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German Pages 146 [122] Year 1975
Joachim Herrmann HEINRICH SCHLIEMANN
JOACHIM HERRMANN
Heinrich Schliemann Wegbereiter einer neuen Wissenschaft Mit Auszügen aus Autobiographie und Briefwechsel
2 Abbildungen, i farbige Ausschlagtafel und $ Karten
A K A D E M I E - V E R L A G • BERLIN 1974
Erschienen im Akademie -Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1974 by Akademie-Verlag, Berlin Lizenznummer: 202 • 100/84/74 Karten: P 16/74 Herstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki" 74 Altenburg Bestellnummer: 752 401 2 (6191) • LSV 0238 Printed in GDR
EVP 8 , -
Abb. i Heinrich Schliemann um 1872
INHALT Vorbemerkungen
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Heinrich Schliemann — Wegbereiter einer neuen Wissenschaft
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Der Weg zum Großkaufmann Die Suche nach einem neuen Lebensinhalt
12 . . .
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Wissenschaftliche Ziele, methodologische Grundlagen und Ergebnisse der Forschungen von Heinrich Schliemann
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Wert und Wirkungen der Arbeiten von Heinrich Schliemann
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Anmerkungen
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Literatur
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Anhang Auszug aus Heinrich Schliemanns Autobiographie (1881)
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Brief an die Schwestern Wilhelmine und Doris (1842) 109
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VORBEMERKUNGEN Als Überschrift für diese Studie wurde ein Titel gewählt, hinter den sich ebensogut ein Ausrufe2eichen wie ein Fragezeichen setzen ließe, je nachdem, welcher Darstellung des Werkes, des Schaffens und der Persönlichkeit Schliemanns man folgt. Heinrich Schliemann war der Ausgräber Trojas und der „Vater der mykenischen Archäologie". Er gehört zu jenen bürgerlichen Gelehrten des 19. Jahrhunderts, die auf Grund ihrer Entdeckungen weit über ihr Fachgebiet hinaus bekannt geworden sind. Das Interesse, das den Arbeiten Schliemanns und seiner Person entgegengebracht wurde und heute noch entgegengebracht wird, hat gewiß sehr verschiedene Ursachen. Von nicht geringer Bedeutung für die große Aufmerksamkeit, die Schliemann im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in breiten Kreisen der bürgerlichen Gesellschaft erregte, war die Ausweitung des Bildes über die Menschheitsgeschichte. Sie verlief in dem gleichen Maße, wie die rasch voranschreitende kapitalistische Entwicklung sich die ganze Welt mit ihren unterschiedlichen Kulturen und Völkern unterwarf. Ethnographie, Anthropologie und Urgeschichte wurden zu bevorzugten wissenschaftlichen Richtungen, die ein Vordringen in die Tiefe und Breite der Geschichte ermöglichten; die archäologische Forschung erwies sich dabei als eine Hauptmethode. In großen Teilen Europas war zudem nach wie vor das bürgerlich-humanistische Bildungsideal wirksam, und die Kenntnis von der griechischen und römischen Geschichte und Kultur war wesentlicher Bestandteil jeder höheren Bildung. Die großen Epen Homers gehörten zum Unterrichtsstoff. Daher konnte jedes Bemühen, das darauf abzielte, für die Realität der von Homer berichteten legendären Geschehnisse der griechischen Vorzeit Zeugnisse beizubringen und sie gar wissenschaftlicher Untersuchung zugänglich zu machen, von vornherein auf einen breiten Widerhall rechnen.
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Heinrich Schliemann schätzte diese Möglichkeit, in der Wissenschaft namhaft zu werden, durchaus zutreffend ein, nachdem er zunächst vergeblich versucht hatte, in der Philologie Fuß zu fassen. Da ihm bedeutende materielle Mittel zur Verfügung standen, wie sie bis auf seine Zeit noch keine staatliche oder gesellschaftliche Institution für archäologische Ausgrabungen aufgewendet hatte, konnte er wesentliche Ergebnisse erreichen und die wissenschaftliche und zugleich auch die breite öffentliche Diskussion beleben. Wenn er sich darin gegen nicht unbeträchtliche und massive Angriffe durchsetzen wollte, mußte er zwangsläufig verschiedene neuartige Forschungsmethoden entwickeln oder deren Entwicklung fördern. So entstand ein Spannungsfeld zwischen Ziel und Zweck bzw. Forschungsmittel und Forschungsmethoden, das über zwei Jahrzehnte die wissenschaftlichen Arbeiten Schliemanns bestimmte. Aus diesem Spannungsfeld ergaben sich fruchtbare Anregungen für die Entwicklung von Methoden der historischen Archäologie als einer neuen Wissenschaft. Freilich gelangte diese Entwicklung über bedeutende Ansätze nicht hinaus, nicht zuletzt infolge der Erkenntnisschranken Schliemanns in bezug auf die Bewegungsgesetze der Geschichte. Schliemann blieb zeitlebens ein Angehöriger des Bürgertums und versuchte niemals, den Boden dieser Klasse zu verlassen. Ein Blick auf die Analysen von Friedrich Engels über die von Homer besungene Periode griechischer Geschichte, die doch hauptsächlicher Forschungsgegenstand Schliemanns war, läßt dessen wissenschaftliche Naivität in Fragen von historischem Belang vollends sichtbar werden. 1 Es lag nahe, den 150. Geburtstag von Heinrich Schliemann im Januar 1972 zum Anlaß zu nehmen, um den Anteil Schliemanns an der Entwicklung der historischen Archäologie zu untersuchen, zumal in der bisherigen sehr umfangreichen Schliemann-Literatur diese Fragestellung nicht oder nur in Ansätzen entwickelt worden ist. Um zu einem zutreffenden Bild über Werk und Wirkung Schliemanns zu gelangen, schien es jedoch unerläßlich, einer solchen Fragestellung nachzugehen. Bei seinen Studien stieß der Verfasser auf ein legendenumwuchertes Schliemannbild, das seit dem vergangenen Jahrhundert bis in unsere Tage verbreitet wird und für das Schliemann selbst wesentliche Grundlagen in seiner „Autobiographie" geboten hat. Dieses legendäre Bild wird durch den abenteuerlichen Lebensweg Schliemanns genährt. Schliemann wuchs als
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Sohn eines Dorfpredigers neben sechs Geschwistern im abgelegenen Mecklenburgischen in ärmlichen Verhältnissen auf. Jedoch schon in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts erreichte er den Gipfel eines erfolgreichen kapitalistischen Großhändlers; mit 44 Jahren gab er das Handelsgeschäft auf, studierte in Paris, promovierte in Rostock und stürzte sich in die wissenschaftliche Arbeit, der er sein weiteres Leben unterordnete. Die hier vorgelegte Studie über Heinrich Schliemann geht auf einen Vortrag zurück, den der Verfasser auf der Veranstaltung des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Deutschen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Historiker-Gesellschaft aus Anlaß des 150. Geburtstages von Heinrich Schliemann gehalten hat.2) Der Vortrag wurde überarbeitet und durch Belegstellen sowie ausführliche Zitate zum Beweis der vom herkömmlichen Schliemannbild abweichenden Auffassungen erweitert. Um dem Leser einen Einblick in das Leben, in die Charakterzüge, die Denk- und Schreibweise Schliemanns zu vermitteln, wurde die „Autobiographie" Schliemanns aus dem Jahre 1881 3 ) als Anhang aufgenommen, deren Zweck er selbst einmal nannte: Er wolle klar darlegen, daß die ganze Arbeit seines späteren Lebens durch die Eindrücke seiner frühesten Kindheit im abgelegenen Mecklenburg bestimmt wurde, ja daß sie die notwendige Folge derselben gewesen sei. Das Leben als Großhändler sei nur der Weg gewesen, um die Mittel zur Verwirklichung der Kindheitspläne zu gewinnen. Die wirkliche Entwicklung und die Motivierung seiner Handlungen verliefen freilich in erheblich anderen Bahnen, als er in der „Autobiographie" seinem Publikum glauben machen wollte. Der in unserer Studie ausgewertete Briefwechsel gibt uns zeitgenössische authentische Meinungsäußerungen Schliemanns, die zeigen, wie sehr die Grundlinie seiner „Autobiographie" aus dem Rückblick nach zehnjähriger archäologischer Arbeit und von dem Wunsch bestimmt wird, sein früheres Dasein als kapitalistischer Händler vor sich selbst und vor dem Leser in ein hehres Licht entsagungsvollen Strebens nach letztlich edlem Ziel zu rücken. Der Eintritt in die Wissenschaft und in die Kreise der Gelehrten ist ihm nicht leicht gemacht worden. Erst seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre hatten sich seine Leistungen weithin Anerkennung zu verschaffen vermocht, nicht zuletzt auch bei Rudolf Virchow und durch diesen bei gelehrten Gesellschaften 9
des damaligen Deutschen Reiches. Andererseits war es in der Zeit stürmischen kapitalistischen Aufschwunges in den siebziger Jahren durchaus ungewöhnlich, daß ein erfolgreicher Großhändler wie Schliemann sich radikal aus der kapitalistischen Wirtschaft, den Geschäften und Unternehmungen zurückzog und nicht den erfolgreichen Start mit der Gründung von kapitalistischen Großunternehmen fortsetzte. Den Zeitgenossen aus Kreisen der bürgerlichen Intelligenz und aus dem Kleinbürgertum mußte daher die Handlungsweise Schliemanns besonders hochherzig und edelmütig erscheinen, so wie sie dem Bourgeois schlechthin als närrische Verirrung eines Außenseiters galt. In der „Autobiographie" drücken sich Schliemanns Überlegungen über diese Zusammenhänge und über seine Stellung in Wissenschaft und Gesellschaft ebenso aus wie Züge eines von kapitalistischem Geschäftsgebaren bestimmten Charakters. Die „Autobiographie" ist einem Buch über die Ausgrabungsergebnisse in Troja als Einleitung vorangestellt. Die trojanischen Grabungen nehmen daher in dieser Einleitung erklärlicherweise einen breiten Raum ein. In den Ausführungen finden sich oftmals kleinste Details, die zum Teil nur bei Kenntnis des gesamten Buches verständlich sind. Deshalb wurde auf den vollständigen Abdruck dieses Teiles verzichtet. Kürzungen sind im Text ausgewiesen. Im Anhang wird weiterhin ein Brief Schliemanns aus dem Jahre 1842 beigefügt, der eine Beschreibung des abenteuerlichen Ausbruches aus dem Leben als Handlungsgehilfe in Fürstenberg bis zur Erreichung einer Stellung als Comptoirdiener in Amsterdam enthält. Ein Vergleich dieses Briefes mit den entsprechenden Passagen der Autobiographie läßt unschwer erkennen, daß von Schliemann in seiner aus anderer Sicht geschriebenen „Autobiographie" selbst Ereignisse, die den Anschein von Tatsachen haben, um der kräftigeren Wirkung willen anders als im zeitgleichen Brief berichtet werden. Das gilt für die Vorgänge des Schiffbruches vor der niederländischen Küste, das Auffinden seines Koffers als Zeichen künftigen Aufstiegs, oder für die Motivierungen der beabsichtigten Überfahrt nach Amerika. Bei der vorliegenden Veröffentlichung kann es sich nicht um den Entwurf eines neuen Schliemannbildes handeln. Vielmehr kam es dem Verfasser darauf an, die kritische Aufmerksamkeitauf einige gemeinhin als gesichert angesehene Grundlinien dieses Bildes zu lenken und die Stellung Schliemanns in der Wissenschaftsgeschichte zu den objektiven Ergebnissen seiner Leistung in Beziehung zu setzen.4)
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HEINRICH
SCHLIEMANN
Wegbereiter einer neuen Wissenschaft Vor 150 Jahren, am 6. Januar 1822, wurde Heinrich Schliemann in Neubukow bei Rostock geboren. Als er am 25. Dezember 1890 im Alter von 68 Jahren in Neapel starb, war er einer der bekanntesten bürgerlichen Humanwissenschaftler seiner Zeit. Die beiden Jahreszahlen grenzen nicht nur das Leben Heinrich Schliemanns ein, sondern eine ganze Epoche kapitalistischer Weltgeschichte. Diese Zeit bot dem Leben Heinrich Schliemanns nicht nur schlechthin Hintergrund und Untergrund, sondern sie nahm ihn wie kaum einen anderen Wissenschaftler seiner Zeit in den Griff und prägte sein Wesen und seine Persönlichkeit. Die Jugendjahre verbrachte Schliemann in einem der rückständigsten Gebiete des damaligen Deutschlands, in dem Junkerherrschaft und Reste bäuerlicher Leibeigenschaft das bescheidene kleinbürgerliche Leben fürstlicher Residenzstädte mit ihrer bedrückenden Atmosphäre prägten. Es war das Land, gegen dessen Zustand der von Schliemann hochgeschätzte Fritz Reuter seine Anklagen erhob. Schliemann wuchs neben sechs Geschwistern in Ankershagen bei Neustrelitz auf, wo sein Vater die Stelle des Dorfpfarrers innehatte. Das Elternhaus vermochte nur bescheiden zur Erziehung seines Geistes beizutragen, und die Schulausbildung fand infolge mangelnder finanzieller Mittel ein rasches Ende. Die Vorstellungswelt des Kindes scheint wesentlich geprägt worden zu sein durch die Sagen seiner Heimat, in denen sich der Protest des Volkes gegen junkerliche Willkür ausdrückte; durch vage romantische Vorstellungen über die ferne Vergangenheit des Landes, die durch die Entdeckung sagenumwobener Hünengräber und Burghügel genährt wurden. Nur von ferne und durchaus unbestimmt erreichte den jungen Schliemann das Wissen höherer humanistischer Bildung, darunter auch Nachrichten über jenes ferne, sagenhafte Troja. Die traurigen Verhältnisse in Mecklenburg, die Unmöglichkeit, seine Kraft zu entfalten, trieben ihn zum Ausbruch. Den Neun-
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zehnjährigen hielt es nicht länger als Handelsgehilfe in der kleinen Landstadt Fürstenberg, in einem Leben, das zwischen Heringsfässern und Kramgütern dahindämmerte. Väterliche Autorität verhinderte zwar zunächst die Auswanderung nach Amerika; wenig später jedoch finden wir Schliemann auf dem Wege über Rostock nach Hamburg. Diese sich entwickelnde Weltstadt beeindruckte ihn gewaltig, eine Existenzgrundlage bot sie ihm allerdings nicht. Schliemann ließ sich deshalb zu ungewissem Kontordienst in Columbien anwerben. Die Überfahrt endete jedoch in einem Schiffbruch bereits vor der holländischen Küste, bei dem Schliemann nur mit knapper Not das Leben rettete. Es gelang ihm schließlich, in Amsterdam Fuß zu fassen. Seine geistige Beweglichkeit, seine Sprachbegabung und einige angelesene Fachkenntnisse verschafften ihm eine untergeordnete Kontorstellung1).
