Hermeneutik im Dialog der Methoden: Reflexionen über das transdisziplinäre Verstehen 9783839459287

Hermeneutik, die Kunst des methodisch geleiteten Verstehens, hat seit ihrem ersten Höhepunkt zu Beginn des 19. und einem

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German Pages 214 Year 2022

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Hermeneutik im Dialog der Methoden: Reflexionen über das transdisziplinäre Verstehen
 9783839459287

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Rainer J. Kaus, Hartmut Günther (Hg.) Hermeneutik im Dialog der Methoden

Edition Kulturwissenschaft | Band 260

Rainer J. Kaus (Prof. Dr. phil. mult.) ist Professor für Deutsche Literatur, Wissenschaftstheorie und klinische Psychopathologie an der Universität zu Köln sowie niedergelassener Psychoanalytiker in Berlin. Mehrere Jahre lang war er Gastprofessor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Pädagogischen Staatlichen Universität Moskau. Hartmut Günther (Prof. Dr. phil. em.) war Professor für Deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln. Sein Hauptarbeitsgebiet war Schriftlichkeitsforschung mit den Schwerpunkten Orthografie, Leseforschung und Schriftspracherwerb.

Rainer J. Kaus, Hartmut Günther (Hg.)

Hermeneutik im Dialog der Methoden Reflexionen über das transdisziplinäre Verstehen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Paul Klee, Der Seiltänzer, 1923, 121 Ölpause, Bleistift und Aquarell auf Papier auf Karton 48,7 x 32,2 cm Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv Obj.Id. 2758 Übersetzung: Michael Eldred, Anna Lynn Dolman Lektorat: Rainer J. Kaus, Cathrin Grabner Satz: Johanna Mittelgöker Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5928-3 PDF-ISBN 978-3-8394-5928-7 https://doi.org/10.14361/9783839459287 Buchreihen-ISSN: 2702-8968 Buchreihen-eISSN: 2702-8976 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Hermeneutik im Dialog der Methoden Rainer J. Kaus / Hartmut Günther............................................. 11

Hermeneutics in the Dialogue of Methods Rainer J. Kaus / Hartmut Günther............................................. 19

Begrüßung Ellen Aschermann ........................................................... 27

Welcome Ellen Aschermann ........................................................... 29

Begreifen versus Verstehen Über methodische Probleme einer philosophischen Hermeneutik Jürgen Mittelstraß ........................................................... 31

The Falling Apple – A Short Story of Gravitation Gernot Heißel ............................................................... 49

Hermeneutics and Intersubjectivity Gabriel Motzkin ............................................................. 65

The Idea of a Structural Hermeneutics in Freud’s Interpretation of Dreams – Its Epistemological and Social Relevance Rainer J. Kaus .............................................................. 75

Die Unergründlichkeit der Traummitteilung  und die Unabschließbarkeit der Deutung Brigitte Boothe...............................................................91

Das Unverständliche verstehen Zur Rolle des Psychiaters Frank Matakas .............................................................. 111

Das Wissen der Literaturwissenschaft Uwe Japp .................................................................. 123

Kognitive Hermeneutik Theoretische Grundlagen und praktische Anwendung Peter Tepe .................................................................. 139

Hermeneutik und Literaturdidaktik Hartmut Günther ............................................................ 157

Aspects of Hermeneutic Procedure in Kafka, with Special Reference to Die Verwandlung Stanley Corngold ............................................................169

Contexts of Comprehension Using the Example of Gottfried Keller’s The Smith of his Fortune Claudia Liebrand ........................................................... 187

Autorinnen und Autoren.............................................. 205 Danksagungen .......................................................... 211

In Memoriam Paul H. Ornstein, M.D. Brookline, Massachusetts Teacher, mentor, and fatherly friend

Hermeneutik im Dialog der Methoden Rainer J. Kaus / Hartmut Günther

Einleitung Hermeneutik, also die Kunst des methodisch geleiteten Verstehens und dessen wissenschaftliche Kultivierung, hat seit ihrem ersten Höhepunkt zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Friedrich Schleiermacher; Friedrich Schlegel) und einem zweiten im vorigen Jahrhundert (Wilhelm Dilthey, Friedrich Nietzsche, Georg Simmel, Hans-Georg Gadamer) enorm an Bedeutung gewonnen. Dies entspricht der gewachsenen Verwissenschaftlichung der Welt bis hin zur heute in Gang befindlichen Digitalisierung des Wissens. Die Akkumulation des Wissens sowie die immer stärkere Ausdifferenzierung (Spezialisierung) der Wissenschaften lassen gleichermaßen den Bedarf an gegenseitigem Verstehen sowohl innerhalb der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen wie zwischen ihnen wachsen. Das gilt innerhalb der beiden großen Wissenschaftskulturen (Kulturwissenschaften und Naturwissenschaften) wie nochmals über diese gewaltige Kluft hinweg. Das interdisziplinäre wie transdisziplinäre Verstehen bedarf offensichtlich der methodisch geleiteten Reflexion, also der Hermeneutik, sowie zudem der Verständigung zwischen den hermeneutischen Methoden selbst. Wobei das öffentliche und einfache zwischenmenschliche Verstehen und Missverstehen von jenen Entwicklungen nicht unberührt bleibt. Hermeneutik als Methode dient der Vielfalt unterschiedlicher methodischer Zugänge zur Deutung von Sinnproduktionen und Handlungsproduktionen in der menschlichen Kultur. Es geht also nicht allein um die Deutung schriftlicher und literarischer Texte oder historischer Artefak-

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te, sondern auch um das (scheinbar?) vorsprachliche und zunächst textfreie Verständnis von spontanen Bewusstseinsäußerungen in der Psychologie sowie um die ganze Bandbreite der menschlichen Handlungswirklichkeit im sozialen Leben (Lorraine Daston). Für alle diesbezüglichen Wissenschaften ist das Problem des methodisch geleiteten Verstehens, also die Hermeneutik, schlechthin fundamental. Im Zeitalter der fortschreitenden Digitalisierung aller Sinn- und Handlungsproduktionen und sogar der außermenschlichen Lebensäußerungen erscheint eine transdisziplinäre Besinnung auf methodisches Verstehen mehr denn je als ein gesamtuniversitäres Erfordernis. Oder ist interpersonales und geschichtliches Verstehen seinem Wesen nach methodenlos und Methode allenfalls Sache einer nachträglichen, sekundären Objektivierung der spontanen Verstehensleistung, wie Hans-Georg Gadamer dies vertrat? Inwieweit muss Hermeneutik als Verstehenskunst methodisch strukturiert sein, auch um nicht bloß historistische Affirmation des Bestehenden in Gesellschaft und Kultur zu sein, sondern um vielmehr ein ideologiekritisches Potential zu entfalten (Hermeneutik und Ideologiekritik. Mit Beiträgen von Karl-Otto Apel, Hans-Georg Gadamer, Jürgen Habermas et al. Frankfurt am Main 1971)? Wieweit sind die Entgegensetzungen von geisteswissenschaftlichem Verstehen und natur-wissenschaftlichem Erklären, von Begründen und Erklären, tragfähig, besonders im psychologischen / psychoanalytischen Verstehen, wo erstens Natur- und Kulturzusammenhänge ineinandergreifen und zweitens letztere selbst gesetzmäßig strukturiert sind? Was heißt ,Naturalistische Hermeneutik‘ (Hans Albert, Axel Bühler) und was kann sie für ein kritisches, wenngleich nicht verkürzendes hermeneutisches Methodenverständnis beitragen? Ist es wichtig, die ,Hermeneutische Spirale‘ (Jürgen Bolten u.a.) vom traditionell bekannten ,Hermeneutischen Zirkel‘ zu unterscheiden? Was heißt ,Objektive Hermeneutik‘ von Texten (Ulrich Oevermann und seine Schule); mit welchen Methoden und Erfolgen arbeitet sie, um der subjektivistischen Willkür zu entgehen? Wie steht solche ,Objektive Hermeneutik‘ zur ,Kognitiven Hermeneutik‘ (Peter Tepe und seine Schule)? Wieweit sind die methodologischen Postulate der letzteren für ein wissenschaftliches Textverständnis in der Literaturwissenschaft zu bejahen und un-

Hermeneutik im Dialog der Methoden

abdingbar? Wie steht die von Rainer J. Kaus (Literaturpsychologie und Literarische Hermeneutik. Sigmund Freud und Franz Kafka. Frankfurt am Main 2004) in Anschluss an die reflexionslogische Interpretation der kantischen Kategorien geltend gemachte ,Strukturhermeneutik‘ in Freuds Traumdeutung sowie in literarischen Texten zu den vorgenannten Methoden und wo reicht eine solche spezifisch logischstrukturelle Hermeneutik über die zuvor genannten Zugänge hinaus? Wieweit sind diese und möglicherweise weitere hermeneutische Methoden (u.a. von Roman Jakobson, Peter Szondi, Umberto Eco, Wolfgang Iser, Jan Philipp Reemtsma (School of Critical Studies), Hans Ulrich Gumbrecht) miteinander vereinbar und kooperationsbedürftig, selbst wenn jede einzelne Methode für sich bereits disziplinübergreifend z.B. auf literarische oder historische Texte oder auf psychische Äußerungen anwendbar ist? Dann wäre nicht nur das Verstehen selbst als ein dialogischer Prozess der wissenschaftlichen Reflexion (1. Stufe) fähig und bedürftig; vielmehr würde die methodologische Reflexion (2. Stufe) selbst zu einem neuen dialogischen Austausch führen, welches den jeweiligen Verstehensweg vertiefen und ergänzen könnte. Dazu bedarf es vornehmlich der Gabe des Gesprächs und des Dialogs, die Bestandteile jedes wissenschaftlichen Diskurses sind. Durch die beschleunigte technischdigitale Entwicklung steht die Universitas in der Herausforderung ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht zu werden. Denn es stellt sich für sie die Frage: Ist die gegenwärtige traditionelle Universität (einschließlich der Neugründung von Universitäten) noch in der Lage, das Gespräch und den Dialog sowohl im eigenen Fach und seinen Unterdisziplinen als auch im Felde der universitären Fächer zu führen? Eine kritische Auseinandersetzung mit eben dieser Frage stellt die fachspezifischen Methodenprobleme vor eine neue Herausforderung. Kann die Universität sich noch auf ihre hergebrachten methodischen Verfahren verlassen oder bedarf sie einer neuen Sichtweise wie es z.B. in der Nanotechnologie praktiziert wird? Die neue Unüberschaubarkeit durch die Vielfalt alter und neuer Wissenschaftsfelder und Wissenschaftssprachen und ihrer Verschränkungen ist nicht alleine durch Algorithmen lösbar, sondern ist eine Reflexions- und Wissenschaftsleistung sui generis.

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Die Schere zwischen den Humanities und den technologisch-naturwissenschaftlichen Entwicklungen (Physik, Mathematik, Biologie, Nano-Technologie, Cognitive Neuroscience, Artificial Intelligence und nicht zuletzt Astrophysik) wird immer größer und die Bewältigung immer schwieriger. Adorno brachte es in den 60er Jahren in einer interessanten Vorlesung sinngemäß auf den Punkt: ,Während die Philosophen noch nachdenken über die Besteigung des Mondes, haben die Techniker schon längst hinterrücks den Mond in Besitz genommen‘. Wenn ein Universitätspräsident in einem Zeitungsinterview sagt, dass im eigenen Fach die Publikationen so zahlreich sind, dass ein Einzelner nicht mehr in der Lage ist, alles zu lesen noch zu verarbeiten, dann ist erneut das Methoden- und Reflexionsproblem herausgefordert. Wie können wir relativ angstfrei die neuen Datenberge des Wissens und deren reflexive Erfassung methodisch und hermeneutisch erschließen, damit wir produktiver mit den Erkenntnissen umgehen können? Das heißt zu erkennen, welche technischen, naturwissenschaftlichen, geisteswissenschaftlichen, massenmedialen und sozialwissenschaftlichen Herausforderungen auf uns zukommen, um die Lebenswelt humaner zu gestalten. Pointiert formuliert sind die Humanities ausreichend durch die Gabe des Gesprächs und des Dialogs gerüstet, um mit den gegenwärtigen und neu entstehenden Disziplinen mitzuhalten: Humanwissenschaften, Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Medizinwissenschaften, Technikwissenschaften, Medienwissenschaften und nicht zuletzt der Mathematikwissenschaften. Um ein methodisches Gespräch im Horizont des erweiterten Dialogs zu erlangen, kommt der Gabe des Gesprächs und des Dialogs eine tragende Rolle zu – nämlich die reformorientierte Zukunftsgestaltung der Universitätsstruktur. Die meisten der hier versammelten Beiträge wurden zuerst am 17. und 18. Januar 2020 im Rahmen des von Rainer J. Kaus organisierten interdisziplinären, internationalen Symposiums unter dem Titel Hermeneutik im Dialog der Methoden im Neuen Senatssaal der Universität zu Köln vorgetragen, das sich der Vielfalt unterschiedlicher methodischer Zugänge zur Deutung von Sinn- und Handlungsproduktionen in der menschlichen Kultur widmete.

Hermeneutik im Dialog der Methoden

Viele Fragen harren im Rahmen der Hermeneutik und Wissenschaftstheorie der Lösung. Wohlwissend um deren Nachholbedarf bleibt eine weitere Fragestellung an die Wissenschaftstheorie der Hermeneutik sowie an die empirische Forschung: Wie kann sie einer eindimensionalen Ausrichtung an einer spekulativen Denkform entgehen, sich ihrer apriorischen, historischen Wurzeln transzendentaler Art bewusst bleiben, nicht in ihr Gegenteil versinken, sich nicht in einem eindimensionalen Methoden-Empirismus verfangen, und sich einer kritischen Reflexion nicht polemisch verweigern? Pointiert gesprochen, geht es um die Verknüpfung der historischen, systemischen und erfahrungswissenschaftlichen Elemente in der Hermeneutik. Das heißt im Klartext: Die Wissenschaftstheorie der Hermeneutik hat nicht nur Die Verheißungen der Philologie (Peter-André Alt, Göttingen 2007) ernst zu nehmen, sondern ebenso die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse über das Individuum und seine gesellschaftlichen Erfahrungen. Im ersten Teil des vorliegenden Sammelbands werden Fragen behandelt, die die Einordnung und Struktur hermeneutischer Ansätze behandeln. Jürgen Mittelstraß (Konstanz) zeichnet souverän die Umrisse einer spezifisch ,Deutschen Hermeneutik‘, die von Schleiermacher abgesehen, durch die großen Namen Dilthey, Heidegger und Gadamer geprägt ist. Bei diesen wird Philosophie insgesamt zur Hermeneutik des Verstehens. Dabei wird jedoch der Verstehensbegriff dem des Erklärens entgegengesetzt – und damit der Methode und Systematik überhaupt. Mittelstraß wendet sich vehement gegen diese oberflächliche Entgegensetzung und gegen jede Beliebigkeit eines methodenlosen Verstehens in den Wissenschaften. Selbst der berühmte ,Hermeneutische Zirkel‘ sei eher (mit Paul Lorenzen) als eine ,Hermeneutische Spirale‘ zu verstehen, in der das fortschreitende begreifende Erklären maßgebend sei. Rekonstruktion lautet für ihn das methodologische Stichwort für eine ,Logische Hermeneutik‘, jenseits von materialistisch-physikalistischer wie mentalistisch-psychologistischer Dogmatik. Zwar behält auch das begriffslose Verstehen seine Berechtigung im menschlichen Leben, gegen einen Szientismus, der für den „ungeregelten Reichtum

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in allen Belangen“ (Mittelstraß) blind machen würde. Doch sämtliche Wissenschaften als solche arbeiten in der Sicht des prominenten Wissenschaftstheoretikers in den Spiralen eines methodischen Erklärens, wobei er nebenbei die Dichotomie von Natur- und Geisteswissenschaften in Frage stellt. Der Physiker Gernot Heißel (Paris) beschreibt in seinem Beitrag The Falling Apple – A Short Story of Gravitation die Geschichte der Entwicklung von Gravitationstheorien von Aristoteles bis Einstein und unterstreicht dabei die Rolle von Experiment und Mathematik, zeigt aber auch die Rolle interpretierender Betrachtung – in diesem Sinne ist keine der konkurrierenden Formulierungen des Gravitationsgesetzes falsch. Gabriel Motzkin (Jerusalem) entwirft in seiner Diskussion Hermeneutics and Intersubjectivity auf der Basis der Feststellung, dass Intersubjektivität ein moderner Begriff ist, der erst im 19. Jahrhundert aufkommt, ein Bild von der Rolle von Texten für eine Geschichtsphilosophie. Sie kann einerseits ohne Texte nicht auskommen, will sie aber andererseits eigentlich gerade qua Theorie erklären, nicht die Theorie aus ihnen ableiten. Er zeigt dabei wesentliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit der Intersubjektivität voraussetzenden hermeneutischen Textanalyse auf. Im zweiten Teil wird die Rolle der Hermeneutik in der Psychoanalyse behandelt. Rainer J. Kaus (Köln / Berlin) zeigt in seinem Beitrag The Idea of a Structural Hermeneutics in Freud’s Interpretation of Dreams - Its Epistemological and Social Relevance, dass die Traumdeutung Freuds von Anfang an nicht als eine an Einzelbeispielen orientierte, eher impressionistische Analysetechnik verstanden werden kann, sondern immer auf grundsätzliche strukturelle Gegebenheiten zielt, und dass mithin Freud durchaus als Begründer einer strukturellen heuristischen Methode angesehen werden kann. Dabei wird sowohl die Verwandtschaft mit der literaturwissenschaftlichen Herangehensweise an Texte im Sinne von Verstehen des sprachlichen Textes als auch der grundlegende Unterschied dazu im Sinne des sprachlich nicht Explizierten herausgearbeitet. Kaus lässt auch eine behutsame Anfrage an die Psychoanalyse anklingen: Wie hält sie es mit ihrem Verhältnis zur Hermeneutik und zur empirisch-me-

Hermeneutik im Dialog der Methoden

thodischen Überprüfung ihres wissenschaftstheoretischen Status und ihrer nicht geklärten Vorannahmen? Brigitte Boothe (Zürich) schließt in ihrem Beitrag Die Unergründlichkeit der Traummitteilung und die Unabschließbarkeit der Deutung unmittelbar an diesen Punkt an. Anhand einer detaillierten Darstellung eines spezifischen Falles zeigt sie, dass sowohl die Traummitteilung als auch ihre Deutung sprachlich vage bleibt, dass aber in der Kommunikation zwischen dem Klienten und dem Therapeuten eine Basis für das Verstehen des Traumes und der Störung gelegt werden kann. Der dritte praktizierende Psychiater unter den Beiträgern Frank Matakas (Köln) entwickelt in seinem Beitrag Das Unverständliche verstehen – Die Rolle des Psychiaters anhand eines scheinbar unverständlichen Textes aus der psychiatrischen Praxis die Problematik des Verstehens in der Psychiatrie. Wenig überraschend nimmt auch in diesem Band die Beschäftigung mit Literatur den breitesten Raum ein. Im dritten Teil diskutiert zunächst Uwe Japp (Karlsruhe) die Frage, worin denn Das Wissen der Literaturwissenschaft eigentlich besteht. In seiner Durchsicht der hermeneutischen Literatur wird deutlich, dass auch die Wissenschaft von der Literatur über deren grundsätzliche Unbestimmtheit nur wenig hinauskommen kann. Ganz anders dagegen Peter Tepe (Düsseldorf) in seinem Beitrag Kognitive Hermeneutik – Theoretische Grundlagen und praktische Anwendung. Er umreißt eine fundierte Methodik, die es erlauben soll, die Bedeutung von Texten heuristisch systematischer zu kennzeichnen, und erläutert dies anhand einer Reihe von Beispielen. Hartmut Günther (Köln) weist in seinem Beitrag Hermeneutik und Literaturdidaktik zunächst in einem kurzen historischen Rückblick darauf hin, dass die Wurzel hermeneutischer Bemühungen um das Verstehen zuerst die Aufgabe der Vermittlung an andere (vor allem Jüngere) ist, und stellt dann seinen Ansatz vor, literarischen Texten durch Sprechen näherzukommen. Die letzten beiden Beiträge bieten hermeneutische Textarbeit. Stanley Corngold (Princeton) widmet sich in seinem Beitrag Aspects of Hermeneutic Procedure in Kafka, with Special Reference to Die Verwandlung der text- und subjektimmanenten Hermeneutik der Hauptfiguren

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selbst. Corngold geht kritisch auf die neostrukturalistische Theorie von Jacques Derrida ein, befasst sich mit Günther Anders‘ und Walter Sokels Deutungen von Kafkas Erzählungen als Rückübersetzungen geläufiger Metaphern und legt den Akt der Interpretation schließlich als Akt der Verzweiflung frei. Claudia Liebrand (Köln) exemplifiziert in ihrem Beitrag Contexts of Comprehension Using the Example of Gottfried Keller’s The Smith of his Fortune das von Stephen Greenblatt entwickelte heuristische Werkzeug des ,New Historicism‘, bei dem zum Verstehen eines literarischen Textes unter anderem auch (oder gar besonders?) zeitgenössische Quellen nicht-literarischer Provenienz herangezogen werden. Es bleibt mir im Namen der beiden Herausgeber nunmehr übrig, allen Beteiligten für die Teilnahme am Symposium sowie für ihre bleibenden Beiträge zu dieser Dokumentation aufrichtig zu danken und eine erfolgreiche Weiterführung ihrer Forschungen zu wünschen, auch im weiteren Diskurs miteinander.   Köln / Berlin im April 2021 Rainer J. Kaus und Hartmut Günther

Hermeneutics in the Dialogue of Methods Rainer J. Kaus / Hartmut Günther

Introduction Hermeneutics, the art of a methodically guided understanding and its scientific cultivation, has gained enormously in significance since its first high point at the beginning of the 19th century (Friedrich Schleiermacher, Friedrich Schlegel) and a second over the past century (Wilhelm Dilthey, Friedrich Nietzsche, Georg Simmel, Hans-Georg Gadamer). This corresponds to the growing scientification of the world up to the digitization of knowledge under way today. The accumulation of knowledge as well as the ever more strongly differentiated specialization in the sciences equally give rise to a growing need for mutual understanding within the individual scientific disciplines as well as between them. This holds true within the two great scientific cultures (cultural sciences and natural sciences) as well as over and beyond this gigantic gulf. Both interdisciplinary and transdisciplinary understanding obviously require methodically guided reflection, that is, hermeneutics, as well as, in addition, a communication among the hermeneutic methods themselves. In this, public and simple understanding and misunderstanding among people do not remain unaffected by these developments. Hermeneutics as a method serves the diversity of different methodical points of access to the interpretation of the productions of meaning and of action in human culture. It is therefore a matter not solely of the interpretation of written and literary texts or of historical artefacts, but also of the (apparently?) prelinguistic and initially text-free understan-

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ding of spontaneous expressions of consciousness in psychology as well as the entire range of the reality of human action in social living (Lorraine Daston). For all these kinds of sciences, the problem of methodically guided understanding, that is, hermeneutics, is simply fundamental. In the age of progressing digitization of all productions of meaning and action and even of non-human expressions of life, a transdisciplinary reflection upon methodical understanding seems to be more than ever a need for the entire university system. Or is interpersonal and historical understanding essentially without method, and is method at most a matter of a retrospective, secondary objectification of the spontaneous performance of understanding, as Hans-Georg Gadamer postulated? To what extent does hermeneutics have to be methodically structured as an art of understanding in order to be not merely historicist affirmation of the status quo in society and culture, but rather to unfold its potential in the critique of ideology (Hermeneutics and Critique of Ideology1 )? To what extent are the oppositions between understanding in the humanities and natural scientific explanation, between fathoming and explaining, tenable, particularly in psychological and psychoanalytic understanding where, firstly, natural and cultural contexts intermesh and, secondly, the latter are themselves structured in a law-like way? What does ‘naturalistic hermeneutics’ (Hans Albert, Axel Bühler) mean, and what can it contribute to a critical, albeit non-truncated hermeneutic understanding of method? Is it important to distinguish the ‘hermeneutic spiral’ (Jürgen Bolten et al.) from the traditional well-known ‘hermeneutic circle’? What does the ‘objective hermeneutics’ of texts (Ulrich Oevermann and his school) mean? With which methods and what success does it work in order to escape subjective arbitrariness? What is the relationship between such ‘objective hermeneutics’ and ‘cognitive hermeneutics’ (Peter Tepe and his school)? To what extent are the methodological postulates of the latter to be affirmed unconditionally for a scientific understanding of texts

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Hermeneutik und Ideologiekritik. Mit Beiträgen von Karl-Otto Apel, Hans-Georg Gadamer, Jürgen Habermas et al. Frankfurt am Main 1971.

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in literary studies? What is the relationship between the above-mentioned methods and the ‘structural hermeneutics’ proposed by Rainer J. Kaus (Psychology of Literature and Literary Hermeneutics. Sigmund Freud and Franz Kafka2 ) following on from the reflective-logical interpretation of the Kantian categories in Freud’s interpretation of dreams and in literary texts)? And where does such a specifically logical-structural hermeneutics go beyond the above-named modes of access? To what extent are these, and possibly other hermeneutic methods (such as those of Roman Jakobson, Peter Szondi, Umberto Eco, Wolfgang Iser, Jan Philipp Reemtsma (School of Critical Studies), Hans Ulrich Gumbrecht), compatible with each other and in need of co-operation, even when each individual method of itself already goes beyond a single discipline and, for instance, is applicable to literary or historical texts or to psychic expressions? Then, not only understanding itself as a dialogical process capable and in need of scientific reflection (first level), but moreover, the methodological reflection (second level) itself would lead to a new dialogical exchange which could deepen and complement each single path of understanding. To this end it requires especially the gift of conversation and dialogue which is a component of every scientific discourse. Through the accelerated digitized technical development, the university is presented with a challenge of no longer being able to fulfil its task and purpose. Hence the question is posed for it: Is the present-day traditional university, including the foundation of new universities, still in a position to lead a discussion and a dialogue not only within individual disciplines and their sub-disciplines, but also across the field of university departments? A critical engagement precisely with this question presents the problems of method in specific disciplines with a new challenge. Can the university still rely on its traditional understanding of method, or does it require a new way of seeing such as is practised, for instance, in nanotechnology? The new lack of overview due to the diversity of old and new fields of inquiry and scientific languages, as well as their intermeshings, cannot 2

Kaus, Rainer J.. Literaturpsychologie und Literarische Hermeneutik. Sigmund Freud und Franz Kafka. Frankfurt am Main 2004.

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be solved solely by algorithms, but has to be achieved by a scientific reflection sui generis. The gulf between the humanities and developments in the STEM techno-sciences (including also physics, mathematics, biology, nanotechnology, cognitive neuroscience, artificial intelligence and, not least of all, astrophysics) becomes ever greater and its overcoming ever more difficult. In the 1960s Adorno hit the nail on the head in an interesting lecture: “While the philosophers are still reflecting upon ascending to the moon, the techno-scientists, behind their backs, have long since taken possession of the moon.” When a university president says in a newspaper interview that the publications in his own discipline have become so numerous that an individual is no longer in a position to read everything and understand it, then the problem of method and reflection is once more challenged. How can we methodically and hermeneutically grasp, without undue anxiety, the new mountains of knowledge data and their reflective grasping, so that we can deal more productively with knowledge? This amounts to knowing what challenges are coming toward us from the techno-sciences, the humanities, the mass media and the social sciences, in order to shape the life-world in a more humane way. To put it pointedly: Are the humanities sufficiently well equipped with the gift of conversation and dialogue to keep up with present-day and emerging disciplines: humanities, natural sciences, social sciences, medical sciences, techno-sciences, media sciences and, not least of all, the mathematical sciences? In order to achieve a methodological conversation within the horizon of an expanded dialogue, the gift of conversation and dialogue plays a central role, namely, that of reforming the university structure for the future. Most of the contributions collected here were first presented on the 17th and 18th of January 2020 at an international interdisciplinary symposium organized by Rainer J. Kaus under the title Hermeneutics in the Dialogue of Methods at the New Senate Hall of the University of Cologne that was devoted to the diversity of various methodological points of access to interpreting productions of meaning and action in human culture.

Hermeneutics in the Dialogue of Methods

Many open questions within the realms of hermeneutics and epistemology are waiting for their resolution. Well knowing this need to catch up, there remains a further question posed for the epistemology of hermeneutics as well as for empirical research. How can it avoid a onedimensional orientation toward a speculative form of thinking, remain conscious of its a priori historical roots of a transcendental kind, not sink into its opposite, not let itself be caught within a one-dimensional empiricist method, and not polemically refuse to engage in critical reflection? Said pointedly, it is a matter of linking historical, systemic and empirical elements in hermeneutics. This means in plain language: the epistemology of hermeneutics must take seriously not only The Promises of Philology (Peter-André Alt, Göttingen 2007), but also social-scientific knowledge about the individual and its social experiences. In the first part of the present anthology, questions regarding the classification and structure of hermeneutic approaches are treated. Jürgen Mittelstraß (Constance) masterfully draws the outlines of a specifically ‘German hermeneutics’ shaped, apart from Schleiermacher, by the great names of Dilthey, Heidegger and Gadamer. With these philosophers, philosophy as a whole becomes a hermeneutics of understanding. In doing so, however, the concept of understanding is opposed to that of explaining, and therefore, to that of method and systematicity in general. Mittelstraß turns strongly against this ostensibly superficial opposition and against every arbitrariness of understanding in the sciences without method. Even the famous ‘hermeneutics circle’, he says, is to be understood, as with Paul Lorenzen, rather as a ‘hermeneutic spiral’ in which progressive conceptual explanation provides the yardstick. Reconstruction for him is the methodological title for a ‘logical hermeneutics’ beyond the dogmatism of both the material-physical as well as the mental-psychological kind. To be sure, non-conceptual understanding retains its justification in human living against scientism which would make us blind to the “unregulated richness in all matters” (Mittelstraß). However, in the view of this prominent philosopher of science, all the sciences as such work within the spiral of a methodical explaining, whereby he puts into question the dichotomy between the natural sciences and the humanities.

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The physicist, Gernot Heißel (Paris), describes in his contribution, The Falling Apple – A Short Story of Gravitation, the history of the development of theories of gravitation from Aristotle to Einstein, underscoring in so doing the role of experiment and mathematics, but showing also the role of interpretive observation. In this sense none of the competing formulations of the law of gravity is false. In his discussion of Hermeneutics and Intersubjectivity, Gabriel Motzkin (Jerusalem) sketches – on the basis of the finding that intersubjectivity is a modern concept which emerges only in the 19th century – a picture of the role of texts for a history of philosophy. On the one hand, it cannot do without texts, but on the other, it wants to explain the texts precisely as theory and not derive the theory from texts. In doing so, he shows essential differences and common features with hermeneutic textual analysis that presupposes intersubjectivity. In the second part, the role of hermeneutics in psychoanalysis is discussed. Rainer J. Kaus (Cologne / Berlin) shows that from the outset Sigmund Freud’s Interpretation of Dreams cannot be understood as a kind of impressionist technique of analysis oriented toward individual examples, but always aims at fundamental structural features, and that therefore Freud can well be regarded as the founder of a structural heuristic method. The affinity with the way literary studies approach texts in the sense of understanding the linguistic text, as well as the fundamental difference from this approach in the sense of the linguistically non-explicit, is thus worked out. Kaus also poses a careful question to psychoanalysis: How does it deal with the relationship between hermeneutics and the methodical empirical examination of its epistemological status as well as its unclarified presuppositions? Brigitte Boothe (Zürich) follows up immediately on this point with her article, The Unfathomability of the Communication of Dreams and the NonConclusiveness of Interpretation. On the basis of a detailed presentation of a specific case, she shows that both the communication of a dream and its interpretation remain linguistically vague, but that in the communication between the client and the therapist, a basis can be laid down for understanding the dream and the disorder.

Hermeneutics in the Dialogue of Methods

The third practising psychiatrist among the contributors, Frank Matakas (Cologne) develops the problematic of understanding in psychiatry in his article, Understanding the Incomprehensible – The Role of the Psychiatrist, on the basis of an apparently incomprehensible text from psychiatric practice. It will come as no surprise that in this volume the preoccupation with literature takes up most space. In the third part, Uwe Japp (Karlsruhe) first discusses the question, in what does The Knowledge of Literary Studies properly consist. In his survey of hermeneutic literature it becomes apparent that even the scholarly study of literature can only proceed a little beyond its fundamental indeterminacy. In contrast to this, in his contribution Cognitive Hermeneutics – Theoretical Foundations and Practical Application, Peter Tepe (Düsseldorf) outlines a well-founded methodology which is supposed to allow the meaning of texts to be characterized more systematically in an heuristic way. He illustrates this with a series of examples. Hartmut Günther (Cologne) at first shows in his contribution, Hermeneutics and Literary Didactics, by way of a brief historical retrospective view, that the root of hermeneutic efforts at understanding is first and foremost the task of communication to others, especially to those who are younger, and then presents his approach of coming closer to literary texts through speaking. The final two contributions provide hermeneutic work on texts. Stanley Corngold (Princeton) devotes himself in his contribution, Aspects of Hermeneutic Procedure in Kafka, with Special Reference to Die Verwandlung, to the hermeneutics immanent in the text and subject of the main figures themselves. Corngold critically takes up the neo-structuralist theory of Jacques Derrida, engages with both Günther Anders’ and Walter Sokel’s interpretations of Kafka’s narratives as the retranslation of well-known metaphors, and finally exposes the act of interpretation as one of desperation. Claudia Liebrand (Cologne) exemplifies in her article, Contexts of Comprehension Using the Example of Gottfried Keller’s The Smith of His Fortune, the heuristic tool of New Historicism developed by Stephen Greenblatt

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for which, in order to understand a literary text, among other things, contemporary sources from non-literary origins can also (or even: especially?) be drawn upon. It remains for me, on behalf of the two editors, to thank all those involved for their participation in the symposium, as well as for their lasting contributions to this documentation, and also to wish them a successful continuation of their research, including in further discourse with each other.   Cologne / Berlin, April 2021 Rainer J. Kaus and Hartmut Günther Translated from the German by Dr Michael Eldred, artefact text & translation, Cologne.

Begrüßung Ellen Aschermann

Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Herr Kollege Kaus!   Als Kind der kognitiven Wende und eines experimentell ausgerichteten Psychologieverständnisses, habe ich die Problematik des Verstehens zuerst an dem Programm ELIZA kennen gelernt. Wir versuchten mit der Programmiersprache LISP selbst ein Programm zu schreiben, das die Aussagen des menschlichen Gegenübers sinnvoll beantworten und somit vielleicht ,Verstanden-werden‘ erzeugen kann. Sie sehen, ich bin von dem Thema ,Hermeneutik‘ im klassischen Sinne recht weit entfernt und freue mich gerade deshalb besonders, dass Sie in den kommenden Tagen hier über die Methoden in der Hermeneutik diskutieren und sich austauschen wollen. Karl Bühler (1879-1963) (Würzburger Schule) stellte schon 1927 in methodischer Hinsicht heraus, dass der Forschungsgegenstand der Psychologie von verschiedenen Seiten angegangen werden kann: In der Natur der Sache (also der seelischen Konstitution des Menschen) liegt es einerseits das innere Erleben zu untersuchen, andererseits auch das äußere Verhalten in den Blick zu nehmen. Diese beiden Aspekte wurden in den folgenden inzwischen fast einhundert Jahren intensiv wissenschaftlich angegangen und sie dürfen als das Zentrum der aktuellen psychologischen Forschungen gesehen werden. Als dritten Aspekt nennt Bühler schließlich den Aspekt der Analyse der von Menschen erzeugten Produkte oder Gebilde. Aus diesen könne

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man Schlüsse auf die sie hervorbringenden psychischen Vorgänge und Handlungen ziehen. Hier also werden hermeneutische Fragestellungen explizit und gleichwertig zu dem Gegenstandsbereich der Psychologie gezählt und ein interdisziplinärer Bogen zu den Literatur- und Gesellschaftswissenschaften gespannt. Das ,Verstehen‘ besser zu verstehen ist ein wichtiger Meilenstein, um zwischen den Denkstilen der Naturwissenschaften und dem der Geisteswissenschaften vermitteln zu können, und dies ist eine wesentliche Aufgabe der Universität, will sie in einer immer globalisierteren und immer spezialisierteren Welt dazu beitragen, dass wir einander zuhören und voneinander lernen können. In diesem Sinne ist es folgerichtig, dass Ihre Tagung an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln und in der Psychologie stattfindet. Sowohl das Department Psychologie als auch die Fakultät freuen sich, dass Sie die weiten Wege auf sich genommen haben, um dieses Thema hier zu verhandeln und voranzubringen. Ich wünsche Ihnen einen intensiven und anregenden Austausch Ihrer Forschungsfragen und Perspektiven auf die Methoden der Hermeneutik, die womöglich zu Unrecht aktuell in der Psychologie nur wenig Beachtung finden. Und natürlich wünsche ich Ihnen auch eine gute Zeit in Köln mit all seinen Sehenswürdigkeiten. Gutes Gelingen!

Welcome Ellen Aschermann

Ladies and gentlemen, Dear Professor Kaus,   As a child of the cognitive turn and an experimentally oriented understanding of psychology, I first got to know the problematic of understanding through the ELIZA program. With the LISP programming language we tried to write a program capable of sensibly answering the questions of a human partner and thus perhaps generating the phenomenon of ‘being understood’. As you can see, I am far from the topic of ‘hermeneutics’ in its classical sense and therefore am particularly glad that here in the coming days you want to discuss and exchange views on the methods of hermeneutics. Karl Bühler (1879-1963) (Würzburg School) showed already in 1927 with regard to method that the object of research in psychology can be approached from various angles. It lies in the nature of the subject itself – that is, in the psychic constitution of the human being – on the one hand, to investigate the inner experiences, on the other, to also bring into view the external behaviour. These two aspects were intensively taken up by research in the following period of almost one hundred years, and they may be viewed as the core of today’s psychological research. As a third aspect, Bühler names finally that of the analysis of the products or formations generated by human beings. From these, it is

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Ellen Aschermann

claimed, conclusions can be drawn about the psychic processes and actions that bring them about. Thus here, hermeneutic questions are explicitly included on an even footing in the subject area of psychology, and an interdisciplinary arc is spanned to the social sciences and literature studies. To understand ‘understanding’ better is an important milestone in order to be able to mediate the styles of thinking of the natural sciences with those of the humanities. This is an essential task of the university today if it wants to contribute to it in an increasingly globalized and specialized world. I wish you an intensive and stimulating exchange of your research questions and perspectives on the methods of hermeneutics which possibly, and unfairly, currently receive too little attention in psychology. And of course I wish you a pleasant time in Cologne with all its attractions. All the best for a successful symposium! Translated from the German by Dr Michael Eldred, artefact text & translation, Cologne.

Begreifen versus Verstehen Über methodische Probleme einer philosophischen Hermeneutik Jürgen Mittelstraß

Vorbemerkung Die in den theoretischen Reflexionen der Geisteswissenschaften dominante Bemühung um eine Hermeneutik stellt den Versuch dar, einem Sinn- und Bedeutungsverstehen zu einer methodischen und insofern auch wissenschaftlichen Form zu verhelfen. Hermeneutik ist Theorie des Verstehens und gleichzeitig dem Anspruch nach Methodenlehre, diese wiederum im engeren Sinne aufgefaßt als Theorie der Interpretation. Als solche ist sie – Stichwort ,Texthermeneutik‘ – ihrer historischen Gestalt nach in erster Linie mit Texten befaßt (theologische, juristische, historische, literarische Hermeneutik), später, in der Linie Wilhelm Dilthey, Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer – das Stichwort könnte ,Deutsche Hermeneutik‘ lauten – , weitergeführt zu einer Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften: Hermeneutik nicht als Theorie und Methode im eingeschränkten Sinne, sondern als Form der Philosophie selbst, dabei als geisteswissenschaftliche Orientierung universalisiert und einem wissenschaftlichen Rationalitätsbegriff entgegengestellt. Seither schwankt das Bild der Hermeneutik zwischen Anspruch und dürftiger, meist doch wieder nur im historischen und interpretatorischen Irgendwo gefangener Wirklichkeit. Die folgenden Betrachtungen gelten nicht diesem weiten (zu weiten) Hermeneutikbegriff und einem entsprechend entgrenzten

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Jürgen Mittelstraß

Verstehensbegriff, sondern, unter dem Titel einer philosophischen Hermeneutik, einem philosophischen Verstehen, d.h. genauer, wie gezeigt werden soll, einem philosophischen Begreifen, in den Grenzen eines systematischen Denkens – nach einem kurzen vergewissernden Blick auf Werden und Wirkung eines universalisierten Hermeneutikbegriffs.

1.

Hermeneutikdimensionen

Den Anfang einer Entwicklung, die mit Gadamer zu einem universalisierten Hermeneutikbegriff führt, der wiederum auch die neuesten Bemühungen um einen klärungsbedürftigen Verstehensbegriff bestimmt, stellt Diltheys Versuch einer Begründung der Geisteswissenschaften als Erfahrungswissenschaften der geistigen Erscheinungen dar.1 Zentraler Begriff dieses Versuchs ist der Begriff des Verstehens. So sind für Dilthey das ,Erleben‘ und dessen ,Ausdruck‘ Gegenstand des Verstehens und darin zugleich Grundlage aller Formen ,geistiger‘ Welterschließung. Symbolische Kommunikations- und Interaktionszusammenhänge der gesellschaftlichen und der geschichtlichen Wirklichkeit des Menschen sollen durch Nachvollzug individuellen Erlebens erschlossen (,verstehbar‘) werden: „Der Zusammenhang der geistigen Welt geht im Subjekt auf.“2 Grundlage einer Hermeneutik des Verstehens ist somit ein Subjektivismus des Verstehens bzw. ein deskriptiv-psychologistischer Begriff des Verstehens, der zugleich die gesuchte Grundlegung der Geisteswissenschaften leisten soll. In Heideggers fundamentalontologischer Perspektive wird aus diesem Diltheyschen Ansatz, der sich auch als ein mentalistischer Ansatz, wenn auch noch ohne das wissenschaftstheoretisch reflektierte Wissen

1 2

W. Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, ed. M. Riedel, Frankfurt/Main 1970. W. Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 235.

Begreifen versus Verstehen

der modernen Kognitionswissenschaften, bezeichnen läßt, ein ontologischer, wird Verstehen zu einem Existenzial, d.h. zu einem Strukturelement des Daseins.3 Damit ändert sich auch der Begriff einer Hermeneutik selbst. Nach Heidegger (in einer Vorlesung aus dem Jahre 1923) hat die Hermeneutik die Aufgabe, „das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein seine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden.“4 Aus einem Methodenbegriff (im weitesten Sinne) wird ein (ontologisch unterlegter) Sachbegriff, eine problematische Verschiebung, wie z.B. auch aus seiner Nähe zum Begriff der Stimmung (von Heidegger ebenfalls als Existenzial verstanden) deutlich wird. Es handelt sich – wenn man nicht selbst in Heideggerschen Begrifflichkeiten, so in der Rede von ,Gestimmtsein‘ und ,Gestimmtheit‘5 denkt – im Grunde um eine für den Verstehensbegriff fatale Nachbarschaft. Stimmungen stehen gewissermaßen am frühen Ende allen Begreifens und aller Rationalität. Ein Verstehen (bzw. dessen ,Theorie‘), in ihre Nähe gerückt, teilt deren Schicksal, ein Gefühl (mit Dilthey ein ,Erleben‘), kein Wissen, und sei es auch nur ein vorläufiges, zu sein, oder anders gesagt: es versteht gar nichts mehr.

3

4

5

M. Heidegger: Sein und Zeit (1927), Tübingen 14 1977, 142-148 (§ 31 Das Dasein als Verstehen). Zur Erläuterung und Einbettung in einen größeren systematischen Zusammenhang: C. F. Gethmann: Verstehen und Auslegung. Das Methodenproblem in der Philosophie Martin Heideggers, Bonn 1974. Ferner C. F. Gethmann: Dasein: Erkennen und Handeln. Heidegger im phänomenologischen Kontext, Berlin/New York 1993. M. Heidegger: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) (1923), Frankfurt/Main 1988 (Gesamtausgabe II/65), 15. Vgl. dazu O. R. Scholz: Die Vorstruktur des Verstehens. Ein Beitrag zur Klärung des Verhältnisses zwischen traditioneller Hermeneutik und ,philosophischer Hermeneutik‘, in: J. Schönert/F. Vollhardt (Eds.): Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen, Berlin/New York 2005, 443-461, hier 445-447 (III Heideggers Umdeutung des Begriffs der Hermeneutik). M. Heidegger: Sein und Zeit, 134-140 (§ 29 Das Da-sein als Befindlichkeit).

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Gadamer wiederum schließt unmittelbar an die Heideggersche Konzeption an – „Verstehen ist der ursprüngliche Seinscharakter des menschlichen Lebens selbst“6 – , gibt aber, wenn man an die Bemühungen Diltheys um eine Begründung der Geisteswissenschaften denkt, dem Begriff der Hermeneutik seine ,erkenntnistheoretische‘ Bedeutung zurück. Nach Gadamer ist Hermeneutik im philosophischen Sinne zugleich Erkenntnistheorie in der Weise, daß sie methodisch nicht eine Theorie bzw. Methodologie der Interpretation, sondern (abgesehen von ihren ontologischen Bezügen im Heideggerschen Sinne) Grundlegung der Erkenntnis selbst ist, und zwar mit einem Verstehensbegriff, der das Verstehen (nunmehr gegen die Diltheysche ,mentalistische‘ Konzeption) nicht als eine Leistung des Subjekts, sondern als ein ,Geschehen‘ (auch ein sprachliches) deutet: Verstehen erweist „sich selber als ein Geschehen.“7 Es wird zu einem „wirkungsgeschichtlichen Vorgang“8 bzw. das jeweils eigene Verstehen zu einem „Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen“9 . Der ,hermeneutischen Situation‘ (so auch schon Heidegger10 ) entspricht ein ,wirkungsgeschichtliches Bewußtsein‘11 , das im Hegelschen Sinne eine Vermittlung von Geschichte und Gegenwart leisten und das ,selbstvergessene‘ Methodenbewußtsein der Wissenschaft überwinden soll.12 Aus einer Philosophie der 6

7 8 9 10 11 12

H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), Tübingen 5 1986 (= Gesammelte Werke I), 264, vgl. Vorwort zur 2. Auflage, Tübingen 1965, XVIII, in: Gesammelte Werke II (Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Register), Tübingen 1986, 440 („Heideggers temporale Analytik des menschlichen Daseins hat, meine ich, überzeugend gezeigt, daß Verstehen nicht nur eine unter den Verhaltensweisen des Subjektes, sondern die Seinsweise des Daseins selber ist“). Auch dazu O. R. Scholz: Die Vorstruktur des Verstehens, a.a.O., 448-449. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, 314. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, 305. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, 295. M. Heidegger: Sein und Zeit, 232. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, 307. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, 346. Vgl. J. Mittelstraß, Wirkungsgeschichte, in: J. Mittelstraß (Ed.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie VIII, Stuttgart 2 2018, 529-530.

