹ zu bekämpfen versucht (vgl. Kap. III, 2.1.2). Dies konfligiert mit aktivierenden Imperativen der Arbeitsmarktpolitik, in der die Frau als Arbeitskraft ökonomische Vorteile für den Arbeitsmarkt und das Haushaltseinkommen mit sich bringt. Die gestiegenen Anforderungen an familiale Erziehungsleistungen, während die Mutter gleichzeitig als Arbeitskraft benötigt wird, führt hierbei zu Spannungen, die sich besonders in den zahlreichen Debatten um die sogenannte ›Herdprämie‹ zeigen, die immer wieder mit Fällen wie ›Kevin‹ diskursiv verknüpft werden (z.B. Die Welt 31.07.2007; Focus 44/2014). Die konstruierte Figur der ›gefährlichen erwerbstätigen Frau‹ wirkt somit ähnlich wie zahlreiche andere Ordnungsstrukturen der aktivierenden Familienpolitik auch auf das Diskursfeld familialer Kindesmisshandlung und -vernachlässigung ein und kann daher auch als diskursverschränkendes Instrument arbeitsmarkt- und familienpolitischer Steuerung verstanden werden.

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

Damit lässt sich die Verantwortung zumindest implizit auf Einzelpersonen oder das gesellschaftliche Kollektiv verlagern. ›Sündenböcke‹ als ›Feindbilder‹ eignen sich in der massenmedialen Berichterstattung des emotional aufgeladenen und polarisierenden Feldes von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung daher in besonderem Maße zur Implementierung oder Neujustierung von Sicherheitsmaßnahmen: »Der Interaktionskomplex politisch-medialer Problemkonstruktion führte zur Inszenierung eines hohen, nicht zu tolerierenden Bedrohungspotenzials der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Nicht zufällig standen und stehen diesbezüglich Ereignisse im Vordergrund, die massenmedial einprägsam zu bewerten sind, da scheinbar willentlich und bösartig handelnden Tätern unschuldige Opfer gegenüberstehen, die durch eine Tat schwerwiegend geschädigt werden« (Dollinger & Schmidt-Semisch 2016, S. 6). Insbesondere der Beginn der Debatten um den Fall ›Kevin‹ wird daher durch eine bestimmte politische Agenda gestützt und begünstigt, in der sicherheitspolitische Erwägungen eine zentrale Rolle spielen und das über die Massenmedien vermittelte vermeintlich Gefahren- und Risikopotenzial von Eltern zur Einleitung von »Wandlungsprozessen bei der sozialpolitischen Bearbeitung von Kindeswohlgefährdung« (Bode & Turba 2014, S. 136) genutzt werden kann. Schlepper und Sack (2011) weisen in diesem Kontext auf die Durchführung von Maßnahmen hin, die sie nicht in erster Linie als Konsequenz zunehmender Fallzahlen erachten, sondern mit »herrschaftsstabilisierenden Irrationalismen« (S. 247) in Verbindung bringen. Einen solchen Zusammenhang sehen auch Hirtenlehner et al. (2012): »Leidet der politisch-institutionelle Apparat […] unter Status- und Akzeptanzproblemen, vermag eine Flucht in eine für jedermann sichtbare ›Law and Order‹-Programmatik als attraktiver Rettungsanker erscheinen, um das durch Untätigkeit und Versagen auf anderem Terrain verlorene Zutrauen wiederzugewinnen« (S. 192). Der Schutz vor Gefahren, die von vermeintlich ›erziehungsinkompetenten‹ Familien ausgehen, ist somit eng mit der Legitimität verbunden, die staatlichen Akteuren generell zugeschrieben wird. Der massenmedial aufgebaute Druck auf politische Akteure kann diese zudem schnell als unbedarft erscheinen lassen, wenn sie keine starken Eingriffe fordern: »Wenn diese keinen ausreichenden Schutz vor Katastrophen leisten können, so steht deren Status in Frage. Insofern war und ist es für sie naheliegend, auf dem Betätigungsfeld der Sicherheitsproduktion Handlungsstärke zu demonstrieren und durch die (möglicherweise gegebene) Neuigkeit von Gefährdungslagen zu begründen, dass die entsprechenden Katastrophen kaum verhindert werden konnten bzw. können« (Dollinger & Schmidt-Semisch 2016, S. 6). Eine potenzielle Überdramatisierung ist somit politisch vermutlich eher verzeihbar als eine potenzielle Unterreaktion, so dass Politiker hier unter Umständen zu – auch »populistischen – ›Schnellschüssen‹ neigen […] Denn das Risiko, auf das Nicht-Eintreten eines Ereignisses zu spekulieren, dürfte eine politisch verantwortliche Person kaum eingehen« (Schneckener 2013, S. 37). Entsprechend zeigen sich gerade kurz nach dem Leichenfund Kevins zahlreiche Sofortmaßnahmen, die zu einem Großteil vom Bundesfamilienministerium initiiert oder unterstützt werden (vgl. Kap. III, 1.4.3 & 3.4.2).

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Vor allem durch den politischen Mehrwert, der entsteht, wenn Sicherheit bzw. Sicherheitsdefizite auf die Agenda gesetzt werden, kann der Staat wieder verstärkt »als Akteur bezüglich der Sorge um Kinder gegen andere gesellschaftliche Kräfte ins Spiel gebracht« (Baader et al. 2014, S. 13) werden. Die Sprecher können dann die vermeintlichen Fehlentwicklungen nutzen, um politische Ideen zu legitimieren und durchzusetzen, die insbesondere auf sozialdemographischen (Humanvermögen) und sozialpolitischen Motiven (Funktionalität) der Familienpolitik beruhen, wie z.B. einer Sicherung der Reproduktions- und Versorgungsfunktion der Familie durch die Hervorhebung der Mutterrolle (vgl. Kap. IV, 2.2). Die Betonung unterschiedlicher gesellschaftlicher Fehlentwicklungen dient hierbei vor allem der Bewahrung der Vorrangstellung politischer Sprecher und der Suggestion von Einzigartigkeit und Überlegenheit einer Akteurskonstellation über andere Akteure, darüber hinaus aber auch der Maximierung des Nutzens bestimmter Subjektpositionen für die Gesellschaft oder zumindest für bestimmte gesellschaftliche Teilbereiche (vgl. Mikler 2005, S. 574ff.). Hierzu zählen dann nicht nur punitive Praktiken und kontrollierende Schutzsysteme, sondern auch wohlfahrtstaatliche Politiken, denn gerade »in solchen Systemen konvergieren hoch entwickelte leistungsstarke soziale Sicherungsarrangements mit einem zurückhaltenden Einsatz des Strafrechts« (Hirtenlehner et al. 2012, S. 192). Die Einbettung von Fällen wie ›Kevin‹ in eine konservativ-moralische Agenda eröffnet politischen Sprechern zudem die attraktive Option, nicht nur bestimmte Akteure als defizitär bzw. problematisch auszuweisen, sondern auch selbst Systemkritik zu artikulieren, indem sie sich mittels Verweisen auf die vermeintlich überlegenen moralischen eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber denen einer zunehmend ›verrohten Gesellschaft‹ abgrenzen. Bei dem hierbei vorrangig verwendeten Metaphernfeld des Kampfes und Krieges (vgl. Kap. III, 2.3.1) handelt es sich um eine gängige Symbolik, die vor allem in politischen Debatten in Erscheinung tritt, wenn öffentliche und private Interessen und Glücksversprechen gegeneinander abgewogen werden (vgl. Drommler & Kuck 2013). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die »Naturreferenz« (Seehaus 2014, S. 61) von Elternschaft als unsachgemäß kritisiert wird (vgl. ebd.). Normen und Werte können strategisch eingesetzt werden, »um positive oder negative Folgen bestimmter Handlungen als Bekräftigung oder Widerlegung der Richtigkeit der Politik zu verwenden, die mit diesen Handlungen verfolgt wird« (Kienpointer 1992, S. 352). Hierbei kommt es zunächst weniger auf den Realitätsgehalt der verbreiteten Wissensbestände an, denn gerade Klatsch kann als »bedeutsamer Indikator von Macht« (Ernst 1999, S. 67) und Instrument sozialer Kontrolle fungieren, in dem er ähnlich wie die sprachliche Generierung des ›Wir‹ der Bildung und Stärkung einer Gemeinschaftsidentität und der Distinktion des Fremden dient. Seit jeher ist Klatsch und Tratsch in der Öffentlichkeit ein wichtiges Instrument zur Absicherung, aber auch zum Sturz von Macht- und Statuspositionen (vgl. Imhof 2000, S. 58f.), das keiner Autorisierung bedarf, sondern im Rahmen bestimmter Beziehungsgeflechte jederzeit eingesetzt werden kann. Abstraktionen werden so thematisierbar, stellen aber gleichzeitig immer auch ein Symbol der Ungewissheit dar (vgl. Krüger 2014, S. 404). Vor allem Emotionen wie Angst und Mitgefühl können hervorragend eingesetzt werden, um bestimmte Praktiken und Maßnahmen auch entgegen wissenschaftlicher Expertise durchzusetzen. Gleichzeitig können sich die politischen Sprecher selbst als Kämpfer gegen Kindeswohlgefährdung

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

empfehlen und damit Machtverhältnisse demonstrieren, legitimieren und stabilisieren: »In Zeiten abnehmender Möglichkeiten und Bereitschaft, soziale Probleme wohlfahrtsstaatlich zu bearbeiten, werde es insbesondere für Regierungen attraktiv, sich als Kämpfer gegen die Kriminalität zu empfehlen« (Peters 2015, S. 142). Bereits Parkin (1979) betonte, dass politische Akteure den Zugang zu Ressourcen oftmals monopolisieren, indem sie die Bewältigungsstrategien so entwerfen, dass möglichst nur sie selbst die geforderten Kriterien erfüllen können (vgl. S. 44ff.): »Dafür sind wir Politiker verantwortlich« (taz 21.04.2007). Genutzt werde diese Strategie insbesondere von politischen Gruppen, die sich durch eine eher revolutionäre politische Haltung auszeichnen. Ihr gelten Fälle wie ›Kevin‹ als Anzeichen einer grundlegenden familialen Fehlentwicklung, die nur durch radikale strukturelle Veränderungen seitens des Staates behoben und der nicht mit einer ausschließlich aktivierenden Unterstützung des krisenhaften Familiensystems begegnet werden könne (vgl. Kaufmann 1999). Hierbei kann auch die Reaktivierung von Erinnerungskulturen und die Sensibilisierung für Folgen verschiedener historischer Systeme, wie z.B. der NS-Zeit oder des DDR-Regimes, in deren Verknüpfung mit Fällen wie ›Kevin‹ als Form der »legitimatorischen Verwertung der Vergangenheit zur Stabilisierung und Absicherung der gegenwärtigen politischen, ökonomischen und technologischen Machtstrukturen« (Ebach 1988, S. 103) angesehen werden. Insbesondere in einer Positionierung als Moralisten sind politische Sprecher jedoch nicht verpflichtet, konkrete innovative Verbesserungsvorschläge einzubringen (vgl. Fegert et al. 2010, S. 19). Die eigene Position kann auch bereits durch die bloße Zurückweisung von Gegenstimmen und Alternativdeutungen hervorgehoben und Kritik und Zweifel daran ausgeblendet und entkräftet werden (vgl. Spieß 2012). Gerade die Metaphorik des ›Wegsehens‹ und ›Verdeckens‹ lässt sich in diesem Kontext, ähnlich wie das Schweigen, als Variante des Selbstschutzes oder als Fluchtversuch aus der Eigenverantwortung von Akteuren deuten, um nicht denunziert und diskreditiert zu werden. Gleichzeitig kann ein solches Verhalten aber auch als Schuldeingeständnis und Indiz für Scham gewertet werden bzw. einen Verweis auf die Unaussprechlichkeit der Ereignisse darstellen (vgl. Fechtner 2013; Hahn 2014). Die diskursive Zuweisung einer staatlichen Hilfepflicht erschwert es den politischen Akteuren zwar, Verantwortung für Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ zurückzuweisen, die Aufrechterhaltung familialer Schutz- und Schonräume sowie die Herausbildung autonomer familialer Bildungs- und Lernwelten legitimieren jedoch z.B. eine zurückhaltende Position, in der die politischen Akteure nur in sehr begrenztem und indirektem Umfang tätig werden müssen. Die Zurückweisung von Problemen und Deutungen kann daher ebenso wie die Figur des ›Sündenbocks‹ nicht nur der Reduzierung von Störungspotenzial, sondern auch der Entlastung politischer Akteure und Akteursgruppen dienen (vgl. Abels 2009, S. 237; Patschke 2016, S. 126ff.). Für die Nutzung von Systemkritik als Immunisierungsstrategie ist es keine Voraussetzung, sich als handlungsmächtiges Subjekt zu präsentieren oder zu postulieren, dass ›Katastrophen‹ wie der Fall ›Kevin‹ auch künftig mit hoher Wahrscheinlichkeit gehäuft eintreten. Vielmehr kann deren Auftreten auch bagatellisiert bzw. als geringes Risiko eingestuft werden – als »ein klares Bekenntnis, dass all unser politisches Tun von Voraussetzungen abhängt, die wir selbst gar nicht in der Hand haben« (Focus 04/2007):

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»Gerade die Unwahrscheinlichkeit des Auftretens eines gravierenden Schadensfalls scheint als ›Beleg‹ für die Kompetenz derjenigen Akteure zu fungieren, die mit der Verhinderung des Schadens beauftragt sind: Wenn nichts passiert, sind sie erfolgreich. Und um erfolgreich zu bleiben, machen es sehr unwahrscheinliche Ereignisse in besonderer Weise notwendig, frühzeitig selbst unscheinbare Indizien ernst zunehmen […]. Wie klein auch immer ein Anzeichen für eine Katastrophe ist: Wenn es übersehen wird, kann dies ihr Auftreten ermöglichen. Bedrohungslagen werden damit paradoxerweise umfassend ernst genommen und zugleich entwertet: Sie werden als dramatisches Ereignis inszeniert, aber sie werden in die Beachtung unscheinbarer Anomalitäten aufgelöst« (Dollinger & Schmidt-Semisch 2016, S. 7). Besonders erfolgreich sind diese Strategien dann, »wenn der medialen Öffentlichkeit und den staatlichen Gremien klar gemacht wird, dass die inkriminierten Handlungen oder Zustände gesellschaftlich inakzeptabel sind« (Schetsche 2000, S. 115) und Fälle wie ›Kevin‹ Störungen darstellen, die mittels (Wieder-)Herstellung einer sozialen Ordnung gelöst werden können. Das bedeutet, dass diese Fälle »sowohl ein Problem in der Gesellschaft repräsentieren als auch einen Wertewandel in Bezug auf soziale Systeme markieren« (FAZ 17.11.2012). Die Sprecher verkörpern angesichts dieser Gefahren eine »Quelle generalisierten Vertrauens« (Hirtenlehner et al. 2012, S. 192), die im Kontrast zu den vermeintlichen Tendenzen erodierender sozialer und gesellschaftlicher Systeme zu stehen scheint. Dies »nährt sowohl das grundsätzliche Vertrauen in die Stabilität und Verlässlichkeit des politisch-institutionellen Gefüges einer Gesellschaft als auch das allgemeine Vertrauen in die Integrität, der in den öffentlichen Räumen anzutreffenden Menschen […]. Wenn der Glauben der Bürger an die Leistungsfähigkeit von Regierung, Staat und Politik intakt ist, sehen sich politische Entscheidungsträger keiner Legitimationskrise ausgesetzt und verspüren in der Konsequenz auch wenig Drang, über eine symbolische Bestrafungspolitik das Image zu heben« (ebd.). Zur Immunisierung politischer Verantwortlichkeit lässt sich nicht zuletzt auch die strategische Aktivierung von Akteuren zählen, bei der die ernannten Sündenböcke nicht nur bestimmt und moralisch bewertet, sondern auch mobilisiert werden. Vor allem wenn ›Erziehungsinkompetenzen‹ nicht in erster Linie mit wohlfahrtsstaatlichen Leistungen begegnet wird, sondern diese in die Notwendigkeit eines effizienten innerfamilialen Kompetenzausbaus verschoben werden, können »aus den zuvor als bloßen Adressaten oder Steuerungsobjekten gedachten EmpfängerInnen von Bildungsleistungen tätige Mitwirkende« (Brüsemeister 2007, S. 629) werden. Es lässt sich an dieser Stelle auch von einer systematischen Unterschlagung der eigenen Rolle sprechen, die als politisches Programm sehr stark von neoliberalen Narrationen und Ideologien geprägt ist und häufig als ordnungspolitische Transformation des aktiven Sozialstaates zu einem aktivierenden Sozialstaat gedeutet wird, wodurch der Wohlfahrtsstaat, nicht zuletzt auch unter dem Verweis auf knappe ökonomische Ressourcen (vgl. Kap. III, 3.1.1), ein Stück weit aus der Verantwortung entlassen wird. Symbolisch übernimmt der Staat als ›Wir‹ zwar die Verantwortung für das ›Kindeswohl‹, erwartet hierfür aber »die Zustimmung, Anerkennung und letztlich auch die Unterwerfung der Hilfeempfänger unter

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seine Staatsziele und Staatszwecke« (Schetsche 2014, S. 157). Jene Narrationen können daher auch als Anti-Wohlfahrtstopos bezeichnet werden (vgl. Oelkers 2009, S. 141), der durch eine »Privatisierung von Sicherheitsaufgaben« (Bogner 2012, S. 98) bzw. eine »Rückführung politischer Verantwortung auf die Ebene der persönlichen Verantwortung« (Brandhorst 2015, S. 365) gekennzeichnet ist. Eines solchen Vokabulars bedienen sich auch zahlreiche Sprecher diverser politisch relevanter Kontextmaterialien. So betont z.B. der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen (2005), dass sich eine schwierige soziale und materielle Lebenslage von Familien »negativ auf die Qualität ihrer Erziehung und das Leistungspotenzial der familialen Beziehungen« auswirke (S. 12), fordert aber vordergründig keine Etablierung von Maßnahmen zur Verbesserung solcher Lagen, sondern eine Aktivierung und Professionalisierung von Eltern. Dabei operiert er mit einem standardisierten, ökonomischen Begriffsrepertoire: So solle man z.B. »Begabungsreserven« aus den unteren Schichten nutzen und »optimal« nutzbar machen (ebd.). Die »Koalition entdeckt die Unterschicht« (Der Spiegel Online 16.10.2006b; vgl. auch Kap. IV, 2.3.1). Mit Weiß (2010) drängt sich insgesamt der Verdacht auf, dass generell jegliche Form der Kategorisierung von Akteuren und Lebenswelten unhinterfragt als »Legitimationsfundament für sozial folgenreiche Entscheidungen« fungieren kann, die »durch suggestive Problemverheißungen gegen Kritik immunisiert [werden] und spezifische Machtund Partialinteressen administrativ« (S. 28f.) durchzusetzen vermögen. Christie und Bruun (1991) zufolge ist in diesem Zusammenhang auch auf die Figur des »nützlichen Feindes« zu verweisen, die den politischen Sprechern – unabhängig von ihrer Werteorientierung und Zielsetzung – zunächst zur »Ablenkung der Massen« (Lewin 1968, S. 225) von Missständen dienen kann, die sie oder andere zu verantworten haben. Indem politische Sprecher sich im Rahmen von Verantwortungszuschreibungen häufig verschiedener Emotionalisierungsstrategien bedienen und sich dabei zudem sehr stark auf das ›Wohl des Kindes‹ berufen bzw. mit dem Leid der Kinder in Beziehung setzen, »impliziert es eine Disposition, dieses Leiden unmittelbar zu lindern, ohne dabei jedoch die weiteren Kontexte ins Auge zu nehmen und vor allem zum Objekt von Emotionen zu machen« (Kleres 2015, S. 271). Der Skandal ermöglicht es, die Aufmerksamkeit auch hier zunächst auf andere Personen oder Begebenheiten zu verlagern und dadurch einer Problematisierung oder Gefährdung des Verschleierten entgegenzuwirken (vgl. Abels 2009, S. 261ff.). Dies birgt mit Fechtner (2013) nicht unerhebliche Gefahren, denn wenn nach der ersten Reaktion die »Verantwortung für das Geschehene von Beteiligten nicht übernommen wird oder nicht übernommen werden konnte, wächst die emotionale Gewalt der Schuldvorwürfe« (S. 228) und kann in der Sackgasse einer Entmündigung und Denunzierung von Familien münden, bei der die »bisher öffentliche Sorge in die intimen Zonen des familialen Nahraums zurückverlagert wird, der damit zugleich de-intimisiert wird« (Baader et al. S. 14). Ein solcher Wandel vom ›sorgenden‹ zum ›gewährleistenden Staat‹ stärkt das Wächteramt des Staates und entlässt zugleich politische Sprecher aus ihrer Verantwortung als Garant für familiales Wohlergehen (Vogel 2009, S. 80ff.). Mit Foucault (1993a [1975]) können Fälle wie ›Kevin‹ somit insgesamt als eine »nützliche Gesetzwidrigkeit« (S. 357) für die politische Agenda erachtet werden, um ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext des Kinderschutzes als politisches Thema zu be-

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nennen und entweder »stärkere staatliche Interventionen« (taz 28.10.2006b), aktivierende Maßnahmen oder einen Rückzug der öffentlichen Hand zu fordern, wobei die daraus hervorgehenden Ordnungsstrukturen dann als Steuerungsinstrument und Querverbindung auch in anderen Politikfeldern thematisiert und popularisiert werden können.

3.3. 3.3.1.

Expertenkulturen als ›Problemnutzer‹ und temporäre Innovationszentren Die interdisziplinäre Expertenkulturen des Diskursensembles

Die ›Expertenkulturen‹ des massenmedialen Diskurses um familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ in Fällen wie ›Kevin‹ bilden ein interdisziplinäres Feld, das dementsprechend aus unterschiedlichen professionellen Wissenshorizonten heraus argumentiert und unterschiedliche Maßnahmen und Praktiken zugunsten einer ›kindeswohlorientierten‹ Erziehung und eines wirksamen Kinderschutzes als angemessen vorschlägt. Hierbei handelt es sich z.B. um Juristen, Rechtsmediziner und Akteure des Gesundheitswesens wie z.B. Familienhebammen, die neben Medizinern einen zentralen Bestandteil des Diskursensembles darstellen (vgl. Patschke 2016, S. 30f.). Während Experten aus dem Bereich des Gesundheitswesens tendenziell die Bedeutung von Früherkennungsund Interventionsmaßnahmen in den Bereichen Kindesentwicklung und Familienförderung unterstreichen, betonen juristische Sprecher verstärkt die hohe Relevanz eindeutiger gesetzlicher Regelungen im Kinderschutz und in der Zusammenarbeit mit Familien. Diskursiven Einfluss erhalten diese Akteure dann nicht nur über wissenschaftliche Expertise, sondern auch über die Praxis, wo sie an der Peripherie des Kinderschutzdiskurses in erster Linie im Ensemble der ›Sicherheitsakteure‹ als ›Diagnoselieferanten‹ und ›Alarmmelder‹ auftreten (vgl. Bode & Turba 2014, S. 80). Im Fall ›Kevin‹ z.B. »beschlossen die Mediziner, dass solchen Eltern kein Kind anvertraut werden dürfe« (Die Zeit 25/2008). Wie Becker (2006) im Hinblick auf die Ratgeberliteratur zur frühen Kindheit im Allgemeinen darlegen konnte, zeigen sich auch im Kontext der Debatten um familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ in Fällen wie ›Kevin‹ vor allem neurowissenschaftliche Darstellungen als sehr durchsetzungsstark. Sie aktivieren »eine frühkindlich-deterministische Auffassung« und betonen die Konsequenz daraus, dass Familien und Kinder »künftig wesentlich früher und nachhaltiger gefördert werden« (S. 84) müssten. Hier scheint sich eine aufstrebende Bedeutung medizinischnaturwissenschaftlich orientierter Professionen zu offenbaren. Darüber hinaus bilden Vertreter der Sozialwissenschaften, insbesondere der Sozialpädagogik und sozialen Arbeit, einen wesentlichen Teil der medienöffentlichen Expertenkultur um den Fall ›Kevin‹ und weitere Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Für sie stellen familiale ›Erziehungsinkompetenzen‹ und ›Kindeswohlgefährdungen‹ sowie darauf bezogene Interventionsfelder ein »Kerngeschäft« (vgl. Bode & Turba 2014, S. 29) dar. Seit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes handelt es sich bei den erzieherischen Hilfen um das zweitgrößte Tätigkeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe nach der Kindertagesbetreuung, wobei sich die Angebote in den vergangenen Jahren nicht nur deutlich ausdifferenziert haben, sondern sich auch eine deutliche »Ambulantisierung« der Hilfen sowie einer stärkeren Fokussierung

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auf Frühe Hilfen abzeichnet (Richter 2018).20 Mit Hermanns und Hille (1987) lässt sich daher trotz der Tragik der Ereignisse im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ gleichzeitig von einer »Sternstunde für die Sozialpädagogik« (S. 125) sprechen: »Je mehr Defizite der Familie angelastet werden, umso größer erscheint die Hilfsbedürftigkeit der Familie, umso mehr scheint das Kindeswohl gefährdet und umso intensiver ist das politische Verlangen nach Ergänzungs- und Ersatzfunktionen und -institutionen der Familie« (ebd.). Während Familien mit kategorisierenden Zuschreibungen zu kämpfen haben (vgl. Kap. IV, 2), können Experten gerade unter Bezugnahme auf jene kategorisierenden Akte ihre Arbeit in bestimmten familialen Settings und mit bestimmten Personengruppen legitimieren (vgl. Herzog 2013).21 Vor allem in ihrer Positionierung als Dienstleister hat die Pädagogik ein starkes Eigeninteresse an hilfsbedürftigen Personen und operiert gleichzeitig auch nach ökonomischen Kriterien des Angebotes und der Nachfrage, die durch den Staat geregelt werden: »Die Pädagogik macht ihr (gesetzlich fixiertes) Angebot an Hilfen dort, wo nach eigener Interpretation ein spezifischer Notstand vorliegt. Je randständiger die Klientel, desto zentraler das pädagogische Selbstverständnis. ›Bedürfnisse‹ und ›Erfordernisse‹ bilden den Markt der Pädagogik. Sie muss immer neue Marktlücken aufspüren, um sich dort als unentbehrliche Anbieterin behaupten zu können, Pädagogen werden daher daran interessiert sein, dass die hilfsbedürftige Klientel nicht schmilzt, sondern wächst« (Kupffer 2000, S. 122f.). Aus der Sicherung des Kindeswohls mittels familienersetzender und -ergänzender Institutionen und Angebote ergibt sich somit nicht zuletzt deren Legitimation und Existenzgrundlage. Insofern haben Fälle wie ›Kevin‹ eine hohe Bedeutung für die eigene Profession. Durch gezieltes Agenda-Setting können diese Expertenkulturen gleichzeitig aber auch Handlungsdruck auf politische Akteure erzeugen und Veränderungen hervorrufen. Hierauf verweisen nicht nur einschlägige Studien (vgl. z.B. Leggewie 2006; Neidhardt 2006), vielmehr zeigt es sich auch in der wissenschaftlichen Expertise des Untersuchungsausschusses im Fall ›Kevin‹, der Einführung Früher Hilfen oder den Debatten und Entwürfen zum Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG). Angemahnt wird von Sprechern dieses Spezialdiskurses auffällig häufig die finanzielle Situation der Kinder- und Jugendhilfe, die als wesentliche Voraussetzung für den Erhalt bzw. die (Wieder-)Herstellung familialer ›Erziehungskompetenzen‹ und einen funktionierenden Kinderschutz erachtet wird. So resümiert z.B. Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, an mehreren Stellen:

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Richter (2018) fasst hierunter eine Entwicklung hin zu »einer – nicht immer fachlich begründbaren – Bevorzugung von ambulanten gegenüber stationären Erziehungshilfen« (S. 831) in der Kinder- und Jugendhilfe. Heimerdinger (2017) konnte anhand des wissenschaftlichen Stilldiskurses nachweisen, dass insbesondere kultur- und sozialwissenschaftliche Sprecher hierbei nicht nur häufig klassifizierende Akte des Ordnens vornehmen, sondern bestimmte Praktiken, Eigenschaften und Verhaltensweisen auch als ›natürlich gegeben‹ begründen (vgl. S. 127f.). Ähnliche Naturalisierungstendenzen zeigen sich auch bei Ärzten als beliebte, weil schwer widerlegbare Argumentationsgrundlage im Umgang mit Müttern und Kindern (ebd., S. 134f.).

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»Offen ist noch, ob die jetzt so vieldiskutierten Politpläne überhaupt greifen, wenn sie auf der anderen Seite von Einsparungen in den Kommunen konterkariert werden. Berlin etwa, die Hauptstadt gemeldeter Kindesmisshandlungen, schraubte seine Ausgaben für Jugendhilfe drastisch zurück. Zusätzliche Betreuer, die sich Problemfamilien widmen, sind so nicht finanzierbar. Dies sieht Hilgers auch als Manko der Von-der-Leyen-Pläne: ›Ich finde es ja gut, wenn die Familienministerin zusätzliche 10 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Aber das ist viel zu wenig für die Größe der Aufgabe‹« (taz 19.10.2006). »Im Juli 2005 sollen sich 52 Jugendliche in einer Bearbeitungsschleife befunden haben, im September sollen es bereits über 90 Jugendliche gewesen sein. Gleichzeitig sind Wohneinrichtungen für Jugendliche in Bremen nicht belegt […]. Sollte sich kurzfristig an der Belegungspraxis des Amtes nichts ändern, werden einige Einrichtungen schließen müssen. Demnach gilt in Bremen die Praxis, Kinder aus finanziellen Gründen in Pflegefamilien zu geben und nicht in ein womöglich geeigneteres, aber teureres Heim« (SZ 21.10.2006b). »[W]as nützen die besten Gesetze, wenn die Angst vor dem Kostenanstieg und der Legitimationsdruck in Jugendämtern die Frage nach dem Kindeswohl im Einzelfall in den Hintergrund drängen?« (FAZ 25.10.2006b) »Es muss mehr Geld in die Jugendämter fließen« (Die Welt 18.12.2006), denn »Jugendhilfe kann, jenseits aller Konzepte, nur funktionieren, wenn Geld da ist« (SZ 16.10.2006). Hilgers Schlussfolgerung, »besser wäre es, Leute einzustellen, die vor Ort helfen« (Der Spiegel 49/2006), kann hierbei auch als Empfehlung der eigenen Disziplin erachtet werden. Georg Ehrmann, Vorsitzender der Deutschen Kinderhilfe, argumentiert ähnlich wie Hilgers in Richtung einer hierfür nötigen Bereitstellung finanzieller Mittel, insbesondere im Hinblick auf personelle Ressourcen der Jugendämter: So sei »die aufsuchende Jugendhilfe nahezu vollständig abgebaut. Der öffentliche Kinder- und Jugendgesundheitsdienst vielerorts gekürzt oder ganz abgeschafft« (Der Spiegel 48/2007). »Ehrmann kritisierte, die Probleme der Familien, in denen Gewalt gegen Kinder an der Tagesordnung sei, könnten mit dem derzeitigen Jugendhilfesystem nicht gelöst werden. Dringend nötig sei eine Stärkung der Jugendämter« (Die Welt 16.12.2006). Und auch der Kinder- und Jugendpsychiater Fegert betont die Notwendigkeit, finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, um umfassende Maßnahmen einleiten zu können: »Das ist teurer als der populistische Aufschrei über den skandalösen Einzelfall. Angesichts der Dimension von Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch muss die staatliche Gemeinschaft diese Daueraufgabe angehen. Wenn in dieser Legislaturperiode Kinderrechte in die Verfassung eingeführt werden sollen, dann kann das nicht nur eine beruhigende symbolische Geste sein« (FAZ 10.07.2018). Diese Forderungen werden im Bericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses ›Kindeswohl‹ eher konterkariert, indem sie dort lediglich als Randfaktoren benannt werden, während hauptsächlich auf das Problem einer unzureichenden Qualifizierung des Personals im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe sowie dürftige Verfahrensvorgaben und ein mangelhaftes Controlling verwiesen wird (Bremische Bürgerschaft 2007, S. 323ff.). Im Rahmen der »Sicherstellung eines Kontrollsystems zum Schutze der Kinder und Jugendlichen« (ebd. S. 327) sei zudem »eine vertiefte Kooperation mit anderen am Jugendhilfesystem unmittelbar oder mittelbar beteiligten Personen und Institu-

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tionen sicher zu stellen« (ebd.). Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte als Teil der unmittelbar oder mittelbar Beteiligten drängt in eine ähnliche Richtung: »Die Politik müsse Worten endlich Taten folgen lassen und Netzwerke zur Frühprävention knüpfen, damit Risikofamilien auch mit Hilfe von Medizinern rechtzeitig ermittelt werden könnten« (Die Welt 17.10.2006). Tsokos, der Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts der Berliner Charité, fordert »in allen größeren Städten forensische Ambulanzen, die auf entsprechende Fälle vorbereitet wären. Er ist überzeugt, Spezialisten seines Fachs könnten mehr als die Hälfte aller Gewalttaten nachweisen« (Der Spiegel 51/2007). »Ist das Opfer tot, schlägt die Stunde der Gerichtsmedizin« (Die Zeit 25/2008). Innerhalb der Rechtswissenschaften wird aber auch »der Ruf nach einer Neuregelung und damit einer zeitgemäßen Interpretation des Kindeswohls« (Der Spiegel 33/2014) lauter: »›Jugendämter haben keine wirksamen Instrumente zur schnellen Hilfe für Kinder zur Verfügung, wenn erziehungsungeeignete Eltern Hilfsangebote ablehnen‹, sagte Richter Gerhard Henss« (Der Spiegel 49/2006). »Was bedeutet Gefährdung des Kindeswohls? Das lässt sich ja nicht wie mit einem Fieberthermometer messen«, so Reinhard Wiesner, Rechtswissenschaftler (SZ 14.12.2015). Ähnlich wie in den Aussagen der Vertreter anderer Disziplinen werden somit auch von den medizinischen und juristischen Disziplinen in erster Linie die eigenen ›Kompetenzen‹ im Hinblick auf die Lösung des Problems hervorgehoben. Zugleich wird aber mitunter die Verantwortlichkeit für die tatsächliche Effektivität der gewählten Bewältigungsformen relativiert: »Die Debatte greife zu kurz, kritisiert Wolfgang Hartmann, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. ›Wir akzeptieren und unterstützen mehr Verbindlichkeit bei den Vorsorgeuntersuchungen, warnen jedoch auch vor zu hohen Erwartungen […]. Wir möchten Probleme lösen, aber Sozialarbeiter sind wir nicht‹« (Focus 50/2007).

3.3.2.

Experten(koalitionen) als zentrale Problemkonstrukteure und diskursive Motoren

Da den Expertenkulturen vor allem dann eine entscheidende Rolle zukommt, wenn es gilt, die Gefahren und Risiken familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Hinblick auf das ›Kindeswohl‹ einzuschätzen, können sie nicht nur als ›Problemnutzer‹ bereits ausgewiesener Sachverhalte erachtet werden, sondern auch als zentrale Konstrukteure des zugrundeliegenden Problems. Bereits die Einordnung und Einschätzung von Familien, ihrer ›Erziehungskompetenzen‹ und des ›Kindeswohls‹ beziehen sich auf Wissensbestände und normative Ordnungen, die »festlegen, was jeweils als gewöhnlich und außergewöhnlich, zulässig und unzulässig, achtenswert und verachtenswert gilt« (Scherr 2006, S. 144f.). Insofern verletzt bereits jede Form von Expertise »den Gleichheitsanspruch demokratisch verfasster Gesellschaft, da eine Öffentlichkeit des Wissens einerseits und eine privilegierte Teilhabe andererseits sich wechselseitig ausschließen« (Schützeichel 2007, S. 570). Insbesondere dem weiten Feld der Sozialwissenschaften kommt als Definitionsinstanz eine gesellschaftspolitische Schlüsselrolle zu. Historisch gesehen hat vor allem die soziale Arbeit nie existiert »ohne Kämpfe und Konflikte um die legitime Deutung sozialer Wirklichkeit« (Dollinger 2010, S. 108). Sie wird zum Konstrukteur von ›Normalität‹ und ›guter Elternschaft‹, wodurch sie entsprechende Kompetenzen nicht nur feststellen oder beurteilen kann, sondern auch aktiv in die Bearbeitung der daraus resultierenden Folgen eingebunden ist (vgl. Zinnecker 2000, S. 51).

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»Insofern beschreibt der Begriff der sozialen Konstruktion nicht nur eine Welt und deren kommunikative Beschaffenheit, sondern die weitere kommunikative Konstruktion der Welt wird dadurch beschleunigt. Insofern sind die Wissenschaftler nie nur die, die beschreiben. Sie arbeiten auch aktiv an der Welt mit« (Winkler 2006, S. 65). Sie formen so sowohl den »Einschränkungs- als auch [den] Ermöglichungskontext« (Scherr 2006, S. 145) sozialer Probleme für unterschiedliche Zielgruppen, deren Deutungen den massenmedialen Diskurs und die soziale Praxis entscheidend beeinflussen: »Auch wenn die Soziale Arbeit nicht alleine darüber bestimmt, was gesellschaftlich als ein Risiko eingestuft und ob dieses neutral oder negativ eingeschätzt wird, so hat sie doch auch Deutungsmacht in Bezug auf Risiken: nicht nur, wie sie Risiken einschätzt, sondern auch indem sie Risikoverhalten definiert und daraus ihren Umgang mit Risiken speist […]. [Das Risikoverständnis] bestimmt mit darüber, was Menschen zugemutet und zugetraut werden kann, wovor man sie bewahren und beschützen muss« (Lindenau & Kressig 2015, S. 94). Auch Gildemeister (1992) konstatierte bereits lange vor dem Fall ›Kevin‹, dass sich die Disziplin »zu einer Instanz [entwickelt habe], die selber in den Konstruktionsprozess gesellschaftlicher Wirklichkeit eingreife« (S. 131). Akteure sozialer Arbeit prägen nicht nur das vorherrschende Verständnis von ›Erziehungskompetenz‹, sondern erschaffen dann als »zentrale Agenten sozialer Kontrolle« (Schierz 2013, S. 35) auch Grenzen und Möglichkeiten der Kompetenzentwicklung und des Kinderschutzes. Die Normproblematik ist ihr immanent (vgl. Heitger 1985: S. 111) und wird immer dann bedeutsam, »wenn es zu einer Widersprüchlichkeit zwischen Individuum und Gesellschaft hinsichtlich des Einhaltens gesellschaftlich anerkannter Normen kommt. Wo die gesellschaftlichen Spannungen aufgrund einer Ungleichheit zwischen postulierten Zielen und gesellschaftlich anerkannten Mitteln zur Erreichung nicht mehr sozialpolitisch bearbeitet werden können, kommt die Sozialpädagogik und Sozialarbeit zum Einsatz« (Studer 2015, S. 105). Dass deren Auslegungen jedoch ebenfalls mitunter stark divergieren, zeigt sich unter anderem in regionalen und lokalen Unterschieden von Praktiken und Artefakten in der Familienarbeit und dem Kinderschutz. So konstruiert z.B. jedes Bundesland unter Berufung auf bestimmte ›Experten‹ und regionale Mentalitätsmuster seine ›Problemgruppen‹ selbst: »In Baden-Württemberg wendet sich das Projekt vor allem an junge und psychisch kranke Mütter, Rheinland-Pfalz kümmert sich um junge Mütter« (Die Welt 04.11.2006a). Um eine bestimmte Deutung durchzusetzen, muss ein Sprecher glaubhaft sein. Somit ist davon auszugehen, dass die meisten Diskursstrategien nicht ohne wissenschaftliche Expertise und entsprechende Deutungsangebote funktionieren (vgl. Brüchert 2008). Da vor allem journalistische und politische Sprecher oftmals nicht selbst über eine ausgewiesene Expertise verfügen, unterlegen sie ihre Ansichten umgekehrt mit empirischen oder erfahrungsbasierten Zitaten verschiedener ›Experten‹ oder berufen sich auf renommierte, auf diesem Gebiet ausgewiesene Spezialisten wie z.B. »Familienexperten« (z.B. Die Welt 17.06.2009; taz 28.10.2006b), »Rechtsexperten« (Der Spiegel 33/2014), »Sozialexperten« (Focus 50/2007), »Gesundheitsexperten« (taz 20.12.2010) oder nicht näher bestimmte »Experten« (z.B. Der Spiegel 49/2006; Die Welt 10.05.2007) bzw. »Expertengruppen« (Die Welt 12.07.2007), was sie zu »Katalysatoren zur Öffent-

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lichkeitswirksamkeit wissenschaftlicher Forschung« (Brüchert 2008, S. 370) macht. Das Vorgehen politischer Sprecherkollektive ist somit nicht als autonome Praxis zu verstehen, sondern gründet immer auf kollektiv gültigen Wissensbeständen, wissenschaftlicher Expertise, Erfahrungen sozialer Praxis sowie sozialpolitischen Praktiken, was die wechselseitige Abhängigkeit der Sprecher in der Legitimierung ihres jeweiligen Handelns verdeutlicht und Koalitionen erforderlich macht. Habermas (1987) begründet dieses Bündnis kommunikationstheoretisch: »Legitime Macht entsteht nur unter denen, die in zwangloser Kommunikation gemeinsame Überzeugungen bilden« (S. 243). Dementsprechend zeigt sich eine Vielzahl temporärer Zusammenschlüsse aus politischen und wissenschaftlichen Akteure, insbesondere im Rahmen der Konzeption und Durchführung verschiedener Maßnahmen und Projekte im Bereich des Kinderschutzes sowie der Arbeit mit Familien, die aber auch jederzeit gestoppt werden können, wenn die Erkenntnisse nicht mehr nützlich oder deckungsgleich mit den Interessen der entsprechenden Stakeholder sind. Tendenzen hierfür zeigen sich nicht erst in der Initiierung von Modellprojekten oder der Entwicklung anderer kooperativer Initiativen, Maßnahmen und Ausschüssen, die in den letzten Jahren im Rahmen des Kinderschutzes entstanden sind (vgl. Kap. III, 1.4 & 3.4), sondern zeichnen sich bereits in den 1960er Jahren in der Einführung der Familienberichte ab und haben seither zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz erfahren (vgl. Kuller 2004, S. 341).22 Eine solche Kopplung interdisziplinärer Wissensbestände und Praktiken wird neben den Familienberichten auch in weiteren Kontextmaterialien mit unterschiedlichen Schwerpunkt- und Zielsetzungen deutlich. Zu nennen wären hier z.B. die gemeinsame Trägerschaft des NZFH (Frühe Hilfen) durch Wissenschaftsvertreter (DJI) und Politik (BZgA) oder der parlamentarische Untersuchungsausschuss (PU) im ›Fall Kevin‹ (vgl. auch Patschke 2016, S. 30). Die Diffusion interdisziplinärer Wissensbestände »steckt den anerkannten Spielraum für die Formulierung neuer Sätze ab und legt eine Art Wahrheitskorridor der ›richtigen‹ Gegenstände, der anwendbaren Methoden, der grundlegenden Sätze, der Definitionen und Regeln fest« (Ruoff 2007, S. 223). Dies zeigt sich auch z.B. im Hinblick auf Inhalt, Art und Umfang der Früherkennungsuntersuchungen, die zunächst durch die Länder und seit 2015 durch den gemeinsamen Bundesausschusses festgelegt werden (vgl. § 26 Abs. 2 SGB V). Hierbei kommt neben sozialwissenschaftlichen und politisch-juristischen Sprechern auch Medizinern eine nicht unerhebliche Rolle in der Konstruktion von ›Risikokindern‹ und ›Risiko- und Problemfamilien‹ zu, was verdeutlicht, »wie pädagogische Wissens- und Sinnformen in pädagogikfernen bzw. nicht-professionellen Kontexten streuen und sich dort erfolgreich etablieren« (Kelle 2010, S. 28) kann. In der zumeist unterkomplexen, oftmals generalisierten Darstellung der Medien, der Politik und der Experten werden solche Koalitionen sowie damit einhergehende Unterschiede und Hierarchien in den Machtverhältnissen der Sprecher, die sich alle ein breites Tätigkeitsfeld sichern möchten, jedoch verschleiert. Dies betrifft nicht nur die

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Die Familienberichte gehen zurück auf einen Beschluss des Deutschen Bundestages im Jahr 1965, mit dem die Bundesregierung verpflichtet wurde, in regelmäßigen Abständen Berichte zur Lage der Familien in Deutschland erstellen zu lassen. Mit der Berichterstellung soll jeweils eine unabhängige wissenschaftliche Kommission beauftragt werden. Der jeweilige Bericht wird dann zusammen mit der Stellungnahme der Bundesregierung veröffentlicht (vgl. Resch 2012).

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Wissenschaft, sondern auch die professionelle Praxis. Indem Vertreter der Kinder- und Jugendhilfe als kollektive Akteure inszeniert werden und diskursiv zumeist nicht zwischen staatlichen und privaten Trägern differenziert wird (vgl. Kap. III, 4.2.2), bleibt auch das Spannungsverhältnis in der wachsenden Konkurrenz der Anbieter ausgeblendet, das sich insbesondere seit der Auflösung des Subsidiaritätsprinzips ergeben hat (vgl. Liebig 2005, S. 174).

3.3.3.