Der Weg
Großkaufmann
Schliemann lernte in Amsterdam rasch zweierlei: daß der Mensch im kapitalistischen Gesellschaftsgetriebe nichts zählt, Geld und Kapital dagegen alles bedeuten. Ihm wurde bewußt, daß ihm sein scharfer Geist, sein bedeutender Verstand und seine Sprachbegabung in einem Wirtschaftszweig, wie dem Handel, zu Kapital verhelfen konnten — vorausgesetzt, er ordnete sich dieser Gesellschaft und ihren Wolfsgesetzen unter2). Günstige Bedingungen dafür schien der gerade in größerem Umfang einsetzende Rußlandhandel zu bieten. Er war bisher von westeuropäischen Handelsgesellschaften nur nebenher betrieben worden; die russische Sprache war gänzlich unbekannt. In ganz kurzer Zeit eignete sich Schliemann Kenntnisse der Sprache, der Wirtschaft und des Landes an. Der fünfte Winter, nachdem er in Amsterdam als Kontor junge angefangen hatte, sah ihn bereits in St. Petersburg; im sechsten führte er dort ein eigenes Kontor, und als der Krimkrieg im Jahre 1853 ausbrach, hatte sich Schliemann im Rußlandhandel fest etabliert. Die neue Situation im Export- und Importgeschäft, die durch den Krieg hervorgerufen wurde, nutzte Schliemann bereits als kapitalistischer Großkaufmann aus. Sein Kapital wuchs in den Jahren des Krimkrieges rasch an3). Heinrich Schliemann war ein erfolgreicher kapitalistischer Großhändler geworden, der kraft seiner Intelligenz die viel12
fältigen Wechselbe2iehungen und Unsicherheiten des kapitalistischen Wirtschaftsgetriebes, das Auf und Ab der Konjunktur scharf beobachtete, analysierte und für seine Zwecke ausnutzte4). Zur gleichen Zeit, als auf der Welle des allgemeinen kapitalistischen Wirtschaftsaufschwungs nach der Krise von 1847/48 sein Aufstieg als Großhändler zu Anfang der fünfziger Jahre einsetzte, keimten — nachweisbar seit 1853 — l n Schliemann mehr und mehr Zweifel an der Richtigkeit seines Lebensweges auf.
Die Suche nach einem neuen Lebensinhalt Seit dem Frühjahr 1853 begann er daher über einen Ausweg aus diesem Dilemma nachzudenken und schließlich immer dringender danach zu suchen. Die materielle Voraussetzung schien ihm durch das angehäufte Kapital gegeben zu sein. Die Vorstellung, aus dem Geschäft auszubrechenn, nahm gegen Ende des Krimkrieges festere Gestalt an, als sich in Europa bereits die Wirtschaftskrise von 1857 abzuzeichnen begann5). Bevor er sich auf irgendein Landgut zurückziehe, so schrieb er am 17. März 1856 an den Vater, wolle er so gerne die Länder des südlichen Europas besuchen, besonders das Vaterland seines Lieblings Homer6). Der sechzigjährige Schliemann behauptete später in seiner Selbstbiographie, daß in Ankershagen der Traum von Troja und das Ziel, Troja auszugraben, in ihm angefangen und ihn während des ganzen Lebens verfolgt hätte. Er verbreitete die Version, das Leben als Händler sei nur Mittel zum Zweck gewesen7). Dieser Version folgte auch einer der besten Schliemann-Kenner, E. Meyer8). Der Briefwechsel aus den fast 15 Jahren des Suchens nach einem neuen Lebensinhalt (von 1853 bis 1868) zeigt, daß die autobiographische Version von 1881 eine Version ex eventu ist. Die Erinnerungen an seine Kindheit erhielten erst von der Warte der siebziger Jahre aus einen neuen Wert. Zunächst sondierte Schliemann in den fünfziger Jahren die Möglichkeit eines Rentnerdaseins in den verschiedensten Ländern der Erde9). Im Verlauf der Jahre, seit Schliemann 1853 das erste Mal die Flucht aus dem kapitalistischen Handelsgeschäft erwogen hatte, das ihm „zum Ekel" wurde 10 ), von dem er meinte, daß er „moralisch und physisch dabei zu Grunde" gehe 11 ), wurde ihm klar, daß ein Rentnerdasein keinen Ausweg bedeuten könne.
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Er verwarf diese Pläne 1856 daher endgültig. Zugleich formulierte er sein neues Lebensziel: er wolle den Rest seines Lebens den Wissenschaften widmen12). Am Silverstertag des Jahres 1856 stellt er in einem ausführlichen Brief an seine Tante in Kalkhorst den Zustand seiner inneren Zerrissenheit dar: „ . . . Wissenschaften und besonders Sprachstudium sind bei mir zur wilden Leidenschaft geworden, und jeden freien Augenblick darauf verwendend ist es mir gelungen, in den zwei letzten Jahren noch die polnische, slavonische, schwedische, dänische sowie am Anfang d. J . die neugriechische und später die altgriechische und lateinische Sprache fertig zu erlernen, so daß ich jetzt 15 Sprachen geläufig spreche u. schreibe. Die furchtbare Passion für Sprachen, die mich Tag und Nacht quält und mir fortwährend predigt, mein Vermögen den Wechselfällen des Handels zu entziehen u. mich entweder ins ländliche Leben oder in eine Universitätsstadt wie z. B. Bonn zurückzuziehen, mich dort mit Gelehrten zu umgeben u. mich ganz und gar den Wissenschaften zu widmen, ist jetzt schon seit Jahren in blutigem Kampf mit meinen zwei anderen Leidenschaften: dem Geiz und der Habsucht, u. leider im ungleichen Streite unterliegend, vergrößern die beiden letzteren siegreichen Passionen täglich das Gewühl meiner Geschäfte.. ," 13 ). Einen bedeutenden Einfluß übte anscheinend in dieser Zeit einer seiner „intimsten Freunde", der Geschichtsprofessor Dr. Lorentz, der 16 Jahre Präsident des Pädagogischen Instituts in Petersburg war, auf Schliemann aus. An den Fähigkeiten dieses Mannes maß Schliemann seine eigenen und verzweifelte: „...weil mir die Grundlage gan^ und gar fehlt! Hätte mich nicht vor 24 Jahren mein unglückliches Schicksal Eurer Fürsorge entzogen, wäre ich .. ans Gymnasium in Wismar und später auf die Universität gekommen, dann würde ich jene Grundlage haben, und ev. würde vielleicht etwas Tüchtiges aus mir geworden sein, denn an Anlagen fehlte es mir nicht. Jetzt aber bleibe ich mein ganzes Leben lang in wissenschaftlicher Hinsicht nur ein Stümper ... Ich übersetzte jetzt in der Ohnmöglichkeit, etwas Eigenes hervorzubringen, den Sophocles von altgriechischer in neugriechische Prosa, was mir viel Spaß macht .. ." 14 ). Wenig später erschien ihm seine „Leidenschaft für Wissenschaften ... eine unversiegbare Quelle des Glücks. Denn nach meiner Überzeugung liegt das wahre Glück nicht im Geld, sondern in der Herzensruhe und Selbstzufriedenheit, welche ich früher im Gewühle des großen Geschäfts nie kannte, und die mir durch die Wissenschaft eigen H
wurde" 15 ). Das Jahr 1858 verging mit Reisen nach Stöckholm, Kopenhagen, Berlin, Frankfurt, Baden-Baden, Rom, Neapel, Syrakus, Messina, Malta, Alexandria, Kairo, Jerusalem, Smyrna und Athen (s. Ausschlagtafel). Diese Reisen erschütterten Schliemanns Überzeugung von der Rolle der Wissenschaften in seinem zukünftigen Leben. Der Weg zur Wissenschaft erschien ihm schwieriger, als er ihn von Petersburg aus gesehen hatte. So scheiterten die ernsthaften Versuche in den Jahren 1857/58, in der Philologie Befriedigung zu finden: „ E s ist auch zu spät, mich der wissenschaftlichen Laufbahn ... zu widmen, denn ich bin bereits im Kaufmannsberufe zu alt geworden, um hoffen zu können, in den Wissenschaften noch etwas zu erreichen, die ich zwar zu meinem Vergnügen bislang cultivirte, die zu meiner alleinigen Beschäftigung zu machen mir aber mißfallen würde . . . " Er wolle vielmehr einen ruhigen Handel machen18). Es dauerte noch Jahre, bis Schliemann sich aus dem Handelsgeschäft wirklich befreite. Erst 1866 nahm er das Studium in Paris auf. Er hörte Vorlesungen zur Sprachwissenschaft, zur Geschichte der Philosophie und Literatur sowie zur ägyptischen Philologie und Archäologie und bildete sich in den Sammlungen und Museen 17 ). Ausschlaggebend für sein weiteres Leben wurde die Studienreise von Mai bis Juli 1868 nach Griechenland und Kleinasien; erst seither stand es für Schliemann fest, daß ihn unter dem Hügel von Hissarlik das Troja des Homer erwarte, auf Ithaka der Palast des Odysseus, in Mykene die Burg Agamemnons, kurz, daß es seine Lebensaufgabe sei, das vorklassische Griechenland aus dem Bereich des Mythos und der Sage durch archäologische Forschungen für die Geschichte zu gewinnen18). Im Jahre 1868 erschloß sich damit für Schliemann endgültig ein neues Tätigkeitsfeld, ein neuer Lebensinhalt. Hatte ihn zehn Jahre vorher die Philologie nicht befriedigt, und hatten Zweifel über seine wissenschaftlichen Fähigkeiten und den Nutzen seiner Anstrengungen ihn schließlich bewogen, doch wieder zu dem schon überwunden geglaubten Handelsgeschäft zurückzukehren, so war die Situation nun völlig anders. Schliemann sah eine Aufgabe, die wissenschaftliche Erkenntnis über philologisch-methodologische Diskussionen um die in mythisches Dunkel gehüllte Geschichte Vorderasiens und Griechenlands hinauszuführen und auf eine neue Stufe zu bringen. Seine im Verlaufe des vorhergehenden Jahrzehnts angeeigneten
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Griechenlandreisen 1868 —1889. i Italien, Kerkyra, Kefallenia, Ithaka, Korinth, Mykene, Tiryns, Argos, Nauplia, Hydrea, Aigina, Athen, Konstantinopel, Troja. 1868. 2 Athen, Syra, Délos, Paros, Naxos, Thera. 1870. 3 Athen, Phyle, Delphi, Marathon. 1870. 4 Athen, Syra, Smyrna, Ephesos. 1870. 5 Athen, Salamis, Korinth, Sikyon, Styx, Olympia, Phigaleia, Ithome, Pylos, Sparta, Nemea. 1874, 1888 teilweise wiederholt. 6 Kreta. 1886. 7 Megalopolis, Lykosura; Leukas, Actium, Nicopolis, Ithaka. 1889.