Begreifen versus Verstehen

Hermeneutik bzw. aus einer Hermeneutik als Erkenntnistheorie wird damit gleichzeitig eine Hermeneutik der Philosophie bzw. Philosophie als Hermeneutik. Im Anschluß an Gadamer ist denn auch – um nur zwei neuere Beispiele zu nennen – von Hermeneutik als ,philosophischer Richtung‘ die Rede13 , diese zugleich zum Inbegriff der Philosophie erklärend, und als ,Denken der Moderne‘, das das Versprechen einer ,Verstehbarkeit der Welt‘ einlöst.14 Ganz im Sinne von Odo Marquards subtiler Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, eine Frage, die Marquard selbst mit dem Hinweis auf die ,menschliche Endlichkeit‘ (Hermeneutik als ,Replik‘ auf diese) zu beantworten sucht15 , wird Hermeneutik als ,Philosophie der begrenzten Vernunft‘ bezeichnet, womit sich eine erkenntnistheoretische Perspektive (wie schon bei Dilthey) mit einer anthropologischen Perspektive (wie schon, wenn auch anders, nämlich fundamentalontologisch, verstanden, bei Heidegger) verbindet. In dieser Entwicklung gerät ein systematisches Denken, das sich jenseits eines sowohl universalistischen als auch fundamentalontologischen als auch anthropologischen Verstehensbegriffs, allesamt mit absolutem Anspruch verbunden, zu etablieren sucht, leicht – und vermeintlich aus selbst systematischen Gründen – unter einen Hybrisoder auch Naivitätsverdacht: es hat seine, wie es dann heißt, historischen und anthropologischen Grundlagen, damit auch sein historisches Wesen, nicht verstanden.

13 14

15

G. Figal: Der Sinn des Verstehens. Beiträge zur hermeneutischen Philosophie, Stuttgart 1996, 11. E. Angehrn: Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik, Weilerswist 2004, 128. Einen Überblick über Entwicklungen und disziplinäre Dimensionen des Begriffs des Verstehens bei O. R. Scholz: Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt/Main 1999, 2 2001. O. Marquard: Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: O. Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, 117-146, hier 119.

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2.

Verstehen und Erklären

Zu den systematischen Elementen, die Gadamers ,hermeneutische Philosophie‘ mit Diltheys Konzeption des Verstehens verbindet, gehört die Festlegung der Geisteswissenschaften auf eine Theorie derjenigen Entwicklungen, deren Teil sie selber sind. Eine Folge dieser philosophisch höchst problematischen Festlegung ist eine strenge Dichotomie von Verstehen und Erklären. Nach Dilthey ist der Geisteswissenschaftler Teil jener (geistigen) Welt bzw. jener (geistigen) Entwicklungen, die er zu verstehen sucht; im Verstehen finden bereits diejenigen Regeln (der Verständnisbildung) Anwendung, die Gegenstand der verstehenden Anstrengung sind. Eben darum erweise sich auch ein Erklären im strengen Sinne, wie es für ein wissenschaftliches (gemeint ist dabei immer – auch das nicht ganz unproblematisch – ein naturwissenschaftliches) Vorgehen charakteristisch ist, als unmöglich. Erklären setze eine Distanz zwischen der Weise des Erklärens und seinem Gegenstand voraus, die im Verstehen nicht gegeben sei. Als ob das Verstehen nicht auch ein Erklären und das Erklären nicht auch ein Verstehen wäre. Wer weiß, was Gravitation ist, zu erklären vermag, welche Kraft zwischen benachbarten Körpern wirkt, der hat auch verstanden, warum Äpfel auf den Boden fallen, und wer ein Verstehen, hier eines Fallvorganges, geltend macht, der muß auf Erklärungen verweisen können. Schließlich versteht auch ein Physiker Entropieänderungen, wenn er sie mit Hilfe des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik erklärt, und erklärt ein Historiker etwas, wenn er versteht, was das Scheitern der Weimarer Republik bewirkte. Mit anderen Worten: es ist ein eher oberflächliches Unterscheidungsspiel, wenn nunmehr die Weise des Erklärens methodisch und theoretisch zum Ausweis der Naturwissenschaften und die Weise des Verstehens methodisch und theoretisch zum Ausweis der Geisteswissenschaften erklärt wird. Hier wird nicht nur ein im Grunde vage bleibender Unterschied im Begrifflichen zu einem Systemausweis hochstilisiert, sondern auch ein falscher Dualismus etabliert, der – wie überall, wo er auftritt – weniger klärt als verdunkelt (schon die Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissen-

Begreifen versus Verstehen

schaften, wenn sie absolut genommen als alle Wissenschaftsdisziplinen erfassende Unterscheidung verstanden wird, ist unzutreffend). Aus einer systematischen Unterscheidung wird eine systemische Unterscheidung, aus einer Welt, in der das Verstehen und das Erklären, zumindest gebrauchssprachlich, semantisch ineinandergreifen, werden zwei Welten, in der jeweils nur das eine gelten soll. Natürlich fehlt es nicht an Erläuterungen, die den Übergang von einer begrifflichen zu einer systemischen Unterscheidung philosophisch wie methodologisch zu begründen suchen, so etwa mit dem Hinweis, daß das Erklären von nomologischer, auf ein Gesetzeswissen ausgerichteter Struktur – gemeint ist in der Regel das von Carl Gustav Hempel und Paul Oppenheim entwickelte so genannte HO-Modell der Erklärung16 – , das Verstehen dagegen von teleologischer, auf ein Zweckeund Zielewissen ausgerichteter Struktur ist. Doch das ist, allgemein betrachtet, zu speziell, um einen systemischen Dualismus zu begründen. Schließlich sind auch die Naturwissenschaften durch Zwecke und Ziele, z.B. durch eine grundlagenorientierte und eine anwendungsorientierte Praxis, bestimmt, und sind auch die Geisteswissenschaften in ihrer Arbeit, z.B. in analytischen und rekonstruktiven Zusammenhängen, regelbestimmt, und dies nicht nur in regulativer, normative Gesichtspunkte berücksichtigender, sondern auch in konstitutiver, die begriffliche Bestimmung ihrer Gegenstände betreffender Hinsicht. Deshalb ist auch immer wieder auf die systematische Irrelevanz der Erklären-Verstehen-Unterscheidung hingewiesen worden. Während Karl-Otto Apel sie noch auf eine transzendentale Ebene zu heben versuchte (das Verstehen als eine notwendige Bedingung der Möglichkeit des Erklärens)17 , hat etwa schon Günther Patzig herausgearbeitet, daß diese Unterscheidung weder auf einer begrifflichen noch auf einer epistemisch-klassifikatorischen Ebene zu definitorischen Zwecken

16 17

C. G. Hempel/P. Oppenheim: Studies in the Logic of Explanation, Philosophy of Science 15 (1948), 135-175. K.-O. Apel: Die Erklären:Verstehen-Kontroverse in transzendentalpragmatischer Sicht, Frankfurt/Main 1979.

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taugt.18 In neuerer Zeit mögen dafür Donald Davidsons (ihrerseits problematische) These, daß Handlungsgründe Ursachen sind19 , und Daniel Dennetts, wieder an Dilthey erinnernde, aber neurowissenschaftlich erläuterte Konzeption eines ,intentionalen Standpunkts‘, wonach eine Erklärung von Verhalten über eine Zuschreibung von mentalen Gehalten erfolgt20 , dienen. Selbst in ihrer Kritik läßt das Diltheysche Erbe die Hermeneutik nicht los.

3.

Begreifen und Rekonstruieren

Die Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen – so läßt sich auch formulieren – steht für eine perspektivische, nicht für eine klassifikatorische Unterscheidung. Damit steht auch einem systematischen Denken, das unter dem Diktat einer universalistischen Hermeneutik in Verruf geraten ist, und der Vorstellung einer methodischen und theoretischen Geschlossenheit (sprich Autonomie) seiner Konstruktionen, diese aufgefaßt als Produkte zweckgerichteten Handelns21 , nichts

18

19 20 21

G. Patzig: Erklären und Verstehen. Bemerkungen zum Verhältnis von Naturund Geisteswissenschaften (1973), in: G. Patzig: Gesammelte Schriften IV (Theoretische Philosophie), Göttingen 1996, 117-145. So auch H. Albert, der allerdings vor dem Hintergrund eines festgeschriebenen Dualismus von Mentalismus (für Albert vor allem durch K.-O. Apel vertreten) und Naturalismus mit einer naturalistischen These seine kritische Position selbst wieder angreifbar macht (H. Albert: Hermeneutik und Realwissenschaft. Die Sinnproblematik und die Frage der theoretischen Erkenntnis [1971], in: A. Bühler (Ed.): Hermeneutik. Basistexte zur Einführung in die wissenschaftstheoretischen Grundlagen von Verstehen und Interpretation, Heidelberg 2003, 23-58). Dabei sucht Albert eigentümlicherweise selbst Dilthey auf eine naturalistische Seite zu ziehen: dieser habe „eine Technologie auf nomologischer Grundlage angestrebt“ (41). D. Davidson: Essays on Actions and Events, Oxford 1980, 2 2001. D. C. Dennett: The Intentional Stance, Cambridge Mass. 1987, 13-35. Vgl. C. F. Gethmann: Wissenschaftstheorie, konstruktive, in: J. Mittelstraß (Ed.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie VIII, Stuttgart 2 2018, 562573.

Begreifen versus Verstehen

entgegen. Ein derartiges Denken zeichnet sich, einem ausgearbeiteten und wissenschaftlich (z.B. in Logik und Mathematik) realisierten Konstruktionsbegriff entsprechend und aufgebaut auf einer logischen Propädeutik22 , methodisch durch Lücken- und Zirkellosigkeit aus, kennt keine einem Prinzip der methodischen Ordnung23 praktisch (gemeint ist pragmatisch) und theoretisch entgegenstehenden Abhängigkeiten und kommt gleichzeitig ohne irgendwelche, ohnehin meist falsch verstandenen Letztbegründungsansprüche aus. Seine Grenzen sind nicht ,Grenzen der Vernunft‘, damit Ausdruck von theoretischem Unvermögen oder philosophischer Skepsis, sondern von methodischer und theoretischer Geschlossenheit, die sich durch die realisierte Konstruktion selbst definiert. Ein solches Denken soll im Gegensatz zum Begriff des Verstehens durch den Begriff des Begreifens bezeichnet werden, diffuse Formen des Verstehens in diesem Sinne allenfalls als Vorstufen methodischen Begreifens. Während das Begreifen stets das Resultat begrifflicher und methodischer Arbeit ist, ist das Verstehen – jedenfalls in seiner universalistischen Fassung – ein (unbegriffenes) ,Hineinhorchen‘ in weltliche (natürliche) und menschliche (kultürliche) Zusammenhänge und Befindlichkeiten, die des Verstehenden eingeschlossen. Ein Begreifen steht dabei nicht im Widerspruch zu einer generellen Offenheit bzw. Unabgeschlossenheit allen Bemühens um ein Verstehen, Erklären oder auch Begreifen selbst. Gerade weil der hier explizierte Begriff des Begreifens keine Objektivitätsannahmen etwa der Art, wie sie für naturalistische Konzeptionen und ihr deskriptives Vokabular charakteristisch sind, einschließt, gelten auch für ihn die Prinzipien einer grundsätzlichen (konzeptionellen) Revidierbarkeit und Alternativität, immer vorausgesetzt, daß auch in diesen Fällen an den Kriterien

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23

Vgl. W. Kamlah/P. Lorenzen: Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Denkens, Mannheim 1967, Stuttgart/Weimar 3 1996; P. Lorenzen: Methodisches Denken, Frankfurt/Main 1968, 3 1988. Vgl. K. Lorenz: Prinzip, methodisches, in: J. Mittelstraß (Ed.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie VI, Stuttgart 2 2016, 434-435.

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eines Begreifens festgehalten wird, d.h. auch deren Geltung nicht in eine Beliebigkeit des Verstehens führt. Eine solche Beliebigkeit gilt selbst für den in der älteren wie neueren Hermeneutik vielbemühten und berüchtigten hermeneutischen Zirkel. Dieser besagt, daß das Verstehen sich immer im schon Verstandenen bewegt, alles Verstehen folglich zirkulär, technisch gesprochen Beweis der Voraussetzung ist. Oder anders gesagt: das Verstehen steht dieser Vorstellung nach selbst unter den Bedingungen seines Gegenstandes, weshalb es auch nur die Voraussetzungen reproduziert, die ihm selbst zugrunde liegen. Bei Dilthey gehört er als ein TextKontext-Zirkel zu den Besonderheiten eines geisteswissenschaftlichen Verstehens, bei Heidegger zu den Vollzugsformen des Daseins und zum Verständnis des Sinnes von Sein. Gadamer wiederum sieht in einer Zirkelstruktur des Verstehens seine Skepsis gegenüber allem Methodischen begründet. Während sich ein Begreifen seinen Gegenstand im konstruierenden Verstand aneignet, soll das Verstehen aus sich selbst und damit im wesentlichen methodenunabhängig verstanden werden. Ein hermeneutischer Zirkel, wie ihn Gadamer mit Heidegger diagnostiziert, wiederholt sich hier auf einer höheren theoretischen Ebene. Nicht nur das Verstehen selbst weist eine zirkuläre Struktur auf, dasselbe ist in der Reflexion auf das Verstehen der Fall. Damit holt aber ein praktisches Dilemma, nämlich ein Verstehen, das sich im Grunde selbst nicht versteht, ein theoretisches Verstehen, nämlich ein Verstehen des Verstehens, ein – eine methodisch gesehen heillose Situation. Ganz anders im Rahmen einer Hermeneutik des Begreifens. Hier wird aus einem vermeintlichen hermeneutischen Zirkel eine hermeneutische Spirale. Gemeint ist nach Paul Lorenzen, auf den dieser begriffliche Vorschlag zurückgeht24 , ein mehrstufiges, auf einer logisch und

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P. Lorenzen: Logik und Hermeneutik (1968), in: P. Lorenzen: Konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt/Main 1974, 11-21, hier 20. Dazu auch W. Stegmüller: Der sogenannte Zirkel des Verstehens, in: K. Hübner/A. Menne (Eds.): Natur und Geschichte (X. Deutscher Kongreß für Philosophie, Kiel 8.-12. Oktober 1972), Hamburg 1973, 21-46. J. Bolton: Die hermeneutische Spirale. Überlegun-

Begreifen versus Verstehen

methodisch geklärten Basis beruhendes Verfahren, das im Lichte des jeweils Erreichten vorausgegangene Schritte zu beurteilen und zu ,korrigieren‘ vermag. In einem Interpretationszusammenhang (Stichwort ,Texthermeneutik‘) sehen diese Schritte (nach Lorenzen) wie folgt aus: „1. Feststellung des eigenen Begriffssystems. 2. Kritische Lektüre des Textes mit anschließender Änderung des bisherigen Begriffssystems. 3. Erneute Lektüre und eventuelle weitere Änderungen des Begriffssystems. 4. Weitere Runden, soweit erforderlich.“25 Ein methodisch und begrifflich kontrolliertes, ,aufsteigendes‘ Hin- und Hergehen zwischen eigenem und ,fremdem‘ Wissen sichert hier die Rationalität des Verfahrens und seiner Resultate. Und das heißt auch, daß im Gegensatz zum Verstehen, das sich zirkelhaft im immer schon Verstandenen bewegt, ein methodisch und begrifflich ausgewiesenes Begreifen zu lernen vermag – aus systematischen Gründen und zu systematischen Zwecken. Paradigmatisch gilt ein solches Verfahren gegenüber apophantischen Texten, d.h. solchen, in denen in systematischer Absicht Behauptungen formuliert werden, die sich als Problemlösungsversuche auffassen lassen, und Argumente zum Zwecke der Begründung für diese Behauptungen aufgeführt werden, die deren Geltungsansprüche sichern sollen. Das ist im Kontext philosophischer Texte der Fall und kann insofern als ein methodisches und systematisches Befassen der Philosophie mit sich selbst, d.h. ihrer Geschichte und Gegenwart, gelten. Eben das ist auch gemeint, wenn Immanuel Kant von einer ,philosophierenden Geschichte der Philosophie‘ spricht.26 Eine philosophische Hermeneutik, so verstanden, wäre eine Theorie des begreifenden Umgangs mit sich selbst und mit ihren Texten.

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26

gen zu einer integrativen Literaturtheorie, Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 17 (1985), 355-371. P. Lorenzen: Logik und Hermeneutik, a.a.O., 20. Vgl. M. Gatzemeier: Interpretation, in: J. Mittelstraß (Ed.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie IV, Stuttgart/Weimar 2 2010, 36-40, bes. 39. I. Kant: Lose Blätter zu den Fortschritten der Metaphysik, Gesammelte Schriften, ed. Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902ff., XX (1942), 340.

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Methodischer Ausdruck dieses Umgangs ist die Rekonstruktion.27 Diese bezeichnet ein Verfahren, das im Rahmen der Analyse von systematischen Konzeptionen – Theorien, Theoriegenesen, philosophischen und wissenschaftlichen Entwicklungen – die Ebene der Sätze und Begriffsexplikationen betrifft (daher auch die Rede von ,rationaler‘ oder ,logischer‘ Rekonstruktion). Sie ist dort gegeben bzw. gilt dort als gelungen, der zu rekonstruierende Gegenstand insofern als begriffen, wo eine Konstruktion K’, für einen gegebenen begrifflichen Zusammenhang K substituiert, K nicht nur in allen wesentlichen Teilen korrekt wiedergibt, sondern zugleich diejenigen Intentionen, die K zu erfüllen sucht, besser – zumindest nicht schlechter – erfüllt als K. Insofern unterscheidet sich auch eine Rekonstruktion von einer Interpretation im üblichen Sinne durch die bewußte Veränderung ihres Gegenstandes, allerdings unter Beachtung seiner wesentlichen Eigenschaften. Rekonstruktionen heben, im Unterschied zu Interpretationen, die Distanz zwischen Produktion und Rezeption auf, d.h., sie setzen sich im Sinne der gegebenen Definition an die Stelle des Gegenstandes, mit dem Anspruch, er selbst, nur in anderer, klarerer Form zu sein.28 Die Methode der Rekonstruktion ist zugleich Ausdruck einer Rationalitätstheorie, die alle Formen (sprachliche wie nicht27

28

Zum Begriff der Rekonstruktion vgl. J. Mittelstraß: Forschung, Begründung, Rekonstruktion. Wege aus dem Begründungsstreit (1984), in: J. Mittelstraß: Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt/Main 1989, 2 1997, 257-280, hier 267-273 (3. Rekonstruktion). Ferner P. Lorenzen: Konstruktivismus und Hermeneutik (1972), in: P. Lorenzen: Konstruktive Wissenschaftstheorie, 117-118. Hier auch zur Definition einer (philosophischen oder logischen) Hermeneutik: „Die Hermeneutik begründet Normen zum Argumentieren über Interpretationen“ (114). Kritisch hinsichtlich des ,Nutzens‘ rationaler Rekonstruktionen in der historischen Forschung: A. Bühler: Nutzen und methodische Eigenheiten rationaler Rekonstruktionen im Rahmen ideengeschichtlicher Untersuchungen, Internationale Zeitschrift für Philosophie 2002, Heft 1, 117-126. So auch die Formulierungen in M. Carrier/J. Mittelstraß: Geist, Gehirn, Verhalten. Das Leib-Seele-Problem und die Philosophie der Psychologie, Berlin/New York 1989, 117 (engl. [ergänzt] Mind, Brain, Behavior. The Mind-Body Problem and the Philosophy of Psychology, Berlin/New York 1991, 110-111).

Begreifen versus Verstehen

sprachliche) einer ,Welterschließung‘ – in paradigmatischer Weise ihre philosophischen und wissenschaftlichen Formen – umfaßt bzw. diese als argumentationszugänglich erweist. Dabei kann eine derartige, auf den Begriffen des Begreifens und der Rekonstruktion beruhende philosophische (oder logische) Hermeneutik selbst als systematischer Teil einer philosophischen Konzeption auftreten. Ein Beispiel dafür ist die Monadologie von Gottfried Wilhelm Leibniz, die sich als das Projekt einer solchen Hermeneutik darstellen läßt, nämlich einerseits als eine logische Rekonstruktion des klassischen Substanzbegriffs, andererseits als eine, meist als ,metaphysisch‘ bezeichnete, Konzeption, die ihre Hermeneutik, d.h. die Theorie ihrer Interpretation, gleich mitliefert. Zum Ausdruck kommt dies etwa unter dem in der Leibniz-These einer Repräsentation des Universums in jeder Monade eingeschlossenen Gesichtspunkt einer Perspektivität der Welt, die sich in einer Theoriewelt spiegelt.29 Hermeneutik wird hier selbst zum Baustein einer philosophischen These. Auch in dieser Form erweist sich das Projekt einer philosophischen Hermeneutik nur über methodische Konstruktionen als realisierbar, naturalistische und (im Diltheyschen Sinne) mentalistische Positionen verhindern es. Das wird auch in einer neueren Arbeit zu den Grundlagen der Geisteswissenschaften so gesehen.30 Carl Friedrich Gethmann unterscheidet hier zwischen einer expressionistischen und einer konventionalistischen (,operationalistischen‘) Hermeneutik.31 Eine expressionistische Hermeneutik, so der terminologische Vorschlag, faßt im Anschluß 29

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Vgl. J. Mittelstraß: Leibniz über Forschung zwischen Theorie und Praxis, in: H. Nagl-Docekal (Ed.): Leibniz heute lesen. Wissenschaft, Geschichte, Religion, Berlin/Boston 2018 (Wiener Reihe 20), 55-68, hier 55-61 (Die Einheit des wissenschaftlichen Denkens und der Welt). C. F. Gethmann: Der Geist der Geisteswissenschaften zwischen Naturalismus und Mentalismus, in: H. Joas/J. Noller (Eds.): Geisteswissenschaft – was bleibt? Zwischen Theorie, Tradition und Transformation, Freiburg/München 2019 (Geist und Geisteswissenschaft 5), 17-33. C. F. Gethmann: Der Geist der Geisteswissenschaften, a.a.O., 27-32. Zu einer in diesem Sinne ,konventionalistischen‘ oder, im beschriebenen Sinne, ,konstruktiven‘ Hermeneutik vgl. auch R. Wimmer, Methode, hermeneutische, in: J.

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an Dilthey das Verstehen als subjektiven Ausdruck eines Erlebens auf, eine konventionalistische Hermeneutik als Zweck einer Handlung.32 Das heißt auch: Nur im Modus einer konventionalistischen Konzeption läßt sich Hermeneutik als Teil des zuvor skizzierten Rekonstruktionsprogramms ausweisen, mit dem zugleich (und das ist die zentrale These Gethmanns) eine Grundlegung der Geisteswissenschaften jenseits eines naturalistischen und eines mentalistischen Mißverständnisses – Gegenstände des objektiven Geistes im Hegelschen Sinne (Kultur und ihre Institutionen als Objektivationen des Geistes) entweder als empirisch erklärbare Phänomene oder als Verhaltensmanifestationen – geleistet werden kann. Gadamers Distanz zum Diltheyschen Psychologismus, unter anderem unter Betonung der sprachlichen Verfaßtheit des Verstehens, kann, wenn man von der Erklärung der Hermeneutik zur universalistischen Theorie des Erkennens absieht, als auf dem Wege zu einer auch sprachphilosophisch reflektierten Hermeneutik verstanden werden, realisiert wird dieser Weg im konstruktivistischen Rahmen einer Theorie des Begreifens und der Rekonstruktion. Tatsache ist, daß es eine naturalistische Hermeneutik gar nicht geben kann (das Gehirn als Organ hat keine Zwecke) und daß eine mentalistische Hermeneutik von dem ihr inhärenten Psychologismus, ihrem Diltheyschen Erbe, nicht loskommt. Erst in einem systematischen Zusammenhang mit den Begriffen des Begreifens und der Rekonstruktion, so die hier vertretene These, vermag eine philosophische Hermeneutik aus dem Schatten eines erkenntnistheoretisch verhängnisvollen Naturalismus-Mentalismus-Dualismus33 herauszutreten und zu ei-

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Mittelstraß (Ed.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie V, Stuttgart/Weimar 2 2013, 386-388. So auch schon P. Lorenzen: Konstruktivismus und Hermeneutik, a.a.O., 113. Zur Terminologie von Mentalismus und Naturalismus, auch in historischer Hinsicht, vgl. J. Mittelstraß in: J. Mittelstraß (Ed.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie V, Stuttgart/Weimar 2 2013, 339-340 (Mentalismus) und 503-504 (Naturalismus), zum philosophisch und wissenschaftstheoretisch geklärten Beitrag der kognitiven Psychologie in diesem Zusammenhang M. Carrier/J. Mittelstraß: Geist, Gehirn, Verhalten (siehe Anm. 28).

Begreifen versus Verstehen

ner methodisch und theoretisch unabhängigen systematischen Form zu finden.

Epilog Bedeutet dies das Ende aller philosophischen Verstehensphilosophie? Keineswegs. Es hieße ja, einen philosophischen Hermeneutikbegriff, wie er mit den Begriffen des Begreifens und der Rekonstruktion expliziert wurde, und mit ihm einen Rationalitätsbegriff, wie er hier in Anspruch genommen wurde, über alle systematischen Begriffe zu stellen. Damit würde nicht nur alles, was sich den methodischen und begrifflichen Bedingungen des Begreifens und der Rekonstruktion nicht fügt, einer philosophischen Reflexion entzogen, sondern auch ein Weg eingeschlagen, der philosophisch in einen Szientismus führte, d.h. in ein reduktionistisches Programm, in dem den Wissenschaften, ihren methodischen Idealen und Verfahren eine alleinige, universelle Erklärungskompetenz zugesprochen wird – eine selbst wieder aus methodischen und begrifflichen Gründen schwerlich haltbare Position. Oder anders formuliert: Lassen wir in unseren Systematisierungsbemühungen, die eine philosophische und wissenschaftliche Perspektive verfolgen, Raum für das Leben, das sich nicht erst begrifflichen und methodischen Ordnungen verdankt, für das in diesem Sinne Bunte, Unordentliche, ja (vermeintlich) Undenkbare, den schlichten Einfall, den konkreten Traum. Ein Systematisierungsnetz auch darüber zu legen, würde bedeuten, sich selbst ein Bein zu stellen, eine geregelte Armut (der wissenschaftlichen Rationalität) einem ungeregelten Reichtum in allen Belangen vorzuziehen, das Methodische, das uns zu Wissenschaftlern macht, auch gegenüber dem freien Spiel des Unmethodischen, das uns zu Künstlern macht, zur Geltung zu bringen. Das gilt auch für das Verstehen und das Begreifen. Für das Verstehen ohnehin, weil es auch jenseits alles Methodischen zu siedeln vermag, für das Begreifen dort, wo es um die Belange der Urteilskraft und um den Willen, im Gelernten wie im Ungelernten zu lernen, geht.

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The Falling Apple – A Short Story of Gravitation Gernot Heißel At the example of historic theories of gravitation we elaborate on the method of natural science with an emphasis on systematical and epistemological aspects. We then draw analogies to hermeneutics with respect to interpretation and understanding.

1.

Introduction

Hermeneutics traditionally deals with theories of the interpretation of texts and understanding. As I learned from the dialogue with Prof Kaus and from the invitation to this symposium, today this term is given a far wider reaching meaning. Still: My own field of expertise, gravitational physics, seems rather far away from this topic at first glance. However at a closer examination, a little bit of reflection on once own activity as well as on the method of natural science in general, it becomes clear quickly that also in natural science one deals with interpretation on a daily basis – and always with the goal of understanding as well. For instance, if you ask a group of physicists today what gravitation is, you may not always get the same answer. One common explanation would be that gravitation is one of the fundamental forces of nature, precisely that force which is responsible for the attraction of massive bodies. Another common answer which is frequently given is, that gravitation is that natural phenomenon by which massive bodies curve space (or rather space-time) around them, and by which this curvature dictates the movement of bodies in return. But which explanation is

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now correct? The answer is: both! However both explanations interpret the term gravitation in the framework of two distinct theories. The first explanation, the one referring to a force, consults Isaac Newton’s theory of gravitation, while the second explanation, the one with space-time curvature, invokes Albert Einstein’s theory of gravitation. Modern physics formulates its laws of nature and theories in the language of mathematics. Mathematics in its own right, as formal science, is a priori disjoint from reality. While mathematics itself does not allow for interpretation, it is the connection between nature and mathematics, which a physicist draws, where interpretation enters. Structures of nature are identified with mathematical structures. Laws of nature are extracted as essence of natural phenomena and forged into mathematical form. These processes are not unique. Different theoretical approaches can yield success and a better understanding of nature, or they can fail. As the judge, for the modern physicist, serves the experiment. In the present work we illustrate these circumstances at the example of gravitation, and we elaborate how our understanding of this natural phenomenon – or from the point of view of hermeneutics, its interpretation – has changed and been refined over the centuries. For this we restrict to the occidental tradition and in Section 2 summarise the landmark contributions of Aristotle, Newton, Galilei, Kepler as well as Einstein. We therefore do not claim historic completeness or precision, but rather seek to give insight into the method of natural science. In Section 3 we then reflect on to what extent this method seeks to understand through interpretation, and draw respective analogies to hermeneutics. We conclude with a brief discussion in Section 4.

2.

A short (hi)story of gravitation

In this section we summarise the theories of gravitation of Aristotle, Galilei, Kepler, Newton and Einstein in historical order, and put an emphasis on conceptual and epistemological aspects.

The Falling Apple – A Short Story of Gravitation

2.1

Aristotle

(384-322) In the physics of Aristotle, every body is a composite of four elements which are organised in the following natural order: earth on the bottom followed first by water and then air above, and finally fire on the top. Heavy bodies are made up of a larger fraction of the lower elements, while light bodies contain more of the upper ones. A naturally moving body is then seeking to take its place in the natural order. Therefore rain and stones fall, clouds float and flames point to the sky. Bodies undergo this natural movement as long as there is no outer influence which prevents them from doing so. A ripening apple hangs on a tree and seeks to fall. However it will only do so once it is ripe and the joint of stem and twig became too weak to keep it floating. Stones fall. However one can also pick up a stone, throw it and make it move upwards, at least for a while. Aristotle described all motion in this unified framework of the two categories of natural and forced movement. Gravitation is thereby explained as being the natural movement of heavy bodies, which contain more of the lower elements, to seek their place in the natural order, ie the ground. Apart from its universal framework, another particularly appealing aspect of Aristotelian physics is that it is describing the world as we experience it around us with our own senses in a straight forward and intuitive fashion. It makes intuitively sense that a common stone contains more earth than air or fire, and indeed we see stones falling, clouds floating and flames tending to the sky with our own eyes in our everyday lives. However, the physics of Aristotle is more than just intuitive. It can even serve as basis for engineering. A historical example is the invention of the hot air balloon by the brothers Montgolfier in ca 1783 – an achievement essentially based on Aristotelian physics; cf [1].

2.2

Galileo Galilei

(1564-1642) The anecdote says that Galilei experimented with falling bodies by dropping them from the Leaning Tower of Pisa. While this is

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most certainly just that – an anecdote – what is true is that he did carry out experiments on free fall in his laboratory. He rolled objects down inclined planes, by which he slowed down the vertical, falling component of the motion and thereby artificially removed the influence of air friction. His results thereby hold for objects falling in vacuum and what he found was remarkable: In vacuum all objects fall with the same speed and acceleration, irrespective of their weight, shape and composition. An apple, a stone, a feather and a drop of water all hit the ground at the same time and with the same speed, when dropped from an equal height in vacuum. More precisely he found that the fall velocity ẋ is proportional to the time lapse t since the body has been dropped, and the fall distance x is proportional to the square of that time lapse. In the language of mathematics,   (1) x˙ ( t ) ∝ t     and     x ( t ) ∝ t 2 .   These are Galilei’s laws of falling bodies – his laws of gravitation. In contrast to Aristotle’s notion of gravitation, Galilei’s laws are less intuitive. They do not describe the world as we experience it in everyday life, but an abstraction thereof. After all, vacuum is a rather artificial environment. The objects we see falling are falling in the medium of air. Therefore they do not fall universally but in dependence of their mass and shape. Hence, the price Galilei payed is abstraction and the loss of intuitivity. The gain he achieved in return was a deeper insight into the workings of the fundamental natural phenomenon of gravitation, since he managed to isolate it from other influences at play which would otherwise obscure the view onto its true nature. The empiricism of Galilei went therefore one step further than drawing conclusions from plain observations of nature around us. He controlled the environment in his laboratory and thereby created a small artificial world which we might not experience in our everyday lives, but which is better suited to examine the fundamental principles of nature in an isolated fashion. This is a core difference between experiment and observation. Galilei’s method of winning insights via

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controlled abstraction is an integral part of physics and natural science in general even up until this day. Another aspect which is of fundamental importance up until today is the formulation of the laws of nature in the language of mathematics, which thereby allows for quantitative and not only qualitative statements and predictions. A mathematical theory is therefore vulnerable since it opens itself up to experimental falsification, much more so than a theory which only makes qualitative statements. This is good, since on the one hand it allows one to identify those theories which do not agree with experiment with high resolution. On the other hand, the more experimental tests such a theory will pass, the more robust and the greater its predictive power will be.

2.3

Johannes Kepler

(1571-1630) Around the same time at which Galilei conducted his experiments on falling bodies, his contemporary Kepler achieved a milestone in the understanding of the works of celestial mechanics – the theory of motion of celestial bodies. Kepler’s laws state that the planets move along elliptical orbits, in the focus point of which there lies the sun. Furthermore, they also state how precisely these ellipses are shaped, and how fast the planets move along them at each point in time. Just as Galilei, Kepler expressed his laws as mathematical formulas which could be tested by experiment to high accuracy. In contrast to Galilei – ‘eppure si muove’ (and still it moves) – Kepler did not get in trouble with the Inquisition albeit his heliocentrism, for his cause for the nature of the orbits was theological. The ellipses, so Kepler, are god’s expression of the harmony of the world; cf [1].

2.4

Isaac Newton

(1643-1727) At the time of Galilei and Kepler, the falling of bodies on the ground and the motion of celestial bodies were understood to be two distinct natural phenomena. It was up to Newton to provide a unified theoretical framework for both.

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According to his first law of motion, the natural movement of a body is to stay at rest, or to move with uniform speed along a straight line. Any deviation from that is due to the action of a force F onto the body, which dictates its acceleration ẍ modulo a constant – the mass m of the body:   (2) F = m ¨x .   This is Newton’s second law of motion. For the purpose of this text we shall summarise his third law of motion – ‘actio est reactio’ – as stating that forces in nature always mutually act between bodies. Together these three laws describe all motion. To understand how we need to say more about the nature of the force. We take the gravitation between two bodies of masses m and M as an example, for which Newton gives the law   (3) F ∝ mr 2M n .   In words, the force between the bodies is proportional to their masses, inversely proportional to the square of their mutual distance r and it acts along the direction n of the straight line connecting those bodies. If we consider for example an object, say an apple, falling to the ground in vacuum, then m is the mass of the apple, M the mass of the earth and r the distance between the apple and the centre of the earth. To solve this problem, one has to plug (3) into (2) which yields   mMn. (4) m ¨x ∝ – r2   The mass of the apple m appears on both sides of the proportionality. Hence we can cancel it. This means that the motion of the apple due to its gravitational attraction to the earth is independent of its mass, which is consistent with Galilei’s findings; cf Section 2.2. Furthermore, from (4) we recover Galilei’s laws of falling bodies (1) by integrating twice



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with respect to time.1 Hence, we showed that Newton’s laws of motion, together with Newton’s law of gravitation, cover the physics of falling bodies. But in Newtons theory gravitation is far more than just falling objects near the surface of the earth. Let now m be the mass of the earth, M the mass of the sun and r the distance from the earth to the sun. Then the solution to (4) turns out to be the elliptic orbit along which the earth moves around the sun, in full agreement with Kepler’s laws; cf Section 2.3. This is remarkable since as stated above, up until Newton the falling of bodies to the ground and the motion of celestial bodies in the sky were viewed as two disjoint natural phenomena. Newton unified both and more in the common framework of his mechanics, together with his law of gravitation. With this ability to describe a vast number of natural phenomena by deduction out of just a hand full of principles expressed in form of mathematical equations, Newton’s theory represents the first fundamental theory of physics in the modern sense of the term. Before we move on we note an aspect of importance from an epistemological point of view. For his concept of the force Newton earned a lot of criticism from many of his peers at the time, for it being a postulated entity which no one could see, feel or directly measure. Hence, so his critics, Newton would be a spiritist; cf [1]. Newton countered pragmatically. While the force itself is not directly measurable, what is measurable however is the effect of a force on the motion of a body. Hence it works as a concept, and very successfully so. The question whether or not those forces actually exist as real entities is of metaphysical, not physical nature. This point of view of only prescribing a physical reality to those aspects of a theory which are actually measurable and thus falsifiable by experiment is still held by natural scientists up until this day. This of course does not mean that in natural science one cannot be open to the possibility that non measurable aspects of a theory might also be 1

Note that the distance traveled by the apple as it falls to the ground is small in comparison to the distance from the apple to the centre of the earth. Hence 1 /r 2 is approximately constant.

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linked to real entities. It only means that the method of science cannot confirm (or rather falsify) that and thus cannot make that claim.

2.5

Albert Einstein

(1879-1955) By the end of the 19th century physicists had developed three major theories, today’s names of which are accompanied by the prefix ‘classical’: Newton’s classical mechanics (cf Section 2.4), classical electrodynamics and classical thermodynamics. Together those theories described the known physical aspects of nature so well that many physicists of the time even thought that all the major problems of physics would be solved, and what would be left to do would be to merely sort out a few discrepancies here and there. But it was precisely those small discrepancies which pointed towards new fundamental physics. We shall once more follow this development at the example of gravitation: Amongst other phenomena, classical electrodynamics describes light as electro- magnetic waves, and very successfully so. Since all other known waves at the time were known to propagate within a medium, physicists postulated the existence of such a medium also for electromagnetic waves. This hypothetical medium was given the name aether. However despite continuous efforts the effects of such an aether could never be measured in an experiment. It was this discrepancy between theory and experiment which lead Einstein to the development of a new, consistent theory which does not require an aether. The theory he came up with in 1905, today known as special relativity, was an ingenious upgrade of Newton’s classical mechanics. However while it was consistent with electrodynamics by construction, Einstein failed to come up with a special relativistic law of gravitation to equip his new theory with. This inconsistency in his theory again led him to modify it until he finally could make it compatible with gravitation. The result was what is known today as the theory of general relativity. General relativity describes gravitation no longer via the Newtonian force concept. In its place Einstein allows space and time, which in

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his theory are best viewed unified as space-time, to be curved. It is the masses of bodies, or other forms of their energy, which curve spacetime. And in turn, the curvature of spacetime dictates the motion of the bodies. In mathematical form this reads   (5) Rµν – R2 g µν ∝ Tµν ,   where the left hand side gives a measure of spacetime curvature, which is proportional to the mass and energy of the matter written on the right hand side. This is the Einstein equation. Consider now the case where we have two bodies of masses m and M respectively, and let M be much larger than m, so it predominantly dictates the curvature of spacetime. If there are no forces acting on these bodies,2 then the less massive body will move along the straightest possible path in the curvature created by the more massive one. In the language of mathematics this kind of path is called a geodesic. This description fits both the scenario of the falling apple near the surface of the earth, as well as the motion of the earth around the sun. In other words, Einstein’s theory describes the falling of bodies and the motion of celestial bodies by the same principles and laws, just as Newton’s theory did as well. This raises the question how Einstein’s theory is better than Newton’s. There are several answers to this question. The first answer we already hinted at above: general relativity represents a consistent framework for both, electrodynamics and gravitation, and which requires no aether. Secondly, Einstein’s theory is more accurate. For instance general relativity predicts the planetary orbits not to be rigid Kepler ellipses, but rather Kepler ellipses which slowly rotate (or precess) themselves a tiny bit at a time. And this effect could later be measured reliably for planets and other celestial objects. Thirdly, general relativity predicted phenomena which were not covered by Newton’s theory, such as the evolution of the universe and the existence of black holes. 2

Recall that gravitation is no longer a force in general relativity, so here we mean the absence of electromagnetic forces, etc.

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How so? The fact that general relativity views gravitation as a manifestation of space-time, and that it provides a fundamental law, the Einstein equation (5) to determine its dynamics, also made it possible to consider the evolution of all of space-time, ie the universe as a whole, as opposed to just the evolution of a small fraction of it, such as apple plus earth. How about black holes? When enough mass is concentrated in a small volume, then according to general relativity the space-time curvature is that high, that nothing, not even light manages to escape this volume. The geodesics simply do not leave anymore once they entered. Both, the consequences of an evolving universe, as well as of black holes are so far in remarkable agreement with experiment.

3.

The bridge to hermeneutics

In Section 2 we learned about the historic landmark theories of gravitation from Aristotle to Einstein. All of these describe the same natural phenomenon, however in quite different ways. One can view this from the angle, that a natural scientific theory is an interpretation of nature, or rather of some aspect thereof. While hermeneutics, in the classical sense, deals with the interpretation of literature, natural science deals with the interpretation of the ‘book of nature’. The purpose of both epistemologies is of course to reach a deeper understanding of the respective sources. In this section we elaborate on how interpretation enters the method of natural science and in which way it helps to understand nature. With respect to interpretation, we limit our considerations to those aspects which are intrinsic to the core methodology, and leave some comments on further aspects of interpretation for the discussion in Section 4.

3.1

Interpreting nature

Where exactly do interpretations enter the method of natural science? Figure 1 shows a system context diagram of the method at its core. We take the example of physics.

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Physicists observe nature or some aspect thereof. On this basis they forge theories which describe these aspects and more. Ideally one wants a theory to be applicable to an as wide set of phenomena as possible, and not only to those phenomena which inspired its design. Theories of physics are formulated in the language of mathematics which allows for quantitative, as opposed to only qualitative, predictions of experimental outcomes by calculation, ie deduction from the fundamental laws. These predictions can then be tested against experiment. If experiments find disagreements with theoretical predictions then the theory needs to be modified or even discarded, or its domain of applicability needs to be restricted. The more experimental tests a theory survives the more rigid it is and the more trust is given to its validity. The interior of the dashed box in Figure 1 marks those aspects of the method which are essentially free of interpretation. Abstract mathematics, as a formal science, is detached from reality. Its theories are forged with the hammer of Aristotelian logic and its theorems do not allow for interpretation. Since a physical theory is formulated in the language of mathematics, the same holds for it in the abstract sense. However interpretation enters at the interface with nature when physical quantities are identified with mathematical ones. This step is essential, since otherwise a theory of physics would be of no use to understand the real world.

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  Figure 1. System context diagram of the method of natural science at its core. The interplay between theory, experiment and mathematics in the interior of the dashed box is interpretation free (thin arrows). Interpretation inevitably enters at the necessary interfaces of these processes with nature (thick arrows).

3.2

How to tell better from worse interpretations?

There are no clear rules how to make those interpretations – how to translate nature into mathematics. Different approaches can lead to success, or also fail. In Section 2. for instance, we met several examples of theories which successfully described the scenario of the falling apple to high accuracy, even though those theories declared completely different concepts and laws as their core principles, and were formulated in the languages of different branches of mathematics. This raises the following question. If there are many ways to formulate a theory of physics to describe the same natural phenomena to

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satisfaction, then how can one tell the right from the wrong theories? Or are all these interpretations of nature on equal grounds? The answer is of course more subtle. We have touched it already in our discussion in Section 2. One can say that none of the theories discussed there are wrong. But they are not equally valid either but rather applicable with different degrees of generality and to different accuracies. While Galilei’s theory is only applicable to falling bodies near the surface of the earth, Newton’s theory universally describes attraction between massive objects – its domain of application is larger. Einstein’s theory does the same, but to higher accuracy and furthermore it also describes the dynamics of the universe. Hence all these theories are valid, but within different bounds, and to different accuracies. Ergo, natural science is in the position to tell which interpretations of nature are superior to others, and the judge to determine this hierarchy is the experiment. In the end of the day what counts for a theory is not so much how elegant or plausible it is, but rather if it manages to make predictions which agree with experiment, and thus with nature under the lens of interpretation.

3.3

Understanding nature

To what extend does the method of natural science help to understand nature, and understanding in what sense? We already mentioned that theories which surpass experimental tests are given trust, and the more and the more accurate these tests, the stronger that trust. Trust thereby means that one awaits predictions of these theories to hold by induction, even if these concrete predictions have not yet been tested. However there is of course no guarantee. Thus, the method of natural science does not produce knowledge in the sense of absolute truths, but rather insights which are known with different degrees of certainty.

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Nevertheless the machinery illustrated in Figure 1 is able to continually improve and refine those insights, such that they become rigid enough so that for example engineers use them to construct airplanes, computers and more. Engineers make use of the theories provided by natural science to construct things which people can use. Hence, from a pragmatic angle one can argue that if we are able to engineer all these things with the insights of natural science while being unable to do so without them, then obviously with those insights we must have a deeper understanding of nature than without them. This argument is often criticised to be too pragmatic and materialistic. However we are by no means limited to it. Let us for a final time return to the scenario of the falling apple, and to Galilei in particular; cf Section 2.2. One of the main achievements of his laws of falling bodies was to free the view on gravitation by isolating it from the obscuring influence of air friction. His theory thus offered a higher resolution view on nature than we had before. And if we can clearly distinguish between two different aspects of nature after Galilei which we could not before him, then so one can argue, Galilei helped us to understand nature a little better. Perhaps the most accessible argument however, of how natural science helps to understand nature, is by how it as a whole provides an ever greater and more detailed picture of the world, and of our place in it. Biology explains the works of ecosystems. Geology informs us about the constitution of the landscapes around us. Astronomy helps us to understand the works of the universe, and shows us our place in it.

4.

Discussion

In the preceding sections we gave an overview over historic landmark theories of gravitation with an emphasis on systematical and epistemological aspects. With the intention to draw analogies to hermeneutics, we elaborated on how interpretation necessarily enters the natural scientific method and in what way natural science helps to understand nature.

The Falling Apple – A Short Story of Gravitation

Our discussion of interpretation thereby had two major limitations. First, we used the term ‘interpretation’ in an intuitive way, to be able to draw analogies straight forwardly. We may thus not have used it in the strict way in which it is used in hermeneutics. Secondly, our considerations were limited to aspects intrinsic to the core methodology of natural science. We neglected interpretation in relation to human cognition. Everyone is trapped in one’s own mind, and hence also scientists can only interpret, say an experimental outcome, through the lens of their own cognition. This important aspect has the potential to gives rise to further bridges between natural science and hermeneutics. For the present discussion we leave it at the statement that natural science has mechanisms to deal with this, such as the demand for reproduction of results or peer review, and leave open a closer examination for future work.

References [1] H. Pietschmann, Phänomenologie der Naturwissenschaft: Wissenschaftstheoretische und philosophische Probleme der Physik, Ibera Verlag - European University Press, 2007.