Expertise als ›Aufmerksamkeitsgenerator‹ – Die Politisierung und Instrumentalisierung der Expertenkultur

›Expertenkulturen‹ treten im vorliegenden Korpus häufig nicht selbst als Sprecher diskursiv in Erscheinung, sondern werden von ›animators‹ (Goffman 1977) vertreten. Das heißt, ihre Expertise wird von Journalisten und Politkern genutzt, um sie in die eigene Argumentationslinie zu integrieren und damit deren Relevanz zu unterstreichen (vgl. Kap. IV, 3.3.2). Die Hinwendung zu rationalem, vermeintlich abgesichertem Wissen durch den Bezug auf Expertenwissen und Forschungsergebnisse kann hier als Strategie erachtet werden, die Glaubwürdigkeit von Deutungen zu erhöhen, denn ›harte Fakten‹ suggerieren Objektivität und werden mitunter auch als ein Kennzeichen von Problematisierungswissen verstanden (vgl. Poferl 2012). Entsprechend verweist ein Großteil der Artikel des vorliegenden Materialkorpus auf eine empirische Studie. Neidhardt (2004) verzeichnet in seiner Untersuchung zur Öffentlichkeitsarbeit von Institutionen der Wissenschaft insbesondere in Pressekommentaren der taz ein vergleichsweises hohes Vorkommen wissenschaftlicher Disziplinen. Dies kann auch im vorliegenden Korpus bestätigt werden. In fast allen der vorliegenden Artikel der taz tauchen entsprechende Verweise auf. Experten seien sich hierbei bezüglich Ursachen und erforderlicher Handlungsstrategien »einig« (taz 25.11.2007; taz 28.10.2006b), »fordern« (taz 18.12.2007) oder »bezweifeln« (taz 19.10.2006) diese, um den jeweiligen Geltungsanspruch der Aussage zu stützen und Positionen aus Politik und Medien abzusichern (vgl. Ottmers 1996, S. 110; Schetsche 2014, S. 224f.). Im Sinne der generellen Zielsetzungen journalistischer Tätigkeiten wird hierbei in der Regel vor allem auf den Neuigkeitswert, die Brisanz und die Aktualität der Daten verwiesen. Konkrete Quellen werden hingegen häufig nicht genannt oder es werden nur sehr allgemein gehaltene Angaben zu ihnen gemacht, wie z.B. eine Studie der »Universitätsklinik Ulm«, eine »Untersuchung der technischen Universität Berlin« (beide FAZ 26.05.2007). »Hier können Experten nur […] schätzen« (taz 28.10.2006b), oder aber die »Fachwelt teilt die Bedenken« (FAZ 20.02.2008). »Ohnehin weiß die Fachwelt […,] wie gravierend das Problem der Kindesmisshandlungen ist« (taz 19.10.2006). »Nach Expertenmeinung« (Die Welt 19.07.2008) oder »nach Ansicht vieler Familienverbände« (Die Welt 20.12.2007), heißt es nicht selten. Diese Reduktionen auf institutionelle Zugehörigkeiten oder Verweise auf Experten ohne Hinweis auf deren disziplinäre oder institutionelle Zugehörigkeit machen es häufig schwierig, einen direkten Personenbezug zu den Urhebern herzustellen. Im Gegensatz zu der sonst häufig verwendeten eher einfachen und saloppen bzw. bildhaften Wortwahl der Journalisten wird der Sprachkode mit Einführung eines Experten zumeist deutlich formaler und mit einzelnen Fach- und Fremdwörtern versehen (z.B. »Early Excellence Center«, taz 18.12.2006b; »institutional neglect«, FAZ 17.11.2012). Dies ver-

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mag den Expertenstatus nochmals zu untermauern und dem Rezipienten den Unterschied zwischen wissenschaftlicher Expertise und praxisnahen Alltagserfahrungen zu verdeutlichen. Gleichzeitig eröffnen die unterschiedlichen Sprachebenen aber auch die Möglichkeit, verschiedene Adressaten anzusprechen (vgl. Derksen 2014, S. 206f.). Eine Verstärkung der Glaubwürdigkeit kann aber auch mittels Modalität der Sprache erzeugt werden, d.h. mit einer Einstufung hinsichtlich der Gültigkeit des Wissens. Dies zeigt sich im vorliegenden Material z.B. in Form zahlreicher assertorischer Modalpraktiken, die den Wahrheitsanspruch erhöhen sollen (z.B. »wirklich viel erlebt«, Der Spiegel 51/2007). Dieser wird an manchen Stellen zudem durch evidenzbetonte assertorischer Modalpraktiken verstärkt, indem an geteilte Wissensbestände angeknüpft wird (z.B. »Kinder können offensichtlich«, taz 29.07.2009; »Ja. Sicher. Aber warum«, Die Zeit 51/2007a). Den angeführten Wissensbeständen wird mittels solcher Modalpraktiken Selbstverständlichkeit zugeschrieben und selbst individuelle Ansichten als ›offensichtlich‹ oder ›sicher‹ im Sinne allgemeiner Gültigkeit gezeichnet (vgl. Freitag 2013, S. 390ff.). Liebert (2003) zufolge tritt wissenschaftliches Wissen massenmedial vor allem dann in Erscheinung, wenn Veränderungen politisch implementiert werden sollen. Interessanterweise wird hierbei laut de Moll et al. (2014) seit einigen Jahrzehnten die öffentliche Aufmerksamkeit vieler Debatten, so z.B. um das Betreuungsgeld oder PISA, gar nicht mehr in erster Linie seitens der Wissenschaft und der sozialen Praxis, sondern von den Massenmedien ausgelöst. Diese importieren hierfür vor allem Erkenntnisse und Positionen aus Bereichen der sozialen Arbeit und Sozialpädagogik, denen als »Innovationszentren für den Diffusionsprozeß« (Cornelißen 1982, S. 59, Herv. i. O.) eine hohe Bedeutung zukommt und deren Inszenierung gekennzeichnet ist durch eine Welle professionellen Alarmschlagens: »Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, sprach von einer ›dramatischen Entwicklung‹« (Die Welt 14.07.2010b). »Jede Woche, so Angaben des Deutschen Kinderschutzbunds, sterben zwei bis drei Kinder ähnlich wie Kevin« (Die Welt 06.06.2008a). »Der deutsche Kinderschutzbund sieht deutsches Hilfssystem vor dem Kollaps« (Die Welt 18.12.2006). »Auch wenn Politiker gern von Einzelfällen reden und darauf verweisen, dass immer noch mehr Kinder bei Autounfällen ums Leben kommen als im Kinderzimmer: Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, schätzt das Dunkelfeld von Kindern, die in Familien mit Gegenständen geschlagen werden, auf jährlich 700 000« (Der Spiegel 51/2007). Es ist davon auszugehen, dass Expertenmeinungen vor allem unmittelbar nach bestimmten Ereignissen wie dem Fall ›Kevin‹ oder vor politischen Wahlereignissen häufig dazu verwendet werden, Veränderungen anzukündigen oder durchzusetzen. Jung (2014) konnte eine solche Instrumentalisierung disziplinären Wissens z.B. für den Bereich der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik skizzieren. Sie diene vor allem dazu, »die epistemische Autorität der Wissenschaft zu nutzen, um Reformen einzuleiten, für die es zu der Zeit keinen gesellschaftlichen Rückhalt gab« (S. 336). Ähnliches scheint sich auch in der Auslegung der Ergebnisse des interdisziplinären Untersuchungsausschusses anzudeuten. Der Ausschuss verortet die Ursachen für die Tragödie ›Kevin‹ vor allem in der Praxis der familialen Erziehung sowie den Aktivitäten der Kinder- und Ju-

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gendhilfe und nur randständig in fehlenden rechtlichen Grundlagen (vgl. Backer 2007; Bremische Bürgerschaft 2007). Dennoch besteht das wesentliche Ergebnis des darauffolgenden Gipfeltreffens vor allem in dem Auftrag an die Bundesregierung, einen Gesetzentwurf zu entwickeln, der einen besseren Schutz für Kinder ermöglicht: »Das Gesetz muss umgehend nach der Wahl wieder eingebracht werden« (Die Welt 13.08.2009). Hier scheint sich eine Veränderung im Verhältnis zwischen Politik und Sozialwissenschaften bzw. sozialer Arbeit abzuzeichnen. Dieses Verhältnis verläuft nicht mehr ausschließlich linear im Sinne der Positionierung von Wissenschaftlern als Produzenten und Politikern als Adressaten, vielmehr liefert die Wissenschaft mitunter lediglich verwertbare Erkenntnisse, soll sie aber nicht normativ deuten, wodurch die Ergebnisse deutlich zweck- und richtungsgebunden sind und wenig Raum für wertfreie Urteile lassen. Erste Indizien und kritische Stimmen sowie Widerstände im Hinblick auf eine solche funktionale Arbeitsteilung lassen sich mit Resch (2012) bereits in der Geschichte der Familienberichte in den 1980er und 1990er Jahren nachzeichnen. Er verzeichnet hierbei »eine fortschreitende Geringschätzung dieses Instruments durch die Politik, während gleichzeitig die Kritik der Wissenschaftler an den Bundesregierungen immer schärfer wird« (S. 7): »Es besteht der Eindruck, dass die verantwortlichen Politiker in Bundestag und Bundesregierung versuchten, sich dieser immer lästiger werdenden Kritik nach Möglichkeit zu entziehen. Demgegenüber hat es die Bundesregierung […] verstanden, die Arbeit der beauftragten Wissenschaftler/innen so zu lenken, dass das Ergebnis des Berichts in ihr eigenes Gesamtkonzept passte. Der hinter der Bundespolitik stehende federführende Einfluss der Wirtschaft wurde […] noch deutlicher« (ebd. S. 18). Daraus ergibt sich für die wissenschaftlichen ›Experten‹ ein Paradoxon: »Indem sie an Bedeutung für die auf Expertise basierenden Aufgabenerledigung und Austragung von Interessenkämpfen gewinnen, verlieren sie tendenziell an Kontrolle über ihre Handlungsdomäne. Denn indem sie beispielsweise erfolgreich symbolische Ordnungen und Diskursformen politischer, ökonomischer und rechtlicher Institutionen strukturieren, erhöhen sie ihre Relevanz für Organisationen und interorganisationale Netzwerke. Und indem diese wiederum mit geregelten Anforderungen sowie Mitteln der Bearbeitung konfrontieren, entziehen sie ihnen ein Stück weit die Fähigkeit der autonomen Ausgestaltung ihrer Handlungsdomäne« (Windeler 2014b, S. 284f.). Durch ihre Expertise können Vertreter der Wissenschaft in solchen Bündnissen somit nicht nur Druck auf politische Sparten und Akteure ausüben und selbst davon profitieren (vgl. Kap. IV, 3.3.2), sondern umgekehrt auch von medialen und politischen Vertretern zur Durchsetzung derer Interessen instrumentalisiert werden. Ein Indiz für eine zunehmende politische Steuerung der sozialen Arbeit im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ liefert z.B. die Aussage einer Sozialarbeiterin, die im Auftrag des Gesundheitsamtes junge Familien in Neukölln besucht – eine der wenigen diskursiven Sprecheranteile der sozialen Praxis: »Stolz präsentieren die Mütter ihre Babys und hören zu, wenn die Sozialarbeiterin von den vielen Unterstützungsangeboten des Berliner Problembezirks für junge Familien berichtet. Neu-

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erdings aber trifft Heuermann auf empörte Paare, die sie schon in der Tür beschimpfen. Was ihr einfalle, sie zu belästigen, poltern sie. Ob sie nichts Besseres zu tun habe, als unbescholtene Bürger zu verdächtigen. Neumann könnte auf die Frage eine Antwort geben. Sie würde Politikern nicht gefallen. Nur darf sie das nicht tun, zumindest nicht öffentlich« (Die Zeit 24/2011). Solche Tendenzen bergen die Gefahr, dass nicht nur mediale Auswahlkriterien, sondern auch politische Interessen die Forschungs- und Erkenntnisprozesse sowie deren Umsetzung in der Praxis entscheidend beeinflussen bzw. beschneiden und Expertise zunehmend mit Controlling und Monitoring gleichgesetzt wird, während die verschiedenen Disziplinen wie z.B. die soziale Arbeit selbst an Steuerungsmöglichkeiten und Glaubwürdigkeit verlieren (vgl. Jung 2014). Vereinzelte kritische Stimmen zu solchen Entwicklungen finden sich auch in den massenmedialen Verhandlungen selbst: »In ihrer Organisation hat sich die Kinder- und Jugendhilfe ohnehin schon an die vorherrschende neoliberale Ideologie angepasst: Sie wurde Teil des Marktes für Dienstleistungen, sie erstellt ›Produkte‹ für ›Kunden‹ und begreift sich als Konzern, in dem der wichtigste Maßstab die Kosten-Nutzen-Rechnung nach rein betriebswirtschaftlichen Kriterien ist« (taz 29.07.2009). Sie zeige sich daher auch als Mittäter »einer ungerechten, gespaltenen Gesellschaft und stellt sich in den Dienst der aktuellen Politik, nicht aber der Rechte von Kindern« (taz 29.07.2009). Durch die Anbindung politischer Sprecherpositionen an ›Experten(wissen)‹ können Wissensbestände und Maßnahmen legitimiert und gleichzeitig Verbindungen zu den Wissenschaften aufrechterhalten werden. Damit gelingt es den Sprechern, mit ihren Positionen zu überzeugen, ohne auf komplexe und ausschweifende theoretische Begründungen zurückgreifen zu müssen. Eine Reihe von Arbeiten konnte aufzeigen, dass es generell zum Teil beachtliche Diskrepanzen zwischen den Wissensbeständen massenmedialer Diskurse und wissenschaftlichem Spezialwissen gibt (vgl. z.B. Bühler-Niederberger 2005; Huber 2014; Schübel 2016). Bühler-Niederberger (2005) konnte z.B. anhand des Kinderarmutsdiskurses verdeutlichen, dass vor allem in politischen Entscheidungsprozessen skandalisierte Kinderbilder des Expertendiskurses für die Durchsetzung bestimmter Positionen instrumentalisiert und massenmedial transportiert werden, die sich wesentlich weniger komplex erweisen als die eigentlich zugrunde gelegten wissenschaftlichen Kindheitspositionen (S. 149ff.). Ähnliches diagnostizieren auch Geisen et al. (2014) im Kontext von Migration: »Die vielfach festzustellende Eindeutigkeit der Zuschreibungen in medialen und politischen Darstellungen korrespondiert jedoch nicht mit den wissenschaftlichen Diskursen, die […] weit uneindeutiger sind und vielmehr von einem theoretischen wie empirischen Klärungsbedarf ausgehen« (S. 1). Entsprechend ist auch im Fall ›Kevin‹ anzunehmen, dass die Facetten wissenschaftlicher Wissensstrukturen im massenmedialen Diskurs nicht nur als evidenzbasierte Grundlage für generalisierte Äußerungen über Familie und Kindheit Verwendung finden, sondern zu Eigenzwecken der politischen Sprecher selektiert und verkürzt werden und der Rückgriff auf Expertise mitunter auch in verzerrter Form erfolgt, wobei bestimmte Annahmen und Erkenntnisse ausgeblendet werden, die nicht zu den eigenen Positionen passen (vgl. Lange 2010). Problematisch wird dies nicht nur im Hinblick auf eine selektive und mitunter auch verzerrte Ver-

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breitung von Informationen, die eine reflektierte Meinungsbildung erschwert, sondern vor allem dann, wenn im massenmedialen Diskurs alternative Positionen oder Daten veröffentlicht werden, die dem Spezialdiskurs nicht fremd sind, den massenmedial getätigten vereinfachten Aussagen jedoch widersprechen. Dies vermag bei den Rezipienten den Eindruck erwecken, dass sich die Akteure selbst widersprechen, sich irren oder zuvor relevante Punkte übersehen bzw. unterschlagen haben. Viele solcher alternativen oder gegnerischen Positionen, Ergebnisse und vor allem Folgen schaffen es jedoch gar nicht erst, das Kartell der Deutungsmächtigen zu durchbrechen und in die Öffentlichkeit vorzudringen. So wurden z.B. die Ergebnisse einer Evaluation, die das Scheitern der verbindlichen Vorsorgeuntersuchungen belegen, gar nicht thematisiert: »Als der Verfassungsgerichtshof seine Entscheidung traf, war das Erinnerungssystem noch nicht evaluiert: Erste Rückmeldungen über seine Geeignetheit waren offenbar positiv. Insofern konnte der Gerichtshof die Geeignetheit der Maßnahme zur Ermittlung von Kindeswohlgefährdungen zu dieser Zeit annehmen. Im Dezember 2012 ist jedoch die Evaluation des Gesetzes vorgelegt worden, in der klar zum Ausdruck kommt, dass das Erinnerungs- und Einladungssystem gescheitert ist: Im Jahr 2009 waren mehr als zwei Drittel der gemeldeten Vorfälle falsch positiv (76,7 %), d.h. es wurden Meldungen verschickt oder gar Kontakte zu den Familien aufgenommen, obwohl die Untersuchungen tatsächlich stattgefunden hatten. Hinweise, dass von den übrigen Meldungen ein nennenswerter Teil Hinweise auf Kindeswohlgefährdungen oder auch nur auf aktuellen Hilfebedarf ergeben hätten, finden sich in der Evaluation nicht« (Wapler 2015, S. 527).

3.3.4.

Zum Reputationsverlust der sozialen Arbeit im Rahmen disziplinärer Statushierarchien

In der Verbreitung und Ausweitung interdisziplinärer Wissensbestände in alltagswissenschaftlichen Strukturen scheint sich anzudeuten, dass vor allem Wissensbestände der Sozialpädagogik und der sozialen Arbeit nicht nur von verschiedenen politischen und journalistischen Diskurssprechern instrumentalisiert werden, sondern diese beiden Disziplinen auch innerhalb des wissenschaftlichen Diskursfeldes ihre Exklusivität in der professionellen Deutung der familialen Erziehung und des ›Kindeswohls‹ verlieren, während interdisziplinäre Perspektiven auf Kindheiten erweitert werden. Ein Indiz hierfür stellen zunächst die Redeanteile der sozialpädagogischen Disziplin und der sozialen Praxis im vorliegenden Material dar, die im diskursiven Verlauf deutlich geringer werden, während Sprecher und Wissensbestände anderer Disziplinen, z.B. des Gesundheitswesens oder des Rechts, eine deutliche Aufwertung erfahren und ihnen wichtige Funktionen bei der Früherkennung und Aufdeckung von Gefahrenlagen zugewiesen werden, die ihre diskursive Position stärken. Dies äußert sich nicht zuletzt in entsprechenden Maßnahmen wie z.B. einer »klare[n] Regelung zum Vorgehen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung, die einerseits die Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient schützt, andererseits aber auch die Datenübermittlung an das Jugendamt rechtssicher ermöglicht« (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2018). In der Ausweitung des § 81 Abs. 2 SGB VIII werden vor allem juristische Änderungen im Hinblick auf die geforderte Vernetzung und strukturelle Zusammenar-

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beit mit anderen Institutionen und öffentlichen Einrichtungen deutlich, indem diverse Beratungsstellen und das Gesundheitswesen deutlich stärker in den Prozess der Zusammenarbeit eingebunden werden. Im Sinne einer besseren Vernetzung ändert Art. 2 Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) auch § 8a SGB VIII und schreibt die Verpflichtung jedes Jugendamts zur Übermittlung bekannt gewordener Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung an das jeweils zuständige Jugendamt zur Wahrnehmung des Schutzauftrags (§ 8a Abs. 5 SGB VIII) fest. Damit soll z.B. sichergestellt werden, dass ein neu zuständiges Jugendamt die zum wirksamen Kinderschutz relevanten Informationen von dem zuvor verantwortlichen Jugendamt erhält. Entsprechende Schutzmaßnahmen der Vertrauensbeziehung zwischen Jugendamtsmitarbeitern und Familien als ihren Klienten sind hier jedoch nicht explizit vorgesehen. Dies deutet darauf hin, dass trotz zunehmender Annäherung und Vermischung professioneller Wissensbestände gleichzeitig gewisse disziplinäre Statushierarchien konstruiert werden. Sie können langfristig insbesondere Akteuren einen Vorteil verschaffen, die bereits im Vorfeld in anderen gesellschaftlichen Bereichen deutlich sichtbar waren und über eine hohe Reputation verfügen, so dass sich die vergangenen Erfolge auf künftige Erfolge auswirken. Erste entsprechende Tendenzen zeigen sich in der generell aufstrebenden Bedeutung medizinisch-naturwissenschaftlich orientierter Professionen, mittels derer bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Intensivierung staatlicher Kontrollen in Form von Hygiene- und Gesundheitsbestimmungen legitimiert wurden (vgl. Kuhlmann 1989, S. 264ff.) und die sich in den Debatten um Frühe Hilfen erneut sehr durchsetzungsstark zeigen. Das vergleichsweise hohe gesellschaftliche Ansehen medizinischer Wissensbestände und Akteure scheint durch seine Erfolgsgeschichte ihnen so auch die größere Chance zu geben, diese Statushierarchie zu reproduzieren, während insbesondere pädagogische Professionen Gefahr laufen, langfristig in nicht unerheblichem Maß an Definitionsmacht zu verlieren (vgl. Münch 2009, S. 185f.). Berichterstattungen über ›Katastrophen‹ wie den Fall ›Kevin‹, die nicht nur familiale ›Erziehungskompetenzen‹, sondern auch die Praxis der sozialen Arbeit in ein fragwürdiges Licht rücken, kommen dieser Entwicklung entgegen und begünstigen eine zwiespältige Intensivierung öffentlicher Aufmerksamkeit für (sozial-)pädagogische Angebote und Maßnahmen. Entsprechend wurde und wird die soziale Arbeit auch von verschiedenen Seiten als Stabilisator einer neoliberalen Ideologie und (Re-)Produzentin eines modernen Klassenbewusstseins kritisiert und damit als konstitutiver Bestandteil und Rechtfertigungsgrundlage eines kapitalistischen Systems betrachtet (vgl. Hollstein 1980). Gleichzeitig steht die soziale Arbeit aber auch aus neoliberaler Sicht in der Kritik, vermeintlich bedrohliche oder riskante Lagen zur Etablierung und Absicherung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen zu nutzen: »Das Personalangebot schafft sich seine Nachfrage« (Gillies 2000, S. 51). Die soziale Arbeit kann somit auch als »wohlfahrtsstaatlich mitkonstituierende Profession« (Olk 1986, S. 96) verstanden werden. In beiden Fällen wird ihre funktionalistische Ausrichtung betont und das Ziel hervorgehoben, »den heutigen Menschen dazu zu bringen, sich in das gesellschaftliche Ganze zu fügen« (Mennicke 2001 [1937], S. 48).

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Familie unter Verdacht

3.3.5.

Die Verknappung der Sprecher im Rahmen populärwissenschaftlicher Expertenikonisierungen

Längere Textpassagen oder ganze Artikel erhalten allerdings trotz zahlreicher Bezugnahmen im vorliegenden Material kaum Expertenpositionen – unabhängig von der disziplinären Ausrichtung – zugewiesen. Die meisten ›animators‹ (Goffman 1986) scheinen vielmehr auf eine allzu wissenschaftlich fundierte und differenzierte inhaltliche Auseinandersetzung zu verzichten, so dass Vertreter unterschiedlicher Professionen meist nur in knappen O-Tönen zitiert und auch nur selten umfassend und detailliert in Grundsatzfragestellungen eingebunden werden. Indem sich stattdessen Sprecherpositionen aus Medien und Politik der Fälle wie ›Kevin‹ als Thema bemächtigen, können Wissensbestände, die zuvor in erster Linie von einschlägigen Professionellen und Experten aus Wissenschaft und Praxis verhandelt wurden, in ihren normativen Ordnungen und Relevanzen verschoben werden; das erlaubt es, den Expertendiskurs zugunsten einer Öffnung für populärwissenschaftliche und medienöffentliche Sprecher zurückzudrängen. Nach Klemm und Glasze (2005) geht wissenschaftliches Wissen hierbei eine neue Verbindung mit normativ-moralischen Inhalten ein, die Junge als »Ethisierung von wissenschaftlichem Wissen« bezeichne und die als neues Steuerungselement wissenschaftlicher Positionen angesehen werden könne. Durch die Verknüpfung wissenschaftlicher Erkenntnisse mit alltäglichen Argumentationen lässt sich vor allem eine größere Nähe zwischen Sprecher und Adressat herstellen (vgl. Poferl & Walter 2013, S. 249). Auch »Übersetzungsprobleme« (Niehues-Pröbsting 1999, S. 23) können damit gemildert werden, die sich oft bei dem Transfer einer »allgemein wenig verständlichen oder unverständlichen Fach- und Expertensprache in die allgemein verständliche Umgangssprache« (ebd.) ergeben. Der Öffentlichkeit scheint es ohnehin nicht möglich zu sein, an wissenschaftlichen Diskurssträngen vollumfänglich zu partizipieren, ist doch die Transformation wissenschaftlicher Wissensbestände in Alltagsdiskurse nicht ohne Informationsverlust möglich (vgl. Liebert 2003). Es handelt sich somit bei der Integration wissenschaftlichen Wissens meist eher um die Integration fragmentierter Ausschnitte einzelner Konzepte, die nicht selten unter Nutzung von Versatzstücken aus Sozialreportage, Sozialkritik und Sozialstatistik erfolgt; dadurch werden die Wissenselemente in fragwürdige Inszenierungskontexte gestellt und ihres sachlichen Aussagengehalts beraubt. Die Aussagen wissenschaftlicher Sprecher werden somit gewissermaßen den populärwissenschaftlichen Äußerungen der Medienvertreter angepasst und öffentlich verbreitet, um als Alltagswissen auch Laien zugänglich gemacht werden zu können. Die Vermischung populärer und wissenschaftlicher Wissensbestände sowie der permanente Wechsel der Sprecherpositionen wird auch auf sprachlicher Ebene in Form der oftmals ›hybriden Redeweise‹ der Sprecher deutlich. Redeweisen und Sprecherpositionen sind hier nicht mehr »vergleichsweise eindeutig den jeweiligen Experten der Spezialöffentlichkeiten von Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft vorbehalten« (Keller 2008a, S. 286f.) und zuzuordnen: »Dabei gebe es gar keine Pflicht, nur ein Recht zu schweigen, und davon, so glaubt Graichen [eine Hauptkommissarin], machten Ärzte viel zu oft Gebrauch. ›Das Kinderwohl soll an erster Stelle stehen, aber das sehen viele Ärzte gern anders.‹ Diese neigten dazu, statt einem Ver-

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

dacht nachzugehen einer Hoffnung nachzugeben: dass schon alles in Ordnung sein werde« (Der Spiegel 51/2007). Belege wie diese lassen sich in nahezu jedem der untersuchten Artikel finden, insbesondere in denen der Nachrichtenmagazine Der Spiegel und Focus, die sich aufgrund ihres Genres vor allem im Vergleich zu den Tageszeitungen generell durch einen stärker erzählenden und unterhaltenden Sprachstil auszeichnen. Medienvertreter verlassen dabei ihre Vermittlerposition und werden zu »Self-made Experts« (Englert 2012), wodurch ein Thema gekoppelt zwischen den Diskursarenen letztlich »weder ein Eigenprodukt der Massenmedien noch von wissenschaftlichen Spezialdiskursen ist« (Schmied-Knittel, S. 27). »In ein und demselben Satz wird die Information aus zwei verschiedenen Perspektiven […] gegeben: im übergeordneten Satz aus der Sicht des interpretierenden Journalisten (= indirekte Rede), im untergeordneten Satz aus der Sicht des Zitierten selbst (= direkte Rede)« (Topalovic 2007, S. 4). Mit dieser zunehmenden Transformation von Spezialwissen in alltägliche und populärwissenschaftliche Wissensstrukturen kommt es zur Herausbildung einer wissenschaftlichen ›Expertenkultur‹ aus einzelnen Akteuren, die vor allem über eine gewisse öffentliche Reputation verfügen und auf die in massenmedialen Diskursen verstärkt zurückgegriffen wird. Unter Berufung auf Leidecker-Sandmann und Lehmkuhl (2019) lässt sich vermuten, dass hierbei nicht die Expertise der in den Medien zitierten ›Fachleute‹ das entscheidende Kriterium ihrer Benennung ist, sondern deren Charisma und Medienaffinität mitunter ausschlaggebender sind.23 Liebert (2003) spricht in diesem Kontext von einer »Expertenikonisierung« (S. 259), bei der die immer gleichen ›Experten‹ als populäre Vertreter ganzer Professionen diskursiv in Erscheinung treten und so ein relativ homogenes und unterkomplexes Bild wissenschaftlicher Erkenntnisse vermitteln. Bei dieser populärwissenschaftlichen Verknappung der Sprecher handelt es sich im vorliegenden Diskurs vor allem um die Initiatoren von Maßnahmen und Programmen, die auch vergleichsweise häufig als ›principals‹ zu Wort kommen. Konkret zu nennen wären hier z.B. der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg M. Fegert (»Guter Start ins Kinderleben«, z.B. Die Welt 14.10.2006a; Die Welt 04.11.2006a; taz 04.11.2006) sowie der Kriminologe und einstige Direktor des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens Christian Pfeiffer (»Pro Kind«, z.B. taz 13.10.2006; taz 04.11.2006). Darüber hinaus beziehen sich die Massenmedien als ›animators‹ (Goffman 1986) auch gehäuft auf den Diplom-Verwaltungswirt (FH) und SPD-Politiker Heinz Hilgers (»Dormagener Modell«, z.B. Die Welt 01.07.2009; taz 08.12.2007), der zu jener Zeit Bürgermeister der Stadt Dormagen war, sowie den Psychiater, Psychoanalytiker und Familientherapeuten Manfred Cierpka (»Keiner fällt durchs Netz«, z.B. FAZ 20.02.2008). Insbesondere der Kriminologe Christian Pfeiffer 23

Das Forscherteam konnte in einer Untersuchung deutsch- und englischsprachiger Nachrichtenmedien für den Zeitraum von 1993 bis 2015 in der Berichterstattung zu verschiedenen Gesundheitsthemen nachweisen, dass die wissenschaftliche Reputation nicht das entscheidende Auswahlkriterium der Rezeption darstellte und ausgewiesene Experten einer Disziplin – gemessen an ihren einschlägigen Veröffentlichungen und Zitationen – deutlich seltener rezipiert werden. Zu ähnlichen Ergebnissen seien auch einige ältere Studien aus den USA gekommen (vgl. LeideckerSandmann & Lehmkuhl 2019).

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übernimmt dabei direkt oder indirekt häufig die Rolle des zitierten »Alarmschlagens« (Bernstein & Jasper 1996, zit.n. Keller 2008a, S. 299): »Die Aussage des Kriminologen Christian Pfeiffer, das Risiko für Kinder […] sei gut doppelt so hoch …« (FAZ 18.10.2006). »Christian Pfeiffer will […] ein Programm zur Rettung sozial bedrohter Kinder starten« (taz 13.10.2006). »Nach Aussagen des Kriminologen Christian Pfeiffer ist das Opferrisiko […] doppelt so hoch« (SZ 17.10.2006). »Ein Kind allein bei einem drogenabhängigen Vater zu lassen, sei falsch und unverantwortlich, sagt er« (SZ 12.10.2006b). Durch den Rückgriff auf seinen Status als »Leiter des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen« (z.B. SZ 12.10.2006b), als »früherer niedersächsischer Justizminister« (FAZ 16.10.2006) und Entwickler des Modellprojektes »Pro Kind« (z.B. taz 13.10.2006) wird Pfeiffer gleich auf mehreren Ebenen als Experte ausgewiesen. Es lässt sich somit konstatieren, dass sich deutliche Veränderungen in der Rolle und Wahrnehmung wissenschaftlichen Wissens in den Debatten um familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung abzeichnen, wobei sich eine tendenzielle Relativierung wissenschaftlichen Wissens zu vollziehen scheint (vgl. Keller 2008a, S. 285). Bogner (2012) spricht von einer »reflexiven Verwissenschaftlichung« (S. 90) bzw. einer »Entzauberung der Wissenschaftshoheit bei gleichzeitiger Wissenschaftsbasiertheit« (ebd.), in der sich die enge Beziehung zwischen Expertenwissen und Profession aufzulösen scheint und selbst einzelne Disziplinen als sogenannte ›Experten‹ oftmals keine dominanten Positionen mehr einnehmen können: »Heute können nämlich einzelne Professionen immer weniger exklusiv über bestimmte Problemdefinitionen und Problemlösungen verfügen, was zu einer Erosion der exklusiven Kontrollierbarkeit von Wissensbeständen einzelner Funktionssysteme in der modernen Gesellschaft führt. Dadurch, dass das professionelle Wissen durch technische Verbreitungsmedien im Grunde beinahe jedermann zur Verfügung steht, kann es weder dem Zugriff von Laien noch dem anderer Berufsgruppen entzogen werden – durch die mediale Mobilisierbarkeit dieses Wissens wird es gleichsam entzaubert und der Kritik preisgegeben« (Kurtz 2007, S. 500). Entsprechend gewinnt in den Debatten um den Fall ›Kevin‹ insbesondere in den Folgejahren nach dem Ereignis auch erfahrungsbasiertes Wissen an Deutungsmacht, das als »hybride Darstellungsform« (Schetsche 2014, S. 225) sowohl wissenschaftsbasierte Wissensformen als auch Alltagswissen beinhaltet, das verstärkt als erfahrungsbasierte Faktizität inszeniert wird: »Wissenschaft basierte früher auf dem Alltagsverstand und machte den Verstand weniger alltäglich. Heute ist Alltagsverstand veralltäglichte Wissenschaft« (Moscovici 1984a, S. 29, zit.n. Flick 1996, S. 96). Wenn ausgewiesene Experten im vorliegenden Datenmaterial diskursiv in Erscheinung treten, berichten sie dementsprechend auffällig häufig entweder aus der eigenen beruflichen Erfahrungspraxis (z.B. »werden nach meiner Erfahrung«, Die Welt 10.05.2007; »meiner Erfahrung als Ärztin«, SZ 30.11.2007c; »Ihre Berufspraxis führt zu der Erkenntnis, dass die Zahl der Eltern zunimmt, die ihre Kinder nicht adäquat und liebevoll aufziehen«, FAZ 18.10.2006) oder argumentieren auf der Basis privater Erfahrungen der eigenen Elternschaft, so dass sie eine Doppelrolle als Experte und Vater (z.B. Focus 44/2006; Focus 42/2006b; taz 14.10.2006d; SZ

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18.10.2006f) bzw. Mutter (z.B. taz 22.02.2007) einnehmen. Die eigene Erfahrung liefert den Sprechern einen zweifachen Expertenstatus und wird daher als zusätzliche Legitimation herangezogen, sich zur Thematik äußern zu dürfen und zu müssen. Dem Verweis auf »eigene Erfahrungen – ob ›am eigenen Leibe‹ oder als Erzählung ›aus zweiter Hand‹ – wohnt im Alltagsdiskurs eine hohe Glaubwürdigkeit inne« (Waldschmidt et al. 2007). Dies lässt sich damit begründen, dass sie Assoziationen mit eigenen Gefühlen und Erfahrungen zulassen und so von den Rezipienten in den eigenen Alltag übertragen bzw. aus eigenen Erlebnissen abgeleitet werden können und hiermit auch die eigenen Familiensituationen der Rezipienten reflektiert bzw. rekonstruiert werden können. Erfahrungen und Erlebnisberichte dienen aber auch der Auflockerung und besseren Anschaulichkeit und lassen sich so in die Nähe des ›Klatschs und Tratschs‹ bringen, dem im Alltag eine hohe Bedeutung für die soziale Kontrolle im Privaten zugeschrieben wird (vgl. Kap. IV, 3.2.3). Zudem sind sie nicht auf eine verlässliche Autorisierung angewiesen, können Abstraktionen thematisieren oder auch der Erfahrung von Gemeinschaftlichkeit und Distinktion von Fremden bzw. als Appell zum Sturz von Machtpositionen und vorherrschenden Ordnungsstrukturen dienen (vgl. Krüger 2014; Scholz 2013). Darüber hinaus ist anzunehmen, dass Emotionen und Erfahrungen die Wirkkraft von Aussagen erhöhen. Denn erst »in Gestalt kollektiver Dramen fungieren katastrophische Ereignisse als Katalysatoren der Restabilisierung oder Transformation etablierter Wirklichkeitsordnungen« (Keller 2003a, S. 407): »Angesichts grausamer Bilder von verhungerten oder geprügelten Kindern verblasst jede wissenschaftliche Studie« (Die Zeit 24/2011). Beck et al. (2001) konnten dementsprechend eine Anhäufung von »bad reporting pracitices« in massenmedialen Berichterstattungen nachweisen, die sich z.B. in der Nennung von nur einer Wissensquelle zeigen oder in der Unterstellung »von Risiken, die offenbar keiner weiteren Begründung bedürfen« (S. 301). Dies zeigt sich mitunter auch in der massenmedialen Berichterstattung im Kontext familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ in Fällen wie ›Kevin‹, wobei die Medien eher als ›Skandalisierer‹ denn als ›Aufklärer‹ zu fungieren scheinen, erwecken sie doch oftmals den Eindruck, nicht vorrangig darauf abzuzielen, Informationen für Betroffene zu liefern, sondern eher darauf, eine Massenhysterie auszulösen (vgl. Schetsche & Plaß 2000) Löffelholz et al. (2003) sowie Rother (2016) diagnostizieren auf der Basis von Befragungen von Journalisten, dass insbesondere bei Skandalberichterstattungen, wie sie im Fall ›Kevin‹ erfolgen, der Wunsch, mit der Aufdeckung einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, meist höher eingestuft werde als das ethische Verantwortungsbewusstsein. Nebenfolgen der Skandalisierung werden dann eher als »dysfunktionale gesamtgesellschaftliche Effekte beobachtet, die zwar unerwünscht seien, sich aber nur schwer verhindern ließen« (Rother 2016, S. 111) – auch in dem Bewusstsein, »dass die Berichterstattung zuweilen regelrechte Medienlawinen auslöst, die über die Betroffenen hineinbrechen und – einmal losgetreten – nur schwer zu stoppen sind« (ebd. S. 112).

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3.4. 3.4.1.

Ungenutzte und unbesetzte Sprecherpositionen Der Rückzug von Sprechern der sozialen Arbeit aus der Medienöffentlichkeit

Im Unterschied zu Politik und Medienöffentlichkeit ist vor allem die Wissenschaft, aber auch die Praxis der verschiedenen Disziplinen des Kinderschutzes nicht nur damit beauftragt, Probleme wie ›Kindeswohlgefährdungen‹ und vermeintliche ›Erziehungsinkompetenzen‹ zu bearbeiten, sondern ihr muss auch daran gelegen sein, »sich selbst über diesen Sachverhalt aufzuklären« (Dollinger 2010, S. 120). Vor allem der Praxis sozialer Arbeit wird in Fällen wie ›Kevin‹ zum Teil ein umfassendes ›Versagen‹ attestiert. Dennoch zeigen sich in den wenigen diskursiven Sprecheranteilen sozialer Arbeit kaum reflektierende Momente oder Ansätze eines umfassenden und konstruktiven Fehlermanagements, sondern eher ein Aktionismus in Form einer verstärkten Implementierung kurzfristiger Maßnahmen wie z.B. Hausbesuchen in ›Risikofamilien‹ und von zahlreichen zeitbegrenzten Präventionsprogrammen, die in der Regel in Kooperation mit politischen Akteuren entstehen. »So kommen die Träger auf eine quantitativ hohe Beantwortung bestehender Nachfrage. Die Frage der nachhaltigen Wirkung solch kurzfristiger bzw. eng gesteckter Hilfen steht allerdings nicht zur Debatte« (Seithe & Heintz 2014, S. 117). Die (langfristige) Wirksamkeit der verschiedenen Maßnahmen und Programme ist bis heute nicht umfassend geklärt (vgl. Winkler 2012, S. 139) und die wenigen vorliegenden Evaluationsergebnisse beschränken sich zumeist auf die Zufriedenheit der Teilnehmer oder deren subjektive Einschätzungen dazu (Drinkmann & Kratzmann 2016, S. 162ff). Stimmen zur (Selbst-)Darstellung der Praxis findet man kaum, sondern die diskursiven Aussagen verbleiben zumeist im Modus der Verteidigung, Rechtfertigung und Verschiebung der Verantwortung, so dass kritische Stimmen nur selten konstruktiv genutzt werden: »Das Jugendamt oder Behörden im Allgemeinen können Kinder nicht allein vor prügelnden Eltern schützen. ›So abgedroschen das für manche klingen mag, die ganze Gesellschaft muss dieses Problem lösen‹, sagt der Leiter des Cottbusser Jugendamtes, Bernd Weiße« (taz 28.10.2006b). Jung (2014) geht daher davon aus, dass vor allem die soziale Arbeit nicht nur aufgrund des Aufstrebens medizinisch-naturwissenschaftlicher Disziplinen zunehmend an Deutungshoheit im Kontext familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ und Kindesmisshandlung und -vernachlässigung einbüßt, sondern dass sie paradoxerweise gerade im Zuge der steigenden gesellschaftlichen Bedeutung dieser Themen und der damit verbundenen Professionalisierungsanforderungen an Glaubwürdigkeit verliert: »Immer wieder scheitert sie daran, die epistemologische Sicherheit zu liefern, die von ihr verlangt wird. Einer Expertise, die verwendet wird, um eine politische Position in kontroversen Fragen zu legitimieren, wird fast zwangsläufig mit einer Gegenexpertise begegnet. Die Fähigkeit der Wissenschaft, sich selbst zu regulieren und quasi automatisch gesellschaftlich nützliches Wissen zu produzieren, wird angezweifelt« (S. 332). Dies begünstigt eine oberflächliche und selektive Medienberichterstattung, denn wie sollen Journalisten anders reagieren als mit Skandalisierung, wenn es viele inhaltliche Leerstellen gibt und Spezialwissen den öffentlichen Diskurs kaum zu durchdringen versucht? Straub (2005) zeigt anhand anderer exemplarischer Fälle, in denen der Kinder-

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und Jugendhilfe massenmedial Versagen attestiert wurde, dass »es in keinem der Fälle [zu] durchschlagende[n] Ansätze[n] einer kritischen fachlichen Entgegnung von Seiten der Sozialen Arbeit« (S. 16f.) kam. Schaarschuch (1999) sieht darin einen Wandel von einem ›proaktiv-offensiven‹ Verhältnis, das die politisierende und subversive Sozialarbeit der späten 1960er und 1970er Jahre prägte, hin zu einem ›reaktiv-defensivem‹ Verhältnis gegenüber der Öffentlichkeit (vgl. S. 39). Die soziale Arbeit überlasse dabei die Deutungsmacht zunehmend anderen Akteuren und sei dadurch auch nicht mehr in der Lage, »ihre fachliche Orientierung nach außen verständlich vermitteln und glaubhaft vertreten zu können« (Puhl 2002, S. 20). Möglicherweise zeichnet sich an dieser Stelle somit nicht nur eine Verknappung der Sprecherpositionen im Rahmen disziplinärer Statushierarchien und populärwissenschaftlicher Expertenikonisierungen ab, sondern auch ein freiwilliger Rückzug von Sprechern aus dem Bereich der sozialen Arbeit, um öffentlichen Angriffen zu entgehen und nicht im Rahmen instrumentalisierter Skandalisierungen als »strategisches Mittel zur Durchsetzung bestimmter Ideen eingesetzt« (Ludwig & Schierl 2016, S. 26) zu werden und dabei vielleicht endgültig ihre »Reputation sowie die Vertrauens- und Glaubwürdigkeit« (ebd.) einbüßen zu müssen. Denn eine intakte Reputation stellt nicht nur die Daseinsberechtigung der Disziplin dar, sondern dient auch der Legitimierung von Machtpositionen und ist somit ein wesentliches Moment, um sich gegenüber anderen Disziplinen zu beweisen. Indem insbesondere die Praxis sozialer Arbeit jedoch in dieser eher passiven Position verbleibt, bietet sie anderen Disziplinen die Möglichkeit, ihre Positionen zu stabilisieren, während der Status der sozialen Arbeit durch den Skandal, die ungenutzten Sprecheranteile und die fehlenden Rechtfertigungen Gefahr läuft, weiter Schaden zu nehmen. Ein ähnliches Phänomen zeigte sich im Rahmen der Wirtschaftskrise 2008, bei der die Machtposition der Banken stark angegriffen und dadurch anderen ›Finanzexperten‹ und Politiken die Möglichkeit eines größeren diskursiven Einflusses gegeben wurde (vgl. Eisenegger 2016, S. 37f.).

3.4.2.

Familiale Sprecherpositionen als diskursive Leerstelle

Eine weniger ungenutzte, sondern unbesetzte Sprecherposition stellt die Gruppe der Familien dar. Obwohl sie gemeinsamen mit den Akteuren der sozialen Arbeit die meistadressierten Subjektpositionen in der massenmedialen Verhandlung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung darstellen und gleichzeitig auch Erfahrungswissen eine immer größere Bedeutung erhält, bleiben spezifische familiale Bedürfnisse und Lagen in den öffentlichen Debatten unterbelichtet. Sie erhalten als (potenziell) betroffene Gruppe kaum Möglichkeiten, sich über ›animators‹ oder gar als ›principal‹ in den öffentlichen Diskurs einzuschreiben und Zuschreibungen familialer ›Erziehungsinkompetenzen‹ öffentlich rückzubinden bzw. sich öffentlich zu rechtfertigen. Stattdessen werden zumeist mehr oder minder pauschal Verdachtsmomente geäußert sowie Kompetenzen, Moral und Schuldfähigkeit von Betroffenen mehr oder minder pauschal verhandelt und infrage gestellt, so dass die Familien einer öffentlichen Erwartungshaltung ausgesetzt sind, die sie umset-

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zen und aushalten müssen (vgl. Böhnisch 2008, S. 227).24 Wenngleich die diskursive Positionierung von Familien nicht deckungsgleich mit deren Subjektivierungsweisen sein muss, ist diese Leerstelle in den Sprecherpositionen insofern als problematisch zu erachten, als Handlungsfähigkeit »nur solche Gesellschaftsmitglieder erringen können, die Gelegenheit und das Recht zu sprechen haben« (Traue 2005, S. 59). Eine Ausnahme in der Nichtbesetzung familialer Sprecherpositionen bilden Kommentare und Berichterstattungen zur Situation von Familien im Rahmen angeblich unberechtigt durchgeführter Inobhutnahmen, die sich insbesondere in der Gegennarration vereinzelt zeigen und vor allem perspektivische Deutungen betroffener Mütter enthalten. Obgleich Familien auch hier kaum direkt als Sprecher in Erscheinung treten, werden zumindest familiale ›Innenansichten‹ durch ›animators‹ diskursiv eingebracht: »Lena ist ein ruhiges, fröhliches Baby. Die Eltern sind stolz auf ihr Kind. Doch dann nimmt das Jugendamt das Mädchen aus der Familie […,] eine gewaltsame Aktion, durchgesetzt per einstweiliger Verfügung. Polizeibeamte, Gerichtsvollzieher, Sozialarbeiter sind dabei« (SZ 04.09.2013). »Patricia fährt in ihrem kleinen weißen Ford Fiesta über die Insel, sie raucht, kaut Kaugummi, hört Musik. Vor ihr auf dem Armaturenbrett kleben die Fotos ihrer Kinder. Die Bilder zeigen die Kinder in einer anderen Zeit. Patricia P. hat sie aufgeklebt, nachdem die Kinder weg waren, zwei Mädchen, sieben und elf Jahre alt, mit erdbeerblondem Haar. Sie fand die Nachricht vor sieben Monaten, an einem späten Mittwochnachmittag im Dezember […]. Eine Mitarbeiterin vom Jugendamt hatte ihr die Karte unter den Scheibenwischer geklemmt, wie einen Strafzettel« (Der Spiegel 29/2010). Auch die Süddeutsche Zeitung berichtet in einem Artikel lange nach dem Fall ›Kevin‹ über das Leid einer Mutter, der Kindesmisshandlung und -tötung vorgeworfen wurde, und entwirft damit eine neue Perspektive auf Fragen der Kategorisierung und vorschnellen Verurteilung: »Meine Tochter wurde eine Woche in einer Klinik zwangsuntersucht. Dann kam sie in eine Pflegefamilie. Sie hatte während dieser Zeit absolutes Kontaktverbot; ich wusste nicht, wo sie ist. Sie durfte weder mich anrufen noch ihren heißgeliebten Großvater, der in dieser Zeit Geburtstag hatte. Am 2. Dezember gab es dann ein Gespräch beim Jugendamt, ein Jugendhilfeplangespräch. Als Claudia mich sah, brach sie zusammen. Es ging ihr elend. Ich erfuhr, dass sie fünfzig Kilometer von ihrem Zuhause in einer Pflegefamilie untergebracht war. Dort sollte sie dauerhaft bleiben, damit sie die Möglichkeit habe, sich selber zu entfalten, wie das Jugendamt es ausdrückte. Sie wohnte nun zwei Stunden entfernt von ihrer Schule. Weil sich der Bus im Winter oft verspätete, erwog das Jugendamt, dass Claudia erst zur zweiten Unterrichtsstunde erscheinen müsse. Und das, nachdem man mir vorgeworfen hatte, meine Tochter habe so hohe Fehlzeiten in der Schule!« (SZ 14.12.2015) In einem früheren Artikel der taz aus dem Jahr 2007 kommt sogar eine Mutter zu Wort, der Kindesvernachlässigung mit Todesfolge vorgeworfen wurde. Entsprechend der in dieser Deutung angelegten Externalisierung von Schuld der Eltern werden jedoch auch

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Hier wird jedoch zu beobachten sein, ob sich dies aufgrund zunehmender Digitalisierungstendenzen und des Zuwachses an Onlineforen ändert (vgl. Kap. II, 2.1.2).

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hier vor allem das Agieren des Jugendamtes und Gefühle von Druck und Angst als Ursachen für Kindesmisshandlung dargestellt, die auf den Eltern lasten: »Das war die pure Angst um meine anderen Kinder. Herr T. vom Jugendamt hatte mir schon früher gedroht, sollte ich auf die Idee kommen, Angelo in eine Pflegefamilie zu geben, dann nimmt er mir alle Kinder weg« (taz 20.12.2007). Dies verweist auf die Integrität der Betroffenen und entspricht der strategischen Anlage der nihilierenden Narration, das Geschehen zu relativieren. In all diesen Passagen erscheint somit fraglich, inwieweit den Müttern tatsächlich eine Stimme verliehen werden soll und öffentliche Einblicke in die betroffenen Subjekte gegeben werden sollen oder doch nur narrationsspezifische Strategien verfolgt werden. Ungeachtet dessen verbergen sich hinter diesen vermeintlichen Einheitsfronten neben einem gewissen Maß an Unwissenheit und narrativer Instrumentalisierung auch reale Massenstimmungen. In der Annahme, dass soziale Akteure Diskurse zwar aktualisieren, aber nicht herstellen, spielen diese eine paradoxe Rolle: »Zwar richten sich Politik und Medien permanent an Meinungsumfragen und Einschaltquoten aus, so dass die Illusion eines quasi demokratischen Diskurses entsteht. Tatsächlich verallgemeinert dieser angebliche Diskurs lediglich die Mystifikationen und Fetische des Alltagsbewusstseins, so dass der Eindruck eines Zirkelschlusses entsteht, bei dem Politik und Medien durch das Massenbewusstsein und dies wiederum durch Politik und Medien bestimmt scheinen. Dieser scheinbare circulus vitiosus ist jedoch ebenfalls eine Illusion, weil das Alltagsbewusstsein nichts anderes als eine Widerspiegelung der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Dieser fehlerhafte Zirkel kann bei der Analyse des gesellschaftlichen Bewusstseins nur durchbrochen werden, wenn, wie es Marx und Engels in der Deutschen Ideologie beschrieben haben, vom wirklichen Lebensprozess der Menschen ausgegangen wird und das Alltagsbewusstsein vor dem Hintergrund der realen gesellschaftlichen Bedingungen interpretiert wird« (Werner 2003, S. 22). Um sich möglichen Veränderungen und Subjektivierungsweisen in der gesellschaftlichen Praxis zu nähern, braucht es Kenntnisse über das Alltagsleben der Familien und deren Verhältnis zur Gesellschaft. Indem jedoch nahezu ausschließlich Journalisten, Politiker und ausgewiesene Experten des Kinderschutzes ihr Wissen diskursiv einbringen, erhöht sich die Gefahr, dass die Interessen der Sprecher einen weitaus größeren Raum erhalten als die Bedürfnisse der meisten Familien. Dadurch werden sie zu einem Machtinstrument, das nicht nur die Wahrnehmung bestimmter Gruppen von Familien als ›erziehungsinkompetent‹ zu steuern vermag, sondern das auch selbst soziale Ungleichheiten und Stigmata in Form einer »Pädagogisierung sozialer Bedarfs- und Problemlagen« (Galuske 2008, S. 11) produziert und distribuiert. Infolge der zunehmenden öffentlichen Thematisierung der Nöte von Familien erhalten Eltern somit zwar indirekt in gewisser Weise Gehör, sie sind aber kaum an den Ursachennarrationen, Problemdefinitionen und Lösungsvorschlägen beteiligt: »Was Familien zu leisten haben, wird zunehmend gesellschaftlich definiert und in Erwartungen gefasst« (Winkler 2012, S. 135). Ähnlich wie Möller (2010) für die Ausstiegshilfe aus dem Rechtsextremismus konstatiert, kann somit auch im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung auf der Grundlage des vorliegenden Materials resümiert werden, dass

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Familie unter Verdacht

Erfahrungen und Einschätzungen aus der Praxis der Betroffenen die diskursive Steuerungsebene nur marginal zu beeinflussen scheinen (S. 240).

4.

Subjektivität und Subjektivierung im Dispositiv der Kindeswohlsicherung

Sowohl die Akteure der sozialen Arbeit als auch die Familien nehmen nicht nur eine verhältnismäßig geringe oder gar keine Sprecherpositionen ein, sondern fungieren auch als Hauptadressaten der generierten Lösungs- und Bewältigungsmöglichkeiten im Diskurs um familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹. Beiden Akteuren werden hierbei ambivalente Rollen zugewiesen (vgl. Kap. III, 13), die mit einem unterschiedlichen Grad an Agency verbunden sind und nicht nur im Hinblick auf die Außendarstellung der Beteiligten Spannungsverhältnisse erzeugen, sondern auch für die handelnden Akteure selbst. Denn als Prägkräfte liefern die medialen Darstellungen immer auch »Vorlagen für Identitätsräume« (Klaus 2008, S. 165). Auch wenn die Analyse des massenmedialen Diskurses keine Aufschlüsse über die tatsächlichen Subjektivierungsweisen der Rezipienten zulassen, ist anzunehmen, dass die angebotenen Subjektpositionen und Modellpraxen zumindest teilweise in die eigene Wirklichkeitskonstitution der Familien übernommen werden und die widersprüchlichen Erwartungen und öffentlichen Diffamierungen das Alltagsleben auch langfristig in einem nicht unerheblichen Ausmaß mitgestalten: »Medien transformieren den Alltag der Menschen nicht nur im anfänglichen Prozess der Aneignung, sondern darüber hinaus kontinuierlich weiter über Inhalte und Kommunikationsformen« (Krüger 2013, S. 33). Da »Zweckmäßigkeitsmotive die Alltagswelt leiten, steht Rezeptwissen, das sich auf Routineverrichtungen beschränkt, im gesellschaftlichen Wissensvorrat an hervorragender Stelle« (Berger & Luckmann 1980 [1969], S. 44). Es ist somit davon auszugehen, dass durch die enorme öffentliche Präsenz von Fällen wie ›Kevin‹ und die darin wiederkehrenden Irritationen und seriellen Umdeutungen der Ordnungsstrukturen von Familie und Erziehung die Selbstverständlichkeit bestehender Sinnkonstitutionen und Praktiken im Hinblick auf familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ nicht nur in ihrer öffentlichen Darstellung stark ins Wanken gerät. Vielmehr spricht vieles dafür, dass die inkonsistenten und zum Teil widersprüchlichen Erzählstrukturen familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ auch zunehmend die Alltagspraktiken und Subjektivierungsprozesse der Akteure anleiten und regulieren. Dabei formieren sie nicht nur einzelne Subjekte, sondern ganze Kollektive, die als Institutionen regulierenden Subjektivierungsmaßnahmen unterzogen werden, die bis hin zur Auflösung des Individuums führen können (vgl. Kap. IV. 1.2). Hierunter fallen nicht nur diskursive Subjektivierungsangebote und Modellpraxen, sondern alle Bewältigungsstrategien, Techniken, Institutionen und Praktiken, die sich an Individuen richten, um sie zu formen. Sie können auch dann wirksam sein, wenn sie unbemerkt vollzogen werden und lediglich auf Traditionen beruhen, moralisch internalisiert sind oder Autonomie suggerieren (vgl. Kron & Reddig 2003; Sutter 2003). Es handelt sich dann nicht um normative Vorschriften, sondern um eine »regulative Idee« (Schlutz 2001, S. 50). Obwohl die Ableitung von Kausalschlüssen und Subjektivierungsweisen in be-

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

sonderem Maße als hypothetisch betrachtet werden muss, ist sie also insofern von Interesse, als »die untersuchten Wissensdiskurse über eben diese Beziehungen, das Ausüben dieser Kommunikationsmacht auf der Seite der einen und die wiederholte Zustimmung zur Macht des Gegenübers auf der Seite der anderen, globale und wirklichkeitsstiftende Ausbreitung erfahren« (Hornidge 2013, S. 210). Es lässt sich auch von einer Subjektivierung von Organisationen und Institutionen sprechen, die über unterschiedliche Regulatoren verschiedene Spannungsverhältnisse konstituiert. Hierzu zählen insbesondere Ambivalenzen zwischen Kontrolle und Autonomie, Tradition und Innovation sowie Fremd- und Selbstzwang (vgl. Kap. IV, 4.1 & 4.2). Sie wirken auch auf die Beziehung zwischen Familien und sozialer Arbeit, indem sie dort verstärkt zu Verschiebungen im Spannungsfeld vertrauensvoller Fürsorge und effizienter Dienstleistung zu führen scheinen (vgl. Kap. IV, 4.3). In Ergänzung zu den Disziplinartechniken Foucaults ermöglicht Elias’ Figurationsbegriff (1986) hierbei einen erweiterten Blick auf den Wandel von (Macht-)Beziehungen und Interdependenzen innerhalb und zwischen den beteiligten Kollektiven.

4.1. 4.1.1.