Kenntnisse griechischer Literatur und Uberlieferung, der auf seinen Weltreisen 19 ) gewonnene weite Überblick über die Geschichte und Kultur verschiedener Völker, sein scharfer Geist und ausharrender Wille, sein hitziger Charakter und seine materielle Sicherheit schufen die Grundlagen für die rasch sich entzündende und umsichtig und zielstrebig sich umsetzende Tatkraft. Un16
mittelbar nach der Reise schrieb er sein Buch „Ithaka, der Peleponnes und Troja". Tag und Nacht arbeitete er an seinem ersten archäologischen Werk und fühlte sich glücklich20). Bereits nach fünf Monaten, am 9. Dezember 1868, war das Manuskript abgeschlossen21). Es ging nach Leipzig zum Druck und nach Rostock als Dissertationsschrift22).
Wissenschaftliche Ziele, methodologische Grundlagen und Ergebnisse der Forschungen von Heinrich Schliemann Ausgedehnte Reisen zu den bedeutendsten Stätten alter Kulturen im Mittelmeergebiet, in Vorderasien, Indien, China und Japan sowie nach Amerika hatten die Vorstellung Schliemanns von der Kultur und Geschichte der Menschheit bedeutend erweitert. Das Erlernen der arabischen Sprache 1858 und 1859 un< ^ Kenntnis arabischer Literatur hatten ihm weit über die griechische und römische Antike hinausreichende Horizonte eröffnet 23 ). Die Studien in Paris leiteten ihn auch in die Tiefe der Geschichte und machten ihn mit einigen großen Strömen historischer Erkenntnis bekannt. Als er im Jahre 1868 das weitere Ziel seines Lebens und sein Forschungsgebiet abzustecken begann, konnte er auf ein umfassendes kulturgeschichtliches Wissen zurückgreifen. Die wissenschaftliche Zielstellung Schliemanns war so fernliegend nicht. Seit der Zeit griechischer Geschichtsschreiber waren Meinungen über die Vorzeit der Griechen, ihre Geschichte und die ihrer Vorgänger ausgesprochen und wieder verworfen worden. Seit der ersten Hälfte des 19. Jh. und seit der Zeit des ganz Europa bewegenden griechischen Freiheitskampfes waren griechische Geschichte und Kultur ein Grundstock humanistischer Bildung in den Gymnasien Europas geworden. Beides gehörte zum Allgemeinwissen des gebildeten Bürgers und war dem Hörensagen nach weit darüber hinaus bis in die entlegensten Dörfer gedrungen. Ein schmales Rinnsal davon, das in den bedrückenden Verhältnissen mecklenburgischer Gutsherrschaft Kunde von einer fernen und vergangenen, aber gerade daher „idealen" Welt gab, hatte kuch das Elternhaus Schliemanns erreicht. Der Hauch des Romantischen und Ebenmäßigen umwehte die griechische Vorzeit. Zugleich aber erwuchs auch der Forscherdrang, ihre Geheimnisse zu entschleiern. 2
Herrmann
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Die klassische Altertumskunde Winckelmannscher Prägung kannte dazu kaum Methoden und hatte die mythische Periode griechischer Vorzeit als unwirkliche Sagenzeit abgetan. Die Archäologie oder das, was als Archäologie galt, beschäftigte sich damit, mehr oder weniger ordentlich und aufwendig Altertümer zu erwerben, zu sammeln und kunsthistorisch zu interpretieren. Historische Zielstellungen kannte sie kaum, infolgedessen auch keine auf die Erforschung historischer Zusammenhänge gerichteten Methoden. Dieser Zustand mußte gegenüber den raschen Fortschritten der Naturwissenschaften und den Anforderungen an die Geschichte, die aus den gesellschaftlichen Bewegungen der Zeit entsprangen, als eine Barriere erscheinen. 1859 begründete Darwin die Entwicklungsgeschichte der Natur, und ein Jahrzehnt später stellte er den Menschen in den Zusammenhang der Naturgeschichte. In den gleichen Jahrzehnten wies Boucher de Perthes aus Abbeville in mühevoller stratigraphischer Einzelforschung im Tal der Somme die Existenz des eiszeitlichen Menschen und seiner Kultur nach. In Mittel- und Nordeuropa entstanden die ersten Versuche der Systematisierung der ältesten Geschichte mit Hilfe des Dreiperiodensystems. Im Orient begannen bisher unbekannte Kulturen aus dem Dunkel der Jahrtausende aufzusteigen. Der Weg zur Weltgeschichte, auf den die Menschheit durch den Kapitalismus gedrängt wurde, führte auch in der bürgerlichen Wissenschaft zu weltgeschichtlichen Fragestellungen. Über die vorherrschende Nationalgeschichtsschreibung der ersten Hälfte des 19. Jh. begann sich die Weltgeschichtsschreibung zu entfalten. Von der zünftigen bürgerlichen Geschichtsschreibung wurde die „Weltgeschichte" nicht nur ideologisch auf das engste in die Klassenschranken der Bourgeoisie und des halbfeudalen Adels eingegrenzt, sondern auch zeitlich ausdrücklich auf die sogenannte „geschriebene Geschichte" reduziert. Völker, die keine solche vorweisen konnten, galten als geschichtslos. Sie standen nach diesen Auffassungen außerhalb von Zivilisation und Kultur und daher auch außerhalb der Geschichtswissenschaft. Sie sollten die Diener der Weltgeschichte, d. h. des Kapitalismus, par excellenze sein. Die von der zünftigen bürgerlichen Geschichtsschreibung bewußt geforderte und abgesonderte „Vorgeschichte" wurde zu einem Forschungsfeld neuer wissenschaftlicher Disziplinen, vor allem der Anthropologie, der Ethnographie, der historischen Archäologie. Wenn man in solche Tiefen der Geschichte zurück2*
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ging, die bis in die ferne Zeit der Menschwerdung reichten, lag eine methodische Anlehnung an einzelne Naturwissenschaften und an den Darwinismus nahe. Im Unterschied zu der bürgerlichen Geschichtsschreibung trugen diese Wissenschaften daher in bedeutendem Maße zur Herausbildung eines materialistischen Weltbildes bei, auch wenn es selbst ihren progressivsten Verfechtern nur selten gelang, bis zur vollen Konsequenz historischmaterialistischer Erkenntnisse vorzudringen24). Das Tor dazu öffneten Marx und Engels, indem sie sorgfältig die Einzelergebnisse der genannten Disziplinen studierten. Gestützt auf diese Ergebnisse, auf die profunde Kenntnis der griechischen und römischen Geschichtsquellen und auf die Quellen und Forschungen zum frühen Mittelalter, erschloß Friedrich Engels der Arbeiterklasse in verschiedenen Arbeiten, vor allem in seinem Werk über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, die frühen Perioden der Menschheitsgeschichte. Die Geschlossenheit des historisch-materialistischen Geschichtsbildes wurde zu einem mächtigen Antrieb nicht nur im weltanschaulichen, sondern auch im täglichen praktischpolitischen Kampf der Arbeiterklasse. Erhielt doch die Klassengesellschaft durch die weltgeschichtliche Einordnung den Charakter einer zwar historisch notwendigen, jedoch mit dem Kapitalismus auch zu Ende gehenden Übergangsepoche von der urkommunistischen zur kommunistischen Gesellschaft. Heinrich Schliemann überschaute Ende der sechziger Jahre diese Zusammenhänge gewiß nicht. Mit Sicherheit darf hingegen angenommen werden, daß er während seines Pariser Studiums die geistigen Strömungen der oben charakterisierten Art kennengelernt hatte. Beim Abstecken des Arbeitsfeldes, auf dem sich sein Tätigkeitsdrang entfalten konnte, mußte Schliemann auf Grund seiner Vorbildung, seines Kenntnisstandes und seiner Ziele, die er mit der wissenschaftlichen Arbeit verband, auf die Nahtstelle zwischen früher Menschheitsgeschichte und schriftlich überlieferter Geschichte stoßen. Den daraus sich ergebenden Fragestellungen galt nicht nur das Interesse der Fachwelt, sondern auch einer breiten Öffentlichkeit in vielen Ländern. Solche Überlegungen mögen Schliemann bewegt haben, als er 1868 auf Calvert, den amerikanischen Konsul in den Dardanellen, traf26). In beschränktem Rahmen und aus antiquarischem Interesse hatte dieser sich mit der Trojafrage beschäftigt und diente Schliemann nun als Führer. Die Widersprüchlichkeit bei der Lokalisierung
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Trojas, das allgemein, gefestigt durch die militärische Autorität H. v. Moltkes, in Bunarbaschi angenommen wurde, reizten Schliemann. Sogleich untersuchte er an Ort und Stelle durch 30 verschiedene Sondagen den für Troja bei Bunarbaschi in Anspruch genommenen Platz und stellte fest, daß Troja dort nie gestanden haben konnte. Seine Analyse führte ihn nach Hissarlik, und er beschloß, es auszugraben. Sein Ziel formulierte er so, daß es ihm darauf ankomme, „die über der Prähistorie der hellenistischen Welt hängende dunkle Nacht aufzuklären" 26 ) und „die allerinteressantesten Seiten der Weltgeschichte für die Wissenschaft zu Tage zu bringen" 27 ). Bemerkenswert sind die genaue Bestimmung von Teilzielen und die völlige Konzentration auf die Lösung der jeweils nächstliegenden Aufgabe. Zunächst hieß diese Aufgabe, die in zwei bis drei Jahren bewältigt werden sollte, die Ausgrabung von Troja 28 ). Von Anfang an trat hinter der historischen Zielsetzung die Bedeutung der einzelnen Funde im Sinne von Antiquitäten — mochten sie auch noch so wertvoll sein — zurück. Sie wurden dem historischen Gesamtziel untergeordnet, waren nicht erster Zweck 29 ). Derartige Grundsätze, die von Schliemann unter verschiedenen Blickpunkten mehrfach vorgetragen wurden, haben sich erst im Verlauf von Jahrzehnten allgemeine Anerkennung verschafft, und selbst heute finden sich noch genügend Beispiele in der Praxis der archäologischen Forschung kapitalistischer Länder, wo der historische Zusammenhang nichts oder wenig und der Fund an sich alles gilt30). Schliemann selbst blieb seinem Grundsatz allerdings nicht immer bis zur letzten Konsequenz treu. Dort, wo es sich um Schätze großen künstlerischen und materiellen Wertes handelte, insbesondere, als er 1873 auf den sogenannten PriamosSchatz stieß, verleitete ihn nicht in erster Linie ein unbezähmbarer Enthusiasmus 2ur geheimen Ausräumung des Schatztresors, ohne eine zureichende Dokumentation anzufertigen; vielmehr erwachte in ihm die Besitzgier des ehemaligen Händlers nach dem glänzenden Gold 31 ). Man muß fernerhin bedenken, daß das oben skizzierte Ziel von einem Manne verfolgt wurde, zu dessen Charakterzügen ein nicht unerheblicher Drang nach öffentlicher Anerkennung als Wissenschaftler gehörte. Gerade dieser Zug spielte im Einsatz seiner Persönlichkeit für die einmal formulierte Zielstellung eine erhebliche Rolle. Wollte Schliemann seine Ziele erreichen, mochten sie auch einerseits sehr vage und weitgefaßt und andererseits hinsichtlich