Notes My gratitude to Prof Rainer Kaus for the invitation to and funding for the symposium, ‘Hermeneutik im Dialog der Methoden’ (Universität zu Köln 2020), for which the present work represents my contribution. Furthermore, thanks to all the participants for constructive interdisciplinary dialogue during the symposium. My thanks as well to Prof Herbert Pietschmann who via his books and lectures on the philosophy of science encouraged me to widen my horizon beyond my own field of research and to engage in interdisciplinary activity.

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Hermeneutics and Intersubjectivity Gabriel Motzkin

I recently gave a talk at the ETH on the development of the modern concept of a subject. The talk was criticized for not paying attention to the phenomenon of intersubjectivity. It was to no avail that I explained that the notion of intersubjectivity was completely absent from the early modern texts that I had been considering. Not even Kant wastes one word on intersubjectivity. Why? Put another way: why did the social community in which we live only become somewhat of an issue in the nineteenth century? Today the community is a central issue for philosophers. Just look at Habermas. You can criticize our conceptions of intersubjectivity and community as being hopelessly vague. We cannot precisely delimit a community, a social context, or any human interaction beyond two people. I have some unclear idea of what is happening when I am talking to someone, but I have no idea of what students in a classroom are thinking when I am teaching, or indeed what you are thinking when you are listening to this lecture. Yet your inscrutability is not the same as Kant’s. I am opaque to you and you are opaque to me because we assume that you and I are different on so many levels, male and female, Jew and German, old and young, and so forth. We assume that these biological, historical, and social differences determine our consciousness, and that opacity is a consequence of our being determined in different ways. Yet if we were successful in removing that opacity, with what would we be left? Our assumption is that we would still be different, for some inherent reasons, e.g. our having different life-experiences, and that our being together

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Gabriel Motzkin

in a community composed of different people is what makes it possible for us to communicate, i.e. to make that difference accessible to each other. Communication is supposed to be about the articulation and the exchange of difference. This is not at all what anyone who lived before the nineteenth century thought about these issues. In a society in which social differences were marked and self-evident, philosophers thought that we all possess the identical consciousness. I may have problems reaching the external world, e.g. Kant’s thing-in-itself, but I really don’t have any problems in understanding you. The reason is that for Descartes and for Kant you and I possess identical consciousnesses; at least with respect to any of the important issues about understanding the world. This position has been misunderstood as a solipsism, which it is not at all. Rather, I can place myself in your position, I can see me as you see me, because entering your mind is like entering my own mind. The basic subjectivity that informs the world is a universal subjectivity – it is a subjectivity for which the issues are the ability to know objects, the capacity to have access to them, and the capacity to provide knowledge with absolute certainty. Descartes knew perfectly well that he was limited in time and space, and that he was going to die. What he (and Kant) wanted to know is what aspect of his consciousness can provide certain knowledge. For that, they did not need to interview anybody else, since they were convinced that in this respect all minds operate in the same way. Their question was rather to figure out what is this identity, i.e. how do minds operate. To do that they needed to execute an empirical study of the mind, one in which it turns out that the mind must assume that its capacities vis-à-vis the world are a priori procedures. Yet this aprioricity of the mind is only discoverable through an exploration of the mind. Any consideration of intersubjectivity would be detrimental to that exploration, and it is also unnecessary, since my mind is like your mind. In some ways, this is not much different from Hermann Ebbinghaus, the pioneer of the empirical study of memory. He had one empirical subject for his experiments, himself. It is also not much different from the journey of a mathematician to an island where all the trees have been

Hermeneutics and Intersubjectivity

replaced by equations. All the mathematician needs to do is to observe the trees, i.e. the equations. In contrast, hermeneutics, as a method for interpreting literature, assumes that texts start out as being opaque. If texts said just one thing, there would be no need for a method to find out what they say. The basic idea is that a method of interpretation can provide the interpreter with a deeper understanding. Note the metaphor: depth. Depth has two assumptions. One is that there is something hidden beneath the surface. The other is that this depth is perspectival: I adopt a particular point of view, and that point of views permits me to imaginatively reconstruct an added dimension, one that is not provided by the physicality of the text, which is a system of symbols written across a one-dimensional piece of paper. The paper is one dimension, the written text is another dimension, and understanding takes place in the third dimension, a dimension that is not physically present in either the piece of paper or the text that is written on it. Depth assumes that understanding is not just a physical process, just as interpreting a perspectival painting takes place in the mind of the observer; some other species will fail to see the perspective in the painting, as little as some dog recognizes that a dog on a television set is a representation of a dog. That conclusion would mean that if something is clear, then it has no depth. We do not think that two plus two requires either depth or interpretation. Yet we all know that apparent profundity has often been mocked, especially as an excuse for lack of clarity. There is however still another reason why two plus two is not an object for interpretation: namely, it is not a text, and even if it appears on paper we refuse to treat it as a text. That denial of textuality is not only true for mathematics, it is true for most of the natural sciences, which aim to make clear and conclusive statements about the real world, statements that cannot be interpreted in different ways, and moreover statements that deny that they are being made by a subject. Just as there is no return to the subject, there is no return to the text, for no process of clarification is necessary. For different reasons, there is no return (epistrophé for the Neoplatonists) in life as well. Time and change are the rules of life, whereas in scientific laws, as in religion, we seek what does not change. We assu-

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me that, while the world changes, its laws do not. Cosmic inflation may change in speed, but the rules of speed do not change. In contrast, for hermeneutics, while texts do not change, but our interpretation of texts changes all the time. When we claim that in a text everything is in flux, we are discomfited, and if we were to claim that all interpretations are as unchanging as scientific laws, the historicity of texts would gainsay us. Most of history is not textual. People kill people, make wars, set up businesses, emigrate and immigrate, all without any reference to texts. Indeed, many of the people who have been important in history, such as Attila the Hun, or Charlemagne, have been illiterate. However, most of what counts as historical interpretation is textual. The philosophy of history is one such genre of historical interpretation. Even though it can point to an extra-textual realm of experience, it is unimaginable without its being anchored in texts. The philosophy of history is one way of extracting meaning from history, much as we seek to divine meaning in our own lives. Yet most of our pursuit of meaning in our lives is not textual. Most of us rarely commit our thoughts to paper, and when we do so, we proceed in a highly selective manner. Biographers who imagine a life from remaining documents must commit themselves to filling in the gaps in the documents, to inventing the people whom they portray. That is, biographers, much like literary critics, must subscribe to hermeneutical rules in the interpretation of texts. In other words, the points of contact, the mediations between texts and lives, are subject to the rules for texts and not the rules for lives. One example where we can see this is in reading historical documents. Yes, when we are looking at the Magna Carta in the Tower of London, we are looking at it right now, and not on June 15, 1215, when it was signed. But we are perusing the Magna Carta as if it were not subject to the law of time, as if it did not share in our temporality. We shall die, but the Magna Carta will last until it shall be destroyed. In our gaze, it has no inherent time. The first rule for interpreting texts is that we need to suspend our own temporality in order to grasp the textual nature of the text. That does not mean that we are liberated from time.

Hermeneutics and Intersubjectivity

We all know how dated are past interpretations of texts , so that we can know almost immediately when they were written. But when they were written, their authors seemed to themselves to suspend time for an extended moment. In interpreting texts, we address their nature as texts more than our nature as sentient beings, even if our own sentience be the precondition for our living consideration of texts. When we analyze texts, we have two fantasies. We call the one intertextuality, and we call the other invented subjects. The fantasy of intertextuality is that texts talk to other texts. This intertextuality is a fantasy because no text talks to another text without the mediation of a human being who is not a text. There is no direct communication between texts. Moreover, a reader who can understand the plain meaning of a text is necessary for intertextuality. I am a human being, but I do not know Urdu. I cannot mediate between two texts written in Urdu. In olden times, when people read in groups, and later, when they read out loud, this point was well understood, because the metaphor for a text was not an internal dialogue. The second fantasy is only a half-fantasy, because someone called Plato, who is presumed to have written his Dialogues, is also presumed to have really existed. Still, the Plato who wrote the texts that I am reading is a figment of my imagination. Reading texts is similar to intentional dreaming. In dreams, it seems to us that we don’t really control the plot. Things happen in dreams, and we react to them. Moreover, in most dreams it is often hard for us to remember how the dream started. Yet in a dream we are often convinced of the reality of what we are experiencing. While reading a text is like dreaming, writing a text is not like dreaming. The fantasy of a writer of texts is that someone will read the texts that she or he is writing. However, when I am writing a text, unless it is a letter, I don’t know the reader, but rather imagine him. I am inventing both the text and its addressee. Inventing the addressee has consequences for texts because it thus turns out that intertextuality is based both on the interaction between texts and on the interaction between the writer and the imagined addressees. Sometimes we can figure out who were these imagined addressees. However, whether or not we

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can imagine the audience for a text, imagining the addressees means that the interpretation of texts, hermeneutics, is based on an imagined intersubjectivity, even when we believe that the reader is just like us, i.e. has a consciousness that is identical to ours. It should be noted that an imagined intersubjectivity is not a real one. Hermeneutics can expose the play between imaginations, which is what distinguishes the interpretation of texts from real life. We interpret historical experience in two quite different ways, ways that seem to be related, but where the relation between them is not clear. One kind of way is to write, for example, that the German experience of Hitler had the following meaning … x, y, z. To prove or disprove this, we either assemble texts from the time, or analyze subsequent historical texts written after Hitler’s demise. The other way is to write that the meaning of human history is x. Here we cannot use texts in the same way, because we are either analyzing texts in which the meaning of human history is not addressed or we are addressing texts which are already at one remove from historical experience. My writing a text about the meaning of human experience is more the product of my own construction which I then apply to what I know about some history. We can call this second kind of thinking about history the philosophy of history. The philosophy of history is then a top-down endeavor and not a bottom-up endeavor that is educed from an alleged historical facticity. In this respect, the philosophy of history is like hermeneutics, because hermeneutics is also a top-down experience, with the significant difference that the top is not universal history, but rather the interpreting subject. This change in the point of origin for interpretation is not trivial. We almost never address or interpret the world or the universe as a particular, whereas a hermeneutical procedure is one in which a particular subject confronts a particular text, and only then can we generalize. Moreover, the rules for generalization are either unclear or variable, since we do not import an external rule for generalization but always induce from the particular text-event. Thus we obtain different world-pictures if we start with the world or start with the subject. But the two are complementary, so it could be inferred that the philosophy of history is the objective counterpart to hermeneutics. Together

Hermeneutics and Intersubjectivity

they encompass the universe of access to text. What is notably interesting here is that it is hermeneutics that raises the question of what is beyond the text, since the knowing subject is beyond the text. More precisely, the subject’s entanglement with interpretation in hermeneutics is not like the philosophy of history’s entanglement with history. In hermeneutics the world beyond the text encircles the text, whereas history does not function as a real that is beyond with respect to the philosophy of history. These ruminations may seem esoteric, for the philosophy of history is an arcane and obscure subject that is practiced by few people. The reason that hermeneutics is more popular is that the object is one or a set of texts. Few who practice hermeneutics seek to interpret the totality of all texts. In contrast, an effective philosophy of history does not seek to explain one event or one text. An effective philosophy of history, such as Hegel’s or Marx’s, claims to explain all of history, so that potentially no text or event can fall out of the conspectus of a philosophy of history. This claim is obviously falsifiable: any philosophy of history must select a certain set of historical objects as more significant than some other set of historical objects. Yet we shall continue to engage in totalizing enterprises, both because we think that what is an explanation for totality is more valid than what is an explanation for a select phenomenon, and because we are inherently oriented to seek absolute meaning. Falsifiability does not modify our basic proclivities. For example, even if we were to obtain an empirical proof that there is no God, that atheist proof would not hinder us from searching for such a God. However, there are different genres of totality, and the genre of totality to which we incline has consequences. One division of totalities is one between the closed and the open, well captured in the title of a book by Alexandre Koyré, From the Closed World to the Infinite Universe. In the Logik, Hegel distinguished between two kinds of infinity, one that we can conceive of as being more like a line, and the other as a circle. Hegel preferred the circle. The totality presupposed by hermeneutics is also like a circle, for the idea is that you return enlightened to the original point. The advantage of this model is that at some point your

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journey is over. It is the perhaps false intuition that at the moment of death you will have an intuition of the whole. While our universe is not linear in the way that Koyré thought about it, it is openly infinite in the sense that it itself is expanding. In all directions new spacetime comes into being as a consequence of the expansion of the universe. This is not a linear process, because for reasons we do not yet know, the speed of light, apparently, can slow down or speed up. The assumption behind cosmic inflation is that the first expansion of the universe either took place at a speed faster than light, or that light had a different speed at different times. That is a real problem because you don’t know the speed of something before there was light, and once light exists, something moving at a speed faster than light is moving into the past. In this model, our point is that interpretation cannot be conceived as a circle, because we cannot posit any return to the point of departure. Hence there can be no reconciliation between our model of the physical universe and our hermeneutics. Return is possible only as an operation of thought, and not of nature. We do not relate to texts as objects of nature. In a quite specific way, we have neither memory of the big bang, nor can we experience the big bang, but the text is something which does not vanish in my limited present or future. I can always check my interpretation against the text, while I cannot check my physical theory against an experience of the big bang. The reason we regard the big bang as an object for scientific research and the interpretation of say Wilhelm Meister as literary analysis is that we can exclude certain theories of the big bang, whereas even an interpretation of a text that we view as less insightful may prove rewarding. Nonetheless, any hermeneutics must have a subject outside the circle of interpretation, whereas as a measurer of a quantum or of a cosmic relationship, I am not outside of the cosmos. It is because I am in the same cosmos that I can change, albeit unintentionally, the status of the quantum or the cosmos, that I can determine whether Schrödinger’s cat is dead or alive. Notice that I determine whether the cat is dead or alive, not whether I am dead or alive. I have no conception that the consequence of a measurement can be the collapse or the death of

Hermeneutics and Intersubjectivity

the measurer. However, the reverse is true in hermeneutics. The metaphor of return implies that I have been affected by the journey, that the hermeneutical analysis of the text has changed me. Indeed, the whole purpose of hermeneutics is to accrue insight. The metaphor of insight means that in some way the measurer, i.e. the subject, has changed. In the physical sense, if the measurer has changed, so has the measure. If I am no longer the same, then the quantum that I have measured is also no longer the same. The philosophy of history in this aspect is no different from hermeneutics, because the idea behind any characterization of historical consciousness is that historical consciousness is always changing, at least until the end of history. If we do not believe that history has ended or that it can end, then we must accept the instability of the observer. The difference from natural science is perhaps clearer, since once the cat is dead, there is no bringing it back to life, whereas, while I cannot bring back the past, I assume that our consciousness of the past is always changing, that there is no moment in which any judgement about the past is fixed. That conclusion is also true for the pursuit of literary analysis. It may be this lack of ability to reach conclusive determinations that is either caused by or causes our recourse to imagination. In hermeneutics there is a non-solipsistic moment, one that affirms the difference between the interpreter and the text. Namely, as stated, hermeneutics is based on an imagined intersubjectivity, one that is not conceptually necessary either for physics or for the philosophy of history. If I am an historical materialist, I imagine an historical intersubjectivity, but if I am an Idealist, I can rest quite content with the idea that the circles of interpretation and of history are closed with my own being, that I do not need a future in order to think. In this sense, the philosophy of history is the obverse of hermeneutics. Namely the hermeneutical method is prospective and not retrospective. Because it is prospective and future-oriented, it requires an imagined intersubjectivity. However, this intersubjectivity exists only prospectively, just as I imagined you while writing this paper, but you my audience did not yet exist. An imagined intersubjectivity is not yet a real one. Thus unlike the philoso-

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phy of history, hermeneutics can expose the play between imaginations, which is what differentiates the analysis of texts from real life. In real life, I can see you, hear you, or feel you, but I have no access to your fantasy or your imagination. It is the peculiarity of a text, despite the text’s being reductive, that I can claim to access the imagination of the text’s composer, whether or not I can in fact do so.

The Idea of a Structural Hermeneutics in Freud’s Interpretation of Dreams – Its Epistemological and Social Relevance Rainer J. Kaus

I am not of the opinion that anyone can ever lack the power to completely express what one wants to say or write. References to the weakness of language and comparisons between the limitedness of words and the infinitude of feeling are wholly off the mark. The infinite feeling remains just as infinite in words as it was in the heart. What is clear in the interior will be thus also inevitably in words. Therefore one need never be concerned about language, but, in view of the words, about oneself.1

1.

Psychoanalysis – From the beginning an hermeneutic discipline

Psychoanalysis begins with Freud’s foundational work, The Interpretation of Dreams, on the threshold to the 20th century. Hence, indisputably, it begins with a written work on processes of interpretation, that is, with an hermeneutic piece of writing in which the dream is discussed as the royal path, the via regia, to a person’s unconscious. The re-

1

Franz Kafka: Briefe an Felice. Frankfurt/Main 1995. pp. 305 f.

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lationship between psychoanalysis and hermeneutics is thus in no way one that was construed retrospectively, but one that was given from the start as imminent to the subject, even though in this early foundational text Freud does not use the term hermeneutics that was already current in his time, just as little, by the way, as he uses it later. The use of a certain term, however, as is well known, is not decisive for the presence of a state of affairs, in our case, of a well-developed hermeneutic consciousness, and indeed, of a methodologically guided hermeneutic consciousness, that is, of an original structural-hermeneutic idea and method that hitherto, as far as I know, has scarcely been brought out as such, as a particular hermeneutic method, in its logical-methodological peculiarity. Hence Freud was not in any way in the same position as the wellknown French farmer who did not know that he was speaking ‘prose’. On the contrary, he was completely aware of the problem of interpreting dreams as a logical-methodological problematic, even though he did not describe it with the term hermeneutic, but used instead the straightforward German expression, interpretation (Deutung).

2.

What does ‘structural hermeneutics’ mean?

What, precisely, is the expression “structural hermeneutics”2 supposed to mean? Early psychoanalysis, according to my thesis, undertakes dream interpretation not merely at random on the basis of hundreds of individual examples from Freud’s own dream-life as well as from that of his acquaintances and his first patient, but rather it analyzes dreams with respect to their general structures. These structural differentiations include firstly, the basic distinction between manifest and latent dream, secondly, but no less important, the dream-work, as Freud

2

I have discussed this term in detail with respect to Freud’s Interpretation of Dreams in: Rainer J. Kaus: Literaturpsychologie und Literarische Hermeneutik. Sigmund Freud und Franz Kafka. With a foreword by Walter Schönau. Frankfurt/Main 2004.

The Idea of a Structural Hermeneutics in Freud’s Interpretation of Dreams

calls it, that takes place between the two levels of the dream. Freud analyzes this dream-work as a well-structured work that he labels with the following major headings: 1. 2. 3. 4.

Work of condensation, Work of displacement, The dream’s means of representation, Secondary processing.

Before I explicate these headings more closely, I refer to the implications of the thesis that no other than the founder of psychoanalysis himself implicitly developed such a structural hermeneutics. The methodological significance of this thesis resides, among other things, in the fact that with some justification one can accuse the later Freud of having projected psychoanalytic theory into his interpretation, for instance, of E.T.A. Hoffmann’s story, The Sandman (as did the founder of cognitive hermeneutics, Peter Tepe, and his group3 ). On the other hand, however, precisely Freud, in and since his Interpretation of Dreams, developed an hermeneutic method, indeed, an explicitly hermeneutic methodology. Moreover, its architectonic does not have merely an accidental analogy with Kant’s theory of categories, as uncovered by the philosopher and semiotician, Johannes Heinrichs, as a system of reflexive levels, with its implications for the entire reality of human action.4 Obviously, the philosophically well-read Freud had adopted, more or less intuitively, but creatively, the Kantian systematics of categories and their various levels. This latter assertion, however, although highly interesting for the history of philosophy, is not the pivotal thesis for the limited

3

4

Peter Tepe: Kognitive Hermeneutik. Textwissenschaft ist als Erfahrungswissenschaft möglich. Würzburg 2007. Esp. pp. 138 ff., as well as numerous mentions of Freud on the accompanying CD; cf. details on this: Rainer J. Kaus: ‘Der unheimliche Umgang mit dem Unheimlichen in der Rezeption von E.T.A. Hoffmanns Sandmann’ in: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 27 (2019). pp. 83-105. Johannes Heinrichs: Das Geheimnis der Kategorien. Die Entschlüsselung von Kants zentralem Lehrstück. Berlin 2004.

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intention of this article. Pivotal is merely the intention to present the said hermeneutic instruments in the required brevity and, in addition, subsequently to make some comments on their practical and especially methodological relevance. For our present transdisciplinary symposium under the title, Hermeneutics in the Dialogue of Methods, I want to underscore in advance the significance of this hermeneutic theory in Freud’s interpretation of dreams. It is a matter of showing that structural hermeneutics is a specific, but hitherto neglected aspect of what is postulated by Peter Tepe and his school as a cognitive hermeneutics on the basis of empirical science, that is, as the opposite of merely associative, arbitrary interpretation or even of tendentious, appropriating interpretation of texts and interrelated human actions. In the terminology of the classical and, so to speak, conventional hermeneutic theory of the 19th century, that of August Boeckh’s5 , it is a matter of an extended form of so-called grammatical interpretation, that is, an interpretation that is to be grounded in grammatical and stylistic characteristics of the texts, i.e. that finds a clearly demonstrable foundation in the structural aspect of the texts, whether they be the texts of dreams or literary texts. (I will come back to the point that the late Freud increasingly emphasized the relatedness of dreams and poetic texts.) With this focus on textual structures there seems to lie a necessary supplement to Tepe’s very strong, or even one-sided, principle of emphasizing the content according to which all interpretive statements have to be covered by the content of the text to be interpreted and, conversely, have to encompass all the essential statements in the text.6 As correct as this principle of an hermeneutics based on empirical science 5 6

August Boeckh: Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften (1877). Reprint Darmstadt 1966. Cf. Peter Tepe: Kognitive Hermeneutik. Textwissenschaft ist als Erfahrungswissenschaft möglich. Würzburg 2007. Cf. also Tepe’s contribution to this volume: Peter Tepe: ‘Kognitive Hermeneutik. Theoretische Grundlagen und praktische Anwendung’ in: Rainer J. Kaus/Hartmut Günther (eds.) (in press): Hermeneutik im Dialog der Methoden. Reflexionen über das transdisziplinäre Verstehen. Bielefeld: 2021.

The Idea of a Structural Hermeneutics in Freud’s Interpretation of Dreams

may be, it nevertheless must not be truncated in a rationalist way. The psychoanalytic view stands precisely opposed to such a truncation insofar as it does not come under suspicion, for its part, of an irrationalist or dogmatic arbitrariness. In the following I will outline each of the methodological elements of the Freudian interpretation of dreams. In so doing, due to the necessary brevity, it will unfortunately not be possible to explicate individual examples of dreams7 or to adduce, outside their context, the examples richly supplied by Freud. Listeners/readers are requested instead to associate their own dream material when, in the following, the previously presented elements of method of the interpretation of dreams are characterized.

3.

Condensation (of the latent dream-thought in the manifest dream-content) “The first thing that is apparent to the investigator when comparing [manifest] dream-content and [latent] dream-thought is that here a magnificent work of condensation has been undertaken. The dream is brief, impoverished, laconic in comparison to the extent and richness of the thoughts in the dream. Written down, the dream takes up half a page; the analysis in which the dream-thoughts are contained requires six, eight, twelve times the amount of space.”8

Doubt about whether the dream-thoughts are being arbitrarily expanded or over-interpreted is only conditionally accepted by Freud. In line with his experience, with such association “new connections can be made that are already connected to the dream-thoughts in another way”.9

7

8 9

Cf. Arthur Schnitzler: Träume: Das Traumtagebuch 1875-1931. Göttingen 2012. Cf. also Georges Devereux: Reality and Dream: The Psychotherapy of a Plains Indian. New York 1969. Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Studienausgabe. Vol. II. Frankfurt/Main 1982. p. 283. Emphasis in the original. Ibid.

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From the viewpoint of a literary hermeneutics of the merely correct understanding of a text, however, this answer is not satisfying, indeed, negligent. Already here with his first, fundamental element of the dream-work of condensation, surprisingly, a difference between literary and psychoanalytic hermeneutics becomes apparent:10 Psychoanalysis is not concerned solely with investigating a given text, but with reconstructing meanings that were not verbalized in human interaction. This was already the concern of Alfred Lorenzer with his early book Destruction and Reconstruction of Language.11 At the end I will go into the further developments of his psychoanalytic hermeneutic theory in the study, The Truth of Psychoanalytic Knowledge (1974)12 , in order initially to further pursue the hermeneutic system of Freud’s Interpretation of Dreams. For, another response to that doubt about arbitrariness resides initially in the totality of the hermeneutic system, that is, in including the following remaining three methodological elements of dream-work. However, already here attention is drawn to the fact that with this problematic we come upon a peculiarity of psychoanalytic hermeneutics that has been discussed since the 1990s under the headings Negative Hermeneutics (Robert Schurz), or even Negation of Hermeneutics (Timo Storck).13 It is a matter of taking account in the analytic setting of precisely what does not get verbalized in the human interaction due to repression and misunderstanding. Furthermore it is a matter of the insight that understanding as such and on its own is not the aim of

10

11

12 13

Cf. Walter Schönau: Sigmund Freuds Prosa. Literarische Elemente seines Stils. Stuttgart 1968. Id.: Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. Stuttgart 1991. Alfred Lorenzer: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt/Main 1970. Id.: ‘Der Gegenstand psychoanalytischer Textinterpretation’ in: Sebastian Goeppert (ed.): Perspektiven psychoanalytischer Literaturkritik. Freiburg im Breisgau 1978. pp. 71-81. Id.: Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis. Ein historisch-materialistischer Entwurf. Frankfurt/Main 1974. Robert Schurz: Negative Hermeneutik. Zur sozialen Anthropologie des Nichtverstehens. Opladen 1995.; Timo Storck (ed.): Zur Negation der psychoanalytischen Hermeneutik. Gießen 2012.

The Idea of a Structural Hermeneutics in Freud’s Interpretation of Dreams

psychoanalytic work, but rather, change and healing.14 At this point the astonishing words of Kafka in a letter to Felice, that preface this article as a motto, are brought into play: “I am not of the opinion that anyone can ever lack the power to completely express what one wants to say or write. References to the weakness of language and comparisons between the limitedness of words and the infinitude of feeling are wholly off the mark. The infinite feeling remains just as infinite in words as it was in the heart. What is clear in the interior will be thus also inevitably in words. Therefore one need never be concerned about language, but, in view of the words, about oneself.”15 The astonishing thing is that Kafka, in contrast to the romantic trend of his time that was critical of language, does not ascribe the inadequacy of the expression to an inadequacy of language, but to being concerned about oneself, or more generally, being concerned with the intrasubjective and intersubjective expressibility and willingness to express which he sees as a psychic and existential problem of a capacity and a willingness for truth in human togetherness.16

14

15 16

Cf. for instance the essay title by Bruce Fink: ‘Wider den Verstehenszwang. Weshalb Verstehen nicht als ein wesentliches Ziel psychoanalytischer Behandlung aufgefasst werden sollte’ in: Timo Storck (ed.): Zur Negation der psychoanalytischen Hermeneutik. Gießen 2012. pp. 291-322. Cf. also: Lorraine Daston: ‘The Moralized Objectivities of Nineteenth-Century Science’ in: Wolfgang Carl/Lorraine Daston (eds.): Wahrheit und Geschichte. Göttingen 1999. pp. 78-100. Franz Kafka: Briefe an Felice. Frankfurt/Main 1995. pp. 305 f. For a detailed Kafka interpretation of a psychoanalytic and structural hermeneutic kind please refer to: Rainer J. Kaus: Literaturpsychologie und Literarische Hermeneutik. Sigmund Freud und Franz Kafka. With a foreword by Walter Schönau. Frankfurt/Main 2004.

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4.

Displacement (as distortion and censorship)

The element of negation of traditional hermeneutic understanding of a text now comes to the fore also in Freud’s second element of dreamwork once one becomes attentive to it: “Another, probably no less significant relation must have already struck us while we were gathering the examples for dream condensation. We were able to notice that the elements which come to the fore in the [manifest] dream-content as the essential components in no way play the same role in the [latent] dream-thoughts. [...] What is obviously the essential content in the dream-thoughts does not have to be represented in the dream. The dream is, in a way, centred otherwise, its content ordered around other elements as the centre, than the dream-thoughts [...] The process that we suppose is precisely the essential piece of dream-work: it deserves the name dream displacement. Dream displacement and dream condensation are the two work-masters to whose activity we may mainly attribute the shaping of the dream.”17 Freud calls this displacement of the thematic focus also dream distortion and traces it back to the censorship through the resistance put up by the dreamer’s waking consciousness. Very frequently they are hidden sexual desires that are taken up into waking consciousness only in a distorted form. It is evident that through this displacement or distortion in the manifest dream-content in relation to the latent, actual dream-thoughts, the hermeneutic problem of interpretation is heightened, but is thus also made into the true topic. All the more, the problematic of interpretation is shifted to what Freud calls the means of representation of the dream.

17

Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Studienausgabe. Vol. II. Frankfurt/Main 1982. pp. 283 f.

The Idea of a Structural Hermeneutics in Freud’s Interpretation of Dreams

5.

The means of representation of the dream (quasi-literary stylistic means)

Only the late Freud, in his writings on the theory of art and literature18 , progressively made the close relationship between dreaming and art, including poetry, into the guiding principle for his analyses. In connection with the hermeneutic problem, however, the literary stylistic means gain a particular significance in Freud’s eyes, indeed, the psychoanalyst here becomes in part even a style analyst! As already mentioned, stylistic analysis is a continuation of what the old hermeneutics called grammatical interpretation. This becomes particularly illuminating once it is recognized that the stylistic figures represent a continuation of grammar on a higher level of reflection, a meta-syntax.19 These include in systematic sequence first of all parallelisms, that is, repetitions; secondly, figures of analogy (metaphors, metonomies, symbols); thirdly, the mask-games of truth in tropes such as irony and joke; fourthly, puns on the double meaning and opposite meanings of words. The latter include also number games. Freud gives examples of all these stylistic figures, albeit not in a systematic order, because he was neither a theoretician of language nor a semiotician, and even today’s stylistics only

18

19

Cf. Id.: Bildende Kunst und Literatur. Vol. X of students’ edition. Frankfurt/Main 1982. This volume includes the substantial writings on Leonardo da Vinci, Michelangelo, Dostoyevsky, Goethe as well as ‘Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva’ and ‘Der Dichter und das Phantasieren’ which include the most explicit thoughts on the relationship between dream and poetry. Esp. ibid.: pp. 175-179. Cf. Rainer J. Kaus: ‘Literatur als Meta-Sprache und die Proto-Sprache des Unbewussten. Wie stehen psychoanalytische und aktuelle sprachtheoretische Annäherung an Literatur zueinander?’ in: Rainer J. Kaus/Hartmut Günther (eds.): Was ist Literatur?/What is Literature?. Berlin 2017. pp. 69-87. Id.: ‘Peter Szondis Vision einer literarischen Hermeneutik. Ein systematisierender Kommentar zu Szondis ‘Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik’’ in: Claudia Liebrand/Rainer J. Kaus (eds.): Interpretieren nach den Turns. Literaturtheoretische Revisionen. Bielefeld 2014. pp. 169-194.

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gradually discovered the systematics of logical reflection in an apparent confusion of stylistic figures. In these ways the proto-language of the human unconscious expresses itself in the stylistic, poetic meta-language.20 What is particularly noteworthy in an hermeneutic context is the formality and thus objectivity of stylistic analysis insofar as this formal tool is first worked out. Precisely in the formal analysis of literary texts as well as dreams, the arbitrariness of interpretation, just as, at the same time, the original repression of unwanted contents, are transcended by the objectivity of stylistic structures similar to grammar that peremptorily demand interpretation of their significance.

6.

Hermeneutics and social practice

In another article21 I have made an analogy between what Freud presents as the fourth element of dream-work, the secondary processing, the preparation of the dream for waking consciousness, and the narrative habits of literary authors. This thought cannot be further explicated in this context. Instead, in conclusion, I want to once again counter the impression and the objection as if psychoanalytic interpretation, that here has been put into a close parallel with literary interpretation, had low social significance as a merely harmonizing attribution of meaning due to this aesthetic analogy. The opposite is the case, and it is high time that the hermeneutic task be liberated in general from the bad reputation it has as merely aesthetic interpretation, especially in the areas of psychology and sociology. The above-mentioned Frankfurt psychoanalyst and social psychologist, Alfred Lorenzer (1922-2002), grasped and underscored most em-

20 21

Cf. ibid. Rainer J. Kaus: Literaturpsychologie und Literarische Hermeneutik. Sigmund Freud und Franz Kafka. With a foreword by Walter Schönau. Frankfurt/Main 2004. pp. 91-114; 173-228.

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phatically the twofold character of psychoanalysis, on the one hand, as an hermeneutic science and, on the other, as a reconstruction of language fundamentally changing social practice. Expressions such as the already-mentioned Negative Hermeneutics and Negation of Hermeneutics cannot yet be found in Lorenzer. However, there is already the same turn against an harmonizing conception of hermeneutics in the sense of an all-encompassing understanding. Nowhere is it claimed that linguistic reconstruction of what was once repressed without language could completely succeed and that the “injuries of the mind [could] heal without leaving scars”, to recall a famous phrase from Hegel’s Phenomenology of Mind (1807).22 Hence, in the anthology On the Negation of Psychoanalytic Hermeneutics edited by Timo Storck, an extensive overall presentation of Lorenzer’s work by Ellen Reinke could be included under the title, Hermeneutics of the Body. As indicated by this title, the Bremen psychoanalyst Reinke, apart from the potential for social change through analysis, accentuates particularly its somatic, material anchoring.23 This raises questions about how close the relations between the unconscious and the body are and what fundamental kinds of unconscious are to be distinguished, which I cannot take up in detail in this context. In a recent publication on the topic of Dreams and Dreaming, the connection between dreaming, brain and memory is shown.24 The generally implicit nature of human self-consciousness is very apparent in what Freud calls the preconscious in contradistinction to the physical unconscious of the drives, but also to the neurotic repressive unconscious that can draw on all three of the designated strands of the unconscious. The

22 23

24

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/Main 1986. p. 492. Ellen Reinke: ‘Hermeneutik des Leibes. Alfred Lorenzers metatheoretische Begründung der Psychoanalyse’ in: Timo Storck (ed.): Zur Negation der psychoanalytischen Hermeneutik. Gießen 2012. pp. 215-246. Michael Ermann: Träume und Träumen: Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik. Stuttgart 2021.

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technique of free association preferred by Freud25 has to do with this implicit nature of human consciousness and thus of the preconscious. Therefore it can be understood in Bollas’ sense as a form of intrinsic logic. The literary scholar and psychoanalyst, Christopher Bollas, much discussed in the Anglophone world, takes up the astonishing talk of an unconscious thinking employed by the French philosopher Alain Badiou (geb. 1937) in order to ground his theory of free association. Already in the introduction to his book Bollas asserts: “The so-called non-repressed unconscious is almost completely ignored by psychoanalysts in favour of the repressed unconscious. Today the repressed is viewed as the real core of Freud's theory of the unconscious. [...] At the latest in ‘The Unconscious’, however, he emphasizes that the majority of unconscious thoughts are non-repressed contents of the unconscious.”26 This other theory of Freud’s is said to refer “to something more radical, namely, that a serial logic is inherent in the sequence of our thoughts.”27 It is purportedly this intrinsic logic of unconscious thinking on which the technique of free association introduced not least of all by Freud himself is said to be based. Bollas provides detailed clinical material in The Infinite Question employing three extensive transcripts of treatment. Even though, due to a lack of examples, even in Lorenzer’s own overall presentation of 1974 under the title, The Truth of Psychoanalytic Knowledge, some points remain undecided (as they do unfortunately here, too, due to the required brevity), some of his forceful theses shall conclude my remarks from the result of his book and bring to light the social relevance of the entire hermeneutic problematic. “Psychoanalysis is neither an observational science, nor an explanatory science, but an hermeneutic science whose theory is the conceptua25 26 27

Cf. Christopher Bollas: Die unendliche Frage. Zur Bedeutung des freien Assoziierens. Frankfurt/Main 2011. Ibid.: p. 13. Ibid.: p. 14.

The Idea of a Structural Hermeneutics in Freud’s Interpretation of Dreams

lized system of subjectively appropriated drafts of interaction. [...] Insofar, psychoanalysis is a critical hermeneutic science, since its knowledge does not proceed from registering facts, but from destroying the factually given. [...] The ‘manifest text’ is not only grasped interpretively [...], but is replaced, during the course of the interpretation, by a ‘latent text’. The precise approach of the critical hermeneutic procedure is ‘suffering’ that is subjective, but ultimately always goes back to the misguided synthesis of inner nature and mediated social practice. [...] The presuppositions of living practice are systematized in the group of analysts and theoretically conceptualized. They are employed in the individual analysis in order to join together split-off language games from both levels – linguistic mediation and practical interplay.”28 As can already be recognized from these fragments, Lorenzer understands the in-depth psychoanalytic hermeneutics not as an engagement with a fixed stock of text, but as a methodologically guided reconstruction of what has been left without language through repression. He understands it exclusively as “structural analysis without being able to grasp the objective conditions ‘behind’ the subjective structures”.29 In order to explicate the causal genesis, in addition, objective social analysis must be undertaken that transcends the present practical framework of psychoanalysis in the direction of a social theory that Lorenzer calls historical-materialist. Today we would speak rather of a unity of concrete theory of action and reflective systems theory of society, a unity of theory of action and systems theory.

7.

Concluding remarks and result

We have not been able to discuss directly with Alfred Lorenzer, in view of the still unmastered tasks of psychoanalysis as social science, em28 29

Alfred Lorenzer: Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis. Ein historisch-materialistischer Entwurf. Frankfurt/Main 1976. pp. 277 f. Ibid.: p. 278.

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ploying a positively text-related as well as a negatively reconstructive set of hermeneutic instruments. Nevertheless, I would have found it particularly interesting and helpful to have been able to question such a profound psychoanalyst and social analyst as Carlo Strenger, who died on 25 October 2019 in Tel Aviv (born 1958 in Basel)30 , about this interdisciplinary hermeneutic bridging of the gaps and unmastered practical tasks. Insofar as the demarcation of the problematic as such attempted here is seen and recognized, I am confident. Starting with its fundamental breakthrough in Freud’s Interpretation of Dreams, psychoanalysis was always a consciously hermeneutic discipline of interpretation. Simultaneously with a positively text-related, graduated set of tools for dream-work and a close alliance with literary hermeneutics in the sense of a grammatical, stylistic structural hermeneutics with objective standards supplementing a hermeneutics related solely to contents, for Freud it was a matter, however, from the beginning of more than understanding a text. Namely, it was a task of reconstructing what has remained repressed and without language. As such always also a negative hermeneutics of the repressed and what has otherwise not been said, psychoanalytic hermeneutics is a critically changing social science. It does not have any need to merely impose its theory on literary texts in the sense of an ideologically appropriating interpretation.31

References Boeckh, August: Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften (1877). Reprint Darmstadt 1966.

30 31

Cf. Carlo Strenger: Between Hermeneutics and Science. An Essay on the Epistemology of Psychoanalysis. Madison, CT 1991. Cf. Freud’s ideologically appropriating interpretation in the case of E.T.A. Hoffmann’s Sandman: Sigmund Freud: ‘Das Unheimliche’ in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. V. 5/6 (1919). pp. 297-324.

The Idea of a Structural Hermeneutics in Freud’s Interpretation of Dreams

Bollas, Christopher: Die unendliche Frage. Zur Bedeutung des freien Assoziierens. Frankfurt/Main 2011. Daston, Lorraine: ‘The Moralized Objectivities of Nineteenth-Century Science’ in: Wolfgang Carl/Lorraine Daston (eds.): Wahrheit und Geschichte. Göttingen 1999. pp. 78-100. Devereux, Georges: Reality and Dream: The Psychotherapy of a Plains Indian. New York 1969. Ermann, Michael: Träume und Träumen: Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik. Stuttgart 2021. Fink, Bruce: ‘Wider den Verstehenszwang. Weshalb Verstehen nicht als ein wesentliches Ziel psychoanalytischer Behandlung aufgefasst werden sollte’ in: Timo Storck (ed.): Zur Negation der psychoanalytischen Hermeneutik. Gießen 2012. pp. 291-322. Freud, Sigmund: Bildende Kunst und Literatur. Vol. X of students’ edition. Frankfurt/Main 1982. Id.: Die Traumdeutung. Studienausgabe. Vol. II. Frankfurt/Main 1982. Id.: ‘Das Unheimliche’ in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. V. 5/6 (1919). pp. 297-324. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/Main 1986. Heinrichs, Johannes: Das Geheimnis der Kategorien. Die Entschlüsselung von Kants zentralem Lehrstück. Berlin 2004. Kafka, Franz: Briefe an Felice. Frankfurt/Main 1995. Kaus, Rainer J.: ‘Der unheimliche Umgang mit dem Unheimlichen in der Rezeption von E.T.A. Hoffmanns Sandmann’ in: E.T.A. HoffmannJahrbuch 27 (2019). pp. 83-105. Id.: ‘Literatur als Meta-Sprache und die Proto-Sprache des Unbewussten. Wie stehen psychoanalytische und aktuelle sprachtheoretische Annäherung an Literatur zueinander?’ in: Rainer J. Kaus/Hartmut Günther (eds.): Was ist Literatur?/What is Literature?. Berlin 2017. pp. 69-87. Id.: ‘Peter Szondis Vision einer literarischen Hermeneutik. Ein systematisierender Kommentar zu Szondis ‘Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik’’. in: Claudia

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Liebrand/Rainer J. Kaus (eds.): Interpretieren nach den Turns. Literaturtheoretische Revisionen. Bielefeld 2014. pp. 169-194. Id.: Literaturpsychologie und Literarische Hermeneutik. Sigmund Freud und Franz Kafka. With a foreword by Walter Schönau. Frankfurt/Main 2004. Lorenzer, Alfred: ‘Der Gegenstand psychoanalytischer Textinterpretation’ in: Sebastian Goeppert (ed.): Perspektiven psychoanalytischer Literaturkritik. Freiburg im Breisgau 1978. pp. 71-81. Id.: Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis. Ein historisch-materialistischer Entwurf. Frankfurt/Main 1974. Id.: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt/Main 1970. Reinke, Ellen: ‘Hermeneutik des Leibes. Alfred Lorenzers metatheoretische Begründung der Psychoanalyse’ in: Timo Storck (ed.): Zur Negation der psychoanalytischen Hermeneutik. Gießen 2012. pp. 215-246. Schnitzler, Arthur: Träume: Das Traumtagebuch 1875-1931. Göttingen 2012. Schönau, Walter: Sigmund Freuds Prosa. Literarische Elemente seines Stils. Stuttgart 1968. Id.: Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. Stuttgart 1991. Schurz, Robert: Negative Hermeneutik. Zur sozialen Anthropologie des Nichtverstehens. Opladen 1995. Storck, Timo (ed.): Zur Negation der psychoanalytischen Hermeneutik. Gießen 2012. Strenger, Carlo: Between Hermeneutics and Science. An Essay on the Epistemology of Psychoanalysis. Madison, CT 1991. Tepe, Peter: Kognitive Hermeneutik. Textwissenschaft ist als Erfahrungswissenschaft möglich. Würzburg 2007. Id.: ‘Kognitive Hermeneutik. Theoretische Grundlagen und praktische Anwendung’ in: Rainer J. Kaus/Hartmut Günther (eds.) (in press): Hermeneutik im Dialog der Methoden. Reflexionen über das transdisziplinäre Verstehen. Bielefeld: 2021. Translated from the German by Dr Michael Eldred, artefact text & translation, Cologne.

Die Unergründlichkeit der Traummitteilung  und die Unabschließbarkeit der Deutung Brigitte Boothe

Der Traumbericht als Fundstück des Erinnerns Für Hirnforschung und Psychophysiologie ist der Traum ein Grenzphänomen mentalen Lebens. Traumaktivität vollzieht sich im regenerativen physiologischen Zustand des Schlafs. Das Traumereignis ist ein Eindruck, keine Handlung. Er kommt zustande ohne eigene Initiative und ohne eigene Verantwortung. Die Sinneseindrücke sind für den Träumer im Schlafzustand real. Die wache Person korrigiert das nachträglich. Im Wachleben ist Traumaktivität zugänglich als Fundstück des Erinnerns. Wer einen Traum mitteilt, präsentiert das Traumereignis als Widerfahrnis. Er vollzieht, seinen Traum mitteilend, eine erinnernde Expedition zu einem flüchtigen Ereignis. Es schwindet rasch; man kann allenfalls eine Kollektion von Fundstücken zusammenstellen. Träume sind im Wachleben mental und kommunikativ nicht unmittelbar anschlussfähig. Sie stehen nicht zwanglos im Kontext lebenspraktischer Bezüge.

Die Traummitteilung: eine kommunikative Zumutung und Herausforderung Die folgenden Ausführungen berücksichtigen nicht die antiken Traumkulturen, alttestamentliche Traumdeutung, den Umgang mit dem Traum in vielfältiger, weltweit praktizierter spiritueller Kunst, spiritu-

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ell inspirierter Heilungspraxis und auch nicht den Traum im Kontext von Malerei und Poesie.1 Das ist anders im Graduiertenkolleg (GRK 2021) „Europäische Traumkulturen“ (European Dream-Cultures) der Universität des Saarlandes, Saarbrücken (Prof. Dr. Christiane SolteGresser Sprecherin, Dr. Elena Kreutzer Koordinatorin des GRK, Laufzeit 2015-2024): In zahlreichen Projekten und intensiver Publikationsund Tagungsaktivität hier erforscht, dokumentiert und reflektiert man europaweit die kulturelle Geschichte und Gegenwart des Traumes. Hier aber geht es um mündliche Traummitteilungen im profanen Alltag und in der Psychotherapie. Auch im Alltag kommuniziert man gelegentlich über Träume. Wenn dies geschieht, will der Berichterstatter Resonanz. Wer einen Traum mitteilt, verlangt nach Deutung. Aber kommt er je ans Ziel? Für den Laien bietet das Internet eine Fülle von mehr oder weniger ernst zu nehmenden Handreichungen und Anleitungen. Die Konkurrenz ist groß. Der Interessierte hat Grund zur Skepsis und die Qual der Wahl. Ob ein Deutungsangebot zielführend ist, bleibt auch im wissenschaftlich informierten Gespräch über den Traum häufig in der Schwebe. Das hat mit der Traummitteilung, der sprachlichen Vermittlung des Traums selbst zu tun. Es gilt, diese sprachlichen Vermittlungsformen genauer zu untersuchen. Träume werden im heutigen Alltag in berichtender Distanz mitgeteilt, so dass die Darstellung einer collagierenden Zusammenstellung von Fundstücken gleicht. Das ist auch dann der Fall, wenn die Trauminhalte alltäglich scheinen, zum Beispiel: Im Traum bin ich im Büro, lege gerade die Akten auf den Tisch, meine Kollegin kommt… oder Ich warte auf den Bus, er kommt mit etwas Verspätung, und ich setze mich neben meinen Kollegen…; und auch, wenn sie höchst erfreulich sind, zum Beispiel: Ich schwimme im Meer, die Sonne strahlt, ich fühle mich unglaublich leicht... Der Duktus ist berichtend, kann, wie im Beispiel vom Schwimmen im Meer mit der Erwähnung von Gefühl und Stimmung ergänzt werden. Oft verbindet sich die berichtende Distanz mit einer Haltung

1

Vgl. Stefanie Kreuzer (2014): Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink.