Hilfe als Urteil – Familiale Subjektivierung unter Risikobehaftung Die Verfestigung graduierter familialer Qualitäten in Hilfsangeboten und Unterstützungsmaßnahmen

Die Markierung und Hierarchisierung bestimmter Familien als ›erziehungsinkompetent‹ in den öffentlichen Narrationen um Fälle wie ›Kevin‹ zeigt sich auch in der Adressierung von Familien im Rahmen unterschiedlicher Angebote und Maßnahmen des staatlichen Kinderschutzes bzw. der sozialen Arbeit im Allgemeinen. Diese Angebote und Maßnahmen scheinen weitestgehend den narrativen Ordnungen zu entsprechen (vgl. Kap. IV, 2) und sind somit nicht ubiquitär, sondern auf der Basis von Zuschreibungen und Risikopotenzialen ausgearbeitet mit dem Anspruch, in bestimmten familialen Settings gezielter tätig zu werden. Als »besonders gefährdet« gelten z.B. »Kinder von Alleinerziehenden, in der Regel Mütter« (FAZ 25.02.2014). Dementsprechend besuchen MitarbeiterInnen des Jugendamtes und der Gesundheitsdienste »bereits die schwangeren Mütter« (taz 08.12.2007) oder nehmen sich »sozial bedrohter Mütter« (taz 13.10.2006) an. »So hoffen sie, die Mütter gezielt beraten zu können« (taz 04.11.2006) und »die Mutter-KindBindung zu fördern« (taz 04.11.2006). Mit dem ›Bremer Sofortprogramm‹ sind bereits unmittelbar nach dem Fund von Kevins Leiche die »geforderten Kontrollbesuche bei Kindern aus Bremer Problemfamilien angelaufen« (Die Welt 18.10.2006). Hierbei wurden »als ›Sofortmaßnahme‹ 97 Familien unter die Lupe genommen, wobei nicht alle Familien mit Alkoholoder Drogenproblemen Besuch von Amts wegen bekamen. Jedoch sollen weitere 400 bis 500 Familien mit Kindern unter 14 Jahren überprüft werden« (taz 26.10.2006), und nur wenige Wochen später »hätten Sozialarbeiter in Bremen 146 Kinder von drogen- und alkoholabhängigen Eltern besucht« (Die Welt 19.10.2006). In der Hansestadt sollen ›Problemfamilien‹ »künftig zwei Mal in der Woche kontrolliert werden« (Die Welt 19.10.2006). Familien ohne den zugewiesenen Status der ›Risiko- oder Problemfamilie‹ erhielten keinen Besuch. Diese selektive Praxis ist laut Schlesinger und Urban (2015) nicht auf Maßnahmen und Angebote im direkten Kontext des Falls ›Kevin‹ begrenzt, sondern zeigt sich z.B. auch in allgemeinen Unterstützungsformen und Angeboten der Frühen Hilfen, die sich ebenfalls vorrangig

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Familie unter Verdacht

an Mütter und Familien in ›belasteten Lebenslagen‹ richten, wenn dies auch selten expliziert wird (vgl. S. 42f.). Obwohl solche Angebote auf eine Einebnung von Differenzierungen abzielen, um so zu einer »familienfreundlichen Gestaltung unserer Gesellschaft« (Gerlach 1996, S. 154) beizutragen, stabilisieren sie hierbei gleichzeitig strukturelle Disparitäten und die Legitimation einer Kontrolle bestimmter Familien. Schmitt (2013) bezeichnet diese Differenzierung als »Ambivalenz von Markern« (S. 286), bei der Erkennungspraktiken von Missständen paradoxerweise zwar auf Anerkennung und Teilhabe zielen, gleichsam aber mit Exklusionspraktiken einhergehen. Prozesse der Exklusion sind einem defizitorientierten Umgang mit ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ nahezu immanent, da ›inkompetente‹ Familien – ob als konkrete Bedrohung oder als abstraktes Risiko – ›normalisiert‹ werden müssen. Auf der Basis dieser Marker können Eingriffe in Familien auch dann legitimiert werden, wenn kein konkreter Verdacht des ›Versagens‹ familialer ›Erziehungskompetenzen‹ besteht. Die Indikatoren ergeben sich aus der vergleichenden Betrachtung vergangener Verläufe, die Aussagen über den gegenwärtigen Zustand ermöglichen. Somit stellen sie lediglich eine erwartete Prognose und keine Vorhersage dar, obwohl sie faktisch häufig als solche präsentiert werden (vgl. Kap. IV, 2.2.3). Dadurch wird die Einleitung entsprechender Maßnahmen legitimiert.25 Diese Tendenzen lassen sich in die generelle, vor allem in England schon länger populäre Gesellschaftsdiagnose der »Securization« (Bogner 2012, S. 94) einordnen. Sie

25

Solche prädikativen Tendenzen zeigen sich gegenwärtig in vielen sozialen und gesellschaftlichen Bereichen, z.B. in der umstrittenen Praxis des Predictive Policing. Dieses in den USA bereits weit verbreitete Verfahren einer vorhersagenden Polizeiarbeit entwickelt sich in den letzten Jahren auch auf dem deutschen Sicherheitsmarkt rasant. Unter Nutzung verschiedenster Technologien und Datenbanken werden hierbei Eintrittswahrscheinlichkeiten von Straftaten ermittelt, die der Polizei Hinweise für ihre Einsatzplanung liefern und so helfen sollen, künftige Verbrechen frühzeitig zu erkennen und zu verhindern. Die Basis stellen Statistiken und der Grundgedanke dar, dass sich Muster, die gehäuft auftreten, auch in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit wiederholen werden. Kritisch angemerkt wird hierbei u.a., dass durch dieses Verfahren Menschen unter Tatverdacht gestellt werden können, ohne dass es hierfür einen konkreten Anlass gibt (vgl. Bode et al. 2017). Vor dem Hintergrund gestiegener indikatorengestützter Risikoeinschätzungen und Normalisierungsprozessen kindlicher Entwicklungsverläufe sowie zunehmender Aushebelungsverfahren des Datenschutzes lässt sich langfristig auch im Hinblick auf familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ ein Bedeutungszuwachs solcher Techniken erwarten mit dem Ziel, familiale Erziehung zu prädikativ noch besser abschätzbaren und quantitativ ›verort- und überprüfbaren‹ Leistungen zu machen. Bereits jetzt basieren Risikoeinschätzungen zumeist auf einem statistischen ›risk assessment‹, bei dem das Eintreten bestimmter Faktoren in das familiale Setting externalisiert wird. In der Annahme, dass sich Risiken aus den Faktoren Eintrittswahrscheinlichkeit x Schadensgröße ergeben, werden immer auch Vergleiche der Faktoren mit anderen Phänomenen gezogen und die konkrete Gefahr dadurch neutralisiert bzw. erst im Rahmen der Betrachtung des familialen Settings einschätzbar (vgl. z.B. Douglas & Wildavsky 1983; Ropohl 1995). Die klassifizierenden Zuschreibungen und Einschätzungen legen somit bereits heute die normative Legitimationsgrundlage dafür, wer »zu Recht« zu fördern und zu kontrollieren sei (Dollinger & Schmidt-Semisch 2016, S. 13). Sie bilden damit die Basis für die legitime Durchführung bestimmter Maßnahmen in bestimmten gesellschaftlichen Teilgruppen (vgl. Iller 2012; Oelkers 2015) bzw. in besonderen Belastungssituationen (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2006, S. 14), auch wenn zunächst kein familiales ›Versagen‹ nachgewiesen werden kann.

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

zeichnet sich insbesondere durch einen allgemeinen »fundamentalen Wandel zur sozialen Kontrolle« (ebd., S. 95) sowie durch die »anlassungsspezifische, kontinuierliche Kontrolle der Bürgeraktivitäten« und eine Etablierung technischer Innovationen zur Aktivitätskontrolle (ebd., S. 96ff.) aus. Bereiche der Hilfen für Familien knüpfen somit an dieser Stelle an »kulturell etablierte Verständigungsformen und Sinnzuweisungen an, die Auskunft darüber geben, welche Risiken gegenwärtig der Aufmerksamkeit bedürfen und sie begründet Maßnahmen, denen zugesprochen wird, für Sicherheit zu sorgen. […] Sicherheit muss als Narration geglaubt werden« (Dollinger 2016, S. 59f.). Nachträgliche Interventionen können so durch vorauseilende Prävention ersetzt werden, obwohl nicht nachweisbar ist, dass die betreffende Maßnahme überhaupt nötig gewesen wäre. Wenn aus Risikoindikatoren Prognosen erstellt werden, die für den öffentlichen Kinderschutz handlungsleitend sind, dann wird die Zukunft jedoch immer ein Stück weit der Vergangenheit gleichen, egal was die Realität der Zukunft tatsächlich offeriert: »Nicht mehr das Geschehene, sondern das Eventuelle gilt als Maßstab des staatlichen Handelns, das jetzt zunehmend darauf setzt, durch unauffällige Maßnahmen erwünschtes Verhalten zu erzeugen« (Kucklick 2014, S. 143). »Dass auch Eltern, die sich redlich bemühen […,] gegängelt werden, muss als Nebenwirkung in Kauf genommen werden« (taz 18.12.2006b): »Wenn bei jungen Familien viele Risikofaktoren zusammentreffen, benötigen sie Unterstützung. Sie können von den Hilfen profitieren, selbst wenn sie ihr Kind auch ansonsten nie misshandelt oder vernachlässigt hätten« (SZ 04.11.2006). »Gleichwohl grenzt die Debatte darüber ans Lächerliche. Richtig ist zu überlegen, ob sie zweckmäßig ist. Nicht aber, ob […] [sie] einen unzumutbaren Eingriff in das Elternrecht darstellt. Kinder sind in unserem Land schwächer geschützt als Autos oder Schornsteine. Kein Mensch würde das Bundesverfassungsgericht anrufen, weil er den TÜV regelmäßig in sein Auto schauen lassen muss« (Die Zeit 51/2007a). Vielmehr würde ohne solche Risikoeinschätzungen »das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verletzt […]. Man kann nicht 100 Prozent der Kinder zwangsweise einbestellen, um die ein bis zwei Prozent der Eltern zu identifizieren, die ihre Kinder misshandeln« (Der Spiegel 49/2006). Diese selektive Praxis wird auch auf kinderschutzrechtlicher Ebene durch die Nachrangigkeit des SGB VIII gegenüber dem SGB II bestärkt: »Positiv begünstigt werden dabei gut qualifizierte arbeitswillige Eltern, während für ›erwerbsfähige Arbeitslose‹ an dieser Stelle ein Zwang entstehen kann, bei dem durch die verwaltungsmäßige Zuständigkeit des ›Fall-Managers‹ (nach SGB II) genau die Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Aspekten des Kindeswohls beschnitten werden. An diesem Punkt besteht die Möglichkeit der Kollision der Normen der Arbeitspflicht und des Kindeswohls« (Marthaler 2009, S. 226f.). Aber auch die gesetzliche Festschreibung des Auftrages der Qualitätsentwicklung (§§ 79, 79a, 74 SGB VIII), die seit dem Jahr 2012 vorsieht, Träger bei der Entwicklung und Anwendung von Risikoindikatoren und Kinderschutzstandards zu unterstützen, befördert eine Differenzierung von Familien nach bestimmten Eigenschaften. Gerechtigkeit wird dadurch auch auf institutioneller Ebene zunehmend an Risikoindikatoren geknüpft, die in rationalisierten Semantiken schließlich die Differenz

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Familie unter Verdacht

zwischen natürlichen Gefahren und menschlich herbeigeführten Risiken tendenziell immer stärker einebnen. Das heißt, die »graduierte Qualität« (Scherr 2012, S. 113) von Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ ist nicht nur narrativ an bestimmte familiale Settings gekoppelt, sondern wird durch deren Einschreibungen in Praktiken und Artefakte verfestigt, die dann unmittelbar auf den Alltag der betroffenen Familien wirken: »Wörter sind unschuldig. Sie verlieren ihre Unschuld erst, wenn sich Programme auf sie gesetzt haben und mit ihrem Gebrauch strategische Zwecke verbinden« (Mittelstraß 2007, S. 4). Als Artefakte definieren und regulieren sie nicht nur Zuständigkeiten, sondern auch Wahrnehmungen und können somit als »fixierte Ausdrucksformen historisch-genetischer Prozessstrukturen« (Lueger 2010, S. 97, Herv. i. O.) bzw. als Dispositive konzeptualisiert werden, die als Antwort auf soziale Probleme entstanden sind, in ihrer konstitutiven Sinnstiftung aber immer auch (Neben-)Folgen mit sich bringen. »Die reine Materialität von Artefakten ist unerheblich – was zählt, ist der sinngebundene Verweis auf etwas anderes, das zwar im Artefakt enthalten ist, aber erst konstruktiv hervorgehoben werden muss« (ebd.). Die ›sinngebundenen Verweise‹ auf familiale Differenzierungen und damit verbundene Deutungen müssen nicht intendiert sein und können mitunter auch nur bedingt gesteuert werden, denn »die Politik kann Rahmenbedingungen und Voraussetzungen schaffen, dass die Menschen gleiche Chancen erhalten zur Entfaltung, aber nicht die Sinn stiftende Wirkung liefern« (Focus 04/2007). Gleiches lässt sich im Hinblick auf die Wissenschaft konstatieren. Indem bestimmte Merkmale von Familien als Klassifikationsschemata für Wirklichkeitsbereiche sozialer Arbeit dienen, die entsprechende Handlungspraxen des Kinderschutzes anleiten, können sie somit eine (nicht) intendierte ordnende Wirkung entfalten. Diese Ordnung kann unabhängig von der tatsächlichen Handlungsbefähigung sein, d.h., sie wird dann weniger über das tatsächliche Können und die vorliegenden Handlungsfacetten der Eltern ermittelt als vielmehr über vermeintliche Anzeichen einer Normerfüllung oder -abweichung, die in der Regel am Kind und an seiner Familie sowie an deren Lebenssituation festgestellt werden (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S. 89; Mayer 2015; Thoma 2014).

4.1.2.

Die Stabilisierung eines ›competence divide‹ in der normativen Subjektivierung familialer Kollektive

Trotz der differenzierten Adressierung von Familien im Rahmen verschiedener Hilfsangebote und Unterstützungsmaßnahmen bleibt häufig unberücksichtigt, dass auch mit professioneller Begleitung nicht alle Familien die Anforderungen an eine ›kompetente‹ Elternschaft insbesondere vor dem Hintergrund sich ausweitender Wissensbestände und Professionalisierungsbestrebungen in gleichem Maße bewältigen können. Personen- und herkunftsbedingte Disparitäten werden im Rahmen der ›Hilfen zur Selbsthilfe‹ nicht unbedingt abgebaut, sondern können vielmehr sogar verstärkt und verschärft werden. Sie bilden so eine neue Form ›graduierter Qualität‹, die auf mögliche Grenzen der ›lernfähigen Familie‹ (vgl. Kap. III, 3.2.1), aber auch auf Unterschiede in der ›normativen Subjektivierung‹ verweist. In der Arbeitsforschung wird mit dem Begriff der ›normativen Subjektivierung‹ das Phänomen beschrieben, dass bestimmte Gesellschaftsschichten ihr Bestreben nach

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

Selbstverwirklichung und -entfaltung auf die Arbeitswelt übertragen (vgl. Baethge 1991). Eine ähnliche Entwicklung scheint sich auch bei der Einlösung einer selbstbestimmten bzw. -erfüllenden Elternschaft abzuzeichnen. Vor allem bei den ›etablierten Müttern der Oberschicht‹ und der ›oberen Mittelschicht‹ sind stärkere Tendenzen zur Selbstentfaltung und -entwicklung zu erwarten als in der ›Unterschicht‹ und der ›unteren Mittelschicht‹. Dies legen unter anderem die Ergebnisse einer Eltern-Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung nahe, aus denen hervorgeht, dass sich etablierte Mütter der ›Oberschicht‹ und der ›oberen Mittelschicht‹ vor allem als ›Erziehungsmanagerinnen‹ im Sinne der Modellpraxis der Familie als ›souveräne Marktteilnehmer‹ wahrnehmen (vgl. Kap. III, 3.2). Ihre Aufgabe sehen sie darin, »das Kind frühzeitig ›auszurüsten‹ und zu fördern, ›Fehlentwicklungen‹ vorzubeugen bzw. rechtzeitig zu intervenieren und dem Kind so optimale Startchancen zu gewähren, damit es für den Wettbewerb ›fit‹ ist« (Merkle & Wippermann 2008, S. 38). Das Interesse an Erziehungsfragen bei einem Großteil der gut situierten und gebildeten Familien ermöglicht es, die entsprechenden Eltern im Sinne der Marktlogik als ›konsumfreudige Kunden‹ auf dem Markt um die ›Ware Kind‹ zu adressieren (vgl. Wildgruber 2011, S. 89). Während sich Familien der ›Mittel- und Oberschicht‹ demnach eher Fragen nach der ›richtigen‹ Erziehung stellen und aktiv auf der Suche nach neuen Wissensbeständen im Sinne einer »Professionalisierung von Elternschaft« (Friebertshäuser 2007, S. 192) sind, die anleitende ›Hilfen zur Selbsthilfe‹ erfolgversprechend erscheinen lassen, geht aus den Ergebnissen der Studie hervor, dass Familien der ›Unterschicht‹ und ›unteren Mittelschicht‹ eher passiv an bewährten Wissensbeständen festhalten, auch wenn sie diese anzweifeln. Generell verbinden sie wenig konkrete Leistungsanforderungen und eigene Ansprüche mit familialer Erziehung (vgl. Henry-Huthmacher 2008). Vor allem die ›untere Mittelschicht‹ soll zumeist sehr stark an traditionellen Praxen orientiert sein, wie sie sich in den Narrativen familialer Erziehung als ›naturwüchsiges Glück‹ andeuten (vgl. Kap. III, 2.1.2), die den narrativ inszenierten Anforderungen und Programmatiken einer professionalisierten Elternschaft jedoch nicht genügen (vgl. Henry-Huthmacher 2008). Die konstatierte geringere intrinsische Leistungsmotivation kann mitunter darauf zurückgeführt werden, dass in diesen Personengruppen in der Regel Zukunftserwartungen und Selbstverwirklichungsansprüche eine geringere Bedeutung haben, während gleichzeitig eine ausgeprägte »Angst der Mittelschicht vor der familialen Deklassierung« (Gebhardt 2009, S. 8) vorherrscht. Mangelnde Perspektiven und die Furcht vor dem Fall können so ein Festhalten an bewährten Praxen begünstigen. Solche ›normativen Subjektivierungsweisen‹ finden jedoch in den Angebotsausgestaltungen diverser Hilfen und Unterstützungsformen zumeist kaum Berücksichtigung. Den meisten dieser Angebote scheint vielmehr das neoklassische Narrativ zugrunde zu liegen, dass solche Unterschiede und Ungleichheiten über Diffusionsprozesse eines ›Trickle-downEffekts‹ behoben werden können. Dieser bezieht sich im Kern auf das Wechselspiel von Innovation und Nachahmung, d.h. dem Abgrenzungsbedürfnis der Elite und dem Imitationsbedürfnis der Masse, wobei Aufstieg als wesentlicher Antrieb der Masse gedeutet wird. In der Folge wird angenommen, dass die Elite nach oben drängt und die Masse dies nachzuahmen versucht, mit dem Effekt, dass Wissen von oben nach unten in alle Gesellschaftsschichten und -bereiche durchsickert. Gleichzeitig müsse die Elite zur

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Familie unter Verdacht

erneuten Disktinktion fortlaufend neues Wissen produzieren und erwerben, was den Prozess permanent in Bewegung halte (Simmel 1998 [1923], S. 40f.). Diese These scheint insbesondere hinsichtlich einer eher ›verinselten‹ Nutzung familienbildender Angebote in statusniedrigen Familien fraglich (vgl. Faas et al. 2017, S. 41ff.). Denn das Phänomen kann nicht nur auf schicht- und milieuspezifische divergierende Selbstverwirklichungsansprüche zurückgeführt werden, sondern auch auf eine angenommene höhere Sensibilität bildungsnaher Familien gegenüber neuen Informationen und auf ein entsprechend größeres Vorwissen sowie eine größere Kommunikations- und Medienkompetenz. Diese Kompetenzen gehen oftmals auch mit einem umfangreichen Netzwerk einher, das Möglichkeiten zur Anschlusskommunikation und einen Austausch über neu erworbenes Wissen und Kenntnisse bietet. Bei statusniedrigen und bildungsfernen Familien hingegen sind die Zugangsmöglichkeiten zu Wissensbeständen und deren Adaption mitunter stark eingeschränkt (vgl. Jäckel 2011, S. 325f.; Lenz & Zillien 2005). So gesehen wäre zu erwarten, dass mit dem Wissen der ›Elite‹ das ›Nichtwissen der Massen‹ steigt und insbesondere Ratgeberliteratur und Familienbildungsprogramme zur Förderung von ›Erziehungskompetenzen‹ nicht ausgleichend wirken, sondern vielmehr zum Trendverstärker werden. Dies kann im weiteren Verlauf, insbesondere in Kombination mit deklassierenden diskursiven Zuschreibungen, sowohl in der Außenwirkung als auch in den Subjektivierungsweisen der Kollektive zur Verfestigung der Wissenskluft bzw. einem ›competence divide‹ führen, der ohnehin bestehende Ungleichheiten verstärkt: »Der weitere Verlauf der Opferwerdung folgt dann hingegen stärker einer Art Automatismus: Die intensive kognitiv-emotionale Beschäftigung mit entsprechendem Problemwissen reduziert zunehmend die Wahrscheinlichkeit, alternative Deutungen der jeweiligen Symptome kennen zu lernen und in Erwägung zu ziehen. Der problemorientierte Identifikationsprozess wird für das Subjekt zu einer Einbahnstraße« (Schetsche & Plaß 2000). Mit Böhle und Sauer (2019) kann die Bildung und Verstärkung einer solchen Wissenskluft auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung einer deutschen Professionskultur zurückgeführt werden, in der versucht werde, alles und jeden zu professionalisieren, während nicht wissenschaftliches Wissen als ›Fehler‹ verurteilt werde. Ein Phänomen, das sich auch in der Hierarchie der beruflich ausgebildeten und akademischen Fachwelt zeige. Wissen wird somit zum eigentlichen Trennbegriff ›kompetenter‹ und ›inkompetenter‹ Erziehung, der mit unterschiedlichen familialen Settings kurzgeschlossen wird, während divergierende, ermöglichende und begrenzende strukturelle und kulturelle Rahmenbedingungen sowie konkrete und einheitliche Kriterien zur Orientierung ausbleiben und der Sinnbearbeitung im eigenem Nahraum überlassen werden (vgl. Kap. III, 4.3). Die Beschleunigung des Wissens im Allgemeinen sowie die diskursiven Dynamiken und Prozesse familialer ›Erziehungskompetenzen‹ im Speziellen können hierbei nicht nur insofern zu Erfahrungen ›radikaler Kontingenz‹ führen, als sie unterschiedliche Verhaltensweisen als ›kompetent‹ bzw. ›inkompetent‹ erscheinen lassen, sondern auch dadurch, dass gegenwärtig als ›kompetent‹ gedeutete Handlungen vielleicht bereits morgen als ›Scheitern‹ abgewertet werden (vgl. Dimai 2012, S. 73). In Anbetracht

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

der begrifflichen Weite, der Fluidität und der Situationsgebundenheit familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ sowie angesichts des Pluralismus aus einer Vielzahl zum Teil widersprüchlicher Anforderungen erscheint vor allem die in der Alternativnarration vorgenommene enge Verknüpfung von Erziehung und Wissen bzw. Bildung als Leistungsstand problematisch, denn damit wird suggeriert, dass ›Erziehungskompetenzen‹ ebenso wie Lernfortschritte messbar sind. Das aber erweist sich als wenig schlüssig: »Wenn Leistung heißt, sich anzustrengen und dies wiederum heißt, seine Fähigkeiten zu nutzen, zugleich jedoch kein Maß existiert, welches eine Quantifizierung menschlicher Fähigkeiten, Potenziale oder Kompetenzen erlauben würde, kann Leistung nicht gemessen werden« (Dimai 2012, S. 66). Forderungen nach Kompetenzsteigerung geraten auf diese Weise in einen Bereich des Abstrusen (vgl. Distelhorst 2014, S. 66; Müller & Karsten 2014, S. 116).

4.1.3.

Die zweifache Unterdrückung von Familien im Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle

Hilfsangebote und Maßnahmen für Familien unterscheiden sich nicht nur im Hinblick auf ihre Adressierung und Nutzung, sondern auch hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit. In ihrem semantischen Gehalt umfassen Hilfsangebote, insbesondere als Maßnahmen der Risikoabwendung eines familialen ›Versagens‹, per se »in erster Linie den potenziell negativen Ausgang bei einer Unternehmung, mit dem Nachteile, Verluste oder Schäden verbunden sind« (Hongler & Keller 2015, S. 23; vgl. auch Kap. III, 3.1.2). Diese deutungsimmanente Möglichkeit des Scheiterns von Maßnahmen bezieht sich vor allem auf die Bereitschaft zur Mitwirkung seitens der Familien: Möglicherweise nehmen sie die offerierten Angebote nicht wahr oder können sich aufsuchenden Unterstützungsformen entziehen. Nicht nur im Fall ›Kevin‹, sondern auch im Fall ›Lea-Sophie‹ zeigten sich die Eltern wenig kooperativ: »Der 26jährige Vater und die 23jährige Mutter lehnten dabei jegliche Beratungsangebote sowie die mögliche Unterbringung der Tochter in einer Kita ab« (taz 25.11.2007). Entsprechend bleibt umstritten, ob die Unterstützung von Eltern »ein freiwilliges Angebot sein soll oder ob Eltern notfalls gezwungen werden müssen« (taz 04.11.2006). »Manche Politiker sind inzwischen überzeugt: Nur Zwang hilft.« Bisweilen wird zwar der häufig eingeforderten Selbststeuerung von Familien Rechnung getragen: »Sofern man es mit einigermaßen intakten Familienstrukturen und stabilen Elternpersönlichkeiten zu tun hat, ist dagegen auch gar nichts einzuwenden. Ein Kind in die Hände eines Menschen zu geben, der nicht einmal sein eigenes Leben im Griff hat, ist indes grob fahrlässig« (taz 14.10.2006d). Gerade »Fälle wie Kevin wird man so nicht verhindern« (taz 18.12.2007). »Aufsuchende Hilfen« (taz 28.10.2006b) und »sanft kontrollierende« (taz 28.10.2006b) Maßnahmen werden daher auch bei einer grundsätzlichen autonomen und lernfähigen Positionierung von Familien keinesfalls vollständig negiert, sondern scheinen bei Bedarf auch hier durchaus ihre Berechtigung zu erhalten. So möchte man sich z.B. in Hessen und im Saarland nicht darauf verlassen, dass alle »Mütter von selbst Hilfe suchen oder von aufmerksamen Ärzten vermittelt werden« (SZ 19.12.2007b). Aus dieser Risikoperspektive auf Familien sei der Staat aber »auch in diesen Fällen kein drohender Staat, der darauf aus ist, den Eltern die Kinder wegzunehmen – er muss vielmehr ein Helfer sein, der die Mütter so früh es geht,

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Familie unter Verdacht

stark macht und der für sie den Weg zum Kind freischaufelt […]. Der partielle oder vollständige Entzug des elterlichen Sorgerechts ist Ultima Ratio« (SZ 14.10.2006). Somit zeigen sich insbesondere aus Perspektive der Alternativnarration nicht nur Grenzen im Hinblick auf stark reglementierende und generalisierte Maßnahmen (vgl. Kap. III, 3.3.1), sondern auch hinsichtlich der vordergründig propagierten, freiwilligen Hilfsangebote zur Unterstützung von Familien. Obwohl die Frühen Hilfen in ihrer präventiven und unterstützenden Ausrichtung eher als Gegenkonzept eines stark kontrollierenden und intervenierenden Kinderschutzes narrativ eingeführt wurden, weisen sie einen ambivalenten Charakter zwischen Hilfe und Kontrolle auf. Denn wenngleich die Maßnahmen als ›Hilfen‹ bezeichnet werden, so werden sie auch dann angeboten, wenn kein Mandat oder ein subjektiv wahrgenommener Unterstützungsbedarf seitens der Eltern vorliegt (vgl. Dahme & Wohlfahrt 2018). Es handelt sich somit nicht um zwei gegensätzliche Unterstützungsformen aus kontrollierenden Maßnahmen und freiwilligen Hilfsangebote, sondern um ein Verfahren, das beide Komponenten umfasst: »Hilfe und Kontrolle stellen sich vor diesem Hintergrund als ein jugendhilferechtliches Verwaltungsverfahren dar, nicht als zwei unabhängige Verfahren oder als zwei aufeinander folgende Schritte, auch nicht als zwei Seiten einer Medaille: dient die ›Hilfe‹ primär der Wiederherstellung der elterlichen Einsicht in die Wahrnehmung der Erziehungsfunktion, so ist die Kontrolle von Anfang an präsent und zunächst einmal ein Instrument repressiver Motivation zur Herstellung dieser Einsicht. Sozialrechtliche Hilfen dieser Art als Dienstleistung zu beschreiben ist deshalb eine falsche Bestimmung des sog. jugendhilferechtlichen Hilfesachverhalts. Die Drohung, erziehungsunwillige Eltern rechtlich oder finanziell zur Verantwortung zu ziehen, sie zu belasten, bspw. mit dem ›Gang vor den Kadi‹, ihnen mit der Ingangbringung eines gerichtlichen Verfahrens zu drohen, ist dem modernen, staatlich organisierten Hilfeverfahren immanent, und dies als Dienstleistung zu beschreiben, ein Euphemismus« (ebd. S. 223, Herv. i. O.). Der im Rahmen des Bundeskinderschutzgesetzes umformulierte Absatz zum Hilfeangebot an die Eltern (§ 8a Abs. 1 Satz 3 SGB VIII) verstärkt dieses Spannungsverhältnis zwischen Hilfe und Kontrolle, indem er regelt, dass Hilfsangebote gemäß dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor der Durchführung zu prüfen sind, ob sie die Eignung und Wirksamkeit der Hilfe zur Gefährdungsabwehr voraussetzen. In erster Linie sollen Hilfen zur Erziehung nach §§ 27ff. SGB VIII und die Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII in Betracht gezogen werden, die den Eltern anzubieten und in Absprache durchzuführen sind (§ 7 Abs. 1 Nr. 6 BGB). Dies lässt einen größeren Spielraum, um zu berücksichtigen, ob die Maßnahmen zu den vorliegenden ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ passen. Bereits seit dem Jahr 2008 ist hierbei ein Maßnahmenkatalog zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung hinzuzuziehen (vgl. § 1666 Abs. 3 BGB). Dabei sind nach Abs. 1 Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der Familie verbunden ist, nur gestattet, wenn die Abwendung der Gefahr nicht auf anderem Wege erfolgen kann bzw. andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder wenn anzunehmen ist, dass sie zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen. Somit berechtigt nach wie vor nicht jedes ›Versagen‹ oder fahrlässige Agieren seitens der Eltern den Staat in der Funktion seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zukommenden Wächteramtes, die Eltern von ihren Rechten und Pflichten zu entbinden und diese stellvertretend zu übernehmen. In

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

einem solchen mehrstufigen Prozess sollen Zwangsmaßnahmen möglichst vermieden und auch solche Familien erreicht werden, die durch das Raster von Risikokalkulationen fallen bzw. sich anderen Maßnahmen und Angeboten entziehen. Insofern keine konkrete Gefährdung des ›Kindeswohls‹ vorliegt, können die Familien bedarfsangemessen und autonom über den Einsatz der jeweils vorgeschlagenen Maßnahme entscheiden, so dass bei einer vermuteten Gefährdung seitens der Kinder- und Jugendhilfe zuerst der Hilfeauftrag (§ 4 Abs. 1 KKG) und seitens der Eltern der Beratungsanspruch (§ 8 Abs. 3 SGB VIII) besteht. Die Änderungen des Verfahrens zur Gefährdungseinschätzung (§ 8a Abs. 1 Satz 2 neu SGB VIII) stabilisieren somit auch die Handlungsfähigkeit der Familien. Erst wenn im Rahmen der Risikoeinschätzung eine Kindeswohlgefährdung angenommen wird, sind die Eltern verpflichtet, die Maßnahme durchzuführen, im Einzelfall über die Entscheidung des Familiengerichts (§ 50 f FGG): Das Grundgesetz habe den Eltern somit »vor allen Miterziehern – den Staat eingeschlossen – den Vorrang eingeräumt. Nur wenn ›im Einzelfall‹ der Verdacht bestehe, dass die Eltern ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, dürfe deshalb der Staat eingreifen« (Der Spiegel 49/2006). Hiermit soll erreicht werden »›dass die Richter‹, so steht es im Gesetzentwurf, ›frühzeitiger und stärker auf die Eltern einwirken‹ können, um diese anzuhalten, notwendige öffentliche Hilfen zur Wiederherstellung ihrer Elternkompetenz in Anspruch zu nehmen« (Der Spiegel 22/2007). »Danach können betroffene Eltern unter anderem zu Erziehungsgesprächen, Anti-Gewalt-Trainingskursen oder einer Ernährungsberatung gezwungen werden. Sie können auch per Zwangsgeld aufgefordert werden, ihren Nachwuchs in einen Kindergarten oder zu einer Sprachförderung zu schicken« (Die Welt 12.07.2007). »Verweigern die Eltern die Zusammenarbeit, können die Richter ein Zwangsgeld verhängen und im Extremfall das Kind in ein Heim einweisen« (Der Spiegel 22/2007). »Stets muss die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben« (Focus 16.10.2006). Die ›Verhältnismäßigkeit‹ bildet somit letztlich die Steuerungs- und Legitimationsgrundlage verschiedener Angebotsformen, bei der die unterschiedlichen Adressatengruppen in Relation zur Verbindlichkeit der Inanspruchnahme von Hilfen gesetzt werden. Das kann zu einer Etablierung unterschiedlicher Zielsetzungen in Abhängigkeit vom jeweiligen familialen Setting führen: Programme, die darauf zielen, die Fähigkeiten und das (professionelle) Wissen der Eltern auszubauen und Familien als Humanressourcen refamilialisierend in ihrer Eigenverantwortung zu belassen, werden nicht nur vorrangig von Familien eines ›mittleren und oberen Sozialmilieus‹ genutzt (vgl. Kap. IV, 4.1.2), sondern dieses Milieu wird auch als Zielgruppe fokussiert. Demgegenüber scheinen Maßnahmen, die auf Familien ›unterer Sozialmilieus‹ oder andere ›Risiko- und Problemfamilien‹ abzielen, zumeist eher defamilialisierend und kontrollierend in die Verantwortung der Eltern einzugreifen (vgl. Kutscher & Richter 2011). Die Folge sei »Hilfe für die Integrierten und Kontrolle für die Ausgeschlossenen« (Chassé & Wensierski 1999, S. 11). Je dichter, restriktiver und schärfer die entsprechenden Kontrollen und Sanktionen ausfallen, desto geringer werden die performativen Handlungsspielräume und desto höher die Handlungszwänge der Akteure, die sich in ihrem Erleben und Handeln prinzipiell nie vollständig aus den kulturellen und sozialen Kontrollbedingungen befreien können (vgl. Willems 2009). Selbst wenn die familiale Unterstützung zwanglos erfolgt, kann aufgrund dieser Differenzierungen bereits durch das bloße An-

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gebot von Hilfe Macht ausgeübt werden. »Zumindest wird den ratsuchenden Familien durch das Hilfsangebot signalisiert, dass sie hilfsbedürftig sind« (Iller 2012, S. 80). Das aber bringt sie unter Umständen in eine »dramaturgische Not« (Boettner 2015, S. 81), in der jeglicher »Kontakt zur Sozialen Arbeit selbst schon ein Stigmasymbol darstellt« (ebd.). Und »wer sich kontrolliert weiß, wird sich anders verhalten, als wenn dies nicht der Fall ist. Indem ihm oder ihr signalisiert wird, dass Grund für Besorgnis besteht, wird durch Sicherheitspolitiken Unsicherheit generiert« (ebd., S. 14). Dies lässt familiale Hilfen »nicht mehr als Quellen der Inklusion und Homogenisierung, sondern als Motoren von Segregation und sozialer Ausschließung« (Schierz 2013, S. 39) erscheinen. Das Angebot von Hilfe kann so nicht nur als ›Wagnis‹ erachtet werden (vgl. Kap. III, 3.4), sondern für Familien zum Urteil werden, »und zwar das Urteil derer, die die Faktoren definieren, kombinieren und interpretieren« (De Boer 2010, S. 192). Hinter dem Eindruck eines Universalitätsanspruches verbergen sich somit nicht nur unterschiedliche Annahmen zu ›legitimen Wissensformen‹ (vgl. Kap. III, 4.3) und Klassifizierungsformen von Familien, denen sie als Adressaten zugeschrieben oder abgesprochen werden (vgl. Kap. IV, 1.2.), sondern es zeigt sich organisatorisch vor allem durch die Verbindung von Bildung und Hilfe eine problematische Verknüpfung von Wissen und Macht. Diese Verbindung führt nach Foucault (2003) zu einer »zweifachen Unterdrückung« (S. 273): Zum einen werden Problem- und Risikofamilien von bestimmten Angebotsformen zumindest implizit ausgeschlossen, so dass sie nicht an dem dort generierten und vermittelten Wissen teilhaben können, zum anderen werden ihnen in speziell konzipierten repressiven Maßnahmen oder niederschwelligen Hilfen bestimmte Wissensformen und Nomen ›aufgezwungen‹ (vgl. Kumięga 2012; Schetsche 2000, S. 114). Dies kann insbesondere dann in einer additiven Abwärtsspirale münden, wenn nicht die tatsächlichen Einstellungen oder Verhaltensweisen von ›Problem- und Risikoeltern‹ fokussiert, sondern deren soziale Lagen und kollektive Subjektivierungsweisen an sich zum »objektiven Tatbestand einer Risiko-Behaftung« (Dollinger 2015, S. 47) gemacht werden. Denn Subjektkonstitution enthält immer zwei Aspekte: Identität und deren Darstellung (vgl. Bublitz 2011), d.h., Performanz ist nicht zwingend Kompetenz und Unterschicht ist nicht per se ›gefühlte‹ Unterschicht. Die ›sichtbaren‹ Differenzierungsmarker wären somit sowohl von den tatsächlich vorliegenden Lebensrealitäten der Familien zu trennen als auch von deren ›unsichtbarem‹ subjektivem Empfinden und Erleben, die Motive und Entscheidungen steuern und sich im Zeitverlauf zu einer persönlichen Biographie zusammengefügt haben. »So kann sich eine Person unter sozialstrukturellen Bedingungen, die kaum Handlungsräume übrig lassen, selbst als agentiv und selbstbestimmt verstehen oder sich umgekehrt trotz gegebener Entscheidungsspielräume und Handlungsoptionen als ohnmächtig erfahren« (Lucius-Hoene 2012, S. 40). Anders gesagt lässt sich nicht ausschließen, »dass Menschen mit vorteilhaften Bedingungen ein elendes Leben führen und umgekehrt« (Hradil 2001, S. 27). Die Verknüpfung von ›Erziehungs(in)kompetenz‹ mit bestimmten Eigenschaften und Lebenslagen von Familien führt in der Regel jedoch zu einer Ausblendung dieser ›unsichtbaren‹ Dimensionen familialer Lebenswelten, so dass jede Form bedarfsangemessener sozialer Hilfen zunächst bei der konkreten und individuellen Analyse sozialer Lagen ansetzen müsste, statt Familien vorschnell bestimmten Angebotskategorien zuzuordnen. Denn so werden sie bestenfalls vor dem Hintergrund ihres unmittelbaren

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

Lebensraumes, nicht jedoch in ihrer darüber hinausgehenden Lebenswelt erfasst und es werden dabei Elemente ausgeblendet, die aus Perspektive der Anbieter nicht als relevant erachtet werden (vgl. Thiersch 2003). Dies erscheint vor allem insofern problematisch, als Hilfsangebote per definitionem nur dann welche darstellen, wenn sie bedarfsgerecht und einzelfalloffen sind (vgl. Gildemeister 1992). In der Unterminierung individueller Merkmale und Bedürfnisse durch zugewiesene Problemfaktoren liegt somit die Gefahr, den Bedürfnissen der jeweiligen Familien nicht gerecht zu werden und perspektivisch »relevanten Aspekten stärkeres Gewicht zu verleihen als diesen unter Umständen aus Sicht selbst der Mehrzahl der betroffenen Akteure zukommt« (Windeler 2014b, S. 281), während »der soziale Kontext und die Bedürfnisse der Familie und des Kindes aus dem öffentlichen und professionellen Blickwinkel« (Hofinger 2015, S. 371) fallen. Familien können jedoch nur schwerlich ›Experten‹ ihres eigenen Lebens werden, wenn die eigenen Interessen unberücksichtigt bleiben und nicht in einem gewissen Rahmen von den Vorstellungen und Interessen öffentlicher Sprecher abweichen können (vgl. Unterkofler 2010). Einem solchen Denken liegt die »normative und sozialtechnologische Vorstellung zugrunde, Kompetenzen ließen sich beliebig pädagogisch herstellen, sicherstellen bzw. manipulieren« (Dewe 2010, S. 116).Das entspräche jedoch der »Auflösung des Subjekts […] auf eine Kombination von Risikofaktoren« (Hongler & Keller 2015, S. 27), die insbesondere in den (Re-)Moralisierungsbemühungen der Gegennarration (vgl. auch Kap. III, 2.3.3) auch öffentlich vielfach angeprangert wird: »Auf der Strecke bleibt die gesetzliche Verpflichtung, gegen die systematische Benachteiligung und für positive Lebensbedingungen Stellung zu beziehen« (taz 29.07.2009). Dies zeige, »wo staatliches Handeln Gefahr läuft zu versagen: bei der individuellen Not« (Die Zeit 51/2007a). Denn »Tragödien entziehen sich der Regelhaftigkeit. Jeder Versuch, sie in Kategorien fassen zu wollen und damit beherrschbar zu machen, muss scheitern« (Die Zeit 51/2007a). In der suggerierten Faktizität und Selbstverständlichkeit der Risikobehaftung scheinen die Bewältigungsmaßnahmen den jeweiligen Individuen stattdessen stets gerecht zu werden (vgl. Schäfer & Thompson 2015, S. 26). Damit zeigen sich Tendenzen einer ›Immunisierung der Oberschicht‹ nicht nur in ordnenden Ursachennarrationen von Fällen wie ›Kevin‹ (vgl. Kap. IV, 2.3.1), sondern auch in institutionalisierten Praktiken der sozialen Arbeit, die gleichzeitig Dynamiken einer Ausweitung staatlicher Interventionsmöglichkeiten legitimieren. Dies weist gewisse Parallelen zum Fall ›Mary Ellen‹ auf, in dessen Folge die öffentliche Aufmerksamkeit zur Institutionalisierung des Kinderschutzes und unterschiedlicher Sicherheitssysteme sowie der Legitimierung öffentlicher Eingriffsrechte in Familien genutzt werden konnte (vgl. Kap. II, 2.2.1). Mit der flankierenden Institutionalisierung einzelner Elemente eines ›Frühwarnsystems‹ (vgl. Kap. III, 1.4.) und des ›Risikomanagements‹ (vgl. Kap. III, 3.1.) in Hilfen für Familien werden diese zunehmend zum Spiegelbild der ›Überwachungsgesellschaft‹ (vgl. Dollinger & Schmidt-Semisch 2016, S. 8). »Es gibt faktisch keinen einzigen Bereich gesellschaftlichen Lebens, in dem der Ruf nach mehr Sicherheit nicht auch zu mehr Überwachung, Kontrollen und Überprüfung geführt hat« (Krause 2015, S. 175). Diese dienen dazu, »sich ebenso präzise, wie unauffällig, ein Bild von den Verhältnissen zu machen, in denen Menschen leben« (FAZ 14.05.2007), und »durch soziomateriale Dispositive Handlungs-

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weisen zu unterbinden, die – vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Diskurse – mit Anforderungen an öffentliche Sicherheit konfligieren oder als sozial unerwünscht gelten« (Müller 2013, S. 131). Im Dispositiv familialer Angebote und Maßnahmen zur ›Kindeswohlsicherung‹ zeigen sich somit verschiedene Techniken, die als umfassender »Disziplinarapparat« (Foucault 1993a [1975]) auf die Subjektivierung des familialen Kollektivs zu wirken vermögen und mit Sicherheitsmaßnahmen im Sinne einer Souveränitätsmacht darauf zielen, Zufälligkeiten zu eliminieren und Familie zu optimieren. Dabei verlieren bestimmte Kollektive in exkludierenden Formen einer »hierarchisierenden Überwachung« (S. 236) und »normierenden Sanktion« (ebd.) an Bedeutung. Die Institutionalisierung eines umfangreichen Maßnahmenkataloges im Umgang mit familialen ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ ließe sich daher auch als exklusionsorientiertes Kontrollregime fassen, das »in der Absonderung von solchen inszenierten Problempopulationen den Königsweg zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte« (Hirtenlehner et al. 2012, S. 192) sieht. Ähnlich wie Foucault es für das Gefängnis konstatierte, bildet dieses Kontrollregime einen Konstitutionsort des Zusammenhangs von Macht und Wissen, der im Hinweis auf den Nützlichkeitsanspruch selektiver und mitunter repressiver Maßnahmen bestehen bleibt und den ausführenden Akteuren hierbei die Herstellung eines eigenständigen, monopolisierten Wissens ermöglicht (Foucault 1993a [1975], S. 322). Etzioni (2001) betont, dass es insbesondere die »zu gering ausgebildeten Kontroll- und Konsensfähigkeiten kollektiver Akteure sowie große Macht- und – zukünftig sicher noch bedeutsamer werdende – Wissensdifferenzen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen« (S. 101, Herv. i. O.) seien, die eine Selbststeuerung der Gesellschaft auch künftig verhindern, wobei die Organisation der gegenseitigen Beobachtung das System erst funktionieren und die Macht effizient werden lasse (vgl. Dreyfus & Rabinow 1987, S. 188). Dieses Vorgehen »löst die bisherigen Verfahren der Disziplinierung auf. Zwar gibt es weiterhin Gesetz und Strafe, aber sie werden durch Dauerüberwachung, Risikokalküle und der Entschärfung von möglichen Problemen ergänzt und unterwandert« (Kucklick 2014). Vor diesem Hintergrund ist denkbar, dass Familien im Bedarfsfall mitunter nur deshalb Frühe Hilfe ablehnen, um nicht in den Verdacht der Kindeswohlgefährdung zu geraten (vgl. Patschke 2016, S. 27f.). Das kann entgegen der eigentlichen Intention dazu führen, »dass sich Familien mit Problemen mehr abschotten und keine Hilfen mehr annehmen« (SZ 25.08.2009). »Durch Zwang werden Eltern eher abgeschreckt. Und die Sanktionen, etwa die Kürzung des Kindergelds, schaden dann letztlich den Kindern« (taz 28.10.2006a). Ebenso störe ein »Elterntracking« (Die Zeit 24/2011) die Zusammenarbeit und führe »oft zu einer Abwehrreaktion bei den Beteiligten« (Die Welt 01.07.2009). Indem die Grundausrichtung der sozialen Arbeit zunehmend auf ein strategisches Risikomanagement gerichtet wird, kann die daraus hervorgehende permanente Kontrolle und Lenkung von Eltern unter Umständen aber auch umgekehrt in einer Endlosschleife zunehmender »Expertenhörigkeit« (Gebhardt 2009, S. 9) und ›erlernter Hilflosigkeit‹ münden, die solche Maßnahmen dann erst notwendig macht (vgl. Huxoll & Kotthaus 2012; Iller 2012). Denn gerade die Versuche, dem Verlust intuitiver Fertigkeiten mit kalkulierten Risiken und evidenzbasierten Standards entgegenzuwirken, könnten eine größere Distanz zum eigenen Handeln erschaffen und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten unter-

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

graben. Die Frage laute daher vielleicht »nicht: mehr Staat oder mehr Eigenverantwortung? Sondern: mehr Staat und mehr Eigenverantwortung!« (taz 28.10.2006b).

4.2. 4.2.1.

Familiale Subjektivierung zwischen (Selbst-)Zwang und Autonomie Die Ausblendung der Strukturebene in individualisierten Subjektpositionen

Obwohl die Betonung bestimmter Eigenschaften und Lebenslagen im Legitimierungszusammenhang einer notwendigen Unterstützung von Familien im Diskurs um Fälle wie ›Kevin‹ eine wesentliche Rolle spielt, scheinen hierbei nicht nur Formen und Prozesse ›normativer Subjektivierung‹ und individuellen Empfindens weitestgehend ausgeblendet zu werden (vgl. Kap. IV, 4.1.2), sondern im Hinblick auf eine (Wieder-)Herstellung familialer ›Erziehungskompetenzen‹ auch die tatsächlichen Rahmenbedingungen nur bedingt als familiale Grenze wahrgenommen zu werden. Dies zeigt sich im vorliegenden Material insbesondere darin, dass ungünstige Lebensbedingungen zwar als Indikatoren eines vermeintlichen ›Versagens‹ thematisiert und klassifiziert, bei der Initiierung von ›Hilfe‹ zumeist aber nicht problematisiert werden (vgl. Vorrink 2015). Vielmehr werden missliche Umstände an dieser Stelle an die Eltern weitergegeben als »individuelle Schuld« (taz 09.06.2010), als das »persönliche Versagen« (Die Welt 21.05.2008) oder aber auch als »selbst verschuldete Armut« (taz 21.08.2009), und es kommt zu »Schuldzuweisungen an Einzelne« (taz 24.10.2007). Indem im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ die Eltern als »Instanz hinter der jeweiligen Performanz« (Bünger & Trautmann 2010, S. 18) fokussiert werden und an die »Täter hinter dem Tun« (Schäfer 2001, S. 122) appelliert wird, lässt dies die ›objektive‹ Klassifizierung von Familien gleichzeitig in eine Subjektivierung kippen, die dann nicht nur Bewertungen und Vergleiche, sondern auch eine stärkere Fokussierung von Formen des Selbstmanagements ermöglicht. Die Familien werden hierbei angerufen, Erziehung risikominimierend zu gestalten und die Verantwortung zu übernehmen »für das eigene Handeln (und Unterlassen) oder für übernommene Aufgaben, vor einer Instanz, die Rechenschaft fordert« (Weyers 2006, S. 219). Dadurch wird das ›Misslingen‹ familialer Erziehung oftmals »nicht in erster Linie gesellschaftlichen Strukturen und Werten zugesprochen, sondern auf personenimmanente Unzulänglichkeiten zurückgeführt und alltägliche Entscheidungen unter dem Gesichtspunkt selektiver Risiken und Verantwortungen« (Hildenbrand 1991, S. 185) verhandelt. Die narrativ verbreiteten Autonomie- und Glücksversprechen (vgl. Kap. III, 2.1.2 & 3.3.2) scheinen im Rahmen von Hilfen an Familien zwar generalisierend an alle Familien gerichtet zu sein, dass die Ressourcen zu deren Umsetzung unterschiedlich verteilt sind, wird aber weitgehend ausgeblendet. Insbesondere für die adressierten ›Problem- und Risikofamilien‹ bedeutet dies »weniger strukturelle Entlastung, sondern vielmehr verhaltensbezogene Aktivierungsstrategien« (Kutscher & Richter 2011, S. 196). In deren Rahmen werden familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ als individuelle Handlungsprobleme aufgefasst, die vor allem über »Mechanismen der flexiblen Selbststabilisierung« (Maasen 2010, S. 336) aktiviert werden. Das Risiko eines ›Versagens‹ wird dabei auf die Adressaten selbst verlagert oder zumindest ausgeweitet (vgl. Kessler 2017, S. 210; Pfahl et al. 2015): »Unsere Definition der Familie heißt nicht

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›Familie ist, wo Kinder sind‹. Sondern: ›Familie ist da, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern dauerhaft Verantwortung übernehmen‹« (Focus 04/2007). Durch diese (strategische) Verantwortungsverschiebung (vgl. auch Kap. IV, 3.2.3), wie sie am deutlichsten die Alternativnarration vollzieht, die in marginalen Ansätzen aber auch der Gegennarration immanent ist, wird ein vermeintliches ›Versagen‹ von Erziehungskompetenzen »unmittelbar im Verhalten der jeweiligen Akteure verortet und deren niedrige Einkommen mit sozialer Desorganisation, fehlenden sozialen Beziehungen und anerkannten Rollen sowie einem auf den eigenen Nutzen orientierten Individualismus verbunden« (Virchow 2008, S. 250f.). Die Hierarchisierung familialer Lebenswelten und -formen scheint indes zunehmend zu begünstigenden oder hinderlichen Rahmenbedingungen zu verblassen, die durch eine selbstverantwortliche Vermittlung möglicher Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit ergänzt bzw. in gewissem Maße abgelöst werden. Vor allem die Subjektkonstitution der ›Risikound Problemfamilie‹ wandelt sich somit von einer »kollektivierten Subjektposition« (Kessler 2017, S. 210) zu einer »individualisierten Subjektposition« (ebd.), innerhalb derer sich Familien möglichst aus eigener Kraft aus strukturellen Begrenzungen zu befreien haben, während der öffentlichen Hand lediglich die Aufgabe zukomme, »auf die Eltern einzuwirken und sie zu unterstützen, dass sie ihren Erziehungsauftrag wahrnehmen« (SZ 17.11.2005).26 Aus der Gesellschaft resultierende Unsicherheiten können so als persönliche Unsicherheiten subjektiviert werden, die es durch die Eltern sichtbar zu bewältigen gilt (vgl. Beyer 2004, S. 70). Mit Schetsche (1996) kann gerade durch diese Entlastung der öffentlichen Verantwortung in der Alternativnarration, in der »nicht ›die Verhältnisse‹ (also: gesellschaftliche Strukturen) verantwortlich sind« (S. 91), ein entscheidender Grund für die erfolgreiche Einschreibung von Aktivierungstendenzen in den öffentlichen Diskurs und die staatlichen Maßnahmen der ›Kindeswohlsicherung‹ gesehen werden. Denn über die Inszenierung »egoistische[r] junge[r] Menschen, die nicht einmal für sich selbst, geschweige denn für Kinder Verantwortung übernehmen können« (Die Welt 19.11.2008), wird hierbei in der Tendenz weniger das ›Können‹, sondern vor allem das ›Wollen‹ der Familien zur Disposition gestellt. Dadurch werden die normierenden und begrenzenden Symbolisierungen und Strukturen mit Anrufungen der Motivation und Leistung überschrieben. Dies »verlangt Eltern ab, ihre Kinder anzuspornen zu Einsatz und Engagement, ja, zu Leistung, und auch dazu, Dinge über Durststrecken hinweg durchzustehen« (Focus 26.06.2006). Diese Widersprüche zwischen Individualität und standardisierten Normen sowie zwischen Zwang und Autonomie werden dann insbesondere in institutionalisierten Praktiken und Objektivationen deutlich, in denen sie sich manifestieren und innerhalb derer eben jene Familien, die nicht über die erwarteten Ressourcen oder Eigenschaften verfügen, als untätig markiert werden. In der Orientierung an der Norm des Bestmöglichen sind sie einer Erwartungshaltung ausgesetzt, die zwar im Wesentlichen privat umgesetzt, aber nach außen unter Beweis gestellt werden soll (vgl. Bührmann 2007, 2012). Der

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Im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) hieß es bereits 1990, dass ›Hilfe zur Erziehung‹ nur an Verhaltensweisen und Mangellagen im Erziehungsprozess ansetzen könne, da die oftmals hintergründigen Faktoren und gesellschaftlichen Strukturen nicht mit Mitteln der Jugendhilfe behoben werden könnten (vgl. Dahme & Wohlfahrt 2018).