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der Arbeitsetappen bereits ganz bestimmt und ortsbezogen formuliert sein, so stellte die bisherige klassische Archäologie weder die inhaltlichen noch die methodischen Voraussetzungen zur Verfügung. Schliemann war also gezwungen, aus diesem Widerspruch zwischen Zielstellung und Methode heraus eigene, neue Wege zu beschreiten. Obwohl diese Zusammenhänge ihm nur zum Teil bewußt wurden, so zeigen sich doch eine beachtliche Zielstrebigkeit und Logik in der Erarbeitung neuer methodischer Prinzipien. Bereits bei den Vorarbeiten für sein Buch „Ithaka, der Peloponnes und Troja" hatte Schliemann 1868 die Sondagenmethode im breitesten Umfang angewandt32). Diese Methode bot auch später in Troja bei der Feststellung der Unterstadt, für die Vorbereitung der Untersuchungen in Tiryns, Mykene und an anderen Orten die Grundlage 33 ). Damit war in der archäologischen Forschung eine Methode gefunden, größere Flächen soweit aufzuschließen, daß ein erstes, allgemeines Urteil über den Zustand des zu erforschenden Objekts möglich wurde. Bei der Beurteilung der Leistungen Schliemanns ist diese methodische Seite der Vorbereitung größerer Ausgrabungen bisher fast gänzlich übersehen worden. Die Sondagemethode bildete für Schliemann den Abschluß oder die dritte Stufe eines ganzen Erkenntnisganges bei der Vorbereitung seiner großen Ausgrabungen. Die erste Stufe bestand selbstverständlich im genauen Studium der schriftlichen Nachrichten und Quellen; die zweite galt der topographischen Erkundung der fraglichen Landschaft und des Geländes. Dieser Stufe widmete Schliemann größte Aufmerksamkeit, bildete sie doch die Voraussetzung für die nähere Eingrenzung der in der dritten Stufe zu untersuchenden örtlichkeit34). Gründliche textkritische Studien, topographische Untersuchungen und archäologische Sondagen bildeten für Schliemann bereits zu Anfang seines Wirkens eine Einheit. Die logisch und zeitlich aufeinander folgenden, dann jedoch auch wieder aufeinander wirkenden und sich durchdringenden Arbeitsstufen sind zum festen Bestandteil der archäologischen Forschungsmethode geworden und es im Prinzip bis heute geblieben, wenn sie auch durch den Einsatz von Luftbild und Photogrammetrie, geophysikalischen und chemischen Explorationsmethoden wesentlich verfeinert wurden. Im allgemeinen ist die Auffassung verbreitet, daß Schliemann, getrieben von Enthusiasmus und begleitet von einem „glücklichen und instinktsicheren Finden, nicht einem systematischen
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Suchen nach Berechnung" seine Erfolge verdanke35). Dieses Urteil ist unzutreffend und beruht in hohem Maße auf dem Unverständnis der Biographen für die methodischen Grundlagen der archäologischen Forschung zur Zeit Schliemanns. Nur so ist es zu erklären, daß die im ausgedehnten Briefwechsel und in den Schriften Schliemanns seit 1868 erkennbare strenge Anwendung der genannten methodischen Grundsätze nahezu übersehen wurde. Gerade in der Anwendung dieser methodischen Grundsätze aber liegt meines Erachtens der Schlüssel für die raschen Erfolge Schliemanns. Er konnte daher bei seinen Grabungsvorbereitungen 1868 bereits davon ausgehen, daß der Hügel Hissarlik mehrschichtig sein und wenigstens aus den Resten der hellenistischen und römischen Siedlung im Oberteil und den Siedlungsresten der vorklassischen Zeit in großer Tiefe bestehen müsse36). Da vor Schliemann keine stratigraphischen Forschungen an vergleichbaren Stätten durchgeführt worden waren37), gab es auch keinerlei Vorstellungen über die Art und Weise, in der sich übereinander liegende Kulturschichten verschiedener Zeitphasen dem Forscher darbieten können. Die homerischen Schichten mußten unter denen der hellenistischen Zeit liegen und zugleich die Mächtigkeit Trojas ausdrücken. Daraus folgerte Schliemann, daß das homerische Troja sehr tief, wahrscheinlich dicht über dem anstehenden Boden, zu finden sein müsse, und richtete seine Grabungsmethode entsprechend ein. Ein wesentlicher Grundsatz, den Schliemann zu Beginn seiner Arbeiten aufstellte, dem er stets treu blieb und den er nachhaltig verfocht, bestand in der Forderung, bis auf den anstehenden Boden zu graben38). Er erkannte völlig zutreffend, daß nur auf diesem Wege die vorgriechischen Schichten von den griechischen zu trennen seien39). Daher legte er in Hissarlik einen 40 m breiten Schnitt über den Hügel, um den in 16 m Tiefe durch eine Sondage ermittelten anstehenden Boden in zureichender Breite zu erreichen40). Heutzutage ist es ein methodischer Grundsatz, daß sich eine komplizierte archäologische Schichtenfolge nur vom anstehenden Boden ausgehend eindeutig analysieren läßt. Schliemann entwickelte aus der Praxis der Arbeit diesen Grundsatz und konnte im Verlauf der Forschungen in Troja mit Erfolg die außerordentlich komplizierten stratigraphischen Fragen im wesentlichen lösen. Das Problem der Stratigraphie nahm von Anbeginn an in Schliemanns Arbeit einen breiten Raum ein41). Die Meinung, daß Schliemann der „Sinn für Schichten und ihre kulturgeschichtliche
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Bedeutung" abgegangen sei42), trifft mithin nicht zu. Auf einem anderen Blatt steht, wie weit er alle Schichten von der obersten bis 2ur untersten mit gleicher Sorgfalt behandelt hat. Da er vorhatte, in das homerische Troja vorzudringen, hielt er sich bei den oberen Schichten des historisch wenig bedeutenden hellenistischrömischen Ilions nicht auf und widmete ihnen nur geringe Aufmerksamkeit. „In den Tiefen Iliums" lag für ihn die neu zu entdeckende Welt43). Die oberen Schichten behandelte er so, wie die klassische Archäologie Fundschichten aus nachklassischer Zeit behandelt hatte und z. T. noch heute behandelt44). Er entnahm ihnen vor allem die Funde. Seine Meinung dazu drückte er u. a. in einem Brief an den Rektor der Universität Rostock am 25. i. 1873 aus, in dem er der Universität die Übersendung eines Abgusses der großen Heliosmethope mit dem aufsteigenden Sonnengott ankündigte: „Möge das Bild dieses Meisterwerkes des classischen Alterthums dazu beitragen, in der mecklenburger Jugend den Sinn für das Erhabene und Schöne zu erwecken und namentlich für die herrliche griechische Kunst und Literatur, deren Studium, nach dem harten Kampf meines Lebens, das Labsal der Tage die ich noch zu leben habe sein wird .. ." 45 ). Für Schliemann standen diese Altertümer jedoch nicht im Mittelpunkt der Forschung und waren schon gar nicht das erste Ziel seiner Arbeiten, wie er schon mehrfach in den ersten Jahren unmißverständlich dargelegt hatte. Eben damit aber machte er sich für die Mehrzahl zünftiger klassischer Archäologen zum Außenseiter. Ein Bestandteil der stratigraphischen Methode ist die Dokumentation der Funde nach Schichten und Tiefe. Eine Dokumentation nach Tiefe war von Anfang an möglich und wurde auch von Anbeginn durch Schliemann sorgfältig vorgenommen. Dagegen bereitete die sichere Zuweisung nach Schichten beachtliche Schwierigkeiten und wurde erst nach der Erreichung genauerer stratigraphischer Erkenntnisse bewältigt. Zur Unterscheidung und Datierung der Schichten sah sich Schliemann nach einem „Leitfossil" um und fand es in der Keramik. Diese wurde für ihn zum „Füllhorn archäologischer Weisheit"46). Schon 1868 hatte er mit Hilfe der Keramik die Bunarbaschitheorie widerlegt47). Das Auffinden vorklassischer und bis dahin unbekannter Keramik in den tieferen Schichten von Hissarlik führte ihn folgerichtig zu der Schlußfolgerung, daß diese Schichten aus einer Zeit herrühren müßten, die vor der bekannten griechischen Geschichte lag. Für die Bestimmung des absoluten Alters dieser Keramik fehl-
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ten jedoch noch alle Anhaltspunkte. Seine Feststellung, daß er „für die Archäologie eine neue Welt" aufdecke, daß „nicht eine einzige der Formen, welche er zu Tausenden" in seinem Buch abbilde, sich in irgendeinem Museum befände48), traf durchaus den Sachverhalt. Methodisch gesehen gab es daher anfangs der siebziger Jahre keine Möglichkeit einer absoluten Chronologie von Hissarlik für die vorklassische Zeit. Schliemann schloß zu Recht, daß die homerische Stadt zwischen der untersten steinzeitlichen Schicht und der oberen Schicht liegen müsse. Seine Bestimmung der mächtigen Brandschichten der II. Stadt (von ihm als III. oder verbrannte Stadt bezeichnet), in der u. a. auch mehrere Goldfunde (darunter der große Schatz) lagen, als das Troja Homers war deshalb methodisch nicht gerechtfertigt, sondern beruhte allein auf der Annahme, daß die mächtigste Schicht auf Hissarlik auf die gesuchte Stadt der homerischen Ilias zurückgehen müsse. Hingegen waren die Grabungsergebnisse in Hissarlik im Jahre 1871 bereits so eindeutig, daß man nicht mehr behaupten konnte, in Hissarlik habe das homerische Troja nicht gelegen. Derartige Behauptungen aber wurden nicht nur von Althistorikern, Philologen und Archäologen aufgestellt, die nie in Hissarlik gewesen waren49), sondern auch von Fachleuten, die an Ort und Stelle in dem mächtigen Schnitt gestanden und das Fundmaterial studiert hatten. So entschied im Spätsommer 1871 eine Gruppe preußischer Gelehrter unter Leitung von Curtius nachdrücklich, daß Troja nicht in Hissarlik, sondern in Bunarbaschi gelegen habe50). Diese Entscheidung drückte bis zu einem gewissen Grade im vorab die Haltung einer großen Zahl von preußisch-deutschen Althistorikern, Philologen und Akademikern vom Fach aus, die sie im wesentlichen in den folgenden Jahren beibehielten. Es wurde darauf hingewiesen, daß dieser Einstellung — insbesondere der von Curtius — nicht nur wissenschaftliche Beweggründe, sondern auch politische zugrunde lagen 51 ). In der Tat ist das nicht von der Hand zu weisen, wenn es auch schwerlich im einzelnen zu belegen ist. Für Curtius, den Erzieher preußischer Prinzen und überzeugten Monarchisten, bot Schliemanns Einstellung zu Kaiserreich und Adel in den siebziger Jahren zweifellos einen ausreichenden Grund zur Distanz. Die Zeugnisse über Schliemanns Ansichten zu weltanschaulichen, politischen und sozialen Fragen seiner Zeit sind höchst gering52). Dennoch zeigen sie uns für die siebziger Jahre die Gegensätzlichkeit zu den