Die Unergründlichkeit der Traummitteilung und die Unabschließbarkeit der Deutung

kopfschüttelnder Verwunderung oder bei Angst- und Alpträumen ratloser Verstörung. „Ich hab heut Nacht so einen herrlichen Mist geträumt“, sagt eine Träumerin2 , und damit bringt sie die psychische, psychosoziale und kommunikative Stellung des Traumes als erinnertes Ereignis auf den Punkt. Amalie, die Träumerin, kündigt ihren Traumbericht per retrospektivem Verweis auf ein zurückliegendes Ereignis an („heut Nacht“) und deklariert den angekündigten Report damit als nicht-fiktiv. Sie qualifiziert den Inhalt des Mitzuteilenden als „Mist“; das ist einerseits eine Disqualifikation als wertloses, zur Entsorgung geeignetes Material; andererseits verwendet sie die emotionale Kraftwortmetapher „Mist“ und nimmt ihr somit den Charakter gewichtigen Urteilens zugunsten der impulsiven Interjektion. „So einen herrlichen Mist“, sagt sie, eine ironische Wendung, die dem Ganzen noch einmal das Gewichtige und Ernste abspricht, dem „Mist“ reizvoll und amüsant sein lässt. Mist als organisches Dünge- und Heilmittel ist eine herrliche Sache: Der Haufen gärt und dampft und riecht. Amalie teilt den Traum ihrem Psychoanalytiker mit; ein Unsinnshaufen mit Unterhaltungswert ist also nicht das letzte Wort zur Sache. Vielmehr bietet sie etwas Ungereimtes, aber potentiell Interessantes an, dessen Bedeutsamkeit weder evident noch selbstexplikativ ist. Botschafterin änigmatischer Inhalte in eigener Sache zu sein ist eine kommunikative Zumutung; das signalisiert Amalie vorweg und hält das sogar im Kontext der Psychotherapie für nötig; dort ist die Mitteilung des Intimen und Privaten im Dienst der Behandlung 2

Brigitte Boothe (2006): Wie erzählt man einen Traum, diesen herrlichen Mist, wie porträtiert man seinen Analytiker? In: Michael H. Wiegand, Flora von Spreti & Hans Förstl (2006) (Hrsg.): Schlaf und Traum. Neurobiologie, Psychologie, Therapie. Stuttgart: Schattauer. S. 159-170. Brigitte Boothe (2018): Amalie Traumdeutung in der heutigen Praxis. In: Wolfgang Berner, Gabriele Amelung, Annegret Boll-Klatt & Ulrich Lamparter (2018) (Hrsg.): Von Irma zu Amalie. Der Traum und seine psychoanalytische Bedeutung im Wandel der Zeit. Gießen: Psychosozial-Verlag. S. 53-82. Brigitte Boothe (2019): The session 152 in the view of the JAKOB coding system. In: Horst Kächele, Michael B. Buchholz & Juan Pablo Jiménez (Hrsg.): Amalia’s specimen case. In memory of Helmut Thomä. Chapter 14.

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ja explizit legitimiert. Die Sprecherin nimmt den Zumutungscharakter vorweg durch die Ankündigung „Mist“ und offeriert, um den Hörer dennoch zu gewinnen, die Verlockungsprämie „herrlich“. Amalie darf, wie gesagt, davon ausgehen, dass Traummitteilungen im analytischen Prozess willkommen sind. Sie bringt zum Ausdruck, dass sie selbst keinen unmittelbaren Verstehenszugang zum aktuellen Traum hat. Sie kommuniziert intersubjektiv nicht anschlussfähige, nicht validierbare Fundstücke privater Erinnerung ohne erkennbare Dignität. Auf deren Mitteilung verzichtet sie aber nicht, rechnet sie doch mit der Expertise ihres Gegenübers. Daher kündigt sie ihren Bericht gleichsam groß an und fordert implizit den Expertendialog mit ihrem professionellen Gegenüber heraus. Der Eintritt in einen Prozess der konstruktiven Modellierung bei der nachträglichen Traumkommentierung gibt dem Prekären, Fragwürdigen, dem herrlichen Mist hypothetisch Sinn und Form. Wer einen Traum mitteilen möchte, sucht nach Worten. Man bringt sprachlich und nichtsprachlich zum Ausdruck, dass man unter dem Eindruck eines Ereignisses änigmatischen Ursprungs steht; dieses kommt als ein schwer beschreibbares Fundstück unzuverlässigen Erinnerns zur Darstellung. Der Berichtende vollzieht, seinen Traum mitteilend, eine erinnernde Expedition zu einer Sequenz von halluzinatorischen Eindrücken, die sich der Verfügung entziehen. Träume sind im Wachleben mental und kommunikativ nicht unmittelbar anschlussfähig. Der Traumrapport stellt einen Suchprozess in der Distanz der Selbstfremdheit dar. Die Zusammenstellung der Gedächtniseindrücke bleibt oft disparat. Die systematische Analyse der Mitteilungsstrategien des Traumberichts offenbart eine ganz eigene Form autobiografischer Selbstverständigung, die nicht autonome Selbstverfügung artikuliert, sondern Selbstfremdheit und die Angewiesenheit auf den Zuhörer im Dialog zur Darstellung bringt.

Die Unergründlichkeit der Traummitteilung und die Unabschließbarkeit der Deutung

Traum und Nachträglichkeit Einen Traum berichten, heißt, die Erinnerung an ein halluzinatorisches Geschehen im Schlafzustand nachträglich zur narrativen Darstellung zu bringen, das den Charakter des Widerfahrnisses, des Nicht-Kontrollierbaren, der Intransparenz, des Ergriffenseins sprachlich inszeniert und im Dialog vermittelt. Wenn wir Träume mitteilen, rekapitulieren wir nachträglich die nächtlichen Sinneseindrücke. Das nächtliche Traumgeschehen ist die Basis für Erinnerungsspuren, die der Träumer im Wachzustand mit den Mitteln der Alltagssprache dokumentiert. Dieses Dokument dient als Ausgangspunkt für Traumanalyse und Traumdeutung, aber auch für die Untersuchung der sprachlichen Darstellung und Formulierung. Wer seinen Traum mitteilt, macht etwas Privates geltend, verweist auf Körperliches, zeigt seelisches Erleben und Eindrücke, denen er sich ausgesetzt sah, zeigt, dass er angewiesen ist auf kommunikative Resonanz. Wer seinen Traum berichtet, gibt dem Merkwürdigen narrative Gestalt.3 Der Sprecher pflegt extensive Formulierungsarbeit zu leisten. Er verdeutlicht im Ringen um Artikulation das schwer Sagbare und kaum zu Vermittelnde. Traumerinnerungen sind schwer mitteilbar, aber auch andere private Ereignisse des Bewusstseins lassen sich nur schwer in Sprache fassen. Gülich und Schöndienst zeigen das beispielsweise für die mündliche Schilderung epileptischer Auren durch Betroffene.4 Träume und bestimmte außergewöhnliche Bewusstseinszustände wie 3

4

Brigitte Boothe (2001): The rhetorical organisation of dream-telling. In: Counselling and Psychotherapy Research 1 (2) (2001). S. 101-113.; Agnes von Wyl & Brigitte Boothe (2003): Weibliches Leiden an der Anatomie. Der Körper als Feind im Spiegel des Alltags- und Traumnarrativs. In: Zeitschrift für qualitative Bildungs- Beratungs- und Sozialforschung 1 (2003). S. 61-80.; Vgl. Michael Hanke (2001): Kommunikation und Erzählung. Zur narrativen Vergemeinschaftungspraxis am Beispiel konversationellen Traumerzählens. Würzburg: Königshausen & Neumann. Vgl. Elisabeth Gülich & Martin Schöndienst (1999): „Das ist unheimlich schwer zu beschreiben.“ Formulierungsmuster in Krankheitsbeschreibungen anfallskranker Patienten: Differenzialdiagnostische und therapeutische Aspekte. In:

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epileptische Auren konfrontieren das Ich mit Eindrücken, die in der Verständigung des Alltags nicht anschlussfähig sind. Es existiert eine Spannung zwischen dem Begehren nach Resonanz angesichts eines Ergriffenseins von besonderen Eindrücken und der Möglichkeit, sie sprachlich so einzukleiden, dass sie im kulturellen Raum diskursfähig werden.5 Das gilt auch für die Traumartikulation.

Systematik der Traumartikulation Wer einen Traum mitteilen möchte, sucht nach Worten. Die Erinnerung entgleitet ihm, er ringt um Darstellung. Traummitteilungen haben ein Authentizitätsproblem, bedürfen nachträglich narrativer Glättung, der Zusammenhang mit dem Alltag ist lose, sie sind intersubjektiv schwer vermittelbar.

Das Fehlen der motivierenden Klammer Der Traumberichterstatter deklariert sich im Stande unwissender Naivität. Er trägt den Traum vor als Begebenheit, der er passiv-rezeptiv ausgesetzt war. Das ist durchweg formuliert im Duktus: Wie-war-das?Das-war-so. Die Bestandteile des Traumereignisses werden gleichsam aus dem Gedächtnis hervorgesucht und nacheinander, im Medium der sprachlichen Fixierung, aufgestellt und aneinandergereiht. Der Hörer nimmt die unkommentierte Darstellung entgegen und entscheidet sich für eine Lesart des Traumes, die er entweder für sich behält oder die er dem Träumer unterbreitet.

5

Psychotherapie & Sozialwissenschaft: Zeitschrift für qualitative Forschung und klinische Praxis 1/3 (1999). S. 199-227. Vgl. Elisabeth Gülich & Ingrid Furchner (2002): Die Beschreibung von Unbeschreibbarem. Eine konversationsanalytische Annäherung an Gespräche mit Anfallskranken. In: Inken Keim & Wilfried Schütte (2001) (Hrsg.): Soziale Welten und kommunikative Stile. Festschrift für Werner Kallmeyer zum 60. Geburtstag. Tübingen: Narr. S. 161-186.

Die Unergründlichkeit der Traummitteilung und die Unabschließbarkeit der Deutung

Wie wird der Traumbericht zu einer Artikulation, die den Hörer auffordert, kommentierend einzusteigen? Nehmen wir den ersten Satz eines Beispiels, den Anfang von Amalies 8. Traum: „war heute Nacht auch so komisch, ich hatte geträumt, meine Großmutter sei ermordet worden und (lacht) und dann packten alle die Koffer, zuerst standen sie um diese Leiche rum und überlegten, wer das getan hätte...“ Es fällt auf, dass die motivierende Klammer fehlt: Der Darstellungsduktus hebt sich systematisch von dem einer Alltagserzählung ab. Der Traumbericht verzichtet auf die Profilierung von Sympathieträgern, von Antagonisten, von intentionaler Durchdringung des Geschehens. Es geht los, jenseits eines Warum und Wozu und Wieso. Der Eindruck, dass dies „komisch“, seltsam ist, entsteht nicht, weil die Handlungen seltsam sind, sondern weil dem Geschehen auch dann, wenn es unscheinbar und gewöhnlich ist, der Charakter des Grundlosen zukommt. Es ist uns, den Hörern, anheimgestellt, wie wir die motivierende Klammer schaffen. Die Anwendung der rhetorischen Figur der Anheimstellung bezieht uns, als kommentierende Dialogpartner unmittelbar ins sprachliche Geschehen ein.

Collagierende Reihung Das Fehlen der motivierenden Klammer verbindet sich eindrucksvoll mit dem Darstellungsprinzip der collagierenden Reihung. Ein Beispiel aus dem 7. Traum von Amalie: „…und dann wurde geschossen, soviel ich weiß, weil sie da ein Wissen hatten. Da war dann so ein Mittelstück, auch mit einer ganz bestimmten Verfolgungsform, also es war der reine wilde Westen. Und das dritte Stück war dann, dass ich drauf kam, mich zu verstecken. Ich spürte aber, wie ich irgendwie beobachtet wurde.“ Die Sprecherin stellt ein Bild zusammen. Ein Element fügt sich zum andern. Die Berichtende reiht Elemente, die sie gleichsam als Bildausschnitte vorfindet, additiv aneinander. Dadurch entsteht der Eindruck des Montierens. Die Vorführung des collagierenden Zusammenklebens macht die Vorläufigkeit der gleichsam schwebenden Komposition, die Fragilität und Flüchtigkeit des Bildzusammenhangs, seine Neigung zum Zerfallen, eindrucksvoll erlebnisfähig.

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Detaillierung und Verdeutlichung Amalie rekapituliert szenische Figurationen oder bloße Bild- oder Gedankeneindrücke. Sie tut dies häufig im Modus der Detaillierung und Verdeutlichung, mit den rhetorischen Mitteln der Häufung, des Vergleichs, der Steigerung und der wortreichen Amplifikation. So führt sie dem Hörer eine Formulierungsarbeit vor, die das Ringen um die Vergegenwärtigung der halluzinierten Bilder inszeniert. Ausschnitte aus Amalies 3. Traum zeigen das Ringen um Detaillierung und Verdeutlichung: „Der Traum war vor einer Woche, glaube ich ja, und der wird immer immer deutlicher weil ich natürlich mich unter dem Zwang fühle den Traum eben jetzt doch zu erzählen, das spielt ja auf dem Friedhof, und zwar zunächst zwischen einer Freundin meiner Mutter, das ist eine Frau von sechzig oder so und deren Bekannten. Das ist aber zugleich oder eigentlich; ach ich weiß das nicht genau, ich weiß das eigentlich nur durch meine Mutter.“ Emphase, Nachdruck, emotionale Färbung des bildlichen Gedächtniseindrucks können hinzukommen wie im 16. Traum Amalies aus der 98. Sitzung: „auf jeden Fall, hatte ich dann hinten ganz große Stellen wie, es war nicht wie rausrasiert aber es war irgendwie ganz große Löcher im Haar. es war ganz schrecklich und ich stand vor dem Spiegel und hab mir das angeguckt und war also richtig entsetzt. ganz riesengroße Löcher und dann diese nassen Strähnen, es war also scheußlich.“ Das Beispiel macht den Evokationsprozess aus der Distanz eines Bildempfängers, dem die eindrucksvolle Bildlichkeit fremd, aber „scheußlich“ bleibt, besonders sinnfällig. Es handelt sich um vergegenwärtigende Vergewisserung: Wie war es? War es so? Wie war es genau? Die Bewegung von Faszination und Befremdung wird noch deutlicher, wenn der Sprecher die Traumvorgänge hinsichtlich ihrer Deutlichkeit, ihrer Fremdartigkeit, ihrer Kontinuität kommentiert. Die Partikel „irgendwie“ und „irgendein“ sind sehr

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häufig. Das oft gebrauchte „plötzlich“ markiert die Abruptheit eines Übergangs. Das vergleichende wie („es war nicht wie rausrasiert aber es war irgendwie ganz große Löcher im Haar“) schafft den Eindruck des nicht so leicht zu Fassenden.

Artikulation des Suchprozesses Der Charakter änigmatischer Distanz wird durch die Artikulation des Suchprozesses besonders hervorgehoben. Der Suchprozess verdeutlicht sich als solcher, indem der Sprecher die Wiedergabe der Traumvorgänge hinsichtlich des Grades ihrer Deutlichkeit, ihrer Fremdartigkeit, ihrer Kontinuität kommentiert; z.B. in Amalies 5. Traum aus der 29. Sitzung: „und, eh, am Schluss; ja also das machte ich dann und das mit dem Examen wurde dann geklärt dass ich nämlich keines zu machen hätte und, wie war das noch, ach ja da kam so ne ganze, Bilderserie und, kamen irgendwelche Familienphotos waren aber unter anderem Familienphotos, von, von meiner Familie, ganz deutlich also unter anderem meine Cousine als kleines Mädchen dabei. und, ich glaub diese Tochter tauchte dann auch wieder auf und - am Schluss hab ich Ihnen ne Frage gestellt und das weiß ich leider! nicht mehr was ich gefragt hab ich weiß nur noch die Antwort.“ Traumkommunikation ist die Darstellung eines Suchprozesses in der Distanz der Selbstverborgenheit. Die um Evokation von Bildeindrücken ringende Formulierungsarbeit führt dem Gegenüber die Suche nach dem Traumgeschehen vor, wie es ihm, dem Rezipienten der nächtlichen Sinneseindrücke, dem eigenen Gefühl nach, tatsächlich widerfahren ist. Er führt vor, wie er nach der passenden Formulierung sucht, um wiederzugeben, was sich an ihm in der Abschirmung des Schlafes vollzogen hat. Der Traumkommunikator ist ein Chronist eines unergründlichen Selbst.

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Der Traum als Widerfahrnis und der Modus des schwer Mitteilbaren Die Art und Weise, wie Individuen sprechen, wenn sie Träume mitteilen, macht deutlich, dass ihr Erinnern auf Eindrücke verweist, die aus der Stilllegung des Schlafes kommen. Traumberichterstatter machen in der Art ihres Mitteilens deutlich, wie sie das Phänomen Traum verstehen und wie sie das Ereignis Traum auffassen. Traummitteilungen stellen eine eigene kommunikative Gattung dar, die sich durch aufschlussreiche Besonderheiten auszeichnet: • •



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Traummitteilungen werden als Widerfahrnisse artikuliert. Wer einen Traum mitteilt, macht deutlich, dass es sich um Eindrücke handelt, die sich dem Verstehen und Einordnen vorläufig entziehen. Der Mitzuteilende formuliert sie gleichsam in naiver Ignoranz. Wer einen Traum mitteilt, macht deutlich, dass die Eindrücke unzulänglich erinnerbar und nur mit eingeschränkter Sicherheit aus der Retrospektive zu fassen sind. Der Traum gehört zu den Erscheinungen, unter deren Eindruck man steht, die als Eindruck wirksam werden. Wer einen Traum mitteilt, macht deutlich, dass es sich um Eindrücke handelt, die schwer mitteilbar sind.6 Sie sind schwer mitteilbar, (a) weil sie keine intersubjektiv geteilte Erfahrung darstellen (der Träumer ist abgeschirmt im Schlaf), (b) weil es sich in der Erinnerung überaus rasch verflüchtigt (Elusivität – die Eindrücke verschwinden zurück ins Dunkel), (c) weil die Erinnerungsleistung nicht validierbar ist (Validierungsproblem), (d) weil das Ereignis selbst änigmatisch ist, das heißt, in seinen Relevanz- und Sinnbezügen nicht unmittelbar zu erfassen und einzuordnen ist (Erschließungsbedarf).

Vgl. Elisabeth Gülich & Heiko Hausendorf (2012): Träume im Gespräch. Linguistische Überlegungen zur Erzählbarkeit von Träumen. In: Friederike Kern, Miriam Morek & Sören Ohlhus (2012) (Hrsg.): Erzählen als Form – Formen des Erzählens. Berlin/Boston: de Gruyter. S. 13-47.

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Wer einen Traum mitteilt, hebt den intransparenten, rätselhaften Charakter des Erlebten hervor.

Kooperative Deutungsarbeit Die Traumkommunikation ist die Darstellung eines Suchprozesses. Die Formulierungsarbeit führt vor, wie der Traumkommunikator nach der passenden Formulierung sucht, um wiederzugeben, was sich an ihm vollzogen hat. Die Sprache des Traumberichts konstelliert die Offenbarung von Intimität im Modus des Fremdseins. Das ist mentales Leben als Krisenereignis, aus dem die Chance der deutenden Selbstexploration als dialogische Kooperation erwächst. Der Dialog zwischen Sprecher und Hörer führt von Selbstverborgenheit zu einer Form der Verständigung, die nach der motivierenden Klammer sucht, die der Traummitteilung gerade fehlte. Verständigung über den Traum wird zur dialogischen Suchbewegung von Selbstfremdheit zu punktueller Selbstaneignung. Es kommt zum sinnstiftenden Dialog. Die deutende Kommentierung von Träumen soll lebenspraktisch relevant sein. Therapeut und Patient verdeutlichen in der Traumanalyse Anliegen des Patienten und verbinden diese mit Aussichten, Risiken und Chancen des Patienten in seiner Lebenssituation. Der Therapeut ist Kredit gebender, engagierter, urteilender und ermutigender Begleiter. Der gemeinsame Blick auf die Lebenssituation fordert den Therapeuten als Mittler und schafft ein Drittes zwischen den Beziehungspartnern und als Orientierung auf die Lebenswelt. Es geht darum, mit welchen Strategien der Traum auf Lebenstatsachen antwortet.7 Die Traumkommentierung kann sich im Wettbewerb sehr unterschiedlicher Interpretationshypothesen ereignen, die für den Träumer selbst annehmbar werden oder nicht. Ein traumanalytisches Programm ist daher sinnvoll nicht nur als Interpretationsprogramm, sondern auch als Analyse der Traumspra7

Brigitte Boothe (2009): Die Traummitteilung. Von der Erinnerungscollage zur narrativen Traumanalyse. In: Psychotherapie im Dialog 10 (1) (2009). S. 137-143.

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che und der Traummitteilung. Die Arbeit am Traum – das Explorieren und Untersuchen – ist ein besonders fruchtbarer Weg zur Bereicherung emotionaler Intelligenz und des Selbstverständnisses; es ist die Arbeit an psychischem Material, das sich der Verfügbarkeit und Kontrolle über weite Strecken entzieht.

Amalie, das Klavier und der hermeneutische Traum Amalie träumte häufig, teilte ihre Träume auch mit, aber sie verhielt sich reserviert und misstrauisch, was die gemeinsame Aufmerksamkeit auf das Traummaterial anging und die Kommentierung der Traumberichte durch den Analytiker. Oft begegnete sie den Kommentaren des Analytikers mit Skepsis oder Zurückweisung, oder sie ließ ihm – und auch sich selbst – kaum Zeit oder Gelegenheit, auf die Traummitteilungen genau und detailliert und in Ruhe einzugehen. Sie zeigte, ihre Träume mitteilend, etwas Persönliches und Intimes von sich selbst, gab es dann aber doch oft nicht vertrauensvoll, interessiert und wertschätzend zur liebevollen Betrachtung und zum vertieften Verstehen preis. Hier mochte sich auf der Ebene der Traum-Beziehung zeigen, was sich auf der Ebene der intimen Körpersymptomatik in der Beziehung vollzog: Zum Einen wollte sie dem Analytiker vorführen und mitteilen, wie es um ihren weiblichen Körper bestellt war, und andererseits wagte sie nicht, damit zu rechnen, dass diese individuelle Körperverfassung mit Achtung, Freundlichkeit und sensiblem Interesse betrachtet werden könnte. Amalie ist bei Kontaktaufnahme zum Therapeuten eine 37-jährige alleinstehende Gymnasiallehrerin. Seit der Pubertät ist sie durch idiopathischen Hirsutismus stigmatisiert, der sich medizinisch als behandlungsresistent erweist. Sie rechnet in der Partnersuche mit Nachteilen und in sozialen Beziehungen mit Ausgrenzungsrisiken (wenn die virile Behaarung sichtbar wird, wie z.B. bei sportlichen oder festlichen Aktivitäten). Der erste oder Initialtraum zeigt eine mächtige Mutterfigur am Klavier, in der Rolle einer prüfenden Lehrerin. Der letzte Traum zeigt Ama-

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lie als psychoanalytische Autorität, bereit, lernwilligen Personen Unterweisung zu geben. Auch hier steht ein Klavier im Raum.

Schwiegermutters Klavierdiktat (Initialtraum, 6. Sitzung) P: „Vor der Prüfung war das ja jedes Jahr eine ganz schlimme schlimme Nacht und dann wachte ich so alle Stunde auf gegen Morgengrauen, um drei, um vier und so. Da kam dann die Schwiegermutter meines Bruders und sagte ,so ich hab euch ein schönes Diktat gemacht.‘ Und die setzte sich ans Klavier (lacht), ich glaub bei uns zu Hause, und hat so ein Liederbuch aufgemacht und hat den Text rausgeholt. Und das war ein ganz blöder Text ... dann kam ein anderer Traum dazwischen der ging dann sehr lang ... Direkt Angst hatte ich eigentlich gar nicht davor, sondern das unangenehme Gefühl, es kann schief gehen... Der Traum ging noch weiter mit den Schülerinnen... Ich weiß nicht, haben wir da unter Bäumen geschrieben oder? Das kann ich nimmer genau sagen…“ Im Traum ersetzt eine Mutterfigur (Schwiegermutter des Bruders) Amalies Rolle einer prüfenden Lehrperson. Die Prüfungssituation selbst wird privatisiert (Haus der eigenen Eltern, Diktat aus dem Liederbuch, Schwiegermutter am Klavier platziert). Die Schwiegermutter des Bruders ist Protagonistin und Initiatorin: Die tonangebende Mutter-Figur entschärft den Initiations-, Test- und Arbeitscharakter der Prüfungssituation durch regressive Infantilisierung (Spiel- und Lustcharakter, Liederbuch, schönes Diktat) und lädt ohne spezifische personale Bezugnahme zum Mitmachen ein. Die Ich-Figur greift nicht handelnd ein, ist aber auf etwas zurückgenommene Art emotional beteiligt: „Direkt Angst hatte ich eigentlich gar nicht davor, sondern das unangenehme Gefühl, es kann schief gehen.“ Abschließend kommt es zum regressiv-rekreativen Kompromiss (Diktat unter Bäumen); die Ich-Figur ist in einer anonymen Wir-Gruppe. Ein Arrangement lässt sich erschließen, in dem das Ich durch eine Mutter-Figur ersetzt und damit Entlastung von professioneller Verantwortung und autoritativem Status möglich wird. Es kommt zur Privati-

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sierung der beruflichen Prüfungssituation. Aus der Reifeprüfung wird ein Ambiente pflegebereiter und lustfreundlicher, aber auch skurriler Mütterlichkeit, an die man sich - die komische Mutterfigur nicht ganz ernst nehmend - in der Position des Kindes in rezeptiver Haltung wendet. Der Initialtraum von Schwiegermutters Klavierdiktat zeigt eine regressive Bewegung der Entlastung von Verantwortung. Diese geht aus von der infantilen Fantasie der mächtigen, pflegebereiten, ressourcenreichen Mutterfigur, die auch schützt und aufpasst und animiert und gegen die man sich auflehnen kann, wenn sie nicht gut genug kontrolliert, pflegt und animiert. Aus der mächtigen Muttergestalt wird im Traumporträt eine komische Figur. Das ist eine Verwandlung ins Komische, von der Amalie in vielen Träumen Gebrauch macht.

Amalie als hermeneutische Deutungsautorität (Finaltraum, 95. Traum, 517. Sitzung) Im letzten Traum positioniert sich das Traum-Ich in souveräner Position. In der Realität geht es um die bevorstehende Beendigung der Analyse. P: „Wissen Sie, ich wollt noch schnell sagen, was ich heut Nacht geträumt hab. An meinem Türöffner mit Telefon hat es geläutet und da sagte jemand ,ich möchte nur von Ihnen wissen, was Interpretation ist, oder wie man interpretiert.‘ Und dann sagte ich noch ,sind Sie Akademiker?‘ Und dann sagte die Stimme ,ja‘, und dann hab ich auf den Knopf gedrückt, und dann kam nicht diese Frau die Treppe rauf, wie ich es erwartet hatte von der Stimme her, sondern eine Familie. Ganz viele Leute, Männer, Frauen, meistens schon älter... Sie sagten ,wir sind alles Anthroposophen.‘ Unten hat sich... eine Tür geöffnet und die Frau NN hat ein Buch rausgegeben und hat gesagt ,da wissen Sie alles über Interpretation.‘ Und dann, wie sie vor meiner Tür standen, sagten sie ,also wir sind Anthroposophen.‘ Und dann stand in meiner Wohnung ein ganz großer Flügel. Und die (Wohnung) war plötzlich völlig unaufgeräumt, das war entsetzlich! Da lag ein Kleid auf dem Glastisch, und

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da lag eine Unterhose auf dem Sofa, und es war schlimm... Und es war dann doch wieder nicht so, dass ich es... furchtbar tragisch nahm, ich hab dann einfach was unter das Sofakissen gestopft und hab versucht, so ein bisschen aufzuräumen. Und dann haben wir uns unterhalten über Hermeneutik... Es ging dann... plötzlich jemand ans Klavier, ich weiß nicht mehr. Auf jeden Fall sah es in meiner Wohnung nicht nach Gästen aus. Das war schon erstaunlich.“ Eine anonyme Figur, zunächst weiblich, wendet sich an Amalie als an eine intellektuelle Autorität und bittet draußen vor der Tür um Einlass in ihre Privatwohnung. Ein Oben-unten-Gefälle kommt zur Darstellung. Amalie wird als Kapazität angesprochen. Es erfolgt die Privatisierung des Lehrer- oder Dozentenstatus der Amalie durch erbetenen Zutritt in Privaträume. Amalie handelt als Instanz, die Zutritt gewähren oder verweigern kann (Sind Sie Akademiker?). Das weibliche Gegenüber wandelt sich in eine vielköpfige Gruppe, bestehend aus überwiegend älteren Personen, die sich zu einer hermeneutischen Denk- und Lebensrichtung bekennen. Sie gelangen von unten nach oben zu Amalie, deren Wissensrepertoire durch weibliche Handreichung (ein Buch, in dem alles Wissenswerte über Interpretationen steht) gesichert wird. Amalie, umgeben von den Eingetretenen, findet einen Konzertflügel im Zimmer vor, ist verlegen angesichts ihrer Privatwohnung, in der plötzlich intime Kleidung indezent und unaufgeräumt sichtbar ist. Sie greift beiläufig zu reparativen Maßnahmen des Verhüllens, engagiert sich gesprächsweise über Hermeneutik. Zum Schluss begibt sich eine anonyme unbestimmbare Figur zum Flügel. Amalie begegnet der lebenspraktischen Herausforderung, Abschied von der Analyse zu nehmen, mit der Fantasie, dass sie die infantile Abhängigkeit von der Primärfamilie überwunden hat, optimal ausgestattet und mit den Ressourcen der Analyse versehen ist. Nicht die Schwiegermutter des Bruders diktiert am Klavier, wie im Initialtraum, sondern im Finaltraum ist Amalies Raum mit einem großen Flügel ausgestattet. Amalie findet Traum-Entspannung in der Vorstellung, selbst optimal ausgestattet zu sein und auf Ressourcen der Analyse und des Analytikers verzichten zu können. Im Finaltraum ist Amalie eine Auto-

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ritätsfigur, die sich souverän und ganz weit oben präsentiert; man muss sich ihr von ganz weit unten nähern und bekommt nur Zutritt, wenn man bestimmten Bildungsansprüchen (Sind Sie Akademiker?) genügt. Fantasien vom Gedeihen, Wachsen und Ausgestattetwerden durch elterliche Ressourcen (Mutters gewaltiger Flügel – Vaters gesetzgebende Autorität) spielen eine Rolle. Manches Intime und Private liegt herum, das spricht für einen Zuwachs an Sorglosigkeit und Zwanglosigkeit, aber ganz ist die Angst vor Bloßstellung nicht verschwunden; auch geht ein anonymer Anderer an ihrer statt zum Flügel. Dass die TraumAmalie am Ende nicht selbst entschlossen zum Flügel schreitet, um raumfüllend den Ton anzugeben, ist ein vieldeutiger Ausklang. Wer raumfüllend den Ton angibt, könnte ja noch immer zur komischen Figur werden (siehe Schwiegermutters Klavierdiktat). Wer raumfüllend den Ton angibt, muss vielleicht noch selbstsicherer sein als das Ich des Traumes. Wer raumfüllend den Ton angibt, tut das nicht lange. Wer raumfüllend den Ton angibt, imponiert vielleicht, – aber vielleicht hat Amalie es am Ende der Traumepisode gar nicht mehr nötig, mit einer musikalischen Leistung hervorzutreten, sondern sich in der Intimität der eigenen Häuslichkeit auf das Glück persönlicher Beziehungen einzustellen. Immerhin sah es in meiner Wohnung nicht nach Gästen aus. Persönliches ist nicht versteckt, sondern liegt offen herum, ohne dass es die Träumerin allzu sehr aufregt. „Das war schon erstaunlich.“ Zum Kontext der psychotherapeutischen Situation: Am Ende der analytischen Beziehung betont Amalie Souveränität und Abgrenzung, auf der Ebene der Beziehung und auf der Ebene der Traumberichte. Sie begegnet der emotionalen Herausforderung der Trennung mit der Fantasie narzisstischer Restitution und der Fähigkeit zur narzisstischen Selbstgenügsamkeit. Diese Haltung schafft Zuversicht und Selbstvertrauen, einhergehend mit euphorisierender Selbstüberschätzung. Dass die narzisstische Restitution die Abhängigkeit von mütterlicher Unterstützung nicht aufhebt, wird eindrucksvoll deutlich, wenn es im Traum heißt, dass Frau NN der Ich-Figur ein Buch über Interpretation zusteckt und wenn – aus Platzgründen ist diese Passage nicht wiedergegeben worden – es im Nachtrag zum Traum heißt, dass die eigene Wohnung sich in die elterliche Wohnung verwandelt.

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Zugang zum Traum und emotionale Intelligenz Die Arbeit am Traum – das Explorieren und Untersuchen – ist ein besonders fruchtbarer Weg zur Bereicherung emotionaler Intelligenz und des Selbstverständnisses; es ist die Arbeit an psychischem Material, das sich der Verfügbarkeit und Kontrolle über weite Strecken entzieht. Die therapeutische Dyade genügt sich bekanntlich nicht selbst. Der Therapeut ist Mittler und Vermittler zwischen psychischen Anliegen und Ansprüchen der Lebenswirklichkeit. Er ermutigt den Patienten, sich produktiv und initiativ der Lebenswirklichkeit zuzuwenden und zwar auf der Basis der Anliegen, die den Patienten bewegen und beseelen. Amalie sah sich ermutigt, den Radius ihres Lebens zu erweitern, neue Erfahrungen zu machen, belastende Bindungen zu lockern. Sie beendete die Behandlung, so zeigt es der letzte Traum, als Frau mit Statusbewusstsein und in gleichsam souveräner Selbstpositionierung. Eine Nische im Leben ist gefunden, ein Zimmer-für-sich-allein eingerichtet, mit Virginia Woolf gesprochen, ein Raum, ausgestattet mit den Schätzen und Errungenschaften, die in der Psychoanalyse gesammelt und angeeignet wurden. Und Gäste können eintreten. Träume dienen nicht nur der psychophysischen Spannungsregulierung, sondern werden wirksam als geistiges Handeln eigener Art. Ein Weg zur Selbsterkenntnis, sogar ein „Königsweg zum Unbewussten“ sollte mit Freud der Traum sogar sein. Auf diese Weise wird Selbsterkenntnis zu einer Aufgabe, die immer mindestens zwei zu leisten haben. Es geht um eine innovative Form der Selbstexploration zu zweit oder der emotionalen Intelligenz als Beziehungsfigur oder der Geburt der Innenwelt im Blick des Anderen. Selbsterkenntnis wird zur Angelegenheit eines offenen, nicht abschließbaren Dialogs ohne natürliches Ende, ohne gewisse Grenzen.

Literatur Boothe, Brigitte (2001): The rhetorical organisation of dream-telling. In: Counselling and Psychotherapy Research 1 (2) (2001). S. 101-113.

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Boothe, Brigitte (2006): Wie erzählt man einen Traum, diesen herrlichen Mist, wie porträtiert man seinen Analytiker? In: Michael H. Wiegand, Flora von Spreti & Hans Förstl (2006) (Hrsg.): Schlaf und Traum. Neurobiologie, Psychologie, Therapie. Stuttgart: Schattauer. S. 159-170. Boothe, Brigitte (2009): Die Traummitteilung. Von der Erinnerungscollage zur narrativen Traumanalyse. In: Psychotherapie im Dialog. 10 (1) (2009). S. 137-143. Boothe, Brigitte (2018): Amalie - Traumdeutung in der heutigen Praxis. In: Wolfgang Berner, Gabriele Amelung, Annegret Boll-Klatt & Ulrich Lamparter (2018) (Hrsg.): Von Irma zu Amalie. Der Traum und seine psychoanalytische Bedeutung im Wandel der Zeit. Gießen: Psychosozial-Verlag. S. 53-82. Boothe, Brigitte (2019): The session 152 in the view of the JAKOB coding system. In: Horst Kächele, Michael B. Buchholz & Juan Pablo Jiménez (Hrsg.): Amalia’s specimen case. In memory of Helmut Thomä. Chapter 14. Gülich, Elisabeth & Ingrid Furchner (2002): Die Beschreibung von Unbeschreibbarem. Eine konversationsanalytische Annäherung an Gespräche mit Anfallskranken. In: Inken Keim & Wilfried Schütte (2001) (Hrsg.): Soziale Welten und kommunikative Stile. Festschrift für Werner Kallmeyer zum 60. Geburtstag. Tübingen: Narr. S. 161-186. Gülich, Elisabeth & Heiko Hausendorf (2012): Träume im Gespräch. Linguistische Überlegungen zur Erzählbarkeit von Träumen. In: Friederike Kern, Miriam Morek & Sören Ohlhus (2012) (Hrsg.): Erzählen als Form – Formen des Erzählens. Berlin/Boston: de Gruyter. S. 13-47. Gülich, Elisabeth & Martin Schöndienst (1999): „Das ist unheimlich schwer zu beschreiben.“ Formulierungsmuster in Krankheitsbeschreibungen anfallskranker Patienten: Differenzialdiagnostische und therapeutische Aspekte. In: Psychotherapie & Sozialwissenschaft: Zeitschrift für qualitative Forschung und klinische Praxis. 1/3 (1999). S. 199-227.

Die Unergründlichkeit der Traummitteilung und die Unabschließbarkeit der Deutung

Hanke, Michael (2001): Kommunikation und Erzählung. Zur narrativen Vergemeinschaftungspraxis am Beispiel konversationellen Traumerzählens. Würzburg: Königshausen & Neumann. Kreuzer, Stefanie (2014): Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink. Wyl, Agnes von & Brigitte Boothe (2003): Weibliches Leiden an der Anatomie. Der Körper als Feind im Spiegel des Alltags- und Traumnarrativs. In: Zeitschrift für qualitative Bildungs- Beratungs- und Sozialforschung, 1 (2003). S. 61-80.

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Das Unverständliche verstehen Zur Rolle des Psychiaters Frank Matakas

Der Text Apryct, Hbocefso schreibt: „GROSSMUTTERS TODESGESPRÄCH. GOABWONMATBPAEROBOP.? Hitlerkpancpah.“1 Diesen Text verstehen Sie natürlich nicht. Und wenn ich Ihnen dazu keine weiteren Informationen gebe, könnten Sie denken, dass sich da jemand vertippt hat oder dass es eine Art verschlüsselter Text ist. Aber angesichts des Titels meines Vortrages haben Sie natürlich eine andere Idee. Der Text könnte von einem Verrückten stammen. Das hätten Sie so nicht gesagt, weil verrückt, ebenso wie irre, herabsetzend ist, fast ein Schimpfwort, und das darf man in einem wissenschaftlichen Kontext nicht benutzen. Von einem, der dem Wahnsinn verfallen ist, einem Geisteskranken hätte es früher geheißen, von einem psychisch Kranken ist die korrekte Formulierung heute. Und in der Tat, dieser Text befindet sich in einer Anthologie von Leo Navratil und der war Psychiater. Der Text ist von einem psychisch Kranken, der sich Apryct nennt. Herr Apryct hatte eine Psychose. Eine Psychose ist ein psychischer Zustand, bei dem die Realitätskontrolle gestört ist. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Schizophrenie. Herr Apryct hatte so etwas wie eine Schizo-

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L. Navratil (1971). a+b leuchten im Klee. Psychopathologische Texte. München: Hanser. S. 64.

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phrenie. Dann ist also alles klar. Diesen Text kann man nicht verstehen und man muss sich über den Sinn auch keine Gedanken machen. Wenn Sie so denken, denken Sie wie wahrscheinlich die meisten Menschen, die sagen würden, dass dieser Text zu verrückt ist, um ihn verstehen zu können. Aber erstens, was meinen Sie, was meinen wir eigentlich mit verrückt, mit wahnsinnig, geisteskrank, psychisch krank? Und zweitens, wieso gehen Sie davon aus, dass der Text eines psychisch Kranken nicht zu verstehen ist? Und da wäre als weitere Möglichkeit noch die Kunst. Der Text könnte auch Niederschlag einer künstlerischen Arbeit sein. Der Kunst trauen wir ja alles zu. Also verrückt oder Kunst.

Warum ist das interessant? Aber bevor ich Sie weiter mit diesem Thema beschäftige, bin ich Ihnen eine Erklärung schuldig, warum diese Frage, was verrückt bedeutet, so interessant sein soll, dass ich einen Vortrag darüber vor Ihnen halte. Sie sind doch keine Psychiater. Es scheint mir auffallend, dass wir uns wenig mit dieser Frage beschäftigen. Zum Beispiel, die Nähe zwischen der Kunst und dem Verrückten ist zwar jedem irgendwie geläufig und wird auch schon bei den Alten2 erwähnt, ist aber kaum je bedacht worden. - In der alltäglichen Rede benutzen wir die Ausdrücke verrückt und wahnsinnig sehr oft. „Wir hatten wahnsinniges Glück“, könnte man sagen, oder „Das Wetter spielte verrückt“. Bei diesem Gebrauch sollen diese Begriffe nur das ungewöhnliche, unberechenbare bezeichnen. Aber wie immer ist der Gebrauch eines Wortes nicht zufällig. Das Spezifische ist immer gemeint und das ist meine Frage: Was ist das Spezifische? Wenn Sie das alles nicht lockt, sich damit zu beschäftigen, was verrückt eigentlich ist, dann vielleicht die Tatsache, dass der Wahnsinn in der Politik eine Rolle spielt. Schon Tacitus spricht, im Zusammenhang mit dem römischen Kaiser Caligula, vom Furor principum. Furor heißt 2

Platon. Phaidros 244.

Das Unverständliche verstehen

Wut, ist aber auch das lateinische Wort für Wahnsinn. Der Schriftsteller Gustav Freytag übersetze es mit Cäsarenwahnsinn3 . Stalin ist ein modernes Beispiel für einen Paranoiker, der ein Riesenreich beherrschte. Von ihm ist der Ausspruch überliefert: „Das größte Vergnügen ist, einen Feind aufs Korn zu nehmen, alle Vorbereitungen zu treffen, sich gründlich zu rächen und sich dann schlafen zu legen.“4 Über Stalins üblen deutschen Zeitgenossen und dessen Wahnsinn brauche ich hier nichts zu erzählen. Bion, ein bedeutender und hoch angesehener englischer Psychoanalytiker, hat bei seiner Arbeit mit Gruppen beobachtet, dass Menschen in Führungspositionen gewählt werden, nicht obwohl sie erkennbar verrückt sind, sondern andersherum, weil sie es sind.5 Der offenkundige Wahnsinn von Caligula und seinen Nachfahren war also kein Unglücksfall sondern gewollt. Etwas vornehmer haben die US-amerikanischen Psychiater jüngst in einem aktuellen Fall, der allerdings im geschichtlichen Vergleich bislang noch harmlos wirkt, von narzisstischer Störung gesprochen. – Ich will später eine Erklärung für die Zusammenhänge versuchen. Dabei soll uns die Hermeneutik leiten, und zwar einmal als Exegese, dann auch in ihrer philosophischen Version.

Wahnsinn als Krankheit Als erstes will ich die Psychiater, die ja Experten auf dem Gebiet des Wahnsinns sind, befragen. Dabei ist unser Kronzeuge in der Sache Herr Apryct, der in einer psychiatrischen Klinik war. Also, was ist verrückt? Doch wie ich schon sagte, kommt der Begriff verrückt in der Terminologie der Psychiatrie nicht vor. Apryct hatte die Diagnose Psychose. Was

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G. Freytag (1864). Die verlorene Handschrift. R.C. Tucker (1973). Stalin as a Revolutionary, 1879 -1929: A Study in History and Personality. New York: Norton. S. 211. W.R. Bion (1974). Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. Stuttgart: Klett. S. 88.

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eine Psychose ist, dazu haben die Psychiater eine klare Meinung. Die Psychose ist eine Krankheit. Sie liegt dann vor, wenn die Symptome Wahn oder Halluzination vorhanden sind. Was Wahn und was Halluzinationen sind, brauche ich Ihnen nicht zu erklären. Eine Krankheit befällt normalerweise zunächst nur Teile des Organismus. Eine Nierenerkrankung z.B. muss nicht zu Schäden an der Lunge führen. Das gilt auch für psychische Krankheiten. Es sind nicht alle Prozesse des Seelenlebens gestört. Wenn Apryct z.B. Zeitung liest oder einen Verdauungsspaziergang macht, würden wir das nicht seiner psychischen Krankheit zuschreiben. Menschen, die an einer psychischen Krankheit leiden, haben krankhafte Symptome, aber sie verhalten sich teilweise normal, eben wie alle anderen Menschen auch. Verstehen wir mit dieser Auskunft den Text „GROSSMUTTERS TODESGESPRÄCH“ usw.? Wissen wir jetzt besser, was verrückt ist? Nein. Mit der Auskunft, dass Apryct psychotisch war, ist uns in der Sache nicht geholfen. Weder verstehen wir den Text, noch wissen wir, was verrückt ist; denn wenn wir sagen wollten, so einen Text zu schreiben, das ist verrückt, dann haben wir vorab geurteilt, dass der Text Ausdruck von Verrücktheit ist. Aber warum das so ist, dafür suchen wir ja die Begründung. Wir müssten also wenigstens wissen, ob wir diesen Text als Ausdruck seiner psychischen Krankheit ansehen sollen oder nicht. Wenn aber der Text Ausdruck der psychischen Krankheit ist, dann ist er gewissermaßen ein Symptom. Die Krankheit hätte sich in der Form eines geschriebenen Textes manifestiert. Genauso gut hätte Apryct in eine Bewegungsstarre verfallen können. Die meisten Psychiater sind der Meinung, dass die Symptome psychotischer Menschen nicht zu verstehen sind, so z.B. auch Karl Jaspers6 , der ja Psychiater war. Wenn also ein psychotischer Mensch Stimmen hört, also akustische Halluzinationen hat, bedeutet es nichts, wenn die Stimmen z.B. sagen, dass die Welt gleich untergehen wird. Die Argumentation läuft also darauf hinaus, dass jemand psychotisch ist, wenn er psychotische Symptome hat.

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K. Jaspers (1946). Allgemeine Psychopathologie. Heidelberg: Springer.