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›Problem- und Risikofamilie‹ wird somit »einerseits immer mehr Verantwortung auferlegt, andererseits wird ihr aber abgesprochen, den Anforderungen gerecht zu werden« (Noelle-Neumann 1989, S. 178). Auf der einen Seite werden solche Familien als individuell ausgestaltbare Orte propagiert und Freiheitsversprechen ideologisiert, auf der anderen Seite sind sie aufgefordert, bestimmte Leistungen zu erbringen und unter Beweis zu stellen sowie sich kontrollieren und bewerten zu lassen. Hierbei »fallen Wörter wie Regeln, Grenzen, Selbstverantwortung« (Die Zeit 43/2006b), die verdeutlichen, dass Erziehung zwar eine individuelle Leistung, aber keine individuelle Angelegenheit darstellt. Es handelt sich um Schlüsselworte, welche die Ambivalenzen im Wesentlichen beschreiben: Es geht um Freiheit und strukturellen Zwang, wobei aus dieser Perspektive im Allgemeinen alle frei sind, aber manche durch strukturellen Zwang nicht so frei wie andere. Solche Tendenzen zeigen sich nicht nur im Rahmen von Narrativen und Maßnahmen der ›Kindeswohlsicherung‹ im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹, sondern auch in anderen massenmedialen Inszenierungen und Präsentationen familialer ›Erziehungskompetenz‹ wie z.B. dem TV-Format »Super Nanny«. Die Beratung der Protagonistin orientiert sich auch hier nahezu ausschließlich an personenimmanenten Ressourcen wie Selbstwertgefühl, Motivation, Problemlösekompetenzen u.Ä., während die Lebensumstände der dargestellten Familien zumeist ignoriert werden.27 Dies verstärkt und verändert die Position jener Familien in ambivalenter Art und Weise: Sie werden einerseits als ›Risikofamilien‹ degradiert und andererseits wird gleichzeitig von ihnen erwartet, die Risiken eines möglichen Scheiterns kraft eigener Ressourcen zu minimieren, indem sie ›Erziehungskompetenzen‹ entwickeln bzw. ausbauen, zur richtigen Zeit einsetzen und öffentlich darstellen (vgl. Scholl 2009). Es erscheint jedoch fragwürdig, ob eine Förderung von ›Risiko- und Problemfamilien‹ ohne unterstützende Behebung ungünstiger Rahmenbedingungen vermeintlichen ›Erziehungsinkompetenzen‹ entgegenwirken kann, denn »es bedarf der Bereitstellung von Strukturelementen, um die Realisierungswahrscheinlichkeit zu erhöhen: also der Berücksichtigung der Strukturebene« (Treptow 2014, S. 33, Herv. i. O.). Daher ist anzunehmen, dass die aktivierenden Anrufungen vor allem bei Menschen in prekären Lebenslagen nicht nur deutlich seltener in die eigenen Subjektivierungsweisen übernommen werden (vgl. Kap. IV, 4.1.2), sondern dies im Falle einer Übernahme auch eher in sozialer Erschöpfung münden kann, weil die betroffenen Familien davon überzeugt sind, »sich aus eigener Kraft aus ihrer Situation nicht mehr befreien zu können, so dass Resignation bis zur völligen persönlichen Aufgabe vorherrschend sei« (Neckel 2008, S. 21). In der ihnen zugeschriebenen begrenzten Souveränität und den realen soziokulturellen Grenzen werden gerade ›Problem- und Risikofamilien‹ somit nicht zum Gewinner der Individualisierung, sondern zu einem Individualisierungsopfer, das sich kaum eigenmächtig aus den gegebenen Bedingungen zu befreien vermag (vgl. Beck et al. 2001). Wahl (1990) hat diese

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Bei der ›Super Nanny‹ handelt es sich um ein populäres TV-Format, in dem Familien mit ›Erziehungsproblemen‹ begleitet und beraten wurden. Die Sendung wurde in den Jahren 2004-2011 von dem Sender RTL ausgestrahlt. Vgl. hierzu detaillierter z.B. Prokop (2008), Rogge (2005) und Schmidt (2008).

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Familie unter Verdacht

Widersprüche als »Modernisierungsfalle« bezeichnet, in der die Risiken eines ›Versagens‹ keineswegs geschmälert, sondern eher gesteigert werden und familiale Resignation damit zum Sinnbild der Aussichtslosigkeit einer ganzen Gesellschaftsgruppe wird, in der Leistung nicht länger Grundlage eines möglichen Aufstiegs oder einer Verbesserung vorhandener Kompetenzen darstellt, sondern vielmehr die Basis von Zugehörigkeit und Anerkennung bildet. In der Figur des ›sicheren‹ und ›optimalen‹ Kindes als Maß familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ (vgl. Kap. IV, 1.1) vollzieht sich bereits ein potenzielles ›Versagen‹ von Eltern, das nicht nur entlang eines möglichen Scheiterns an gesellschaftlichen Leistungsanforderungen verläuft, sondern auch über Schuldgefühle der Eltern, dem eigenen Kind nicht gerecht zu werden (vgl. Mierendorff 2008). Die Verknüpfung von Leistung und Verantwortung mit ›Kompetenz‹ impliziert den versteckten Appell, dass Kinder »nur dann zur Welt gebracht werden, wenn man glaubt, der Verantwortung gewachsen zu sein« (Kolbe 2002, S. 9f.). Mit Verweisen auf die »Norm der verantworteten Elternschaft, die Leitvorstellung also, Kinder nur dann in die Welt zu setzen, wenn man sich gut um sie kümmern und ihnen eine ausreichende materielle Grundlage bieten kann« (Schneider 2002, S. 12), kann somit auch moralischer Druck ausgeübt werden (vgl. Ott 2011, S. 50). Damit lässt sich das Problem vermeintlich fehlender ›Erziehungskompetenzen‹ durch ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ bearbeitbar machen. Die Bürde der Eigenverantwortung zeigt sich besonders deutlich in der Subjektpositionen des ›optimierbaren‹ Kindes: Sie »nähren den Glauben, die frühe Kindheit sei eine höchst komplizierte, krisenanfällige Zeit, in der sich nicht wiedergutzumachende Fehler ereigneten, so dass Eltern nimmermüde Zuwendung abzuverlangen sei […]. Die Aufgabe, Mutter oder Vater zu sein, wird zu einer unerträglich drückenden Bürde. Derart aufgeladen mit einer geradezu gottähnlichen Verantwortung gerät die unsichere Elternpersönlichkeit ins Visier der Experten für Kindererziehung. Glaubt man den vielen prominenten Pädagogikprofis, scheinen die Eltern die Einzigen zu sein, die keinen blassen Schimmer davon haben, was das Beste für ihr Kind ist« (FAZ 17.03.2010). Bei einem ›Versagen‹ der Eltern »geht es nur noch um das Maß ihrer Schuld« (taz 20.12.2007). Es wäre somit denkbar, dass die mangelnde »Anerkennung und Selbstachtung« im Zuge von kontextlosen Aktivierungstendenzen »gerade zur Erosion ihres Ansatzpunktes, der subjektivierenden Eigenverantwortlichkeit, beitragen« (Hirseland & Lobato 2012, S. 287f.). Die Bedürfnisse der Eltern und Kinder treten hingegen selbst in der Gegennarration, die vordergründig aus dem Blickwinkel von Familie zu argumentieren scheint, weitestgehend hinter die Funktionalität der Familie als wichtige ›Erziehungs- und Sozialisationsinstanz‹ zurück. Aber auch die strategische Inszenierung von Erziehung als ›Risiko‹ zielt an dieser Stelle zwar auf die Eliminierung von Ängsten durch die Suggestion einer gewissen Berechenbarkeit von Fällen wie ›Kevin‹ und die dementsprechende Chance auf deren Vermeidung, hält sie durch die Implikation eines negativen Ausgangs gleichzeitig aber auch aufrecht: »Nicht jede Hilfe greife, es bestünde immer auch das Risiko, dass Kinder zu lange in ihrer Familie bleiben, obwohl sie dort möglicherweise auch vernachlässigt werden« (Die Welt 26.08.2008). Analog zum Gesundheitsdiskurs, der von der Erzählung der Krankheit lebt, erhält sich die Vision kompetenter Erziehung und Elternschaft über die Erzählung familialen Versagens

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in Fällen wie ›Kevin‹. Versagen und Leid werden zum vielversprechenden »angstbewehrten Projekt gesellschaftlicher Integration« (Ahrens 2018, S. 58) im »Übergang von einer Verhinderung der Selbstwerdung zu ihrer Pflicht« (Ehrenberg 2011, S. 26). Die in der Diskussion um private und öffentliche Erziehungsräume erwachsenen ambivalenten Forderungen nach ›Securization‹ (vgl. Kap. III, 1.4) und ›Risikominimierung‹ (vgl. Kap. III, 3.1) einerseits sowie weitgehender ›Autonomie‹ (vgl. Kap. III, 2.3) und ›Eigenverantwortung‹ (vgl. Kap. III, 3.3) andererseits werden so zu einer Spirale, in der sich vor allem das seit den 1980er Jahren viel zitierte ›Risiko der Moderne‹ selbst perpetuiert und den Wunsch nach Normierung und (Selbst-)Kontrolle in ›unsicheren‹ Zeiten erst erwachsen lässt, während der Mensch selbst und dessen Bedürfnisse zunehmend in den Hintergrund treten (vgl. Kübler 2009, S. 124). Die wissensund kompetenzorientierten Zuschreibungen ermöglichen es, die Autonomie des Subjekts bei der Ausgestaltung und Entfaltung seiner Fähigkeiten in den Vordergrund zu rücken. Normierung mag »zwar von der Überforderung befreien, welche gegenwärtige Omnipotenzphantasmen produzieren« (Bünger 2007, S. 174), kann aber den Blick auf die spezifischen Lebenswelten und Bedürfnisse versperren, die familiale Subjektivität konstituieren. Denn die gestellte Anforderung an eine ›verantwortete Elternschaft‹ kann nur von jenen Familien erfüllt werden, welche die Erwartungen im Großen und Ganzen bereits einlösen und somit auch über die hierfür nötigen Ressourcen verfügen: »Faktisch öffnet sich ›das Reich der Freiheit‹ […] in erster Linie für bestimmte privilegierte Bevölkerungsgruppen der Gesellschaft« (Richter et al. 2009, S. 5). Das Freiheitsversprechen entfaltet so eine disziplinierende und ausgrenzende Wirkung, denn »auch wenn der Pluralisierungsdiskurs zum Überschreiten und auch Dynamisieren vorherrschender Normierungen, Kategorisierungen und Grenzziehungen hegemonialer Deutungsmuster beitragen kann, sind Differenzierungsprozesse zugleich als machtvolle Hierarchisierungsprozesse zu begreifen, die zumeist mit gesellschaftlichen und kulturellen Zuschreibungsprozessen verbunden sind« (ebd. S. 4). In Prozessen der Klassifikation und Verantwortungszuschreibung zeigt sich somit auch die Tendenz der Verdinglichung von Familien als äußerste Form der Objektivation: »Verdinglichung bedeutet, menschliche Phänomene aufzufassen, als ob sie Dinge wären, das heißt als außer- oder gar übermenschlich […]. Verdinglichung impliziert, daß der Mensch fähig ist, seine eigene Urheberschaft der humanen Welt zu vergessen […]. Eine verdinglichte Welt ist per definitionem eine enthumanisierte Welt. Der Mensch erlebt sie als fremde Faktizität, ein opus alienum, über das er keine Kontrolle hat, nicht als opus proprium seiner eigenen produktiven Leistung« (Berger & Luckmann 1980 [1969], S. 94f.). Dies verweist auf den Widerspruch zwischen Appellen an das autonome ›unternehmerische Selbst‹ und der erlebten Ohnmacht von Familien in Akten der Kategorisierung und Ontologisierung vor dem Hintergrund bestehender sozialer und kultureller Rahmenbedingungen.

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4.2.2.

Die Macht des Omnipotenzversprechens – Normative Ratlosigkeit und Denormalisierungsängste

In der Auflösung verbindlicher Erziehungsinhalte und der Pluralisierung der Erziehungsanforderungen und -aufgaben wird die einzelne Familie aus individualisierungstheoretischer Sicht zunehmend zum Bastler und Konstrukteur ihrer eigenen Existenz, ihrer ›Erziehungskompetenzen‹ und des ›Wohls des Kindes‹ (vgl. Hitzler & Honer 1994). Damit eröffnen sich in der »Multioptionsgesellschaft« (Gross 1994) neue Freiheiten sowie Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten für Familien. Gleichzeitig scheint es aber auch immer mehr Themen zu geben, die Nebenfolgen und Risiken ›falscher Entscheidungen‹ auslösen und die Zuordnung zu ›richtigem‹ und ›falschem‹ Wissen für die Akteure erschweren (vgl. Beck 1996, S. 298f.). Im Unterschied zu den Selbsttechnologien der »ersten Moderne«, die auf das Pflichtbewusstsein der Subjekte gerichtet waren und bei denen der Einzelne beim Nichteinlösen der Forderungen wohlfahrtsstaatlich aufgefangen wurde, können die Selbsttechnologien der »zweiten Moderne« (Beck 1991) als radikales Optimierungsangebot ohne doppelten Boden angesehen werden: »Der Sozialstaat hat Bedingungen geschaffen, in denen sich Menschen frei entfalten können. Wir müssen immer wieder lernen, mit den Freiheiten, die wir auch durch materiellen Wohlstand gewonnen haben, verantwortlich umzugehen« (Focus 04/2007). Die unterschiedlichen Konzepte familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ vermögen somit in Handlungssituationen nicht immer komplexitätsreduzierend auf die Subjekte zu wirken (vgl. Kap. III, 4.3). Vielmehr vermag der aus dem Verlust verlässlicher Sinnorientierungen resultierende »Zwang zur Gestalt- und Sinnschließung« (Soeffner & Hitzler 1994, S. 46), der gleichzeitig eine »stetige Option zur Verbesserung impliziert« (Ott 2011, S. 47), bei Familien in »einer Welt großer Unsicherheiten« (Die Welt, 23.12.2008) auch Gefühle von Unsicherheit und Orientierungslosigkeit hervorzurufen, die auf ihnen lasten. Indem die ›optimale‹ familiale Erziehung zunehmend als Bezugspunkt und Orientierungswert fungiert, können die dargestellten medial skandalisierten Abweichungen selbst bei der ›Normalfamilie‹ »latente De-Normalisierungsängste« (Link 2009, S. 44) schüren, d.h. zu einer Verunsicherung führen, aus der Normalität zu fallen (vgl. auch Lemke 2000). In der Konfrontation mit einer Vielzahl zum Teil konkurrierender Narrative und möglicher Subjektivierungsweisen, die in öffentlichen Darstellungen und institutionalisierten Formen der ›Kindeswohlsicherung‹ transportiert werden, ist die Familie somit einem starken öffentlichen Druck ausgesetzt. In ihm wird nicht nur ein ›Zwang zur Wahl‹, sondern es werden auch ›normierende Sanktionen‹ (Foucault 1993a [1975], S. 236) wirksam, »die ihre eigene Definitionsmacht einschränken, ihre Möglichkeiten der traditionsvermittelten Weitergabe eigener Wertvorstellungen und Präferenzen begrenzen, zumindest relativieren. Gleichzeitig erhält die Familie die Aufgabe, heterogene Lebensbereiche und Lebenspassagen zu koordinieren und zu integrieren« (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2002, S. 57). Diese Leistungsanforderungen und Omnipotenzversprechen können dazu führen, dass sich zu der materiellen Not der ›neuen Unterschicht‹ ein Gefühl des persönlichen Versagens gesellt (vgl. Kap. IV, 4.2.1), in dem selbst die ›Mittel- und Oberschicht‹ eine »latente De-Normalisierungsangst, Angst vor Grenzüberschreitung« (Bonk 2016, S. 19) verspürt, die bis hin zum Selbsterleben einer »gefühlten Unterschicht« (Neckel 2008,

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S. 21) führen kann. Vor allem Gefühle »relativer Deprivation« können die Befürchtungen eines eigenen ›Scheiterns‹ steigern, die sich dann auch in Familien mit ›günstigen‹ Prognosen in Form »sozialer Angst« (vgl. Bude 2014, S. 26) vor dem Absturz einstellen kann. Laut einer Eltern-Studie leiden engagierte Eltern der Mittelschicht ebenso unter erwartungsbasiertem Druck wie Familien in prekären Lebenslagen (HenryHuthmacher 2008; Merkle & Wippermann 2008, S. 41ff.). Mögen sich auch die Arten der Verunsicherung und Überforderung unterscheiden, so verweisen zahlreiche weitere Studien ebenfalls darauf, dass nicht nur die regelmäßige Auseinandersetzung von Eltern mit Erziehungsthemen in den letzten Jahren insgesamt sprunghaft gestiegen ist, sondern sich die Mehrheit der Eltern verunsichert und gestresst fühlt (vgl. Kap. I). Riesmann (1958) diagnostizierte solche Tendenzen bereits in den späten 1950ern: In Büchern und Zeitschriften werde »der bereits ängstlichen Mutter gesagt, daß sie auf ihre Kinder eingehen soll. Sie lernt, daß es keine problematischen Kinder, sondern nur problematische Eltern gibt; und sie lernt ferner, zunächst in ihre eigene Psyche hineinzusehen, wenn sie sich getrieben fühlt, ihren Kindern etwas zu verwehren« (S. 65). Auch was Familienforscher Robert Hettlage in den 1990ern für die Ehe öffentlich konstatierte, scheint gegenwärtig für die Elternschaft zu gelten: »Die Angst vor dem Scheitern ist ein unsichtbares Familienmitglied« (Focus 07/1993). Heinze (2011) spricht daher von einer »erschöpften Mitte«, bei der die Hoffnungslosigkeit der Akteure ebenso wie die ›erlernte Hilflosigkeit‹ durch repressive Zuschreibungen und Kontrollmechanismen (vgl. Kap. IV, 4.1.3) mitunter erst »Gewaltbereitschaft, Sozialisationsschwierigkeiten bei Kindern und ansteigende Kriminalität« hervorrufe, d.h. hierdurch erst »Entgleisungen im Erziehungsverhalten der Eltern entstehen« (Walper 2006, 23), die Formen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung begünstigen (Heinze 2011, S. 81). In der Interdependenz von »Veränderungen im Aufbau einer Gesellschaft und den Veränderungen im Aufbau des Verhaltens« (Elias 1969, S. 82) entstehen demnach Figurationen der Unsicherheit, die auch narrativ problematisiert werden: »Es liegen Kenntnisse vor, dass die Mutter Frau P. aus Überforderung unangemessen gegenüber ihren beiden Kindern reagiere« (Der Spiegel 29/2010). Insbesondere »die Angst der Eltern vor dem Kontrollverlust« (FAZ 26.06.2018) könne dann in einem sich ausweitenden ›Helikoptering‹ (vgl. Kap. III, 3.2.2) münden, bei dem »immer mehr Eltern fürchten, einen einzigen kleinen Fehler mit verheerenden Folgen zu begehen. Verstärkt und vervielfältigt wird diese Angst täglich in den TV-Nachrichten, die voll sind von Geschichten über entführte, misshandelte oder gar ermordete Kinder« (FAZ 26.06.2018). »Der Staat baut mehr Druck auf Eltern auf« (Die Welt 22.05.2008). Der Boom an Elternratgebern und die gestiegene Inanspruchnahme von Angeboten für Eltern und Familien muss daher nicht zwingend als Zeichen familialer ›Inkompetenz‹ interpretiert werden, sondern kann auch als Ausdruck zunehmender »Orientierungslosigkeit« (FAZ 17.10.2006c) und Beratungsbedürftigkeit infolge gestiegener und pluralistischer Erwartungen gesehen werden: »Diese Entwicklung ist vor allem Ausdruck des Bemühens von Vätern und Müttern, es besonders gut zu machen« (Die Welt 23.12.2008). In den Worten Luhmanns (1996) sind es »Verzweiflungsgesten« (S. 59) und Heidebrink (2003) sieht darin ein »Symptom der normativen Ratlosigkeit hochkomplexer Gesellschaften« (S. 19). Auch Gebhardt (2009) weist darauf hin, dass sich in dem zunehmenden Angebot an Erziehungsratgebern, Elternzeitschriften und

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Elternbildungsangeboten nicht, wie häufig diagnostiziert, eine steigende Unfähigkeit von Familien äußere, sondern vielmehr eine tiefe Verunsicherung zeige. Druck und Verunsicherungen seitens vieler Eltern werden demnach durch ›Spielräume‹ im zunehmenden »Informationsüberfluss« (Rupp 2003, S. 50) der Gegenwart nicht zwingend behoben, sondern zum Teil vielmehr begünstigt, während die ›Spielräume‹ selbst letztlich an strukturelle Rahmenbedingungen sowie die Macht moralischer und normativer Wissensbestände und Rahmenbedingungen gebunden bleiben (vgl. Jurczyk et al. 2014). Mit Freudenschuss (2013) lässt sich auch von einer »systematischen Verunsicherung« (S. 34) sprechen. »Diese Form von Macht wird im unmittelbaren Alltagsleben spürbar, welches das Individuum in Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt, es an seine Identität fesselt, ihm sein Gesetz der Wahrheit auferlegt, das es anerkennen muss und das andere in ihm anerkennen müssen« (Foucault 1987, S. 246). Sie fordert »Konformität mit anderem und gleichzeitig Streben nach Einzigartigkeit bzw. gesellschaftlichem Individualismus« (Distelhorst 2014, S. 74). Aspekte der Macht sind somit im Freiheitversprechen nicht nur vorhanden, sondern werden gleichzeitig verstärkt: »Je autonomer, identischer, verantwortlicher und freier ein Subjekt sich fühlt, desto umfassender ist dieser Raum der ›Autonomie‹, ›Identität‹, ›Verantwortung‹ und ›Freiheit‹ durch Macht präfiguriert und kontrolliert« (Lüders 2007, S. 193). Gleichzeitig erscheint die Disziplinarmacht hier deutlich subtiler, so dass sich unter Berufung auf Kierkegaard (1992 [1844]) auch von Angst als »Schwindel der Freiheit« (S. 57) oder mit Sartre (1993 [1943]) von Angst als »Freiheit in Situation« (S. 91) sprechen ließe. Dabei liege die Angst gerade in jener Freiheit, sich einer Vielfalt an Optionen hinzugeben und sich dementsprechend zu verhalten, weil der Mensch nicht mit dem Wissen um seine totale Verantwortung und Autonomie umgehen könne (vgl. ebd.). Mit Schmid (2013) kann in dieser Entwicklung ein »überwertiger Realismus« gesehen werden, in dem die Optionsvielfalt der Moderne nicht zu liberaleren Einstellungen, sondern zu Ängsten führe: »Es ist die Angst vor den persönlichen Autonomiespielräumen, die – einmal als realisierbar wahrgenommen – eine derartige Bedrohung des (positiven) Selbstwerts und des eigenen Lebens darstellen, dass sie eine autoritäre Reaktion zur Folge haben« (S. 128). Es ist somit anzunehmen, dass die Zuschreibung von Autonomie eine ähnliche disziplinierende Funktion erfüllt wie die Kontroll- und Zwangsmaßnahmen in Foucaults Gefängnis, das als Sanktionspraxis sowohl Ort der Wissensgenerierung als auch Produzent der Abweichung von dieser Ordnung darstellt, wobei die Subjekte in den Prozess ihrer eigenen Unterwerfung und Auflösung aktiv eingebunden werden (vgl. Foucault 1993a [1975], S. 250). Häufig übersehen wird hierbei, dass das ›Risiko‹ eines Scheiterns nicht nur in der Konzeption autonomer familialer Bildungs- und Lernwelten, sondern auch in Entwürfen des familialen Schutz- und Schonraumes weitestgehend den Familien überlassen bleibt, die im Idealfall selbstverantwortlich »ein Leben in Güte und Selbstlosigkeit führen« (SZ 13.10.2006b). »Die Familie, Vater, Mutter und unmündige Kinder, ist zwar Teil der Gesellschaft, schafft sich aber gleichzeitig eine Sphäre der Intimität und Privatheit, die ihr eine gewisse Autonomie […] gegenüber der außerfamilialen Umwelt sichert« (Schütze 2000, S. 17). Gerade jenes autonome Glücksversprechen kann in der »ÜberIdealisierung« (Winkler 2012, S. 129) der ›hingebungsvollen Mutter‹ und der bürgerlichen Familie als »Garant für ein gelingendes Familienleben« (Hoffmeister 2012, S. 914)

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trotz oder gerade wegen der wenig konkret formulierten inhaltlichen Forderungen an die grundlegenden ›Kompetenzen‹ von Familien zu Hilflosigkeit und vor allem bei Müttern zu deren Abwertung als ›Mängelwesen‹ führen, welche die variierenden Erwartungen nicht erfüllen. Somit wird der propagierte Schutz- und Schonraum der Gegennarration nicht nur zu einem ambivalenten Raum unterdrückender Zuschreibungen (vgl. Kap. IV, 2.2), sondern in der Kontingenz der Wissensbestände auch zu einem Ort normativer Ratlosigkeit, in dem die Betroffenen unterschiedlichen artikulierten Anforderungen passiv unterliegen. Dies lässt die vordergründig suggerierte Solidarität der Argumentationslinie der Gegennarration mit Familien höchst ambivalent erscheinen. Die geschwächte gesellschaftliche Position deutet sich auch analog zu der des Kindes (vgl. Kap. IV, 1.2) in der häufigen Verwendung von Passivkonstruktionen an: »Familien werden […] besucht« (taz 25.11.2007), »der Alltag der Mütter wird […] dokumentiert« (Die Welt 04.11.2006a) »Familie wird […] als Problemfall wahrgenommen« (Der Spiegel, 49/2006; vgl. auch Hofmann 2009, S. 152). Während in wohlfahrstaatlichen Ordnungen jedoch eine Verbesserung der familialen Lebenslagen und Rahmenbedingungen angestrebt wird, erfolgt in den neoliberalen Konzeptionen der Alternativnarration eher eine »(Re)Moralisierung sozialer Ungleichheit« (Kutscher & Richter 2011, S. 199), meist zugunsten der Immunisierung politischer Akteure (vgl. Kap. IV, 3.2.3).

4.2.3.

Die Subjektivierung der Mutter zwischen Glücksversprechen und kultureller Überlastung

Die Ambivalenzen zwischen normativem Zwang und individuellem Autonomieversprechen werden insbesondere im Hinblick auf die möglichen Subjektivierungsweisen der ›guten Mutter‹ deutlich sichtbar. Zum einen wird Frauen die Erziehung von Kindern in Narrativen eines ›naturwüchsigen Glücks‹ präsentiert, wobei Mütter ›naturgemäß‹ wissen, was Kinder benötigen und sich im Bedarfsfall für ihre Kinder aufopfern (vgl. Kap. III, 2.1.2). Zum anderen werden sie gleichzeitig als ›Mängelwesen‹ ausgewiesen (vgl. Kap. IV, 2.2.4). Selbst aus der eher wissenschaftsfundierten Risikoperspektive der Alternativnarration wird häufiger auf die ›Inkompetenzen‹ und den Förderbedarf der Mütter verwiesen als auf jene der Väter, wenn es um die Problematisierung der Sorge und die Erziehung der Kinder geht. Sie bilden damit eine Hauptadressatengruppe familialer Hilfen (vgl. Kap. IV, 4.1.1). Sowohl naturalistisch-normative Imperative als auch evidenzbasierte, kategorisierende Praktiken sozialer Arbeit beschneiden Frauen somit gleichermaßen in ihrem Recht auf Selbstbestimmung und Autonomie, wenn sie mit ihrem Verhalten und Handeln nicht außerhalb der Norm einer ›guten Mutter‹ stehen möchten. Sie können in Regression individueller weiblicher Persönlichkeiten und Lebensräume einen enormen Erwartungsdruck auf Mütter erzeugen, der bis hin zu Unsicherheiten und Zweifeln hinsichtlich der Selbst- und Fremdwahrnehmung ›erzieherischer Kompetenz‹ führen kann (vgl. Winkler 2012, S. 129): »Ihre Mutter lässt den Wagen an, fährt ein paar Meter über die sandige Straße, sie ist unsicher, ›ich drehe ja nur‹, sagt sie leise, hadert, überlegt, was sie machen soll. Sie weiß es nicht. Sie sieht die Leiterin vom Hort neben dem Kind vor der Scheune stehen. Wenn sie weiterfährt, schreit das Kind. Wenn sie anhält, aussteigt, nachgibt, setze sie sich nicht durch, werde man sagen« (Der Spiegel 29/2010).

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Die mit der Norm der ›guten Mutter‹ verbundenen Glücksversprechen bergen insbesondere dann Gefahren der Verunsicherung und Enttäuschung, wenn Kinder nicht durchgängig als Glück und Gewinn empfunden werden, sondern Mütter sie zeitweise oder dauerhaft als Einschränkungen und Verluste der eigenen Lebensgestaltung erfahren. Phänomene wie »regretting motherhood«28 , d.h. Frauen, die ihre Mutterschaft dauerhaft als negativ erleben (vgl. Donath 2015), widersprechen als »unglückliche Mütter« (SZ 05.04.2015) dem etablierten Konzept und werden pathologisiert bzw. in ihrer Existenz negiert. Gefühle von Unzufriedenheit und Überforderung oder gar ›mütterlicher Kinderhass‹, wie sie in den 1970er Jahren massenmedial im Kontext des ›gefährlichen Kindes‹ noch des Öfteren zu finden waren (vgl. Kap. III, 1.2.3), erhalten in den narrativ inszenierten Modellpraktiken keinen Raum: »Und schon ist es selbst für eine Frauenzeitschrift wie ›Brigitte‹ kein Sakrileg mehr, den mütterlichen Kinderhaß (›Es klingt hart. Aber es muß einmal ausgesprochen werden‹) beim Namen zu nennen. Unter der Überschrift ›Manchmal hasse ich meine Kinder‹ beschwichtigt eine Mutter und praktizierende Psychotherapeutin die ›Brigitte‹-Leserinnen: ›Oftmals macht es uns (Mütter) ärgerlich, daß da eine Kreatur ist, die ganz einfach lebt und genießt …‹. Das Erschrecken über diese Entdeckung scheint gerade so tief zu sein, als sei -- verflixt noch mal -- der Hefekuchen wieder nicht aufgegangen« (Der Spiegel 24/1977). Diese weitgehende diskursive Leerstelle eines ›mütterlichen Kinderhasses‹ befördert Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit familialer Erziehung. Sie beruhen auf einer speziellen Form des Vergleichs, nämlich »einer Reflexionsbeziehung, die Werte mit Beobachtungen in Beziehung setzt« (Vogd 2014, S. 65). Indem das ›naturgegebene Glück‹ zur Norm erhoben wird und gleichzeitig eine verstärkte öffentliche Beobachtung der Mutter erfolgt, kann die Wahrnehmung nicht normkonformen Empfindens in diesem Kollektiv im Besonderen zu Denormalisierungs- und Schamgefühlen führen. Die Betroffenen erleben sich dann selbst zumindest im Hinblick auf ihre Mutterrolle als ›Mängelwesen‹. Das »Loblied auf Familie und Mutter« (Der Spiegel 49/2006) und das damit verbundene metaphorische ›Glücksversprechen‹ als deutungsimmanentes Gesamtkonzept der Gegennarration (vgl. Kap. III, 2) lassen sich mit Berger und Luckmann (1980 [1969]) selbst als »Mythos« (S. 81) bezeichnen. Er vermag nicht nur Handlungssicherheit zu bieten oder kann als Form antifeministischer Unterdrückung genutzt werden, sondern im Gegenzug in der Überidealisierung von Mutter und Familie auch bedeutungsverdeckend wirken oder Denormalisierungsängste begünstigen. Aus den antagonistischen Positionierungen der ›aufopferungsvollen Mutter‹ und des ›egoistischen Mängelwesens‹ bzw. der Mutter als ›Risiko‹ entstehen für Frauen somit zahlreiche »Bewältigungsfallen« (Böhnisch 2008, S. 71) zwischen fundamentalen Orientierungen und funktionaler individueller Lebensbewältigung. Dadurch wird Mutterschaft zum spannungsbeladenen Ort »kultureller Überlastung« (Winkler 2012, S. 112).

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Der Begriff entstammt einer Studie, in der Donath (2005) Frauen zu ihren Erfahrungen und Empfindungen als Mutter befragte und schließlich zu dem Ergebnis kam, dass viele Frauen ihre Kinder zwar liebten, die Mutterschaft aber dennoch bereuten. Die Studie sorgte nach ihrem Erscheinen für enormen Aufruhr und deren Ergebnisse werden selbst zehn Jahre später noch vielfach öffentlich diskutiert (vgl. z.B. SZ 05.04.2015; Die Zeit 12/2016).

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Aber auch durch die widersprüchlichen Imperative, die insbesondere von politischen Akteuren auch aus anderen Diskursfeldern herangetragen und mit Debatten um familiale ›Erziehungs(in)kompetenz‹ im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ verknüpft werden (vgl. Kap. IV, 3.2.3), geraten Frauen per se auf die Anklagebank, indem sie einer der beiden Funktionen nicht genügen (Bylow & Vaillar 2014, S. 46): Während sich Mütter als Hausfrauen dem Vorwurf ausgesetzt sehen, ihre Kinder unter Nutzung der »Staatlichen-Krippen-Fernhalte-Prämie« (FAZ 03.12.2012) nicht ausreichend zu fördern und so deren Wohl zu gefährden bzw. »ihre Kinder nicht in eine Kita zu schicken, nur um die neue Leistung zu beziehen« (taz 25.04.2012), müssen berufstätige Mütter zumeist nach wie vor den Spagat zwischen Erzieherin und Arbeitskraft vollziehen, was die Gefahr birgt, dass sie eine der beiden Aufgaben vernachlässigen, wenn sie es z.B. nicht schaffen »berufstätig zu sein und nachts nicht eine Viertelstunde am Stück zu schlafen« (taz 22.02.2007). Kaiser (2018) bezeichnet diese Situation in einem Essay als »das Unwohlsein der modernen Mutter: Versorgerin, Businesswoman, MILF – Mütter sollen heute alles sein.« Als Hintergründe dieser hohen und zum Teil widersprüchlichen Erwartungen sind vor allem die Besonderheiten der jüngeren deutschen Geschichte hervorzuheben. Mit der Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands sind nicht nur zwei Staaten mit einander entgegengesetzten Wirtschaftssystemen, sondern auch mit zum Teil sehr unterschiedlichen Genderkulturen verbunden worden, deren spezifische Geschlechterarrangements jedoch weiterleben.29 Die Vergesellschaftung der ostdeutschen Familie in die ›Normalität‹ der Bundesrepublik verläuft hierbei nicht nur über ein anderes Mutterbild, sondern auch vor einen historisch anderen Zusammenhang zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Insbesondere die Narrative der Gegennarration weisen Letzteren als gefährlich aus, indem sie vermeintlich mangelnde ›Erziehungskompetenzen‹ mitunter als DDR-Erbe bzw. Relikt der DDR-Kultur verhandeln (vgl. Kap. III, 2.4). Wenngleich sich die beiden Systeme seither zunehmend annähern, bleibt in den Subjektpositionen von Müttern die widersprüchliche Mischung aus Regulierungen konservativ-wohlfahrtsstaatlicher und sozialistischer Normen vor allem auch dadurch erhalten, dass sie durch die gelebte Praxis des modernen Patriarchats stabilisiert wird. Dass die Verantwortung für die Betreuung und Erziehung der Kinder in der bürgerlichen Kultur des 29

In der DDR basierten die Familienpolitik und die gesellschaftliche Realität in erster Linie auf dem sozialistisch-integrativem Ideal des Zwei-Verdiener-Modells mit doppelter Vollzeitarbeit sowie der staatlich-institutionellen Kinderbetreuung (Trappe & Rosenfeld 2004). Die Bundesrepublik Deutschland gilt hingegen als Prototyp eines konservativen Wohlfahrtsstaates (vgl. EspingAndersen 1989), dessen familienpolitische Leistungen vorrangig auf statussichernden Transferleistungen der Familien innerhalb eines männlichen Ernährermodells oder modifizierten Zuverdienermodells beruhen. Die Grundlage hierfür bietet die paternalistische Familie, die als Modellpraxis im Jahr 1900 im Bürgerlichen Gesetzbuch festgeschrieben wurde. In ihr konnte der Mann über den Aufenthaltsort, das Vermögen und die Erwerbstätigkeit der Frau verfügen sowie die elterliche Gewalt ausüben. Zu den Pflichten der Frau zählten hingegen die Haushaltsführung und die Unterstützung des Mannes. Selbst nach der Verabschiedung des Gleichberechtigungsgesetzes im Jahr 1958 blieb die Frau trotz erlaubter Erwerbstätigkeit im Wesentlichen in ihren tradierten Rollen behaftet, da sie weiterhin jede Form der außerhäuslichen Tätigkeit mit ihren ehelichen und familialen Pflichten vereinbaren musste. Erst mit der Reform des Eherechts im Jahr 1976 wurden Frau und Mann im Rahmen der Haushaltsführung und Erwerbstätigkeit rechtlich gleichgestellt (vgl. Dettling 1995).

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18. Jahrhunderts vor allem auf die Mütter übertragen wurde, mag in der patriarchalischen Familienform jener Zeit für viele Frauen noch eine Errungenschaft bedeutet haben: »Eine eigene, neue Identität konnte geschaffen werden, die nicht mehr im Schatten der Identität des Mannes und seines Lebens gebildet werden musste« (Schmid 2008, S. 53). Die Subjektposition der ›aufopferungsvollen Mutter‹ geht somit in ihrem Ursprung weniger auf Repressionen als auf das Streben der Frauen des wohlhabenden Bürgertums nach Anerkennung für ihre gesellschaftlich relevante Aufgabe der Kinderbetreuung zurück. Das führte dazu, dass diese Aufgabe auch zunehmend als Profession empfunden wurde (vgl. Badinter 1999; Schütze 1986). Sie ist demnach im Wesentlichen als ein Autonomieversprechen des Patriachats zu erachten, das sich herausbildete und dominierend werden konnte, als im Zuge einer fortschreitenden Industrialisierung Frauen und Kinder nicht mehr als Arbeitskräfte herangezogen wurden und sich eine klassische Rollenverteilung etablierte, die auf der ideellen Einheit von lebenslanger Liebesehe, Hausgemeinschaft und leiblicher Elternschaft basiert (vgl. Kap. III, 2.2.1; Lüscher & Pajung-Bilger 1998). Dies stellt Modellpraktiken der Gegenwart vor die Herausforderung, »die im Gefolge der neuen Einsichten über die Natur des Kindes entstehenden Handlungsprobleme in Einklang zu bringen mit der sich gleichzeitig herausbildenden Struktur der bürgerlichen Familie, gemäß der die Frau weitgehend für die Belange der Familie freigesetzt wird« (Schütze 1986, S. 7). Umfassend in Frage gestellt wird das »modernisierte Patriarchat« (Burkart 2007) hierbei jedoch nicht, sondern vielmehr durch staatliche Sozialleistungen wie das Subsidiaritätsprinzip und das Betreuungsgeld gefördert (vgl. Kap. III, 2.3.1). Gestützt wird es nicht zuletzt auch durch die Subjektivierungsform eines ›Ritualismus der unteren Mittelschichten‹. Gemeint ist hiermit die Lebensrealität von vielen Familien der ›unteren Mittelschichten‹, in denen vorrangig die Mütter die Erziehungsaufgaben übernehmen, wobei deren Erziehungsleistungen zwar deutlich geringer anerkannt und wertgeschätzt werden als die Versorgungsleistungen der Väter, aber dennoch in der Regel als gegeben gewertet werden und somit zumindest mit einer gewissen Form der Anerkennung einhergehen, die nicht erst performativ hergestellt werden muss (vgl. Klinger 2015, S. 236). Die Beständigkeit dieser Praxis kann somit auch in der großen Anzahl von Müttern gesehen werden, die den ›unteren Mittelschichten‹ zugeordnet werden können und die hierdurch eine gewisse Anerkennung erfahren und daher ein Interesse daran haben müssten, die Praxis des ›modernisierten Patriarchats‹ – trotz Spannungen – aufrechtzuerhalten. Eine allgemeine Erklärung für die Stabilisierung der Spannungen in der Subjektivation der ›guten Mutter‹ kann auch hier die Theorie der Pfadabhängigkeit (vgl. Kap. IV, 3.2.2) liefern. Mit Picot et al. (2005) sind Subjektpositionen und Modellpraxen dabei als hierarchisch aufgebaute »sanktionierbare Erwartungen« zu verstehen, innerhalb derer Normen und Werte die fundamentalsten Erwartungen repräsentieren müssen, deren Erfüllung jedoch nicht mehr zwangsweise intendiert sein muss (vgl. S. 10ff.). Ein Beispiel hierfür stellt der Begriff bzw. der Imperativ der ›Rabenmutter‹ dar, eine auf Deutschland begrenzte Wortschöpfung, die seit dem 17. Jahrhundert als Gegenfolie der ›liebenden Mutter‹ ausdrückt, »dass hier die Mutterpflicht besteht, Kinder nicht in ›fremde Hände‹ zu geben« (Stalfort 2014, S. 120). Somit werden in dieser Theorie vor allem selbstverstärkende Effekte für die Stabilisierung solcher Spannungen verant-

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

wortlich gemacht, die »im zeitlichen Verlauf technische, institutionelle und strategische Prozesse in eine bestimmte Richtung treiben (in einen Pfad) und schließlich in einer Situation enden, in welcher die Handlungs- und Entscheidungsspielräume durch die etablierten Strukturen praktisch ›zementiert‹ sind (›lock-in‹) und der entstandene Pfad von alleine kaum noch verlassen werden kann (Inflexibilität, Persistenz)« (Hasenmüller 2013, S. 3). Da es sich im vorliegenden Fall um eine bis weit ins 20. Jahrhundert reichende »kulturelle Selbstverständlichkeit und ein millionenfach fraglos gelebtes Grundmuster« (Meyer 2002, S. 416, Herv. i. O.) handelt, wird Abweichungen mitunter »mit offenen oder verdeckten Sanktionen« (ebd.) begegnet. Im Rahmen sozialen Wandels und Veränderungen der Familienstrukturen schreiben sich, insbesondere mit zunehmender Etablierung ökonomisch-rationaler Deutungsinhalte, Ordnungsstrukturen in den kollektiven Wissensvorrat ein, die einen starken Kontrast bzw. progressiven Bruch zu tradierten Deutungen bilden. Daraus hervorgehende Zweifel befördern zwar immer wieder neue Einübungen und einen kulturellen Konsens, die, wie z.B. nach der deutschdeutschen Vereinigung, immer auch zu akzentuierten Umdeutungen und Liberalisierungen führen. Die tradierten Deutungen werden jedoch nicht vollständig überwunden, sondern durch die Auseinandersetzungen zeitgleich auch weiter gefestigt. Die tradierte Modellpraxis der ›aufopfernden Mutter‹ kann somit nicht angezweifelt oder gar negiert werden, ohne den kulturellen Rahmen zu überschreiten (vgl. Stachura 2011, S. 256). In den meisten ritualtheoretischen Konzepten wird in Ergänzung zu pfadtheoretischen Annahmen zudem angenommen, dass längerfristige, ritualisierte Sinnordnungen und Emotionen generell nicht kongruent erzeugt werden, da »die Beteiligten völlig widersprüchliche, ja ablehnende Einstellungen gegenüber den Handlungen und Äußerungen einnehmen können, die sie (trotzdem) vollziehen […], gerade weil Rituale die subjektiven Einstellungen gleichsam am konsequentesten übergehen, haben sie das Potenzial, in ihrem Vollzug die widerstreitenden und konfligierenden subjektiven Intentionen zu einen« (Volbers 2014, S. 64f.). Aus modernisierungstheoretischer Perspektive ist daher die Tendenz der »Restauration tradierter Geschlechterbilder, flankiert von Nivellierungs- und Pluralisierungstendenzen, als Antwort auf die freiheitliche Orientierungslosigkeit zu beobachten« (Pohl 2013, S. 145) bzw. als »Ritual zur (Wieder-)Herstellung eines sozialen Gleichgewichts« (Rao 2006, S. 235), das Ambivalenzen überbrücken und temporär aufzuheben vermag. Denn sozialer Wandel beruht »immer auf einem Wandel sozialen und kommunikativen Handelns und einem damit zusammenhängenden Wandel von Sinnkonstruktion und Deutungsmustern, wobei dieser Wandel seinerseits wieder auf sozialen und kulturellen Bedingungen beruht« (Thomas & Krotz 2008, S. 28), die aber immer nur teilweise aktualisiert werden und daher auf Bezüge der Vergangenheit und Diskursverschränkungen angewiesen sind. Der Objektivitätszustand neuerer Ordnungsstrukturen ist mit Berger und Luckmann (1980 [1969], S. 58) daher zunächst generell immer als instabil und schwankend zu erachten, was sich erst mit der Weitergabe an eine neue Generation ändere, wobei sich die Objektivität von Generation zu Generation mehr und mehr verhärte. Die latenten Bezüge zur ›Normalfamilie‹ in Narrationen und sozialen Praktiken können daher auch als Symbole der ›Vorwelt‹ (Schütz 1993 [1932], S. 376ff.) gedeutet werden, in der »entgegen dem von Politik und Medien vielfach vermittelten Eindruck […] das traditionelle Vater-Mutter-Kind-Muster keineswegs ein

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Auslaufmodell, sondern auch heute noch der Normalfall« (Die Welt 23.12.2008) ist. Durch normierte und stereotypisierte Handlungsabläufe erfüllen diese Symbole dabei vor allem eine gruppenbindende und -bestätigende Funktion, indem sie die Familie und die damit verbundenen Anforderungen symbolisch sichern (Jurczyk 2014a) und so Verunsicherungen durch uneindeutige Geschlechter- und Familienrollen entgegenwirken (vgl. Abels 2009, S. 254; Mansfeld 2015). In jedem Fall handelt es sich bei diesen Positionierungen und Subjektivierungsweisen um historisch etablierte Kategorien, »denen über Institutionalisierung der Status eines selbstverständlichen und natürlichen kulturellen Deutungsmusters zukommt und die dadurch mit einer prinzipiell hohen Anerkennung und Orientierungsmacht rechnen können« (Groenemeyer 2010, S. 27f.).

4.2.4.

Die (Selbst-)Optimierung als Form der Biomacht über den familialen Körper

Neben repressiv-klassifizierenden Maßnahmen der ›Kindeswohlsicherung‹, generierten Ängsten und tradierten kulturellen Normen erscheint im Hinblick auf die Subjektivierung von familialen Kollektiven vor allem die Unabschließbarkeit von ›Erziehungskompetenz‹ als Optimierungsleistung wirkmächtig zu werden, indem sie den Subjekten nicht nur ermöglicht, selbstregulierend in Erziehungsprozesse einzugreifen, sondern im Rahmen von aktivierenden Anrufungen auch gezielt an eine solche Selbstregulation appelliert wird. Die Familie kann also nicht nur durch ein klassifizierendes Urteil zu etwas ›gemacht‹, sondern im Rahmen von Autonomie- und Omnipotenzversprechens auch als ›selbsthergestellte Kategorie‹ verstanden werden. Das heißt, der Elternteil ist in den Worten Sartres als Mensch »nichts anderes als das, wozu er sich macht« (Sartre 1994 [1931], S. 121) »durch das, was ihm aus dem zu machen gelingt, was man aus ihm gemacht hat« (Sartre 1999 [1957] S. 101). In der Angst vor einem ›Versagen‹ und dem Bewusstsein, permanent gesichtet und kontrolliert werden zu können, werden Eltern auch zu Beobachtern ihrer selbst, wodurch sie nicht mehr nur klassifizierte bzw. vermessene Objekte darstellen, die als ›Risikofaktoren‹ quantifiziert und in Zahlen ausgedrückt werden können, sondern als aktiv handelnde Subjekte ihre Leistung auch selbst überprüfen und steigern können (vgl. Gugutzer 2004, S. 64). Die Ergebnisse dienen den Familien dann als »Ver-Sicherung der (eigenen) Normalität […, die] ihnen in immer wieder neue[n] Zusammenstellungen immer wieder neue Datenvergleiche und Durchschnittskalküle erlaubt« (Bonk 2016, S. 19). Das Vertrauen in die eigene ›Kompetenz‹ wird somit über einen Vermessungsprozess hergestellt, in dem die Akteure selbst zu Objekten werden. Gleichzeitig wird nicht nur der Verzicht auf eigene Leistung und Optimierung (vgl. Kap. IV, 4.2.1), sondern auch das Unterlassen einer permanenten Selbstvermessung und -verbesserung zunehmend als Zeichen der Anomalität oder Ausdruck moralischer Fahrlässigkeit gewertet. Als Ausgangspunkt kann auch hier die bereits »zu Beginn der Autoritarismusforschung von Fromm diagnostizierte ›Furcht vor der Freiheit‹« (Schmid 2013, S. 128) gesehen werden, die zu Vergleichen und Anpassungen an bestimmte Praktiken führe und in ihrer Internalisierung als »Selbstzwangapparatur« (Elias 1969, S. 328) dann in solchen »Paradoxien der Gouvernementalität mündet« (Rieger 2018). Im Rahmen einer »Institutionalisierung der Angst« (Schierz 2013, S. 40) wird Familien somit mit einer »Kultur der Kontrol-

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

le« (Lindenberg 2015, S. 305) begegnet, die zunehmend Elemente des Selbstzwangs enthält. Dementsprechend können auch Selbstoptimierungsprozesse familialer ›Erziehungskompetenzen‹ als Disziplinartechniken aufgefasst werden, mittels derer Familien »gehorsam und nützlich gemacht« (Foucault 1993a [1975], S. 177) werden. Im Rahmen eines »flexiblen Normalismus« (Bonk 2016) lassen sich dann immer wieder neue Anforderungen und Vergleiche mit Normalfolien und Modellpraktiken von Familie und Erziehung einleiten, die bestehende Verunsicherungen verstärken und dadurch in einem zirkulären Sinn immer wieder neue Selbstbeobachtungen und -vermessungen hervorrufen: »So formiert sich eine Politik der Zwänge, die am Körper arbeiten, seine Elemente, seine Gesten, seine Verhaltensweisen kalkulieren und manipulieren. Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. […] Die Disziplin fabriziert auf diese Weise unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper« (Foucault 1993a [1975], S. 176f.). Für Foucault bildet hierbei vor allem die aufstrebende Medizin »ein Macht-Wissen, das sich zugleich auf den Körper und auf die Bevölkerung richtet, auf den Organismus und auf die biologischen Prozesse. Sie wird folglich disziplinäre und regulierende Effekte aufweisen« (Foucault 1993c, S. 40). Dies spiegelt sich auch in der monströsen Positionierung von Eltern wider: »Zwar werden biologische Variationen nicht mehr als Monstrositäten betrachtet, aber der grundlegende Marker des körperlichen Monsters, die Hybridität, bleibt im Diskurs der Monster erhalten« (Knöppler 2013, S. 193). Die Hervorhebung des Körpers erscheint an dieser Stelle auch insofern bedeutungsvoll, als mit den benannten Formen der familialen Selbstvermessung und -regulierung nicht nur eine allmähliche Ablösung tradierter Vorstellungen von Erziehung als determiniertes Schicksal über eine Verwissenschaftlichung und Professionalisierung bis hin zur »reflexiven Selbstverwissenschaftlichung« (Zillien & Fröhlich 2018) begünstigt wird, sondern sie als Subjektivierungsweise auch mit einem generellen gegenwärtigen Trend zum ›Self-Tracking‹ korrespondieren. Diese Technik kann als Weiterführung sich ausweitender Vermessungs- und Quantifizierungsentwicklungen (vgl. Kap. III, 3.1.) vor dem Hintergrund eines ›Predictive Policing‹ (vgl. Kap. IV, 4.1.1) gedeutet werden und ist keinesfalls auf die Kontrolle von ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ beschränkt. Die neuesten Entwicklungen zeigen sich insbesondere im Boom von Methoden und Anwendungen im Kontext eines »Quantified Self« mittels »Wearables«30 , in der sich die deutliche Tendenz gegenwärtiger Gesellschaften manifestiert, den Körper als Maschine zu sehen (vgl. einschlägig Damberger & Iske 2017; Duttweiler & Passoth 2016; Zillien & Fröhlich 2018). Wissensbestände und Praktiken wirken hierbei nicht nur auf die Körper der Akteure ein, sondern konstituieren diese auch als Phänomen, das bestimmte Entwicklungen oder Symptome aufweist und hierdurch nicht nur die Möglichkeit permanenter Intervention und Optimierung eröffnet (vgl. Foucault (1987), S. 247), sondern auch eine unmittelbare Zuweisung von Verantwortung und Schuld an die Träger

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Hierbei handelt es sich um Methoden sowie Hard- und Softwarelösungen, die gesundheits- und personenbezogene Daten wie Vitalitätswerte und Alltagsaktivitäten aufzeichnen und auswerten.