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Auffassungen der monarchietreuen preußischen Intelligenz. In Schliemanns Bewußtsein hatten sich in frühester Jugendzeit die Eindrücke von der Junkerherrschaft und der Unterdrückung des Volkes tief eingeprägt. Jahre später spricht er von dem unerträglichen „Dummstolz des mecklenburger Adels" 53 ). Als 1870 das französische Kaiserreich zusammenbrach und das preußischdeutsche Kaiserreich gegründet wurde, begrüßte er die französische Republik, weil sie das Ungeziefer der finsteren, volksverdummenden Macht der Vergangenheit hinweggefegt und dem Volk den Weg zur Bildung geöffnet habe. „Nichts ist ansteckender", so schrieb er im Frühjahr 1871, „als die demokratischen Ideen. Deutschland wird davon auf seine Weise befallen werden ... Die deutschen Sieger werden die Monarchie nur für eine begrenzte Zahl von Jahren ... festigen können ... Wie Victor Hugo in seinen ,Discours' sagt, wird Deutschland auf seine Weise Republik werden .. ," 54 ). Die Annexion von Elsaß-Lothringen lehnte er ab und sah darin einen Anlaß zu weiteren politischen Spannungen. Naiv jedoch war seine Auffassung über die Lösung dieser Frage: In einem Brief an Virchow 1881 forderte er diesen auf, er möge durchsetzen, daß Elsaß-Lothringen an Frankreich gegen Entschädigung zurückgegeben werde. „Welch ein Segen für Deutschland! Ein stehendes Heer wäre dann unnötig und Deutschland sehr reich" 55 ). Ein ähnlicher Mangel, die politischen und sozialen Zusammenhänge zu überblicken, zeigt sich in seinen Äußerungen zu sozialen Problemen Rußlands und zum Attentat auf den Zaren oder zur Kolonialpolitik56). Kehren wir zum Gang der Arbeiten Schliemanns zurück. Wollte er die Chronologie der trojanischen Funde, die nach Abschluß der ersten Grabungskampagne im Jahre 1873 in riesenhaftem Umfang vorlagen, genauer bestimmen, mußte er Vergleichsmaterial heranziehen. Diesem Ziel dienten Studien in den größten Sammlungen und Museen Europas, vor allem in Italien, England, Frankreich, Holland, Dänemark, Schweden und Deutschland. Durch diese Studien kam Schliemann mit den bedeutend weiter entwickelten und auf historische Fragestellungen gerichteten Methoden der mittel- und nordeuropäischen Ur- und Frühgeschichtsforschung in Verbindung. Die Schweden Oskar Montelius und Hans Hildebrandt hatten, indem sie sich an Darwins Entwicklungslehre anlehnten, die typologische Methode zur Klassifikation und Zeitbestimmung archäologischer Denkmäler
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entwickelt und damit auch die Grundlage für komparative Untersuchungen geschaffen. Schliemann nahm diese Anregungen rasch auf und verband sie mit seinen Zielstellungen. In der europäischen Ur- und Frühgeschichtsforschung spielte R. Virchow seit dem Ende der sechziger Jahre eine wachsende Rolle. Die Einführung naturwissenschaftlicher Beobachtungsmethoden und Analysen, die er selbst durchführte und anregte, bewirkten einen raschen methodischen Ausbau der Archäologie zur historischen Archäologie 57 ). In dem gemeinsamen Ziel, die historische Archäologie voranzubringen, trafen sich H. Schliemann und R. Virchow und arbeiteten — in wachsender Freundschaft verbunden — über fast eineinhalb Jahrzehnte zusammen. Es ist hier nicht der Raum, dieses Zusammenwirken in Einzelheiten darzustellen. Gegründet auf das Studium der Arbeiten von R. Virchow und die Arbeitsmethoden und Arbeitsergebnisse von H. Schliemann sowie auf den Briefwechsel zwischen beiden darf jedoch festgehalten werden, daß wechselseitige wissenschaftliche Anregungen die Beziehungen zwischen beiden bestimmten. Die Auffassung, daß Virchow Schliemann erst aus einem „Dilettanten" zu einem halbwegs hoffähigen Wissenschaftler gemacht habe, entbehrt der Grundlage58). Dagegen ist zweifellos richtig, daß Virchow erheblichen Einfluß darauf nahm, bei Schliemann Charakterzüge abzubauen oder zumindest zurückzudrängen, die sich im Verlauf seiner Kaufmannsjahre ausgebildet hatten59). So hatte sich Schliemann seit der Mitte der siebziger Jahre die Verbindung zur Ur- und Frühgeschichtsforschung in Mittelund Nordeuropa geschaffen, die die weitere Entwicklung der archäologischen Forschungen nachhaltig beeinflussen sollte. In den siebziger Jahren setzten auch größere Ausgrabungen der klassischen Archäologie auf Samothrake, in Olympia, auf Delos und schließlich in Pergamon ein. Die während dieser Ausgrabungen gewonnenen methodischen Erfahrungen, vor allem im Hinblick auf die Aufnahme der Bausubstanz durch Architekten, kamen schließlich in den achtziger Jahren den Forschungen Schliemanns zugute, gewissermaßen personifiziert in dem Architekten Dörpfeld, der seit 1881 in Troja und an anderen Grabungen Schliemanns mitgearbeitet hat60). Schliemann war überzeugt, daß die historische Zielstellung seiner Forschungen nur durch die Mitarbeit von Spezialisten verschiedener Disziplinen bewältigt werden könne. In seinen Veröffentlichungen finden sich daher von Anfang an die Unter27
suchungen und Analysen von Sprachforschern, Orientalisten, Numismatikern, Anthropologen, Architekten, Topographen, Chemikern und Spektrographen61). Die Einsicht, daß naturwissenschaftlichen Untersuchungen eine bedeutende Rolle bei der Herausarbeitung der Grundzüge der ältesten Geschichte zukomme, ist zweifellos von R. Virchow stark gefördert und durch konkrete Ratschläge und Empfehlungen angeregt worden. Sie war jedoch bereits vor dem engeren Zusammenwirken mit R. Virchow vorhanden (Schliemann hatte Virchow 1876 zur anthropologischen Untersuchung der Funde in den Schachtgräben nach Mykene eingeladen, und als dieser der Einladung nicht nachkommen konnte, wies Schliemann nachdrücklich darauf hin, daß infolgedessen eine große Masse an Erkenntnissen verlorengegangen sei!)62). Es sollte jedoch Jahrzehnte dauern, bis sich die Erkenntnis des engen Zusammenwirkens von archäologischer Forschung und den Naturwissenschaften als Voraussetzung einer historischen Archäologie allmählich durchsetzte. Im wesentlichen, aber durchaus noch nicht allgemein, wurde diese Stufe von der Forschung erst in den letzten drei Jahrzehnten erreicht. Erst in dieser Zeit wurden auch die entsprechenden Schlußfolgerungen gezogen, so daß an den archäologischen Instituten naturwissenschaftliche Laboratorien entstanden und Naturwissenschaftler in archäologischen Forschungsinstituten eingestellt wurden. So entwickelte Schliemann in der unmittelbaren archäologischen Feldforschung und in der Auswertung der Ergebnisse für das historische und kulturgeschichtliche Gesamtbild Schritt für Schritt methodische Grundlagen, die von ihm zwar nie zusammenfassend dargelegt wurden, die jedoch durch eine große Anzahl umfangreicher Publikationen Verbreitung fanden und zur Auseinandersetzung anregten. In der verhältnismäßig kurzen Zeit von zwanzig Jahren gelang es ihm im wesentlichen, die mykenische Kultur und die mykenische Welt tatsächlich aus dem mythischen Dunkel der homerischen Epen für das Geschichtsbild zu erschließen. Die Ausgrabungen in Mykene, Tiryns und Orchomenos stellten durch ihre reichen archäologischen Befunde und Funde die wesentlichen Stützen dieses Bildes dar, in das nun auch — um 1890 — die komplizierte und über Jahrtausende währende Besiedlungsgeschichte Trojas sich einzufügen begann63). Was tat es, daß die Ausgrabungen in Troja einen anderen Stellenwert erhielten, als Schliemann zu Beginn der Arbeiten annahm? Die zweite Stadt, Troja II bzw. ihre Brandschicht Troja III, die für
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Schliemann über fast zwei Jahrzehnte als das Troja Homers galt, erwies sich als tausend Jahre älter als angenommen. Erst die Überreste von Troja VI, die durch hellenistische und römische Planierungen stellenweise völlig beseitigt worden waren, stammten aus der mykenischen Zeit. Auf Grund der Grabungen von Biegen in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts dürfen wir das Troja Homers vielleicht im Troja VII vermuten; Sicherheit darüber besteht jedoch bis heute nicht64). Manche Biographen Schliemanns möchten darin, daß Schliemann an dem homerischen Troja „vorbeigegraben" habe, die Tragik seines Forscherlebens sehen. Ein solches Urteil erscheint übertrieben: gerade die komplizierten Verhältnisse im Hügel Hissarlik gaben immer von neuem Antrieb zur Forschung und zur Entwicklung archäologischer Methoden. So sah es auch Schliemann selbst.
Wert und Wirkungen der Arbeiten von Heinrich Schliemann Stellen wir uns abschließend die Frage nach dem Wert und der Wirkung der Arbeiten Heinrich Schliemanns. Es gibt keinen Althistoriker und keinen Archäologen, dessen Leben, dessen Werk und dessen Leistungen so häufig Gegenstand biographischer Darstellungen, Skizzen und Romane und einander widersprechender Beurteilungen gewesen wären. In der Tat greift in der Regel jede dieser Darstellungen einen Teil der Persönlichkeit Schliemanns auf. Aber unter welchen Gesichtspunkten soll man diesen Mann beurteilen? Er war in sich zerrissen, von gegensätzlichen Bestrebungen beherrscht — wie die Zeit, in der er lebte. Die Armseligkeit seiner Jugend und die bedrückenden Verhältnisse in Mecklenburg prägten Schliemanns Charakter. Zwanzig Jahre lebte er als kapitalistischer Großhändler, immer in Auseinandersetzung mit Konkurrenten und Kommittenten, wie er schrieb, und auf der Jagd nach Profit. Selbst als er sich aus Ekel und Angst vor dem moralischen und physischen Verfall einen Ausweg aus seinem Kaufmannsdasein bahnte, konnte er damit die von diesem Dasein geprägten Charakterzüge nicht auslöschen, sondern nur mildern. Der Enthusiasmus für die alte Geschichte der Griechen und des Orients vertrug sich durchaus mit der berechnenden Sachlichkeit des ehemaligen Kaufmanns, die ihn bis an sein Lebensende auf die Sicherung seines Vermögens 29
bedacht sein ließ. Und diese Nüchternheit bei der Behandlung aller Fragen von Gewicht geht auch dem Forscher Heinrich Schliemann nicht verloren65). Ebenso bricht aber auch, zwar mehr und mehr sich verlierend, aber nie ganz verschwindend, ein in Superlativen die eigenen Arbeitsergebnisse preisender Geltungsdrang in seinen Büchern, Schriften und Briefen wieder und wieder durch. Die bereits erwähnte Selbstbiographie von 1881 will uns glauben machen, daß er sein ganzes Leben nur auf die Ausgrabungen Trojas zu gelebt habe, daß die Händlertätigkeit nur Mittel zu höherem Zweck gewesen sei66). So hatten es die Biographen in der Hand, ob sie die eine oder die andere Seite hervorkehrten. Wenn sie vollends die methodischen Grundlagen biographischer Untersuchungen nicht beachteten, so ließ sich aus Schliemann ein Goldsucher und Schatzgräber, ein Dilettant und Gernegroß, ein Bourgeois oder ein romantischer und enthusiastischer Träumer machen. Seine wissenschaftliche Leistung wurde nur von wenigen Kennern gewürdigt und in den breiten Strom der Forschungsgeschichte eingeordnet. Der Blick auf subjektive Äußerungen, die Bezugnahme auf fachund sachfremde Kritiker und eigene unzureichende Kenntnis der Forschungsgeschichte haben zumeist den Blick für die objektive Leistung Schliemanns getrübt. R. Yirchow, M. Müller und A. H. Sayce (Oxford) waren sicherlich die ersten, die mehr oder weniger ausgewogene Vorstellungen von der Tragweite der Arbeiten Schliemanns hatten. In England erfuhr Schliemann die ersten bedeutenden Ehrungen und höchste wissenschaftliche Auszeichnungen67). Die belgische Akademie ernannte ihn zu ihrem Mitglied68). Virchow verband Schliemann mit dem Leben wissenschaftlicher Gesellschaften Berlins, der Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, der Geographischen und der Archäologischen Gesellschaft69). Nach Alexander von Humboldt und August Boeckh wurde Schliemann 1881 als drittem Wissenschaftler die Würde des Ehrenbürgers von Berlin verliehen70). Carl Schuchhardt schließlich faßte 1889 das Werk Schliemanns in einem Band zusammen und hob kritisch die Fortschritte hervor, die Schliemanns Wirken gebracht hatte. Carl Schuchhardt, der selbst in Troja mitgearbeitet hatte, verstand das methodische Anliegen Schliemanns. Er führte es schließlich in seiner Arbeit weiter und ließ auf dieser Grundlage die Geschichte „Alteuropas" für die Wissenschaft neu erstehen. In den Berliner Akademieschriften fanden seine zahlreichen Vorträge