Das Unverständliche verstehen

Der Text ist aber nicht notwendig Ausdruck der psychischen Krankheit, sondern könnte eine Mitteilung sein, die der gesunde Anteil von Apryct gemacht hat. Er könnte dann als Kunst oder als verschlüsselter Text o.ä. verstanden werden. Das würde uns ebenso zunächst nicht weiterhelfen.

Die Psychoanalyse Die Psychoanalytiker unter den Psychiatern gehen das Problem anders an. Sie forschen nach dem unbewussten, also verborgenen Sinn in dem, was ihr Patient äußert. So kann der Analytiker dem Patienten helfen, sich besser zu verstehen und gegebenenfalls sein Symptom loszuwerden. Ein Psychoanalytiker würde also sagen, dass der Text von Apryct sehr wohl einen sinnvollen Inhalt hat, den man freilich entschlüsseln muss. Dafür braucht man allerdings Einfälle, die Apryct dazu hat, Angaben zum Kontext, in dem der Text entstanden ist, und Details seiner Lebensgeschichte. Diese Kenntnisse haben wir nicht. Wir wissen lediglich, dass Apryct Insasse einer psychiatrischen Anstalt war zu einer Zeit, als die Mordaktionen der Nazis an den Patienten noch nicht lange her waren. Wir ahnen also, dass „GROSSMUTTERS TODESGESPÄCH“ mit einem Verlusterlebnis von Apryct in Verbindung steht. „Hitler…“ steht vielleicht für eine Grausamkeit. „GOAB …“ usw. könnte das Unverständliche meinen. Das ist nicht viel an Verständnis. Aber ich will auch nur zeigen, dass der Text, so merkwürdig er auch aussieht, einen verstehbaren Sinn haben könnte. Und wenn wir den Text so oder so ähnlich verstehen, erscheint er uns als eine Mitteilung mit Sinn. Das kann uns aber nicht erklären, was verrückt eigentlich bedeutet.

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Der Wahnsinn stört Folgen wir den Psychiatern, so ist der merkwürdige Text von Apryct entweder als ein Symptom seiner Krankheit zu werten und bedeutet nichts oder er ist eine Äußerung, wie sie irgendein anderer auch hätte machen können. Die Psychiatrie, obwohl der Wahnsinn ihr Geschäft ist, kann uns bei der Frage, was der Wahnsinn ist, wenig weiterhelfen. Befragen wir also einfach uns selbst; denn wir haben doch eine Antwort: Das Widersprüchliche, was konfus und ohne Sinn ist oder gar widersinnig, das ist verrückt. Das klingt nun simpel und lässt nicht vermuten, dass dahinter für die Menschen ein ernstes Problem steckt. Der französische Philosoph Foucault7 zeigt in seiner Studie Histoire de la folie, dass die Menschen der Moderne das Gesicht des Wahnsinns nicht ertragen und darum aus dem öffentlichen Leben verbannen. Dafür wurden die großen Anstalten geschaffen, in denen die Irren untergebracht, d.h. verborgen, wurden. Begründet wurde diese Maßnahme damit, dass die Irren in diesen Anstalten behandelt werden sollten. Aber dann ergab sich, dass viele Auffälligkeiten der Insassen Folge der Unterbringung waren. Und diese Folgen waren schwerwiegender als die Symptome ihrer psychischen Krankheit. Das heißt, sie wurden kränker gemacht als sie schon waren. Heute sind diese Anstalten weitgehend verschwunden. Mit den modernen Psychopharmaka gelingt es, die Symptome der psychischen Krankheiten zu unterdrücken. Ob das Ergebnis besser ist, sei mal dahingestellt. Diese Haltung gegenüber dem Wahnsinn war und ist übrigens nicht immer und überall so. Platon rühmt im Phaidros den Wahnsinn als eine kreative Gabe der Götter und im Hinduismus werden Menschen, die wir als schizophren bezeichnen würden, als Sadhu verehrt.8

7

8

M. Foucault (1968). Psychologie und Geisteskrankheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ders. (1969). Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. W. Doniger (2009). The Hindus: An Alternative History. New York: The Penguin Press.

Das Unverständliche verstehen

Aber wir hätten eine Erklärung, warum gerade die Psychiatrie so wenig zu der Frage, was verrückt bedeutet, beitragen kann. Weil es ihre Aufgabe ist, den Wahnsinn zu beseitigen, wenigstens aber unsichtbar zu machen. Dabei ist sie in der Vergangenheit weder vor der Verstümmelung des Gehirns9 noch vor Mord zurückgeschreckt. So ist auch weder die Unterbringung in den Anstalten noch die Behandlung mit Psychopharmaka unbedingt Ausdruck der Fürsorge für die Patienten. Oft wird eine Behandlung gegen den Willen des Betroffenen erzwungen, ist also vom Interesse der Gesellschaft diktiert. Aber warum ist das so? Warum unternehmen die Menschen so große Anstrengungen, den Wahnsinn unsichtbar zu machen?

Man kann den Wahnsinn nicht isolieren Wenn wir auch pauschal sagen können, was wir für verrückt halten, so haben wir doch kein sicheres Kriterium zu entscheiden, ob etwas vernünftig ist oder Ausdruck von Unvernunft. Und natürlich kann es ein solches Kriterium gar nicht geben. Was sollte das auch für ein Kriterium sein, das Sinnlose, Unvernünftige, Verrückte, Wahnsinnige zu definieren, das doch keine Struktur hat? Wir können die Unvernunft nicht säuberlich von der Vernunft trennen. Wenn man das versucht, bleibt doch in dem, was man so erhält und für vernünftig ansieht, immer mögliche Unvernunft zurück. Es ist wie bei einem Magneten. Wenn man einen Pol abschneidet, hat man nicht zwei Stücke mit je einem Südpol und einem Nordpol, sondern jedes Einzelstück hat wieder Nord- und Südpol. Vernunft und Unvernunft lassen sich nicht klar trennen. Pascal formuliert es so: „Die Menschen sind so notwendig verrückt (fou), dass nicht verrückt sein nur hieße, verrückt sein nach einer anderen Art von Verrücktheit.“10

9 10

Nur einmal ist ein Psychiater mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden: der Portugiese Moniz 1948 für die Erfindung der Lobektomie. B. Pascal. Penseés, Les philosophes, 414.

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Das will natürlich nicht sagen, dass es beliebig wäre, etwas vernünftig oder unvernünftig zu nennen. Im Gegenteil, es ist bestimmt sinnvoll in dem Meer der Unvernunft nach den Inseln der Vernunft zu suchen, um nicht zu ertrinken. Und wenn wir morgens aufstehen, um zur Arbeit zu gehen, mögen wir zwar oft darüber nachdenken, ob es vernünftig ist, diesem Trott zu folgen. Aber in der Regel kann sich die Vernunft gegen alle Anfechtungen behaupten. Kurz, wir gehen davon aus, dass wir im Rahmen des Möglichen meist vernünftig denken und handeln. Aber wir wissen auch, die Unvernunft lauert in allem.

Was also ist Wahnsinn? Die Vernunft muss der Unvernunft abgerungen werden. Das heißt, wir haben wenig Sicherheit in unserem Wissen. Die Mathematik kann sich zwar sicherer Wahrheiten rühmen, und das hilft, um bei der Erforschung der Natur zu einigermaßen sicheren Resultaten zu kommen. Aber wenn es um unser Seelenleben geht oder um die sozialen Systeme, in denen wir leben, hilft die Mathematik nicht. Unser Wissen, wenn es denn Wissen ist, hat den Zweifel als ständigen Begleiter. Das gilt ausnahmslos. Was den Zweifel nicht zulässt, ist Wahn. Um der Wahrheit eine Chance zu geben, muss man die Unvernunft aushalten. Selbst die christliche Tradition, die sich ja nicht gerade durch Toleranz ausgezeichnet hat, kennt das: „Credo quia absurdum est (ich glaube, weil es absurd ist).“11 Versuchen wir jetzt noch einmal den Text von Apryct zu lesen. Der Text hat verschiedene Elemente. Es gibt Worte, nämlich Großmutters, Todesgespräch, Hitler, dann zwei Mal eine Buchstabenfolge, die wir keinem Wort zuordnen können und schließlich Satzzeichen. Wir lesen die Worte und kommen dann an die unverständliche Buchstabenfolge. Wir können diese nun so lesen, als habe der Autor eine Absicht gehabt, die er in der Buchstabenfolge ausdrückt, wenn auch verborgen. Ich denke 11

Tertullian. De carne Christi V oder S. Kierkegaard. Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est.

Das Unverständliche verstehen

mir aber, dass es so nicht war, als Apryct den Text schrieb. Ich denke mir, dass Apryct in seinem ungestalteten Inneren eine schwache und flüchtige Struktur gefunden hat. Das ist der lesbare Teil: „GROSSMUTTERS TODESGESPRÄCH“. Aber die Gestaltungskraft von Apryct reichte nicht weit. Nach den wenigen Worten sind es nur noch Buchstaben, die er zustande bringt. Das ist gegenüber seinem chaotischen Inneren schon eine Struktur. Für uns, die wir Texte anders kennen, ist es das nicht. Dann hat er noch mal die Kraft, den Namen Hitler zu konstruieren. Wir lesen den Text von Apryct so, dass er aus einem ungestaltenem Inneren entstanden ist. Aber die Gestaltgebung war begrenzt. Nicht in Widerspruch dazu kann man die Buchstabenfolge auch als eine Gestaltung ansehen, die ganz unbekümmert um die Orthografie erfolgt ist. Gerade weil Apryct sein Inneres nicht mit Rücksicht auf das gestalten kann, was andere verstehen - so die Annahme -, ist er frei in der Formgebung. Man kann sich vorstellen, dass auf diese Weise bei einem Künstler Werke entstehen. Darum die Nähe der Kunst zum Verrückten. Immer ist es diese Grenzerfahrung, die etwas Neues entstehen lässt, bei dem psychotischen Apryct wie bei jedem talentierten Menschen. Wir können den Text von Apryct als Widerschein seines inneren Zustandes ansehen. Ausgangspunkt und Grundlage ist das Gestaltlose, das keine Struktur hat. Der Text dagegen hat eine Struktur, die in den Wörtern mit Bedeutung und eine Struktur, die in der Buchstabenfolge ohne Sinn ausgedrückt ist. Zu mehr reichte die Kraft bei Apryct nicht. Man könnte sich dazu eine Analogie denken, nämlich wie die alten Mythen die Entstehung der Welt beschreiben. Am Anfang war nur das Chaos. Aus dem Chaos ist alles entstanden. Das Verrückte ist keine besondere Differenzierung, sondern ereignet sich auf der Grenze zwischen Chaos und geordneter Welt. Es lässt Differenzierung entstehen oder ist Auflösung von Differenzierung. Jenseits der Grenze ist das Reich der Unvernunft. Im Reich der Unvernunft gibt es keine Erkenntnis. Diesseits der Grenze kann Vernunft auftauchen.

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Die Angst Jetzt haben wir also eine Idee, was der Wahnsinn ist. Er ist der Zerfall unseres Seelenlebens, der mal nur einzelne Bereiche betrifft, mal zu einer Zerstörung der Identität führt. Das eine nennen wir eine neurotische Störung, das andere eine Psychose. Aber der Wahnsinn ist auch die Quelle von Kreativität. Ich würde meinen, ohne ihn geht es nicht. Das wäre, um mit Platon zu reden, der göttliche Wahnsinn. Immer ist aber ist diese Grenzerfahrung mit Angst verbunden und offensichtlich haben auch wir, die wir uns doch nicht für wahnsinnig halten, diese Angst. Diese Angst bringt uns dazu, die Unvernunft aus unserem Gesichtsfeld zu verbannen, die Irren wegzuschließen oder sie ruhig zu stellen, womit wir die Psychiater beauftragt haben. Man kann von dem Aufwand, der in dieser Sache betrieben wird, schließen, wie groß diese Angst ist. Normalerweise spüren wir diese Angst nicht, weil unser Leben durchsetzt ist von Regeln, die auch eine Abwehrfunktion haben. Sie befällt uns aber, wenn wir etwas Neues denken, wenn wir kreativ sein wollen und wenn wir von der herrschenden Meinung abweichen. Wahrheit und Vernunft sind nur möglich, wenn der Zweifel zugelassen wird. Das macht Angst; denn der Zweifel stellt unser Selbst- und Weltbild in Frage. Man kann sich diese Angst ersparen, indem man den Zweifel nicht zulässt. Das ist der Wahn.

Die politische Ebene Bevor ich nun zum Schluss komme, sollte ich, da wir hier in Köln sind, kurz auch den Karneval erwähnen. Die Kölner würden es mir nicht verzeihen, wenn ich es nicht täte. Der Karneval rühmt sich ja seiner Nähe zum Verrückten. Geben wir ihm darin Recht. Er ist ein gespielter und insofern kontrollierter Wahnsinn – wenn auch oft in zahnloser Form. Man kann den Gedanken Pascals, dass sich Unvernunft nicht vermeiden lässt, auch auf die politische Ebene übertragen. So wie der Einzelne, beherbergt auch jede Gesellschaft das Vernunftlose. Darum muss

Das Unverständliche verstehen

sie, wenn sie bei der Wahrheit bleiben will, den Zweifel an ihrer Vernunft zulassen. Wenn der Zweifel sich nicht als offener Widerspruch auf dem politischen Feld äußern darf, lebt er im Geheimen, wie in totalitären Gesellschaften. Aber die Gesellschaft ist dann als Ganzes psychotisch, was heißt, dass eine funktionierende Realitätskontrolle für diese Gesellschaft verloren geht. Damit ist früher oder später ihr Ende besiegelt. – So kann man jedenfalls schließen - und hoffen. Aber auch Utopien, wie sie sich die Philosophen erträumt haben, scheinen aus dem gleichen Grund nicht möglich. Zu den wahnsinnigen Cäsaren und verrückten Staatsmännern, wollte bzw. sollte ich noch etwas sagen. Doch vorweg zwei Anmerkungen. Erstens sind politische Prozesse bestimmt nicht allein durch psychische Faktoren bestimmt. Aber diese ganz auszuklammern, führt auch nicht zu einem überzeugenden Resultat. Zweitens, natürlich habe ich keine fertige Lösung, sondern nur Gedanken. Was der Psychoanalytiker Bion im Kleinen beobachtet hat, scheint ja auch im Großen zu gelten. Die Fürsten und Staatsmänner fanden und finden nicht trotz, sondern wegen ihrer psychischen Auffälligkeiten so viel Zuspruch. Es sind Menschen, die keinen Zweifel an sich dulden, darum ungeschützt dem Wahn ausgeliefert sind und darum immer überzeugt sind, die Wahrheit zu wissen. Das gefällt ihrer Gefolgschaft, besonders dann, wenn die Zeiten unsicher sind – wann wäre das nicht der Fall? – und wenn die Situation neue gesellschaftliche Strukturen verlangt. Ich glaube aber, dass den Menschen nicht verborgen bleibt, mit wem sie es da zu tun haben? Sie würden zustimmen, dass es sich um einen Verrückten handelt, dem sie folgen. Wenn das aber stimmen sollte, wie ist das möglich, wenn der Wahnsinn den Menschen andererseits so viel Angst macht? Sicher machen auch die charismatischen Anführer Angst und bestimmt auch darum, weil sie vor Augen führen, dass Bestehendes keinen Bestand hat und verändert werden soll; denn das zu tun ist ihr Programm. Die damit verbundenen Zweifel und Ängste ihrer Anhänger überwinden sie, weil sie sich angstfrei dem stellen, was verrückt erscheint. Das können sie, weil sie den Zweifel nur wenig oder gar nicht

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kennen. Gerade weil sie verrückt sind, scheint es so, als hätten sie die besondere Kraft, das was die Vernunft für unmöglich hält, zu überwinden. Es ist die Angst vor dem Verrückten, was die Menschen in die Arme verrückter Staatsmänner treibt.

Literatur Bion, W.R. (1974). Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. Stuttgart: Klett. Doniger, W. (2009). The Hindus: An Alternative History. New York: The Penguin Press. Foucault, M. (1968). Psychologie und Geisteskrankheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ders. (1969). Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Freytag, G. (1864). Die verlorene Handschrift. Roman in fünf Büchern. Leipzig, S. Hirzel. Jaspers, K. (1946). Allgemeine Psychopathologie. Heidelberg: Springer. Kierkegaard, S. (1948). Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est. Darmstadt: Claassen & Roether. Navratil, L. (1971). a+b leuchten im Klee. Psychopathologische Texte. München: Hanser. Pascal, B. Penseés, Les philosophes, 414. Platon. Phaidros 244. Tertullian. De carne Christi V. Tucker, R.C. (1973). Stalin as a Revolutionary, 1879 -1929: A Study in History and Personality. New York: Norton.

Das Wissen der Literaturwissenschaft Uwe Japp

1.

Wissen und Wissenschaften

Nach Paul Feyerabend waren die Wissenschaften zunächst „Künste“ (technai). Man sammelte Erfahrungen, ordnete sie und gab sie an andere weiter. So habe es sich mit der Kunst der Navigation, der Kunst des Heilens und anderen Künsten verhalten. Dieses ad-hocmäßige Verfahren genügte schon bald nicht mehr. Vielmehr wurde verlangt, dass das Wissen objektiviert werden müsse. Die Ergebnisse der ,Forschung‘ müssen begrifflich formulierbar sein und die Begriffe müssen allgemeinen Regeln (der Logik, der Argumentation) gehorchen. Man geht nicht fehl, wenn man hierin den Stil der wissenschaftlichen Forschung schlechthin erkennt. Feyerabend spricht hingegen von „ziemlich unrealistischen Forderungen“, die gleichwohl zur „Grundlage allen Forschens“ wurden.1 Den polemischen Impetus des Kritikers des Methodenzwangs erkennt man besonders gut daran, dass er das Reden über Forschung im genannten Sinne als Ideologie bezeichnet. Zusammenfassend bemerkt er: „Die Geschichte dieser Mischung von realistischen Verfahrensweisen und irrealen Forderungen bietet ein faszinierendes Schauspiel, ist aber bis jetzt kaum im Detail untersucht worden.“2 Bekanntlich hat Feyerabend große Teile seines Lebens als Forscher der Erhellung dieses Schauspiels

1 2

Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst, Frankfurt/M. 1984, S. 9. Ebd.

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gewidmet.3 Was uns hieran interessiert, ist der nebenbei gegebene Hinweis auf eine universalistische Wissenskonzeption („Grundlage allen Forschens“), der allerdings gerade nicht Feyerabends démarche in der Wissenschaftstheorie entspricht. Es ist klar, dass unter der Prämisse eines objektiven beziehungsweise objektivierbaren Wissens bestimmte Verfahrensweisen, die in der Forschung ebenfalls üblich sind oder waren, diskreditiert werden. Sie gelten als nicht oder weniger wissenschaftlich. Dieses Schicksal trifft etwa die von Feyerabend genannten „Künste“ – und im Prinzip alle nicht-objektivierbaren Disziplinen. Zu diesen gehören in einem noch näher zu erläuternden Sinn auch die sogenannten Geisteswissenschaften, die deshalb sogenannte Wissenschaften sind, weil sie eventuell gerade diesen Titel zu Unrecht beanspruchen.4 Eine Alternative zur soeben vorgeführten Exkludierungsstrategie besteht darin, den Wissenschaftsbegriff weiter zu fassen, wozu verschiedene Geisteswissenschaftler tendieren, oder darin, den Wissenschaftsbegriff (alias Begriff der Methode) zu relativieren, wozu manche Verstehenstheoretiker neigen. Die – mit Feyerabend zu sprechen – ,demokratischste‘ Lösung des Exklusionsbeziehungsweise Inklusionsproblems des Wissenschaftsbegriffs ergibt sich, wenn man zugibt, dass es für unterschiedliche Gegenstandsbereiche verschiedene Formen von Wissen gibt. Diese Auffassung finden wir bereits, wenngleich mit anderen Argumenten, in der Antike.5 In der modernen Welt kehrt sie in wechselnden Gestalten wieder. In der Hauptsache wird zwischen einem perfekten und einem technischen beziehungsweise einem apodiktischen und einem empirischen Wissen unterschieden. Dem entsprechen die Gegensätze von episteme und techne beziehungsweise scientia und ars. In zahlreichen Anläufen wurde dieser Binarismus neu entfaltet und kontrovers diskutiert. Die

3 4 5

Paul Feyerabend: Killing Time. The Autobiography of Paul Feyerabend, Chicago 1996. Vgl. Wolfgang Prinz und Peter Weingart: Die sog. Geisteswissenschaften: Innenansichten, Frankfurt/M. 1990. Siehe Art. „Wissen“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter u.a., Bd. 12: W-Z, Darmstadt 2004, S. 855 ff.

Das Wissen der Literaturwissenschaft

Rede über die Forschung nutzt die daraus sich ergebende Struktur, die auch als Raum oder Feld des Wissens wahrgenommen wird, um den verschiedenen Wissenschaften und „Künsten“ den ihnen gemäßen Ort zuzuweisen. Hier ist zu fragen, welche Rolle die Geisteswissenschaften in diesem Zusammenhang spielen.

2.

Wissen und Geisteswissenschaften

Die Reflexion auf die Geisteswissenschaften als eine eigenständige epistemologische Konstellation beginnt im deutschsprachigen Raum mit Wilhelm Dilthey, speziell mit seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften aus dem Jahr 1883 und der systematisierenden Schrift Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften von 1910. Zwar gibt es das Wort schon früher, wie auch andere Ausdrücke auf den gemeinten Zusammenhang verweisen, gleichwohl ist Dilthey die Ambition einer Grundlegung zuzusprechen. Für Dilthey ergibt sich die Einheit der Geisteswissenschaften aus dem Gegenstandsbezug und aus der Entgegensetzung zu den Wissenschaften, die unter ein anderes Rubrum zu subsumieren sind. Der Gegenstand, der den Geisteswissenschaften ihre disziplinäre Einheit verleiht, ist der Mensch mit seinen Hervorbringungen beziehungsweise, wie Dilthey auch sagt, die Menschengattung. Der Gegensatz zu den Geisteswissenschaften wird von Dilthey mit exponierter Deutlichkeit in den Naturwissenschaften gesehen, was bemerkenswert ist, da es auch durchlässigere Konzeptionen gibt (insbesondere neuerdings). Für Dilthey ergeben sich aus der markierten Differenz zwei Wissenstypen beziehungsweise Verfahren, um das jeweilige Wissen herzustellen. Für die Naturwissenschaften ist dies das Erklären, für die Geisteswissenschaften das Verstehen. Bekanntlich wurde diese Differenz von Rickert, Cassirer und anderen sowohl ausdifferenziert als auch festgeschrieben, z.B. durch die Distinktion zwischen einem nomothetischen und einem ideographischen Wissen. Die Frage, die sich hierbei stellt, ist nicht nur die nach der Klarheit und der Distinktheit der Unterscheidung, sondern auch die

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nach der Zugehörigkeit der in Frage kommenden Disziplinen. Dilthey äußert sich dazu folgendermaßen: „Ich gehe von dem umfassenden Tatbestand aus, welcher die feste Grundlage jedes Räsonnements über die Geisteswissenschaften bildet. Neben den Naturwissenschaften hat sich eine Gruppe von Erkenntnissen entwickelt, naturwüchsig, aus den Aufgaben des Lebens selbst, welche durch die Gemeinsamkeit des Gegenstands miteinander verbunden ist. Solche Wissenschaften sind Geschichte, Nationalökonomie, Rechts- und Staatswissenschaften, Religionswissenschaft, das Studium von Literatur und Dichtung, von Raumkunst und Musik, von philosophischen Weltanschauungen und Systemen, endlich die Psychologie. Alle diese Wissenschaften beziehen sich auf dieselbe große Tatsache: das Menschengeschlecht. Sie beschreiben und erzählen, urteilen und bilden Begriffe und Theorien in Beziehung auf diese Tatsache.“6 Wie nicht zu übersehen ist, rechnet Dilthey die Soziologie nicht zu den Geisteswissenschaften, woraus sich ein Erklärungsnotstand ergibt, da Dilthey ja nur den Gegensatz von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften kennt bzw. anerkennt. Die Soziologie müsste demzufolge eine Naturwissenschaft oder auch keine Wissenschaft sein. Tatsächlich äußert sich Dilthey in diesem (letzteren) Sinne.7 Ähnliches gilt für die Philosophie der Geschichte. Für die Gegenwart ist festzuhalten, dass der Gegensatz zwischen Verstehen und Erklären seine noch für Dilthey geltende Plausibilität nicht hat bewahren können, so dass „Interpretationen“ von Fall zu Fall der Status von „Erklärungen“ zugesprochen wird.8 6 7 8

Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1981, S. 89. Siehe Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften, in: ders.: Gesammelte Schriften, 1. Bd., Stuttgart und Göttingen 1953, S. 86ff. Siehe Wolfgang Detel: Hermeneutik der Literatur und Theorie des Geistes. Exemplarische Interpretationen poetischer Texte, Frankfurt/M. 2016, S. 10 („Im Falle komplexer Interpretationen (kausal-rationaler Erklärungen) heißt das, dass wir in beiden Fällen dieselben Rationalitätspräsumtionen unterstellen.“).

Das Wissen der Literaturwissenschaft

Was Diltheys Kennzeichnung des geisteswissenschaftlichen Verfahrens betrifft, so ist hier eine gewisse Buntheit zu konstatieren (Beschreiben, Erzählen, Urteilen; Begriffe, Theorien). Insbesondere das Erzählen schwächt doch den avisierten Wissenschaftscharakter stark ab; obwohl dies auch positiver gesehen werden kann.9 An einer späteren Stelle präzisiert Dilthey seine Auffassung. Hier heißt es: „So ist überall der Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Verstehen das eigene Verfahren, durch das die Menschheit als geisteswissenschaftlicher Gegenstand für uns da ist. Die Geisteswissenschaften sind so fundiert in diesem Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen. Hier erst erreichen wir ein ganz klares Merkmal, durch welches die Abgrenzung der Geisteswissenschaften definitiv vollzogen werden kann.“10 Auch hier ist allerdings zu fragen, ob es gelingt, ein klares Kriterium (clara et distincta) zu benennen. Gerade Diltheys Insistieren auf dem „Erleben“ und (noch umfassender) dem „Leben“ lässt hieran zweifeln. Umgekehrt lassen sich der „Ausdruck“ und das „Verstehen“ an semiotische und hermeneutische Theorien anschließen. Was das Verstehen anbelangt, so ist es meines Erachtens entscheidend, ob man eine allgemeine oder eine spezielle Hermeneutik vor Augen hat. Je allgemeiner die Hermeneutik, um so unspezifischer das Wissen, je spezieller die Hermeneutik, um so prägnanter das Verfahren. Man kann dies an Gadamers Grundzügen einer philosophischen Hermeneutik beobachten, in denen das ,Wissen‘ des Verstehens als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen bzw. als „wirkliche Horizontverschmelzung“ aufgefasst wird.11 Dies ist gerade der am häufigsten kritisierte Punkt an Gadamers Grundlegung.

9 10 11

Siehe Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt/M. 1991. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 99. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1965², S. 290.

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Dilthey insinuiert an der oben angeführten Stelle die Austauschbarkeit der Bezeichnungen „Geisteswissenschaften“ und „Kulturwissenschaften“. Das hat beinahe divinatorisches Format, da die Kulturwissenschaft die Geisteswissenschaft als Leitdisziplin inzwischen definitiv abgelöst zu haben scheint. Zwar gibt es noch geisteswissenschaftliche Fakultäten, aber der einschlägige Diskurs hat auf „Kultur“ umgestellt.12 So ist selbst dort, wo es um die Verteidigung der Geisteswissenschaften geht, der Blick auf „das kulturelle Ganze“ gerichtet: „auf Kultur als Inbegriff aller menschlicher Arbeit und Lebensformen, auf die kulturelle Form der Welt“, die Geistes- und Naturwissenschaften einschließt.13 So Jürgen Mittelstraß. Man fragt sich – mit Luhmann – ob der hier avisierte Begriff der Kultur nicht zu komplex ist.14 Man fragt es sich auch im Hinblick auf die Literaturwissenschaft (speziell die Germanistik), die eine entsprechende Umstellung ebenfalls erwogen und teilweise auch realisiert hat.15

3.

Wissen und Literaturwissenschaft

Wenn Dilthey über das Leben spricht, neigt er zur Spekulation, wenn er über Texte redet, werden seine Argumente konkreter. Ein Hin-und-Her bleibt. Diltheys Theorie der Hermeneutik fußt auf Schleiermacher, der ebenfalls eine allgemeine Hermeneutik vor Augen hatte, obwohl seine

12 13

14

15

Siehe Uwe Wirth: Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte, Frankfurt/M. 2008. Jürgen Mittelstraß: Die Geisteswissenschaften im System der Wissenschaft, in: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift. Von Wolfgang Frühwald, Hans Robert Jauß, Reinhart Koselleck, Jürgen Mittelstraß, Burkart Steinwachs, Frankfurt/M. 1991, S. 15-44, hier S. 43. Niklas Luhmann: Kultur als historischer Begriff, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt/M. 1995, S. 31-54, hier S. 31. Siehe Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek bei Hamburg 2002.

Das Wissen der Literaturwissenschaft

Gedanken gewöhnlich von den Problemen (und „Observationen“) der speziellen Hermeneutik ausgingen.16 Schleiermachers Diktum, das Auslegen sei „Kunst“17 , berührt den divinatorischen Teil der Hermeneutik, der den individuellen Teil der Äußerung zu erschließen sucht und damit aus systematischen Gründen nie (eine gewisse ,Dichte‘ der Zeichen vorausgesetzt) an ein Ende kommt. Der grammatische Teil der Interpretation gewährt hingegen ein (pleonastisch gesprochen) ,gewisseres‘ Wissen. Die grammatische Interpretation ist das Fundament der Auslegung. Die Divination gleicht hingegen – aus der Perspektive der Sicherheit des Wissens – dem Raten (Guessing), dem in der Wissenschaftstheorie – insbesondere bei Peirce – ja auch eine spezielle Zuständigkeit zugesprochen wird. Diese Auffassung teilt Dilthey – und er führt sie auf die Lehre vom Ganzen und den Teilen zurück, die er ebenfalls von Schleiermacher übernimmt. Bei Schleiermacher heißt es dazu: „Jedes Verstehen des Einzelnen ist bedingt durch ein Verstehen des Ganzen.“18 Für Dilthey ergeben sich hieraus die prinzipiellen „Grenzen des Verstehens.“ Trotz allen Bemühungen um Gewissheit und Nachweisbarkeit bleibt ein „Bestimmt-Unbestimmtes, ein Versuchen des Bestimmens, ein Niezuendekommen, ein Wechsel zwischen Teil und Ganzem.“19 Exponiert gilt dies für die Divination, von der es bei Dilthey heißt, sie ergebe „niemals demonstrative Gewißheit.“20 Dass die Auslegung Kunst sei, betrifft allerdings in Schleiermachers Verständnis sowohl die psychologische als auch die grammatische Auslegung, da Schleiermacher die Kunst eher (oder überhaupt) im Sinne der techne bzw. der ars denkt, nicht aber als ein kunstaffines 16

17 18 19 20

Siehe Günter Scholz: Schleiermacher im Kontext der neuzeitlichen Hermeneutik-Entwicklung, in: Friedrich Schleiermachers Hermeneutik. Interpretationen und Perspektiven, hg. v. Andreas Arndt u. Jörg Dierken, Berlin/Boston 2016, S. 1-26. Friedrich D. E. Schleiermacher: Hermeneutik, hg. v. Heinz Kimmerle. Heidelberg 1959, S. 82. Ebd., S. 46. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S.281. Ebd., S. 279.

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(poetisches) Denken über die Kunst. Hierüber belehrt der terminologische Usus, nicht nur von Kunst schlechthin, sondern bestimmter von einer der Methode angenäherten ,Kunstlehre‘ zu sprechen.21 Dies sind keine bloßen Lehrstücke aus der Geschichte der Literaturwissenschaft, sondern Probleme, die auch die gegenwärtige Praxis betreffen. Dilthey bringt das Teil-Ganze-Problem mit der Erinnerung zusammen und macht – durchaus zurecht – geltend, dass sich die Lektüre einer „Dichtung“ in der Zeit vollziehe, weshalb im Fortgang der Lektüre das anfangs Gelesene seine „Klarheit und Bestimmtheit“ verliere. Man könnte noch radikaler formulieren, dass das Ganze (etwa eines tausendseitigen Romans) immer eine Fiktion sei, die nicht anders gegenwärtig sei als in der Form von Argumenten. Dies alles gilt freilich nur für literarische Texte mit einer gewissen Komplexität, während man einzelnen Sätzen und Erzeugnissen der Trivialliteratur durchaus abschließende Bedeutungen zuweisen mag.22 Die Schwierigkeit, das Ganze eines Textes (eines Werkes) von seinen Teilen her zu erschließen (und umgekehrt), ist indes nur eines der Probleme, vor die sich eine interpretierende Literaturwissenschaft gestellt sieht. Das andere Problem besteht in der Vieldeutigkeit der Zeichen. Die Frage, „ob eine Stelle metaphorisch gemeint ist oder nicht“, wird von Peter Szondi zu den „ältesten Probleme[n] der Hermeneutik“ gerechnet.23 Wie er am Beispiel des „altgebaute[n], / seliggewohnte[n] Saal[s]“ aus Hölderlins Friedensfeier zeigt, lässt sich eine plausible Argumentation durchaus vorführen, nur gewinnt sie nicht die Eindrücklichkeit eines Beweises. Was die philologische Erkenntnis zu erreichen 21

22

23

Zur Auslegung als Kunst siehe auch Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Textinterpretation nach Schleiermacher, Frankfurt/M. 2016 (3. Aufl.), S. 340-350. Die Beschränkung des Korpus ist ein Problem der um Objektivität bemühten kognitiven Hermeneutik. Siehe Julia Mansour: Stärken und Probleme einer kognitiven Literaturwissenschaft, in: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft, 2007, Heft 7, S. 107-116. Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis, in: ders.: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt/M. 1967, S. 9-30, hier S. 15.

Das Wissen der Literaturwissenschaft

vermag, so Szondi, ist die Statuierung von Evidenz. Evidenz sei das „adäquate Kriterium, dem sich die philologische Erkenntnis zu unterwerfen“ habe.24 Wenn Szondi im Folgenden sein Evidenz-Postulat erläutert, bemerkt man die Schwierigkeit dieses Ansatzes: „In der Evidenz wird die Sprache der Tatsachen weder überhört, noch in ihrer Verdinglichung mißverstanden, sondern als subjektiv bedingte und in der Erkenntnis subjektiv vermittelte vernommen, also allererst in ihrer wahren Objektivität.“25 Das Irritierende an der Interpretation (weshalb man sie eigentlich vermeiden sollte, wie z.B. Susan Sontag findet26 ) ist seit langen Zeiten die Subjektivität. Auch Szondi laboriert an diesem Dilemma – und er löst es, indem er die unverzichtbare oder nicht weg zu diskutierende Subjektivität mit dialektischem Schwung zur „wahren Objektivität“ erhöht. Ganz überzeugend ist das nicht, obwohl die Statuierung des Evidenz-Kriteriums in diesem Zusammenhang zweifellos Sinn macht. Evidenz – als Vollzug einer Struktur in der Lektüre27 – bezeichnet eben ein Wissen, das innehält zwischen der Vieldeutigkeit der Wörter und der Bestimmtheit der Buchstaben. Das Interesse, die Hermeneutik – nach Schleiermacher, Dilthey und Szondi – zu objektivieren, hat manche Früchte getragen, den genannten Problemen entkommt man hingegen nicht. Und auch die intentionale Vermeidung der Interpretation scheint keine Lösung zu sein, da sie sich den Vorwurf zuzieht, die „Hauptaufgabe“ der Literaturwissenschaft zu verfehlen.28 Andererseits kann man natürlich als Philologe sich verschiedenen Aufgaben widmen, die möglichst weit von der Interpretation entfernt sind (bzw. möglichst wenig von ihr enthalten) und deshalb ein ,objektiveres‘ Wissen garantieren oder zu garantieren scheinen: z.B. als Autor von 24 25 26 27

28

Ebd., S. 25. Ebd. Susan Sontag: Gegen Interpretation, in: Texte zur Hermeneutik. Von Platon bis heute, hg. v. Elena Ficara, Stuttgart 2015, S. 210-214. Stefan Scherer: Die Evidenz der Literaturwissenschaft, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 30. Bd., 2005, 2. Heft, S.136155, hier S.152. Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt/M. 1990, S. 241.

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Biographien, als Verfasser von Literaturgeschichten, als Herausgeber von Werkausgaben oder als spiritus rector einer Theorie. Die Kategorie der Evidenz spielt eine prominente Rolle in der Geschichte des Wissens, wenngleich ihre Bedeutung gelegentlich schwankt. In der Hauptsache wird sie einerseits mit einem Wissen in Verbindung gebracht, das qua Eindeutigkeit des Befundes keines Beweises bedarf, andererseits mit Überzeugungen, die für gewiss erachtet werden, aber letztlich nicht bewiesen werden können.29 So stehen sich Teile der Mathematik und Argumentationen der Literaturwissenschaft gegenüber. Die Literaturwissenschaft ist dabei durch optimistischere und skeptischere Beurteilungen gekennzeichnet. Staigers Maxime „Ich begreife, was mich ergreift“ exemplifiziert eine optimistischere Tendenz. Diltheys Verweis auf ein „Bestimmt-Unbestimmtes, ein Versuchen des Bestimmens, ein Niezuendekommen, ein Wechsel zwischen Teil und Ganzem“ bringt hingegen den skeptischeren Standpunkt zur Geltung, der u. E. zugleich der realistischere ist.30 Die BegreifenErgreifen-Maxime ist deshalb nicht – per se oder gänzlich – falsch, sie ist nur in ihrem prozessualen – um nicht zu sagen: performativen – Charakter zu sehen, was unter anderem daran bemerkt werden kann, dass Staigers Begreifen des Mörikeschen Gedichts nicht zu einer unumstößlichen Gewissheit führte, sondern zu der bekannten Kontroverse mit Heidegger.31 Die Evidenz der Literaturwissenschaft hat offenbar (sic!) den Status eines ,Bestimmt – Unbestimmten‘, das die zusätzliche Merkwürdigkeit mit sich bringt, von zahlreichen Kontroversen begleitet zu sein. 29 30

31

Vgl. Art. „Evidenz“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2: D-F, Darmstadt 1972, S. 830-832, hier S. 831. Man kann hier nebenbei gesagt auch an Schleiermachers Diktum „Zu wenig und zu viel kann man verstehen dem Inhalt und dem Grade nach“ erinnern. Schleiermacher: Hermeneutik, S. 42. Siehe dazu Markus Wild: „Schon unser Briefwechsel hat das Gedicht allzu schwer belastet.“ Staiger und Heidegger über Mörikes „Auf eine Lampe“, in: Kontroversen in der Literaturtheorie/Literaturtheorie in der Kontroverse, hg. v. Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase, Bern 2007, S. 207-221. Dort ausführliche Hinweise auf die Literatur zu dieser Kontroverse.

Das Wissen der Literaturwissenschaft

Wenn man annimmt, dass für die Bestimmtheit als auch für die Unbestimmtheit der Evidenz in der Literaturwissenschaft die Interpretation verantwortlich zu machen ist, so ist immerhin festzuhalten, dass in der Literaturwissenschaft auch der Standpunkt einer objektiven Interpretation vertreten worden ist – und noch vertreten wird. In der Regel wird die angestrebte Objektivität an die Instanz der Autorintention angeschlossen bzw. in dieser ,gefunden‘ (so bei Raymond Picard, Eric Donald Hirsch und anderen Vertretern dieser Position). Die gegenteilige Ansicht hierzu wurde an prominenter Stelle von Wimsatt und Beardsley formuliert. Der Rekurs auf die Autorintention ist demzufolge in jedem Fall zu vermeiden. Denn entweder gelingt es dem Autor, seine Intention im Werk zu realisieren, oder er verfehlt diese Absicht. Im ersten Fall ist der Rekurs auf die Intention irrelevant, im zweiten – für die Werkinterpretation – sogar irreführend.32 Die hierin sich abzeichnende Depotenzierung des Autors findet (paradoxer- oder hellsichtigerweise) einen frühen Höhepunkt in den Selbstkommentaren Paul Valérys33 , um dann durch die berühmte ,Grablegung‘ durch Roland Barthes noch überboten zu werden.34 Insgesamt ,wandert‘ die Instanz des Verstehens von der intentio auctoris über die intentio operis zur intentio lectoris, in der Terminologie der älteren Hermeneutik gesprochen, die aber die Tendenz der neueren Literaturwissenschaft gut abbildet. Man muss nur noch den im Übergang vom Werk zum Leser inkludierten Relativismus zur intentionalen Überinterpretation ausdehnen, um bei den gegenwärtigen (oder schon wieder verklungenen) Parolen der Dekonstruktion anzulangen.35 Auf das Problem der Interpretation bezogen, kann man sagen, dass es drei Formen (oder Ideen) der Interpretation gibt: die objektive, die konstruk32

33 34 35

William K. Wimsatt und Monroe C. Beardsley: The Intentional Fallacy, in : W. K. Wimsatt: The Verbal Icon. Studies in the Meaning of Poetry, Lexington 1967, S. 3-18. „Pas d’autorité de l’auteur“. Paul Valéry : Oeuvres, hg. v. Jean Hytier, Bd. 1, Paris 1957, S. 1507. Roland Barthes : La mort de l’auteur, in : Manteia, H. 5, 1968, S. 12-17. Siehe Jonathan Culler : On Deconstruction. Theory and Criticism after Structuralism, Ithaca/New York 1982.

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tive und die dekonstruktive. Sieht man von der letztgenannten als einer Mutwilligkeit der Theoriegeschichte ab, verringert sich die Zahl auf zwei Positionen, die in Gestalt einer beharrenden Kontroverse das Bild der neueren Literaturwissenschaft prägen.36

4.

Wissen und Literatur

Schon das Wissen der Philologie erscheint – vergleichsweise – problematisch. Aber ein Wissen der Literatur? Auf verschiedene Weisen wird auch das für möglich gehalten, vor allem so, dass die Literatur bei der Wissenschaft Anleihen macht, indem sie naturwissenschaftliches oder geisteswissenschaftliches ,Wissen‘ der Fiktion inkorporiert. Au fond handelt es sich um das Wissen der technai, wie es sich schon in den homerischen Epen und prinzipiell in allen späteren Werken findet, die sich mit Politik, Kriegsführung, Nautik, Physik u.a. Dingen befassen. Dies sind allgemeine Konstellationen, die in allen Zeiten begegnen, insbesondere unter realistischen Vorzeichen. Unter modernen Bedingungen kommt es auch zur intentionalen Anknüpfung der Literatur an den szientifischen Progress: z.B. bei Zola, der seine diesbezüglichen Ansichten in Le Roman expérimental dargelegt hat.37 Man muss also berücksichtigen, dass der fiktionale Diskurs prinzipiell geeignet ist, Elemente

36 37

Siehe dazu Carlos Spoerhase: Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin 2007. Siehe Ulrike Vedder: Aktien und Akten. Zolas Übertragungen im Feld von Wissenschaft und Roman, in: Caroline Welch/Stefan Willer (Hg.): „Interesse für bedingtes Wissen“. Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen, München 2008, S. 207-224. Ferner Aurélie Barjonet: Zola, die Wissenschaft und die deutsche Literaturwissenschaft, in: Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800. Theorie – Epistemologie – komparatistische Fallstudien, hg. v. Thomas Klinkert u. Monika Neuhofer, Berlin/New York 2008, S. 191-216. Barjonet macht auch auf die Grenzen der von Zola – zeitweise – intendierten Verwissenschaftlichung der Literatur aufmerksam. Offenbar bleibt Zola aber ein Fokus für die hieran interessierte Literaturwissenschaft.

Das Wissen der Literaturwissenschaft

des faktualen Diskurses in sich aufzunehmen.38 Allerdings ist dies gerade nicht der Grund, weshalb Fiktionen gelesen werden. Die Besonderheit der Fiktion ist in ihrer poetischen Funktion zu erkennen. Gleichwohl kann es lehrreich und interessant sein, sich in poetischer Form über das Funktionieren der Börse oder über die Zukunft der Technik informieren zu lassen.39

Literatur Barjonet, Aurélie: Zola, die Wissenschaft und die deutsche Literaturwissenschaft, in: Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800. Theorie – Epistemologie – komparatistische Fallstudien, hg. v. Thomas Klinkert u. Monika Neuhofer, Berlin/New York 2008, S. 191-216. Barthes, Roland: La mort de l’auteur, in: Manteia, H. 5, 1968, S. 12-17. Benthien, Claudia und Hans Rudolf Velten: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek bei Hamburg 2002. Culler, Jonathan: On Deconstruction. Theory and Criticism after Structuralism, Ithaca/New York 1982. Detel, Wolfgang: Hermeneutik der Literatur und Theorie des Geistes. Exemplarische Interpretationen poetischer Texte, Frankfurt/M. 2016. Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften, in: ders.: Gesammelte Schriften, 1. Bd., Stuttgart und Göttingen 1953, S. 86ff. Ders.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1981. „Evidenz“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2: D-F, Darmstadt 1972, S. 830-832. Feyerabend, Paul: Wissenschaft als Kunst, Frankfurt/M. 1984. 38 39

Gérard Genette: Fiktion und Diktion, München 1992. Siehe Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen, Berlin 2008.

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Ders.: Killing Time. The Autobiography of Paul Feyerabend, Chicago 1996. Frank, Manfred: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Textinterpretation nach Schleiermacher, Frankfurt/M. 2016 (3. Aufl.). Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1965². Genette, Gérard: Fiktion und Diktion, München 1992. Klausnitzer, Ralf: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen, Berlin 2008. Luhmann, Niklas: Kultur als historischer Begriff, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt/M. 1995, S. 31-54. Mansour, Julia: Stärken und Probleme einer kognitiven Literaturwissenschaft, in: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft, 2007, Heft 7, S. 107-116. Mittelstraß, Jürgen: Die Geisteswissenschaften im System der Wissenschaft, in: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift. Von Wolfgang Frühwald, Hans Robert Jauß, Reinhart Koselleck, Jürgen Mittelstraß, Burkart Steinwachs, Frankfurt/M. 1991, S. 15-44. Prinz, Wolfgang und Peter Weingart: Die sog. Geisteswissenschaften: Innenansichten, Frankfurt/M. 1990. Scherer, Stefan: Die Evidenz der Literaturwissenschaft, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 30. Bd., 2005, 2. Heft, S.136-155. Schlaffer, Heinz: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt/M. 1990. Schleiermacher, Friedrich D. E.: Hermeneutik, hg. v. Heinz Kimmerle. Heidelberg 1959. Scholz, Günter: Schleiermacher im Kontext der neuzeitlichen Hermeneutik-Entwicklung, in: Friedrich Schleiermachers Hermeneutik. Interpretationen und Perspektiven, hg. v. Andreas Arndt u. Jörg Dierken, Berlin/Boston 2016, S. 1-26.