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des Körpers ermöglicht (vgl. Brandhorst 2015, S. 364f.). Die Subjektposition des ›unternehmerischen Selbst‹ (vgl. Kap. III, 3.3) wird so zur Subjektivierungsweise. Ebenso wie die Gründung des Gefängnisses laut Foucault (1993a [1975]) zur Formierung eines »klinischen Wissens über Sträflinge« (S. 319) geführt hat, kann der öffentliche Diskurs um familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ und das ›Kindeswohl‹ als Ort der Formierung eines ›klinischen Wissens‹ über die Familie erachtet werden, der in seinem Grundmechanismus dem gleicht, was in der Gesellschaft selbst praktiziert wird (ebd., S. 291), nämlich einer Form der ordnenden (Selbst-)Vermessung, die Foucault (1983 [1976]) als Biomacht bezeichnet. Die Kontrollmechanismen treten hierbei jedoch deutlich subtiler in Erscheinung als in der Kontrolle und Überwachung der ›Risikofamilie‹: »Staatlicher Druck wird ersetzt durch sanfte soziale Kontrolle« (taz 28.10.2006b) »und so weit nach vorne verlagert, dass man ihn gar nicht mehr oder sogar positiv als sanfte Hinwendung empfindet« (FAZ 14.05.2007). Der zugrunde gelegte, im Allgemeinen sehr positiv besetzte Autonomiebegriff kann somit auch hinsichtlich der Etablierung und Festigung einer solchen Biomacht als wesentlicher Erfolgsfaktor erachtet werden, denn Forderungen nach einer Ausweitung von Rechten und Freiräumen wird kaum widersprochen, sondern sie werden »grundsätzlich als erstrebenswertes und schützenswertes Gut behandelt« (Franzen et al. 2014, S. 7). Mit Foucault (1993a [1975]) gesprochen, wirkt die Biomacht dann als vermeintlich freie Entscheidung, in der die Selbstkontrolle jedoch ebenso wie die Fremdkontrolle zum Gefängnis werden kann. Grund ist, dass die vermeintlichen Freiheitsgewinne der ›selbstvermessenen Familie‹ keine Beliebigkeit und individuelle Entscheidungsfreiheit implizieren, sondern die tatsächlichen Handlungsspielräume der Akteure nicht nur auf der Strukturebene begrenzen (vgl. Kap. IV, 4.2.1), sondern auch auf relativ homogene Wissenskategorien einschränken, die den entworfenen Standards entsprechen, wodurch sie zu normierten Zwangs- und Normalisierungshilfen werden (vgl. Foucault 2004 [1978/79]). Das bedeutet, dass sich die Biomacht im Unterschied zur generellen Aktivierung »nicht individualisierend, sondern massenkonstituierend« (Foucault 1993c, S. 30) vollzieht. Dies erscheint nicht unproblematisch, denn »wenn der Gerechtigkeitssinn so weit geht, dass er Gleichheit erzwingen will, gefährdet er die Freiheit der Individuen, ihre Entwicklung, Initiativen und Erfolge« (Pörksen 2014, S. 267) und führt zu einer Utopie der Freiheit, in der Vereinheitlichung und Eliminierung von Pluralismus legitimiert werden durch das jeweils aktuell gültige ›klinische Wissen‹ und die dazugehörigen ›Risikofaktoren‹ (vgl. Kupffer 2000, S. 126). Während Goethe mit Individualismus noch einen »romantischen Individualismus der Differenz« beschrieb, verweist die Verwendung des Terminus als Disziplinartechnik eher auf einen ›Individualismus der Gleichheit‹, bei dem die Gefahr besteht, dass die Individuen zugunsten ihrer standardisierten Körperlichkeit aus dem Blick geraten (vgl. Winkler 2012, S. 108): »Der Geist, der Teil des Menschen, welcher nicht so detailliert quantifiziert werden kann, gerät dabei in Vergessenheit, denn Kreativität und Innovation lassen sich beispielsweise nicht so leicht in Zahlen und Skalen wiedergeben. Dem Körpergefühl und der Intuition wird immer weniger vertraut, wenn man sich nur an rationalen Zahlen orientiert« (Neubauer 2016), die im Sinne eines ›Risikomanagements‹ genutzt werden können. Widersprüche zwischen Individualität, Standardisierung und Kontrolle erscheinen dabei unauflösbar (vgl. Kelle & Tervooreen 2008). Formierungen des Körpers zeigen sich aber nicht nur im Hinblick auf Selbstver-

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

messungsprozesse der Eltern, sondern auch als biologische Differenzierungsvariable familialer Settings (vgl. Kap. IV, 2.2) sowie in der Figur des Kindes als Projektionsfläche (vgl. Kap. IV, 1.2). Während der tote Körper Kevins als Damoklesschwert fungiert (vgl. Kap. III, 4.3.1), werden die lebenden Körper der Kinder zum Maßstab und Operator der familialen ›Kompetenz‹ (IV, 1.1).

4.2.5.

Das Spiel als Figuration und Ausdrucksform der Disziplinartechniken

Auf die diskursimmanenten Widersprüche zwischen ›Freiheit und Zwang‹, ›Kreativität und Regeln‹ sowie ›Konkurrenz und Kooperation‹ verweist auch die narrationsübergreifende semantische Darstellung und zentrale Metaphorik von Erziehung als Spiel (Neuberger 1990, S. 163). Bereits Foucault (2002 [1974]) griff zur Darstellung von Aushandlungsprozessen häufig auf diese Rhetorik zurück, wobei er auch Diskurse als »games, als strategische Spiele aus Handlungen und Reaktionen, Fragen und Antworten, Beherrschungsversuchen und Ausweichmanövern« (S. 670f., Herv. i. O.) versteht, in denen Machtverhältnisse zum Ausdruck kommen: »Es handelt sich um ein komplexes und wechselhaftes Spiel, in dem der Diskurs gleichzeitig Machtinstrument und effektiv sein kann, aber auch Hindernis, Gegenlager, Widesstandspunkt und Ausgangspunkt für eine entgegengesetzte Strategie. Der Diskurs befördert und produziert Macht; er vestärkt sie, aber er unternimmt sie auch, er setzt sie aufs Spiel, macht sie zerbrechlich und aufhaltsam« (Foucault 1983 [1976], S. 100). Durch den geschickten Einsatz des ›Spiels‹ können kritische Momente innerhalb eines Diskurses aber auch verdeckt und ihre Deutung als solche modifiziert werden. Renner und Laux (2006) verbinden daher mit der Inszenierungsstrategie eines Phänomens als Spiel nicht nur eine unterhaltende und veranschaulichende Funktion, sondern interpretieren sie als subversive Praktik, die zur Kontingenz beitragen könne, indem sie Ungleichheiten und Probleme verschleiere, Ordnungen in Frage stelle sowie Spielräume eröffne, reguliere und verändere (vgl. S. 140ff.). (Wett-)Kampf und Spiel setzen Anstrengungen voraus, so dass Familien mittels entsprechender Metaphoriken narrationsübergreifend aktiviert werden können, indem ihnen z.B. »Spielraum für Veränderungen« (Focus 04/2007) zugewiesen wird. Ungünstige familiale Eigenschaften und strukturelle Rahmenbedingungen werden im Gegensatz zu möglicherweise ›versperrten Wegen‹ (vgl. Kap. III, 2.2.1) als ›Hindernisse‹ und ›Hürden‹ (vgl. Kap. III, 3.2.3) inszeniert, die getragen, umgangen, überwunden oder aktiv gesenkt werden können. Gleichzeitig ermöglicht das Spiel in seiner Facette als ›Schauspiel‹ eine Steuerung der Subjekte über vorgegebene ›Handlungsskripte‹, die auf der ›medialen Bühne‹ performativ in ›Szene‹ gesetzt werden können (vgl. Kap. III, 1.3.3). In der Metaphorik des Spiels werden jedoch nicht nur der Agency-Aspekt und Aspekte der Körperlichkeit hervorgehoben, sondern es kann zudem mit einem Scheitern oder einem möglichen Absturz gedroht werden (vgl. Bröckling 2014, S. 93). Während einige Disziplinierungen im Rahmen von Autonomie- und Glücksversprechen nicht gerecht erscheinen mögen, erscheint es insbesondere vor dem Hintergrund der Spielmetapher legitim, dass »einige Spieler durch die Spielregeln stark bevorteilt werden« (Ortmann 1988, S. 21), um das Kindeswohl nicht zu einem »Lottospiel« (SZ 14.12.2015) werden zu lassen. Das Spiel folgt somit einer Logik, deren Gerechtigkeitssinn nicht

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mehr vorrangig durch die Vorstellung einer ausgleichenden Fairness bestimmt wird, sondern innerhalb derer Leistungsprinzipen des Spiels, Sports und Wettkampfs dominieren, die dem Alltagsbewusstsein zugleich wesentlich näher liegen als gesamtgesellschaftliche Perspektiven. Zugleich kann die Präsentation von ›Gewinnern‹ und ›Verlierern‹ mobilisierend wirken (vgl. Kap. III, 3.3.2): »Wenn die Gerechtigkeit in einem Kampf bemüht wird, dann als Machtinstrument und nicht in der Hoffnung, dass eines Tages die Menschen gemäß ihren Verdiensten belohnt oder für ihre Fehler bestraft werden. Anstatt die gesellschaftliche Auseinandersetzung in Begriffen der Gerechtigkeit zu verstehen, muss man vielmehr die Gerechtigkeit in Begriffen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung verstehen« (Foucault 2003, S. 628). Im Glauben an ein ›fair play‹ der Leistungsgesellschaft wird Erfolg zur familialen Verpflichtung (vgl. Freudenschuss 2013, S. 9; Hasse & Schmidt 2012). Im Umkehrschluss wird eine geringe Leistungserbringung zur »moralischen Defizit-Charakterisierung« (Solga 2004, S. 105f.) und persönlichen »Lebensführungsschuld« (Cremer- Schäfer 2008, S. 178). In der Figuration des Spiels können somit alle regulativen Mechanismen und Techniken entlang von Autonomie und Zwang vereint werden. Der wesentliche Unterschied zwischen der diskursiven Inszenierung familialer Erziehung als (Schau-)Spiel und der Lebenswelt von Familien liegt dann jedoch darin, dass Schauspielern nichts »Wirkliches oder Reales geschehen« (Goffman 2003 [1976], S. 232) kann, da sie allenfalls für die Umsetzung, jedoch nicht für die Inhalte des Stücks verantwortlich gemacht werden. Ebenso verhält es sich mit Sportlern, denen man ein schlechtes Spiel, nicht aber dessen Regelwerk und die Spielumstände vorwerfen wird. Des Weiteren können und sollen (Schau-)Spieler im privaten Raum Distanz zu ihrer Rolle als Künstler oder Sportler aufbauen. Das aber erweist sich für Familien, die sich selbst spielen und deren privater Rückzugsraum zunehmend zu schwinden scheint (vgl. Kap. IV, 2.1.2), als schwierig. Indem Grenzen zwischen privater Familie und öffentlichem Leben in der Inszenierung von Erziehung als Spiel diskursiv aufgehoben werden, geraten die handelnden Akteure unter Druck. Elternschaft wird gelebt, ohne die Bühne zu verlassen, während viele Familien im Gegensatz zu professionellen Akteuren nicht über geeignete Darstellungs- und Copingstrategien für diese Situation verfügen. »Was für jedes Individuum gilt, sobald es die Arena ›Öffentlichkeit‹ betritt« (Soeffner 1998, S. 230), wird somit auch für Familien aktuell: »Sie müssen sich heute unter mehr Kontrolle denn je, ›eine Form‹ geben, ›eine Rüstung, die sie schützt« (ebd.), um sich nicht »in eine Nebenrolle drängen« (Die Welt 23.04.2008) zu lassen und um öffentliches Vertrauen in ihre ›Erziehungskompetenzen‹ zu erhalten bzw. wiederzugewinnen.

4.3. 4.3.1.

Soziale Arbeit in Vertrauens- und Risikoumwelten Der misstrauische Blick auf soziale Arbeit in ihrem Dilemma zwischen vertrauensvoller Fürsorge und effizienter Beziehung

Ebenso wie familiale Kollektive werden auch Akteure sozialer Arbeit im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ in unterschiedlichen Funktionen adressiert, die sowohl spannungsvolle Figurationen innerhalb der sozialen Arbeit als auch zwischen den Akteuren sozia-

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

ler Arbeit und Familien als ihrer Klientel bilden. So wird die soziale Arbeit als rechte Hand des Staates z.B. einerseits selbst zum Instrument der hervorgebrachten Normierungen und Normalisierungen, andererseits wird sie als Konstrukteur aber auch an der Entscheidung beteiligt, welches Verhalten als deviant gilt (Stigmatisierungsrisiko) bzw. welche Personen(gruppen) davon im Besonderen betroffen sind (Signalisierungsrisiko) (vgl. Dollinger 2015; Aulenbacher & Dammayr 2014, S. 67; vgl. auch Kap. IV, 3.3). Dies führt sowohl zu einem stärkeren Dienstleistungscharakter als auch zu einem ordnungsstaatlichen Drift der sozialen Arbeit, in deren Zuge die Beziehungsarbeit mit problematischen Eltern kriminologisiert und mit Aspekten der Effizienz versehen wird. Brandhorst (2015) bezeichnet das als »protektiv-repressive Wendung in der Kinderund Jugendhilfe« (S. 373). »Dabei wird die These begründet, dass jene zeitgenössischen Konzepte einer aktivierenden sozialen Arbeit – in Relation zu den in den siebziger und achtziger Jahren vorherrschenden Ansätzen – unter Nutzung subtilerer Strategien der (Selbst-)Regierung in einem gesteigerten Maße auf eine Normierung und Standardisierung der Subjekte hinwirken« (Kluge 2010, S. 157). Entsprechend der Modellpraxis einer Kinder- und Jugendhilfe als ›Dienstleistungsorganisation‹ (vgl. Kap. III, 3.2.3) scheint sich zunehmend ein »dienstleistungstheoretisches Professionsverständnis« (Thole & Polutta 2011, S. 106) zu entwickeln, das mitunter geprägt ist von Ökonomisierungsprozessen, Aktivierungsstrategien und Fragen der Effizienz sozialer Dienste und Hilfssysteme. Soziale Hilfsangebote müssen vor diesen Ordnungshintergründen effizient und rational belegbar sein. Das aber beschneidet die Gestaltungsfreiheit der Maßnahmen (vgl. ebd. S. 89f.). Diese Entwicklung erscheint insbesondere im Hinblick auf das beziehungsorientierte Arbeitsethos der sozialen Arbeit als Fürsorgeinstanz problematisch. Während die soziale Arbeit in ihrer ursprünglichen Funktion als ›Armenfürsorge‹ auf die umsorgende Unterstützung von Familien unterer Gesellschaftsschichten begrenzt war, geht es in der Ausdifferenzierung einer »hochgradig individualisierten Gesellschaft« (Marotzki et al. 2006, S. 47) eher um die Sicherstellung eines effizienten Beratungs- und Betreuungsangebotes für Familien aller Gesellschaftsschichten in Form einer ›Hilfe zur Selbsthilfe‹. Dabei werden jedoch die »Problemdefinitionen und Lösungsvorstellungen« (Unterkofler 2010, S. 129) der Familien nicht zwingend einbezogen und Sorge und Zwang werden als Steuerungsmechanismen untrennbar miteinander verknüpft (Foucault 2004 [1978/79], S. 999ff.). Dies sorgt für Konflikte auf mehreren Ebenen, so z.B. zwischen der Verteidigung der eigenen Profession auf der Basis einer kritisch-sozialwissenschaftlichen Arbeit und einer pragmatisch-effizienten Fachkompetenz bzw. Performanz, was den Druck auf die Fachkräfte deutlich erhöht: Statt »wie angekündigt, Familienbildung für alle zu ermöglichen, wird unter dem Zwang knapper Haushaltsmittel der Druck auf die Familienbildung erhöht, nicht nach dem ›Gießkannenprinzip‹, sondern gezielt die besonders Bedürftigen zu fördern. Für die meisten Bildungsanbieter bleibt dann nur noch die Möglichkeit, ihr Angebot über den Grad der Risikovermeidung oder den Nachweis der Bedürftigkeit der Teilnehmenden zu legitimieren« (Iller 2012, S. 81). Als professionelle Akteure vermögen sie über die hierarchische Beziehung zu Familien als ihrer Klientel institutionalisierte Macht auszuüben, sind dabei aber auch gleichzeitig durch normative Vorgaben des Trägers und kollektiv geteilte Deutungen selbst an

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machtvolle Vorgaben gebunden, durch die bestimmte Familien eingebunden oder ausgegrenzt werden. Die professionellen Helfer werden so zu einem »staatlich geprüften Chancenverwalter« (Stojanov 2015, S. 140), der zum einen die Ängste, Probleme und individuellen Ressourcen der Familie anerkennen soll, diese zum anderen aber auf standardisierte und messbare Kompetenzen zu reduzieren bzw. nur diese zu berücksichtigen hat. Schließlich ist ›Erziehungskompetenz‹ als so gedeutete Leistung nur anwendbar, wenn Ziele und Messmethoden festgelegt sind; andernfalls handelt es sich nicht um ›Leistung‹, sondern lediglich um ›Verausgabung‹ (vgl. Groenemeyer 2010). Die Schwierigkeit für die Akteure sozialer Arbeit ist es somit, dass sie sowohl Unterstützung für Familien bieten als auch ihrer Funktion als effiziente Kontrollinstanz des staatlichen ›Wächteramtes‹ gerecht werden sollen. Das führt zu dem Zwiespalt, ein wechselseitiges Vertrauensverhältnis erhalten, zugleich aber die Gefahr einer Täuschung bannen zu müssen (vgl. Becker-Lenz 2014; Tiefei & Zeller 2014; Wagenblass 2018). Hierdurch geraten die Akteure in eine Dilemmasituation: »Je nach Situation und Fall fürchten sie, zu spät oder zu früh einzugreifen, das eigene Handeln bei einem Aufsichtsverfahren nicht ausreichend belegen zu können, zu sehr oder zu wenig auf Vertrauen gesetzt zu haben, zu viel oder zu wenig Nähe zugelassen zu haben, den eigenen Anforderungen oder denjenigen des Berufskodex im Einzelfall nicht zu genügen« (Hongler & Keller 2013, S. 33). Dieses Dilemma wird an einigen wenigen Stellen auch öffentlich thematisiert: »Einige fürchten, das mühsam erkämpfte Vertrauen ihrer misstrauischen Klientel wieder zu verlieren, wenn sie mit Drohungen daherkommen, beim Hausbesuch einen Blick ins verschlossene Hinterzimmer werfen oder sämtliche Kinder unbekleidet sehen wollen. Andere pflegen die grundsätzliche Staatsferne: Sie haben Probleme damit, als Verkörperung einer Behörde aufzutreten und Sanktionen gegen Menschen zu verhängen, die es ohnehin schlecht haben« (Die Zeit 51/2007b). Die komplexen und belastenden Figurationen von Fürsorglichkeit, Kontrolle und Effizienz laufen jedoch in der öffentlichen Darstellung Gefahr, einseitig aufgelöst zu werden und eine Misstrauensperspektive auf die Tätigkeit der sozialen Arbeit zu etablieren. Aus dieser Sicht scheint sie sich zwischen den beiden Extrema »Aktionismus, übereifrigem, selbstherrlichem und unkontrolliertem Eingriff einerseits, sowie Fortsehen, Zaghaftigkeit und einem naiven Glauben an die Freiwilligkeit als sozialarbeiterische Methode andererseits« (Kotthaus 2012, S. 129) zu bewegen. Dies zeigt sich deutlich in den rekonstruierten Narrationslinien, in denen sich die Kritik an Tätigkeitsfeldern sozialer Arbeit entweder auf ihre Untätigkeit (Kap. III 1.3.1), ihre kontrollierende Tätigkeit (vgl. Kap. III, 2.3.1) oder ihre geringe Effizienz (Kap. III 3.1.1) erstreckt. Die helfende Funktion wird hierbei marginalisiert, Steuerungs- sowie Kontrollprozesse werden reklamiert und die soziale Arbeit wird zu einer feindlichen Instanz degradiert, der Eltern »erst recht nicht vertrauen« (taz 20.12.2007) können. In der Folge mangele es Familien immer mehr an »Vertrauen in die Sozialsysteme […]. Im Notfall setzen die Menschen eher auf die Hilfe von Verwandten als vom Staat« (Die Welt 30.01.2007):

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

Laut einer aufgeführten Allensbach-Umfrage verbindet »das Gros der Bevölkerung […] mit dem Begriff ›Familie‹ in erster Linie positive Werte wie gegenseitige Hilfe (82 Prozent), Vertrauen (78 Prozent), Liebe (77 Prozent) und Freude (68 Prozent) […]. Jeder Zweite vertraut im Krankheitsfall, bei Arbeitslosigkeit oder im Alter der Familie. Auf den Staat verlassen sich hingegen nur sieben Prozent« (Die Welt 30.01.2007). »Das Vertrauen der Familien und auch der Kinderärzte, das Jugendamt hinzuzuziehen, fehlt […]. Zwar haben in Deutschland immer mehr Familien Probleme mit ihren Kindern – doch das Vertrauen in die Ämter ist gering« (Die Welt 30.01.2007). Hier scheint sich die Angst bei vielen Familien zu institutionalisieren, dass sie »künftig schon dann um ihr Sorgerecht fürchten, wenn ihre Erziehungsvorstellungen von denen staatlicher Behörden abweichen« (FAZ 20.02.2008). Das scheint den »besonderen Vertrauensschutz« (Der Spiegel 51/2007) in der sozialen Arbeit auszuhebeln und das Dilemma zu verstärken, denn »Unsicherheit wird nicht nur in Bezug auf das Risiko, sondern auch in Bezug auf Vertrauen formuliert« (Harden & Backett-Milburn 2008, S. 167). Daraus ergibt sich eine weitere Herausforderung der sozialen Arbeit. Hinzu kommt, dass auch die Exklusivität der Profession durch die Einschreibung einer Vielzahl anderer ›Experten‹ zunehmen infrage gestellt zu werden scheint (vgl. Kap. IV, 3.3), während zugleich die Erwartungen an die Qualität ihrer Leistungen beständig ansteigen (vgl. Pfadenhauer 2006). Die Vielzahl an mitunter widersprüchlichen ›kindeswohlsichernden‹ Maßnahmen und der Rückzug disziplinärer Sprecherpositionen vermag das institutionalisierte Misstrauen dann nicht zu eliminieren, sondern verlagert es vielmehr auf höhere Ebenen im Sinne von »who guards the guardians?« (Shapiro 1987, S. 635). Dadurch wird das Vertrauen in die soziale Arbeit paradoxerweise ausgerechnet an der Stelle weiter erschüttert, wo es durch umfassende Risikomanagementsysteme zurückgewonnen werden soll. Ohne die Verantwortung von Akteuren der sozialen Arbeit an Fällen wie ›Kevin‹ zu unterminieren, sind freilich auch Zweifel angebracht, ob Fehlentscheidungen vollständig diesem gesellschaftlichen Teilbereich angelastet werden können, da sie zumeist nicht autonom und unabhängig von anderen Faktoren getroffen werden und vor allem die Definitions- und Handlungsmacht der sozialen Arbeit im Kontext von Kinderschutzfällen deutlich beschnitten zu sein scheint. Die Macht, die Fachkräfte in der Arbeit mit Familien über diese ausüben, entspricht so gesehen dann weniger der Weber’schen Form, d.h. der Chance seitens der professionellen Akteure, den eigenen Willen durchzusetzen,31 sondern bezieht sich vielmehr auf den »kollektiven Willen der Gesellschaft, die die Sozialarbeiterin oder den Sozialarbeiter mit der Macht legitimiert hat« (Büschken 2017, S. 201). Die Interessen des Kollektivs können dabei durchaus auch im Widerspruch zu den disziplinären Interessen oder dem persönlichen Willen der Akteure stehen. Gerade hierdurch entstehen in den Augen Biesels (2011) Legitimationskrisen und Widersprüche, die nicht unbeachtet bleiben sollten: »Die Expertise sozialer Arbeit wird in der Öffentlichkeit immer mehr abgewertet, und zugleich erleben wir den Aufstieg machtvoller und profitorientierter sozialer Organisationen, die geschickt darin sind, ihren Marktwert auf der Bühne der Eitelkeiten mit 31

Nach Weber (1976 [1922]) bedeutet Macht die »Chance innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen« (S. 28).

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Familie unter Verdacht

PR-trächtigen Pseudoreformen des New-Public-Managements oder einer oberflächlichen Sozialraumorientierung stabil zu halten, ohne dass sich grundlegend etwas verändert« (S. 63). Von entscheidender Bedeutung sind neben Veränderungen der Expertenlandschaften und politischen sowie rechtlichen Rahmenbedingungen auch die offenbar tiefgreifenden Veränderungen im Alltagsbewusstsein und in der Deutung familialer Erziehung, die weniger durch strategische Beeinflussung als durch gesellschaftliche und soziostrukturelle Veränderungen verursacht wurden. Zudem hat die Handlungsmacht der sozialen Arbeit auch in der Praxis immer Grenzen, wenn Familien wie z.B. die Kevins fast alle Formen institutioneller Unterstützung verweigern und die Fachkräfte dadurch auch nicht tätig werden können: »Das Amt machte später ein ums andere Hilfsangebot, beraumte diverse Termine an, die allesamt abgelehnt wurden« (Die Welt 19.12.2006), und »die Amtsleiterin erklärte, eine Sozialarbeiterin sei regelmäßig bei der Familie gewesen, doch diese habe Hilfe abgelehnt. Mehr habe man nicht tun können« (Die Welt 13.10.2006). Gleichzeitig verstellen die Verhandlungen von Fällen wie ›Kevin‹ auch den Blick darauf, dass die Grenze zur Kindeswohlgefährdung nicht in allen Fällen so eindeutig ersichtlich wird: »Extreme Fälle sind spektakulär, aber rechtlich wenig problematisch, schwieriger und häufiger sind Grenzfälle« (Höynck & Haug 2012, S. 31f.). In ihnen müssen die Fachkräfte die folgenreiche Einschätzung treffen, ob der Tatbestand einer Kindeswohlgefährdung vorliegt und somit staatliche Interventionen nötig sind oder nicht. Solche prognostische Abwägungen familialen ›Versagens‹, die zumeist auf wenigen verfügbaren Informationen in emotional stark belastenden Situationen und unter geringer Kooperationsbereitschaft der beteiligten Akteure getroffen werden müssen, werden jedoch im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ kaum öffentlich verhandelt. Damit wird auch das belastende Risiko einer Fehleinschätzung nicht thematisiert. Lediglich Die Welt berichtet von dem enormen Druck, der auf den Fachkräften lastet: »In seiner Freizeit klettert er Felswände hinauf. In seinem Job versucht er, jedes kleinste Risiko zu vermeiden, sodass er abends gut einschlafen kann. Und doch hat er immer seltener das Gefühl, seine Arbeit unter Kontrolle zu haben« (Die Welt 29.01.2013). »In Anbetracht der Überlastung der Jugendamtsmitarbeiter und der personellen Unterbesetzung ist die Gefahr von Fehleinschätzungen nicht ausgeschlossen. […] Und sie gehen damit auch immer wieder das Risiko ein, dass es zur Katastrophe kommt« (Die Welt 08.01.2009). Auch auf die hohe Arbeitsbelastung wird in den unterkomplexen massenmedialen Berichterstattungen nur am Rande und zumeist im Kontext eines Missmanagements oder mangelnder Effektivität bestimmter Maßnahmen hingewiesen. Dass ein Fallbearbeiter des Jugendamtes nicht selten bis zu 150 Fallakten parallel zu sichten hat, was die Fehleranfälligkeit deutlich erhöht, bleibt eine weitgehende diskursive Leerstelle (vgl. Tsokos & Guddat 2014, S. 102). Einige Jugendämter berichten in Anbetracht dieser Arbeitsund Risikolage, »dass sie ihre Arbeit auf schwere Kinderschutzfälle beschränken müssen, dass die Zeit für eine behutsame Kontaktaufnahme mit Familien nicht ausreiche und dass vor allem die präventive familienunterstützende Arbeit nicht gewährleistet sei« (Kinderschutz-Zentrum Berlin, S. 13). Zwischen Vorwürfen des ›Untätigseins‹ und des vorschnellen Handelns müssen die Fachkräfte somit unter steigenden Arbeits-

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

belastungen, evidenz- und effizienzbasierten Richtlinien sowie zunehmendem öffentlichen Druck Entscheidungen treffen, die zwangsläufig auch beeinflusst werden durch persönliche Wertungen, eigene Interessen und Interpretationen (vgl. ebd.).32 Kontexteinzigartigkeit, Verstehensbarrieren, Kommunikationshindernisse und Autonomieerfordernisse sind hierbei Merkmale von Erziehung und sozialer Arbeit, die sie fehleranfällig machen sowie klare Prognosen und standardisierte Zieldefinitionen erschweren (vgl. Biesel 2011, S. 66f.). Dadurch vermögen Risikokalkulationen und kategorisierende Ordnungen lediglich Entscheidungsgrundlagen zu bieten, indem sie als »symbolische Politik« (Groenemeyer 2015, S. 30) die »Illusion einer Kontrolle« (Harden & BackettMilburn 2008, S. 167) liefern. In der Annahme, dass Macht eine Option darstellt, »Legitimität, Grafikation, Fachlichkeit, Wissen(svorsprung), Charisma [… oder] Wirklichkeitsdeutungen vorzunehmen und das Verhalten anderer entlang dieser Interpretation zu beeinflussen« (Huxoll & Kotthaus 2012, S. 9), können Maßnahmen wie »Zwangsuntersuchungen« bzw. »zwangsweise« durchgeführte Einweisungen oder Einbestellungen von Eltern (z.B. Der Spiegel 49/2006), Inobhutnahmen als »Unterbringung mit Zwang« (taz 21.08.2009) oder das geforderte »Zwangsgeld« für Eltern (Die Welt 12.07.2007) gerade als Ausdruck der zunehmenden Hilflosigkeit und des Verlusts der Deutungshoheit sozialer Arbeit angesehen werden: »Wenn Zwang ausgeübt wird, dann dort, wo Macht Handeln nicht mehr steuern kann – wo also nicht genug Macht vorhanden ist« (vgl. Huxoll & Kotthaus 2012, S. 10). Die öffentliche Thematisierung von Kontroll- und Vertrauensproblemen scheint somit gerade zu stabilisieren, was sie verhindern soll, indem sie immer komplexere und vermeintlich effizientere Maßnahmen hervorbringt, die gleichzeitig das Misstrauen und die Kluft zwischen den Akteuren steigern: »Je mehr die Frage der Messbarkeit in den Vordergrund gerückt wird […,] desto eher vollzieht sich eine Entfernung von der Unmittelbarkeit, d.h. der Face-to-face-Beziehung zwischen Sozialarbeitern und Adressaten« (Hünersdorf 2011, S. 9). Dies wird nicht zuletzt auch durch die mitunter strategischen Narrationen von Misstrauen als Schutzmechanismen begünstigt (vgl. Lewicki & Tomlinson 2003). Im Rahmen einer »blinden und stigmatisierenden Symptombehandlung« (Biesel 2011, S. 63) und in Versuchen, Fehleinschätzungen zu minimieren, die in erster Linie dem »professionellen Selbstschutz« (ebd.) dienen, können vor allem bei langwierigen Verfahrensstandards neue gravierende Risiken erzeugt werden (vgl. auch Krause 2015). Aber auch in einem vorschnellen Vorziehen kontrollierender Maßnahmen, wie sie nach dem Leichenfund Kevins gefordert werden, gegenüber einem fragilen und langwierigen Prozess der Vertrauensbildung liegt die Gefahr, Vertraulichkeitszusagen zu brechen und Potenziale der Familien brach liegen zu lassen (vgl. Boettner 2015, S. 134). Zunehmende Forderungen nach standardisierten Handlungsabläufen und konkreten Verfahrensregeln in der Kinder- und Jugendhilfe können dann

32

Hierbei spielen auch unbewusste Wahrnehmungsverzerrungen und Verdrängungsformen wie Täuschen, Verschweigen und Bagatellisieren eine Rolle (vgl. Kap. III, 1-3), die zu Interaktionsproblemen und letztlich auch zu Fehlentscheidungen führen können. Einschlägige Studien verweisen in diesem Kontext insbesondere auf die Reproduktion eigener Normalitätsvorstellungen professioneller Akteure in solchen Settings, die in die jeweiligen institutionalisierten Routinen eingeschrieben werden (vgl. z.B. Bauer et al. 2015; Richter 2013).

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Familie unter Verdacht

nicht nur als Instrumentalisierung der sozialen Arbeit seitens der staatlichen Exekutive interpretiert werden, sondern spiegeln zugleich auch Zweifel an der eigenständigen professionellen Handlungskompetenz der sozialen Arbeit wider.

4.3.2.

Vertrauen als Steuerungsmechanismus von (Macht-)Beziehungen im Rahmen sozialer Arbeit

Die diskursimmanente Misstrauensperspektive auf soziale Arbeit und das Dilemma der Fachkräfte in ihrer Positionierung zwischen Fürsorgeinstanz und effizientem Dienstleister erscheinen nicht nur im Hinblick auf die Belastung der Fachkräfte problematisch, sondern auch für den Aufbau eines solidarischen, empathischen Vertrauensverhältnisses als Basis der Zusammenarbeit mit Familien als ihrer Klientel. Denn eine solche vertrauensvolle Beziehung ist nur im Zusammenwirken aller Beteiligten möglich und kann sowohl als Basis als auch als Resultat sozialer Arbeit erachtet werden. Daher kommt ihr auch eine bedeutsame Rolle für die Konstitution von (Macht-)Beziehungen und die Subjektivierung der beteiligten Akteure zu. Bereits für Simmel (1992 [1894]) stellt Vertrauen als zukunftsgerichtete Vorschussleistung die Grundlage für ein Handeln in unsicheren Situationen dar: »Vertrauen, als die Hypothese künftigen Verhaltens, die sicher genug ist, um praktisches Handeln darauf zu gründen, ist als Hypothese ein mittlerer Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen um den Menschen. Der völlig Wissende braucht nicht zu vertrauen, der völlig Nichtwissende kann vernünftigerweise nicht einmal vertrauen« (Simmel 1992 [1894], S. 263). Vertrauen erfüllt demnach eine Brückenfunktion zwischen Wissen und Nichtwissen. Sie bleibt als Grundlage der sozialen Arbeit schon insofern erforderlich, als absolutes Wissen in modernen Gesellschaften generell nicht erreicht werden kann und im Kontingenzvorbehalt von Familie und Erziehung besonders fragil erscheint (vgl. Kap. III, 4.3.2). Mit Hartmann (2011) ist Vertrauen als Vorschussleistung somit zwar nötig, um in unsicheren und riskanten Situationen gewisse Handlungssicherheiten zu vermitteln. Als stabile Praxis erweise es sich jedoch erst, »wenn eine gewisse Stufe erreicht ist, wenn so etwas wie eine erste große Vertrauensprüfung (oder mehrere solche Prüfungen) bestanden wurde« (S. 19). Wie bei Giddens (1995b) wird die enge Bindung von Vertrauen an die Termini Gefahr, Risiko und Sicherheit deutlich: »Vertrauen setzt im Gegensatz zu Zutrauen oder Zuversicht voraus, dass man sich über das Riskante bestimmter Umstände im Klaren ist. Vertrauen bezieht sich ebenso wie Zutrauen oder Zuversicht auf Erwartungen, die enttäuscht oder gedämpft werden können […]. Die Unterscheidung zwischen Vertrauen und Zutrauen ist davon abhängig, ob die Möglichkeit der Enttäuschung vom eigenen vorgängigen Verhalten beeinflusst wird, beruht also auf einer entsprechenden Unterscheidung zwischen Risiko und Gefahr« (S. 45f.). Im Kontext der sozialen Arbeit kann Vertrauen daher gefasst werden »als eine positive Erwartung der AdressatInnen im Hinblick auf den institutionalisierten Hilfeleistungsprozess und die zukünftigen Handlungsergebnisse, indem das Eintreten bestimmter Erwartungen als wahrscheinlich, andere dagegen als unwahrscheinlich angenommen

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

werden« (Wagenblass 2018, S. 1806). Bei Beziehungen zwischen Fachkräften sozialer Arbeit und Familien als ihrer Klientel gibt es daher, was das wechselseitige Vertrauen betrifft, im Wesentlichen zwei Probleme, die für soziale Beziehungen im Allgemeinen typisch sind: ein Zeitproblem und ein Informationsproblem. Das Zeitproblem meint, dass Leistungen innerhalb der Beziehungen nur sequenziell, mit Zeitverzögerung ausgetauscht werden. Daraus ergibt sich das Informationsproblem, nämlich die Unsicherheit darüber, ob die mit dem Anderen vereinbarte Leistung tatsächlich eingehalten wird. Als »riskante Vorleistung« (Luhmann 1968, S. 23) gehen mit Vertrauensvorschüssen im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ vor allem die Risiken einher, einer Täuschung zu erliegen (seitens der Professionellen) oder Opfer eines Machtmissbrauchs zu werden (seitens der Familien). Vor allem Maßnahmen der Frühen Hilfen zielen in ihrer Programmatik jedoch nicht nur auf einen Vertrauensaufbau, sondern sind zur erfolgreichen Durchführung bereits im Vorfeld auf Vertrauen angewiesen, so dass die Akteure in der Regel von Beginn an versuchen, »in Gesprächen ein Vertrauensverhältnis herzustellen« (taz 28.10.2006b). So bauen z.B. Hebammen und Familienpfleger »schon vor der Geburt das Vertrauen auf« (taz 08.12.2007). Da die Durchführung von Angeboten und Maßnahmen jedoch zunehmend zwischen staatlichem Auftrag, privatem Markt, familialen, gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnissen sowie erzieherischen Anforderungen balanciert werden muss, sind gleichzeitig in zunehmendem Maße auch Formen der Kontrolle konstitutiv, die oftmals selektiv und graduiert erfolgen (vgl. Kap. IV, 4.1). Dies kann eine abschreckende und beängstigende Wirkung auf Familien haben, die einem Vertrauensvorschuss entgegensteht, und somit die Voraussetzung für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit bereits im Vorfeld beschädigen (vgl. Hartung 2012; Stojanov 2015; Treptow 2015, S. 2) – zumal dem Kinderschutz juristisch im Fall einer Kindeswohlgefährdung der generelle »Vorrang vor dem Schutz der Vertrauensbeziehung« eingeräumt wird (§ 1666 BGB). Der Ausweg aus diesem Vertrauensdilemma erscheint schwierig, da der Verzicht auf eine vertrauensvolle Beziehung zu repressiven Machtverhältnissen zu führen und die Wirksamkeit der Maßnahmen deutlich einzuschränken droht, während der Verzicht auf Kontrollen in beliebigen und anomischen Zuständen münden und somit die Gefahren für das Kindeswohl um ein Vielfaches erhöhen kann. Obgleich Bewältigungsstrategien familialer ›Erziehungsinkompetenz‹, die Praktiken eines »Doing social Control« (Groenemeyer 2010, S. 8) entspringen, immer auf Kategorisierungen der Gefahrenund Risikolagen angewiesen sind und hierbei soziale Ungleichheiten und Exklusionsdynamiken generieren und verstärken können, gelten sie letztlich handlungspraktisch als ebenso unverzichtbar wie die Kontrollen selbst. Schließlich sei es »schwer nachzuvollziehen, wie es gelingen soll, der Entstehung einer möglichen Problemlage durch Prävention vorzubeugen oder ihre Folgen durch Frühe Hilfen abzumildern, wenn es als sozialethisch bedenklich eingestuft wird, diese Problemlage auch zu benennen« (Dederich 2017, S. 77) und an diesen Stellen anzusetzen. Solche Fragen nach dem Umgang mit Spannungen zwischen Vertrauen und Misstrauen sowie Freiheit und Zwang stellen an sich auch keine neuen Phänomene dar, sondern lassen sich in pädagogischen Kontexten spätestens seit dem 18. Jahrhundert bei vielen Autoren nachzeichnen (z.B. »Wie cultiviere [sic!] ich die Freiheit bei dem Zwange?«, Kant 1983 [1803], S. 711). Mit Luhmann (1968) kann hierbei jedoch gegen-

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Familie unter Verdacht

wärtig angenommen werden, dass sich Zwang und Vertrauen nicht generell ausschließen, weil beides komplexitätsreduzierend wirken und sich Vertrauen somit nicht nur unter Vorzeichen der Mehrdeutigkeit, sondern auch in Machthierarchien bilden kann. Misstrauen – wie es in den massenmedialen Verhandlungen von Fällen wie ›Kevin‹ sowohl der Familie als auch der sozialen Arbeit entgegengebracht wird – kann somit in gewissem Maße auch als funktionaler Ersatz für Vertrauen gewertet werden. Laut Hartmann (2011) greift er immer dann, wenn die Glaubwürdigkeit eines Gegenübers angezweifelt wird und daher andere Mechanismen gewählt werden müssen, um die Wissenslücken zu schließen bzw. Nichtwissen zu überbrücken (vgl. S. 206). In der Managementforschung ist hier von einem »Interventionsparadox des ›Vertrauensmanagements‹« (Florian 2015, S. 72) die Rede. Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass bestimmte Formen von Kontrolle, wie z.B. die juristische Garantie von Elternrechten, sogar erst die Voraussetzung für eine Vertrauensbildung zwischen den Akteuren bieten. Die »Parallelität von Hilfe und Kontrolle« (Treptow 2015, S. 2) stellt somit ein Kernstück der sozialen Arbeit dar, obwohl sie jenen instrumentellen Charakter aufweist, der sich den intrinsischen Motiven der Vertrauensbildung eigentlich entgegenstellen müsste.33 Kontrollmechanismen sind daher nach Luhmann (1968) mitunter auch als Praktiken für die »Rückgewinnung bzw. Stabilisierung von Vertrauen in Institutionen« (S. 124) geeignet, da sie gerade dadurch vertrauensfördernd wirken, dass »an kritischen Stellen das Vertrauen unterbrochen« (ebd.) wird. Denn erst nach einem solchen Bruch könne erneut über Inhalte und Sinn von Hilfeprozessen verhandelt werden, um möglicherweise aufgebautes Misstrauen wieder zu überwinden und die Gefahr einzudämmen, dass eine Unterstützungsleistung (weiterhin) als Bevormundung empfunden werde und zu Abwehrhaltungen der Klientel führe. Vertrauen stelle demnach nicht die alleinige Basis für die Arbeit mit Familien dar, und Kontrolle werde zur Voraussetzung für Vertrauen. Dies könne jedoch nur geschehen, wenn die Verfahren transparent gemacht würden, die Leistungen im Einklang mit den Erwartungen der beteiligten Akteure stünden und nicht nur den Akteuren, sondern auch den entsprechenden Instrumenten und Maßnahmen vertraut werde (vgl. ebd. S. 80; Bormann 2014, S. 113). Als Form der Komplexitätsreduktion erfüllt Misstrauen jedoch nur temporär seine Funktion, denn wer »misstraut, braucht mehr Informationen und verengt zugleich die Informationen, auf die zu stützen er sich getraut« (Luhmann 1968, S. 93). Zudem transportiert und festigt die soziale Arbeit hierdurch gleichzeitig eine Art öffentliche Skepsis gegenüber der Funktionalität von Familien, die langfristig die Beziehungen und Selbstverständnisse der Personen auf personeller und institutioneller Ebene irreparabel zerstören und so wiederum zu dauerhaften Rückzügen, Abwertungen und Sanktionen führen könnte (vgl. Ludwig & Schierl 2016). Wenn diese Kriterien erfüllt bzw. bedacht werden, lässt sich aus den aufgeführten Perspektiven der Vertrauensforschung vermuten, dass nicht in erster Linie die Techniken familialer Kontrolle Folgen für das Vertrauensverhältnis zwischen den Akteuren haben, sondern die damit verbundenen Hoffnungen, die im Falle ihrer

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Dies betrifft z.B. die Verletzung der Unversehrtheit von Familien, denn im Balanceakt zwischen Hilfe, Kontrolle und Anleitungen zum Selbstmanagement treten auch Techniken der Stigmatisierung und des Ausschlusses zu Tage (vgl. Kap. IV, 2.1).

IV (Macht-)Mechanismen, Sprecherpositionen und Praktiken des (Zu-)Ordnens

Dysfunktionalität im Kontext von ›Kevin‹ und anderer gescheiterter Kinderschutzfälle zunichte gemacht wurden.

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V Synthese und Ausblick

Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit war es, die in massenmedialen Diskursen inflationär und disparat verhandelten Konstruktionen von Familie und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ aus einer wissenssoziologisch orientierten Perspektive zu untersuchen. Damit wurde das Ziel verfolgt, die zugrundeliegenden und diskursiv transportierten Wissensstrukturen sowie deren Institutionalisierung und (Neben-)Folgen zu rekonstruieren. Bereits im Rahmen erster empirisch-heuristischer Vorarbeiten zeigte sich, dass Ordnungen von Familie und Erziehung insbesondere dann ins Wanken geraten und öffentlich zur Disposition gestellt werden, wenn skandalöse Ereignisse oder Widersprüche Eingang in das Diskursfeld erhalten bzw. sich Rahmenbedingungen ändern. Solche Begebenheiten stellen z.B. Ereignisse von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung dar, die daher im Analysefokus standen. Als besonders prägnant zeigte sich hierbei der Fall ›Kevin‹ in Bremen, der sich nicht nur durch eine enorme Medienpräsenz auszeichnet, sondern in dessen Kontext besonders deutlich Formen vermeintlicher ›Erziehungsinkompetenz‹ aus einer Defizitperspektive beschrieben und inszeniert werden. Um das Forschungsvorhaben zu konkretisieren und die Analyse den Besonderheiten dieses Diskursfeldes anzupassen, wurden unterschiedliche theoretische Ansätze zusammengeführt und es wurde ein mehrstufiges Analyseschema entwickelt. Mithilfe dieses Schemas ließen sich zunächst die diskursiven Wissens- und Infrastrukturen familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ in den Blick nehmen, die über unterschiedliche Narrationslinien diskursiv transportiert werden. Daran anknüpfend wurden in einem weiteren Schritt diskursimmanente Praktiken des (Zu-)Ordnens, Sprecherpositionen, (Macht-)Mechanismen und mögliche Subjektivierungsweisen rekonstruiert. Die zentralen Ergebnisse der so erschlossenen Phänomenstruktur familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ werden in diesem abschließenden Kapitel zunächst noch einmal in komprimierter Form dargestellt und die erfassten Strukturen, Ordnungen und Dynamiken in übergeordnete Transformationsprozesse eingebettet, die sich vor dem Hintergrund diskursiver Wissensstrukturen und Ordnungen, theoretischer Annahmen und des aktuellen Forschungsstands ableiten lassen (vgl. Kap. V, 1), bevor daraus folgernd mögliche Korrekturbedarfe, Veränderungspotenziale und Handlungsimplikationen für die Stakeholder des Diskurses entworfen bzw.

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Familie unter Verdacht

angezeigt werden (vgl. Kap. V, 2). Da Diskursanalysen immer auch Außengrenzen aufweisen, die Überlegungen antreiben, ob und wie diese Analysen konzeptionell erweitert und methodisch ausgebaut werden können, werden im letzten Teil die Möglichkeiten und Grenzen der theoretisch-methodologischen Grundlegung und der erfolgten methodischen Zugänge ausgelotet, um so einen Beitrag zu deren Weiterentwicklung zu leisten (vgl. Kap. V, 3).

1.

Die Phänomenstruktur familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹

1.1.