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und Untersuchungen zur historischen Archäologie ihren Platz. Schuchhardt nahm auch ein anderes Erbe Schliemanns auf: das humanistische Ideal von der menschlichen Schöpferkraft, die unabhängig von Rasse und Nation sich verwirklicht 71 ). Nachhaltig verfocht er diese Ideale gegen den immer stärker heraufdringenden Nationalismus und Chauvinismus, der sich auch der archäologischen Forschung mehr und mehr zu bedienen versuchte. Der Schüler Schuchhardts und Nachfolger im Amt, Wilhelm Unverzagt, führte diese Tradition fort und fand in der Deutschen Akademie der Wissenschaften bis zu seinem Tode seine wissenschaftliche Heimstatt. Die methodischen Leistungen Schliemanns sind heute aufgehoben in der Entwicklung der historischen Archäologie vor allem der sozialistischen Länder. Seine sachlichen Erkenntnisse über die mykenische Geschichte und Kultur erwiesen sich als tragfähig und boten die Grundlage für weitere ausgedehnte Forschungen, durch die es schließlich auch gelang, die schriftlichen Quellen dieser Kultur, vor allem in den Palastarchiven von Knossos und Pylos, zu finden. Die Entzifferer dieser Schrift widmeten ihre Arbeit Heinrich Schliemann, „dem Vater der mykenischen Archäologie" 72 ). Troja ist bis heute ein Eckpfeiler chronologischer Verbindung zwischen Europa und Asien geblieben. Mit der Entdeckung der mykenischen Kultur hat Schliemann ein weiteres Tor geöffnet: das Tor nach dem Orient. Mykene erwies sich als das Bindeglied zwischen dem hochentwickelten Orient und dem noch urgeschichtlichen Europa, als die Kultur, durch deren Vermittlung die hochentwickelte orientialische Zivilisation auf Europa wirkte und bis weit nach Westen und Norden — auch in die Heimat Schliemanns — ausstrahlte. Auch diese Erkenntnis Schliemanns hat sich als endgültig und bedeutsam für unser Geschichtsbild erwiesen. So hat sich Schliemann durch seine Grabungen in Griechenland und Kleinasien, durch seine Studien in den großen Sammlungen Europas und an den Fundplätzen Afrikas und Ägyptens einen Ariadnefaden gezogen, der, durchwirkt von den trojanischen Goldschätzen und den reichen Goldfunden mykenischer Fundplätze, ihn durch weite Strecken der Weltgeschichte führte. Wenn wir das wissenschaftliche Leben von Heinrich Schliemann überschauen, so treten drei Züge markant hervor und prägen sein Lebensbild: 31
Es sind die methodischen Impulse, neue Erkenntnisziele und Erkenntnisfortschritte der Wissenschaft, die durch Schliemann veranlaßt wurden 73 ); es sind das bürgerlich-humanistische Grundanliegen seiner Ziele und sein Verhältnis zur Schöpferkraft der Menschen, unabhängig von Hautfarbe und Rasse; es ist schließlich die Forscherpersönlichkeit. Die wissenschaftlichen Leistungen Schliemanns wurden durch höchsten persönlichen entbehrungsreichen Einsatz, der mitunter bis zur physischen Erschöpfung führte, erreicht. Sein Enthusiasmus für die Forschung brachte Schliemann zeitweilig gesundheitlich hart an den Abgrund. In zwanzig Jahren schrieb er seine Werke, darunter 12 deutschsprachige Bände, Hunderte von Aufsätzen und Artikeln nicht gezählt. 15 Bände erschienen im Original, in überarbeiteten Ausgaben oder in Übersetzungen in Englisch und Französisch. Zieht man in Betracht, daß jedem einzelnen Buch minutiöse Kleinarbeit zugrunde lag, die von der Vorbereitung der Ausgrabung, der Dokumentation der Befunde und Funde bis zu deren komparativer Bearbeitung auf der Grundlage der Materialien der großen Sammlungen und der in diesen Jahren rasch anwachsenden Literatur reichte und die in der Hinwendung zu historischen Fragestellungen mündete, so läßt sich die außerordentliche Arbeitsleistung Schliemanns erahnen. Dieser gigantische persönliche Einsatz nach dem aus eigenem Willen und mit eigener Kraft vollzogenen Bruch mit dem Leben als Kaufmann veranlaßt uns, in Schliemann eine starke Persönlichkeit zu erkennen und zu achten, die aus der Widerwärtigkeit kapitalistischen Gesellschaftsgetriebes ihren eigenen Ausweg gesucht und in rastloser, schöpferischer wissenschaftlicher Arbeit gefunden hat.
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Orientreise 1858—1859: Rom, Pompeji, Messina, Syrakus, Alexandria, Kairo, Nil, Gaza, Jerusalem, Beirut, Damaskus, Baalbek, Smyrna, Athen, Konstantinopel, Donau, Belgrad, Prag, Petersburg. Spanienreise 1859: Paris, Bordeaux, Bayonne, Madrid, Toledo, Cordoba, Sevilla, Cadiz, Gibraltar, Valencia, Barcelona, Paris. Europareise 1875: London, Den Haag, Kopenhagen, Stockholm, Rostock, Danzig, Berlin, Mainz, Rom, Sizilien. Ägyptenreisen 1886—1887 und 1888: Alexandria (Sakkara, Gise), Asiut, Abydos, Theben, Karnak, Abusimbel, Wadi Haifa.
ANMERKUNGEN Zu den Vorbemerkungen Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats, i. Aufl., Hottingen — Zürich 1884; vgl. Marx—Engels, Werke Bd. 21. 2 ) Bericht über die Veranstaltung von H.-J. Brachmann in: Z f G 20, 1972, H. 8 (im Druck). 3 ) Die Autobiographie ist Teil der Einleitung zu dem Buch „Ilios. Stadt und Land der Trojaner". Leipzig 1881. Sie wurde nach dem Tode Schliemanns im Auftrage seiner Witwe durch Brückner überarbeitet und ergänzt: H. Schliemann, Selbstbiographie. Bis zu seinem Tode vervollständigt von A. Brückner. Hrsg. von Sophie Schliemann. 6. Aufl. Leipzig 1944. Damit aber hat sie ihren Charakter als Autobiographie verloren, ohne jedoch nunmehr den Anspruch auf eine wissenschaftlich erarbeitete Biographie erheben zu können. Aus diesen Gründen wurde hier auf den von Schliemann verfaßten Text zurückgegriffen. 4 ) Bei der bibliographischen Bearbeitung des umfangreichen Anmerkungsteiles und dem "Vergleich der Zitate war mir Dipl. Phil. I. Böger behilflich. Desgleichen fertigte sie die Karten über die Reisen Schliemanns an und stellte das Verzeichnis seiner Arbeiten zusammen. Ich möchte Fräulein Böger auch an dieser Stelle herzlich für ihre Bemühungen danken.
Zum Text Die Schliemann-Literatur ist kaum noch zu überblicken. Schliemanns Persönlichkeit und die Ergebnisse seiner Arbeit regten schon zu seinen Lebzeiten Darstellungen über ihn und sein Werk an. Ausgewogen und bis heute von Bedeutung ist die Arbeit von C. Schuchhardt, Schliemann's Ausgrabungen zu Troja, Tiryns, Mykenä, Orchomenos, Ithaka im Lichte der heutigen Wissenschaft, Leipzig 1890. Eine wesendiche Grundlage erhielt die Schliemann-Forschung jedoch erst durch E. Meyer, dessen Lebensarbeit der Sichtung und Veröffentlichung des umfangreichen Schliemann-Nachlasses galt. Zusammenfassend E . Meyer, Heinrich Schliemann. Kaufmann und Forscher. Göttingen 1969. Dort auch die Zusammenstellung der biographischen Angaben. 3
Herrmann
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Von erstrangiger Bedeutung sind drei von ihm besorgte Bände mit einer Auswahl aus dem überreichen Briefwechsel Schliemanns: Briefe von Heinrich Schliemann, Berlin—Leipzig 1936; Heinrich Schliemann, Briefwechsel, Berlin, 1, 1953; 2, 1958. Erst die Veröffendichung des Briefwechsels erlaubte eine tiefere Analyse der Entwicklung Schliemanns, da sie als unmittelbare Quelle die einzelnen Entwicklungsabschnitte seines Lebens zu behandeln erlaubten. Der Briefwechsel und die seit Ende der sechziger Jahre des 19. Jh. erscheinenden Publikationen von Schliemann über seine wissenschaftlichen Arbeiten und seine Arbeitsergebnisse sind damit die Hauptquellen für die Untersuchung des Lebensweges und der Leistungen von Heinrich Schliemann. Der vorliegende Beitrag ist auf der Grundlage eines Vortrages entstanden. 2 ) Bei seiner Einstellung in einem Amsterdamer Kontor nach dem Schiffbruch stellte Schliemann fest: Lediglich die Tatsache, daß er „in der einfachen und doppelten Buchführung sowie in der Correspondenz von 4 lebenden Sprachen routinirt war, und auch die fünfte, nämlich die holländische, bald kennen lernen würde", habe ihm eine Anstellung im Kontor von L. Hoyack & Co. verschafft. (Brief vom 20. 2. 1842 an Wilhelmine u. Doris Schliemann. Briefwechsel, 1 , 1 9 5 3 , Nr. 1, S. 29.) Sechs Jahre später, am 16. 2. 1848, schrieb er an den Vater: „ . . . Vom frühen Morgen bis zum späten Abend an meinem Comptoirtisch stehend, und in ewigem Nachdenken vertieft, wie ich am bequemsten durch vorteilhafte Spekulation gleichviel ob zum Benefice oder zum Schaden meines Committenten oder Konkurrenten meinen Geldbeutel schwerer machen kann, fühle ich mich weit weniger glücklich als damals, wie ich mich hinterm Ladentisch in Fürstenberg mit dem Fischkarrer über den Hund mit dem ,Landschwanz' unterhielt..." (Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 6, S. 38). Kennzeichnend dafür, wie sehr Schliemann sich diesen kapitalistischen Wirtschaftsgesetzen ganz und gar unterwarf und ihnen sein eigenes Wesen unterordnete, ist ein Brief von J . W. Schroeder an Schliemann vom 13. 2. 1847 (Briefwechsel 1, 1953, Nr. 4, S. 35/36): „Wenn Sie Ihr Ziel erreicht glauben, werden Sie grob und arrogant gegen Freunde ... Die Unartigkeiten, die Sie sich mehrfach gegen uns erlaubten, will ich Ihnen gerne verzeihen ... Wir kennen Sie und hegen die Hoffnung, daß Sie später ein gebildetes und angenehmes Mitglied der Gesellschaft werden ... Jetzt, nehmen Sie es mir nicht übel, überschätzen Sie sich ganz und gar, träumen von Ihren ungeheuren Leistungen und Vorteilen, die Sie uns schaffen, und nehmen einen Ton an und machen die absurdesten Pretensionen . . . " 3 ) Ein Beispiel, in welcher Weise Schliemann diese Situation nutzte, gibt er in seinem Brief vom 17. 3. 1856 an seinen Vater (Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 47, S. 81). „Ich gelte hier u. in Moskau als der schlaueste, durchtriebenste u. fähigste Kaufmann; aber leider bin ich zu hitzig