Das Wissen der Literaturwissenschaft

Sontag, Susan: Gegen Interpretation, in: Texte zur Hermeneutik. Von Platon bis heute, hg. v. Elena Ficara, Stuttgart 2015, S. 210-214. Spoerhase, Carlos: Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin 2007. Szondi, Peter: Über philologische Erkenntnis, in: ders.: HölderlinStudien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt/M. 1967, S. 9-30. Valéry, Paul: Oeuvres, hg. v. Jean Hytier, Bd. 1, Paris 1957. Vedder, Ulrike: Aktien und Akten. Zolas Übertragungen im Feld von Wissenschaft und Roman, in: Caroline Welch/Stefan Willer (Hg.): „Interesse für bedingtes Wissen“. Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen, München 2008, S. 207-224. White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt/M. 1991. Wild, Markus: „Schon unser Briefwechsel hat das Gedicht allzu schwer belastet.“ Staiger und Heidegger über Mörikes „Auf eine Lampe“, in: Kontroversen in der Literaturtheorie/Literaturtheorie in der Kontroverse, hg. v. Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase, Bern 2007, S. 207-221. Wimsatt, William K. und Monroe C. Beardsley: The Intentional Fallacy, in: William K. Wimsatt: The Verbal Icon : Studies in the Meaning of Poetry, Lexington 1967, S. 3-18. Wirth, Uwe: Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte, Frankfurt/M. 2008. „Wissen“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter u.a., Bd. 12: W-Z, Darmstadt 2004, 855 ff.

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Kognitive Hermeneutik1 Theoretische Grundlagen und praktische Anwendung Peter Tepe

Die kognitive Hermeneutik ist eine von mir entwickelte neue Theorie des Verstehens und der Interpretation, die nach Prinzipien empirischrationalen Denkens verfährt. Sie ist im Kern eine allgemeine Hermeneutik, die auf alle Phänomene der menschlichen Kultur anwendbar ist.

Die wichtigsten Veröffentlichungen Im Buch Kognitive Hermeneutik2 erfolgt überwiegend eine Konzentration auf die literaturwissenschaftliche Hermeneutik, die sich mit dem Verstehen und der Interpretation literarischer Texte befasst. Ein wesentliches Element dieser Theorie ist die Methode der Basis-Interpretation. Das einen innovativen Literaturtheorie/Methoden-Komplex entfaltende Buch enthält aber unter anderem auch ausführliche kritische Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Theorien, z.B. mit Gadamers philosophischer Hermeneutik, der Rezeptionsästhetik, dem Strukturalismus, der Empirischen Literaturwissenschaft, der Diskursanalyse und der Dekonstruktion. Der Literaturwissenschaft sind auch die beiden anwendungsbezogenen Studien Interpretationskonflikte am Beispiel 1 2

Tanja Semlow danke ich für die kritische Lektüre dieses Textes. Peter Tepe: Kognitive Hermeneutik. Textinterpretation ist als Erfahrungswissenschaft möglich. Mit einem Ergänzungsband auf CD. Würzburg 2007.

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von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann3 und Interpretationskonflikte am Beispiel von Adelbert von Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte4 zuzuordnen. Die zentralen Annahmen der kognitiven Hermeneutik werden von mir zusammen mit dem in der Tradition des Kritischen Rationalismus stehenden Philosophen und Hermeneutikexperten Axel Bühler vertreten; gemeinsam haben wir mehrere Aufsätze veröffentlicht.5 Hingewiesen sei ferner auf die zusammen mit Tanja Semlow publizierten Artikel.6 Im wissenschaftlichen Forum Erklärende Hermeneutik, das einen Teilbereich der von mir herausgegebenen Online-Zeitschrift MythosMagazin (www.mythos-magazin.de) darstellt, sind viele weitere Texte (auch eigene) zu finden, die sich auf die Erklärende Hermeneutik im Allgemeinen und die kognitive Hermeneutik im Besonderen beziehen: das Manifest der Gruppe Erklärende Hermeneutik, Aufsätze von Harald Fricke und Ralph Müller sowie von Willie van Peer, Wolfgang Detel, Michael N. Forster, Jost Schneider und vielen anderen Wis-

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Peter Tepe/Jürgen Rauter/Tanja Semlow: Interpretationskonflikte am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann. Kognitive Hermeneutik in der praktischen Anwendung. Mit Ergänzungen auf CD. Würzburg 2009. Peter Tepe/Tanja Semlow: Interpretationskonflikte am Beispiel von Adelbert von Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte. In: Mythos-Magazin (2011ff.), online unter http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneuti k/forum-w.htm (mehrere Teile: 1. Interpretationen des 19. Jahrhunderts (2011/12), 2. Interpretationen 1900-1950 (2012), 3. Interpretationen 1951-1980 (2014); die ergänzte und überarbeitete Fassung des ersten Teils (2012) ersetzt den zuvor erschienenen Beitrag). Eine Zusammenfassung findet sich in Peter Tepe/Tanja Semlow: Kognitive Hermeneutik. Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. In: Dies. (Hg.): Mythos No. 4: Philologische Mythosforschung. Würzburg 2016, S. 170-186. Siehe unter anderem unter http://www.mythos-magazin.de/erklaerendeherme neutik/forum-w.htm. Siehe unter Peter Tepe: Vollständige Bibliographie. In: Mythos-Magazin (2019), online unter http://www.mythos-magazin.de/geschichtedesschwerpunkts/pt_bibli ographie.pdf.

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senschaftlern.7 In diesem Zusammenhang sei auch auf zwei neuere Dissertationen verwiesen, die sich auf die kognitive Hermeneutik stützen.8 Das studentische Forum Erklärende Hermeneutik enthält vor allem praktische Anwendungen der Methode der Basis-Interpretation, die im Rahmen des 1987 von mir begründeten – und nach dem Ende meiner Dienstzeit auf kleinerer Flamme weiterhin bestehenden – interdisziplinären Studien- und Forschungsschwerpunkts Mythos, Ideologie und Methoden entstanden sind, hauptsächlich Seminar- und Abschlussarbeiten sowie spezielle Studien.9

Zur Entstehung der Theorie Die Entwicklung der kognitiven Hermeneutik hängt mit meiner individuellen Konstellation Philosoph und Literaturwissenschaftler zusammen. Als promovierter und später auch habilitierter Philosoph war ich, gefördert durch den philosophisch orientierten Germanisten Herbert Anton, bis zum Ende meiner Dienstzeit in der Neueren Deutschen Philologie am Germanistischen Seminar der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf beschäftigt. Hier bot ich seit den 1970er Jahren immer auch Seminare zur Analyse und Interpretation literarischer Texte aus allen Epochen an. Auf der anderen Seite gab es regelmäßig Lehrveranstaltungen,

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Siehe unter http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/forum-w .htm. Annette Greif: Atwood, Pinter, Schlöndorff: The Handmaid’s Tale – Intermedial. Eine kognitiv-hermeneutische Untersuchung der filmischen Literaturadaption. Düsseldorf 2017 und Markus Kraiger: Fundamentalismus in der Gegenwartsliteratur. Würzburg 2020. Siehe unter http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/fo rum-s.htm. Zum Schwerpunkt siehe ferner Peter Tepe: 25 Jahre Schwerpunkt Mythos, Ideologie und Methoden ... und kein Ende. In: MythosMagazin (2013), online unter http://www.mythos-magazin.de/geschichted esschwerpunkts/pt_25Jahre.pdf sowie http://www.mythos-magazin.de/geschic htedesschwerpunkts/index.htm (Dokumentation, Aktivitäten seit 2014).

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welche sich primär um die kritische Aufarbeitung ausgewählter Sekundärliteratur bemühten. Im Zuge dieser Lehrtätigkeit nahm in den 1980er und 1990er Jahren mein Unbehagen an verbreiteten Formen der literaturwissenschaftlichen Textarbeit hinsichtlich ihres wissenschaftlichen Werts ständig zu, was den Philosophen in mir zu dem Projekt motivierte, die grundsätzliche Unterscheidung zweier Formen des Verstehens und Interpretierens vorzunehmen.

Theoretische Grundlagen der kognitiven Hermeneutik Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Menschen Lebewesen sind, deren Tun und Lassen von verschiedenen Überzeugungen gesteuert wird. Die Überzeugungen eines Individuums beziehen sich zum Teil auf konkrete Zusammenhänge wie das Begrüßungsverhalten, das Kochen, den Umgang mit Kindern usw. – sie schließen auf einer grundlegenden Ebene aber immer auch Weltbildannahmen sowie Wertüberzeugungen moralischer, ästhetischer und anderer Art ein, deren sich das Individuum häufig nicht klar bewusst ist. Diese stellen den weltanschaulichen Rahmen dar, der bei jedem gegeben ist. Die einzelnen Überzeugungen bilden zusammen ein Überzeugungssystem, d.h. einen in sich mehr oder weniger stimmigen Zusammenhang, der aber Inkohärenzen und logische Widersprüche nicht ausschließt. Nimmt man die historische und die soziokulturelle Dimension in den Blick, so wird klar, dass sich die individuellen Überzeugungssysteme stark voneinander unterscheiden. Vor diesem Hintergrund charakterisiere ich bezogen auf das Verstehen und Interpretieren zwei Grundformen, die zunächst an einem Beispiel aus dem Alltag erläutert werden. A begegnet häufiger Frauen, die Kopftücher tragen. Form 1 des Verstehens: A wendet seine eigenen Überzeugungen – z.B. solche feministischer oder islamkritischer Art – spontan auf solche Frauen an und gelangt so zu konkreten Einschätzungen (und insbesondere zu Bewertungen); diese betreffen z.B. die Frage, ob Lehrerinnen das Tragen von Kopftüchern erlaubt sein sollte. Hier spricht die kognitive Hermeneutik von einem aneignenden Verstehen: Im Rahmen meines Überzeugungssystems beziehe ich Stellung zum je-

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weiligen Phänomen, eigne es mir auf spezifische Weise an. Die implizite Leitfrage dabei ist: Wie ist das jeweilige Phänomen aus meiner Sicht einzuschätzen? Form 2 des Verstehens: A überlegt, ob das Tragen eines Kopftuchs bei dieser oder jener Frau mit ganz bestimmten religiösen Überzeugungen zusammenhängt, und bemüht sich (z.B. durch Befragung) herauszufinden, ob tatsächlich religiöse Überzeugungen vorliegen und wenn ja, welche. Hier spreche ich von einem kognitiven Verstehen: Ich frage, welche Überzeugungen in diesem Fall dem Tragen eines Kopftuchs zugrunde liegen. Die implizite Leitfrage lautet: Worauf ist das jeweilige Phänomen zurückzuführen? Das Verstehen eines soziokulturellen Phänomens (hier einer ein Kopftuch tragenden Frau) im Licht des eigenen Überzeugungssystems, das zu einer die Prämissen dieses Systems anwendenden Einschätzung führt, ist von dem Bestreben, das diesem Phänomen zugrundeliegende – und möglicherweise ganz fremde – Überzeugungssystem herauszufinden, grundsätzlich zu unterscheiden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Erschließen eines fremden Überzeugungssystems stets mit den begrifflichen und theoretischen Mitteln erfolgt, die im Überzeugungssystem des Interpreten10 aktuell gegeben sind – das schließt aber nicht aus, dass korrekt ermittelt werden kann, dass dem Tragen eines Kopftuchs in einem konkreten Fall Überzeugungen zugrunde liegen, die etwa für die sunnitische Variante des Islams typisch sind. Solche Überzeugungen – die hier im religiösen Weltanschauungsspektrum zu verorten sind – können im Prinzip genau herausgearbeitet werden. Die erläuterte Unterscheidung lässt sich auch auf das Verstehen und Interpretieren literarischer Texte beziehen: Der vor- oder nichtwissenschaftliche Umgang mit solchen Texten läuft in der Regel darauf hinaus, dass der Leser spontan zu einem Verständnis gelangt, das mit seinem Überzeugungssystem im Einklang steht; dazu gehört oft auch, dass das, was im Text steht, intuitiv auf Lebensprobleme bezogen wird, die das lesende Individuum gerade hat. So stellt etwa die Wahl einer Figur als 10

Gemeint sind stets alle Geschlechter; das gilt auch für sämtliche vergleichbaren Formulierungen.

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Vorbild eine spezielle Form der Aneignung dar. Die implizite Leitfrage lautet hier: Was sagt mir oder uns dieser Text? Welchen Nutzen bringt mir oder uns dieser Text? Der aneignend vorgehende Rezipient ist bestrebt, z.B. einem alten Text eine aktuelle Bedeutung für sein Überzeugungssystem abzugewinnen – ohne sich dessen klar bewusst zu sein. Auf der anderen Seite ist es aber auch möglich – entsprechend der Frage, ob eine Frau durch bestimmte religiöse Überzeugungen zum Tragen eines Kopftuchs motiviert worden ist –, nach dem Überzeugungssystem, das dem Text zugrunde liegt, zu fragen und so eine kognitive Interpretation des Textes hervorzubringen. Die implizite Leitfrage lautet dann: Worauf ist die feststellbare Beschaffenheit des Textes zurückzuführen, wie ist sie zu erklären? Erste kritische Konsequenz: Während das kognitive Verstehen und Interpretieren im empirisch-rationalen Sinn wissenschaftsfähig ist, ist das beim aneignenden Verstehen und Interpretieren nicht der Fall. Hier handelt es sich um lebenspraktisch unerlässliche, mit Bewertungen verbundene Deutungsaktivitäten, die von Individuum zu Individuum, von Gruppe zu Gruppe, von Kultur zu Kultur aufgrund der zugrundeliegenden unterschiedlichen Überzeugungs- und speziell Wertsysteme zwangsläufig mehr oder weniger stark variieren. Im Unterschied zu kognitiven sind aneignende Interpretationen nicht wahr oder falsch, sondern passen lediglich mehr oder weniger gut zum Überzeugungssystem des jeweiligen Individuums. Sie sind nicht nach den Maßstäben der faktischen Richtigkeit zu beurteilen. Kurzum: Kognitive sind von aneignenden Interpretationen zu unterscheiden. Zweite kritische Konsequenz: Untersucht man professionelle Interpretationen literarischer Texte im Licht der Opposition aneignend/kognitiv, so stellt sich heraus, dass viele Fachtexte zu einem erheblichen Teil aneignend verfahren. Der Tatbestand, dass dies von vielen als wissenschaftlich legitimes Vorgehen angesehen wird, führt zur Forderung eines Umdenkens im Bereich der Textarbeit – eines Übergangs zum empirisch-rationalen Denkstil, der primär auf das Erreichen von Erkenntniszielen – und nicht von lebenspraktisch relevanten Aneignungszielen – ausgerichtet ist. Damit können sich die meisten Literaturwissenschaftler, wie die Erfahrungen seit dem Erscheinen des Buches zeigen,

Kognitive Hermeneutik

gar nicht anfreunden, und sie lassen die kognitive Hermeneutik meist links liegen; in einigen Fällen äußern sie aber auch Kritik – bislang hat jedoch keines der vorgebrachten Argumente, wie etwa der Aufsatz Kognitive Hermeneutik in der Kritik11 zeigt, einer kritischen Prüfung standgehalten.

Zum Konzept einer Textwissenschaft, die primär kognitive Ziele verfolgt Die kognitive Hermeneutik schlägt aufgrund der dargelegten Zusammenhänge einen spezifischen theoretischen Rahmen für die Textwissenschaft vor, der hier in sechs Thesen vorgestellt wird: These 1: Zunächst sollte eine Konzentration auf den einzelnen literarischen Text erfolgen, und zwar in einem Zwei-Schritt-Verfahren: erst beschreiben, dann interpretieren. These 2: Die beschreibend-feststellende Textarbeit steht unter der Leitfrage „Wie ist der vorliegende Text beschaffen?“ Mit – an dieser Stelle nicht näher zu erläuternden – professionellen Mitteln werden z.B. die Handlung, die Figuren, die Erzählweise, die Themen und Motive, der Schreibstil erfasst. Die kognitive Hermeneutik spricht hier von BasisAnalyse. In diesem Bereich leistet die Literaturwissenschaft in der Regel gute Arbeit. These 3: Die darauf folgende interpretierende Textarbeit steht unter der Leitfrage „Wie kommt es, dass der Text so ist, wie er ist?“ Anders

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Vgl. Peter Tepe: Kognitive Hermeneutik in der Kritik. In: Luigi Cataldi Madonna (Hg.): Naturalistische Hermeneutik. Ein neues Paradigma des Verstehens und der Interpretation. Würzburg 2013, S. 191-219. Zur Diskussion der kognitiven Hermeneutik siehe auch meine neueren Veröffentlichungen Schlagabtausch. Der Streit zwischen der kognitiven und der geist-theoretischen Hermeneutik über den Sandmann. In: Mythos-Magazin (2018), online unter http://www.mythos-m agazin.de/erklaerendehermeneutik/pt_schlagabtausch.pdf und Neue Einwände gegen die kognitive Hermeneutik. In: Mythos-Magazin (2019), online unter http:/ /www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/pt_neue-einwaende.pdf.

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gefasst: Worauf sind die zuvor festgestellten Texteigenschaften zurückzuführen, wie sind sie zu erklären? Die kognitive Hermeneutik spricht hier von Basis-Interpretation. Die neue Methode der Basis-Interpretation (die mehrere Elemente aus früheren Methodenkonzepten integriert), besteht aus folgenden Schritten, die auf literarische Texte aller Art (und mit kleineren Modifikationen auch auf Kunstphänomene aller Art sowie auf Texte aller Art) anwendbar sind: Zunächst wird nach dem Textkonzept des Autors gefragt, d.h. nach den speziellen künstlerischen Zielen, welche er mit genau diesem Text verfolgt hat – mit welchem Bewusstseinsgrad auch immer. Der vorliegende Text wird somit als Umsetzung eines bestimmten künstlerischen Konzepts betrachtet. Zur Ermittlung des Textkonzepts werden Hypothesen gebildet, und es wird überprüft, ob sie mit den bei der Basis-Analyse festgestellten Texteigenschaften im Einklang stehen. Dabei sind in der Regel mehrere Hypothesen zu erwägen, die dann einem Vergleichstest zu unterziehen sind. Diejenigen Ideen, welche sich als nicht textkonform erweisen, werden ausgeschieden. Entsprechendes gilt für die nächsten Arbeitsgänge. Im zweiten Schritt wird das herausgefundene Textkonzept in das Literaturprogramm des Autors eingebettet, d.h., es wird gefragt, von welchen allgemeinen künstlerischen Zielen dieses Textkonzept getragen wird. Der vorliegende Text wird also auch als Umsetzung eines bestimmten Literaturprogramms betrachtet. Für die Ermittlung des Literaturprogramms sind natürlich auch weitere Dinge außer dem behandelten literarischen Text zu berücksichtigen, z.B. andere Texte desselben Autors; darauf gehe ich jetzt nicht weiter ein. Im dritten Schritt der Basis-Interpretation werden das herausgefundene Textkonzept und Literaturprogramm in das Überzeugungssystem des Autors eingebettet, d.h., es wird vor allem gefragt, von welchen weltanschaulichen und soziopolitischen Grundüberzeugungen das jeweilige Textkonzept und Literaturprogramm getragen wird. Der vorliegende Text wird also auch als Umsetzung eines bestimmten Überzeugungssystems – als Objektivierung bestimmter Weltbildannahmen und Wertüberzeugungen – betrachtet. Für die verlässliche Ermittlung der weltanschauli-

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chen und soziopolitischen Grundannahmen ist natürlich auch ein Wissen über den Autor und die zu seiner Zeit vertretenen Überzeugungssysteme erforderlich. Bei allen dargelegten Arbeitsschritten gehört zur empirisch-rationalen Vorgehensweise das Ausprobieren von Alternativen und die Suche nach der bestmöglichen Lösung des jeweiligen kognitiven Problems. Das bedeutet auch, dass man gezielt nach Textelementen fahndet, welche die eigenen Hypothesen in Schwierigkeiten bringen könnten, um diese dann überzeugend zu bewältigen. Kognitive Aussagen im Bereich der Textinterpretation können mit Textbelegen gestärkt oder geschwächt werden. These 4: Hat man eine tragfähige Basis-Interpretation erarbeitet, die im optimalen Fall mit allen bei der Basis-Analyse festgestellten Texteigenschaften im Einklang steht, so ist die Frage „Wie kommt es, dass der Text so ist, wie er ist?“ bzw. „Worauf sind die zuvor festgestellten Texteigenschaften zurückzuführen?“ beantwortet, und das heißt, dass eine gut bestätigte wissenschaftliche Erklärung der Texteigenschaften vorliegt. Die Basis-Interpretation ist also zugleich eine Erklärung der Textbeschaffenheit. Die kognitive Hermeneutik spricht hier von einer verstehenden Erklärung. Das bedeutet auch, dass es verfehlt ist, wenn in Diskussionen über das Verhältnis von Natur- und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften von einer generellen Opposition zwischen Verstehen und Erklären ausgegangen wird. Das Besondere dieses Typs wissenschaftlicher Erklärung besteht darin, dass die festgestellten Eigenschaften des literarischen Textes auf mentale Faktoren zurückgeführt werden. Es versteht sich von selbst, dass bei der Erklärung von Naturphänomenen anders vorgegangen wird. Die kognitive Hermeneutik behauptet, dass menschliches Denken, Wollen und Handeln sowie die Ergebnisse menschlicher Aktivitäten nur dann befriedigend verstanden und erklärt werden können, wenn man das jeweils zugrundeliegende Überzeugungssystem richtig erkannt hat. Der konkrete literarische Text ist nämlich so, wie er ist, weil er geprägt ist durch genau dieses Überzeugungssystem, vor dessen Hintergrund der Autor genau dieses Literaturprogramm entwickelt hat, aus dem wiederum genau dieses Textkonzept hervorgegangen ist. Die Texteigenschaften

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werden somit auf ihre eigenen Entstehungsvoraussetzungen zurückgeführt und dadurch in ihrer Tiefenstruktur wissenschaftlich verständlich gemacht. Die Basis-Interpretation ist dabei auf eine systematische Deutung ausgerichtet, die das Ziel verfolgt, den gesamten Textbestand befriedigend zu erklären. Auf diese Weise gelingt es, Kunstphänomene in ihrer Eigenart und Besonderheit zu erfassen: Bei der Basis-Analyse wird die ästhetische Besonderheit des jeweiligen Textes festgestellt, und bei der Basis-Interpretation wird diese auf künstlerische Ziele, die mit weltanschaulichen Hintergrundüberzeugungen zusammenhängen, zurückgeführt. Der vorliegende Text wird somit immer auch als Lösung bestimmter künstlerischer Probleme aufgefasst. Das Konzept der Basis-Interpretation führt zur Rehabilitierung einer in den letzten Jahrzehnten von verschiedenen Positionen kritisierten autorbezogenen Vorgehensweise. Dabei wird jedoch das herkömmliche Konzept der Autorintention überwunden, das primär auf die Ermittlung der bewussten Aussageabsicht des Autors ausgerichtet ist – die maßgeblichen Prägungsinstanzen sind dem Textproduzenten zumeist nicht klar bewusst. Bewusste Aussageabsichten des Autors werden methodisch als Elemente seines Überzeugungssystems behandelt; Autorintentionen stellen also Elemente der Autorposition dar. Wir können uns zwar nie von unserem eigenen Überzeugungssystem lösen, um völlig voraussetzungslos zu werden, aber wir können die lebenspraktisch dominierende Tendenz zur Anwendung und Durchsetzung des eigenen Überzeugungssystems phasenweise zurückdrängen und unsere Energien gezielt dafür verwenden herauszufinden, welches Überzeugungssystem dem jeweiligen literarischen Text zugrunde liegt und ihn geprägt hat. Dabei geht es immer nur darum, eine herausgefundene Überzeugung als textprägend zu erweisen, nicht aber darum, sie auch selbst zu akzeptieren. Ein empirisch-rationalen Prinzipien folgender Textwissenschaftler geht von der generellen Fehleranfälligkeit menschlichen Denkens aus und kalkuliert daher immer die Möglichkeit ein, dass ein konkurrierendes Hypothesengefüge textkonformer und erklärungskräftiger sein kann als das in der eigenen Interpretation entwickelte.

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These 5: Es ist eine legitime Aufgabe der Textwissenschaft, literarische Texte in verschiedene Kontexte – etwa in den sozial- und den ideengeschichtlichen – einzuordnen und kontextbezogen zu erforschen. Die kognitive Hermeneutik spricht hier von Aufbauarbeit. Diese Wortwahl zeigt auch an, dass gemäß dem vorgeschlagenen theoretischen Rahmen bezogen auf einen bestimmten Text wissenschaftliche Aufbauarbeit erst dann erfolgen sollte, wenn eine gut bestätigte, tragfähige BasisInterpretation vorliegt. Sonst besteht nämlich die Gefahr, dass die Aufbauarbeit explizit oder implizit von einer Textinterpretation gesteuert wird, welche sich bei kritischer Prüfung als nicht textkonform und mindestens einem konkurrierenden Ansatz an Erklärungskraft unterlegen erweist. Viele Fachtexte, die Aufbauarbeit betreiben, erliegen dieser Gefahr. Denen, die davon überzeugt sind, dass die Textwissenschaft sich primär um die Lösung kognitiver Probleme kümmern sollte, wird also vorgeschlagen, die wissenschaftliche Textarbeit künftig nach dem Dreischritt Basis-Analyse – Basis-Interpretation – Aufbauarbeit vor dem Hintergrund einer gut bewährten Basis-Interpretation zu betreiben. These 6: Nach der kognitiven Hermeneutik ist nichts dagegen einzuwenden, dass Menschen spontan und dann manchmal auch in elaborierter Form eine Interpretation z.B. eines bestimmten Textes hervorbringen, die zum jeweiligen Überzeugungssystem passt und in diesem Rahmen eine lebenspraktisch wichtige Funktion erfüllt. Man sollte nur erkennen, dass es sich hier um eine aneignende Interpretation handelt, die nicht in einem empirisch-rationalen Sinn wissenschaftsfähig ist. Zu unterscheiden sind also zwei Typen der Textinterpretation: Typ 1 bemüht sich vor allem um die Lösung von Erklärungsproblemen, die bei literarischen Texten auftreten, während es bei Typ 2 darum zu tun ist, eine bestimmte Lebensorientierung anzuwenden, d.h. eine bereits vorhandene Orientierung zu verstärken und zu bestätigen oder zu vermitteln. Um zum Ausgangsbeispiel zurückzukehren: Wenn A die eigene feministische und islamkritische Sichtweise auf eine Kopftuchträgerin bezieht, so läuft das auf eine Bekräftigung der eigenen Position durch Anwendung ihrer Prämissen hinaus und nicht auf eine empirisch gestützte Erklärung des Faktums, dass diese Frau ein Kopftuch trägt. Die Botschaft der kognitiven Hermeneutik lautet: Wir brauchen beides.

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Die Rezeption literarischer Texte (wie überhaupt von Kunstphänomenen) wird als Vorgang begriffen, der zumeist von den Überzeugungssystemen der beteiligten Rezipienten gesteuert wird und bezogen auf diese eine Verstärkerfunktion erfüllt – sie macht einen bestimmten Text dem jeweiligen Überzeugungssystem dienstbar.

Neue Methode zur Entscheidung von Interpretationskonflikten Die Methode der Basis-Interpretation ist mit einer weiteren Innovation verbunden, die insbesondere bei solchen literarischen Texten zur Anwendung kommt, welche sehr viele und zum Teil logisch nicht miteinander zu vereinbarende Deutungen erfahren haben – bei schwierigen und als besonders wichtig geltenden Texten wie z.B. Goethes Faust oder Kafkas Der Prozess. Bei solchen Interpretationskonflikten verlangt die Theorie vom kognitiven Interpreten zunächst, auf der Basis einerseits des Primärtextes und andererseits der vorliegenden Sekundärtexte – zumindest eines größeren Teils davon – herauszufinden, welche Grundoptionen der Deutung dieses literarischen Textes es nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand überhaupt gibt. Danach ist in einem Optionenvergleich nach rein kognitiven Kriterien zu ermitteln, welche dieser einander logisch ausschließenden Optionen am textkonformsten und am erklärungskräftigsten für die Texteigenschaften ist. Aus diesem Vergleich geht eine Option als Sieger hervor, und die Konkurrenten können als widerlegt gelten. Durch die grundsätzliche Kritik werden stets auch alle Varianten der unterlegenen Optionen entkräftet. In der Sandmannund in der Schlemihl-Studie ist ein solcher Optionenwettkampf exemplarisch durchgeführt worden. Die Idee, insbesondere bei schwierigen literarischen Texten so etwas zu veranstalten, ist in der Literaturwissenschaft, wenn man von meinem engeren Wirkungskreis einmal absieht, meines Wissens bislang nicht aufgenommen worden. Man kann einen Text beliebiger Art bei der Aufbauarbeit in unterschiedliche Kontexte einordnen und kontextbezogen erforschen; die Untersuchung von Kontext a schließt die von Kontext b nicht aus. Bei echten Interpretationskonflikten ist eine solche unproblematische Ko-

Kognitive Hermeneutik

existenz unterschiedlicher Formen des Textzugangs jedoch nicht möglich. Hier gilt: Einander logisch ausschließende Deutungsoptionen sind nicht gleichermaßen gut mit allen Textelementen vereinbar und damit nicht gleichermaßen gültig. Daraus ergibt sich das Ziel zu zeigen, dass einige mit wissenschaftlichem Anspruch auftretende Deutungsansätze angesichts bestimmter Textelemente in Schwierigkeiten geraten, welche sie nicht zu bewältigen vermögen.

Kritische Prüfung von Interpretationstexten Mit dem Konzept des Optionenvergleichs ist eine Methode des Umgangs mit Texten der Fachliteratur, die zumeist Interpretationstexte sind, verbunden;12 frühere Ansätze dieser Art wurden weiterentwickelt. Ziel ist es, den kognitiven Wert der Arbeiten über einen literarischen Text im Ganzen und im Einzelnen zu ermitteln. Dafür steht ein Pool an Fragen zur Verfügung, aus dem je nach Beschaffenheit des konkreten Sekundärtextes die für dessen kritische Prüfung relevanten ausgewählt werden. Einige Beispiele sollen hier genügen: Werden Beschreibung, Erklärung und Wertung vermischt? Werden die Grundannahmen und die zentralen Hypothesen expliziert? Werden die Interpretationsideen argumentativ gestützt, oder begnügt man sich mit bloßen Behauptungen? Wird eine individuelle Reaktion auf einen Text als allgemein gültig unterstellt? Die Anwendung dieser Prüfungsmethode ist in der SandmannStudie mit einem ungewöhnlich großen Arbeitsaufwand erfolgt. Auf der beigefügten CD-ROM finden sich detaillierte kritische Kommentare zu insgesamt 84 Sekundärtexten. Auf vergleichbare Weise wird in der im Mythos-Magazin in mehreren Lieferungen erschienenen Schle-

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Vgl. Tepe/Rauter/Semlow: Interpretationskonflikte am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann (wie Anm. 3), Kapitel 5.1: Die Vorgehensweise im Einzelnen.

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mihl-Studie verfahren, in der 68 bis 1980 publizierte Sekundärtexte ausführlich kommentiert werden.13

Vereinnahmungsdeutungen Nimmt man eine spezifische erkenntniskritische Perspektive hinzu, so ermöglicht es die beschriebene Methode des Umgangs mit Texten der Fachliteratur auch, Vereinnahmungsdeutungen, die als projektiv-aneignende Interpretationen bezeichnet werden, als solche zu erkennen und zu kritisieren. Diese stellen den dritten Interpretationstyp dar, der im Unterschied zum aneignenden und zum kognitiven Interpretieren defizitär ist. Derartige Deutungen erzeugen mit nach Kriterien empirischrationalen Denkens unsauberen Mitteln Textinterpretationen, die mit den theoretischen bzw. weltanschaulichen Überzeugungen des Interpreten im Einklang stehen und diese scheinbar bestätigen. In der Sandmann-Studie werden diese in Kapitel 9 behandelt, und auf der CD-ROM finden sich, beginnend mit Sigmund Freuds Sandmann-Deutung in Das Unheimliche, 24 ins Detail gehende kritische Kommentare zu Ansätzen, die in mehr oder weniger großem Umfang projektiv-aneignend verfahren. Die Lage bei den Schlemihl-Interpretationen ist damit vergleichbar. Eine vom Überzeugungssystem des jeweiligen Interpreten gesteuerte willkürliche Sinnbesetzung eines Textes, in welcher der Text mit den Überzeugungen des Interpreten verschmolzen wird, muss grundsätzlich von dessen wissenschaftlicher Interpretation, welche eine echte Erkenntnisleistung erbringt, unterschieden werden. Solange der projektiv-aneignende Deutungsstil in der Textwissenschaft wirksam ist, werden literarische Texte auf immer neue Weise als Stützen der von den Interpreten vertretenen Theorien und Weltanschauungen, die ständig wechseln, ausgegeben. Vom Überzeugungssystem des Interpreten gesteuerte Sinnbesetzungen literarischer Texte, die problematische Direktanwendungen der 13

Die wichtigsten Ergebnisse sind dargestellt in Tepe/Semlow: Kognitive Hermeneutik (wie Anm. 4).

Kognitive Hermeneutik

von ihnen vertretenen Theorien, soziopolitischen Programme und Weltanschauungen darstellen, sind in der Fachliteratur verbreitet. Interpretationstexte, die nach empirisch-rationalen Kriterien in dieser oder jener Hinsicht fehlerhaft sind, werden vielfach als normale, ja teilweise sogar als herausragende wissenschaftliche Leistungen angesehen. Das geschieht, weil diese Interpretationen mit zu dieser Zeit verbreiteten Überzeugungen im Einklang stehen, d.h., weil sie einen erwünschten Orientierungswert besitzen – sie sind geeignet, die gerade dominierenden Orientierungen zu bestärken. Solche Sinnbesetzungen müssen von verlässlichen Sinnrekonstruktionen abgegrenzt werden. Der projektiv-aneignende Deutungsstil gibt eine lebenspraktisch nützliche Aneignungsleistung als wissenschaftliche Leistung aus. Hier wird nicht zunächst, wie die kognitive Hermeneutik es fordert, nach den das Kunstphänomen tatsächlich prägenden Instanzen gefragt, sondern die vom Interpreten vertretene Theorie, soziopolitische Programmatik und Weltanschauung wird unmittelbar zur Geltung gebracht. Werden z.B. auf einen alten Text zentrale Elemente des eigenen Überzeugungssystems projiziert und dann deutend wieder aus ihm herausgelesen, so wird dadurch eine scheinhafte Bestätigung für das eigene Überzeugungssystem hervorgebracht – nach dem Motto „Der alte Text sagt ja genau das, was wir auch sagen“. Projektionen des eigenen weltanschaulichen, soziopolitischen und theoretischen Rahmens auf Texte werden in der von mir entwickelten kognitiven Ideologietheorie als Formen bedürfniskonformen Denkens eingeordnet.14 Es ist nicht Aufgabe einer Wissenschaft im empirisch-rationalen Sinn – einer Erfahrungswissenschaft –, eine bestimmte Weltanschauung oder ein bestimmtes soziopolitisches Programm zu vermitteln oder auf direkte Weise zu stützen. Das hängt damit zusammen, dass sich Weltbilder, Wertsysteme und soziopolitische Programme nicht mit rein kognitiven Mitteln als die definitiv richtigen bzw. wahren auszeichnen lassen. Vereinnahmungskomponenten in Textinterpretationen sind häufig nicht einfach zu erkennen. Um sie aufzuspüren, muss man erstens den 14

Vgl. Peter Tepe: Ideologie. Berlin/Boston 2012.

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gedeuteten Text genau kennen (sonst kann man problematische Ausblendungen wichtiger Texteigenschaften nicht bemerken). Zweitens muss man das jeweilige Deutungsangebot daraufhin prüfen, ob es mit dem gesamten Textbestand vereinbar ist und diesen konsistent zu erklären vermag. Kennt man den Bezugstext nicht hinlänglich genau und wird keine kritische Prüfung vorgenommen, so erscheinen im Prinzip alle Deutungen eines bestimmten Textes als plausibel und tendenziell als wissenschaftlich gleichberechtigt – gerade auch diejenigen, deren Textkonformität gering ist. Diese Gleichberechtigungsillusion ist unter Textwissenschaftlern weit verbreitet.

Rezeption der kognitiven Hermeneutik Die in der Literaturwissenschaft verbreitete Abwehrhaltung gegenüber der kognitiven Hermeneutik hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Fachleute in ihrer textwissenschaftlichen Arbeit zumeist einem Deutungsstil verhaftet sind, in dem aneignende Komponenten eine größere Rolle spielen. Diese Praxis wird wiederum von diversen Theorien gestützt, welche genau dieses Vorgehen für wissenschaftlich legitim erklären – dazu gehören neben der philosophischen Hermeneutik Gadamers viele verbreitete Theorien, darunter die Rezeptionsästhetik. Der genannte Arbeitsstil ist bei einigen zum Element der Identität als Textwissenschaftler geworden und wird daher mit allen Mitteln vor einer Problematisierung geschützt. Ein solcher Schutz funktioniert am einfachsten und effektivsten dadurch, dass man jede Auseinandersetzung mit der potenziell bedrohlichen Theorie vermeidet.

Literatur Greif, Annette: Atwood, Pinter, Schlöndorff: The Handmaid’s Tale – Intermedial. Eine kognitiv-hermeneutische Untersuchung der filmischen Literaturadaption. Düsseldorf 2017.

Kognitive Hermeneutik

Kraiger, Markus: Fundamentalismus in der Gegenwartsliteratur. Würzburg 2020. Tepe, Peter: Kognitive Hermeneutik. Textinterpretation ist als Erfahrungswissenschaft möglich. Mit einem Ergänzungsband auf CD. Würzburg 2007. Ders.: Ideologie. Berlin/Boston 2012. Ders.: Kognitive Hermeneutik in der Kritik. In: Luigi Cataldi Madonna (Hg.): Naturalistische Hermeneutik. Ein neues Paradigma des Verstehens und der Interpretation. Würzburg 2013, S. 191-219. Ders.: 25 Jahre Schwerpunkt Mythos, Ideologie und Methoden ... und kein Ende. In: Mythos-Magazin (2013), online unter http://www.mythos-m agazin.de/geschichtedesschwerpunkts/pt_25Jahre.pdf sowie http:/ /www.mythos-magazin.de/geschichtedesschwerpunkts/index.htm Ders.: Schlagabtausch. Der Streit zwischen der kognitiven und der geist-theoretischen Hermeneutik über den Sandmann. In: MythosMagazin (2018), online unter http://www.mythos-magazin.de/erkla erendehermeneutik/pt_schlagabtausch.pdf Ders.: Neue Einwände gegen die kognitive Hermeneutik. In: Mythos-Magazin (2019), online unter http://www.mythos-magazin.de/erklaerendeh ermeneutik/pt_neue-einwaende.pdf Peter Tepe/Tanja Semlow: Interpretationskonflikte am Beispiel von Adelbert von Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte. In: MythosMagazin (2011ff.), online unter http://www.mythos-magazin.de/erk laerendehermeneutik/forum-w.htm Peter Tepe/Tanja Semlow: Kognitive Hermeneutik. Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. In: Dies. (Hg.): Mythos No. 4: Philologische Mythosforschung. Würzburg 2016, S. 170-186. Peter Tepe/Jürgen Rauter/Tanja Semlow: Interpretationskonflikte am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann. Kognitive Hermeneutik in der praktischen Anwendung. Mit Ergänzungen auf CD. Würzburg 2009.

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Internetseiten: http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/forum-w. htm http://www.mythos-magazin.de/geschichtedesschwerpunkts/pt_bibli ographie.pdf http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/forum-w. htm http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/forum-s. htm

Hermeneutik und Literaturdidaktik Hartmut Günther

1 Hermeneutik als Theorie der Interpretation und des Verstehens von Texten ist mit Didaktik eng verknüpft, weil das (richtige) Verstehen der wichtigen Texte einer Gesellschaft vermittelt werden muss. Das sind in der Vergangenheit vor allem religionsbegründende Texte wie etwa die Thora, die Veden, das Neue Testament oder der Koran. Da Texte alsbald älter sind als diejenigen, die sich auf sie berufen wollen, kommt immer Hermeneutik ins Spiel: Die Notwendigkeit der Texterklärung stellt sich allein deswegen, weil Sprache sich verändert. Die Bewahrung der Texte im Wortlaut durch eine mehr oder weniger ausgefeilte Memorierungstechnik stößt rasch an ihre Grenzen, u.a. wegen Limitation des Gedächtnisses, Unzuverlässigkeit der Übermittler, Veränderung der Lautung, Verlust von Wörtern, Bedeutungswandel. Eine Lösung einiger dieser Probleme bietet die Verschriftung – das flüchtige Wort wird durch Niederschreiben festgehalten. Die Probleme des Sprachwandels aber verschärfen sich: Festgehalten wird der Sprachstand zum Zeitpunkt der Niederschrift: Je älter der Text, desto weniger nahe sind Lautung und Bedeutung von Wörtern und Sätzen der zeitgenössischen Sprache. Obgleich die Anfänge der Hermeneutik in Griechenland liegen, ist die bis heute einflussreichste abendländische Tradition die Auslegung der Bibel. Im Laufe der Jahrhunderte, ausgehend von Cassian im 5. Jahrhundert, der auf der antiken Lehre fußte, entwickelte sich die Allegorese, die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, die noch im heutigen

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katholischen Katechismus genannt wird. Hinter dem wörtlichen Sinn eines Textes wurden mehrere Bedeutungsebenen ausgemacht. Es gab verschiedene Terminologien für diesen Viererschritt, aber der Inhalt ist immer der gleiche. Unterschieden wurden: 1. 2. 3. 4.

der sensus litteraris oder historicus, der Wortsinn eines Textes der sensus allegoricus, der allegorische Sinn der sensus moralis, die moralische Lehre der sensus anagogicus, der Verweis auf die Eschatologie

Durch die Jahrhunderte zieht sich das zuerst bei Cassian auftauchende Beispiel der Bedeutung von Jerusalem: 1. 2. 3. 4.

die historische Stadt Jerusalem, die Kirche Christi, die menschliche Seele, das zukünftige, himmlische Jerusalem.

In den Bibelkommentaren wurde die Auslegung biblischer Sätze nach diesem Muster festgeschrieben. Von Petrus Lombardus, der im 12. Jahrhundert in Frankreich wirkte, stammt eine Sammlung von überlieferten Lehrsätzen zur Bibel, die jeder angehende Theologe zu lernen hatte. Martin Luther, der seine erste Vorlesung 1510/11 zu diesen Sententiae des Petrus Lombardus halten musste – das war Usus –, gelangte zunehmend zu der Überzeugung, dass die Auslegungstexte wichtiger geworden waren als der Text der Heiligen Schrift selbst, auf den sie sich bezogen – quasi eine Interpretation zweiten Grades: Lombardus sammelt (und kommentiert) durch Allegorese gewonnene Aussagen über die Essenz des christlichen Glaubens, die andere mit eben dieser Methode aus der Heiligen Schrift gewonnen hatten. Bereits in seiner Verteidigungsschrift gegen die Bannandrohungsbulle hatte Luther 1520 sein Verständnis der Bibel erklärt: „per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans“ (WA 7, 97, 23f). Das heißt, dass das

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Verstehen der Bibel in ihr selbst angelegt sei und sie keiner Auslegung bedürfe: Nicht die, die sie erklären, verstehen die Heilige Schrift und legen sie aus, sondern sie werden durch die Schrift erleuchtet. Weiter heißt es über die Worte der Bibel „ut quae non per hominum verba per ipsa doceantur, probentur, aperiantur et firmitur“ (ebd.). In einer 1522 gehaltenen Predigt wiederholt Luther für Laien dieses sein Verständnis vom Text der Bibel. Selbst von Luther anerkannte Autoritäten wie die Kirchenväter Hieronymus, Ambrosius und Augustinus hätten nicht die Heilige Schrift ausgelegt, „dann sy habens nit erleücht, sonder die schrift ihrm aigen liecht klar gemacht und ain spruch zum andern gehalten / das ainer den andern fein klar gemacht hat. Also ist die schrifft ir selbs ain aigen liecht. Das ist dann fein, wenn sich die schrifft selbs ausslegt / darumb glaubt nit und haltet frey für finster was nit beweret wirdt mit klaren sprüchen der Biblien“ (WA 10, 3, 238 10f). Weil der Text der Bibel sakrosankt ist, kann es nur eine Bedeutung geben – Gott spricht eindeutig – aber die Bibelstellen erhellen einander. Festzuhalten ist hier zunächst, dass Luther überzeugt davon war, dass der uralte Text verstanden werden kann, ohne dass er erklärt, interpretiert, gedeutet werden müsste – jedenfalls in einer zeitgenössischen Übersetzung. Sola scriptura bedeutet nichts anderes, als dass es nur den Text gibt, aus dem Verständnis erwächst. Da der Autor Gott ist, der den Übersetzern Hieronymus und Luther (interpres bedeutet auch Übersetzer) qua Heiligem Geist die Feder führte, sind für Luther auch die hermeneutischen Fragen nach der Aussageabsicht des Autors und nach der Rezeptionsperspektive des Lesers obsolet: Nur wer die Wahrheit des Texts anerkennt, liest ihn richtig. Die Übersetzung in die Volkssprache sollte es jedem ermöglichen, auch dem einfachsten Menschen, die Heilige Schrift selbst zu lesen oder sich vorlesen zu lassen und ohne fremde Erklärung zu verstehen. Diese Position – dass der Text selbst ohne Interpretationshilfen zum Leser spricht – ist bei Luther auf die Bibel bezogen und aufgrund des Autors – Gott – auch nicht hintergehbar.

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2 Was passiert, wenn der Autor nicht Gott ist und der Leser nur begierig, das geschriebene Wort zu verstehen, etwa in den Schriften Platons, Ovids, Goethes oder Brechts? Die Allegorese ist als Anleitung zunächst zweifelhaft, denn ihre theologische Zweckbestimmung fehlt. Aber auch Luthers Ansatz, dass der Text sich selbst auslegt: Vielleicht wollte der Autor täuschen (das nimmt Luther selbst sehr vehement in seiner Predigt von den Schriften des Papstes an), und wer kann das dann erkennen ohne den Erklärer, also z.B. den Dr. Luther? Weltliche Texte (wie Luther und seine Zeitgenossen annahmen, im Gegensatz zur Bibel) wurden von menschlichen Autoren mit Absichten verfasst – wie auch die unzähligen Pamphlete, die Luther selbst geschrieben hat. Kann man die tatsächlich verstehen, ohne selbst eine Position zu haben, den Zusammenhang zu kennen, in dem sie geschrieben wurden? Flugs ist das ganze hermeneutische Problem zusammen, das die folgenden Jahrhunderte die Diskussion bestimmte bis hin zu dem Symposium, bei dem der vorliegende Text entstanden ist.