Narrationslinien der diskursiven Wissens- und Infrastrukturen

Im Rahmen einer komparativen Rekonstruktion der massenmedial verhandelten diskursiven Wissens- und Infrastrukturen konnten zunächst drei idealtypische Narrationen familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ herausgearbeitet werden, die Aufschlüsse über Problemgenesen, Subjektpositionen, Modellpraktiken und Diskursstrategien geben und sich im Wesentlichen zu drei Linien bündeln lassen: einer Ausgangsnarration, die Familie und deren Erziehungsleistungen als problematischen und zu verändernden Sachverhalt identifiziert, einer Gegennarration, die Ordnungsstrukturen und Wissensbestände der ausgehenden Problemwahrnehmung semantisch verändert, mit anderen Sinnwelten rekombiniert und aktiv zurückweist, sowie einer Alternativnarration, welche die beiden vorliegenden Narrationslinien aufgreift und zur Entwicklung alternativer Erklärungsmodelle nutzt, um so die darin als problematisch ausgewiesenen Sachverhalte besser bearbeitbar zu machen. Der Fall ›Kevin‹ kann hierbei als »soziales Drama« (Turner 1989, S. 251) erachtet werden, das zunächst einen Bruch mit etablierten Wissensordnungen auslöst und zur Störung anerkannter Wissensordnungen im Hinblick auf Familie und Erziehung führt. In der Ausgangsnarration wird dieser Bruch massenmedial thematisiert und zu einem ›Horrorszenario‹ ausgebaut. Das Leben und Sterben ›Kevins‹ wird mittels zum Teil stark simplifizierender, dramatisierender und skandalisierender Diskursstrategien sowie Metaphern aus dem Bildbereich des Theaters und des Mülls als eine sich ›ausweitende Katastrophe‹ familialer ›Erziehungsinkompetenzen‹ inszeniert. ›Skrupellos‹ und ›monströs‹ gezeichnete ›Eltern-Täter‹ fungieren als Referenzfolie eines vermeintlich zunehmenden familialen Versagens, während das gefährdete Kind zum Opfer und Objekt der Sorge wird und aufgrund gradueller Dysfunktionalitäten in der Kinder- und Jugendhilfe nicht ausreichend geschützt werden kann (vgl. Kap. III, 1.1-1.3). Die Gegennarration nimmt diese Darstellungen zum Ausgangspunkt der Problematisierung einer angeblich daraus hervorgehenden gefährlichen und unberechtigten ›Entmachtung‹ von Familien. Dabei werden sowohl Eltern als auch Kinder als tragische Figuren schicksalhafter Ereignisse und gesellschaftlicher Umstände skizziert. Anhand der ihnen zugewiesenen natürlich-intuitiven Anlagen werden Eltern, insbesondere Mütter, in dieser Narrationslinie per se als ›erziehungskompetent‹ gedeutet und Familien im Allgemeinen als Orte der Solidarität und der sozialen Wärme verstanden. Auf die Attribution individueller Schuld in Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung wird dementsprechend aus dieser naturalistisch-traditionellen Perspek-

V Synthese und Ausblick

tive heraus verzichtet, indem sie als bedauerliches, mitunter auch schicksalhaftes oder strukturbedingtes menschliches Versagen im Einzelfall dargestellt werden. Stattdessen wird ein metaphorisches ›Kampffeld‹ zwischen Familien und staatlichen Instanzen auf dem ›Weg‹ zur Erziehung als familialem ›Glück‹ inszeniert (vgl. Kap. III, 2.1-2.3). Die deutlich komplexeren Strukturen der vorrangig aktivierend-ökonomisch ausgerichteten Perspektiven der Alternativnarration inszenieren das Versagen familialer ›Erziehungskompetenzen‹ in Fällen wie ›Kevin‹ schließlich anhand strategischer Risikotransformationen, Normalisierungs- und Aktivierungsstrategien sowie neoliberaler Nutzenkalkulationen und Wettkampfmetaphern in ein abschätzbares ›Wagnis‹, in dem Fälle wie ›Kevin‹ das Resultat eines unterentwickelten (Risiko-)Managements familialer ›Erziehungsinkompetenzen‹ symbolisieren. ›Erziehungskompetenz‹ stellt hierbei in der Denkfigur des ›unternehmerischen Selbst‹ einen weitgehend selbstverantwortlich und aktiv zu entwickelnden Bestandteil familialer Leistungen dar, der zwar durch verschiedene Faktoren beeinflusst wird, jedoch deutlich aktivere und performative (Selbst-)Steuerungskomponenten zugewiesen bekommt (vgl. Kap. III, 3.1-3.3). Die einzelnen Narrationslinien beinhalten nicht nur Ursachennarrationen zum vorliegenden Problem, sondern verweisen darüber hinaus auch auf wünschenswerte Praktiken bzw. den ›richtigen‹ Umgang damit (vgl. Ullrich 1999). Hierbei konkurrieren sie »nicht nur um die Aufmerksamkeit staatlicher Instanzen, sondern auch um die Ressourcen, die diese zu vergeben haben« (Schetsche 2014, S. 161, Herv. i. O.). Im Wesentlichen erscheinen drei Ressourcen zentral, deren Hervorhebung in Abhängigkeit von der jeweiligen Narrationslinie variiert: rechtliche Maßnahmen, die Bereitstellung von Information und Wissen sowie finanzielle Zuwendungen und Transferleistungen (vgl. ebd., S. 162). Aus der diskursiven Inszenierung des vermeintlich katastrophalen Versagens familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ in der Ausgangsnarration ergeben sich vor allem sozialpolitische Lösungsvorschläge und Bewältigungsstrategien, die auf das generierte Misstrauen gegenüber Familien und die Einführung entsprechender Kontrollmechanismen abzielen. Mittels einer Aktivierung der Öffentlichkeit werden Verantwortungszuschreibungen und Schuldzuweisungen in Fällen wie ›Kevin‹ auf die gesamte Gesellschaft übertragen und so auf die Notwendigkeit einer öffentlichen Securization familialer Erziehung hingewiesen. Insbesondere auf die Etablierung eines ›Frühwarnsystems‹ sowie dessen staatliche Subventionierung und juristische Absicherung wird rekurriert. Diese Lösungsstrategie ermöglicht die Anknüpfung an anerkannte Bewältigungsformen der staatlichen Wächterfunktion und Strafpraxis, die mit Elementen des Falls ›Kevin‹ in Beziehung gesetzt und schließlich als kollektiv verbreitete Rationalitätsvorstellungen innerhalb eines etablierten Maßnahmenkataloges anschlussfähig verhandelbar gemacht werden können (vgl. Kap. III, 1.4). Die Gegennarration zielt mit ihren Bewältigungsstrategien hingegen vor allem auf die Bekämpfung einer vermeintlichen ›Entmachtung‹ familialer ›Erziehungskompetenzen‹, also auf die Eliminierung des Problems zweiten Grades, das erst aus den bereits eingeleiteten Problembekämpfungsverfahren der Ausgangsnarration resultiert. Maßnahmen wie z.B. die Etablierung eines ›Frühwarnsystems‹ und die gestiegene Zahl vollzogener Inobhutnahmen werden aus Perspektive dieser Narrationslinie scharf kritisiert, da Fälle wie ›Kevin‹ aus dieser Position heraus als ›bedauerliche Einzelfälle‹ keiner

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umfassenden Lösungsmaßnahmen auf familialer Personenebene bedürfen bzw. dort nicht greifen können. Appelliert wird daher auf strukturell-gesellschaftlicher Ebene an die gesellschaftliche Moral, die Einhaltung bestehender juristischer Normen und die Bereitstellung finanzieller Transferleistungen, um familiale Schutzräume zu bewahren, zugleich aber die angeblich vereinzelten Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung dennoch eindämmen zu können (vgl. Kap. III, 2.3). In der Ausgangs- und der Gegennarration wird somit ein gewisser Behandlungsbzw. Kulturpessimismus deutlich, der sich vor allem in einer narrativ inszenierten fortschreitenden Erosion der Familie sowie deren eingeschränkter Agency durch veranlagte Wesensarten bzw. in einem gewissen ›schicksalhaften Determinismus‹ zeigt. Diese Tendenzen scheinen im Diskursverlauf immer wieder zu Zweifeln am Erfolg der gewählten Maßnahmen zu führen, wodurch sie nicht nur bei der erfolgreichen dauerhaften Etablierung der beiden Narrationslinien immer wieder an Grenzen stoßen, sondern dies auch zu Brüchen in der Diskurskarriere führt (vgl. Kap. III, 4.1). Hier kann die Alternativnarration mit ihrer ›kultur- und behandlungsoptimistischen‹ Transformation und Transkription der Deutungsinhalte anknüpfen. Sie greift aus einem ›reflexiven Pluralismus‹ die Instabilität und den Wandel gesellschaftlicher Ordnungen auf und passt die aufgeführten Modellpraktiken familialer Erziehung daran an. Betont werden insbesondere die Handlungs- und Lernfähigkeiten der Familien, die einen frühzeitigen Kompetenzaufbau ermöglichen. Neben ermöglichenden finanziellen und juristischen Rahmenbedingungen zielt die Alternativnarration somit vor allem auf die öffentliche Bereitstellung von Informationen zum Kompetenzerwerb (vgl. Kap. III, 3.4 & 4.2). Obwohl sich die Alternativnarration mit ihren innovativen Wissensbeständen insbesondere nach den ersten Berichterstattungen und Verhandlungen zum Fall ›Kevin‹ als dominant erweist, verläuft die Diskurskarriere in der diachronen Betrachtung des Falls keineswegs linear. Tradierte Ordnungen und Pfadabhängigkeiten der Ausgangsund Gegennarrationen werden nicht vollständig verworfen, sondern treten in der massenmedialen Debatte immer wieder wellenartig in Erscheinung. So bleiben die konstituierten Spannungen zwischen Tradition und Innovation durchgängig erhalten und aktualisieren und stabilisieren die Problemwahrnehmungen und Bekämpfungsmaßnahmen in Fällen wie ›Kevin‹ zirkulär. »Je größer das Ungleichgewicht, desto größer ist die zum Ausgleich drängende Spannung, deren Kraft die Sozialinnovationen bewirkt‹« (Mensch & Schroeder-Hohenwarth 1977, S. 132). Entsprechend werden familiale Erziehung und deren Inhalte permanent erneuert und dadurch dauerhaft unter Kontingenzvorbehalt gestellt (vgl. Kap. III, 4.2). Gleichzeitig bildet sich in der permanenten diskursiven Wiederholung der Ereignisse der Fall ›Kevin‹ als eigenständiges und wirkmächtiges Deutungsmuster familialen und staatlichen Versagens heraus, in dem diese Spannungen kohärent oder zumindest offen gegeneinander verfasst sind. Im Wesentlichen rekurriert der Kompetenzbegriff hier auf unterschiedliche Fähigkeiten zur Bewältigung von Erziehungsaufgaben sowie auf Befugnisse oder Zuständigkeiten legitimen Erziehungshandelns. Die konkreten Inhalte und Anforderungen reichen dabei von basalen natürlich-intuitiven Anlagen, die sich nur bedingt beeinflussen lassen, bis hin zum Erwerb komplexer bereichsspezifischer kognitiver Verfügungen, die von Eltern mitunter auch performativ externalisiert werden müssen. Dies verdeutlicht, dass sich Unterschiede in der Begriffsexplikation familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ nicht nur

V Synthese und Ausblick

mit einer generell mangelhaften terminologischen Fundierung des Kompetenzbegriffes begründen lassen, sondern dass sie das Resultat verschiedener Sinnkonstitutionen im Hinblick auf Ereignisse wie den Fall ›Kevin‹ darstellen, die einer einheitlichen und universellen Deutung des Phänomens entgegenstehen. Wer oder was als ›kompetent‹ bezeichnet werden kann, bleibt daher letztlich deutungsabhängig und wird unter Berücksichtigung und Betonung verschiedenster Aspekte mit unterschiedlichen Inhalten und Ausprägungen verknüpft. Dadurch wird der Kompetenzbegriff ebenso wie die Subjektposition der Eltern und die Institution der Familie nicht allgemeingültig expliziert, sondern zirkulär mit funktionalen Wissensbeständen und widersprüchlichen gesellschaftlichen Anforderungen gefüllt, so dass die Termini letztlich bedeutungsleer bleiben. Gleichzeitig gestattet es der Kompetenzbegriff, Zweifel an den gegenwärtigen familialen Erziehungsleistungen und der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe zum Ausdruck zu bringen. Diese Zweifel werden durch die Darstellung skandalöser Kinderschutzfälle legitimiert und lassen tradierte Handlungsweisen und institutionelle Verfahren fraglich werden (vgl. Kap. III, 4.3). Der diskursive Erfolg des Phänomens ›Erziehungskompetenz‹ scheint demnach gerade in seiner Offenheit begründet. Sie lässt es mit verschiedenen Perspektiven der »kulturell geltenden Wirklichkeitsordnung kompatibel« (Schetsche 2012, S. 7) erscheinen und vermag sowohl im Ursachen- als auch im Bewältigungszusammenhang Lösungsvorschläge bereitzustellen. Dies kann in Form einer Temporalisierung erfolgen, in der negative Prozessverläufe nur dann angenommen werden, wenn die ›natürliche‹ Familie in ihren ›Kompetenzen‹ nicht stärker gesellschaftlich unterstützt und geschützt wird, in Form einer Totalisierung, die mittels Semantiken des Verfalls und der Dämonisierung dringlichen Handlungsbedarf erzeugt, oder aber in Form eines differenzierten Risikomanagements, das die betroffenen Akteure selbst aktiv in die Bewältigung vermeintlicher ›Inkompetenzen‹ einbindet. Die diskursiv konstruierte Wirklichkeit, die sich in diesen Narrationen widerspiegelt, lässt sich somit als etwas beschreiben, das von grundlegenden Verunsicherungen und Infragestellungen etablierter Ordnungsstrukturen geleitet wird. Entsprechend muss sie als Gegenstand der Analyse in weitere Kontexte und gesellschaftliche Entwicklungen eingebettet werden.

1.2.

Genealogische Perspektiven auf die sozialen Akteure und diskursiven Praktiken des (Zu-)Ordnens

Im Zentrum der vorliegenden Arbeit stand neben der Rekonstruktion der (Be-)Deutung familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung vor allem die Frage, inwieweit durch Kompetenzzuschreibungen und (De-)Regulierungen auf die Praxis von Familie, Elternschaft und Erziehung Einfluss genommen wird, indem soziale Ungleichheiten und Exklusionsdynamiken, aber auch Verunsicherung, Druck und Misstrauen produziert, verstärkt und stabilisiert werden. In der Annahme, dass die eruierten Narrationslinien und ihre Dynamiken im Kampf um mobilisierbare Ressourcen in unterschiedlicher Art und unterschiedlichem Umfang Eingang in den Diskurs und die Lebenswelten der beteiligten Akteure finden, wurde der Blick daher in einem weiteren Analyseschritt auf eine genealogisch orientierte Perspektive ausgeweitet und stärker auf die darin enthaltenen narrationsübergreifenden

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Familie unter Verdacht

dispositiven Strukturprinzipien und Kategorisierungsschemata sowie deren potenzielle intendierte und nicht intendierte Wirkweisen bzw. (Neben-)Folgen gerichtet. Gemein ist der Vielzahl der rekonstruierten Deutungen zunächst, dass sie im terminologisch unscharfen Strukturprinzip der ›Erziehungs(in)kompetenz‹ sowie in dem komplexen Deutungsmuster ›Kevin‹ repräsentiert werden. Das lässt den Generalverdacht der Kindeswohlgefährdung immer mitschwingen und verknüpft familiale Erziehung so nicht nur narrationsübergreifend mit verschiedenen Ängsten, sondern schließt sie diskursiv auch in mehr oder minder starker Ausprägung mit Formen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung kurz. Hierbei zeigen sich vor allem das ›Kindeswohl‹ sowie die Familie als Lebensform und -welt als bedeutsame Ordnungspraktiken bzw. »diskursive Operatoren« (Vogelmann 2014), die sinn- und ordnungsbildende Strukturen familialer Erziehung maßgeblich regulieren sowie Familie und Elternschaft – insbesondere Mutterschaft – immer stärker pädagogisieren und funktionalisieren. Der weitgehend unbestimmte Rechtsbegriff des Kindeswohls dient hierbei nicht nur der Legitimierung bestimmter Narrative und Objektivationen im Sinne einer ›kindeswohlorientierten‹ Erziehung und eines ›kindeswohlbegünstigenden‹ familialen Settings, sondern fungiert auch als Maßstab und Differenzierungslinie zwischen ›kompetenter‹ und ›inkompetenter‹ familialer Erziehung und Elternschaft. Dabei werden das ›gefährdete‹, ›sakrale‹ oder ›optimierbare‹ Kind an sich, dessen Körper und die ihm jeweils unterstellten Bedürfnisse zu Projektionsflächen unterschiedlicher Motive und Zielsetzungen der sozialen Akteure, die im unscharfen Terminus ›Kindeswohl‹ gebündelt werden. Die verhandelbaren Inhalte des ›Kindeswohls‹ verlaufen nicht nur entlang der Linien einer als ›angemessen‹ oder ›sicher‹ deklarierten Versorgung des Kindes, sondern kulminieren im ›optimierten‹ Kind, das zum angestrebten Resultat familialer ›Erziehungskompetenz‹ objektiviert wird. Die tatsächlichen Bedürfnisse und Interessen des Kindes scheinen hierbei zunehmend in den Hintergrund zu geraten; sie werden nahezu unsichtbar, während das unterstellte ›Kindeswohl‹ hingegen allgegenwärtig wird (vgl. Kap. IV, 1). Als Indikator einer ›kompetenten‹ Erziehung ist das ›Kindeswohl‹ stark an kulturelle Normenkomplexe gebunden. Es wird diskursiv von verschiedenen Imperativen begleitet, die vor allem Normalitätsvorstellungen des familialen Settings und elterlicher Eigenschaften transportieren. Nicht nur werden Differenzierungen zwischen Familien vorgenommen, sondern diese werden darüber hinaus anhand bestimmter Faktoren wertend klassifiziert, was bedeutet, dass bestimmten Familien höhere ›Erziehungskompetenzen‹ zugesprochen werden als anderen. Solche narrativen Akte des Ordnens reichen von einem pauschalisierenden Generalverdacht gegenüber der Familie im Allgemeinen (z.B. der ›monströsen‹ Familie) über hierarchische Ordnungen im Hinblick auf die biologische Abstammung (z.B. die Abwertung von ›Stiefvätern‹ gegenüber biologischen Vätern), das Geschlecht (z.B. Stigmatisierungen des weiblichen ›Mängelwesens‹) oder die jeweiligen familialen Lebensformen (z.B. Diffamierung von Alleinerziehenden) bis hin zu differenzierten Klassifizierungen bestimmter Personenmerkmale und Lebenslagen, die als Risikoindikatoren vermeintlich mangelnder ›Erziehungskompetenzen‹ Eingang in den Diskurs erhalten (z.B. finanzielle Armut und Bildungsarmut oder ungünstige gesundheitliche Konstitutionen und soziale Prägungen von Eltern). Anhand dieser Praktiken des (Zu-)Ordnens erhalten bestimmte Familien(mitglieder) den Status

V Synthese und Ausblick

des ›Mängelwesens‹, der ›Problem- bzw. Risikofamilie‹ oder mitunter auch der ›Multiproblemfamilie‹. Die zugrunde gelegten Kategorien und Differenzierungslinien werden zumeist biologisch oder strukturell legitimiert. Dass diese Ordnungen jedoch immer auch kulturell überformt sind und so aus bloßen Unterschieden erst hierarchische Ordnungen und Defizitperspektiven entstehen lassen, wird nicht thematisiert. Stattdessen werden die Kategorien und Zuschreibungen durch diskursive Verschränkungen mit anderen Problem- und Diskriminierungsdiskursen, wie z.B. der Unterschichtdebatte, zusätzlich gefestigt. Das zeigt sich in ähnlicher Form auch in zahlreichen anderen Diskursfeldern, so z.B. in familien- und bildungspolitischen Auseinandersetzungen über das Betreuungsgeld (Ifland 2017), die Ganztagsschule (Kutscher& Richter 2011; Moll et al. 2014) oder die Familie als Bildungswelt im Zuge von Pisa (Faller 2019) (vgl. Kap. IV, 2). Um solchen Diskreditierungen zu entgehen und nicht als ›erziehungsinkompetent‹ bzw. ›kindeswohlgefährdend‹ ausgewiesen zu werden, müssen Familien sich innerhalb handlungsleitender Normalitätsschemata bewegen. Diese Schemata werden durch verschiedene kulturelle Zuschreibungen, Klassifikationssysteme und Kontrollregime abgestützt und legitimieren nicht nur eine gewisse (Re-)Moralisierung sozialer Ungleichheit, sondern rechtfertigen auch eine selektive Anwendung von Maßnahmen des Kinderschutzes bzw. entsprechende Eingriffe. Hierzu zählen z.B. Hausbesuche in als defizitär ausgewiesenen Familien oder zielgruppenspezifische Beratungsangebote, die als Objektivationen und institutionalisierte Praktiken auf die Normalisierung und Disziplinierung von Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ zielen und somit über den massenmedialen Diskurs hinaus als institutionalisierte Ungleichheiten unmittelbar und aktiv in den Alltag der Familien eingreifen und dort ausgrenzend und benachteiligend wirken können (vgl. Kap. IV, 4.1). Obwohl die Betonung bestimmter Eigenschaften und Lebenslagen im Legitimierungszusammenhang von Unterstützungs- und Förderungsformen familialer ›Erziehungskompetenzen‹ im vorliegenden Diskursfeld somit eine wesentliche Rolle spielt, scheinen sowohl die tatsächlich vorliegenden Lebensrealitäten der Familien als auch deren subjektives Empfinden und Erleben sowie der selbst wahrgenommene Unterstützungsbedarf weitgehend ausgeblendet zu werden. Individuelle Bedürfnisse und Erfahrungen der Betroffenen werden bei der Initiierung von ›Hilfen‹ kaum als Anknüpfungs- und Bearbeitungspunkte problematisiert, sondern in der Regel bestenfalls als hinderliche oder erschwerende Bedingungen der eigenen Lebensführungsschuld der Familien zugeschrieben. Hieraus ergibt sich ein Paradoxon aus einer verstärkten öffentlichen Sichtbarmachung und Funktionalisierung von Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹, die mit einer zunehmenden Kindzentrierung einhergehen, einerseits und weitgehender Ausblendung ihrer Problemlagen, Interessen und oftmals auch strukturellen Grenzen andererseits (vgl. Treptow 2014). Das daraus resultierende Dilemma zwischen einer Delegitimation der Eltern und einem Legitimationszwang seitens der Eltern versetzt die Erziehungsberechtigten letztlich in eine Position der Rechtfertigung und Selbstdarstellung. In der Folge steigen nicht nur die Pflichten und normativen Erwartungen, die mit dem Kompetenzbegriff und den darin enthaltenen Androhungen des ›Scheiterns‹ an Familien herangetragen werden, sondern die Familien machen sich diese auch verstärkt zu eigen. Damit verbreiten sich

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Gefühle der Verunsicherung und Überforderung. Sorge und Zwang werden nicht nur untrennbar zu Steuerungsmechanismen verknüpft, sondern Zuschreibungsprozesse der ›Inkompetenz‹ können bei gleichzeitiger Nichtberücksichtigung blockierender Faktoren auch erst zu familialem ›Versagen‹ führen und in einer Endlosspirale des Scheiterns und der Resignation münden. Die Spannungen zwischen Tradition und Innovation werden somit vor allem durch Wissensbestände der Alternativnarration, mitunter aber auch der Gegennarration, erweitert und zu neuen Spannungen zwischen Selbst- und Fremdzwang bzw. einem Zwang zur Autonomie oder Autonomie als Zwang geformt. Dadurch aber können die enthaltenen Freiheitsversprechen das Gegenteil von dem erzielen, was sie beteuern: Sie produzieren Zwang, wo sie Autonomie suggerieren. Denn »es liegt in der Ironie des Dispositivs, dass es […] uns glauben [macht], dass es darin um unsere ›Befreiung‹ geht« (Foucault 1983 [1976], S. 190). Die öffentlichen Verhandlungen implementieren somit insgesamt einen starken Perfektionsdruck bzw. -zwang im Hinblick auf das ›sakrale‹ und ›optimale‹ Kind sowie die ›optimale‹ und ›glückliche‹ familiale Erziehung, die zunehmend als diskursive Bezugspunkte und Orientierungswerte fungieren. In der ambivalenten und unbeständigen Ordnung der Strukturelemente werden Omnipotenzphantasmen produziert, die selbst bei der ›Normalfamilie‹ Denormalisierungsängste und Druck erzeugen können und insbesondere auf Frauen lasten. In Narrationen der ›aufopferungsvollen Mutter‹ als Modellpraxis familialer Erziehung bleiben naturalistische Vorstellungen des 18. Jahrhunderts erhalten. Tradierte Annahmen einer Natürlichkeit von Erziehungsprozessen werden so nicht aufgelöst, sondern in Dualismen von Tradition und Innovation sowie Selbst- und Fremdzwang vielmehr durch Vorstellungen ergänzt, dass ›natürliche‹ Vorgänge beherrsch- und steuerbar seien. Dies erzeugt vor allem Spannungen und Widersprüche zwischen dem Ideal der gebildeten, erwerbstätigen Frau, die ökonomisch für das Kind sorgen und dessen Entwicklung selbstwirksam fördern soll, und der gleichzeitig permanenten Verfügbarkeit der Mutter für das Kind, die jedoch nicht in einer ›Überbehütung‹ münden soll, damit das Kind, ebenso wie das Private, öffentlich zugänglich und verhandelbar bleibt. Die vorrangige Adressierung von Müttern in einem Spannungsfeld zwischen Glücksversprechen und kultureller Überlastung kann daher auch als Form der Disziplinar- und Biomacht aufgefasst werden, die als (Selbst-)Zwang und Prozess der (Selbst-)Optimierung regulierend auf sie einwirkt. Auf die Widersprüche zwischen Freiheit und Zwang, Kreativität und Regeln, Konkurrenz und Kooperation sowie deren performative Inszenierungsleistungen verweist auch die narrationsübergreifende Zentralmetapher von Erziehung als ›Spiel‹. In Sprachbildern aus den Bereichen Schauspiel, Glücksspiel und Wettkampf werden die Anforderungen an familiale ›Erziehungskompetenzen‹ eng mit den Androhungen eines ›Verlierens‹ oder ›Scheiterns‹ verbunden und erhalten zudem eine deutliche Ausrichtung auf den Output, d.h. die Sichtbarkeit vermeintlicher (Un-)Fähigkeiten. Dabei verfügen jedoch nicht alle Familien über die notwendigen Ressourcen, Regelwerke sowie Darstellungs- und Copingstrategien, um die Anforderungen zu erfüllen und als ›Gewinner‹ hervorzugehen (vgl. Kap. IV, 4.2). Dies vermag zusätzlich den Druck auf die Subjekte zu erhöhen, öffentliches Vertrauen in ihre ›Erziehungskompetenzen‹ zumindest als Vorleistung zu erhalten bzw. wiederzugewinnen. Gleichzeitig sorgt es für zahlreiche Konflikte in der Praxis der so-

V Synthese und Ausblick

zialen Arbeit, etwa bei der Positionierung zwischen der Verteidigung der eigenen Profession auf der Basis einer kritisch-sozialwissenschaftlichen Arbeit und einer pragmatisch-effizienten Fachkompetenz bzw. Performanz. Das erhöht den Druck auf die Fachkräfte enorm und kann fehlerhafte Entscheidungen begünstigen. Problematisch erscheint dieses Dilemma darüber hinaus beim Aufbau eines solidarischen, empathischen Vertrauensverhältnisses als notwendiger Basis der Zusammenarbeit mit Familien als Klientel der sozialen Arbeit. Durch das diskursiv aufgebaute Misstrauen könnte jede Form von Unterstützung als Bevormundung, Strafe oder Gefahr empfunden werden, insbesondere dann, wenn kein Mandat seitens der Familien vorliegt (vgl. Kap. IV, 4.3). Die Dispositive ›Erziehungs(in)kompetenz‹ und ›Kindeswohlsicherung‹ können somit durch die darin transportierten Differenzierungslinien, Ängste, (Selbst-)Zwänge und Omnipotenzversprechen – vor allem vor dem Hintergrund von Stigmatisierungen, Benachteiligungen, normativer Ratlosigkeit und Überlastung – das begünstigen, was sie zu verhindern vorgeben, nämlich Fälle von Kindeswohlgefährdung, -misshandlung und -vernachlässigung. Foucault (1993a [1975f]) vertrat die Auffassung, dass sich das Gefängnis nur deshalb als neue Strafinstitution etablieren konnte, weil es in seinem Grundmechanismus den Wissensbeständen und Ordnungsstrukturen gleicht, die typischerweise auch in anderen gesellschaftlichen Feldern und Zusammenhängen praktiziert werden (vgl. S. 291). Dementsprechend lassen sich die rekonstruierten Ordnungspraktiken und Subjektivierungsformen insgesamt in die gesamtgesellschaftliche Entwicklung zu einer »granularen Gesellschaft« (Kucklick 2014) einordnen, die sich, so Kucklick, im Wesentlichen durch drei Revolutionen beschreiben lässt: eine Differenz-Revolution, in der Familien nach Risiken klassifiziert werden, eine Intelligenz-Revolution, in der jene, die sich neues Wissen und neue Fähigkeiten aneignen und diese auch darstellen und verwerten können, gegenüber anderen deutlich profitieren, sowie eine Kontroll-Revolution, in der sich Familien in ihren ›Erziehungskompetenzen‹ vergleichen und bewerten, wobei das Kind(eswohl) bzw. die ›Sorge‹ um das Kind den wesentlichen Maßstab darstellt. Bühler-Niederberger (2010) sieht vor allem in dieser »organisierten Besorgnis« ein wesentliches Merkmal der Gegenwartsgesellschaft, das durch folgende Charakteristika gekennzeichnet sei, die in den Verhandlungen um Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ deutlich sichtbar werden: a) Die etablierte, noch latent vorhandene Annahme einer ›kriminellen Karriere‹, die beinhaltet, dass kleine Auffälligkeiten wie z.B. Substanzabhängigkeiten, Diebstahl oder leichte Körperverletzungen zu schweren Verbrechen führen, wenn nicht unmittelbar interveniert oder besser präventiv gehandelt werde. In vielen der aufgeführten Fälle veranschaulichen die Eltern der misshandelten Kinder diese These, insofern ihre ›Karrieren‹ schließlich in Formen der Kindesmisshandlung, -vernachlässigung oder -tötung münden. b) Die zunehmende Thematisierung der Annahme einer ›makellosen Kindheit‹, die impliziert, dass jegliche Abweichungen davon negative Konsequenzen haben, einhergehend mit einer gewissen ›Vernützlichung‹ von Kindern und Eltern als »Königsweg zu einer ordentlichen Gesellschaft« (S. 25), die vor allem das ›optimierte‹ Subjekt, das ›Risiko Kind‹ und das ›Risiko Familie‹ vereinen. So entspricht z.B. Kevins Ent-

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wicklung in einer ›gefährlichen Familie‹ bzw. ›Risikofamilie‹ nicht der Norm einer ›optimalen‹ oder ›makellosen‹ Kindheit. c) Die ebenfalls historisch relativ neue Konstitution der »Ablehnung des Lebensmusters kleiner Leute« (ebd., S. 25), bei der sich Interventionen vor allem an ›Risikofamilien‹ richten, um ›Risikokinder‹ zu schützen. Dies zeigt sich z.B. in Kevins familialem Setting, das geprägt war von Armut, geringer Bildung und einer schlechten Wohnsituation und somit den gängigen Kriterien der ›Risikofamilie‹ entspricht. Im Sinne einer ›kriminellen Karriere‹ hätte Kevin so auch als ›gefährdetes Kind‹ bzw. ›Risikokind‹ letztlich zum ›Risiko Kind‹ bzw. ›gefährlichen Kind‹ werden können. Abbildung 6 gibt einen zusammenfassenden Überblick über die zentralen rekonstruierten Differenzierungslinien und Ordnungspraktiken von Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ sowie deren Begründungszusammenhänge und Normalisierungshilfen.

Abbildung 6: Ordnungspraktiken ›erziehungs(in)kompetenter‹ Familien und ihre Begründungszusammenhänge

Quelle: eigene Darstellung

Weite Teile der aufgeführten Entwicklungslinien entsprechen auch der vor allem in England populären Gesellschaftsdiagnose der »Securization« (Bogner 2012, S. 94). Diese zeichne sich insbesondere durch einen allgemeinen »fundamentalen Wandel zur sozialen Kontrolle« (ebd., S. 95) sowie durch die »anlassungsspezifische, kontinuierliche Kontrolle der Bürgeraktivitäten« und eine Etablierung technischer Innovationen zur Aktivitätskontrolle (ebd., S. 96ff.) aus. Sie kann als Folge der »Risikogesellschaft« (Beck 1986) interpretiert werden. Viele der zentralen diskursiven Bewältigungsvorschläge, wie z.B. ein ›Frühwarnsystem‹ aus verschiedensten Kontrollorganen und Überwachungsformen (z.B. Früherkennungsuntersuchungen, Hausbesuche in ›Problem- und Risikofamilien‹, Eruierung von riskanten Indikatoren), lassen sich hierunter fassen. Sie können als Versuch einer Technisierung und eines kalkulierten Umgangs mit dem ›Risiko Mensch‹ verstanden werden, der in einem wachsenden Ausmaß nun auch zentrale

V Synthese und Ausblick

Bereiche der Familie und der sozialen Arbeit zu ergreifen scheint. Dies betrifft nicht nur deutlich intervenierende Unterstützungsmaßnahmen, sondern auch subtile Formen der Sicherstellung von ›Hilfen zur Selbsthilfe‹, die sich im Spannungsverhältnis von Autonomie und (Selbst-)Zwang bewegen. Aber auch die Wissensordnungen der Gegennarration können in ihrer Zielsetzung der Bewahrung des familialen ›Schutz- und Schonraumes‹ als Securization-Maßnahme verstanden werden, die jedoch weniger in technisch-innovative als in naturalistisch-fundamentale Begründungszusammenhänge eingebettet ist. Praktiken des Ordnens sind somit nicht nur an Wissens- und Infrastrukturen gebunden, sondern immer auch an die jeweiligen Zielsetzungen, Interessenlagen, Motive, Praktiken und (Macht-)Beziehungen der handelnden Akteure. Die aufgeführten Ordnungsstrukturen können daher von den Diskurssprechern bisweilen auch gezielt als ›Disziplinartechniken‹ eingesetzt werden, mittels derer Familien und ihre ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ entsprechend den jeweils vorherrschenden Normalitätsfolien und Modellpraktiken »gehorsam und nützlich gemacht« (Foucault 1993a [1975], S. 177) werden sollen. Das Sprecherensemble der medienöffentlichen Verhandlungen von Fällen wie ›Kevin‹ besteht dabei im Wesentlichen aus Vertretern der Bereiche Journalismus und Politik sowie ausgewiesenen ›Experten‹ des Kinderschutzes. Diese Medientriade bildet aus unterschiedlichen Motiven heraus immer wieder temporäre Koalitionen aus ›kooperierenden Akteuren‹, die gemeinsam wie eine einzige Person handeln und hierdurch ihre Machtpotenziale und die Chance auf Anerkennung erhöhen. Dadurch sind sie in unterschiedlichem Ausmaß an der Durchsetzung von Deutungen und Zuschreibungen familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ beteiligt. Gleichzeitig werden im diskursiven Sprecherfeld aber auch disziplinäre Hierarchien sowie verschiedene Abhängigkeiten und Instrumentalisierungen deutlich. Die Medien selektieren, inszenieren und vermitteln in erster Linie Sprecherpositionen und Wissensstrukturen. Damit sind sie wesentlich an der Geltendmachung und Verfestigung legitimer Deutungen beteiligt. Umgekehrt können sie aber auch gezielt von anderen ›kooperierenden Akteuren‹ gesteuert und eingesetzt werden. Die Debatten um familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung eignen sich für Medienvertreter somit hervorragend um Aufmerksamkeit und Neuigkeitswerte zu generieren (vgl. Kap. IV, 3.1). Es ist anzunehmen, dass Fälle wie ›Kevin‹ aber auch für politische Vertreter eine »nützliche Gesetzwidrigkeit« (Foucault 1993a [1975], S. 357) darstellen, mittels derer sie Handlungsmacht gegenüber anderen demonstrieren, die eigene Position immunisieren bzw. stärken, Systemkritik üben oder andere Akteursgruppen mobilisieren können. Als Adressaten der meisten angeführten Bewältigungsstrategien haben sie zudem die Möglichkeit, die vorgeschlagenen Maßnahmen öffentlich zu reformulieren, falls sie selbst nicht über geeignete bzw. ausreichende Ressourcen (z.B. finanzielle Mittel) für die eingeforderten Strategien verfügen oder diese den Interessen der Akteure bzw. der ihnen zugehörigen Institutionen widersprechen (vgl. Schetsche 2014, S. 164). Gleichzeitig werden im politischen Sprecherfeld aber auch zahlreiche inner- und interparteipolitische Spannungen sowie gewisse Abhängigkeiten von der medialen Inszenierung und dem Zusammenspiel mit den Expertenkulturen des Kinderschutzes deutlich, die politische Positionen absichern und verstärken können. Wenngleich sich in den Aus-

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sagen gewisse Tendenzen der politischen Parteien zu den jeweiligen Narrationslinien bzw. entsprechenden Lösungsvorschlägen zeigen, lässt sich im vorliegenden Material jedoch keine eindeutige parteipolitische Zuordnung der Narrationslinien vornehmen (vgl. Kap. IV, 3.2). Bei den Expertenkulturen des Sprecherensembles handelt es sich in erster Linie um Vertreter aus den Bereichen Sozialwissenschaften, Gesundheitswesen, Psychologie und Recht. Nicht nur die wissenschaftliche Reputation scheint für den Erhalt diskursiver Sprecherpositionen ausschlaggebend zu sein, sondern auch Charisma und Medienaffinität. Zudem scheinen vor allem populärwissenschaftliche ›Experten‹ ikonisiert zu werden, deren Wissensbestände und alltägliche Argumentationen eine größere Nähe zwischen Sprecher und Adressat herzustellen vermögen. Für die Expertenkulturen stellen familiale ›Erziehungsinkompetenzen‹ und ›Kindeswohlgefährdungen‹ sowie die darauf bezogenen Interventionsfelder ein Kerngeschäft dar, an dem sie als ›Problemnutzer‹, ›Sicherheitsakteure‹, ›Diagnoselieferanten‹ oder ›Alarmmelder‹ partizipieren, indem sie disziplinäre Wissensbestände in den öffentlichen Diskurs einspeisen und so ihre Reputation verbessern und stärken können. Umgekehrt lassen sich aber auch deutliche Instrumentalisierungen der Expertenkultur seitens der Medien und der Politik erkennen, die disziplinäres Wissen oftmals fragmentarisch, vereinfacht und selektiv zur Durchsetzung der eigenen Interessen nutzen. Während juristische und medizinisch-naturwissenschaftliche Disziplinen im Diskursverlauf zunehmend an Redeanteilen und Deutungsmacht gewinnen, werden die der Sozialpädagogik und der sozialen Arbeit deutlich geringer. Als Ursache für diese Entwicklung kann vor allem das vergleichsweise hohe gesellschaftliche Ansehen medizinischer und rechtlicher Wissensbestände erachtet werden, von dem auch die anderen Felder der Medientriade profitieren können, wenn sie diese nutzen und auf die entsprechenden ›Experten‹ verweisen. Darüber hinaus könnte es aber auch eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, dass vor allem rechtliche Maßnahmen in der Regel vergleichsweise kostengünstig und ressourcensparend umgesetzt werden können und daher durch die Einspeisung von Wissensbeständen juristischer Akteure legitimiert werden sollen. Die zunehmende Fokussierung auf den kindlichen Körper bei gleichzeitig weitgehender Ausblendung kindlicher Befindlichkeiten und Interessen im Begriff des ›Kindeswohls‹ kann als ein weiteres Erklärungsmuster für die steigende Bedeutung medizinischer Professionen im Diskursverlauf dienen. Unabhängig von den Motiven wird hierbei die Reproduktion der Statushierarchien unterstützt. So laufen insbesondere pädagogische Professionen durch diese Entwicklung zeitgleich Gefahr, auch langfristig und diskursübergreifend in nicht unerheblichem Maß an Definitionsmacht zu verlieren (vgl. Münch 2009, S. 185f.; vgl. Kap. IV, 3.3). Familien und die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe besetzen hingegen kaum Sprecherpositionen. Erfahrungen und Einschätzungen aus dem Kreis der unmittelbar betroffenen Akteure scheinen die diskursive Steuerungsebene insofern nur marginal zu beeinflussen und ein Status als ›Experten‹ wird ihnen abgesprochen. Dies birgt nicht nur die Gefahr, dass die Interessen journalistischer, politischer und wissenschaftlicher Sprecher unterschiedlicher Disziplinen einen weitaus größeren Raum bei der Konstruktion familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext von Fällen wie ›Kevin‹ erhalten als die der Betroffenen. Darüber hinaus können die weitestgehend unbesetzten

V Synthese und Ausblick

Sprecheranteile von Familien sowie der Rückzug der Sprecherpositionen aus Bereichen der sozialen Arbeit die Passivität ihrer Positionen stabilisieren, Vertrauensbrüche verstärken und zur Festigung diskursiver Feindbilder und Sündenböcke beitragen. Ferner erhalten auch kirchliche bzw. konfessionelle Vertreter nur punktuell Sprecheranteile, und zwar augenscheinlich insbesondere dann, wenn die »moralische Korrektheit des Deutungsmusters« (Höffling et al. 2002) legitimiert werden soll. Ihr diskursiver Einfluss auf familiale Erziehungsleistungen scheint analog zu den Entwicklungen in anderen Diskursfeldern insgesamt zunehmend zu erodieren (vgl. Kap. IV, 3.4). In der Annahme, dass das Sprechen über sich selbst ein wesentliches Element von Autonomie darstellt, kann die selektive Ordnung und Verknappung der Sprecher als weitere diskursive Klassifizierungsform und Form des Ausschlusses erachtet werden. Denn »Inklusion bezieht sich auf die Art und Weise, in der Menschen im Kommunikationszusammenhang als relevant erachtet und damit als Personen behandelt werden. Exklusion liegt umgekehrt vor, wenn die Chance zur Kommunikation verweigert, die betreffende Person nicht als mitwirkungsrelevant anerkannt wird« (Luhmann 1975a, S. 239). Tabelle 6 stellt die institutionellen Diskurssprecher und deren rekonstruierte zentrale Motive und Interessen, die in mehr oder minder großem Ausmaß Eingang in die massenmediale Verhandlung von Fällen wie ›Kevin‹ finden, noch einmal im Überblick dar. Tabelle 6: Problemnutzende Akteure und ihre zentralen kollektiven Strategien und Interessen Medien

Agenda-Setting und Nachrichtenwert

Politik

Absicherung der eigenen (Macht-)Position mittels Feindbildetablierung; Immunisierung der eigenen Verantwortung über moralische Systemkritik; Unterschlagung der eigenen Rolle unter Rückführung politischer Verantwortung auf die Ebene persönlicher Verantwortung der betroffenen Subjekte

Interdisziplinäre ›Expertenkulturen‹

Etablierung als Experten des Kinderschutzes; Sicherung der eigenen Position; Ausbau der Definitionsmacht

Kirche bzw. konfessionelle Vertreter

Legitimierung der eigenen (institutionellen) Position; Bewahren tradierter christlicher Werteordnungen

Familien

Darstellung und Rechtfertigung der eigenen Situation; Immunisierung des eigenen familialen Settings (z.B. bürgerliche Familie, Oberschicht)

Quelle: eigene Darstellung

Die aus den unterschiedlichen diskursiven Wissens- und Infrastrukturen rekonstruierten Narrationslinien bilden zusammen mit den zentralen Dispositiven aus übergeordneten Operatoren, Disziplinartechniken, Figurationen und Sprecherpositionen die Phänomenstruktur familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹, die »eine Antwort auf die in Entscheidungssituationen implizit gestellte Frage [gibt], worum es sich bei einem

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Phänomen handelt« (Schünemann 2013, S. 74). In der Phänomenstruktur familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ um Fälle wie ›Kevin‹ werden somit spezifische Sichtweisen und Ordnungsmodelle in familiale Erziehungskontexte transportiert, die in diesem Zusammenhang zu besonderer Prominenz gelangen und sich in verschiedenen Artefakten wie z.B. dem Begriff des ›Kindeswohls‹ oder unterschiedlichen Maßnahmen und Angeboten der Familienpolitik und des Kinderschutzes materialisieren (vgl. Abb. 7). Insgesamt deutet sich in den sie konstituierenden Dynamiken zumindest partiell an, dass es bei der Darstellung von Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ im Kontext der Verhandlung medienöffentlicher Fälle innerfamilialer Kindesmisshandlung und -vernachlässigung weniger um eine reine Verlustvermeidung bzw. Gewinnerwartung oder die Verwirklichung und Orientierung einzelner atomisierter sozialer Akteure in erodierenden Strukturen zu gehen scheint, wie sie Beck (1991) in seiner Individualisierungstheorie angelegt hat, sondern vielmehr um Selbstverwirklichung und Gewinnmaximierung als »Makroprojekt von Vergesellschaftung« (Ahrens 2018, S. 58). Hierbei wird nicht die Orientierungslosigkeit einer Gesellschaft mit vielfältigen Deutungsangeboten und prekären sozialen Strukturen an sich zum Problem, sondern die Nichtverwirklichung des Eltern-Selbst. Die diskursspezifische Handlungslogik einer Vermeidung innerfamilialer Kindesmisshandlung und -vernachlässigung scheint demgegenüber in den Hintergrund zu treten: »Auf dieser letzten Stufe beherrschen die an sich systemfremden ökonomischen Faktoren die ursprünglichen Handlungslogiken des jeweiligen Lebensbereichs in einem solchen Maß, dass dessen spezifischer Charakter und damit auch dessen Eigenwert immer stärker an Bedeutung verlieren« (Schumann 2012, S. 445).  

V Synthese und Ausblick

Abbildung 7: Vereinfachte schematische Darstellung der Phänomenstruktur familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ in den massenmedialen Verhandlungen um Fälle wie ›Kevin‹

Quelle: eigene Darstellung

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Die Rekonstruktion der Phänomenstruktur kann somit auch das häufig konstatierte »Erklärungsmonopol der Individualisierungstheorie« (Burkart 1997, S. 261)1 aufheben. Allerdings würde es zu kurz greifen und die heterogenen Wissensordnungen unterminieren, wenn alle Entwicklungen unter einer zunehmenden Ökonomisierung und neoliberalen Umgestaltung von Familie und Erziehung subsummiert würden. Schließlich gehen Wissensstrukturen immer aus Brüchen und Aushandlungen verschiedener Deutungen unterschiedlicher Akteure hervor und stellen keine bloßen, von außen herangetragenen Sachzwänge einzelner Subjekte oder diskursiver Felder dar. Daher sollten im Reden über sich ausweitende Ökonomisierungsprozesse auch alternative Wissensstrukturen und Subjektivierungsweisen nicht aus dem Blick geraten, die Familie und ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ in nicht unerheblichem Ausmaß mitgestalten. Denn wenngleich sich ökonomische und neoliberale Ordnungsstrukturen im vorliegenden Material gehäuft zeigen, so sind es doch nur einzelne Dispositive, die sie tragen und die immer wieder zu anderen bewährten Ordnungen in Konkurrenz treten. Zu nennen wäre hier z.B. die Macht tradierter kultureller Pfadabhängigkeiten, wie sie sich insbesondere im Deutungsmuster der ›natürlichen Mutterliebe‹ zeigen, aber auch die narrationsübergreifende Illusion des ›Glücks‹, die zwar ebenfalls Tendenzen der Machbarkeit und Selbstoptimierung befördert, diese jedoch nicht zwingend ökonomisch einrahmt. Sowohl Familie als auch Formen sozialer Hilfe organisieren sich nicht wie Wirtschafts-, Staats- oder Rechtssysteme in erster Linie über geordnete und kalkulierbare Strukturen, sondern vor allem über Intimität, intrinsische Motive und kommunikativen Austausch. Dies spricht den Familien auch einen größeren Eigensinn zu, so dass sich Steuerungsversuche, die dies nicht berücksichtigen, nur schwerlich in Subjektivierungsweisen etablieren können. Der rationale ökonomische und politische Charakter von Regierungspraktiken, wie ihn die Governmentality Studies nahelegen, greift somit an dieser Stelle ebenfalls zu kurz und würde eine Übergeneralisierung der verstrickten Spannungsverhältnisse darstellen. Auch wenn diese Ansätze einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ zu leisten vermögen, bleiben mit ihnen doch wichtige relativierende Elemente unbeleuchtet.

2.

Mögliche Handlungsimplikationen für die Stakeholder des Diskurses

Das Ziel der vorliegenden Arbeit bestand insbesondere darin, den Problemcharakter familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ als kulturelles Produkt für eine empirische Analyse fruchtbar zu machen. Wenngleich es somit nicht darum ging, die Effektivität und

1

Burkart (1997) bezeichnete die Dominanz individualisierungstheoretischer Ansätze im Rahmen der Auseinandersetzung mit Mechanismen sozialer Differenzierung und Ausgrenzung bereits in den 1990er Jahren als »Erklärungsmonopol der Individualisierungstheorie« (S. 261) im Bereich des Privaten. Dies wird z.B. von Howaldt et al. (2014) kritisch gesehen, da insbesondere Zeitdiagnosen häufig dazu eingesetzt werden, Hinweise auf grundlegende gesellschaftliche Veränderungen zu geben und eine rasche Orientierung zu bieten. Da hierbei jedoch oftmals eine gesellschaftstheoretische Einbettung ausbleibe und mitunter sogar offenbleibe, welche Veränderungen überhaupt konkret umschrieben werden, fehle es ihnen mitunter an Erklärungskraft (S. 15).

V Synthese und Ausblick

den Umgang mit Familien und deren Erziehungsleistungen zu bewerten oder handlungspraktische Implikationen zu entwerfen, schließt dies nicht aus, daran anknüpfend im Folgenden dennoch einen Ausblick auf mögliche Handlungsbedarfe zu geben sowie auf weiterführende Auseinandersetzungen mit offenen Fragen hinzuweisen, wie sie sich insbesondere in den aufgezeigten möglichen Subjektivierungsformen bereits angedeutet haben (vgl. Kap. IV, 4) und so »eine von der Problematisierung unabhängige sozialethische Beurteilung« (Schetsche 2014, S. 84, Herv. i. O.) vorzunehmen. Die nachstehenden Ausführungen sollen dabei jedoch keinesfalls als strikte und unumstößliche Handlungsanweisungen verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um konklusive Einschätzungen, die sich auf der Basis der eruierten massenmedialen, diskursiven Ordnungen in Relation zu theoretischen und empirischen Implikationen aus den unterschiedlichen Spezialdiskursen ergeben. Die Phänomenstruktur familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ im Rahmen von Fällen wie ›Kevin‹ weist auf verschiedenen Ebenen mannigfaltige Spannungen und konflikthafte Dynamiken auf, die von Akteuren aus Wissenschaft, Politik und sozialer Praxis bearbeitet werden können, um zur Überwindung einiger als problematisch konstatierter Faktoren beizutragen. Zu nennen wären hier zunächst der Umgang mit diskursiven Praktiken des normativen (Zu-)Ordnens von Familien und deren ›Erziehungs(in)kompetenzen‹, die nicht nur von unterschiedlichen Disziplinen konstruiert werden, sondern umgekehrt auch auf professionelle Haltungen, Wissensfacetten, Handlungen und deren Institutionalisierung wirken. Insbesondere in der juristischen Verwendung der Termini ›Erziehungs(in)kompetenz‹ und ›Kindeswohl‹ als unbestimmte Rechtsbegriffe scheint es weniger um die Abbildung und Erfassung von Komplexität als um eine normierende Zuordnung von Elternrechten zu gehen, die kaum auf Prozesse gesellschaftlicher und kultureller Differenzierung und deren Folgen für Familien und soziale Beziehungen reagieren. Dies lässt es zwar zu, im Einzelfall abzuwägen, gibt den Entscheidungen der ›Experten‹ aber auch einen enormen Spielraum für individuelle Deutungen, Klassifikationen und normative Überformungen (z.B. bezüglich der Form der Leistungen oder der Beteiligung von Akteuren an der Hilfeplanung), während vor allem den Familien als Klienten, aber auch den freien Trägern aus dem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe zumindest in Teilen Rechtsverbindlichkeit und Agency entzogen werden (vgl. Vaskovics 2011). Dies kann dazu beitragen, dass sowohl die Bedürfnisse und Teilhabechancen von Eltern und Kindern als auch die Möglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe zugunsten der Interessen rechtsprechender Akteure und Institutionen in den Hintergrund treten und bedarfsangemessene Unterstützungsangebote nicht durchgeführt werden können. In Anbetracht dessen wäre eine Verschärfung der Gesetzeslage, wie sie diskursiv vielfach eingefordert wird, zumindest im Hinblick auf die Bewältigung familialen ›Versagens‹ als wenig zielführend einzustufen. Was die tatsächlichen Zusammenhänge und Ausmaße familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ mit Formen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung sowie die zahlreichen ausgewiesenen Indikatoren hierfür angeht, lassen sich in der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft obendrein noch viele Lehrstellen verzeichnen. So bleibt unklar, ob es sich bei mutmaßlichen Indikatoren tatsächlich um solche handelt oder hierbei nicht Kausalität mit Korrelation verwechselt wird und

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Familie unter Verdacht

Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung andere Mechanismen bzw. soziale Prozesse zugrunde liegen, die unter Umständen nicht einmal in Zusammenhang mit familialen Settings oder Kompetenzen stehen. Denn dann würde es sich bei den ausgewiesenen Merkmalen lediglich um positiv bzw. negativ konnotierte Zuschreibungen und Kurzschlüsse handeln, die einer Konzeptualisierung gezielter familialer Unterstützungsleistungen und Bewältigungsmaßnahmen nicht nur entgegenstehen, sondern darüber hinaus auch die Anwendung eines risikobasierten ›Predictive Policing‹ bzw. ›Profiling‹ – wie es z.B. durch den Einsatz von Sozialarbeitern in sogenannten ›Risiko- oder Problemfamilien‹ mancherorts bereits realisiert wird – in unsachgemäße Ein- und Überbergriffe verwandeln. Vor allem die bislang unzureichende Verknüpfung genuin frühkindlicher Forschungsperspektiven mit familialen Sorge- und Betreuungsleistungen als eher randständiger Aspekt der Familienforschung trägt dazu bei, dass Wissensbestände aus Ergebnissen von Studien mit anderen Akzent- und Schwerpunktsetzungen (z.B. der Bildungs-, Gender- oder Lebensstilforschung) zu Einschätzungen herangezogen werden, ohne deren Übertragbarkeit auf den Bereich der familialen Erziehung zu überprüfen. Generell erscheint die Entwicklung und Ausweitung solcher risiko- und defizitorientierten Maßnahmen nicht nur im Hinblick auf die Evidenz der angewandten Risikomarker problematisch, sondern auch angesichts einer möglichen ethischen Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes (vgl. Kucklick 2014). Fraglich bleibt zudem, ob Ungleichheiten so nicht nur transportiert, sondern besonders gefestigt werden, indem z.B. jene Hilfsbedürftige, die vom Raster eines Risikomanagements nicht erfasst werden, von Hilfen ausgeschlossen werden oder umgekehrt ›Abweichlern‹ von der Norm Unterstützungsbedarf unterstellt wird, der unter Umständen überhaupt nicht vorliegt. Nicht hinlänglich erforscht ist auch, inwieweit die Idee der Sicherstellung und Förderung des ›Kindeswohls‹ die Entwicklung von Kindern beeinflusst und welche Faktoren zur Resilienz beitragen. Stattdessen wird aus den Vorstellungen einer ›gefährdeten‹, ›sakralen‹ oder ›optimierten‹ Kindheit sowie den damit verbundenen Idealen und unterstellten Ansprüchen oftmals die simplifizierte Notwendigkeit eines hohen Maßes an Kontrolle, Sorge und Betreuung abgeleitet. Vor diesem Hintergrund wären somit auch Debatten um die Bedürfnisse und Interessen von Kindern zu intensivieren und zu fragen, wie diese in Familien und externen Betreuungseinrichtungen beeinflusst und sichergestellt werden können sowie wodurch sich die Systeme unterscheiden. Aber auch die oftmals unkritische Übernahme von Klassifizierungen und anderen normativen Ordnungen in die vielfältigen Praxis- und Forschungsfelder der Familienarbeit und des Kinderschutzes erschwert sachliche Auseinandersetzungen und trägt so ebenfalls zur Entstehung von (Vor-)Verurteilungen sowie zur Aufrechterhaltung strukturierter Ungleichheitsverhältnisse bei. Dies betrifft nicht nur die Bereiche familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ und Kinderschutz im Speziellen, wird hier aber durch die Vielzahl unbestimmter Begrifflichkeiten deutlich verstärkt (vgl. Waterstradt 2015, S. 480ff.). Der Deutungspluralismus und die darin immanenten kulturellen Überformungen von Wissens- und Infrastrukturen machen daher regelmäßige Reflexionsleistungen hinsichtlich der eigenen Wissensbestände, Einstellungen und Motive, aber auch in Bezug auf die disziplinären und persönlichen Erwartungen erforderlich, die an bestimmte Personengruppen oder Sachverhalte gebunden werden. Andernfalls verwan-