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in den Unternehmungen, ich schleudere z. B. manchmal den ganzen Betrag meines Vermögens auf einen Artikel wie Indigo; bis jetzt gab Gott immer Glück, aber wie wenn mal das Blatt sich dreht. Ich habe hier manchmal die wunderbarsten Operationen gemacht und bin dadurch in Moskau und hier zum Sprichwort geworden. So z. B. kam. mir im Juny 1855 plötzlich eines Nachts die Idee, Salpeter müßte steigen; begeistert lief ich aus dem Bette zum Telegraphen und gab nach Hamburg, Berlin u. Königsberg Ordre, den ganzen Vorrath aufzukaufen, der da wäre; meine Agenten telegraphierten wieder nach Elbing, Stettin, Breslau usw., u. den folgenden Tag wurde alles für mich aufgekauft, was nur irgend aufzutreiben war. In Hamburg, Stettin und Breslau ließ ich sogar aus den Buden zusammenkaufen, brachte darauf alles mit großer Gefahr und Glück als Kriegscontreband über die preußische Grenze nach Rußland und verdiente ca. 40000 Rt an dem Salpetergeschäfte". (Weitere Beispiele — u. a. für Schliemanns Beurteilung des russischen Exportgeschäfts und der daraus hergeleiteten Geschäftstätigkeit, im Briefwechsel, 1 , 1953, Nr. 44 vom 1 4 . 1 . 1 8 5 6 an B. H. Schröder; Nr. 38 vom 14. 1 1 . 1855 an J . Adelson, Kowno; Nr. 33 vom 10. 1. 1855 an Bahlmann). Im Brief Nr. 27 vom 31. 8. 1854 von der Messe in Nischni-Nowgorod an Bahlmann kommt Sch. zu der Schlußfolgerung: „Das gegen alles Erwarten günstige Resultat des Jahrmarktes hat nun mit einem Male alle meine Pläne wieder zu Nichte gemacht und mich zu dem festen Entschluß gebracht, Rußland nie wieder zu verlassen..." (Briefwechsel, 1, 1953, S. 60). Wenig später konkretisierte er diese Meinung: Seine Geschäfte nähmen „mit jedem Tag an Ausdehnung" zu. „Soviel ist gewiß, daß ich, solange der Krieg währt, keinesfalls Petersburg verlasse, denn jetzt sind die Zeiten zu gut" (Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 36, S. 69). „Aufrichtig gesagt, Geiz und Habsucht sind bei mir stärker als die Sehnsucht nach einem Landgute in Mecklenburg, und solange der Krieg dauert, ist wohl keine Möglichkeit, mich vom Mammon loszureißen..." (Brief vom 10. 1. 1855 an Bahlmann, Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 33, S. 67). In den Jahren 1853, 1854 und 1855 hat er sein Vermögen auf diese Weise mehr als versechsfacht (Brief vom 20. 1 . 1 8 5 7 an Bahlmann, Briefwechsel, 1 , 1 9 5 3 , Nr. 53, S. 88). 4 ) Beispiele für solche Analysen in seinen Briefen an Bahlmann vom 22. 4. 1853, Nr. 19, S. 53f.; vom 10. 1. 1855, Nr. 33, S. 66f.; an Adelson, Kowno, vom 23. 1 1 . 1855, Nr. 40, S. 75; an den Vater vom 17. 3. 1856, Nr. 47, S. 8of.; an Bromme vom 3. 4. 1856, Nr. 48, S. 8if. u. a. (alle in: Briefwechsel, 1, 1953). Vgl. auch oben Anm. 3. 8 ) Er stellte bereits im Frühjahr 1856 seine Geschäftstätigkeit darauf ein (Brief an den Vater vom 17. 3. 1856; Briefwechsel, 1 , 1953, Nr. 47, S. 80). 6 ) „Warum denn nicht lieber jetzt das, was ich habe, sicher legen! Ich glaube, man kann auch ohne Geschäfte leben, denn mit einem Capi-
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tal von Bedeutung findet man weniger oder mehr überall Beschäftigung. Aber ehe ich mich ankaufe, mögte ich so gerne die Länder des südlichen Europas, besonders das Vaterland meines Lieblings Homer besuchen, besonders da ich die neugriechische Sprache wie deutsch spreche" (Briefwechsel, i , 1953, S. 81). Landankäufe in Brasilien, in der Türkei, in Griechenland, Kleinasien oder Ägypten werden flüchtig erwogen (Brief vom 3. 4. 1856 an Bromme, ebenda, Nr. 48, S. 82). Trotz der harten Belastungen durch das Geschäft ( „ . . . ich habe mich überarbeitet und meine Gesundheit hat sehr gelitten" — Brief an B. H. Schröder vom 29. 12. 1855; ebenda Nr. 4 1 , S. 76), lernte Schliemann in den Wintermonaten 1855/56 die neugriechische, schwedische und polnische Sprache (Brief vom 3. 4. 1856 an Bromme; ebenda Nr. 48, S. 82). ') Heinrich Schliemarin, Selbstbiographie bis zu seinem Tode vervollständigt. Hrsg. v. Sophie Schliemann. 6. Aufl. Leipzig 1944, S. 31, 33, 35 u. a. Auch einige Briefe sind recht aufschlußreich: „ N i e ist jemand geiziger gewesen als ich, als ich im Handel war; ich liebte aber das Geld nicht um das Geldes wegeri, sondern nur als Mittel um das höhere Ziel meines Lebens zu erreichen..." (Brief vom 2. 12. 1875 an Dr. Vogler, Briefwechsel, 1 , 1953, Nr. 275, S. 302). Ähnlich in einem Brief an Brockhaus vom 17. 8. 1878 (Briefe, 1936, Nr. 62, S. 152); die gleiche Version wörtlich an Virchow am 7. 9. 1879 (ebenda, Nr. 72, S. 163). A m 2. 12. 1875 hatte er bereits formuliert: „ D i e Entdeckung Trojas verdanke ich dem Dorf Ankershagen bei Waren in Mecklenburg, w o ich die ersten 9 Jahre meines Lebens zubrachte" (Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 275, S. 301). 8 ) E . Meyer, Biographische Einleitung in dem von ihm hrsg. Band: Heinrich Schliemann, Briefe. Berlin, Leipzig 1936, S. 36: „Aber die Sehnsucht nach der Antike, die durch jenes Kindergespräch mit dem Vater über die verborgenen Mauerreste Trojas allmählich zu einem Wunschziel geworden sein mag, lebte in seiner Seele fort, wenn sie auch zeitweilig zurückgedrängt wurde . . . " An anderer Stelle behauptet E . Meyer: „Schliemanns Entwicklung zum Ausgräber und Forscher ist kein Abbruch des bisher Gewordenen, sondern schließt sich folgerichtig an, weil dieses zweite Leben als Fernziel schon hinter dem ersten, der Kaufmannszeit, gestanden hatte, besonders aber, weil die Entfaltung seines Wesens dahin drängte, weil sie seiner romantischen Seelenanlage entsprach" (ebenda. S. 42/43). Die Argumente, die E . Meyer anführt, sind nicht haltbar. Das Erlernen der griechischen Sprache während des Krimkrieges läßt sich wohl kaum mit einem Drang nach Troja in Verbindung bringen. Immerhin lernte Schliemann neugriechisch und etwa zur gleichen Zeit auch slowenisch — wie aus einem Brief vom 31. 12. 1856 hervorgeht, in den Jahren 1854—1856 (Briefwechsel, 1 , 1953, Nr. 52, S. 86). Nach 1856 erwog Schliemann einen Landankauf in Brasilien, der Türkei, Griechenland, Kleinasien oder Ägypten, um sich dort niederzulassen (Briefwechsel, 1 , 1953, Nr. 48,
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S. 82). Vorher wollte er das Vaterland seines Lieblings Homer besuchen. Von Troja ist nicht die Rede, als zusätzliche Begründung gibt er an, daß er „die neugriechische Sprache wie deutsch" spräche (ebenda, Nr. 47, S. 81). Die Reise ging schließlich nicht zuerst nach Griechenland, sondern in das östliche Mittelmeergebiet; Griechenland wird als ein Land unter anderen, Troja überhaupt nicht besucht, auch nicht in den Briefen erwähnt. — Die Ursachen für diese eindeutige Fehlbeurteilung liegt m. E. darin, daß Meyer bei der Auswertung des Briefwechsels die kritisch-historische Methode unzureichend anwendet. — Vgl. auch E. Meyer, Heinrich Schliemann, Leben und Werk, in: Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft, Bd. 23, 1954, S. 179. 9 ) Es gab Bemühungen, ein Landgut zu kaufen; so versuchte Schliemann, das Gut von Ankershagen um 1858 an sich zu bringen (Brief an J . W. Schröder vom 27. 3. 1873; Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 201, S. 225). Am 22. 4. 1853 schrieb er an Bahlmann in Waren: „Glauben Sie, daß ich dabei verlieren würde, wenn ich ein Landgut in Mecklenb. kaufte? Und in welchem Teile von Mecklenburg dürfte es am gerathensten sein? Wieviel würde es mir wohl einbringen, wenn ich es bewirthschaften ließe ohne selbst darauf zu leben? Seit langen Jahren an das Wüthen im großen Geschäfte gewohnt, glaube ich nicht, daß ich mich in der ländlichen Einsamkeit lange glücklich fühlen würde" (ebenda, Nr. 19, S. 55). Wenig später (am 4. 1 1 . 1853), teilte er dem Vater mit, daß er ohne Sorge und Aufregung nicht leben könne und deshalb seinem Rat, sich zurückzuziehen, nicht folgen könne. „Im Alter von 45 bis 50 verliert sich die große Hitze; dann fängt man an, sich nach Ruhe zu sehnen; — bis dahin aber will ich arbeiten und schaffen was ich kann" (ebenda Nr. 22, S. 57). Am 31. 8. 1854 drückte er seine Stimmung in' einem Brief an Bahlmann aus: „ . . . denn, wenn ich auch in diesem Sommer durch Unthätigkeit in Verzweiflung gebracht, wähnte, daß ich mich in ländlicher Einsamkeit glücklich fühlen würde, so sehe ich doch jetzt, wo ich wieder in meinem Elemente bin, daß ich nur im Gewühl des großen Geschäftes und fortwährender Aufregung das Leben erträglich finden kann" (ebenda Nr. 27, S. 60). Die Brandkatastrophe von Memel, in der nur durch einen Zufall die umfangreichen Indigogüter, in denen ein großer Teil des Schliemannschen Vermögens steckte, verschont blieben, bestärkte Schliemann in seinem Suchen nach einem Ausweg, nach „Sicherheit und Ruhe" (Bahlmann an Schliemann vom 10. 1 1 . 1854, ebenda, Nr. 32, S. 65). „Der Gedanke entzückt mich, ein Landgut in meinem geliebten Vaterlande zu besitzen u. zu bewohnen, aber leider finde ich es schwer, sehr schwer, mich aus dem Gewühl der Geschäfte herauszureißen", schrieb er am 10. 1. 1855 an Bahlmann (Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 33, S. 66). An Wendt in Hamburg schrieb er am 4. 10. 1855: „ A n den Ankauf eines Landgutes in Mecklenburg kann ich nicht ohne Wonne denken, habe aber keine Hoffnung, meinen Wunsch bald realisieren zu können, weil meine
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Frau so sehr an Petersburg hängt und mein Geschäft mit jedem Tag an Ausdehnung zunimmt, so daß ich jetzt mehrere Jahre brauchen würde, um zu liquidiren. Aber alles dieses würde sich schon ordnen lassen, nur soviel ist gewiß, daß ich, solange der Krieg währt, keinesfalls Petersburg verlasse, denn jetzt sind die Zeiten g u t . . . Wenn wir Friede kriegen, dann ist hier nichts mehr zu verdienen, u. wenn es mir nur irgend möglich ist, dann berede ich dann meine Frau, aufs Land nach Mecklenburg zu ziehen . . . Ich fürchte aber sehr, daß ich nicht im Stande sein werde, die ländliche Einsamkeit und Ruhe, nach der ich mich jetzt so sehr sehne, auf die Dauer zu ertragen, da ich so sehr an das Gewühl des Geschäfts, an die fortwährende Aufregung, an das fortwährende Sinnen und Grübeln gewöhnt bin . . . " (ebenda Nr. 36, S. 69/70). Später kamen ihm Zweifel, ob sich der „Dummstolz des mecklenburgischen Adels ertragen" lasse (an Bahlmann, vom 3. 2. 1858; ebenda, Nr. 57, S. 91). 10 ) „Die Crisis aber hat mir den Handel zum Ekel gemacht u. den festen Entschluß in mir hervorgerufen, mich noch in diesem Jahre ganz u. gar den Wechselfällen des Handels zu entziehen. Ich habe große Lust, einen Theil meines Vermögens in Landgütern anzulegen..." (Briefwechsel, 1 , 1953, Nr. 61, S. 94). " ) Brief vom 3. 2. 1858 an Bahlmann (Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 57, S. 91). lz ) Brief vom 1 1 . 6. 1856 an Rhodokanakis (Briefwechsel, 1. 1953, Nr. 49, S. 83). Wenig später, am 18. Juli 1856, teilte er Kalkmann in Sacramento mit, daß ihn die Verluste des Jahres zu der Entscheidung gebracht hätten, das Geschäft aufzugeben und sein Leben der Wissenschaft zu widmen (ebenda Nr. jo, S. 85). 13 ) Briefwechsel, 1. 1953, Nr. 52, S. 86/87. 14 ) Hervorhebungen im Zitat vom Verfasser (J. H.). Ähnlich an Bahlmann vom 20. 1. 1857 (Briefwechsel, 1. 1953, Nr. 53, S. 88): „So wie andere so wunderbares Talent für die Dichtkunst haben, so habe ich viel Sinn für Philologie und habe hier seit 2 Jahren, ungeachtet meiner vielen anderen Beschäftigungen, noch slavonisch, polnisch, dänisch, schwedisch, neugriechisch u. kürzlich lateinisch und altgriechisch gelernt, so daß ich jetzt 15 Sprachen geläufig schreibe und spreche. Besonders altgriechisch und lateinisch brachten einen wunderbaren, nie gefühlten Enthusiasmus für die Wissenschaft in mir hervor, und ich lese mit solchem Entzücken den Sophocles, Homer, Horaz u. Virgil, daß ich fest überzeugt bin, ich würde sehr gut in mir selbst Beschäftigung genug finden, wenn ich mich nach einer Universitätsstadt wie z. B. Bonn zurückziehe und mich dort dem geliebten Fache ausschließlich widme". 15 ) Brief vom 2. 4. 1858 an Hepner (Briefwechsel, 1. 1953, Nr. 60, S. 93); Hervorhebung im Zitat vom Verfasser (J. H.). 16 ) Brief an Bessow, Petersburg, vom 27. 12. 1858 aus Messina (Briefwechsel, 1. 1953, Nr. 62, S. 95f.)- Ähnlich in dem Brief vom