3 Texte sind einfach da, wenn sie einmal geschrieben wurden. Christian Morgenstern hat das in einem Gedicht festgehalten: Der Meilenstein Tief im dunklen Walde steht er und auf ihm mit schwarzer Farbe, daß des Wandrers Geist nicht darbe: Dreiundzwanzig Kilometer. Seltsam ist und schier zum Lachen, daß es diesen Text nicht gibt, wenn es keinem Blick beliebt, ihn durch sich zu Text zu machen. Und noch weiter vorgestellt:

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Was wohl ist er – ungesehen? Ein uns völlig fremd Geschehen. Erst das Auge schafft die Welt. In dem Moment, in dem der Wanderer den Meilenstein erblickt, muss er ihn lesen und damit auch verstehen wollen. Ist er Analphabet oder kennt die arabischen Ziffern nicht, gelingt ihm das nicht – aber dass da etwas Bedeutungsvolles steht, ist ihm dennoch klar. Und wenn er ihn versteht, ergeben sich allerlei Probleme. Kann man das denn glauben – vielleicht ist es viel weiter oder viel kürzer als 23 km? Ist es wichtig zu wissen, wer den Stein da hingestellt hat, vielleicht um zu täuschen? Vielleicht auch: In wie vielen Stunden schaffe ich 23 km? Und der Text des Gedichts ist ohnehin rätselhaft: Ein Meilenstein, auf dem die Entfernung in Kilometern angegeben wird? Didaktisch ist zunächst wichtig, dass derjenige, der den Kilometerstein erblickt, ihn lesen können muss. Vor aller Hermeneutik steht die Didaktik des Lesens. Wer nicht lesen kann, muss sich den Text vorlesen lassen. Aber dann? Zu erklären ist, warum tief im Walde ein Stein mit der Inschrift 23 km steht. Aber das gilt ja für alle Texte: Warum gibt es sie überhaupt?

4 Wer in Deutschland Deutschlehrer werden will, muss Germanistik studieren, und ein – je nach Studienort unterschiedlich großer – Anteil seiner Studienleistungen entfällt auf die Literaturwissenschaft. Wenn er oder sie nach dem Referendariat für das Fach Deutsch an eine Schule kommt, entfällt ein – je nach Standort und Schulträger unterschiedlich großer – Anteil der Lehrtätigkeit auf den Gegenstand „Deutsche Literatur“. Dazu gehört auch die Lyrik. Der Deutschlehrer muss irgendwann (das wäre jedenfalls zu hoffen) seinen Schülern z.B. diesen Text von Eichendorff vorstellen und mit ihnen besprechen:  

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Wünschelrute Schläft ein Lied in allen Dingen die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort. Was kommt dabei heraus? Im Internet findet man ziemlich viele Schüleraufsätze dazu. Also wird das Gedicht noch durch- und wahrgenommen. Weil die Aufsätze im Internet zu finden sind, handelt es sich wohl auch nicht um solche, die die Lehrkraft als misslungen ansah. In allen diesen Aufsätzen wird festgestellt, dass es sich um ein Gedicht der Romantik handelt, auch werden die metrischen Eigenschaften bemerkt – ohne geht es anscheinend nicht. Ziemlich viel Unsinn ist natürlich auch zu lesen. Aber dass es ein wunderbares oder auch nur ein sehr schönes Gedicht ist, schreibt niemand (vielleicht darf man das nicht?). Offenbar ist Literaturdidaktik eben nicht das, was das Wort sagt, sondern Literaturwissenschaftsdidaktik. Die aber gehört nicht in die Schule, sondern auf die Universität. Muss man wissen, dass Eichendorff ein (Spät)romantiker war, um dieses Gedicht schön zu finden? Muss man wissen, dass es sich um Trochäen handelt, um es zu verstehen? Muss man erkennen können, dass männliche und weibliche Kadenzen sich abwechseln, und auch noch – was hier nun wirklich nicht klappt – das Gelernte nachplappern, dass männliche Kadenzen hart sind? Was eine Wünschelrute ist, wäre natürlich gut zu wissen (interessanterweise lassen viele Rezitatoren die Überschrift weg), ist aber auch nicht unbedingt notwendig – man kann sich ja mit dem Zauberwort der letzten Zeile auch die Bedeutung des Titels herbeiwünscheln. Zusammengefasst: Kann man diesen Text „verstehen“, ohne jedes hermeneutische Rüstzeug? Man kann auf diese Frage eine einfache, quasi lutherische Antwort geben: Man kann den Text ohne weiteres ohne Hilfsmittel verstehen, man sollte ihn sogar – entgegen der Meinung der Literaturwissenschaftler – verstehen können. Denn durch des Dichters Mund spricht nicht irgendein Autor, sondern Gott. Der Text des Dichters als Seher hat, in dieser Sichtweise, nichts mit seinem Autor zu tun und auch

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nichts mit den Intentionen des Lesers. Etwas weniger divinatorisch: Jeder Text erklärt sich selbst, sonst gäbe es ihn nicht. Das kann man natürlich, nach Jahrhunderten ernsthafter Bemühungen um Hermeneutik, als naiv oder auch absurd abtun und hat damit nicht einmal ganz unrecht. Die Vorstellung freilich, dass man einen lyrischen Text nur dann „verstehen“ kann, wenn man die ganze hermeneutische Maschinerie anwirft, scheint mir ebenso absurd. Denn Texte, das ist der Segen und der Fluch der Schrift, sind irgendwann einfach da, wollen gelesen sein – und sei es nur ein Meilenstein. Und wer schriftkundig ist und einen Text sieht, muss ihn einfach lesen, ob er will oder nicht. Es ergibt sich dabei zwangsläufig irgendein „Verständnis“, und sei es nur der Satz „versteh ich nicht“,1 nicht nur bei Lyrik gar nicht so selten – aber der Satz zeigt gerade, dass man dem Text eine Bedeutung zumisst. Bemühen wir uns um eine zweite Antwort. Muss man lyrische Texte wie die von Morgenstern und Eichendorff überhaupt „verstehen“ können, und wenn Ja, was bedeutet „verstehen“? Bei mathematischen Gleichungen, Zellstrukturen, Gravitationsgesetzen etc. lässt sich solch eine Frage offenbar leichter beantworten als bei einem Gedicht. In den neueren Diskussionen um den Sinn von Literatur im Deutschunterricht wurde deshalb die Frage ganz anders beantwortet. Gerade weil Literatur der Interpretation bedürfe, sei sie vielleicht wichtigster Gegenstand des schulischen Unterrichts vor allen anderen Fächern: Sie verlange die kritische Analyse von Texten, ihr Verstehen. Mir kommt das so vor wie die immer wieder auftauchende Apotheose des Lateinunterrichts, der zwar überhaupt nichts lehrt als diese alte Sprache, aber was dabei herauskomme, sei logisches Denken, Fähigkeiten im Fremdspracherwerb … Blanker Blödsinn sage ich, der ich noch heute lateini-

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Wissenschaftler wollen so etwas natürlich nicht sagen. Während des Symposiums hat Frank Matakas eine zweizeilige schriftliche Äußerung eines Schizophrenen gezeigt – das gesamte Auditorium war anschließend mehr darum bemüht, Deutungen dieses Texts zu liefern als sich mit dem Vortrag zu befassen. – Lösener & Siebauer (2011:53) zeigen, dass eben auch Nicht-Verstehen produktiv sein kann.

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sche Texte ganz gut lesen kann und Lateinunterricht für keinen Unfug halte. Blanker Blödsinn auch, dass man Literatur lehren müsse, weil da die Sprache in ihrer tiefsten Natur zu finden sei und man so (nur so?) lernen könne, Texte zu verstehen: Man lehrt Literatur, weil es Literatur ist.

5 Vielleicht ist doch noch einmal ein Blick auf die Allegorese nicht ganz unnütz. Ein bekanntes Lerndystichon zur Allegorese lautete: Littera gesta docet, quid credas, allegoria, moralis, quid agas, quo tendas, anagogia. Dass es den sensus literalis zunächst zu erkennen gilt – selbst wenn er in die Irre führen mag, betrachtet man die anderen sensus – scheint weitgehend unstrittig, deshalb auch der Indikativ docet. Die sprachlichen Formen credas, agas und tendas zeigen, dass der zu verstehende Text (der Bibel) grundsätzlich als Handlungsaufforderung verstanden wird, und zwar auf der Basis des sensus literalis – das ist die Leserperspektive aus der Sicht des Textes. Selbst wenn wir einen nichtgöttlichen Autor voraussetzen: Der Text gibt vor, was der Leser tun soll. Machen wir das einmal mit einem literarischen Text, dem Gedicht von Morgenstern, denn dieser Text scheint es uns leicht zu machen: Es gibt eine Schlusszeile, die quasi als Merksatz den Text vorher erläutert. Der sensus literalis der ersten Strophe muss nicht weiter erklärt werden – für manchen vielleicht das Wort darbe –, auch das Gedankenspiel der beiden folgenden eigentlich nicht. Dass der Meilenstein nur ein Symbol für das allgemeine Verstehen der Welt ist, ist ebenso einfach, weil um ihn ja dann die Gedanken der beiden folgenden Strophen kreisen (sensus allegoricus). Aber so ergibt sich auch der sensus moralis: Was du siehst, das glaube – „denk nicht, schau“ sagt Wittgenstein, und danach handele (sensus anagogicus). Nachdem ich diesen Absatz geschrieben hatte, begann sich ein hermeneutischer Zirkel in meinem Kopf zu drehen, und an den Eichen-

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dorff habe ich mich gar nicht mehr herangetraut. Mir wurde klar, dass das alles hinten und vorne nicht stimmt, aber auch, dass eigentlich alles richtig ist, dass man also mit den Schritten der Allegorese einem Text ganz gut beikommen kann, auch wenn man mit dem Niedergeschriebenen unzufrieden ist.

6 Vielleicht gehen wir doch noch einen Schritt weiter zurück in die Zeit, als Texte mündlich überliefert wurden, als nur das Hörbare zählte. Was geschieht, wenn wir die toten geschriebenen Texte zurück ins Leben, ins Hörbare verwandeln? In vielen Seminaren habe ich diesen Weg beschritten. Die Idee dieser Seminare war es, das Verständnis für Lyrik dadurch zu wecken, dass man Gedichte nicht leise lesen, sondern laut sprechen sollte. Es ging darum, durch lautes Lesen und Sprechen, also durch praktische Sprachanalyse, einen anderen Zugang zur Literatur herzustellen. Sehr viel Ähnlichkeit hat dieser Ansatz mit dem, was Lösener & Siebauer (2011) als erfahrungsorientierten Lyrikunterricht bezeichnen. Nicht Lyrik zu verstehen steht im Zentrum, sondern Lyrik zu erfahren (und, vielleicht, dadurch besser zu verstehen). Es ging um das Erfahren von Gedichten durch sprecherischen Nachvollzug mit dem Ziel, ein Verstehen durch einen angemessenen Vortrag vor Publikum nachzuweisen; dazu gehörte die Erarbeitung von Unterrichtstechniken, mit denen auch in der Schule dieser alternative Zugang zu Texten realisiert werden kann (ausführlicher beschrieben in Günther 2013). Diese Veräußerlichung der Texte steht dabei in bestenfalls losem Zusammenhang mit dem sog. handlungs- und produktionsortientierten Literaturunterricht. Es geht vielmehr darum, dem „Verlust der Sinnlichkeit“ (Schön 1987) entgegenzuwirken dadurch, dass Literatur körperlich erfahren wird und nicht auf den rein kognitiven Aspekt reduziert bleibt – ein Thema, dem sich auch Zepter (2013) widmet und die Notwendigkeit einer Rückgewinnung der Körperlichkeit in die Sprachwissenschaft überzeugend begründet.

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Jede Sitzung begann mit längeren Atemübungen. Beim Sprechen eines Textes waren die Studierenden angehalten, erst nach dem Sprechen zu überlegen, wo sie geatmet haben, und ob es nicht bessere Stellen geben könnte. Auch Metrum spielte erst danach eine Rolle, und zwar als Hinweis, wie es den Sprecher trägt. Für die Studierenden war das eine wichtige Erfahrung: Wie einfach bei „normalen“ Gedichten metrische Analyse, und wie wichtig andrerseits Metrum ist, weil es die Vortragenden trägt. In Kästners Gedicht „Sachliche Romanze“ kam in einer Zeile das Wort Café vor, und erst, als die Studierenden merkten, dass das Wort bei Kästner erstbetont ist (wie Kaffee), lief der Vortrag rund – und danach auch die metrische Analyse. Noch aufregender für die Studierenden war das bei C.F. Meyers „Die Füße im Feuer“: Dass dieser Text, der einem zunächst wie Prosa vorkommt, aus streng durchgeführten sechshebigen Jamben besteht, und dass genau das den Vortrag trägt. Genau diese Erfahrung eines stimmigen Vortrags aber, berichteten die Studierenden übereinstimmend, habe ihnen auch geholfen, ein Gedicht zu „verstehen“. Was aber heißt eigentlich „ein Gedicht verstehen“ – wenn das überhaupt ein sinnvoller Ausdruck ist. Geht es nicht im Literaturunterricht vielmehr darum, ähnlich wie in den Fächern Musik und Kunst, ein Kunstwerk zu erfahren, zu spüren, was da mit einem passieren kann? Natürlich gibt es Schüler, die damit wenig anfangen können – die gibt es auch in anderen Fächern. Aber über die sinnliche Erfahrung durch Sprechen ist, denke ich, ein Weg gelegt, der manch einem eine Erfahrung ermöglicht, die er beim üblichen stillen Lesen und Interpretieren nie gemacht hätte, und zwar weil die sinnliche Erfahrung jedem Verstehen vorausgeht.

7 Drei abschließende Bemerkungen. Erstens: Es geht um Literaturdidaktik in der Schule und nicht um Didaktik der Literaturwissenschaft. Dass in den höheren Schulklassen auch Wissen z.B. über Epochen, Stilmittel usw. Gegenstand der Lite-

Hermeneutik und Literaturdidaktik

raturdidaktik sein können, um ein tieferes Verstehen zu ermöglichen, scheint unstrittig. Die Beschäftigung mit einem literarischen Text sollte aber immer mit dem Vorgang der sinnlichen Texterfahrung beginnen. Zweitens: Dieser Beitrag ist kein Feldzug gegen die hermeneutische Arbeit an literarischen Texten und gegen Interpretation schlechthin. Man kann so einen Standpunkt durchaus vertreten, vgl. den berühmten Text Against interpretation von Susan Sontag (1966) oder meine 1999 geschriebene kurze Polemik über Gedichtinterpretationen (Günther 2008), aber damit schüttet man dann doch das Kind mit dem Bade aus. Freilich scheint es mir gerade für den schulischen Unterricht besonders der höheren Klassen unabdingbar, für Interpretationen handfeste methodische Hilfsmittel bereitzustellen.2 Drittens: Die vorstehenden Überlegungen beziehen sich auf Lyrik. Aber auch die Dramatik ist genuin mündlich – Schauspiele gehören auf die Bühne und müssen gesprochen werden. Und epische Literatur? Dass sich immer mehr Menschen lange Texte wie etwa den Zauberberg lieber per Hörbuch vorlesen lassen anstatt ihn still selbst zu lesen, scheint mir einem Bedürfnis nach mehr Sinnlichkeit zu entsprechen und der Vorstellung, dass man den Text so besser versteht: Hermeneutik durch Sinnlichkeit.

Literatur Dr. Martin Luthers Werke. 120 Bände. Weimarer Ausgabe. 1883-2009. Günther, Hartmut. 2008. Über Gedichtinterpretationen. In: Walter Wittkämper (Hrsg.): Kleine Kölsche Anthologie Band 2. Gedichte und Interpretationen. Books on Demand Norderstedt, 13-15 (geschrieben 1999). Ders. 2013. Die Sinnlichkeit zurückgewinnen – Gedichte sprechend erleben. In: Gesine Boesken, Uta Schaffers (Hrsg.): Lektüren ,bilden‘: Lesen – Bil-

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Die „Kognitive Hermeneutik“ von Peter Tepe (in diesem Band) ist bemüht, solche Hilfsmittel bereitzustellen; sie scheint mir deshalb viel eher für die Literaturdidaktik von Interesse als für eine allgemeine Hermeneutik.

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Hartmut Günther

dung – Vermittlung. Festschrift für Erich Schön. Berlin: LIT Verlag 2013, S. 219-237. Lösener, Hans & Ulrike Siebauer. 2011. hochform@lyrik. Konzepte und Ideen für einen erfahrungsorientierten Lyrikunterricht. Regensburg: Edition Vulpes. Schön, Erich. 1987. Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart: Klett-Cotta. Sontag, Susan. 1966. Against interpretation. In: Susan Sontag: Against interpretation and other essays. New York: Farrar, Straus and Giroux. Tepe, Peter. 2021. Kognitive Hermeneutik. Theoretische Grundlagen und praktische Anwendung. In: Rainer J. Kaus, Hartmut Günther (Hrsg.) (im Druck): Hermeneutik im Dialog der Methoden. Reflexionen über das transdisziplinäre Verstehen. Bielefeld: transcript. Zepter, Alexandra. 2013. Sprache und Körper. Vom Gewinn der Sinnlichkeit für Sprachdidaktik und Sprachtheorie. Frankfurt: Peter Lang.

Siglen WA = Dr. Martin Luthers Werke. 120 Bände. Weimarer Ausgabe. 1883-2009.

Aspects of Hermeneutic Procedure in Kafka, with Special Reference to Die Verwandlung Stanley Corngold

Kafka’s story Die Verwandlung is an exemplary illustration of hermeneutic procedure – and its pitfalls. Gregor Samsa, the afflicted man-bug, lives as a hermeneut par excellence; and, as this story is narrated through a perspective almost but not entirely congruent with his own, readers are initiated into this ordeal of interpretation – an ordeal, because a life is at stake. Gregor must discover a modus vivendi via an interpretation of his condition. And to the extent that we identify with him, our own life, in a certain sense, is at stake. Thus Theodor Adorno: “Jeder Satz spricht: deute mich […]. Durch die Gewalt mit der Kafka Deutung gebietet, zieht er die ästhetische Distanz ein. Er mutet dem angeblich interesselosen Betrachter von einst verzweifelte Anstrengungen zu, springt ihn an und suggeriert ihm, daß weit mehr als sein geistiges Gleichgewicht davon abhänge, ob er richtig versteht, Leben oder Tod.”1 In this instance, the reader is Gregor, a rather interested observer of his own condition; and certainly, more than his intellectual balance is at stake: his life depends on a correct interpretation of his metamorphosis. But throughout, his attempt to grasp his new condition in a state of calm reflection is disrupted by his family. In the matter of formulating a general logic of interpretation, this fact points to the general 1

Theodor Adorno, “Aufzeichnungen zu Kafka,” Gesammelte Schriften (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003), 10.1: 256.

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principle that interpretation never takes place except in the midst of environing conditions that can often (as here) include the attempt of other persons to interpret the same occasion to their advantage. Gregor’s sense of self is obviously determined by the treatment that he receives from his family, the climax of which is his sister’s declaration that this creature cannot be her brother, because if it were, Gregor’s fabled exquisite sense of family consideration would have led him to disappear voluntarily. The narrator’s wickedly ironical comment on behalf of Gregor reads: “Seine Meinung darüber, daß er verschwinden müsse, war womöglich noch entschiedener, als die seiner Schwester.”2 Here the well-known hermeneutic principle that declares its validity to be subject to the norms and expectations of an institution is satisfied with a vengeance: the Samsa family is that institution. Can a family be an institution? Consider Kafka’s letter to Elli Hermann (fall 1921), which consists of a phenomenology – better, a biopolitical logic – of what Kafka called das Familientier. (This “family” turns out to have many of the attributes of a university literature department, where interpretations of works and authors by professors and, above all, of professors – rage and contend.) “Die Familie,” writes Kafka, “ist ein Organismus: [… und] wie jeder Organismus strebt auch sie fortwährend nach Ausgleichung. [...] In der Menschheit hat jeder Mensch Platz oder zumindest die Möglichkeit auf seine Art zugrundezugehn, in der von den Eltern [read: the Chair – or Chairperson] umklammerten Familie aber haben nur ganz bestimmte Menschen Platz, die ganz bestimmten Forderungen [think: publish or perish!] und überdies noch den von den Eltern diktierten Terminen [think of the deadlines before tenure review] entsprechen. Entsprechen sie nicht, werden sie nicht etwa ausgestoßen [and here is the one difference between the two organizations]: – das wäre sehr schön, ist

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“Die Verwandlung,” Drucke zu Lebzeiten, (Eds.) Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch, and Gerhard Neumann (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1994), 193. Passages from “Die Verwandlung” will henceforth be shown in the text as DL + page number, viz., (DL 193).

Hermeneutic Procedure in Kafka‘s Die Verwandlung

aber unmöglich, denn es handelt sich ja um einen Organismus –, sondern verflucht oder verzehrt oder beides. Dieses Verzehren geschieht nicht körperlich wie bei dem alten Elternvorbild in der griechischen Mythologie (Kronos, der seine Söhne auffraß, – der ehrlichste Vater), aber vielleicht hat Kronos seine Methode der sonst üblichen gerade aus Mitleid mit seinen Kindern vorgezogen [and so one’s punishment is to stay in the Department for the rest of one’s working life, perhaps as an Adjunct lecturer – like Sisyphus on his mountainside].”3 We return to Die Verwandlung and its picture of a man-bug interpreting his condition in order to save his life in the family. It gives us an opportunity to intuit another general hermeneutic principle: that of the multiplicity of interpreting agents within the posited unitary self. Even as a linguistic consciousness proceeds with its work of interpretation, the body has its own agenda. The exemplary statement of this principle is articulated in Das Schloß by none other than the taproom prostitute Olga. Commenting on the difficulty of interpreting letters from the Castle brought by Barnabas to K., she declares: “die Briefe richtig zu beurteilen, ist ja unmöglich, sie wechseln selbst fortwährend ihren Wert, die Überlegungen, zu denen sie Anlaß geben sind endlos und wo man dabei gerade Halt macht, ist nur durch den Zufall bestimmt, also auch die Meinung eine zufällige. Und wenn nun noch die Angst um Dich dazwischen kommt, verwirrt sich alles […].”4 This state of affairs puts us in a whirl of competing “accidents” that can be settled only by the application of a principle extrinsic to the more or less pure intuition of a meaning – in a word, an application of power. In this story, that “power” is death. Gregor’s Dasein als ein sich-interpretierendes, and hence his story, concludes with his death. In ordinary life, acts of interpretation are concluded, as a rule, with the “accident” of bodily exhaustion: one grows tired, one stops. This thought is vividly embodied in an early journal fragment – Kafka’s refutation of

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Briefe 1902-1924, (Ed.) Max Brod (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1958), 344. Das Schloß, (Ed.) Malcolm Pasley (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1982), 363.

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Max Brod’s views on “ästhetische Apperception.” It contains an exemplary illustration of such hermeneutic fatigue: “Das Unsichere [writes Kafka] bleibt der Begriff “Apperception.” […] Vielleicht läßt es sich so darstellen. Wir sagen ich bin ein Mensch ganz ohne Ortsgefühl und komme nach Prag als einer fremden Stadt. Ich will Dir nun schreiben, kenne aber Deine Adresse nicht, ich frage Dich, Du sagst sie mir, ich appercipiere das und brauche Dich niemals mehr zu fragen, Deine Adresse ist für mich etwas “Altes,” so appercipieren wir die Wissenschaft. Will ich Dich aber besuchen so muß ich bei jeder Ecke und Kreuzung immer, immer fragen, niemals werde ich die Passanten entbehren können, eine Apperception ist hier überhaupt unmöglich. Natürlich ist es möglich daß ich müde werde und ins Kaffeehaus eintrete, das am Wege liegt um mich dort auszuruhn und es ist auch möglich, daß ich den Besuch überhaupt aufgebe, deshalb aber habe ich immer noch nicht appercipiert.”5 My commentary follows. First, it will come as no surprise that many of Kafka’s works, especially in America, have been studied – fruitfully, no doubt – in the perspective of what Jacques Derrida has called “neo-structuralist theory” – theory that is skeptical of the goal of hermeneutic procedure, which purports to arrive at the abundant, meaningful reality of what has merely been textually signified. Nevertheless, en route to this negative conclusion, via its deconstruction of binary oppositions (in sympathy, by the way, with Kafka’s “Widerwillen gegen Antithesen”)6 and its setting out of so-called aporias – stubborn collisions of grammar and rhetorical figures that frustrate the persuasiveness of the argument in which they are imbedded – neo-structuralist approaches can contribute to hermeneutic practice. True, on first glance, this stress on inevitable impediments will

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Nachgelassene Schriften und Fragmente I, (Ed.) Malcolm Pasley (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1990), 11. Tagebücher in der Fassung der Handschrift, (Ed.) Michael Müller (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1990), 259. Passages from Kafka’s Tagebücher will henceforth be shown in the text as Ta + page number, viz., (Ta 259).

Hermeneutic Procedure in Kafka‘s Die Verwandlung

disturb a confident procedure. Consider, for one, the energetic claims of the neo-structuralist authors Gilles Deleuze and Félix Guattari: “There is no difference between what a book talks about and how it is made. Therefore, a book also has no object. As an assemblage, a book has only itself, in connection with other assemblages […]. We will never ask what a book means, as signified or signifier; we will not look for anything to understand in it (emphasis added) […]. We will ask what it functions with, in connection with what other things it does or does not transmit intensities, in which other multiplicities its own are inserted and metamorphosed […].”7 Can these claims be accepted as valuable scruples (etymologically speaking: “small, sharp stones”) that hermeneutics, then, cannot simply take in its stride? If so, hermeneutical readings, in quest of understanding, would have to proceed in slower, more deliberate, self-conscious and conscience-stricken motion. Or to put this matter shorn of pathos, there is in the philosophical perspective called “incrementalism,” “the methodology of treating important explanatory properties and relations not as simply present-or-absent but rather as properties and relations that are pervasively present to greater or lesser degrees.”8 Where neo-structuralist readings are practiced in the humanities, they often address other than written works: here, the reader looks for

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The complete citation reads: “There is no difference between what a book talks about and how it is made. Therefore, a book also has no object. As an assemblage, a book has only itself, in connection with other assemblages and in relation to other bodies without organs. We will never ask what a book means, as signified or signifier; we will not look for anything to understand in it. We will ask what it functions with, in connection with what other things it does or does not transmit intensities, in which other multiplicities its own are inserted and metamorphosed […]. A book exists only through the outside and on the outside. A book itself is a little machine […].” Gilles Deleuze and Félix Guattari, A Thousand Plateaus: Capitalism and Schizophrenia, tr. Brian Massumi (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1987), 4. Don Garrett, Nature and Necessity in Spinoza (New York: Oxford University Press, 2018), 395.

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the captious workings of metaphor and metonymy (“captious” means: “calculated to confuse, entrap, or entangle in argument”) in texts that can consist of non-verbal signs. In the passage cited above on “Apperception,” we saw Kafka attempting to interpret – to “read,” as we say – real “Ecken” und “Kreuzungen” as resembling or in contiguity with those on the map of his “cognition,” so to speak – those he needs to find if he is to arrive at the address of the friend and thus realize the full reality of his “apperception.” But as it happens, his hermeneutic powers will never, never be adequate, and he must continually ask for the help of other “readers,” “[denn] niemals werde [er] … die Passanten entbehren können.” We recall: “Das was man ist kann man nicht ausdrücken, denn dieses ist man eben; mitteilen kann man nur das was man nicht ist, also die Lüge. Erst im Chor mag eine gewisse Wahrheit liegen” (emphasis added).9 Now, if a reading attentive to resemblances (“Kreuzungen”) and contiguities (“Ecken”) can be readily applied to the text of cities, with a view to producing a fullness of understanding, then might it not be profitable to apply such a way of reading to the self – the problematic self – the self in the throes of self-loss – verwandelt, become opaque to itself? Experience suggests that the attempt to understand the self that one has become through some abrupt change – some calamity – proceeds through a type of metaphorical reasoning: I am no longer the constant tenor (the meaning) of the vehicle (the metaphorical image) of the persons I might have loved, the family of which I am a member, the persons I might have worked with, the others who have judged me … . “Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle?”10 I have abruptly cited Joseph K.’s desperate appeal for restoration to his original condition through the recognition by others of his original identity; but his

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Nachgelassene Schriften und Fragmente II, (Ed.) Jost Schillemeit (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1992), 348. Der Proceß, (Ed.) Malcolm Pasley (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1990), 312. Passages from “Der Proceß” will henceforth be shown in the text as P + page number, viz., (P 193).

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cry is not a far cry, as we will see, from Gregor’s,11 who is assailed by the question, “Was ist mit mir geschehen?” (DL 115) and is now faced with the hermeneutical task that will exhaust him: “Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit” (NS2 46) – though here is Goethe to point the way: “Niemand wird sich selber kennen, Sich von seinem Selbst-Ich trennen; Doch probier er jeden Tag, Was nach außen endlich, klar, Was er ist und was er war, Was er kann und was er mag.”12 And so, Gregor tries: “Manchmal dachte er daran, beim nächsten Öffnen der Tür die Angelegenheiten der Familie ganz so wie früher wieder in die Hand zu nehmen; in seinen Gedanken erschienen wieder nach langer Zeit der Chef und der Prokurist, die Kommis und die Lehrjungen, der so begriffsstützige Hausknecht, zwei drei Freunde aus anderen Geschäften, ein Stubenmädchen aus einem Hotel in der Provinz, eine liebe, flüchtige Erinnerung, eine Kassiererin aus einem Hutgeschäft, um die er sich ernsthaft, aber zu langsam beworben hatte – sie alle erschienen untermischt mit Fremden oder schon Vergessenen, aber statt ihm und seiner Familie zu helfen, waren sie sämtlich unzugänglich, und er war froh, wenn sie verschwanden.” (DL 176) Herewith, the limits to what the merely cognitive reassembling of metaphors of the self might bring about in reality. But he will persist until the end, when

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Grant me this excursion to the final page of Der Proceß: the narrator cries out in sympathy with his “hero,” who is being marched to his execution. Johann Wolfgang von Goethe, Poetische Werke, Berliner Ausgabe (Band 1-16) (Berlin: Aufbau, 1960), 2: 356.

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“An seine Familie dachte er mit Rührung und Liebe zurück. [...] In diesem Zustand leeren und friedlichen Nachdenkens blieb er, bis die Turmuhr die dritte Morgenstunde schlug.” (DL 193) And so, Die Verwandlung unfolds as Gregor’s effort to understand himself in light of the metaphor that he was: the core, the tenor, of Reisender, Junggeselle, Holzarbeiter, effektiver Hausvater – and is no longer. I shall now try to make this assumption about metaphor useful in another way, by addressing the reader’s hermeneutic relation to Gregor’s struggle. The application of the logic of the metaphor to Gregor Samsa’s Verwandlung is time-honored, so to take it up again is at the least to pay homage to a valuable history of criticism. In 1947 Günther Anders proposed that “[…] wovon Kafka ausgeht [… ist] allein die gemeinsame Sprache. […] Genauer: er schöpft aus dem vorgefundenen Bestand, dem Bildcharakter, der Sprache. Die metaphorischen Worte nimmt er beim Wort. Beispiele […] In den Augen der wohlanständigen, “tüchtigen” Welt ist Gregor Samsa, weil er als Künstler (d.h. “Luftmensch”) leben will, ein “dreckiger Käfer”: Also wacht in der “Verwandlung” Samsa als Käfer auf, der an der Zimmerdecke zu kleben liebt.”13 For Anders, The Metamorphosis originates in the transformation of a familiar metaphor into a fictional being having the literal attributes of this figure. The story develops as aspects of the metaphor are enacted in minute detail. Anders’ hypothesis was taken up in a sequence of Walter Sokel’s studies of Die Verwandlung. “The character Gregor Samsa,” Sokel writes, “has been transformed into a metaphor that states his essential self, and this metaphor in turn is treated like an actual fact.”14 And in another context: 13 14

Günther Anders, Kafka Pro & Contra: Die Prozeß-Unterlagen (München: Beck, 1951), 40. Walter Sokel, The Writer in Extremis: Expressionism in Twentieth-Century Literature (Stanford: Stanford University Press, 1959), 47.

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“German usage applies the term Ungeziefer (vermin) to persons considered low and contemptible, even as our [American] usage of “cockroach” describes a person deemed a spineless and miserable character. The traveling salesman Gregor Samsa, in Kafka’s The Metamorphosis, is “like a cockroach” because of his spineless and abject behavior and parasitic wishes. However, Kafka drops the word “like” and has the metaphor become reality when Gregor Samsa wakes up finding himself turned into a giant vermin. With this metamorphosis, Kafka reverses the original act of metamorphosis carried out by thought when it forms metaphor; for metaphor is always “metamorphosis.” Kafka transforms metaphor back into his fictional reality, and this counter-metamorphosis becomes the starting point of his tale.”15 In other words, Kafka’s “taking over” figures from ordinary speech enacts a second metaphorization (metaphero = “to carry over”) – one that concludes in the literalization and hence the metamorphosis of the metaphor.16 But is this true? What does it mean, exactly, to literalize a metaphor? If that were indeed what had taken place in Die Verwandlung, we should have, not the indefinite monster that Gregor is, but simply a bug. Indeed, the continual alteration of Gregor’s body suggests ongoing metamorphosis, an aberrant process of literalization in various directions and not its end state. The metaphor is not treated “like an actual fact.” Only the alien cleaning woman gives Gregor Samsa the factual, entomological identity of a “Mistkäfer,” but precisely “Auf solche Ansprachen antwortete Gregor mit nichts, sondern blieb unbeweglich auf seinem Platz, als sei die Tür gar nicht geöffnet worden” (DL 179). The cleaning woman does not know that a metamorphosis has occurred, that within this insect shape there is a human consciousness – one superior at times to the ordinary consciousness of Gregor Samsa. It appears then that the metamorphosis in the Samsa household of a man into a vermin is unsettling, not only because vermin are disturbing or because

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Walter Sokel, Franz Kafka (New York: Columbia University Press, 1966), 5. Anders, 42.

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the vivid representation of a human “louse” is disturbing, but because the indeterminate, fluid crossing of a human tenor and a material vehicle is in itself unsettling. Gregor is at one moment pure rapture and at another very nearly pure dung beetle, at times grossly human, at times airily bug-like. In shifting incessantly the relation of Gregor’s mind and body, Kafka shatters the suppositious unity of ideal tenor and bodily vehicle within all metaphor.17 Gregor’s metamorphosis gives substantial support to the logic of Kafka’s famous “Widerwillen gegen die Metapher” as well: “Die Metaphern sind eines in dem vielen, was mich am Schreiben verzweifeln läßt” (Ta 875). In this connection, I shall cite a pair of observations about Kafka’s narrative procedure that strike me as fruitful. The first is by the highly accomplished literary scholar Fredric Jameson: “Kafka,” he writes, “plunges us into a well-nigh interminable weighing of alternatives, a tireless passage back and forth between the pro and the contra, each of which then unfolds into its own interminable consequences […].18 Next, in a paper on the act of reading Die Verwandlung by Antoine Athanassiadis (henceforth, AA), a student of philosophy at Trinity College (Dublin), one reads: “The first layer of the formal logic in Kafka’s “The Metamorphosis” is encapsulated by the notion of reversal. Reversals are present throughout the story but are most visible in the first six paragraphs of the novel., [viz.] […]” Examples of the back and forth, the pro and contra, follow:

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The preceding discussion of “the metamorphosis of the metaphor” consists of passages cited from Stanley Corngold, Franz Kafka: The Necessity of Form (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1988), 49-56. Jameson’s complete sentence reads: “Kafka plunges us into a well-nigh interminable weighing of alternatives, a tireless passage back and forth between the pro and the contra, each of which then unfolds into its own into interminable consequence, and so on into that infinity which can be broken off at any point and which explains why the ‘unfinished’ state so many of Kafka’s texts seems to make no difference at all to the general reader.” Fredric Jameson, “Kafka’s Dialectic,” The Modernist Papers (New York and London: Verso, 2007), 96.

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“Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. […] ,Was ist mit mir geschehen?‘ dachte er. Es war kein Traum. Sein Zimmer, ein richtiges […] Menschenzimmer lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden. […] ,Wie wäre es, wenn ich noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße?‘ dachte er, aber das war gänzlich undurchführbar, denn er war gewohnt, auf der rechten Seite zu schlafen, könnte sich aber in seinem gegenwärtigen Zustand nicht in diese Lage bringen. […] ,Ach Gott,‘ dachte er, ,was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tag aus, Tag ein, auf der Reise.‘ […] Er glitt wieder in seine frühere Lage zurück.” “The logic of reversal functions,” continues AA, “as a dialectic between question and answer […]. As Gregor wakes up transformed into precisely the object of a dream, the inaugural reversal between dream and reality is posited in a purely affirmative way. The primal effect of this reversal and its affirmation is the inaugural gesture of our reading act: a dialectic of question and answer is triggered at the moment both of [... the] necessity [of questioning the metamorphosis] and […] the impossibility of its answer. The reversal of ‘necessity’ into ‘impossibility’ (and vice-versa) is the inaugural act of the story and the inaugural act of our reading.”19 But this reversal is precisely the logic of the metaphor, where the flow of hermeneutic understanding proceeds from the astonishing vehicle (of the bug’s body) to the tenor (Gregor’s sense of self) and back to different aspects of the body (it can climb the walls to aery regions of the room; and it can swivel its head around, as no invertebrate can). I shall have room to make only one more observation and then pose a general question. Gregor’s most conspicuous triumph of interpretation is the moment he consents, as it were, to be the body of a bug,

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Antoine Athanassiadis, “Kafka, ‘The Metamorphosis’ and the Act of Reading,” https://www.academia.edu/40382370/Kafka_The_Metamorphosis_and_th e_Act_of_Reading

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and he swings from the walls to the ceiling and lets himself fall and goes plop! to his apparently great delight: “ […] Nun hatte er natürlich seinen Körper ganz anders in der Gewalt als früher und beschädigte sich selbst bei einem so großen Falle nicht” (DL 159). I once wrote that “the chief action of Kafka’s stories […] is a rapt, immersed reading;”20 and, of Gregor as insect, “At least the pleasure he has in swinging on the ceiling seems to indicate a sort of joy of reading.”21 One American critic, a bitter enemy of such tendencies, was indignant, pretending not to know that the word “reading” is equivalent in American literary parlance to “interpreting”; or that the expression was a discreet nod to Roland Barthes’s attractive expression, “le plaisir du texte.” That pleasure of getting himself right – to “get something right” means to “interpret correctly” – should not be denied to Gregor Samsa. Like Thomas Mann, he might have cited Walt Whitman: “And your very flesh shall be a great poem.”22 Finally, I would like to pose a question; its answer would require a longer treatment than can be given now. In volume four of the Joseph und seine Brüder tetralogy, Thomas Mann (incidentally, a great if intermittent admirer of Kafka) – in a remarkable section titled “Von Güte und Klugheit” – proposes a connection between the two virtues – Güte und Klugheit. Klugheit beim Interpretieren is said to be proof of a good nature. Indeed, they appear to be the same thing: “[…] es [ist] ja die Art und geradezu das Kennzeichen des guten Menschen […], das Göttliche mit kluger Andacht wahrzunehmen, ein Sachverhalt, der Güte und Klugheit nahe zusammenführt, ja, eigentlich als dasselbe erscheinen läßt.” Nevertheless, one of the preconditions of such perception is, paradoxically – like Gregor Samsa’s shortcoming – “zwischen dem Metaphorischen und Eigentlichen schlecht [zu unterscheiden].”23 20 21 22 23

Stanley Corngold, Franz Kafka: Necessity of Form, 294. Ibid., 294n. https://www.goodreads.com/quotes/756-this-is-what-you-shall-do-love-the-ear th-and “Es war nicht so, daß Gott dem Joseph die Huld erwiesen habe, den Hauptmann günstig für ihn zu bestimmen; sondern die Sympathie und das Vertrauen, mit einem Wort: der Glaube, den Josephs Erscheinung und Wandel jenem einflöß-

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Now, in this section of Joseph, we are speaking of Joseph’s jailor at Zawi-Rê who, as it happens, deserves the quality of goodness on the strength of his hermeneutic skills, thus: “Anders [nicht Günther!] gesagt: Schon leise Andeutungen, Erinnerungen und Hinweise in den Zügen einer Erscheinung genügten ihm, die Fülle und Wirklichkeit des Angedeuteten in ihr zu erblicken, und das war in Josephs Fall die Gestalt des Erwarteten und des Heilbringers, der kommt, um das Alte und Langweilige zu enden und unter dem Jauchzen der Menschheit eine neue Epoche zu setzen. Um diese Gestalt aber, von der Joseph Andeutungen zeigte, webt der Nimbus des Göttlichen […].”24 This hermeneutic skill is said to be proof of the jailor’s good nature. Of course, there is good deal in the history of thought and experience to dispute this idea that cleverness in interpreting is the necessary proof of a good character – I need hardly mention Luther in the Christian tradition or the conclusion of Thomas Gray’s great poem: “Ode on a Distant Prospect of Eton College,” namely, “[…] where ignorance is bliss/

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ten, ging vielmehr aus dem untrüglichen Gefühl eines guten Mannes für die göttliche Huld, das heißt: für das Göttliche selbst hervor, das mit diesem Züchtling war, – wie es ja die Art und geradezu das Kennzeichen des guten Menschen ist, das Göttliche mit kluger Andacht wahrzunehmen, ein Sachverhalt, der Güte und Klugheit nahe zusammenführt, ja, eigentlich als dasselbe erscheinen läßt.“ “Wofür hielt also Mai-Sachme den Joseph? Für etwas Rechtes, für den Rechten, für den Erwarteten; für den Bringer einer neuen Zeit – in dem bescheidenen Sinne zunächst nur, daß dieser aus interessanten Gründen hierher Verbannte dem langweiligen Ort, wo dem Hauptmann seit Jahr und Tag und wer weiß, wie lange noch, Dienst zu tun beschieden war, eine gewisse Unterbrechung der herrschenden Langenweile brachte; daß aber der Befehlshaber von ZawiRê die Verwechslung von Redensart und Wirklichkeit so scharf verurteilte und als tiefstehend verwarf, mochte gerade daher kommen, daß er selbst in dieser Verwechslung stark befangen war und, wenn er nicht sehr scharf achtgab, zwischen dem Metaphorischen und Eigentlichen schlecht unterschied.” Thomas Mann, Joseph und seine Brüder II, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe – Werke, Briefe, Tagebücher [GFKA] (Frankfurt a.M: S. Fischer, 2002), 1389. Ibid., 1390.

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‘Tis folly to be wise” (approximately, “Wo Unwissenheit eine Wonne ist/ Ist es Wahnsinn, weise zu sein”).25 In the gentler words of Herbert Heckmann, “Es gibt eine Scheu, die der Weisheit letzter Schluß ist.”26 Finally, we might add that Faust’s translation of the word Logos as Tat demonstrates skill – or at least power in interpreting – but that exercise of force (we speak of “a forced reading”) would hardly imply Faust’s goodness. In Mann’s example, too, the jailor’s interpretation of Joseph as a messiah of sorts is surely so extravagant as to be downright false and cannot be a warrant of, let alone, the very substance of goodness. Herewith Kafka, whose views on acts of interpretation as the proof of good character are diametrically opposite: “Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber” (P 298). In a word, interpretations are acts of desperation. Can one point to a single successful interpretation taking place within Kafka’s entire oeuvre, let alone as proof of goodness? Supposing goodness to be the equal of hermeneutic skill, we would search in vain in Kafka for one good man. On reflection, the search for an auspicious act of interpretation could indeed bring one to the tortured victim of In der Strafkolonie, for it is generally maintained that in the sixth hour of his torment he successfully interprets – or begins successfully to interpret – the sentence being written on his back. Let us look at the text: “Wie still wird dann aber der Mann um die sechste Stunde! Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. Ein Anblick, der einen verführen könnte, sich mit unter die Egge zu legen. Es geschieht ja weiter nichts, der Mann fängt bloß 25 26

https://www.poetryfoundation.org/poems/44301/ode-on-a-distant-prospect-ofeton-college Herbert Heckmann, a talk on the occasion of a “Kunstaustellung zur Vergabe des Hölderlinpreises der Stadt Bad Homburg v.d. Höhe, “Hölderlin: Gesichter und Gesichte: Ausstellung von Jürgen Wölbing,” June 5, 1990. The text source is Galerie Michael Blaszczyk, Kunsthandel, Ludwigstraße, 6380 Bad Homburg v.d. Höhe, where the lecture was delivered.

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an, die Schrift zu entziffern, er spitzt den Mund, als horche er. Sie haben gesehen, es ist nicht leicht, die Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden. Es ist allerdings viel Arbeit; er braucht sechs Stunden zu ihrer Vollendung. Dann aber spießt ihn die Egge vollständig auf und wirft ihn in die Grube, wo er auf das Blutwasser und die Watte niederklatscht. Dann ist das Gericht zu Ende, und wir, ich und der Soldat, scharren ihn ein.” (DL 219) In the sixth hour the culprit begins to understand his sentence – so runs the conventional interpretation – but that is not right. First, because the process requires a twelve-hour “deciphering” (Entziffern) before there could be any question of a meaningful reading. But, as an American reader, you would bound to be misled if you were to rely on Willa and Edwin Muir’s classic version of the story, which translates “es geschieht ja nichts weiter, der Mann fängt bloß an, die Schrift zu entziffern” as “Nothing more happens than that the man begins to understand the inscription.”27 This sentence would have to mean, in the previously cited words of Thomas Mann, that the victim would have begun “die Fülle und Wirklichkeit des Angedeuteten” nachzuvollziehen. What is wrong with the Muirs’ translation, which speaks of “understanding” where “deciphering” is written, is the tendency that it betrays; the words “to understand” recall the translators’ previous rendering of Kafka’s words “Verstand geht dem Blödesten auf,” where we hear of the “enlightenment (“Verstand” [?]) [that] comes to the most dull-witted.” Here, again, the word “enlightenment’ would encourage one to believe that this alleged understanding, which comes alive as a deciphering of signs, equals the radiant truth of an ethical commandment as grasped by reason. And that truth is? Whatever it is, it is not the truth of the verdict! The moment of ecstasy in the sixth hour is not that of understanding the script; it is a moment of recognizing that here – aha! – there is script to be deciphered. The task is as necessary as it is impossible: “Die Schrift,” as

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Franz Kafka, “In the Penal Colony,” Complete Stories, ed. Nahum Glazer (New York: Schocken, 1971), 150.

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the Gefängniskaplan in Der Process tells Joseph K., is, once again, “unveränderlich.” If the prisoner proceeds to decipher the script with his wounds, if at the end of things the prisoner is (virtually) nothing more than his wounds – for as long as there is flesh there will be inscription – then perfection of justice consists in wounds deciphering wounds … or, equivalently, script deciphering script, leaving no margin free for interpretation. “Wie sich die Inschrift im Körper vollzieht” (DL 215) is by no means equivalent to the “happening of justice” (daß Gerechtigkeit [geschieht])” (DL 226), if by the latter is meant the prisoner’s understanding of his sentence. He cannot understand the substance of his sentence until he is emptied out of his substance, until he has been excreted.28 Herewith, a valuable addendum derived from our colloquium: Kafka dramatizes Talmudic hermeneutics – pilpul; he does not employ it as a rational instrument producing knowledge.