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deln sich medizinische Maßnahmen, (sozial-)pädagogische Angebote und familienpolitische Reformbemühungen – insbesondere durch die enge diskursive Bindung von Kompetenz und Kindeswohl an das familiale Setting – zunehmend in eine Paradoxie: Zum einen erhalten Familien ein Unterstützungs- und Teilhabeversprechen, das ihnen die Herstellung, den Aufbau und den Erhalt der eigenen ›Erziehungskompetenzen‹ ermöglichen soll, zum anderen bleiben das damit diskursiv verknüpfte ›Kindeswohl‹ und die jeweilige familiale Situation als Instrument der Markierung von ›Erziehungs(in)kompetenz‹ und institutionalisierter Ungleichheit unangetastet. Darüber hinaus kann auch die Ausblendung individueller Bedarfe, Erfahrungen und Biographien zugunsten kultureller, demographischer und struktureller Problemkategorien das Verständnis für bestimmte Herausforderungen, die an Familien und Akteure herangetragen werden, deutlich verringern und dadurch zu verkürzten, undifferenzierten oder gar abwertenden Sicht- und Handlungsweisen beitragen, so dass z.B. Hilfen mitunter ihre ursprünglichen Inhalte nicht mehr realisieren können und nicht mehr fördernd, sondern überfordernd auf die Subjekte wirken. Obgleich die Deutungshoheit neoliberaler Wissensstrukturen in der Inkohärenz der Sinnzusammenhänge und ihrer Ordnungen im vorliegenden Material relativiert werden kann, erscheint es hier im Speziellen nötig, kapitalistisch-ökonomische Maßstäbe und Abläufe auf ihre Besonderheit im Kontext von Familie, Erziehung und sozialer Arbeit zu überprüfen, die eigenen Verstrickungen der Experten aus Forschung und Praxis zu reflektieren und gegebenenfalls eine »partielle Korrektur der Aktivierungslogik« (Hirseland & Lobato 2012, S. 287) vorzunehmen. Zu nennen sind vor diesem Hintergrund beispielsweise die häufig vorgenommene Verbindung des Kompetenzbegriffes mit Humankapitalkonzepten, wie es im öffentlichen Diskurs um Fälle wie ›Kevin‹ vorkommt, wenn z.B. das optimierbare Kind als ›Ware‹ oder die lernfähigen Eltern als ›Laien und Kunden‹ verstanden werden (vgl. Kap. III, 3.2). Möglichkeiten hierzu bieten z.B. kollegiale Zusammenschlüsse und gewerkschaftliche Vertretungen, mit deren Unterstützung berufspolitische Debatten ausgelöst und ethische Standards diskutiert und entwickelt werden können (vgl. Maus 2016). Andernfalls besteht die Gefahr, dass Akteure nicht nach sozialwissenschaftlichen und pädagogischen, sondern nach sozialpolitischen und marktgesellschaftlichen Interessen gesellschafts- und strukturstabilisierend handeln, ohne kritisch-reflexiv Stellung zu beziehen und ihre Entscheidungen auf Familientauglichkeit zu überprüfen. Eine solche vorrangig sozialtechnologische Steuerung kann nicht zuletzt die Menschenwürde untergraben, zumindest die Würde jener, die die jeweils vorherrschenden funktionalen Kompetenzkriterien nicht erfüllen (vgl. Treptow 2014). Progressive Ansätze könnten daher darauf zielen, Familien abseits fixierter Kategorien eine adäquate Unterstützung anzubieten und entsprechende Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Denn auch wenn gewisse Ordnungen für die Auseinandersetzung mit Differenzierungen familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ unabdingbar zu sein scheinen, können sie nicht den Anspruch einlösen, Familien in ihren unterschiedlichen Lebenswelten und Teilidentitäten zu erfassen. Insbesondere um Zugänge zu Familien mit potenziellem Unterstützungsbedarf zu erleichtern, diesen Bedarf aber auch zu hinterfragen und bedarfsgerecht zu gestalten, statt ihn lediglich unreflektiert zu unterstellen, sollte daher auch der Möglichkeitsraum der familialen Partizipation neu abgesteckt werden. Von Interesse wäre insbesondere, wie unterschiedliche Hilfen und

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Unterstützungsangebote konzeptualisiert werden können, damit Familien in ihren individuellen Lebenswelten und Sozialräumen sich offen und transparent an Inhalten und Ausgestaltung beteiligen können (vgl. Treptow 2014, S. 36). Ein alltagsweltliches Konzept spricht im Gegensatz zu den gegenwärtig meist pauschalen Hilfen zudem nicht nur gezielt die Probleme der jeweiligen Klientel an, sondern hilft auch fallangemessen Ängste zu nehmen und Copingstrategien auszubauen (vgl. Amling 2013; Hartung 2012; Winkler 2012, S. 108). Diese Überlegungen implizieren jedoch, dass weder Kindeswohlgefährdungen und Probleme familialer Erziehung zu individuellen Nöten uminterpretiert und hierbei problematische strukturelle Rahmenbedingungen vollständig auf eine individuelle Erfahrungsebene verschoben noch Hilfen auf eine offene, universelle Prävention reduziert werden, die ihre Klientel nicht erreicht (vgl. Seithe & Heintz 2014, S. 250f.). Vielmehr bedarf es der Entwicklung von Ansätzen, die den Adressaten einen niedrigschwelligen Zugang ermöglichen und in denen Hilfsangebote nicht durch Diffamierungsängste unterminiert werden (vgl. Seelmeyer & Ziegler 2014). Dies würde es ermöglichen, eine vermittelnde Perspektive zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten aller Akteure, zwischen Expertenwissen und Alltagshandeln sowie zwischen Aspekten des Lehrens und Lernens einzunehmen, die als Aufgabe insbesondere den Akteuren sozialer Arbeit zukommt. Dies erfordert eine Veränderung des Blickwinkels in Forschung und Praxis, der nicht aus einer defizitären Perspektive ›erziehungsinkompetente‹ Familien, ›entwicklungsverzögerte‹ Kinder und ›ungünstige‹ familiale Settings fokussiert, sondern sich den jeweiligen Situationen und Personen öffnet: »Wenn die Organisationen der sozialen Arbeit an das Wissen, wie es im Sinne von Agency als sozialer Prozess aktiviert werden kann, herankommen wollen, können sie dies nicht aus ihrer Machtposition heraus tun, sondern müssen sich als Lernende den Bewältigungslagen der Menschen gegenüber öffnen und in Verhältnis zu den Lebenslagen reflektieren, wie sie angesichts der Entgrenzungen des Sozialen entstanden sind« (Böhnisch & Schröer 2013, S. 130). Die Fallstricke zunehmender Standardisierungs- und Effizienzbestrebungen sollten an dieser Stelle nicht darüber hinwegtäuschen, dass durchaus Potenzial in Statistiken, Messwerten und Erhebungsverfahren liegt. Ansprüche oder zumindest Hoffnungen auf die Wirksamkeit von Maßnahmen stellen an sich nicht, wie oftmals suggeriert, ein Phänomen neoliberaler Steuerung dar, sondern haben – wenn auch unter variierenden Zielsetzungen – immer schon bestanden (vgl. Seithe & Heintz 2014), nicht zuletzt um vor einer Beliebigkeit in der sozialen Arbeit zu schützen. Die Erkenntnispotenziale, die sich aus solchen Daten gewinnen lassen, werden bislang jedoch vielfach als marktwirtschaftliches Steuerungsinstrument verwendet und dabei an ständig wechselnde Zielvorgaben angepasst, während die sozialpädagogischen Möglichkeiten und Erkenntnisgewinne nicht ausgeschöpft werden. Als ›Hilfen‹ verlieren sie jedoch nur dann ihren ethischen und sozialpädagogischen Inhalt, wenn ökonomische Belange Deutungshoheit erhalten und die alleinigen Kriterien bei der Auswahl und Durchführung bilden, insbesondere dann, wenn der ›Wert‹ des Menschen und Aspekte sozialer Benachteiligung hierbei als nachrangig dargestellt werden. Demnach sind Standards

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und marktgesellschaftliche Effizienzbestrebungen nicht per se als zweifelhaft zu erachten, insofern sie reflektiert und gewichtet angewendet werden (vgl. Kindler 2014): »Einer ökonomischen Perspektive ist nicht zum Vorwurf zu machen, dass sie eine rein ökonomische Perspektive ist. Man kann einer Person aber vorwerfen, dass sie Dinge unter eine ökonomische Perspektive zwängt, die sich einer solchen Perspektive entziehen. So eignet sich die ökonomische Perspektive trivialerweise nicht zur Klärung der Frage nach dem ›ethischen Wert‹ des Menschen. Denn daraus, dass ein Mensch ökonomisch ›nichts Wert‹ ist, folgt nicht, dass ihm in anderen Hinsichten kein Wert, keine Würde zukommt« (Otto & Schrödter 2010, S. 171). Während das Ökonomische andere Bereiche mit seinen Strukturen und Regeln zu kolonialisieren scheint (vgl. Bourdieu 1998, S. 149), wäre es demnach Aufgabe der sozialen Arbeit, ihm ihre Regeln entgegenzusetzen und jene Anpassungsmechanismen an ökonomische und politische Standards und Vorgaben zu durchbrechen, wenn sie den eigenen Richtlinien widersprechen: »Soziale Arbeit ist ein Instrument der Sozialpolitik, verfügt aber über hinreichende Selbstreferenzialität, um eigene ethische Grundsätze und Arbeitsweisen, z.B. die Rekrutierung der Autonomie ihrer Adressaten oder das Konzept des Empowerments im ursprünglichen Sinne des (inzwischen verfremdeten) Begriffs, nicht aufgeben zu müssen« (Michel-Schwartze 2010, S. 20). Disziplinärer Konsens, ein beständiger Dialog und eine bessere Zusammenarbeit der beteiligten Akteure könnten dazu beitragen, die jeweiligen Möglichkeiten besser zu erkennen und bedarfsangemessen auszuschöpfen. Sowohl Forschung und Praxis sozialer Arbeit stehen vor einer Reihe ungeklärter Fragestellungen, wodurch die Disziplin und ihre Verfahren auch in den massenmedialen Debatten häufig angezweifelt werden, da z.B. unklar bleibe, »ob Tests überhaupt etwas bringen [und] […] Untersuchungen wirklich Missstände aufdecken können« (Der Spiegel, 49/2006). Hier »besteht noch viel Forschungsbedarf« (taz, 28.10.2006b). Fegert selbst weist noch im Jahr 2018 medienöffentlich auf diese Versäumnisse hin: »Die Institutionen, die Hilfe und Unterstützung auf verschiedenen Ebenen geben sollen, sind aber auf dieses hochfrequente Auftreten nicht hinreichend vorbereitet. Bis heute gibt es kein flächendeckendes Netzwerk zur Abklärung von Verdachtsfällen sowie zur therapeutischen Versorgung. Ebenso fehlt es trotz eindeutiger Empfehlungen des Runden Tischs Sexueller Kindesmissbrauch immer noch an einer Regelfinanzierung der wichtigen Beratungsangebote. Jedes Jahr müssen Beratungsstellen bei den Kreisen und Kommunen um Verlängerung der Unterstützung bitten und bei Spenderinnen und Spendern entsprechende Mittel einsammeln, um fortbestehen zu können […]. Zieht man Bilanz, so kann festgestellt werden, dass es auf vielen Feldern dank einzelner Initiativen und Projekte Verbesserungen gibt. Viele Einrichtungen der Jugendhilfe und Angebote der Jugendarbeit haben mittlerweile Schutzkonzepte und Leitlinien in Bezug auf das Vorgehen im konkreten Fall. Doch Papier ist geduldig […, und wir] dürfen nicht davon ausgehen, dass sie mit der Verabschiedung von Standards die Gefahr gebannt haben« (FAZ, 10.07.2018).

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Eine systematische Fehleranalyse, wie sie sich in vielen anderen Bereichen wie z.B. der Technik oder Medizin bewährt hat, findet flächendeckend in der sozialen Arbeit bisher keine Anwendung. Dadurch werden selbst bereits gewonnene Erkenntnisse oftmals nicht in die Breite getragen oder verbleiben auf oberflächlichem Niveau und können so für steuerungspolitische Zwecke instrumentalisiert bzw. generell in Frage gestellt werden (vgl. auch Pothmann 2014). Eine Förderung der Forschungsstruktur und der Ausbau einer gemeinsamen Datenbasis mit dem Ziel einer verbesserten Kooperation, Transparenz und Angemessenheit der Angebote könnte hier Abhilfe schaffen. Eine entsprechend umfassende Interventions- und Evaluationsforschung erscheint jedoch erst zielführend, wenn alltägliches Handeln reflektiert wurde, eine Auseinandersetzung mit Idealen und Standards erfolgte sowie Inhalte, Formen und (Neben-)Folgen von Angeboten und Maßnahmen ausführlich beschrieben wurden, denn auch die Zielsetzungen sind bei vielen diagnostischen Mitteln und ›Hilfen‹ offen oder zumindest nicht transparent gestaltet. Wie die Vielzahl der diskursiven Wissensbestände zeigt, sind jedoch selbst die Fragen, was legitime Formen, Inhalte und Ziele familialer Erziehung sind und »wann eine Erziehung überhaupt als erfolgreich eingestuft werden kann, gar nicht so trivial« (Seiffge-Krenke & Schneider 2012, S. 218). Vor diesem Hintergrund scheinen insgesamt vor allem eine Verbesserung des Zusammenspiels der Disziplinen, die Weiterentwicklung fachlicher Möglichkeiten sowie eine entsprechende Aus- und Weiterbildung professioneller Akteure intendiert zu sein, was sich jedoch nicht auf eine bloße Ansammlung disziplinären Fachwissens beschränken sollte. Mit Faas (2016) ist davon auszugehen, dass wissenschaftliches Wissen nie eins zu eins in die Praxis transferiert werden kann, sondern es Schnittstellen aus wissenschaftlichem und praktischem Wissen braucht, um unterschiedliche Anforderungen in Relation zu interdisziplinären wissenschaftlichen Erkenntnissen, Berufs- und Praxiserfahrungen sowie den Bedürfnissen und Möglichkeiten der jeweiligen Klientel zu setzen. Erst diese Relationierung und Ergänzung ermögliche professionelle Handlungsfähigkeit und den Aufbau reflexiver Wissensstrukturen. Der öffentlich häufig anzutreffende Ruf nach einer Professionalisierung der in Erscheinung tretenden Akteure, die dem konstatierten steigenden Bedarf an Evaluation, Diagnostik, Beratung und anderen Präventions- und Interventionsleistungen gerecht wird, scheint jedoch häufig mit einer bloßen Akademisierung gleichgesetzt zu werden. Diese aber blendet wichtige Bestandteile erfahrungsbasierten Wissens aus und befördert so eher unkritisches Handeln, träges disziplinäres Wissen, Hierarchien und Expertenikonisierungen. Neben den ›sachkundigen Experten‹ ist daher auch die Politik gefragt, notwendige Mittel für die Weiterentwicklung der Familienarbeit und des Kinderschutzes bereitzustellen. Dabei erscheint zunächst ein generelles Vertrauen in die Diagnose-, Urteilsund Handlungsfähigkeit der einzelnen Fachgebiete unabdingbar. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Disziplin der sozialen Arbeit, deren Entprofessionalisierung hierdurch entgegengesteuert werden kann und bei der sich die Spannungsverhältnisse zwischen Kontrolle und Hilfe abmildern lassen (vgl. Dollinger 2015). Laut Endreß (2002) ist davon auszugehen, dass auch institutionelle Kontrollmechanismen, die aus Misstrauen gegenüber den Akteuren entstanden sind, letztlich vertrauensfördernd wirken können, so dass Formen der institutionellen Kontrolle und Vertrauen nicht zwingend Gegensätze bilden müssen. Im Gegenteil könne Misstrauen als solches potenziell auch

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produktiv sein, indem es aktivierend wirke, während ›blindes‹ Vertrauen Abhängigkeitskonstellationen begünstige. Es sei dann jedoch darauf zu achten, dass diese Kontrollen nicht von der vertrauensgebenden Person ausgeübt werden, sondern eine dritte Person als Kontrollinstanz fungiert (vgl. S. 77ff.). So gesehen sind weniger die diskursiv vielfach kritisierten kontrollierenden Elemente an sich problematisch, sondern die diskursiv daran geknüpften Hoffnungen, mithilfe technischer Mittel und über Rechtswege die wahrgenommenen Defizite in den Bereichen familialer Erziehung und der Praxis des Kinderschutzes zu überwinden. Insgesamt erscheint somit die Weiterentwicklung von Ansätzen des Kinderschutzes, erzieherischer Hilfen und Kooperationsformen zu einem Gesamtkonzept richtungsweisend, das auch die Herstellung einer konstruktiven, dynamischen Balance aus Vertrauen und Misstrauen zwischen allen Beteiligten anstrebt und diese nicht einseitig auflöst (vgl. Bange 2014). Die Entwicklung familienunterstützender und kindeswohlsichernder Angebote muss nach Treptow (2015) dementsprechend auf der Makroebene in erster Linie auf die gesellschaftspolitische Aufgabe zielen, entsprechende Institutionen zu entwickeln, die Prozesse der Fremdkontrolle und Verunsicherung durch die Herstellung von Vertrauen und Autonomie ersetzen können. Die subjektzentrierte Aufgabe auf der Mikroebene bestehe hingegen darin, Vertrauen herzustellen und die Interaktionen der beteiligten Akteure in eine Balance zu bringen. Mit Luhmann (1968) scheint Vertrauen jedoch »nur möglich, […], wo Menschen sich mit Verbindlichkeit für Dritte über ein Selbiges verständigen können« (S. 48). Dies lässt auch im Hinblick auf Vertrauens- und Risikoumwelten fragwürdig erscheinen, ob und inwieweit die Anwendung der ›Container-Wörtern‹ (Lenzen 1997) wie ›Erziehungs(in)kompetenz‹ und ›Kindeswohl‹ tatsächlich geeignet sind, um Offenheit, Eindeutigkeit, Transparenz und Verbindlichkeit in Kommunikations- und Handlungszusammenhängen herzustellen. Forschungsbemühungen um eine Erfassung und Analyse von Vertrauensprozessen könnten hierzu entsprechende Auskünfte geben sowie weiterführende Aufschlüsse über mögliche Gelingens- und Misslingenspotenziale bieten, zeigen sich bislang in Feldern sozialer Arbeit jedoch nur sehr punktuell bzw. bereichsspezifisch und stellen somit ein Desiderat dar (vgl. z.B. Treptow 2015; Wiechmann 2013). Zu untersuchen wäre etwa, welche Inhalte und Verfahren sich im Besonderen zum Aufbau von konstruktiven Spannungsverhältnissen aus Vertrauen und Misstrauen eignen und welche Faktoren ihnen entgegenstehen. Obwohl Angst hierbei ein zentrales Element darstellt und dessen hohe Bedeutung für die Gesellschaft und die einzelnen Individuen inzwischen auch im Allgemeinen als unumstritten gilt, haben die Sozialwissenschaften lange Zeit weitestgehend auf dessen Explikation verzichtet und sie als innerpsychisches und nicht beobachtbares Phänomen weniger in ihrer Bedeutung und Funktion, sondern allenfalls als soziologischen Bestimmungs- und Randfaktor thematisiert. Bislang spielt somit vor allem der Aspekt der subjektiven Angst und ihrer Folgen in solchen Forschungskontexten kaum eine Rolle. Das mutet erstaunlich an, da auch subjektive Angst in einer Gesellschaft zu realen Kosten führen kann, wenn deshalb zum Beispiel auf Unterstützungsangebote verzichtet wird (vgl. z.B. Balzereit 2010; Bude 2014; Eisch-Angus 2018). In diesem Zusammenhang gilt es z.B. zu beleuchten, inwieweit Hilfsangebote es schaffen, Ängste zu stabilisieren oder zu verringern und welche Auswirkungen dies auf Vertrauens- und Misstrauensprozesse hat. Erst ein fundiertes Wissen über Hintergründe, Ziele und deren Realisierungschancen, ermöglicht

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es, Problematiken wirksam zu thematisieren, entsprechende Lösungen zu initiieren und so letztlich Verunsicherungen und Druck entgegenzuwirken sowie eine fortschreitende massive Abwertung der Akteure sozialer Arbeit und der betroffenen Familien zu vermeiden. Insbesondere vor dem Hintergrund der eruierten unbesetzten und ungenutzten diskursiven Sprecherpositionen (vgl. Kap. IV, 3.4) bedarf es jedoch nicht nur weiterer Forschungsbemühungen und einer kritisch-reflexiven Haltung aller beteiligten Akteure, sondern vor allem seitens der sozialen Arbeit und der Familien auch einer entsprechenden öffentlichen Positionierung. Das aber heißt, Begriffe, Prozesse und Hintergründe müssen nicht nur erforscht und hinterfragt, sondern auch transparent dargestellt werden, wenn sie gehört bzw. ernst genommen werden sollen und die unmittelbar Betroffenen das Feld nicht länger Politik, Medien und Vertretern anderer Professionen überlassen möchten. Denn in dem Maße, in dem Tatsachen ihre Eindeutigkeit einbüßen und die öffentliche Kontingenz von Wissensbeständen zunimmt, steigt auch die Bedeutung von Kommunikation als Praxis der Sinnzuschreibung und -stabilisierung (vgl. Keller 2004). Der Erfolg und die Deutungshoheit bestimmter Wissensformen und Disziplinen beruht immer auf öffentlicher Anerkennung (vgl. Beck et al. 2001). Akteuren aus dem Bereich sozialer Arbeit sollte es daher in erster Linie darum gehen, ein öffentliches Bewusstsein für die Anforderungen an die Profession und die eigene Tätigkeit zu schaffen, indem sie Ergebnisse und Erfahrungen in angemessener Weise an die Öffentlichkeit transportierten (vgl. Beckmann 2014, S. 182). Ein öffentlicher Perspektivwechsel kann jedoch nur vollzogen werden, wenn sich die soziale Arbeit als Profession mit eigenständigem fachlichem Anspruch und entsprechender gesellschaftlicher Berechtigung und Verantwortung versteht: »In diesem Zusammenhang ist soziale Arbeit als eine zentrale Akteurin gefordert, sich innerhalb des Spannungsfeldes von aktivierenden Zugriffen und Unterstützungsnotwendigkeiten zu positionieren und nicht nur auf Ebene der Familie ausgleichend zu handeln, sondern sowohl im Wissenschaftsdiskurs als auch in politischen Feldern die Frage des Verhältnisses von individuellen Fähigkeiten und strukturellen Möglichkeiten immer wieder zu thematisieren« (Kutscher & Richter 2011, S. 199). Wenn dies nicht geschieht, gerät das massenmedial verengt verhandelte Professionsverständnis ebenso wie die betroffenen Institutionen und Akteure, ihre Diagnosen und Hilfen weiter unter Effizienz- und Optimierungsdruck. Verunsicherungen und Belastungen könnten so verstärkt und wertvolle Prozesse der Reflexion gehemmt werden, während die ungenutzten Sprecherpositionen und das entsprechende Fehlen fundierter disziplinärer Wissensbestände – insbesondere unter hohen Anforderungen an den Output und die Outcome-Legitimation – dazu führen, dass anderen Sprechern des Diskursensembles nichts anderes übrig bleibt, als den Skandal zu betonen, die vermittelten Wissensbestände auf ein relativ homogenes und unterkomplexes Bild wissenschaftlicher Erkenntnisse zu reduzieren und Sündenböcke zu suchen.2 2

Hierbei darf jedoch auch nicht unbeachtet bleiben, dass fachliche Diskurse von der breiten Öffentlichkeit im Allgemeinen nicht vollständig partizipiert und transportiert werden können und zur Verständlichkeit immer auch Transformationen in Alltagsdiskurse erforderlich sind, wie sie

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Im Sinne diskursiver Teilhabe und Mitbestimmung könnten auch Familien ermuntert werden, sich partizipativ Diskursräume zu erschließen. Vor allem die zunehmende Etablierung und Bedeutung von Netzwerkmedien könnte – zumindest hypothetisch – Optionen offerieren, die Verknappung öffentlicher Diskurssprecher zu umgehen, und im Rahmen von Weblogs, Internetforen und Kommentarfunktionen Diskurseinschreibungen familialer Positionen und Erfahrungen sowie einen kollaborativen Austausch ermöglichen. Eine transparente und eindeutige öffentliche Positionierung erscheint aber auch für politische Bereiche der Öffentlichkeitsarbeit und der Evaluation eingesetzter bzw. durchgeführter Maßnahmen zentral: »Die wissenschaftliche Analyse von Wirkungen ist nur eine Voraussetzung für Bewertungen, die normative Benennung der Ziele und ihrer Hierarchie ist die zweite. Um eine verzerrte Wiedergabe von Zielen in den Medien zu vermeiden, ist eine klare, strategische und konsistente Kommunikation der Ziele von Seiten der Politik notwendig« (Bujard 2013, S. 149). Vertreter politischer Systeme sind nicht nur gefordert, Verantwortung zu übernehmen, indem sie Akteure und Institutionen der Familienarbeit und des Kinderschutzes stützen und entsprechende Mittel bereitstellen. Sie sollten zudem selbstreflexiv im Hinblick auf ihren Symbolcharakter agieren, der nicht nur durch die gezielte Einspeisung von Wissensbeständen beeinflusst wird, sondern auch im Rahmen impliziter Kommunikation. Die rekonstruierten Wissensbestände und Ordnungsstrukturen verdeutlichen, dass familienpolitische Leistungen bislang oftmals entweder stark an der Modellpraxis einer stabilen Ehe und dem bürgerlichen Familienbild ausgerichtet sind oder aber im Rahmen einer zunehmenden Etablierung der Subjektposition des ›unternehmerischen Eltern-Selbst‹ als ›souveräner Marktteilnehmer‹ aktivierende Strategien zu verfolgen scheinen. Dies zeigt sich z.B. im Festhalten am Subsidiaritätsprinzip, am Familienleistungsausgleich bzw. am aktivierenden Ausbau Früher Hilfen, die bestimmte Modellpraktiken als das einzig ›Wahre‹ und ›Normale‹ ausweisen, wodurch gleichzeitig bestimmte Personen(-gruppen) diskreditiert werden. Zudem gestaltet sich das Angebot familienpolitischer Leistungen gegenwärtig sehr unübersichtlich, widersprüchlich und in seiner Zielsetzung oftmals nicht eindeutig, was die Hürde für eine Inanspruchnahme zusätzlich erhöht. Im Rahmen einer Valenzanalyse zu den Zielen des Elterngeldes konnte Bujard (2013) z.B. zeigen, dass widersprüchliche politische Aussagen oder die Konzentration auf einzelne Ziele zu einer selektiven Wahrnehmung und mitunter skandalisierten und abwertenden massenmedialen Darstellung von Sachverhalten führen können. Hierbei sei weniger die Zielsetzung an sich entscheidend als die Anzahl der deklarierten Ziele: »Je mehr Ziele mit dem Elterngeld verbunden werden, desto positiver ist die Bewertung« (ebd., S. 150). Da ähnliche Effekte auch im Kontext anderer familienpolitischer Maßnahmen angenommen werden können, erscheint vor allem die Durchführung kurzfristiger Sofortmaßnahmen, die gerade der jeweiligen Konjunktur entsprechen, problematisch, da sie z.B. von Journalisten, Politikern oder der vergleichsweise hohen Anzahl populärwissenschaftlicher Sprecher vollzogen werden (vgl. Liebert 2003, S. 257).

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meist keiner expliziten und fundierten Zieldefinition folgen. Bei der Planung und Verabschiedung politischer Maßnahmen sollte daher immer ihre (symbolische) Wirkung reflektiert und mit den deklarierten Zielen in Übereinstimmung gebracht werden, um der Vielfalt von Familien und Bedürfnissen auch in politischen Kontexten besser gerecht zu werden. Dies impliziert z.B. eine stärkere Berücksichtigung moderner Formen der Arbeitsteilung sowie der Interessen und ›Kompetenzen‹ von Vätern, die in die jeweiligen Aktivitäten integriert werden sollten. Dies könnte vor allem einer Dekonstruktion hinderlicher Normen und Mythen sowie dem Abbau überhöher Erwartungen an Familien und deren ›Erziehungskompetenzen‹ dienen und die Betroffenen so von normativem Erwartungsdruck, Deklassierung und Denormalsierungsängsten entlasten, die durch Begriffe wie z.B. ›liebende Mutter‹ oder ›verantwortete Elternschaft‹ und deren Verknüpfung mit dem Kompetenzbegriff eher befördert werden. Eine stärkere Anerkennung familialer Segmentierungs- und Heterogenisierungsprozesse von Familie, Elternschaft und Erziehung sowie eine höhere Transparenz bei den Angebotsformen und Zielsetzungen könnte den Subjekten eine Inanspruchnahme adäquater Unterstützungsformen, insbesondere in Zeiten von Brüchen und Übergängen (z.B. Scheidungen), erleichtern, statt ihnen den Umgang mit Belastungen im Kontext von Sorge- und Pflegearbeiten weitgehend selbst zu überlassen. Ein Unterstützungssystem familialer ›Erziehungskompetenzen‹, das niemanden zurücklässt, erfordert nicht nur den Fluss von Transferleistungen und den Ausbau unterstützender Infrastrukturen, sondern auch die Eingliederung beratender Angebote und die Einbindung anderer politischer Felder, wie z.B. Dimensionen der Bildungs-, Arbeitsmarktund Gleichstellungspolitik. Durch gezielte öffentliche Kommunikation können Debatten und Leistungen entideologisiert und neu ausgerichtet werden. So kann eine Balance zwischen wachsenden Anforderungen und familialer Autonomie entstehen. In einer an Vielfalt und dem Subjekt orientierten Familienpolitik könnte die Familie zudem weniger als Institution adressiert werden, um vielmehr die darin agierenden Subjekte inklusive ihres gegebenenfalls erweiterten familialen Netzwerkes aus Geschwistern, Großeltern und ›Wahlverwandtschaften‹ stärker einzubeziehen – diese werden seit einigen Jahren als wichtige instrumentelle und emotionale Unterstützungsform diskutiert (vgl. Dahlheimer 2013), im öffentlichen Diskurs jedoch kaum berücksichtigt. Auch eine Erhöhung der Partizipationsmöglichkeiten von Kindern schließt dies ein. Nicht zuletzt sind auch die medienvertretenden Akteure der Diskurstriade gefordert, ihr journalistisches Handeln zu reflektieren, moralisch zu hinterfragen und das Verantwortungsbewusstsein für mögliche Effekte ihrer Berichterstattung zu erhöhen. Dies betrifft nicht nur normative Diskreditierungsprozesse, sondern auch die mitunter generalisierte und fragmentarische Darstellung von Subjektpositionen, Praktiken und Wissensbeständen sowie die selektive Verknappung von Sprecherpositionen. Ein Ausbau der medienwissenschaftlichen Forschungsaktivitäten zu Konstituierungsakten und Medienwirkungen im Allgemeinen sowie im Kontext von Skandalberichterstattungen im Speziellen scheint auch hier indiziert, um Intentionen und mögliche Auswirkungen der Berichterstattung besser abschätzen zu können (vgl. Ludwig & Schierl 2016).

V Synthese und Ausblick

3.

Grenzen und Chancen des Forschungsprogramms

Das Phänomen familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ wurde in der vorliegenden Arbeit nicht als konsensuales Konzept vorausgesetzt, sondern in Anlehnung an die wissenssoziologische Diskursanalyse (Keller 2004, 2008a, 2013c) als diskursiv ausgehandelte Konstruktion unterschiedlichster Wissens- und Ordnungsstrukturen erachtet. Die Forschungsperspektive der wissenssoziologischen Diskursanalyse hielt hierfür bereits zahlreiche etablierte Analysekategorien wie z.B. Deutungsmuster, soziale Akteurspositionen oder Klassifikationen bereit, während die Ergänzung um Schetsches Analyseprogramm sozialer Probleme (2014) und verschiedene Konzepte zur Analyse narrativer Strukturen (Arnold et al. 2012; Tarde 2009; Viehöver 2001) wertvolle Anknüpfungspunkte und gegenstandsbezogene Erweiterungen des diskursanalytischen Zuschnitts boten. Ordnungszusammenhängen, die sich nicht unmittelbar über konkrete Aussagen erschließen lassen, sondern sozialen Akteuren in Form diskursiver Problemkomplexe oder vergegenständlichter Objektivationen gegenübertreten, wurde in der vorliegenden Arbeit mit dem Begriff des Dispositivs begegnet. Hierbei wurde das wissenssoziologische Verständnis wechselseitig konstituierter Alltagsdeutungen insbesondere durch zentrale machttheoretische Annahmen Foucaults (1988 [1966], 1991 [1971], 1993a [1975]) und prozesssoziologische Überlegungen Elias’ (1969, 1986) ergänzt, d.h., die diskursiv transportierten Wissensstrukturen und Narrationslinien wurden mittels einer »dispositivanalytisch-wissenssoziologischen Phänomenologie« (Bührmann & Schneider 2008, S. 103) stärker in ihre strukturellen und gesellschaftlichen Kontexte eingebettet, um Aufschlüsse über diskursive Ordnungen und Prozesse ihrer Materialisierung zu erhalten. Dies ermöglichte es auch, Machtstrukturen, Funktionen und Imperative zu rekonstruieren bzw. herauszuarbeiten, die nur mittelbar in den narrativen Wissensbeständen wirken. Somit konnte ein Untersuchungsdesign erstellt werden, das sich nicht in der Analyse einzelner Dokumente, Sinnebenen und Wissensstrukturen erschöpft, sondern auch Prozesse von Macht und Agency als ›Figurationen‹ (Elias 2006 [1970]) stärker in den Blick nimmt, die nicht nur in Form von ›Disziplinartechniken‹ (Foucault 1993a [1975]) als Fremd- und Selbstzwänge auf soziale Akteure einwirken können, sondern immer auch an bestimmte gesellschaftliche und familiale Kontexte gebunden sind und hier mitunter auf strukturelle und personale Widerstände stoßen. Durch die relationale Konzeptualisierung bleibt die vorliegende Perspektive nicht, wie es in vielen Diskurs- und Dispositivanalysen – insbesondere in einer Vielzahl der an den ›Governmentality Studies‹ orientierten Arbeiten – der Fall ist, auf einzelne unterdrückende Faktoren, wie z.B. die etablierten Thesen der enormen Wirkmacht von Medien oder der vollständigen ökonomischen Überformung pädagogischer Wissensbestände, begrenzt (vgl. Winkel 2013, S. 187). Die Rekonstruktion der Phänomenstruktur familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ im Kontext der massenmedialen Verhandlung von Fällen wie ›Kevin‹ konnte vielmehr aufzeigen, dass einzelne wirkmächtige Elemente keinesfalls überschätzt oder vereinfacht werden sollten, da sonst viele andere Ordnungsstrukturen und insbesondere der Eigensinn der Subjekte aus dem Blick geraten (vgl. auch Dahlheimer 2013; Reichertz 2008). Gleichzeitig eröffnete die Berücksichtigung von Agency der Diskurssprecher und Adressaten aber auch die Möglichkeit, über eine Begrenzung auf individualisierungs-

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theoretische Ansätze hinausgehen und Annahmen zu primären (Lebensumfeld) und sekundären (individuellen Entscheidungen) Faktoren um die Darlegung tertiärer Effekte, d.h. institutionelle, kommunikative und gesellschaftliche Strukturen und Prozesse zu ergänzen. Sie selektieren Zuweisungen vor allem durch normative Ordnungen und führen zu einer unterschiedlichen Anerkennung von ›Erziehungskompetenzen‹ sowie zu einem divergierenden Umgang mit ihnen, der bestehende Ungleichheiten verfestigen und zu neuen führen kann. Indem die Vorteile von Diskurs- und Dispositivanalysen als ein Korrektiv einseitiger Kurzschlüsse stärker verbunden wurden (vgl. auch Keller 2008a, S. 261), konnte dies der Gefahr entgegensteuern, zentrale (Macht-)Mechanismen auszublenden, die sich in der Aufdeckung konflikthafter Spannungsfelder zwischen Tradition und Autonomie, Öffentlichkeit und Intimität sowie Autonomie und (Selbst-)Zwang zeigen. Insgesamt erscheint das zugrunde gelegte Forschungsdesign vor allem insofern gewinnbringend, als es erlaubt, Diskurse um familiale ›Erziehungs(in)kompetenzen‹ sowohl als individuelle und kollektive Differenzierung von Deutungen als auch als strukturelle Folge der Produktion gesellschaftlicher Wirklichkeit durch Dispositive zu verstehen, die wiederum die diskursive Wertigkeit und die Handlungsmacht verschiedener Akteure beeinflussen. Der erweiterte diskursanalytische Rahmen der vorliegenden Arbeit kann somit nicht zuletzt als Versuch verstanden werden, durch die Verzahnung von Mikro- und Makroebene auf mehreren Analyseebenen die in den Sozialwissenschaften oftmals konkurrierenden Positionen ineinander übersetzbar zu machen und so auf immanente Widersprüche hinzuweisen. Aber auch im Hinblick auf den mehrdimensionalen und auf mehrere Schritte ausgelegten Zuschnitt der Analyse zeigten sich einige Vorteile: Zunächst konnte der Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten weiterhin entsprochen werden und der umfassende Charakter des Phänomens erhalten bleiben, indem verschiedenen Elemente und Dimensionen in einem Gesamtkonzept gefasst werden konnten, hierbei aber stets das normative Vermögen der zugrundeliegenden Prozesse erhalten blieb. Darüber hinaus bot die Differenzierung von Formen und Effekten auch die Möglichkeit, partielle Ungleichheiten bzw. Ausschlüsse aus einzelnen Kontexten sowie deren unterschiedliche Arten und Ausprägungsgrade zu verstehen und zu unterscheiden (vgl. Herzog 2013). Wie jede empirische Umsetzung enthält aber auch das vorliegende Forschungsprogramm blinde Flecken. Zunächst ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass Generalisierungen und Übertragungen diskursanalytischer Ergebnisse auf andere Kontexte nicht ohne Weiteres möglich sind. Zum einen sind die zugrunde gelegten Daten durch die Reduktion des Diskurses auf ein bestimmtes Korpus per se begrenzt, so dass nie alle Aussagen und Wissensbestände eines Diskurses vollständig und umfassend abgebildet werden können. Zum anderen sei angemerkt, dass auch der inhaltliche und zeitliche Rahmen der Arbeit begrenzt war, so dass die Korpusbildung und die Analysetätigkeiten zwar in Anpassung an den Gegenstand erfolgten, das Phänomen familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ jedoch gleichzeitig bereits vorab auf bestimmte Deutungsinhalte, Diskursstränge und -felder eingegrenzt werden musste, was die Entdeckung anderer Wissensbestände unter Umständen verhindert hat. Wenngleich die Anwendung heuristischer Vorannahmen und selektiver Analyseverfahren kaum zu vermeiden ist und sich nichtsdestotrotz an mehreren Stellen Diskursverschränkungen zeigen, die dar-

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auf hindeuten, dass die eruierten Ergebnisse im Kontext des Falls ›Kevin‹ zumindest zum Teil auch passfähig auf andere Felder transferiert werden können, muss letztlich offenbleiben, welche Bedeutung den generierten Problemwahrnehmungen, Zuschreibungen und Lösungsmöglichkeiten in anderen Diskurs- und Praxisfeldern tatsächlich zukommt bzw. welche Akteure sie dort befördern, zu verhindern versuchen oder alternative Wissensbestände formatieren. In der Annahme, dass es keine Artikulation geben kann, »die sich jenseits von Diskursivität vollzieht« (Fegter et al. 2015, S. 17), und Diskurse eine relative Uniformität möglicher Aussagen und narrativer Muster entwickeln (Jäger 2009, S. 214), wurde daher vielmehr versucht, typische Strukturen und Entwicklungslinien herauszuarbeiten bzw. nachzuzeichnen, die zwar »nicht den Anspruch der Vollständigkeit, historischen Differenziertheit und Detailliertheit erfüllen können« (Schmid 2008, S. 17), anstelle statistischer Repräsentativitätskriterien aber eine gegenstandsangemessene konzeptuelle Repräsentativität bzw. Relevanz der sozialen Zusammenhänge und Wissensorientierungen widerspiegeln sollen (vgl. Strübing et al. 2018; Wildgruber 2011, S. 88). Zur Erhöhung der qualitativen Güte konnte mit Nohl (2013) auch die erfolgte Untergliederung der Analysearbeiten auf verschiedene Ebenen dienen: »Während die Typiken einer Ebene auf dem Weg der Spezifizierung generalisierungsfähig werden, lässt sich bei Typiken, die auf zwei oder mehreren Ebenen entwickelt werden, von einer Generalisierung durch Kontextualisierung sprechen« (S. 113). Dennoch sind die Ergebnisse insgesamt keinesfalls als »verkleinertes Abbild der empirischen vorfindbaren« (Hermanns 1992 S. 116) Inhalte zu verstehen, sondern als »ein Abbild der theoretisch relevanten Kategorien« (ebd.), das in der begründeten Selektion exemplarischer Ausschnitte und Einzelanalysen und in Begrenzung auf den rekonstruierten Diskursstrang jedoch relativ verlässliche Ergebnisse im Hinblick auf maßgebende und bedeutsame Bestandteile erbringen sollte. Die vorliegende Untersuchung legte den Schwerpunkt auf die diskursive Konstruktion familialer ›Erziehungs(in)kompetenzen‹. Entsprechend war das methodisch-methodologische Vorgehen in erster Linie auf die Herausarbeitung von Narrationslinien und der damit verbundenen diskursiven Wissens- und Ordnungsstrukturen gerichtet. Es wurde nicht der Anspruch erhoben, tatsächliche Subjektivierungsweisen zu beschreiben. Inwiefern die Praxis der Akteure von den rekonstruierten Wissensbeständen und Ordnungen konkret und im Einzelfall bestimmt wird und welche Wirkungen sie dadurch entfalten, muss letztlich weitestgehend offenbleiben. Denn in der Annahme, dass sich die ›angerufenen‹ Subjekte nicht bruchlos in die diskursgenerierten Subjektpositionen einfügen, sondern immer auch deren ›Eigensinn‹ einbezogen werden muss (vgl. Scherr 2012; Bosančić 2013), können ohne Betrachtung der Äußerungsszene keine validen Aussagen dazu getroffen werden, wie die diskursiven Positionen und Modellpraktiken ihre subjektivierende Wirkung entfalten und handlungsrelevant werden (vgl. Bosančić 2013; Jaeggi 2014, S. 234, Pfahl et al. 2015). Wenngleich eine umfassende Einschätzung von Subjektivierungsprozessen anhand der vorliegenden Ergebnisse somit nicht möglich ist, kann dennoch angenommen werden, dass die generierten Sub-

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jektpositionen eine nicht unerhebliche Leitfunktion besitzen,3 die dem ›freigesetzten‹ Individuum in der Ausgestaltung von Deutungen und Handlungen Grenzen setzen: »Damit unser Handeln für die anderen ebenso verstehbar und damit vorhersehbar wird, wie es ihr Handeln für uns ist, müssen die verwendeten Deutungsmuster, wenn auch nicht identisch, so doch kompatibel bleiben […]. Aufrechterhaltung von Kompatibilität ist dabei keine gesonderte, vom Individuum intentional zu bewältigende Aufgabe, sondern vollzieht sich interaktiv: Wenn Verständigung und Handlungserfolg Ziel der Interaktionen eines Subjekts sind, werden seine Deutungsmuster in der und durch die Handlungspraxis regelmäßig evaluiert« (Höffling et al. 2002). Diese Kompatibilitätsanforderungen legen nahe, dass sich Subjektivierungsweisen zumindest an den diskursiv bereitgestellten Subjektpositionen orientieren und extreme Abweichungen in ihrer Polarisierung kaum gelebt werden, ohne dass sich ein solcher Wandel im öffentlichen Diskurs andeutet (vgl. Gerlach 2017, S. 42). Dies ermöglicht es, Subjektpositionen zumindest als Indizien für tatsächlich ausgeführte Subjektivierungsweisen und gelebte Praktiken zu erachten (vgl. Kap. IV, 4), die jedoch nicht vorweg gedanklich geschlossen werden sollten. Um tatsächliche Subjektivierungsweisen in Diskursanalysen differenziert zu erfassen, bedarf es hingegen einer Perspektive, welche die biographischen Dispositionen und individuellen Deutungen der beteiligten Akteure stärker einbezieht und diskursiv rückbindet. Das interpretative und sozialkonstruktivistische Paradigma sowie die methodische Offenheit der vorliegenden Diskursanalyse halten hierfür jedoch zahlreiche Anschlussmöglichkeiten bereit, um den Rahmen der Analyse weiterführend um Subjektivierungsprozesse zu erweitern. Dies würde zugleich eine tiefergreifende Einschätzung von Grenzüberschreitungen oder -auflösungen auf der Mikroebene ermöglichen sowie Potenzial zur Generierung von Wissensbeständen versprechen, die im massenmedialen Diskurs bislang (noch) nicht in Erscheinung treten. Vor allem das konkrete Ausmaß, die Rahmenbedingungen und die Hintergründe, vor denen Subjektpositionen übernommen werden, legen in diskursanalytischen Designs generell noch viel Forschungspotenzial offen (vgl. auch Schneider et al. 2015). Zu fragen wäre hierbei z.B. nach den Bedingungen, unter denen verschiedene Formen und Weisen des Kompetenzerwerbs stattfinden, nach Selbstentwürfen, -verständnissen und -positionierungen sowie empfundenen Bedrohungen. Von Interesse wäre aber auch die Erschließung von Formen privater und individueller Konfliktgestaltung im Hinblick auf familiale ›Erziehungs(in)kompetenz‹ als situativ hervorgebrachte Handlungsfähigkeit eingebetteter Akteure mit ihren jeweiligen strukturellen Möglichkeiten und Grenzen. Als vielversprechend für eine solche theoretisch-methodologische Weiterführung erscheint vor allem die stärkere Kopplung diskurstheoretischer Subjektkonstitutionen mit klassischen Identitätstheorien (vgl. Goffman 1975; Mead 1934) sowie neueren Konzeptionen von

3

Vor allem Mütter von Kleinkindern werden in der Regel als besonders durch Medien beeinflussbar eingeschätzt, da sie durch Mutterschutz und Elternzeit gehäuft isolierter leben als berufstätige Mütter, eine mangelnde Vorbildfunktion aufgrund der hohen vertikalen oder horizontalen Mobilität besteht und dieser Personenkreis vor vielen neuen Entscheidungen steht (vgl. auch Cornelißen 1982, S. 88f.).

V Synthese und Ausblick

Identität, Sozialität und kultureller Praxis, wie z.B. Agency (vgl. Helfferich 2012; Günther & Kerschgens 2016; Mick 2012), Performanz (vgl. Pranz 2009; Treptow 2014; Willems 2009) oder Innovation (vgl. Howaldt et al. 2014; Latour 2007). Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenführung handlungs- und strukturtheoretischer Konzepte im Allgemeinen sowie der Verbindung von Diskursanalysen mit Ansätzen der Subjektivierungsforschung im Speziellen und deren methodisch-methodologische Ausarbeitung zu einem »heuristischen Modell der Subjektivierung« (Pfahl et al. 2015) werden derzeit bereits in unterschiedlichen Arbeiten ausgelotet (vgl. z.B. ebd.; Geimer et al. 2018; Spies & Tuider 2017). Diese Ansätze könnten auch dazu beitragen, den konkreten Einfluss unterschiedlicher Akteure und Funktionssysteme und deren Wirkung auf Diskurse differenzierter und umfassender zu erschließen, was bislang ebenfalls ein Desiderat der Diskursforschung darstellt. Gerade vor dem Hintergrund des Themas familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹, bei dem unterschiedlichste Aspekte eine zentrale Rolle einnehmen, erscheint zudem eine breite interdisziplinäre Ausrichtung der Forschung denk- und fruchtbar, die der Komplexität des Analysegegenstandes gerecht wird und verschiedene Disziplinen aus Pädagogik, Soziologie, Politik, Recht usw. zusammenführt. Wenn schon allein aus forschungsökonomischen Gründen auf eine umfassende Darstellung von Subjektivierungsweisen verzichtet werden musste, konnten mittels der Konzeptualisierung mehrerer Analyseebenen und -schritte Teile einer Metaphernanalyse in die vorliegende Diskursanalyse eingebunden werden. Über sie war es möglich, wesentliche Narrative und deutungsübergreifende Ordnungsstrukturen zu rekonstruieren, die sich in ihren unterschiedlichen Konnotationen zwischen Schauspiel, Glücksspiel und Wettkampf zu einer Zentralmetapher des Spiels bündeln ließen. Andere Diskursstrategien und Deutungsmuster werden hierdurch einerseits verstärkt, andererseits aber auch kritisiert. Die Ergebnisse scheinen somit die Annahme zu bestätigen, dass Metaphern in Diskursen wichtige konstitutive Funktionen erfüllen, vor allem, weil sie selbst ›Unsagbares‹ anschaulich darstellen können. Die (Weiter-)Entwicklung und umfassende sozialwissenschaftliche Re-Interpretation der eher linguistisch orientierten Metaphernanalyse erscheinen daher als eine vielversprechende Möglichkeit, sich der sozialwissenschaftlichen Pragmatik der Metaphernverwendung und der Erschließung alltäglicher Objektivationsprozesse fundiert anzunähern. Zudem ist anzunehmen, dass eine Weiterverfolgung der eruierten Metaphernfelder in andere diskursive Kontexte und Praxisfelder ertragreiche Aufschlüsse über implizite Wissensbestände sowie mögliche Wirkweisen und Entwicklungen bieten könnte. Eine Ausweitung dieser Analysen auf die Rekonstruktion komplexer metaphorischer Konzepte unterschiedlicher Felder erscheint daher ebenfalls gewinnbringend und anschlussfähig. Weitere Einschränkungen und Desiderata zeigen sich in Bezug auf den Umgang mit verschiedenen Formen von Online-Medien. Obwohl eine digitale Medienforschung breit und intensiv betrieben wird, wurde den Massen- und Netzwerkmedien in diskursanalytischen Fragestellungen vor allem im Hinblick auf die speziellen theoretischmethodologischen Implikationen einer intermedialen Diskursanalyse bislang verhältnismäßig wenig Beachtung geschenkt. Der Einbezug neuer Medien in das Materialkorpus der vorliegenden Arbeit hätte eine angemessene Berücksichtigung zahlreicher

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medienspezifischer Besonderheiten (z.B. wechselnder kommunikativer Rahmen durch Pop-ups und personalisierte Werbung) erfordert, dem mit den vorliegenden Ressourcen nicht entsprochen werden konnte, so dass Online-Medien weitgehend aus der Analyse ausgeschlossen wurden. Wenngleich die konkreten Einflüsse medialer Veränderungen bislang noch nicht empirisch gesichert sind, ist mit Schetsche (2014) jedoch davon auszugehen, dass sich zumindest die Verbreitung von bestimmten Wissensmustern in Netzwerkmedien derzeit (noch) nicht wesentlich von den Mechanismen der Printmedien unterscheidet: »In beiden Fällen ist es das Interesse der Mehrheit der Rezipienten, das darüber entscheidet, ob eine bestimmte Information oder Deutung – bei den Massenmedien – gesendet wird oder – bei den Netzwerkmedien – in Suchmaschinen einen Rangplatz erhält, der sie wissenspraktisch auffindbar macht« (S. 149). Und auch mit Blick auf die Aufmerksamkeitsprozesse und die Herausbildung von Deutungsmacht kann mit Schetsche (2014) angenommen werden, dass sich bislang keine weitreichenden Veränderungen öffentlicher Diskurse durch die Diffusion neuer Medien ergeben haben: »Auch wenn es hier einzelne Faktoren geben mag, welche die Aufmerksamkeit beeinflussen, die eine bestimmte Deutung erhält, findet sich in der Welt der Netze heute noch nichts, was auch nur annähernd den Nachrichtenfaktoren entsprechen würde, wie sie für Massenmedien in den letzten Jahren empirisch und theoretisch bestimmt worden sind« (S. 149). Dies scheint insbesondere auf alltägliche Phänomene zuzutreffen, bei denen die Auswirkungen auf öffentliche Aufmerksamkeitsprozesse im Allgemeinen deutlich geringer eingeschätzt werden als z.B. bei der Betrachtung von Personen des öffentlichen Lebens (vgl. auch Weigert 2014). Somit erscheint es zum jetzigen Zeitpunkt zwar (noch) durchaus legitim, Online-Medien und ihre Besonderheiten in Analysen öffentlicher Diskursfelder weitestgehend auszublenden, weiterführende Forschungsbemühungen erscheinen jedoch dringend indiziert. Eine weitere Begrenzung bezieht sich auf die methodische Strenge des sequenzanalytischen und kodierenden Vorgehens in der durchgeführten Diskursanalyse. Denn wenngleich es möglichst vermieden werden sollte, bleibt eine gewisse normative Überformung der Ergebnisse bei der Rekonstruktion von Sinnstrukturen kaum aus. Insbesondere aus der methodologischen Position der qualitativen Inhaltsanalyse wäre daher auf die fehlende Überprüfung der vorgenommenen Analysen durch mehrere ›Beobachter zweiter Ordnung‹ (Luhmann 1991) sowie den fehlenden Nachweis der Interkoderreliabilität hinzuweisen. Da die diskursanalytische Analysepraxis in der hier durchgeführten Form jedoch nicht vorrangig auf eine inhaltliche Zusammenfassung des Alltagsverstehens zielt, sondern vielmehr auf eine Rekonstruktion jener Wissensbestände als und in Verbindung mehrerer Elemente und Ebenen, ist der Kodiervorgang nur als ein Analyseschritt und sein Ertrag nicht als zentrales Ergebnis zu erachten. Ungeachtet der generellen Zweckmäßigkeit einer solchen Kennziffer für diskursanalytische Untersuchungen wären Verfahren zur Sicherstellung der Interkoderreliabilität allein aus forschungsökonomischen Gründen in diesem aus mehreren Schritten bestehenden, aufwendigen Verfahren kaum zu leisten gewesen. Unter Berücksichtigung von Schetsches Konzept (2014) ›konsensualer Sachverhalte‹, das kollektives Wissen als das fasst, »was von der traditionellen Problemsoziologie als ›objektive Bedingungen‹ genannt wird« (S. 80), und Felders Annahme (2013), dass Multiperspektivität »ein Ersatz für Objektivität im Sinne der Überindividualität« (S. 16) darstellt, wurde stattdessen

V Synthese und Ausblick

die im Rahmen sozialwissenschaftlicher Hermeneutik gebräuchliche gemeinsame Interpretation von Materialien als Gütekriterium herangezogen und die Plausibilität ausgewählter Sinnkonstruktionen mittels »kommunikativer Validierung« (Bührmann & Schneider 2008, S. 92) in ›focus groups‹ diskutiert. Die interne Validität und intersubjektive Plausibilität der Analysen sowie die Reflexion des möglichen Niederschlags eigener Subjektivität sollen hierdurch methodisch in gewissem Maße gesichert werden (vgl. ebd.). Zentral waren vor allem Fragen der Verständlichkeit, der Angemessenheit sowie möglicher Widersprüche in der Deutungsarbeit. Das zirkuläre Vorgehen aus Analyse, Datenerhebung und ›kommunikativer Validierung‹ sollte zudem sicherstellen, dass sich die als relevant bzw. typisch eingestuften Kategorien auch tatsächlich aus dem Material ergeben und die theoretische Einbindung auf den verschiedenen Diskurs- und Analyseebenen sinnadäquat vorgenommen wird. Die Validierung der gewonnenen Erkenntnisse erfolgte somit nicht zuletzt auch anhand einer permanenten Erweiterung und Verdichtung des Korpus durch Schritte des ›Theoretical Sampling‹ sowie der komparativen Analyse und textnahen Interpretationen des Materials, wobei immer wieder auch eine objektivierende Verfremdung angestrebt wurde. Trotz Limitierungen erweist sich das zugrunde gelegte Korpus letztlich insofern als ergiebig, als sich eine gewisse Sättigung im Hinblick auf Deutungen und Begründungen familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ im Kontext des Falls ›Kevin‹ zeigt, die theoretische Implikationen begrenzter Reichweite erlaubt. Trotz verschiedener Maßnahmen zur Sicherstellung der empirischen Güte kann die geleistete Abduktion in letzter Konsequenz jedoch nicht gesichert werden. Es besteht somit abschließend keine Sicherheit, dass die gezogenen Schlüsse die ›richtigen‹ sind. Rekonstruktionsprozesse von Verstehen unterliegen immer gewissen Grenzen, die in unterschiedlichen Perspektiven, Vorverständnissen und der »Mehrdeutigkeit des Zeichensinns« (Kurt & Herbrik 2015, S. 193) begründet sind und nie vollständig eliminiert werden können. Die Frage nach der Reichweite und der Qualität der Ergebnisse reiht sich somit auch in die allgemeinen und kontroversen Debatten um eine Kanonisierung diskursanalytischer Forschung ein, die sich zwischen den Polen der vollkommenen Standardisierung zur Vermeidung beliebigen methodischen Vorgehens und der Offenheit als Quelle des Erkenntnisgewinns bewegen (vgl. z.B. Truschkat & Bormann 2013; Fegter et al. 2015). Aufgrund der vorgenommenen gegenstandsbezogenen Anpassungen und Erweiterungen, die sich als durchaus gewinnbringend erwiesen haben, jedoch nur in einem offenen Rahmen möglich sind, wird eine Kanonisierung an dieser Stelle als bedenklich bewertet. Dies impliziert jedoch keine Beliebigkeit und Willkür in der Forschungspraxis, sondern bezieht sich lediglich auf einen offenen, aber durchaus kritischen und reflektierten Umgang mit den jeweiligen Verfahren, die transparent und begründet sein sollten. Denn Grenzen empirischer Güte zeigen sich nicht nur bei der vorliegenden Arbeit oder bei qualitativen Forschungskonzepten im Allgemeinen, sondern sie sind allen Formen sozialwissenschaftlichen Arbeitens immanent, da selbst rein quantitativ angelegte, standardisierte Untersuchungsdesigns zumindest bei der Hypothesengenerierung und der Ergebnisinterpretation nicht völlig auf hermeneutische Verfahren verzichten können (vgl. Kuckartz 2012, S. 33).

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VI Verzeichnisse

1.

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Die mediale Zusammenstellung des Analysekorpus ................................... 54 Tabelle 2: Das ›Horrorszenario‹ als Zentralmetaphorik der narrativen Sinnstiftung .............. 144 Tabelle 3: Die ›schicksalhaft-natürliche Ordnung‹ als Zentralmetaphorik der narrativen Sinnstiftung.........................................................................174 Tabelle 4: ›Spiel und Wettkampf‹ als Zentralmetaphorik der narrativen Sinnstiftung ............ 210 Tabelle 5: Die Strukturierung familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ in den Narrationslinien..... 229 Tabelle 6: Problemnutzende Akteure und ihre zentralen kollektiven Strategien und Interessen.. 369

2.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Ebenen und Elemente des Diskursfeldes........................................... 46 Abbildung 2: Vereinfachte schematische Darstellung der Phänomenstruktur und ihrer Analyseverfahren ........................................................... 104 Abbildung 3: Zentrale Strukturelemente der Ausgangsnarration ................................147 Abbildung 4: Zentrale Strukturelemente der Gegennarration ....................................176 Abbildung 5: Zentrale Strukturelemente der Alternativnarration ................................ 211 Abbildung 6: Ordnungspraktiken ›erziehungs(in)kompetenter‹ Familien und ihre Begründungszusammenhänge .............................................. 366 Abbildung 7: Vereinfachte schematische Darstellung der Phänomenstruktur familialer ›Erziehungs(in)kompetenz‹ in den massenmedialen Verhandlungen um Fälle wie ›Kevin‹ ......................................................................371

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3.

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VI Verzeichnisse

Der Spiegel 31/1992 [27.07.1992]: Je mehr Gewalt, desto schöner. S. 61-68. Der Spiegel 33/1993 [16.08.1993]: Der Kampf ums Kind. S. 56-68. Der Spiegel 50/1993 [13.12.1993]: Konsum-Terror der Kinder. Titel. Der Spiegel 9/1995 [27.02.1995]: Familien in der Falle. S. 40-63. Der Spiegel 10/1998 [02.03.1998]: Kriminalität. Die Wut eines Boxers. S. 40-42. Der Spiegel 28/1998 [06.07.1998]: Kinderkriminalität: Zwischen Rambo und Versager. S. 22-27. Der Spiegel 47/1998 [16.11.1998]: Eltern ohne Einfluß. Ist Erziehung sinnlos? Titel. Der Spiegel 42/1999 [18.10.1999]: Gefangen im Netz? S. 300-301. Der Spiegel 33/2000a [14.08.2000]: Alles haben, alles wollen, alles dürfen. Die verwöhnten Kleinen. Titel. Der Spiegel 33/2000b [14.08.2000]: Kult ums Kind. S. 102-112. Der Spiegel 36/2000 [04.09.2000]: Die hilflosen Helfer. S. 118-132. Der Spiegel 22/2001 [28.05.2001]: Süßer Horror Pubertät: Die Entmachtung der Eltern. Titel. Der Spiegel 3/2002 [01.08.2002]: Das Versagen der Eltern. Statt Frühstück Tom und Jerry. S. 60-63. Der Spiegel 36/2002: Kindesmissbrauch. Das zerstörte Paradies. S. 54-56. Der Spiegel 3/2004: Lernen fürs Leben. Die gute Autorität. S. 110-116. Der Spiegel 42/2006a [16.10.2006]: Durchs Netz gefallen. S. 38-42. Der Spiegel Online 16.10.2006a: Unterschicht-Debatte. Verloren, verarmt, verdrängt. Der Spiegel Online 16.10.2006b: Armut in Deutschland: Koalition entdeckt die Unterschicht. Der Spiegel 49/2006 [04.12.2006]: Familienpolitik. Abschied vom Idyll. S. 20-29. Der Spiegel 22/2007 [26.05.2007]: Früher, schneller, präziser. S. 36-37. Der Spiegel Spezial 4/2007 [07.08.2007]: Sehnsucht nach Familie. Die Neuerfindung der Tradition. Titel. Der Spiegel 48/2007 [26.11.2007]: Vor die Hunde gegangen. S. 44-45. Der Spiegel 50/2007 [10.12.2007]: Verdächtige Plauener Mutter. Gutaussehend, gepflegt, unauffällig. S. 130. Der Spiegel 51/2007 [17.12.2007]: Einfach zu feige. S. 42-45. Der Spiegel 9/2008 [25.02.2008]: Glaubenskrieg ums Kind. S. 40-54. Der Spiegel 10/2008 [03.03.2008]: Die DDR-Prägung hält an. S. 183-186. Der Spiegel 19/2008 [05.05.2008]. Von Menschen und Monstern. S. 64-74. Der Spiegel 20/2008 [10.05.2008]: Diktatur der Unschuldigen. S. 174-179. Der Spiegel Online 22.03.2009: Ursula von der Leyen. Die Supermutterpowertochter. Der Spiegel 4/2010 [25.01.2010]: Armut. Soziales Nullsummenspiel. S. 39-40. Der Spiegel 13/2010 [29.03.2010]: Menschen im Versuchslabor. S. 134-135. Der Spiegel 29/2010 [19.07.2010]: Es kracht, es klatscht. S. 50-54. Der Spiegel 39/2010 [27.09.2010]: Die Mär vom armen Kind. S. 94-100. Der Spiegel 33/2013 [13.08.2013]: Achtung! Eltern! Sie tun Alles für ihr Kind – und schaden ihm. Titel. Der Spiegel 33/2014 [12.08.2014]: Familienbande. S. 18-21. Der Spiegel 7/2017 [11.02.2017]: Erbe der Gewalt. Wie Männer aus zerrütteten Familien selbst gute Väter werden können. S. 101-103.

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Der Spiegel Online 22.09.2018: Familienrichterin im Interview. Wir können den Geschichten der Eltern nicht trauen.

Die Welt Die Welt 13.07.2001: Leserbrief: Rundumfürsorge für Familien schon probiert zu: Freiheit statt Emanzipation vom 12.07.2001. S. 9. Die Welt 05.11.2002: Wenn der Staat das Lieben lehrt. S. 8. Die Welt 06.12.2003: Mutter quält Baby fast zu Tode. Online-Ausgabe. Die Welt 26.04.2005: Wenn Killer-Spiele die Massen verzaubern. Online-Ausgabe. Die Welt 30.12.2005: Die schlimmsten Fälle. Online-Ausgabe. Die Welt 12.10.2006a: Kinderleiche. Versagen der Behörden in Bremen. Kind kam trotz Misshandlungen zurück zu den drogensüchtigen Eltern Sozialministerin. Karin Röpke zurückgetreten. S. 8. Die Welt 12.10.2006b: Kinderleiche. Mörderische Ideologie. S. 8. Die Welt 12.10.2006c: Kinderleiche. Bremer Senatorin tritt nach Fund einer Kinderleiche im Kühlschrank zurück. S. 1. Die Welt 13.10.2006: Frühwarnsystem für vernachlässigte Kinder. Unter der Vormundschaft des Jugendamtes stirbt in Bremen ein Kleinkind bei seinem drogensüchtigen Vater. Experten beklagen fehlende Konzepte der Behörden und fordern, den Schutz der Kinder in der Verfassung zu verankern. Preis eines Kinderlebens. Der Tod des zweijährigen Kevin offenbart dramatische Versäumnisse in Bremen. Eine Heimunterbringung soll den Behörden zu teuer gewesen sein. S. 3. Die Welt 14.10.2006a: Familienministerin plant Frühwarnsystem für Kinder. Ermittlungen wegen verletzter Sorgfaltspflicht nach dem Tod des zweijährigen Kevin in Bremen. S. 4. Die Welt 14.10.2006b: Leserbrief: Preis eines Kinderlebens zu: Kevins Tod vom 13. 10.2006. S. 9. Die Welt 15.10.2006: Fall Kevin: Der Staat misshandelt seine Kinder. S. 4. Die Welt 16.10.2006: Kinderrechte sollen im Grundgesetz verankert werden. Fehlersuche in Bremen nach Tod des kleinen Kevin. S. 2. Die Welt 17.10.2006: Kinderhilfe nennt Misshandlungen eine nationale Katastrophe. Weiterer Fall in Zwickau: Vierjähriger Mehmet getötet. S. 4. Die Welt 18.10.2006: Fall Kevin: Bremen erwägt Pflichtuntersuchungen. Auch Bayern geht gegen Kindesmisshandlungen vor. S. 4. Die Welt 19.10.2006: Hausbesuch vom Sozialarbeiter. Nach Kevins Tod startet Bremen ein Sofortprogramm. S. 3. Die Welt 23.10.2006: Unmut über die Mutter der Nation. Warum die Familienministerin mit ihren Vorstößen zum besseren Schutz von Kindern in den Bundesländern Widerspruch hervorruft. S. 2. Die Welt 04.11.2006a: Frühwarnsystem gegen Kindesmisshandlung. Wir müssen aus dem Fall Kevin lernen. S. 2. Die Welt 04.11.2006b: Vorsorge, aber kein Zwang. S. 8. Die Welt 16.12.2006: Säugling im thüringischen Sömmerda verdurstet. Erschreckende Bilanz: 100 Kinder wurden Opfer tödlicher Gewalt. S. 4.

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Die Welt 18.12.2006: Kinderschutzbund sieht deutsches Hilfssystem vor dem Kollaps. Ermittlungen nach Säuglingstod in Thüringen dauern an. In Bremen soll ab heute ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss die Fehler im Fall Kevin klären. S. 3. Die Welt 19.12.2006: Die zwei Leben Kevins. Untersuchungsbericht belegt Behördenversagen. Schlampige Aktenführung in Bremen. S. 4. Die Welt 21.12.2006: Das sind die Fälle, die man später in der Zeitung liest. Bremer Untersuchungsausschuss im Fall Kevin: Warnungen von Ärzten ignoriert – Kindesmisshandlungen beim Senat aktenkundig – Drogenhilfe wichtiger als Kindeswohl. S. 4. Die Welt 12.01.2007: Fall Kevin: Eltern gaukelten heile Welt vor. S. 4. Die Welt 30.01.2007: Familie ist populärer denn je. Familie, das Lebenselixier. Trotz Schlagzeilen über Kindesmisshandlungen, Krieg der Generationen und Geburtenrückgang: Die Familie ist kein Auslaufmodell. Im Gegenteil – für die Mehrheit der Deutschen ist sie wichtiger als je zuvor. S. 3. Die Welt 10.05.2007: Fernsehen ist für Kleinkinder Folter. Experten prangern auf Konferenz aktive und passive Vernachlässigung an – Hilfen der Jugendämter für gefährdete Familien werden zu früh eingestellt. S. 31. Die Welt 12.07.2007: Besserer Schutz für Kinder geplant. Regierung will Vernachlässigung und Misshandlung durch vernetzte Projekte eindämmen. S. 4. Die Welt 31.07.2007: Von der Leyen provoziert die CSU. Familienministerin warnt vor Folgen des geplanten Betreuungsgeldes – Unionsschwester empört. S. 2. Die Welt 25.10.2007: Woran starb Kevin wirklich? Leiche des Kleinkinds wurde vor einem Jahr im Kühlschrank gefunden – Ziehvater schweigt zum Prozessauftakt. S. 4. Die Welt 14.12.2007a: 37 Punkte für den besseren Schutz von Kindern. Bundestag beschließt Maßnahmenpaket – Vorsorgeuntersuchungen sollen Pflicht werden – Streit über Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz. S. 4. Die Welt 14.12.2007b: Kinder II: Schutz per Verfassung. Hilfloser Unfug. S. 8. Die Welt 20.12.2007: Mehr Staat hilft den Kindern nicht: Nach immer neuen Fällen von zu Tode misshandelten Kindern fordern Politiker aller Couleur mehr Einfluss für den Staat. Doch der ist beim Kinderschutz jetzt schon überfordert. S. 3. Die Welt 21.12.2007: Der Fall Kevin wird zum Puzzlespiel. Widersprüche beim Prozess um den toten Jungen im Kühlschrank – Anklage jetzt auch gegen Bremer Amtsmitarbeiter. S. 32. Die Welt 23.12.2007: Kevinismus, vermeidbare Kinderkrankheit. Online-Ausgabe. Die Welt 23.04.2008: Gesetz zum Kinderschutz morgen im Bundestag. Entmachtung der Eltern. S. 8. Die Welt 20.05.2008: Kindesmisshandlung. 13 Jahre Haft im Mordfall Kevin gefordert. S. 2. Die Welt 21.05.2008: Dem Ziehvater vollkommen hilf- und schutzlos ausgeliefert. Anklage fordert 13 Jahre Haft im Falle des tödlichen Martyriums von Kevin-Vorwurf: Mord und Misshandlung von Schutzbefohlenen. S. 5. Die Welt 22.05.2008: Pflicht-Einladungen zur Untersuchung beim Kinderarzt. S. 2. Die Welt 06.06.2008a: Urteil: Zehn Jahre Haft für Ziehvater von totem Kevin. S. 1. Die Welt 06.06.2008b: Kindstötungen: Die Mär vom »immer mehr«. S. 3.

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Die Welt 06.06.2008c: Tödliche Ignoranz. Der Prozess gegen den Ziehvater des toten Kevin aus Bremen offenbart das Versagen der Behörden – und das Martyrium des Kindes, das unter staatlicher Vormundschaft stand. S. 3. Die Welt 15.07.2008: Vernachlässigung. Jugendämter nehmen täglich 77 Kinder in Obhut. Online-Ausgabe. Die Welt 19.07.2008: Jugendämter gehen schneller gegen Kindesmisshandlungen vor. Immer mehr Eltern wird das Sorgerecht entzogen – Behörden nehmen Kinder häufiger in Obhut. S. 4. Die Welt 26.08.2008: Immer weniger Adoptionen in Deutschland. Mehr Hilfsangebote für Frauen in sozialen und wirtschaftlichen Notlagen. S. 2. Die Welt 18.11.2008: Besserer Schutz für Kinder. Von der Leyen will Frühwarnsystem gegen Misshandlung in der Familie. S. 2. Die Welt 19.11.2008: Großbritannien sucht Rezepte gegen das Zerbrechen der Gesellschaft. Der Fall eines von der Mutter zu Tode gefolterten Babys wühlt das Land auf – Behörden sahen tatenlos zu – Konservative schlagen neues Ehe- und Scheidungsrecht vor. S. 4. Die Welt 23.12.2008: Das stabile Glück der Familien. Allen Unkenrufen zum Trotz ist die traditionelle Ehe mit Kindern kein Auslaufmodell. Nie war das Verhältnis zwischen Kindern und ihren Eltern besser als heute. Das zeigt sich gerade jetzt zur Weihnachtszeit. S. 3. Die Welt 08.01.2009: Allmächtiges Amt gegen ohnmächtige Eltern. Immer mehr Kinder werden von Behörden in Obhut genommen. Grund sind Fälle wie Lea-Sophie. Zurück bleiben oft zerstörte Familien. S. 28. Die Welt 21.01.2009: Regierung nimmt Jugendämter in die Pflicht. Kabinett beschließt strengere Regeln für Kinderschutz – Schweigepflicht für Ärzte wird gelockert. S. 4. Die Welt 17.06.2009: Koalition will den Kinderschutz verbessern – ein bisschen SPD beendet ihre Blockade gegen das Gesetzesvorhaben – Arbeit der Jugendämter soll effizienter werden. S. 4. Die Welt 26.06.2009a: Von der Leyen kritisiert Jugendämter. Immer mehr Kinder werden aus ihrer Familie geholt und ins Heim gesteckt. S. 1. Die Welt 26.06.2009b: Ämter holen mehr Kinder aus Problemfamilien. Zahl der sogenannten Inobhutnahmen stark gestiegen – Defizite bei der dauerhaften Betreuung. S. 4. Die Welt 26.06.2009c: Jugendämter greifen immer öfter in Familien ein. Wider den Nanny-Staat. S. 6. Die Welt 01.07.2009: Kinderschutzgesetz gescheitert – Gegenseitige Schuldzuweisungen in der Koalition. SPD sieht Verantwortung bei Ursula von der Leyen – CDUGeneralsekretär Pofalla spricht von Wahlkampfscharmützel auf dem Rücken unserer Kinder. S. 2. Die Welt 13.08.2009: Ursula von der Leyen dringt auf neues Kinderschutzgesetz. S. 4. Die Welt 03.09.2009: Wahlkampf um besseren Kinderschutz. Union will Prävention stärken – SPD für neues Vormundschaftsrecht. S. 4. Die Welt 13.07.2010: Armut ist größter Risikofaktor für Misshandlung. S. 2. Die Welt 14.07.2010a: Kinder retten, Eltern helfen. S. 1.

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Die Welt 14.07.2010b: Immer mehr Kinder kommen ins Heim. Experten sehen dramatische Entwicklung – 90 Prozent der Fälle tragen sich im Armutsmilieu zu. S. 1. Die Welt 21.08.2010: Alles getan, was wir tun konnten. Nach dem Tod des kleinen Julian werden Vorwürfe gegen das Jugendamt laut. Doch oft sind die Behörden machtlos. S. 24. Die Welt 26.08.2010: Verfahren gegen Amtsvormund des toten Kevin eingestellt. Verfahren hat gezeigt: Angeklagter war offensichtlich überfordert – Nun soll er 5000 Euro an den Kinderschutzbund überweisen. S. 4. Die Welt 26.10.2010: Der Staat darf keine Supernanny sein. Im Zweifel haben Eltern recht. S. 6. Die Welt 28.05.2011: Der Kevin-Effekt ist beim Kinderschutz verpufft. Zahl der getöteten Kinder steigt wieder. Experten beklagen das Fehlen einheitlicher Regeln beim Umgang mit Problemfamilien. S. 8. Die Welt 07.11.2011: Brauchen wir das Betreuungsgeld? S. 2. Die Welt 03.02.2012: Gefährliches Chaos bei der Jugendhilfe. Dramen wie von Chantal in Hamburg und Zoe in Berlin könnten vermieden werden. S. 5. Die Welt 07.07.2012: Fehlsteuerung. Dieser Staat überschüttet die Familien mit Geld. Online-Ausgabe. Die Welt 29.01.2013: Die Angst vor dem ganz großen Fall. Täglich kämpfen Deutschlands Jugendämter gegen den Ruf, gefährdete Kinder nicht ausreichend zu schützen. Ein Ortsbesuch. S. 8. Die Welt 11.03.2013: CDU-Familienpolitik. Die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft. Online-Ausgabe. Die Welt 23.05.2016: Wie Eltern ihre Kinder zu Tyrannen machen. Online-Ausgabe. Die Welt 09.05.2017: Leistet die Politik einer Enteignung der Kinder Vorschub? OnlineAusgabe. Die Welt 19.06.2017: Pflegekinderwesen. Katarina Barley scheitert mit Gesetz zu Pflegekindern. Online-Ausgabe. Die Welt 19.02.2018: Neue CDU Generalsekretärin Kramp-Karrenbauer – Konservativ kommt von bewahren. Online-Ausgabe.

Die Zeit Die Zeit 21/1965 [21.05.1965]: Der große Bruder. Die Zeit 17/1969 [25.04.1969]: Kurzes Kichern, kein Erröten. Die Zeit 46/1969 [14.11.1969]: …daß feine Leute über so was reden. Die Zeit 18/1972 [05.05.1972]: Tag, Vati… Die Zeit 13/1974 [22.03.1974]: Jährlich sterben tausend Kinder an Mißhandlung. Die Zeit 48/1976 [19.11.1976]: Recht im Alltag: Wenn die Tochter einen Freund hat. Die Zeit 37/1977 [09.09.1977]: Das Luxusgeschöpf und die Karrierefrau und ihre Männer nach der Scheidung: der eine zahlt, der andere gewinnt. Die Zeit 28/1978 [07.07.1978]: Keine Bambule im Birkenhof. Die Zeit 35/1979 [24.08.1979]: Skandal-Urteil? Kind Jimmy und der Antipädagoge. Was falsch verstandene Fürsorge anrichten kann.

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Die Zeit 24/1996 [07.06.1996]: Der Prozeß um Monika Weimar: Stern und Spiegel helfen mit. Große Story, großes Geld. Die Zeit 27/1997 [27.06.1997]: Kriminelle Kinder. Was tun, wenn schon Zwölfjährige brutale Verbrechen begehen? Die Zeit 48/2001 [22.11.2001]: Gleichberechtigung allein ist nicht die Lösung. Die Zeit 17/2005 [20.04.2005]: Kindesmisshandlungen. Die feindlichen Eltern. Die Zeit 43/2006a [19.10.2006]: Kinder-Schutz. Seelenlos, gnadenlos. Wenn das Elend die Familien zerstört, dann muss der Staat die Kinder schützen, sogar vor den eigenen Eltern. Die Zeit 43/2006b [19.10.2006]: Kindesmisshandlung, Tod in Bremen. Vom Schicksal des zweijährigen Kevin wussten viele. Gerettet hat ihn niemand. Jetzt will keiner an seinem Martyrium schuld sein. Die Zeit 43/2006c [19.10.2016]: Reden über die Unbenennbaren. Manche Politiker wagen es nicht einmal, von einer Unterschicht zu sprechen. Doch das Thema ist wichtig: Fünf bis sechs Millionen Menschen haben sich aufgegeben. Die Zeit 51/2007a [13.12.2007]: Kindesmisshandlungen. Hinsehen, wo man wegschauen will. Die Zeit 51/2007b [13.12.2007]: Kinderschutz. Vermisst werden sie erst, wenn sie tot sind. Auch wenn in Deutschland wohl nicht mehr Kinder getötet werden als in früheren Jahren der Fall Kevin in Bremen zeigt, wie die Gesellschaft Kinder in Not heute allein lässt. Die Zeit 51/2007c [13.12.2007]: Von Dennis bis Lea-Sophie. Verhungert, verdurstet, erschlagen: Die traurigen Fälle von Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung der vergangenen Jahre. Die Zeit 51/2007d [13.12.2007]: Kindergipfel. Streit ums Kindeswohl. Die Zeit 25/2008 [12.06.2008]: Prozess. Wenn Nachsicht tötet. Am höllischen Leben und grausamen Sterben des kleinen Kevin tragen viele in Bremen Mitschuld. Sein Pflegevater wurde jetzt verurteilt. Die Zeit 24/2011 [09.06.2011]: Nutzlose Rasterfahndung. Wer sein Kind nicht zur Vorsorgeuntersuchung bringt, bekommt Besuch vom Jugendamt. Die Kontrollen sind teuer und bringen wenig. Die Zeit 26/2013 [05.07.2013): Mein fremdes Kind. Traum und Trauma. Die Zeit 49/2011 [01.12.2013]: Kindergipfel Streit ums Kindeswohl. Die Parteien sind sich uneins: Sollen Kinder über die Verfassung geschützt werden? Die Zeit, 38/2014 [25.09.2014]: Kindheit in Deutschland. Wir sind keine Sorgenkinder! Die Zeit 49/2015 [03.12.2015]: Sexuelle Gewalt. Chronik eines Skandals. Die Zeit 12/2016 [10.03.2016]: Regretting Motherhood. Geht’s noch?

FAZ FAZ 01.06.1976: Das kleine Mädchen und die böse Stiefmutter. S. 23. FAZ 21.10.1977: Erst die Eltern, dann der Staat. S. 26. FAZ 13.11.1979: Vater unter Verdacht. Prozeß wegen schwerer Kindesmißhandlung/Baby tot. S. 49. FAZ 02.06.1993: Geschichte der Kindheit. Wer züchtigt, liebt. S. 5.

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FAZ 18.08.1997: Kindervernachlässigung. S. 4. FAZ 16.05.2002: Online-Spiel Counterstrike kommt nicht auf den Index. S. 4. FAZ 27.09.2004: Pascal-Prozess. Kindsmord im Hinterzimmer. Online-Ausgabe. FAZ 12.10.2006: Ursachenforschung. S. 10. FAZ 13.10.2006a: Chronik eines tödlichen Versagens. S. 3. FAZ 13.10.2006b: Regierung will Frühwarnsystem zum Kinderschutz. S. 1. FAZ 14.10.2006: Kindeswohl und Elternrecht. S. 2. FAZ 16.10.2006: Kinderrechte in die Verfassung. S. 5 FAZ 17.10.2006a: Fall Kevin. Jugendamt wollte Polizeischutz. S. 4. FAZ 17.10.2006b: Kevin als Symbol. S. 4. FAZ 17.10.2006c: Studie zum Kindesmissbrauch. Immer mehr Eltern sind erziehungsunfähig. Online-Ausgabe. FAZ 17.10.2006d: Vierjähriger stirbt nach Mißhandlung. S. 11. FAZ 17.10.2006e: Unterschicht-Debatte: Klassenpanik. Online-Ausgabe. FAZ 18.10.2006: Eine Studie zu Mißhandlungen. S. 9. FAZ 25.10.2006a: Recht auf Förderung. S. 13. FAZ 25.10.2006b: Kindeswohl nach Kassenlage. S. 13. FAZ 04.11.2006: Soziales Frühwarnsystem für Kinder. S. 4. FAZ 14.02.2007: Ein fremdes Kind vor den Behörden? S. 9. FAZ 20.02.2007: Generation neue Väter: Sie bekommt ein Baby – und ich die Krise. OnlineAusgabe. FAZ 04.04.2007: Fall Mehmet. Hohe Haftstrafen für tödliche Misshandlung. OnlineAusgabe. FAZ 20.04.2007: Abschlussbericht Fall Kevin: Er könnte noch leben, wenn man gehandelt hätte. Online-Ausgabe. FAZ 14.05.2007: Kommen sie uns doch mal besuchen. S. 33. FAZ 26.05.2007: Freiheit, Hilfe und Kontrolle. S. 12. FAZ 18.07.2007: André verdurstete und verhungerte. S. 7. FAZ 19.10.2007: Mordprozess. Kleinkind verhungert – Eltern verweigern vor Gericht die Aussage. S. 2. FAZ 07.11.2007: Rückführung in die Schutzlosigkeit. S. 5. FAZ 23.11.2007: Am Ende nur noch 7,4 Kilogramm. S. 9. FAZ 29.11.2007: Erziehungsgehalt für alle. S. 10. FAZ 14.12.2007: Spirale nach unten. S. 1. FAZ 08.01.2008: Wirksamer und unwirksamer Kinderschutz. S. 8. FAZ 20.02.2008: Zum Wohl des Kindes. S. 10. FAZ 24.02.2008: Kindstötung im Osten. Mittel der Familienplanung. S. 8. FAZ 21.05.2008: Schrankenlose Gewalt. S. 10. FAZ 15.04.2009: Ein Schweigekartell der Grausamkeiten? S. 1. FAZ 16.05.2009: Kevin, fast vergessen. S. 1. FAZ [14.03.2010]: Ein Opfer erzählt: Ich dachte, er wollte mich für etwas bestrafen. OnlineAusgabe. FAZ 17.03.2010: Gerlinde Unverzagt: Eltern an die Macht! Die Überängstlichen sind in höchster Gefahr. Online-Ausgabe.

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FAZ 17.11.2010: Wie Erfahrung die Gene ins Spiel bringt. S. 5. FAZ 30.08.2011: Der Vorhang ist zerrissen. S. 3. FAZ 24.11.2011: EU-Parlament irritiert über deutsche Jugendämter. Online-Ausgabe. FAZ 17.11.2012: Qualität – in jeder Beziehung. S. 8. FAZ 03.12.2012: Debatte ums Betreuungsgeld. Herdprämie. Online-Ausgabe. FAZ 25.02.2014: Deutschland misshandelt seine Kinder. Mehr Mädchen und Jungen aus Familien genommen. S. 12. FAZ 25.03.2015: Was tun bei Niedrigzinsen? In die Bildung der Kinder investieren. S. 18. FAZ 26.07.2015: Jugendwort des Jahres: Läuft nicht bei Alpha-Kevin. Online-Ausgabe. FAZ 11.03.2017: Das wichtigste im Leben. Die neue Lust auf Familie. Online-Ausgabe. FAZ 26.06.2018: Schlaflos. Die Angst der Eltern vor dem Kontrollverlust. OnlineAusgabe. FAZ 10.07.2018: Missbrauch. Die Macht der Täter brechen. S. 10. FAZ 19.09.2018: Bund schießt Milliarden zu. Schlechtes Kita-Gesetz. S. 3.

Focus Focus 07/1993 [15.02.1993): Familie. Abschied von einem Traum. S. 92-99. Focus 20/1993 [17.05.1993]: Terror aus dem Kinderzimmer. Eltern werden von ihrem Nachwuchs tyrannisiert. S. 109. Focus 19/1996 [06.05.1996]: Verhaltensforschung Mutterliebe – Ursprung unserer Gefühle. S. 132-138. Focus 13/1997 [24.03.1997]: Kinderschänder-Prozess. Wie die Schläge eines Hammers. S. 30. Focus 34/1997 [18.08.1997]: Deutschland: Das macht mich wütend. S. 44-45. Focus 11/1998 [09.03.1998]: Missbrauch. Täter mit Teddybär. S. 84-89. Focus 35/2001 [27.08.2001]: Redaktion. Glückliche Talente. S. 220. Focus 09/2002 [01.10.2002]: Reportage: Ich bin die Tochter meiner Schwester. S. 76. Focus 22/2002 [27.05.2002]: Modell. Große Ziele für kleine Personen. S. 46-47. Focus 41/2003 [06.10.2003]: Bildung. Setzen, Sechs. S. 52-55. Focus 19/2005 [09.05.2005]: Bildung. Die Störer aus der zweiten Reihe. S. 52-60. Focus 35/2005 [29.08.2005]: Essay. Halt geben und halt sagen. S. 110-111. Focus 26/2006: [26.06.2006]: Pädagogik. Mehr Disziplin wagen. S. 42-57. Focus 42/2006a [16.10.2006]: Martyrium. Und alle wussten Bescheid. S. 44-46. Focus 42/2006b [16.10.2006]: Kriminalität. Opfer könnten leben. S. 46-47. Focus 42/2006c [16.10.2006]: Besser Schmidt als Schröder. S. 3. Focus 44/2006 [30.10.2006]: Leserbrief: Warnungen wurden ignoriert zu Ausgabe 42/2006: Fall Kevin. Und alle wussten Bescheid. S. 168. Focus 04/2007 [22.01.2007]: Im Dialog: Wertewandel mit Plus und Minus. S. 16-21. Focus 50/2007 [10.12.2007]: Verbrechen. Wenn alle Bilder täuschen. S. 26-30. Focus 2/2008 [07.01.2008): Verbrechen. Offensive gegen Schläger. S. 18-23. Focus 34/2008 [18.08.2008]: Verhungertes Baby. Eltern zu hohen Haftstrafen verurteilt. S. 24-26. Focus 09/2009 [21.02.2009]: Familie. Erziehung ganz anders! S. 80-90. Focus 31/2011 [01.08.2011]: Und auf ewig nur der Kleine. S. 108-114.

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Focus 42/2011 [17.10.2011]: Gut, besser, gelassen. S. 108-111. Focus 21/2012 [21.05.2012]: Sie brechen deinen Willen. Stockschläge und Rassenkunde – Aussteiger der Glaubensgemeinschaft Zwölf Stämme berichten, wie sie als Mitglieder der Gruppe geschlagen, gedemütigt und entmündigt wurden. S. 48-50. Focus 36/2014 [01.09.2014]: Übermamas sind schlechte Vorbilder. S. 82-84. Focus 44/2014 [27.10.2014]: Klassenziel verfehlt. Das Ganztags-Chaos. S. 54-58. Focus 25/2018 [16.06.2018]: Umstrittene Schlaferziehung. US-Kinderärztin rät: Wenn Ihr Kind nicht schlafen will, sperren Sie es ein! S. 114.

SZ SZ 02.08.2000: Hartes Urteil gegen die Mutter gefordert. S. 39. SZ 17.11.2005: Freier müssen bestraft werden. S. 6. SZ 12.10.2006a: Stille Schreie nach Hilfe. S. 2. SZ 12.10.2006b: Warnen und kontrollieren. S. 2. SZ 12.10.2006c: Ein Kind stirbt, weil der Staat versagt. S. 4. SZ 13.10.2006a: Martyrium im Verborgenen. S. 2. SZ 13.10.2006b: Die Verwaltung eines Martyriums. S. 3. SZ 13.10.2006c: Die schutzlosen Kinder. S. 4. SZ 13.10.2006d: Vergleiche, die ins Unheil führen. S. 2. SZ 14.10.2006: Vater Staat und seine Kinder. S. 4. SZ 16.10.2006: Obhut tut Not. Alle schwärmen von der Familie. Wer aber rettet die Kinder, wenn sie versagt? S. 11. SZ 17.10.2006: Neues Opfer von Misshandlung. S. 10. SZ 18.10.2006a: Sozialarbeit aus reiner Unternehmersicht. Leserbrief zu: Kleinkind stirbt nach Behördenschlamperei in SZ vom 12.10. S. 39. SZ 18.10.2006b: Rücksichtslos. Leserbrief zu: Die Verwaltung des Martyriums in SZ vom 13.10.2006. S. 39. SZ 18.10.2006c: Wertvollste Ressource: der Mensch. Leserbrief zu: Die schutzlosen Kinder in SZ vom 13.10.2006. S. 39. SZ 18.10.2006d: Katastrophaler ideologischer Ballast. Leserbrief zu: Vater Staat und seine Kinder in SZ vom 14.10.2006. S. 39. SZ 18.10.2006e: Kinder vor Eltern. Leserbrief zu: Die Verwaltung eines Martyriums in SZ vom 13.10.2006. S. 39. SZ 18.10.2006f: Geringe Wertschätzung. Leserbrief zu: Warnen und kontrollieren in SZ vom 12.10.2006. S. 39. SZ 21.10.2006a: Chronik einer verweigerten Rettung. S. 8-9. SZ 21.10.2006b: In den Ämtern führt der Sparzwang dazu, dass der Kontakt zu denen verloren geht, denen eigentlich geholfen werden soll. S. 9. SZ 23.10.2006: Bierflaschen am Bett. S. 10. SZ 28.10.2006a: Mehr als 200 Mündel je Vormund. Leserbrief zu: Die schutzlosen Kinder in SZ vom 13.10.2006. S. 22. SZ 28.10.2006b: Kontrollmechanismen schaffen. Leserbrief zu: Chronik einer verweigerten Rettung in SZ vom 21.10.2006. S. 22.

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SZ 28.10.2006c: Nur Nachsorge. Leserbrief zu: Neues Opfer von Misshandlung in SZ vom 17.10.2006. S. 22. SZ 28.10.2006d: Seit Jahren ungehört. Leserbrief zu: Stoiber für Pflichtuntersuchung für Kinder in SZ vom 18.10.2006. S. 22. SZ 04.11.2006: Kinderärzte übersehen vieles. Zwangsuntersuchungen sind aufwendig und nutzen wenig. S. 8. SZ 07.12.2006: Kindesmisshandlung. Zehntausende Fälle und die Suche nach einem Frühwarnsystem. Handeln vor dem ersten Schlag. S. 3. SZ 30.12.2006: Der Leidensweg der Unschuldigen. S. VII. SZ 27.02.2007: Sie lieben ihn zu Tode. S. 9. SZ 21.04.2007: Der Tod Kevins – Ein Staatsversagen. S. 4. SZ 01.08.2007: Wieder Säugling in Bremen misshandelt. S. 10. SZ 11.08.2007: Traumata. S. 8. SZ 23.11.2007a: Fünfjähriges Mädchen verhungert. Vorwürfe gegen Jugendamt Schwerin. S. 1. SZ 23.11.2007b: Jessica, Kevin, Lea-Sophie. S. 4. SZ 24.11.2007a: Kein Einblick. S. 6. SZ 24.11.2007b: Pflichten, die helfen sollen. S. 6. SZ 30.11.2007a: Leben eines Kindes ist nicht viel wert. Leserbrief zu: Lea-Sophie nie gesehen. Kein Einblick in SZ vom 24./25.11. S. 38. SZ 30.11.2007b: Helden im Jugendamt. Vernachlässigte Kinder sterben unter den Augen überforderter Jugendschützer. Leserbrief zu: Jessica, Kevin, Lea-Sophie in SZ vom 23.11. S. 38. SZ 30.11.2007c: Schlecht verwaltetes Kindeswohl. Leserbrief zu: Verhungert und verdurstet in SZ vom 23.11. S. 38. SZ 19.12.2007a: Gretchen 2007. Kindsmord und Verwahrlosung: was der Staat tun kann, um Kindern zu helfen. S. 2. SZ 19.12.2007b: Hilfe gegen die Hilflosigkeit. S. 2. SZ 29.12.2007: Verschwunden, verhungert, ermordet. Beilage Jahreswechsel 07/08. S. 19. SZ 14.04.2008a: Alle überfordert. S. 9. SZ 14.04.2008b: Grundkurs Kindererziehung. S. 9. SZ 21.05.2008: Schrankenlose Gewalt. S. 10. SZ 30.07.2008: Chronologie einer Verwahrlosung. S. 12. SZ 13.12.2008: Mädchen jahrelang versteckt. Noch nie Tageslicht gesehen. S. 3. SZ 24.03.2009: Schlechte Karten von Anfang an. S. 6. SZ 20.07.2009: Kinderschutz im Dickicht des Föderalismus. S. 5. SZ 13.08.2009: Kevin, Jessica, Sarah. S. 4. SZ 25.08.2009: Gravierende Mängel im Jugendschutz. S. 31. SZ 24.02.2010: Kevins Gesetz. S. 1. SZ 17.05.2010: Kindsvernachlässigung in Schwaben. Das Baby aus der Müllhölle. S. 36. SZ 28.09.2010: Tod der kleinen Lea. Anklage dringt auf lange Haftstrafe. S. 36. SZ 24.10.2011: Frühes Reden verhindert späteres Leid. S. 4. SZ 26.09.2012: Immer mehr Jugendliche wachsen im Heim auf. S. 10. SZ 04.09.2013: Lebe wohl. S. 3.

VI Verzeichnisse

SZ 20.03.2015: Eine schrecklich perfekte Familie. S. 10. SZ 05.04.2015: Unglückliche Mütter. Sie wollen ihr Leben zurück. Online-Ausgabe. SZ 18.07.2015: Unvorstellbar, wie Kinder hierzulande leben müssen. S. 13. SZ 15.10.2015: Emotionale Misshandlung. Ohrfeigen für die Seele. Online-Ausgabe. SZ 14.12.2015: In fremden Händen. S. 14. SZ 06.09.2017: Prozess. Wenn Kinder wegen Vernachlässigung sterben. S. 2. SZ 28.08.2018: Kinderbetreuung. Gute Kita, schlechte Kita. Es braucht mehr Ehrgeiz bei der frühkindlichen Bildung. Online-Ausgabe.

taz taz 03.12.1993: Was meint Achmed mit ficken? S. 23. taz 10.01.1998: Wildwasser ist nicht gleich Wildwasser. S. 10. taz 13.07.1998: Gewaltverbot statt Wegsperren. Hinter dem Ruf nach geschlossenen Heimen verschwinden die Ursachen der Jugenddelinquenz: Armut, Rohheit und Vernachlässigung. S. 12. taz 04.01.2002: Billige Schelte für die Eltern. S. 9. taz 08.03.2003: Risikofaktor Mann. S. 1001-1007. taz 11.06.2009: Zu klein, um sich zu helfen. S. 26. taz 12.10.2006: Rücktritt nach Tod eines Kindes. Bremer Sozialsenatorin übernimmt Verantwortung für Versäumnisse des Jugendamts. S. 7. taz 13.10.2006: Mehr Hilfe für Kinder. Fall Kevin. Familienministerin von der Leyen plant ein Frühwarnsystem für Kinder, denen Verwahrlosung droht. S. 6. taz 14.10.2006a: Ein vernachlässigtes Problem. Der Fall Kevin in Bremen zeigt, wo der Staat gefordert ist. S. 11. taz 14.10.2006b: Hilflose Jugendhelfer. Der Fall Kevin hat deutsche Behörden wieder in die Kritik gebracht. Doch gegen viele Probleme ihrer Arbeit hilft auch nicht mehr staatliche Fürsorge, wie sie Familienministerin von der Leyen fordert. S. 18. taz 14.10.2006c: Entscheidend ist das Kindeswohl. Nach dem Tod eines Bremer Kleinkindes fordert Jugendamtsdirektor Harkenthal mehr Kompetenzen für die Behörden. S. 7. taz 14.10.2006d: Gute soziale Hilfe kostet Geld. S. 12. taz 14.10.2006e: Kinder bringen keine Rendite. S. 12. taz 19.10.2006: Viele Vorschläge, wenig Geld. Nach dem Tod des kleinen Kevin überbieten sich Politiker mit Ideen für mehr Kinderschutz. CSU will Eltern unter Androhung von Strafen zwingen, ihre Kinder regelmäßig zum Arzt zu bringen. Kinderschutzbund fordert mehr Geld für Prävention. S. 6. taz 26.10.2006: In jedem Monat ein neuer Verdacht. Nach dem Tod des zweieinhalbjährigen Kevin werden neue Vorwürfe gegen die Mitarbeiter des Bremer Jugendamts laut. Sie sollen mehr gewusst haben, als sie heute zugeben. Experten glauben, dass die Tragödie in Deutschland kein Einzelfall ist. S. 6. taz 26.10.2006: In Schweden werden auch die Eltern erzogen. Die gemeinschaftliche Verantwortung der Gesellschaft für die Erziehung ist in Schweden viel stärker ausgeprägt als in Deutschland. Dort steht das Wohl des Kindes im Mittelpunkt, bei uns geht es vor allem um die Rechte der Eltern. S. 12.

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Familie unter Verdacht

taz 04.11.2006: Beistand an Wiege und Wickeltisch. Familienministerin von der Leyen stellt Pilotprojekte vor, die Kinder vor Misshandlungen bewahren sollen und wehrt sich gegen Vorwürfe, sie täte nicht genug für den Kinderschutz: Den Ländern stehe es frei, Zwangsuntersuchungen einzuführen. S. 7. taz 28.10.2006a: Man muss fragen. Was ist schiefgelaufen? Der Sozialwissenschaftler Joachim Merchel fordert mehr Mut zur Selbstkritik in den Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen. S. 2. taz 28.10.2006b: Republik Rabenland. Ansicht einer argen Kinderstube. S. 23. taz 18.12.2006a: Kanzlerin fordert Einmischung für Kinder. Nach dem neuerlichen Tod eines vernachlässigten Kindes muss sich die Bundeskanzlerin Fragen gefallen lassen von einer Achtjährigen. Angela Merkel beklagt Spaltung der Gesellschaft, ruft nach Courage und ist so ratlos wie der Rest der Republik. S. 6. taz 18.12.2006b: Tödlicher Mythos vom Mutterglück. Kinder brauchen besseren Schutz vor gewalttätigen Eltern. S. 11. taz 22.02.2007: Das menschliche Maß. S. 5. taz 12.04.2007: Vorsorge wird Pflicht. Ein Jahr nach Kevins Tod. Bremen schreibt als zweites Bundesland Vorsorgeuntersuchungen für Kinder vor. S. 6. taz 21.04.2007: Staat hat Mitschuld an Kevins Tod. Bremer Untersuchungsausschuss. Individuelles Versagen führte zum Tod des Kleinkinds. Der Sachbearbeiter beim Jugendamt beteuerte stets, Kevin gehe es gut. S. 6. taz 24.10.2007: Spätes Recht für Kevin. Vor fast genau einem Jahr wurde die brutal zugerichtete Leiche des Bremer Jungen im Kühlschrank gefunden. Heute steht sein Ziehvater vor Gericht. S. 7. taz 25.11.2007: Der Tod von Lea-Sophie. Amt kümmert sich, Kind stirbt dennoch. Online-Ausgabe. taz 08.12.2007: Jugendamt besucht Prinzessin. Dänemark und Finnland gelten als Vorbild für funktionierende Frühwarnsysteme. S. 5. taz 18.12.2007: Es gibt mehr Misshandlungen. Kinderrechte ins Grundgesetz, fordert Sabine Walther vom Kinderschutzbund Berlin. S. 6. taz 20.12.2007: Angelos Tod. S. 5. taz 23.01.2008: Gib Ruhe, Welt. Drei Sozialarbeiterinnen haben den Blues Kaspar Häuser Meer von Felicia Zeller am Theater Freiburg. S. 16. taz 25.02.2008: Streit um Kindstötung. Mittel der Familienplanung. S. 3. taz 21.05.2008: Staatsanwalt. 3 Jahre für Kevins Mörder. Wann das Kleinkind Kevin starb, hat auch der Bremer Prozess gegen dessen drogenabhängigen Ziehvater Bernd K. nicht klären können. Doch der Staatsanwalt hält für bewiesen, dass Bernd K. Kevin grausam tötete, und plädierte deshalb auf Mord. S. 7. taz 29.07.2009: Zurück in die Fünfzigerjahre. Unterschichtseltern? Versager! Dem materiellen Elend begegnet die Kinderund Jugendhilfe mit Zwangsmaßnahmen statt Protest. S. 12. taz 21.08.2009: Zwischen Fürsorge und Ausbeutung. WAISENHAUS. Eine Ausstellung in Halle zeichnet die Geschichte von Kinderheimen und Pädagogik in der frühen Neuzeit nach. S. 15. taz 28.03.2010: Sexuelle Gewalt in Heimen. Kinder der Sünde. Online-Ausgabe.

VI Verzeichnisse

taz 09.06.2010: Der Stellvertreter-Prozess. Misshandlung. Vor dem Landgericht Bremen begann gestern das Verfahren gegen den Amtsvormund des zweieinhalbjährigen Kevin, der von seinem Ziehvater getötet wurde. S. 6. taz 14.09.2010: Ohrfeige und Versohlen sind heute eher die Ausnahme. Kindertag in Deutschland ist Prügel in der Erziehung verboten. Doch jedes neunte Kind erlebt Gewalt. S. 7. taz 20.12.2010: Schröder in der Kritik. Liberale und Gesundheitsexperten bemängeln das neue Gesetz der Familienministerin. S. 7. taz 27.10.2011: Feilschen um den Kinderschutz. Gesetz um Verwahrlosung zu verhindern, will der Bund bis 2016 für Familienhebammen 120 Millionen Euro ausgeben. Weil danach die Länder zahlen sollen, stellen die sich quer. S. 7. taz 25.04.2012: Geplantes Betreuungsgeld. Keine Herdprämie für arme Eltern. OnlineAusgabe. taz 15.06.2013: Kinderheim in Brandenburg: Der Horror am Waldrand. OnlineAusgabe. taz 13.06.2015: Missbrauch in Kita: Da hinten tun sich Kinder ganz doll weh. OnlineAusgabe.

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Anlagen

A1

Schlagwörter der analytischen Suchbewegungen

Konkret ergaben sich dadurch folgende Schlagwortsuchen: Synonyme lt. Duden: • •

Befähigung, Begabung, Beschlagenheit, Fähigkeit, Fertigkeit, Können, Qualifikation,Sachverstand, Sachverständnis, Talent; (gehoben) Vermögen Entscheidungsbefugnis, Zuständigkeit, Zuständigkeitsbereich

Suchbegriffe (inkl. Ergänzungen nach erster Materialsichtung): • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •

Erziehungs(in)kompetenz(en) Erzieherische (In)Kompetenz(en) (In)Kompetenz(en) Erziehung Eltern(in)kompetenz(en) Elterliche (In)Kompetenz(en) (In)Kompetenz(en) der Eltern (In)kompetenz(en) Elternteil Versorgungs(in)kompetenz(en) Versorgerische (In)kompetenz(en) (In)kompetenz(en) Versorgung Betreuungs(in)kompetenz(en) betreuerische (In)kompetenz(en) (In)kompetenz(en) Betreuung Familien(in)kompetenz(en) Familiäre (In)Kompetenz(en) (In)Kompetenz(en) der Familie(n) Mutter(in)kompetenz(en) Mütter(in)kompetenz(en) mütterliche (In)Kompetenz(en) (In)Kompetenz(en) der Mütter/Mutter

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Familie unter Verdacht

• • • •

Vater(in)kompetenz(en) Väter(in)kompetenz(en) väterliche (In)Kompetenz(en) (In)Kompetenz(en) der Väter/des Vaters

Schlagwortsuche nach gebräuchlichen Synonymen/Zusammenhängen: • • • • • • • • •

Kompetenz Fähigkeit Autorität Zuständigkeit Befugnis Verantwortung Vermögen Pflicht Recht

Innerhalb der Ergebnisse fanden sich wiederum weitere Schlagwörter zur Vervollständigung der Suchstrategie. Teilweise wurden die Begriffe mit Trunkierungszeichen am Wortende und/oder am -beginn, versehen sowie Verneinungen, Antonyme und Komposita hinzugefügt.

Anlagen

A2

Grundlegendes Kodierschema zur Strukturierung und Verdichtung des Materials

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Soziologie Naika Foroutan

Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6

Maria Björkman (Hg.)

Der Mann und die Prostata Kulturelle, medizinische und gesellschaftliche Perspektiven 2019, 162 S., kart., 10 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4866-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4866-3

Franz Schultheis

Unternehmen Bourdieu Ein Erfahrungsbericht 2019, 106 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4786-0 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4786-4 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4786-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Soziologie Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)

Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten

2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7

Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf

Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2

Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6

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