References Adorno, Theodor. “Aufzeichnungen zu Kafka,” Gesammelte Schriften (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003). Anders, Günther. Kafka Pro & Contra: Die Prozeß-Unterlagen (München: Beck, 1951). Athanassiadis, Antoine. “Kafka, ‘The Metamorphosis’ and the Act of Reading,” https://www.academia.edu/40382370/Kafka_The_Metam orphosis_and_the_Act_of_Reading Corngold, Stanley. Franz Kafka: The Necessity of Form (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1988). Id. “Allotria and Excreta in ‘In the Penal Colony,’” in Stanley Corngold, Lambent Traces: Franz Kafka (Princeton: Princeton University Press, 2004), 77-78. 28

This discussion of In the Strafkolonie cites Stanley Corngold, “Allotria and Excreta in ‘In the Penal Colony,’” in Stanley Corngold. Lambent Traces: Franz Kafka (Princeton: Princeton University Press, 2004), 77-78.

Hermeneutic Procedure in Kafka‘s Die Verwandlung

Deleuze, Gilles and Félix Guattari. A Thousand Plateaus: Capitalism and Schizophrenia, tr. Brian Massumi (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1987). Garrett, Don. Nature and Necessity in Spinoza (New York: Oxford University Press, 2018). Goethe, Johann Wolfgang von. Poetische Werke, Berliner Ausgabe (Band 1-16) (Berlin: Aufbau, 1960). Jameson, Fredric. “Kafka’s Dialectic,” The Modernist Papers (New York and London: Verso, 2007), 96. Kafka, Franz. Briefe 1902-1924, (Ed.) Max Brod (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1958). Id. “In the Penal Colony,” Complete Stories, ed. Nahum Glazer (New York: Schocken, 1971). Id. Das Schloß, (Ed.) Malcolm Pasley (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1982). Id. Der Proceß, (Ed.) Malcolm Pasley (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1990). Id. Nachgelassene Schriften und Fragmente I, (Ed.) Malcolm Pasley (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1990). Id. Tagebücher in der Fassung der Handschrift, (Ed.) Michael Müller (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1990). Id. Nachgelassene Schriften und Fragmente II, (Ed.) Jost Schillemeit (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1992). Id. “Die Verwandlung,” Drucke zu Lebzeiten, (Eds.) Wolf Kittler, HansGerd Koch, and Gerhard Neumann (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1994). Mann, Thomas. Joseph und seine Brüder II, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe – Werke, Briefe, Tagebücher [GFKA] (Frankfurt a.M: S. Fischer, 2002). Sokel, Walter. The Writer in Extremis: Expressionism in Twentieth-Century Literature (Stanford: Stanford University Press, 1959). Id. Franz Kafka (New York: Columbia University Press, 1966).

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Abbreviations AA: Athanassiadis, Antoine. “Kafka, ‘The Metamorphosis’ and the Act of Reading,” https://www.academia.edu/40382370/Kafka_The_Metam orphosis_and_the_Act_of_Reading DL: Kafka, Franz. “Die Verwandlung,” Drucke zu Lebzeiten, (Eds.) Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch, and Gerhard Neumann (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1994). NS2: Kafka, Franz. Nachgelassene Schriften und Fragmente II, (Ed.) Jost Schillemeit (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1992). P: Kafka, Franz. Der Proceß, (Ed.) Malcolm Pasley (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1990). Ta: Kafka, Franz. Tagebücher in der Fassung der Handschrift, (Ed.) Michael Müller (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1990).

Websites https://www.goodreads.com/quotes/756-this-is-what-you-shall-do-lo ve-the-earth-and https://www.poetryfoundation.org/poems/44301/ode-on-a-distant-pr ospect-of-eton-college

Contexts of Comprehension Using the Example of Gottfried Keller’s The Smith of his Fortune Claudia Liebrand

The approaches that have emerged within cultural studies over the course of the past decades, new historicism in particular, arguably represented most prominently by Stephen Greenblatt, have instigated an interest in the parallel reading of texts that have not been read together before, texts that have not been lined up in one and the same literary constellation. The basis of Greenblatt’s novel approach in literary historiography is a radical interdisciplinarity that includes literary and non-literary, canonized and stigmatized texts alike. By linking them up with other contemporary documents, literary texts are being recontextualized. We comprehend them in a different manner then because we connect them to different texts and different contexts. Greenblatt begins his book Shakespearean Negotiations with the following sentences: “I began with the desire to speak with the dead. This desire is a familiar, if unvoiced, motive in literary studies, a motive organized, professionalized, buried beneath thick layers of bureaucratic decorum: literature professors are salaried, middle-class shamans.”1 The subsequent conversation Greenblatt has is not merely one with the ‘ghost’ of the most important playwright of the English Renaissance, the most important English author of all time, but with the ‘ghosts’ of the authors of numerous contemporary publications. A tellig example would be Greenblatt’s examination of the Shakespearean comedy Twelfth Night, composed between 1600 and 1602; the first recorded public 1

Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations, Oxford, 1990, p. 1.

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performance took place in London on February 2nd , 1602 in front of the lawyers of the Middle Temple; the earliest preserved manuscript can be found in the First Folio of 1623. Composed immediately after Much Ado About Nothing and As You Like It, the last of Shakespeare’s ‘romantic’ comedies marks the climax of his early comedies: Viola’s disguise as a page varies the cross-dressing parts of The Two Gentlemen of Verona and As You Like It and reconfirms the centrality of the interweavement of the seeming and the real to Shakespearean comedy; the doppelgänger confusion revolving around Viola and her twin brother Sebastian ties in with the Comedy of Errors, and Antonio’s willingness to make sacrifices for his friend is reminiscent of the eponymous hero of the Merchant of Venice. In Twelfth Night (to provide at least a cursory overview of the plot), Orsino, Duke of Illyria, desperately pines after Olivia, who will not return his affection as she has vowed to grieve over her brother’s death for seven years. Right from the outset, two romantically stylized poses are juxtaposed: Orsino is more in love with the idea of being in love rather than the courted lady, and Olivia is only able to uphold her artificial ceremonial of mourning because she has not yet encountered true love. It takes Viola to liberate both of them from their respective dead end – Viola, who believes to have lost her brother in a shipwreck and, disguised as the page Cesario, enters the service of the duke, whose deep affections he/she wins swiftly. As Orsino’s love intermediary, Viola-Cesario awakens/arouses a spontaneous infatuation in Olivia (thereby anticipating the role Viola’s twin brother is bound to play). In the end, the disguises are doffed and all is revealed – and, as is typical of comedies, the ‘real’ couples find each other at last. Consequently, Greenblatt poses a variety of questions to the Shakespearean comedy: “What if Olivia had succeeded in marrying Orsino’s page Cesario? And what if the scandal of a marriage contracted so far beneath a countess’s station were topped by a still greater scandal: the revelation that the young groom was in fact a disguised girl? Such a marriage – if we could still call it one – would make some sense in a play that had con-

Contexts of Comprehension – Gottfried Keller’s The Smith of his Fortune

tinually tantalized its audience with the spectacle of homoerotic desire: Cesario in love with “his” master Orsino, Orsino evidently drawn toward Cesario, Antonio passionately in love with Sebastian, Olivia aroused by a page whose effeminacy everyone remarks. But how could the play account for such desire, or rather, since an account is neither called for nor tendered, how could the play extricate itself from the objectification of illicit desire in a legal marriage?”2 In order to answer these and further questions, Greenblatt takes a look at one of Duval’s works, On Hermaphrodites (1603). Greenblatt elaborates: “[The book] participates in a larger field of sexual discourse – a field that in the early modern period includes marriage manuals; medical, theological, and legal texts; sermons; indictments and defenses of women; and literary fictions.”3 One of the stories recorded by Duval goes as follows: “In 1601 in a small town near Rouen, a thirty-two-year-old widowed mother of two, Jeane le Febvre, had a very odd experience. For nearly five weeks she had been sharing her bed (not at all an odd experience) with a fellow servant, a woman in her early twenties who was recuperating from a long illness. Then one evening, while they were doing the laundry together, the bedmate, Marie le Marcis, whispered that she was in fact a man – a claim she (or rather he) graphically demonstrated – and precipitously proposed marriage. Jeane at first refused, but during the following weeks the two fell in love […] [and] consummated their passion – three or four times, we are told, on the first night alone. Not content with secret vows and private pleasures, Marie and Jeane remained steadfast in their desire for the public confirmation of a wedding. But to acquire this confirmation, Marie le Marcis needed to acquire a new sexual identity in the eyes of the community; he had been baptized, named, dressed, and brought up as a girl. Accordingly, he changed his clothing, asked that he be called Marin le Marcis, 2 3

Ibid: p. 66f. Ibid: p. 75.

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and publicly declared his matrimonial intentions. Not surprisingly (though the lovers themselves appear to have been surprised), there was an immediate public scandal; the two were arrested, tried and condemned […]: Marin was […] to be strangled to death, Jeane […] to be whipped. The crime of which they were convicted was sodomy, for both the wife and the mother of the man in whose household the couple had served testified that Marie le Marcis had regularly had her menstrual period […], and a medical examination revealed no signs of masculinity. The accused maintained that as a consequence of the terror of imprisonment, his penis had retracted, but the court dismissed his claim. Marie, it was charged, was not a man but a “tribade” – a homosexual seductress who had, with her unnaturally enlarged clitoris, abused the all-too-willing Jeane. Marin appealed his conviction to the Parlement of Rouen, which appointed a panel of doctors, surgeons and midwives to renew the medical examination. One of the doctors, Jacques Duval, had a learned interest in hermaphroditism, to which he saw this case as allied, and consequently he pursued the examination much further than his colleagues. Where they were willing to stay on the surface, Duval […] was willing to probe. This determination was rewarded: responding to his finger’s pressure was “a male organ, rather large and hard” […]; a second examination left no doubt, for the friction of the doctor’s touch caused Marin to ejaculate, and the semen, he reports, was not thin and watery like a woman’s but, like a man’s, thick and white […]. On the strength of Duval’s expert testimony (with which the rest of the medical panel did not concur), the lover’s conviction was overturned.”4 There are – according to Duval as well as the medical discourse at the time – men and women, but the boundaries between the two sexes are permeable. As Thomas Laqueur has demonstrated, the one-sex model dominated medical and philosophical discourse until the beginning of the 18th century; a woman is, anatomically speaking, nothing radically

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Ibid: p. 73f.

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different from a man, but essentially the same, the sole difference being that her genitalia are inverted rather than thrust out. Whenever Shakespeare – according to Greenblatt – blurs the barriers between the sexes by means of disguises, he echoes the medical discourse of his time with remarkable precision. Greenblatt does by no means claim, however, that “Shakespeare took a lively interest in the medical discourse about sex […]. But the state of Shakespeare’s knowledge of medical science is not the important issue here. The relation I wish to establish between medical and theatrical practice is not one of cause and effect or source and literary realization. We are dealing rather with a shared code, a set of interlocking tropes and similitudes that function not only as the objects but as the conditions of representation. Shakespearean comedy constantly appeals to the body and in particular to sexuality as the heart of its theatrical magic; “great creating nature” – the principle by which the world is and must be peopled – is the comic playwright’s tutelary spirit. But there is no unmediated access to the body, no direct appropriation of sexuality; rather sexuality is itself a network of historically contingent figures that constitute the culture’s categorical understanding of erotic experience. These figures function as modes of translation between distinct social discourses, channels through which the shared commotion of sexual excitement circulates.”5 I have singled out this indeed rather arbitrary example in order to illustrate in which ways the recontextualization of Twelfth Night as conducted by Greenblatt allows for a radical re-perspectivation of the text. Such re-perspectivations can not solely be brought about by unraveling/identifying synchronous references, but also by placing texts within diachronous networks that have not yet been invoked for interpretative purposes. Those re-perspectivations also allow for a different understanding of the literary text in question. My subsequent

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Ibid: p. 86f.

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elaborations are not theoretical in nature but are intended to be exemplary. Praxeologically-interpretatively, using the example of one of Keller’s (who celebrated his 200th birthday in 2019) novellas, I will set out to show which facets can be revealed if The Smith of his Fortune is enqueued in the philosophical line of tradition on the one hand and in that of literary history on the other hand. In terms of philosophical theorems, I will pick up on thoughts that have, in part, already been negotiated by researchers. The literary historic line of tradition that will be zoomed in on subsequently (and that allows us to read Keller’s novella as a circumscription of Boccaccio’s Decamerone) has not yet been established by the Keller philology though. Firstly, it will be pointed out how the novella negotiates pivotal questions of the conditio moderna in front of the backdrop of a tradition of the self-serving quest for fortune that dates back to antiquity. Aside from this philosophical contextualization, literary historical points of reference that have not yet been an object of interest among Keller philologists will be unveiled. The Smith of his Fortune inscribes itself into the line of tradition of novelistic narration since Boccaccio far more decidedly than the other texts of the novella collection, and it does so without foregoing the cultivation of other genres (such as the fairytale, for instance). While the Smith of his Fortune may not be the least discussed novella of the People of Seldwyla, it has hardly evoked more than modest interest nonetheless. Surely there are reasons to be found for this circumstance. The farcical narrative elements, the somewhat crude de-metaphorization of the title metaphor at the end, the conception of the protagonist which is not necessarily quite as moving as the Little Tailor with aristocratic flair or the farmers’ children who, as if re-enacting the Shakespearean tragedy, cannot be together. As regards the metaphorization and de-metaphorization techniques that are deployed over the course of the narrative, however, it has to be stated that they generate puns and downright anarchist effects that may at times be somewhat reminiscent of Kleist’s writing strategies or even of Kafka’s, of whose humor Adorno

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once said that it was the result of his method to attach the associations not to the referents, but to the words themselves.6

Fabrum esse suae quemquem fortunae The motto guiding the protagonist, “daß Jeder der Schmied seines eigenen Glückes sein müsse, könne und solle, und zwar ohne viel Gezappel und Geschrei”,7 has a tradition dating back more than 2000 years. Sallust ascribes “fabrum esse suae quemquem fortunae” to Appius Claudius Caecus, the Roman consul of the years 307 and 296 B.C. In antiquity, at least since Aristotle, happiness, eudaemonia, is among the focal points of ethics that acknowledge beatitude as the highest good that is aspired to for its own sake, ultimate goal of all human action.8 While Aristotle comprehends eudaemonia as the realization of the good life within the community,9 the stoicistic and epicurean antique ethics are more solipsistic-oriented. Stoicism relies on self-management, affect control, autarchy, and ataraxy; epicureanism searches for fortune in individual sensual fulfillment rather than in passionlessness. Happiness, beatitude, Greek eudaimonía, is distinguished from eutychía, meaning fortune, luck. In Latin, the corresponding terms would be beatitudo and fortuna. Rota fortunae, the wheel of fortune, is the antique symbol of fickle and capricious fortune. Numerous European languages reproduce this differentiation in their vocabulary: Compare for English happiness and luck. German refrains from making such a distinction. Since

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Theodor W. Adorno: “Aufzeichnungen zu Kafka”, in: Gesammelte Schriften in 20 Bänden, vol. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft. Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt am Main, 1977, p. 266. Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, Frankfurt am Main, 1989, p. 333. Quotations in the continuous text with page reference. Catherine Newmark: “Glück: 1. Philosophisches Glück: Frühe Theorien”, in: Enzyklopädie der Neuzeit, vol. 4: Friede – Gutsherrenschaft, Friedrich Jaeger (ed.), Stuttgart, 2005, column 969. Ibid.

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the late 18th century, eudemonic ethics have on the one hand been regarded with criticism (for instance by such influential personages as Immanuel Kant, who did not centralize the quest for happiness but one’s moral duties within his ethical principles) but have also, in opposition to Kant’s reasoning, gained something like a constitutional status. As is a well-known fact, in 1776, the American Declaration of Independence articulated the pursuit of happiness as a human and natural right: “We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.”10 Happiness for the individual, even happiness for everybody appears to be a project Modernism forcefully commits itself to. The revolutionary Louis-Antoine-Léon de Saint-Just postulated in front of the National Convention on March 3rd , 1794: “Le bonheur est une idée neuve en Europe.”, thereby, in a sense, capturing happiness as a political accomplishment of the French Revolution.11 And in varying manners the large ideologies not only of the 19th century (such as Communism) attempt to implement this promise of happiness. While Communism has collectivity at its heart, Liberalism, which not only cultivates the political but also the economic, focuses on the individual and their pursuit of projects of individual happiness; the individual is in charge of their own well-being, society is in no way responsible for their social coverage. Keller’s protagonist has internalized this liberal ideology of “Every man is the architect, the smith of his own fortune” in its entirety, he pursues his life project of grasping fortune by means of clever calculation and strategically devised steps, which will be elaborated on below. Johannes Kabis’ quest for fortune is defined economically, he is intent

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Thomas Jefferson: The Declaration of Independence: Rough Draft (1776), cited after Frederic Jesup Stimson, The Law of the Federal and State Constitutions of the United States. With an Historical Study of their Principles. A chronological Table of English Social Legislation and a Comparative Digest of the Constitutions of the Forty-Six States, Boston, 1908, p. 76. Cited after Anja Gerigk: Glück paradox. Moderne Literatur und Medienkultur – theoretisch gelesen, Bielefeld, 2010, p. 319.

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on collecting money and goods. This is supposed to enable him to lead a good, id est luxurious life. Kabis’ project is a modern one, he does not live the life prescribed by tradition, but he invents a biography, a life project for himself. Referring to terms introduced by Ulrich Beck12 that have originally been coined with reference to postindustrial Modernism (and therefore do not entirely apply to the context that is to be explicated here, but do illuminate significant points nonetheless): John Kabis opts for a “Wahlbiographie”, a “Risikobiographie”, a “Bruch-” or “Zusammenbruchsbiographie”. He detaches himself from traditional guidelines, founds an “Ich-AG” and pursues the project of transforming the latter into a successful enterprise. To that end he concocts a plan that may be referred to as ‘work on the name’. The third sentence of the novella already tells us: “So hatte er denn als zarter Jüngling schon den ersten seiner Meisterstreiche geführt und seinen Taufnamen Johannes in das englische John umgewandelt, um sich von vornherein für das Ungewöhnliche und Glückhafte zuzubereiten, da er dadurch von allen übrigen Hansen abstach und überdies einen angelsächsisch unternehmenden Nimbus erhielt.” (p. 333) A few years later the surname is revised, too. John transforms “das i in seinem Familiennamen Kabis in ein y. Dadurch erhielt dies Wort (anderwärts auch Kapes), welches Weißkohl bedeutet, einen edleren und fremdartigern Anhauch, und John Kabys erwartete nun mit mehr Berechtigung, wie er glaubte, das Glück.” (p. 333) John Kabys, the eponymous hero, polishes his name so that the fortune that is surely wandering about may choose him. Names are by no means hollow words to him, but assets that will grant him a dividend. The protagonist does not count on immediate yield but creates the framework for future yield expectancies. In order to magnify these expectancies, he decides to marry, the objective being fortune. It is because of this striving for fortune that marital alliances are forged in the first place in Bourgeois Modernism, after all. Kabys’ marriage is not about amorous happiness but about the generation of a fortune-bearing 12

Cf. Ulrich Beck: Risikogesellschaft, Frankfurt am Main, 1986.

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name: John would like to bear the double-barrel name Kabys-Oliva – for quite strategic reasons. As the text explains, such a euphonious name would allow him “in das allgemeine vergnügte Kreditwesen [...] [einzudringen], da erfahrungsgemäß die geschlechterhafte Namensverlängerung zu den wirksameren, doch zartesten Maschinenteilchen jenes Kreditwesens gehörte” (p. 334). The endeavor fails. Unfortunately, the chosen woman bears her mother’s maiden name due to a youthful folly on the mother’s part; quote: “Die Braut hieß: Jungfer Häuptle, und die künftige Firma also: »John Kabys-Häuptle«, zu deutsch: »Hans Kohlköpfle«. [...] So sah Herr John das glänzende Oliva entschwinden wie eine schimmernde Seifenblase im Ätherblau, und höchst betreten hielt er seinen Glücksschmiedehammer in der Hand.” (p. 337f.) In order to finish his project successfully nonetheless, he had even attempted to persuade the mother instead of the daughter to marry him. This instance already gives the reader a clue as to what will later occur within the configuration with Adam Litumlei and his wife. The positions in the succession of generations as well as the gender positions – as will be demonstrated – are precarious, and they are interchangeable. The mother can be married instead of the daughter, or one can simply have an affair with the stepmother. The patriarch Adam Litumlei, who envisions himself as the founding father of a powerful dynasty, acts like a sullen, furious child (that his tininess is also reminiscent of). And John Kabys switches his gender, in a sense, during the phase of adoption. He pretends to be a hesitant beauty, who has to ponder on the proposal she is made before she says “I do” (it explicitly says “Jawort” in the text, p. 347) and becomes the artificial natural son. Family positions can be rearranged like a mobile; we encounter generation trouble and gender trouble. After the episode with the Olivas, the protagonist has to lay down his fortune-forging hammer in order to make a living. Instead we meet him with knives now, he hangs out his shingle as a barber. This professional existence is also supported by the – even if it is not brought to a satisfactory termination – name project, since Kabys still has “[d]er Spitzname Kohlköpfle [...] in der Stadt und führte ihm manchen Kunden zu, so daß er mehrere Jahre […] ganz leidlich dahin lebte, Gesichter schabend

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und Messer abziehend, und seinen übermütigen Wahlspruch fast ganz zu vergessen schien” (p. 338). Just like bad press is generally considered to be better than no press, a name foregrounding a malapropism is better than an inconspicuous one, for attracting attention is the currency that counts. It remains worth noticing that John Kabys’ attempt to influence the world, to make fortuna spill her horn of fortune all over him, utilizes the sign itself as its starting point. Like many other of Keller’s protagonists, consider Wenzel Strapinski or Mirror, the cat, our hero is actually a poet, and he pursues a ‘material poetic’, the work with the signs is supposed to ‘penetrate’ reality, to yield effects in the real world. In a way, John Kabys answers the question (of faith) regarding the purpose of literature as a medium of self- or world reference with a double somersault. Self-reference is key, it is about the work on the wheelwork of the signs themselves; this self-reference, however, is supposed to morph into world reference. On the one hand, this conjures up the ancient concept of nominal magic, making the one to exclaim names an alter deus, on the other hand, this process employed by John Kabys fathoms issues of fortune and agency. On the one hand, he is a fortune-seeker whose designated mission is the pursuit of happiness and who does everything in his power in order to make this project a fruitful one. On the other hand, John Kabys, too, has to handle the unavailability of fortune, of fortuna. Fortune can happen, it can be given, it can fall into one’s lap – or not. In that sense it is not the protagonist who ‘writes’ his life, but it is fortune that ‘writes’. Thus, the process of life – and remaining within the poetological perspective: the process of writing as well – becomes a hazardous, hardly controllable endeavor. Ideally, if one ‘is fortunate’, this process or these processes unfold themselves underhand, assuming a certain momentum. The protagonist, just like anybody else, is not capable of directing fortune; at best fortune may unfold by means of and through his work on the signs. Thereby, Keller’s text establishes something like a theorem of productivity and creativity of paradoxical shaping; the success of writing, of life is not in the hands of the one wielding the literary pen. If one

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is fortunate enough – and with contingency’s blessing – the endeavor may possibly come to fruition though. Such a poetological twist does not appear to be far-fetched, given the abundance of allusions that mark the text as one that negotiates the sujet of artistry. In a sense, the Smith of his Fortune is an artist novella, hence continuing to write the history of a genre that peaked during the epoch of Romanticism. Following all the rules of art, the protagonist attempts to design a life novel in his own fashion, his métier being the art of life. Kabys is committed to art in several respects anyway. He has developed the smoking of his meerschaum pipe as an “edeln Kunst” (p. 348). Moreover, being a barber, he is a replica of Pietro Belcampo, whom E.T.A. Hoffmann establishes as an alternative draft, annihilating his other protagonists’ hostility to life. As a novelist inventing his autobiography, John Kabys is, as Gerhard Kaiser has pointed out with rigor, a reincarnation of his author himself.13 And apart from an assessment that stresses the grotesque and outrageous failure of the “Memoire”, of the “kleine[n] Roman[s]”, the “denkwürdige[n] Liebesgeschichte” (p. 346) that Litumlei and Kabys generate ‘sympoetically’ in their own specific way, one can assume a perspective emphasizing that the fractures, the crudely constructed nature of such a family novel (in a psychoanalytical sense) point to principles of construction that constitute the basis of writing in general, and as such those of Keller’s writing, too.

Pater semper incertus est While the Smith of His Fortune refers to the genre of the artist novella, whose most succinct occurrences are to be found around 1800, by means of its protagonist who is intent on mastering the art of life, it also cultivates traditions that go back to Boccaccio’s Decamerone, the collection of narratives from the 14th century that constitutes the genre ‘no-

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Gerhard Kaiser: Das gedichtete Leben, Frankfurt am Main, 1981, p. 356.

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vella’ in the first place.14 The majority of the stories that make up the Decamerone deal with erotica; the novellas tell us of wives who cuckold their husbands and plant children on them, of monks and nuns who cultivate their amorous and bed stories, of ‘ineffable’ pregnancies. Paternity in the Decamerone is an uncertain matter. Keller picks up – as did Kleist around 1800 in the Marquise of O…. – Boccaccios subject pater semper incertus est. John Kabys, who has obtained Adam Litumlei’s trust surreptitiously and has managed to be adopted by him, seduces his stepmother, is seduced by his stepmother. He wants to lighten her mood so that she will not intervene against his adoption, and enters her room: “Er [...] sah sie wieder schlummernd daliegen, ein halb aufgegessenes Himbeertörtchen in der Hand. Ohne recht zu wissen, was eigentlich beginnen, ging er endlich auf den Zehen hin, ergriff ihre runde Hand und küßte sie ehrerbietig. Sie regte sich nicht im mindesten; doch öffnete sie die Augen zur Hälfte und sah ihn, ohne den Mund zu verziehen, mit einem höchst seltsamen Blick an, so lang er dastand. Verblüfft und stotternd zog er sich endlich zurück und lief in sein Zimmer. Dort setzte er sich in eine Ecke, jenen Blick aus schmaler Augenzwinkerung immer vor sich. Er eilte wieder hinunter, die Frau verhielt sich unbeweglich wie vorhin, und wie er näher trat, taten sich die Augen wieder halb auf. Wiederum zog er sich zurück, wiederum saß er in der Ecke seiner Kammer, zum dritten Mal fuhr er in die Höhe, stieg die Treppe hinunter, huschte hinein und blieb nun dort, bis der Patriarch nach Hause kehrte. Es verging nun kaum ein Tag, wo die zwei Leute sich nicht zusammen zu tun und den Alten zu hintergehen wußten, daß es eine Art hatte. Die schläfrige Frau wurde auf einmal munter in ihrer Weise; John aber 14

Influential publications about the Decamerone would be the following: Boccaccios ‘Decameron’: Peter Brockmeier (ed.), Darmstadt, 1974; Richard Baum: “Boccaccio. Das Dekameron”, in: Von Augustinus bis Heinrich Mann. Meisterwerke der Weltliteratur, Vol. III, Helmut Siepmann and Frank-Rutger Hausmann (eds.), Bonn, 1989, pp. 165-185; Hannelore Schlaffer: Poetik der Novelle, Stuttgart/Weimar, 1993.

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ergab sich dem leidenschaftlichsten Undank gegen seinen Wohltäter, immer in der Absicht, seine Stellung zu befestigen und das Glück recht an die Wand zu nageln.” (p. 354f.) One of the puns based on proverbs that The Smith of his Fortune negotiates evolves around fortune, which, in this scene, becomes pudding that is to be nailed to the wall, just like the sexual connotations of nailing and the swinging of the hammer that are invoked with excessive clarity – and this affinity for proverbs does not only manifest itself in this novella, as Clothes Make People, for instance, or Mirror, the Cat, the text exploring the on dit stating that one “kauft der Katze den Schmer ab”, are also organized proverbially, which has already been noted by Wolfgang Preisendanz.15 At times, the selected proverbs are located on the border between metaphorical and literal speech (for instance when the swashbuckler, German “Schaumschläger”, so foam whisker, Kabys soaps Adam Litumlei in order to barber him), in the end, the central metaphor – as has been mentioned before – is demetaphorized radically, the protagonist literally becomes a nailsmith. Indeed, these techniques of de-metaphorization seem to anticipate Kafka’s puns, such as those in The Trial, where the protagonist Josef K. rings for his breakfast, so the first meal, the first “Gericht”, of the day: It is the protagonist himself who initiates his own trial. Moreover, these puns refer back to Kleist’s mania for metaphorization and de-metaphorization techniques, for instance in The Broken Jug, in which the protagonist’s case, his “Fall” – this also applies to Kafka – is acted out in every way possible: as a literal fall, as the fall of mankind – the “Sündenfall” –, as a court case, a “Gerichtsfall”. The biblical fall of mankind, the original sin is also restaged in the the Smith of his Fortune, namely in the cited episode, the eponymous hero’s visit in Mrs. Litumlei’s bedchamber; after the protagonist has impregnated his belle-mère and has thus disinherited himself – in a paradox configuration he destroys his thoroughly concocted life plan by means

15

Wolfgang Preisendanz: Poetischer Realismus als Spielraum des Grotesken in Gottfried Kellers Der Schmied seines Glückes, Konstanz, 1989, p. 8.

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of the affair (that, ironically, is supposed to give his work of fortune “noch die letzte Feile”, p. 354) –, he is banished from the paradise of a luxurious and carefree existence. Litumlei has his former adoptee arrested after the latter has attempted to convince his adoptive father of his wife’s infidelity. John Kabys’ effortfully constructed little scheme, his intrigue fails, his affair cuckolding Litumlei so that an unsatisfied wife does not torpedo the adoption conducted by her husband. Peter von Matt has indicated that the intrigue, being rather ill-reputed aesthetically and morally, negotiates the conditio moderna.16 Our smith of his fortune, too, is concerned with a type of secularized rebellion against fate, with the idea of taking-one’s-fortune-into-one’s-own-hands. The momentum of this commitment, however, usually cannot be foreseen by the schemer, by the one weaving the network of intrigues: this applies to John Kabys, too. His hanky-panky with his stepmother marks the catastrophe, after all, the ‘Glückswende’ – this is how Joachim Heinrich Campe translates the Greek term in the Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke (Braunschweig 1813). In a sense, Keller remodels the Kleistian twists of fortune, the turnovers of fortune into misfortune, of misfortune into fortune. Not just misfortune, but also fortune is related to the mode of catastrophes in Kleist’s texts. Keller varies the Kleistian axiom in a more moderate version than the author of the Broken Jug, the Marquise of O…., or the Earthquake in Chile – he does not resort to a natural hazard in order to miraculously save a suicidal man or to a raging mob in order to wreck a couple that had just been saved –, the moment of a sudden, abrupt twist, however, is also introduced to the scene by him. The twist of fate, of fortune is illuminated comically since it is structured like a joke on the one hand, while it plays with the discrepancy between what the protagonist is capable or incapable of anticipating and what the reader, who can not exactly ignore the biblical pretext and therefore the script of Kabys’ prospective fate of banishment, is possibly able to anticipate. As in Genesis, the sin is underlaid with a culinary element. While it is the apple playing 16

Cf. Peter von Matt: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist, München, 2006.

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its part in the Garden of Eden, Mrs. Litumlei is portrayed dormant, “ein halb aufgegessenes Himbeertörtchen in der Hand” (p. 354f.). Sexual and Lucullan pleasure are merged. Traditional metaphors are employed; the woman is presented as a sweet, dark-red tartlet, ready to be devoured. It remains somewhat uncertain whether the sujet of food merely serves as the screen that conceals and metaphorizes the intrinsic content, sexuality – or whether the culinary stands in for the one indulgence that outshines all the other treats in life. Recalling the devotion and excitement with which Keller’s protagonists eat, and the opulent, even enthusiastic pictures the narrator paints of meals that can not merely be found frequently in the People of Seldwyla, it appears to be virtually inconceivable that the pleasure, the preparation of opulent meals, could possibly be eclipsed by other sensual pleasures.17 The protagonist’s script of action, sleeping with the wife (which, in this case, is also placed in the position of the mother) behind the husband’s back, re-enacts Boccaccio’s parameters with precision – right down to the topographic modeling of adultery. In Boccaccio’s case, houses, chambers metonymically refer to the female body. Entering a woman’s chamber, a ‘Frauenzimmer’, signifies the penetration of the 17

“Als er eine halbe Stunde lang den Duft und Sonnenschein, den Schatten und die Frische des Brunnens, genossen, ging er ernsthaft hinaus auf die Straße, um die Ecke, und trat in einen Gebäckladen, wo er drei warme Pastetchen samt zwei Spitzgläsern feinen Weines zu sich nahm. Hierauf kehrte er in den Garten zurück und spazierte abermals eine halbe Stunde, doch diesmal eine Zigarre dazu rauchend. Da entdeckte er ein Beet voll kleiner zarter Radieschen. Er zog ein Büschel davon aus der Erde, reinigte sie am Brunnen, dessen steinerne Tritonen ihn mit den Augen ergebenst anzwinkerten, und begab sich damit in ein kühles Bräuhaus, wo er einen Krug schäumendes Bier dazu trank. Er unterhielt sich vortrefflich mit den Bürgern und versuchte schon seinen Heimatdialekt in das weichere Schwäbische umzuwandeln, da er voraussichtlich unter diesen Leuten einen hervorragenden Mann abgeben würde. Absichtlich versäumte er die Mittagsstunde und verspätete sich beim Essen. Um dort eine kritische Appetitlosigkeit durchzuführen, aß er vorher noch drei Münchner Weißwürste und trank einen zweiten Krug Bier, der ihm noch besser schmeckte, als der erste. Endlich runzelte er doch seine Stirn und begab sich mit derselben zum Essen, wo er die Suppe anstarrte.” (p. 346f.)

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woman’s body. Even Keller’s construction of the characters as apsychological seems to be approximated to the pattern of the Decamerone. Boccaccio’s characters do not force the reader to develop complex (psychological) explanatory models. They are constructed monolaterally, they do not possess an unconscious. Their intentions are invariably clear; they strive for sexual pleasure or wealth or a certain position. John Kabys, too, is constructed rather monolaterally. His goal is wealth and luxuriousness. He attempts to achieve both in a cunning manner. While he may sleep with his – symbolical – mother (a configuration that virtually screams for psychologizing approaches), it is hardly possible to ascribe an unconscious to him that would urge him to live out his oedipal desires: What holds for Oedipus – as is a known fact at this point, not even Oedipus had an Oedipus complex –, surely also applies to John Kabys. At the end of the novella, the narrator lets us know that the protagonist “das Glück einfacher und unverdrossener Arbeit spät [...] [zu teil wurde], das ihn wahrhaft aller Sorge enthob und von seinen schlimmen Leidenschaften reinigte.” (p. 362) One may believe the narrator – or not: The ending may be understood as a rather dismal final balance sheet in the life of a temporarily quite creative fortune-seeker, trickster, and project-maker whom the narrator regards with distinct cynicism. I have attempted to make this fortune-seeker somewhat more comprehensible by employing philosophical and literary historical points of reference.

References Adorno, Theodor W., “Aufzeichnungen zu Kafka”, in: Gesammelte Schriften in 20 Bänden, vol. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft. Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt am Main, 1977. Baum, Richard: “Boccaccio. Das Dekameron”, in: Von Augustinus bis Heinrich Mann. Meisterwerke der Weltliteratur, Vol. III, Helmut Siepmann and Frank-Rutger Hausmann (eds.), Bonn, 1989, pp. 165-185. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft, Frankfurt am Main, 1986. Boccaccios ‘Decameron’, Peter Brockmeier (ed.), Darmstadt, 1974.

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Gerigk, Anja: Glück paradox. Moderne Literatur und Medienkultur – theoretisch gelesen, Bielefeld, 2010. Greenblatt, Stephen: Shakespearean Negotiations, Oxford, 1990. Jefferson, Thomas: The Declaration of Independence: Rough Draft (1776). Jesup Stimson, Frederic: The Law of the Federal and State Constitutions of the United States. With an Historical Study of their Principles. A chronological Table of English Social Legislation and a Comparative Digest of the Constitutions of the Forty-Six States, Boston, 1908. Kaiser, Gerhard: Das gedichtete Leben, Frankfurt am Main, 1981. Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla, Frankfurt am Main, 1989. Matt, Peter von: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist, München, 2006. Newmark, Catherine: “Glück: 1. Philosophisches Glück: Frühe Theorien”, in: Enzyklopädie der Neuzeit, vol. 4: Friede – Gutsherrenschaft, Friedrich Jaeger (ed.), Stuttgart, 2005, column 969. Preisendanz, Wolfgang: Poetischer Realismus als Spielraum des Grotesken in Gottfried Kellers Der Schmied seines Glückes, Konstanz, 1989. Schlaffer, Hannelore: Poetik der Novelle, Stuttgart/Weimar, 1993. Translated from the German by Anna Lynn Dolman.

Autorinnen und Autoren

Aschermann, Ellen, Prof. Dr. phil., seit 2001 Professur für Pädagogische Psychologie an der Universität zu Köln. Studium der Psychologie in Aachen, Oxford und Göttingen. 1991 Promotion mit einer Arbeit zur Gedächtnispsychologie. 1998 Habilitation zu Erinnerungsprozessen und Interviewmethoden bei Kindern. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Gedächtnisentwicklung, Rechtspsychologie, Selbstregulation im Schulkontext. Boothe, Brigitte, Prof. Dr. phil. em., Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin (FSP). Von 1990 bis 2013 Inhaberin des Lehrstuhls für Klinische Psychologie an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Psychotherapeutische Einzelfall- und Prozessforschung, Narrativik und Traumanalyse, Psychoanalyse der Geschlechterdifferenz, die Rolle des psychoanalytischen Wunsch-Konzepts für Theorie und Praxis. Aktuell: Psychoanalytische Gemeinschaftspraxis Bellevue in Zürich. Corngold, Stanley, PhD, is professor emeritus of German and comparative literature at Princeton University. His books include The Fate of the Self: German Writers and French Theory; Complex Pleasure: Forms of Feeling in German Literature; Lambent Traces: Franz Kafka; Franz Kafka: The Ghosts in the Machine; and Walter Kaufmann: Philosopher, Humanist, Heretic. He is completing a book on Thomas Mann’s life and work in Princeton, 19381941.

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Hermeneutik im Dialog der Methoden

Günther, Hartmut, Prof. Dr. phil. em., war von 1996-2011 Professor für Deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln. Hauptarbeitsgebiet: Schriftlichkeitsforschung mit den Schwerpunkten Orthografie, Leseforschung und Schriftspracherwerb. Mitherausgeber verschiedener Sammelwerke, u.a. der Handbücher Schrift und Schriftlichkeit (1994/1996) und Didaktik der deutschen Sprache (2003). Heißel, Gernot, PhD, Studium der Physik an der Leopold-FranzensUniversität Innsbruck (BSc 2009) und an der Universität Wien (MSc mit Auszeichnung 2013). Masterarbeit auf dem Gebiet der mathematischen Kosmologie. Doktorarbeit auf dem Gebiet der numerischen Relativitätstheorie für Computersimulationen schwarzer Löcher an der Cardiff University (PhD 2017). Mitglied der LIGO Scientific Collaboration (Messung von Gravitationswellen). Wissenschaftliche Stellen: Assistent (Postdoc) in der Gravitationsphysikgruppe der Universität Wien (2019), Assistent (Postdoc) in der GRAVITY-Gruppe des Pariser Observatoriums (2020). Forschungsaufenthalte: Cardiff University (2017), Hausdorff Institut für Mathematik, Rheinische Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn (2019). Forschungsschwerpunkte: Gravitationsphysik, insbesondere relativistische Astrophysik, wie Kosmologie, die Physik schwarzer Löcher sowie die Physik und Astronomie im Umfeld galaktischer Kerne. Kontakt: Universität Wien/Fakultät für Physik, Boltzmanngasse 5, 1090 Wien, Austria. Email address: [email protected]; Observatoire de Paris - site de Meudon/LESIA, 5 place Jules Janssen, 92195 Meudon cedex, France. Email address: [email protected] Japp, Uwe, Prof. Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. am Institut für Germanistik des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT); 1993-2013 Professor (C4) in Karlsruhe; 1988-1993 Professor (C3) in Regensburg; 1979-1984 Heisenberg-Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft; Mitarbeiterstellen an den Universitäten Aachen und Siegen. Promotion 1974 mit einer Arbeit über die Konstruktion der philologischen Hermeneutik. Habilitation 1979 mit einer Arbeit über Theorie und Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung. Seit 2010 Mitglied im Di-

Autorinnen und Autoren

rektorium des „Joint Research Center for German Culture and Language“ (Karlsruhe/Beijing). Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur vom 18.-21. Jahrhundert, Theorie der Literatur, Methoden der Literaturwissenschaft. Ausgewählte Publikationen: Hermeneutik (1977); Beziehungssinn (1980); Theorie der Ironie (1983); Literatur und Modernität (1987); Die Komödie der Romantik (1999); Das deutsche Künstlerdrama (2004); Ironien der Hermeneutik (2013). Kaus, Rainer J., Prof. Dr. phil. mult., ist Professor für Deutsche Literatur, Wissenschaftstheorie und Klinische Psychopathologie an der Universität zu Köln sowie niedergelassener Psychoanalytiker in Berlin. Mehrjährige Gastprofessur für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Staatlichen Pädagogischen Lenin Universität Moskau. Studium der vergleichenden Literaturwissenschaft und Psychoanalyse in London, Paris und Groningen. Zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich der Psychoanalyse, Sozialpsychologie, Literaturpsychologie und Hermeneutik. Kontakt: [email protected] Liebrand, Claudia, Prof. Dr. phil., studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dort wurde sie 1989 über das Romanwerk Fontanes promoviert (Das Ich und die andern. Fontanes Figuren und ihre Selbstbilder. Freiburg: Rombach 1990) und habilitierte sich 1995 über E.T.A. Hoffmann (Aporie des Kunstmythos. Die Texte E.T.A Hoffmanns. Freiburg: Rombach 1996). Seit 1999 ist sie Lehrstuhlinhaberin für Allgemeine Literaturwissenschaft/Medientheorie am Institut für Deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Vorgelegt wurden zahlreiche Publikationen zur europäischen Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts. Sie ist Mitherausgeberin des E.T.A. Hoffmann-Jahrbuchs. Ausgewählte Publikationen: Zur Wiedervorlage. Eichendorffs Texte und ihre Poetologien, hrsg. mit Thomas Wortmann, Paderborn: Fink 2019; Lauschen und Überhören. Literarische und mediale Aspekte auditiver Offenheit, hrsg. mit Stefan Börnchen, Paderborn: Fink 2020; Interpretieren nach den „Turns“. Literaturtheoretische Revisionen, hrsg. mit Rainer J. Kaus, Bielefeld: transcript 2014.

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Matakas, Frank, Prof. Dr. med., Studium der Medizin, Philosophie und Mathematik in Köln, Hamburg und Heidelberg. Arbeit in der Neuropathologie der Universität Bonn und FU Berlin. Habilitation für Neuropathologie an der FU Berlin. Weiterbildung in Psychiatrie und Ausbildung in Psychoanalyse bei der DPV Köln. Gründung und 30 Jahre Leiter der psychiatrischen Klinik Alteburger Straße in Köln. Forschungsschwerpunkte: Depression und Schizophrenie. Jetzt in eigener Praxis tätig. Mittelstraß, Jürgen, Prof. Dr. phil. mult., nach philosophischer Promotion (1961) und Habilitation (1968) an der Universität Erlangen 1970-2005 Ordinarius für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Konstanz, 1990-2005 gleichzeitig Direktor des Zentrums Philosophie und Wissenschaftstheorie. 1985-1990 Mitglied des Wissenschaftsrates. 1989 Leibniz-Preis der DFG, 1998 Lorenz-Oken-Medaille der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. 1997-1999 Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland. 2002-2008 Präsident der Academia Europaea (London). 2005-2015 Vorsitzender des Österreichischen Wissenschaftsrates. Seit 2015 Honorarprofessor an der Universität Salzburg. Herausgeber der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, I-IV (1980-1996), 2. Auflage, I-VIII (2005-2018). Motzkin, Gabriel, PhD, was the Director of the Van Leer Jerusalem Institute 2007-2016. He is an emeritus of the Hebrew University. He held the Ahad Ha’am Chair in Philosophy, and was also a member of the Departments of History and German Literature. Gabriel Motzkin has served as the Dean of the Faculty of Humanities (2001-2004) and Director of the Franz Rosenzweig Center for German-Jewish Literature and Cultural History (1996-1999 and 2006-2007). Motzkin has been a Fellow at the Siemens Foundation, the Max-Planck-Institute for Human Cognitive and Brain Science, Clare Hall at the University of Cambridge, the Max-Planck-Institute for the History of Science, the Einstein Forum, the Wiener Institute at Tel Aviv University, the Max-Planck-Institute for History, the Wissenschaftskolleg (Berlin), and the Zentrum für interdisziplinäre Forschung (Bielefeld). He has been a Visiting Professor and/or Visiting Scholar at the École des Hautes Études en Sciences So-

Autorinnen und Autoren

ciales (Paris), the University of Gießen, the University of Amsterdam, the University of Konstanz, and the Cardozo School of Law at Yeshiva University. His fields of interest are the philosophy of history, secularization theory, cognitive science, memory theory, and Heidegger. Tepe, Peter, Prof. Dr. phil. em., ist Philosoph, Literaturwissenschaftler und bildender Künstler. Er ist auch nach dem Ende seiner Dienstzeit im Institut für Germanistik und im Institut für Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf verankert, betreut noch einige Doktoranden und leitet weiterhin den von ihm 1987 begründeten interdisziplinären Studien- und Forschungsschwerpunkt Mythos, Ideologie & Methoden.

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Danksagungen

Danken möchte ich an dieser Stelle meiner Kollegin, Frau Prof. Dr. Ellen Aschermann für ihre eröffnenden Worte anlässlich des Symposiums im Januar 2020 sowie dem Mitherausgeber dieses Bandes, Herrn Prof. Dr. Hartmut Günther, für seine lyrisch abgestimmte Moderation und strukturierende Leitung des Diskussionsprozesses. Ferner danke ich meinen Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Frau Cathrin Grabner, M.A., Frau Sophie Ong, B.A. und Frau Shuli Aviad, B.A. für die zuverlässige Planung, Organisation und Durchführung des Symposiums sowie für die Fertigstellung des Manuskripts und die Umsetzung dieser Publikation. Nicht zuletzt gilt mein Dank Herrn Dr. Michael Eldred und Frau Anna Lynn Dolman für ihre unermüdliche und professionelle Übersetzungsarbeit sowie dem Zentrum Paul Klee, Bern für die freundliche, gebührenfreie Überlassung der digitalen Abbildung „Der Seiltänzer“ (1923) von Paul Klee.   Rainer J. Kaus

Kulturwissenschaft Michael Thompson

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