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30. i i . 1859 an Giulio Nicati, London (ebenda Nr. 67, S. 98ff.). Darin teilt Schliemann mit, daß die Reise ihn veranlaßt habe, von seinem Entschluß, sich der Wissenschaft zuzuwenden, Abstand zu nehmen, •weil er erstens „von Natur zum Handel bestimmt" sei; zweitens ihn der Gedanke beunruhige, daß ein nicht arbeitendes Kapital infolge der wachsenden Goldeinfuhr aus Kalifornien und Australien an Wert verliere. Die Ursachen für die Rückkehr in das Geschäftsleben lagen also nicht in erster Linie darin, daß Schliemann in Petersburg in einen Prozeß verwickelt wurde. Wenig später allerdings stellte sich Schliemann der Zusammenhang so dar: In einem Brief an Bahlmann vom 7. 2. 1861 schrieb er: „Um mir Zerstreuung zu verschaffen, machte ich im v. J . große Geschäfte ... So lange die Prozesse dauern, kann ich nicht an den Ankauf von Eigenthum denken; sobald aber dieselben beendet sind, fange ich wieder an abzuwickeln, denn das Gewühl des großen Geschäfts macht mir kein Vergnügen mehr und komme dann sobald als möglich nach Mecklenburg. Ich fing ja die Geschäfte auch nur zum Zeitvertreib wieder an ... Der Verdienst auf Baumwolle bei steigender Conjunctur war v. J . großartig, aber ich möchte nicht mehr ein solches Gewühl wie imv. J . um mich haben . . . " (Briefwechsel, r, 1953,Nr. 71, S. 105). „Im Januar 1864 aber erwerbe ich das Altersrecht und werde laut Gesetz Kaufmann erster Gilde und sobald als ich das sein werde, nehme ich mir am Gericht 4 Monate Ferien, derart daß mein Amt dort mit diesem endet und werde die nötigen Verfügungen treffen, um die endgültige Abwicklung meiner Geschäfte in die Hände eines hiesigen Bankiers zu legen. Im März 1864 also hoffe ich, Sie in Bologna aufzusuchen, um mit Ihnen und Herrn Carlo eine sehr lange Reise zu machen . . . " (Brief an Graf Bassi vom 25. 12. 1861, ebenda, Nr. 77, S. n r ) . Sogleich tauchte der Plan des Landankaufs wieder auf, diesmal erwägt Sch. den Ankauf von Ländereien in der Gegend von Bologna (Briefwechsel, 2, 1958, Nr. 3, S. 22). Über die Stellung Schliemanns in Rußland zu dieser Zeit und die Lösung aus der russischen Untertänigkeit, die Komplikationen, die sich aus seiner Ehe ergaben usw. vgl. O. V. DaSevskaja, Novoe o Genriche Slimane, in: Vestnik drevnej istorii, 1968, H. 1, S. 191 —194; J . E . Babanov, L. A. Suetov, Novye dokumenty k biografii Slimana, ebenda, S. 195 — 198. " ) E. Meyer, Heinrich Schliemann, 1969, S. 15, S. 226. 18 ) H. Schliemann, Ithaka, der Peloponnes und Troja. Archäologische Forschungen. 1869. ls ) Schliemann unternahm außer seinen Studienreisen folgende größere Reisen: 1. Orientreise, 1858/59; 2. Spanienreise, 1859; 3. Weltreise, 1864—66 (Mittelmeer, Ägypten; Indien, Indonesien; China, Japan; Amerika; Wolga, Donau; USA, Kuba); 4. Ägypten, 1886/87, 1888 (Zusammenstellung nach E. Meyer, Heinrich Schliemann, 1969, S. 165 ff.). 20 ) Er hoffte, sich mit diesem Buch einen gewissen Ruf als Autor
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zu verschaffen — „une petite reputation comme auteur" —, „denn" — so schrieb er — „ich kann mir keinen interessanteren Lebensweg vorstellen als den eines Autors von ernsthaften Büchern. Beim Schreiben ist man immer so glücklich, so zufrieden, so besinnlich, und man hat, kommt man in Gesellschaft, tausend und aber tausend interessante Dinge zu erzählen, die als Produkte langer Forschungen und langen Nachdenkens jedermann anregen" (Brief an seinen Sohn Serge vom x. n . 1868; Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 109, S. 139t., franz.). 21 ) Brief vom 9. 12. 1868 an den Vater (Briefwechsel, 1 , 1 9 5 3 , N r . i n , S. 140). 22 ) Der Titel eines Doktors der Philosophie wurde Schliemann am 27.4.1869 verliehen. Vgl. E. Meyer, Einleitung zu: Briefe, 1936, S.52. 23 ) E. Meyer, Heinrich Schliemann, 1969, S. 87. 24 ) Einen solchen Schritt ging z. B. L. H. Morgan, Ancient Society, 1877. „Hatte doch Morgan die von Marx vor vierzig Jahren entdeckte materialistische Geschichtsauffassung in Amerika in seiner Art neu entdeckt", schrieb F. Engels 1884 (MEW, 21, S. 27). 25 ) E. Curtius schrieb über Calvert: „Das Calvertsche Haus an den Dardanellen ist gleichsam das Hauptquartier aller troischen Forschungen. Dort ist ein reiches Museum von Alterthümern der Landschaft..." (zitiert nach: Briefwechsel, 1, 1953, S. 321, Anm. 192). Mit Calvert bereitete Schliemann die ersten Grabungen auf Hissarlik vor (Vgl. Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 1 1 3 , S. i42f.). 2e ) Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 1 3 1 , S. 165. 27 ) Zitiert nach Briefwechsel, 1, 1953, Anm. 285, S. 335 — Eine Diskussion über den Verkauf und den Preis von Altertümern wies er ebenso zurück wie die Verdächtigungen, daß er Schätze suche, um sich materiell zu bereichern (vgl. Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 175, S. 206 nebst Anm. 285, S. 335). Als im Jahre 1872 die Ausgrabungen größere Ausmaße annahmen und wissenschaftlich-technische Probleme aufwarfen, mit denen Schliemann zu Beginn der Hissarlikgrabung nicht gerechnet hatte, versuchte er eine öffentliche Einrichtung oder Regierung zur Übernahme der Grabung zu bewegen. Er korrespondierte u. a. mit Curtius (Briefwechsel, i, 1953, Nr. 188, S. 2i4f.), um zu erreichen, daß eventuell die deutsche Regierung die Grabung übernehme. E r selbst, Schliemann, habe noch viele andere Pläne. Interessant ist die Antwort von Curtius vom 17. 9. 1872: „Die Aussicht auf ähnliche Funde würde wohl geeignet sein, unsere Regierung zu veranlassen, Ihre Ausgrabungen aufzunehmen" (ebenda, Nr. 189, S. 216; im Frühjahr 1872 war der große Goldfund in der Schicht Troja II, der „Schatz des Priamos", geborgen worden!). Darauf antwortete Schliemann postwendend. E r würde sich freuen, so schrieb er an Curtius, wenn die deutsche Regierung die Ausgrabungen fortsetzen wolle. Kunstschät^e sollten dabei jedoch „ganz Nebensache betrachtet" werden (ebenda.
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Nr. 191, S. 217). Vgl. den Brief vom 2. 1. 1875, vielleicht an B. C. Stark: „ . . . die herrlichsten Kunstschätze sind für mich, der Aufdekkung Trojas gegenüber, durchaus wertlos", (ebenda, Nr. 254, S. 274). 28 ) Am 24. 5. 1873 schrieb er, daß die Ausgrabungen in Troja „eine neue Welt für die Archäologie aufgedeckt" hätten. Man werde „eine hohe Genugtuung in der nunmehr erlangten Gewißheit finden, daß es wirklich ein Troja gab, daß dies Troja aufgedeckt ist und daß den homerischen Gesängen wirkliche Thatsachen zugrunde liegen" (Briefwechsel, i , 195 3, Nr. 208, S. 230). 29 ) In seinem Werk „Trojanische Altertümer", 1874, S. 26/27 schrieb er: „Meine Ansprüche sind höchst bescheiden; plastische Kunstwerke zu finden hoffe ich nicht. Der einzige Zweck meiner Ausgrabungen war ja von Anfang an nur, Troja aufzufinden". Vgl. auch die Briefzitate oben Anm. 27 sowie E. Meyer, Heinrich Schliemann, Leben u. Werk, 1954, S. 195. 30 ) Diese Einstellung erlebte ihre Renaissance mit der Entwicklung der Unterwasserforschung und dem massenhaften, geschäftsmäßig geförderten Ausrauben der Funde durch Laien. 31 ) Der „Schatz des Priamos" wurde wenige Tage vor Abschluß der ersten Grabungsperiode gefunden. Schon vorher hatte Schliemann angekündigt: „So stelle ich die Ausgrabungen hier in Troja am 15. Juni d. J . für immer ein" (Bericht vom 24. 5. 1873, Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 208, S. 230). Die weitverbreitete Auffassung (vgl. F. Thierfelder, Heinrich Schliemann, Versuch eines psychologischen Porträts, in: Mitt. d. Inst. f. Auslandsbeziehungen, 8, 1958, S. 29), daß für Schliemann die Trojafrage mit dem Schatzfund von 1873 erledigt gewesen sei, d. h. daß dieser Fund Einfluß auf seine Entscheidung gehabt habe, trifft mithin nicht zu. Die erste Fassung des Berichts über den Schatz trägt das Datum des 3 1 . 5 . 1 8 7 3 (Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 210, S. 231 ff.). E. Meyer (ebenda, S. 342, Anm. 335) vermutet unter Berücksichtigung der verschiedensten Möglichkeiten der Datierung spätestens den Zeitraum vom 7. bis 10. Juni. Die Entdeckung des PriamosSchatzes und anderer Goldfunde während späterer Grabungen waren der Anlaß, eine Schatzgräbertheorie aufzustellen und die Arbeiten Schliemanns unter diesem Gesichtspunkt zu beurteilen. Ausgeprägt in dieser Weise die erste Biographie über Schliemann von E . Ludwig, Schliemann. Geschichte eines Goldsuchers, Berlin u.a. 1932. Eine Auseinandersetzung mit der Schatzsuchertheorie wird von E. Meyer in der Einleitung der Briefe, 1936, S. 49, Anm. 1 versucht, jedoch ohne überzeugend zu sein, da Meyer das Wesen der Arbeiten Schliemanns nicht völlig erfaßt hat. Im Zusammenhang mit der Schatzgräbertheorie wird auch R. Virchow zitiert. Beachtet man jedoch den Textzusammenhang, so zeigt sich, daß Virchow den Begriff „Schatzsucher" benutzt, um die archäologische Feldforschung von der komplizierten historischen Auswertung, die Schliemann in den ersten Jahren keineswegs
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beherrschte, abzuheben (R. Virchow, Vorrede zu: H. Schliemann, Ilios, Stadt und Land der Trojaner. Leipzig 1881, S. XIX). Im Sinn archäologischer Forschung wird, der Begriff „Schatzgräber" u. a. auch von Schaaffhausen, dem Sekretär der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft, benutzt. H. Schaaffhausen schrieb z. B. am 27. 12. 1877 an Schliemann: „Ihre großartigen Entdeckungen haben der archäologischen Forschung für lange Zeit einen überaus reichen Stoff geliefert... Für die Kenntniß des Alterthums ist eine ganz neue Periode gewonnen, die mit jener Zeit Fühlung hat, welche wir die prähistorische nennen. Darum ist unsere Gesellschaft Ihrer Schatzgräberarbeit mit so großer Aufmerksamkeit gefolgt und wünscht Ihren fortgesetzten Arbeiten stets neues Gelingen" (Briefwechsel, 2, 1958, Nr. 40, S. 71). Schliemann verwahrte sich mehrfach gegen die Unterstellung, daß er als „Schatzgräber" im Sinne eines Goldsuchers, wie seine Gegner wiederholt behaupteten, die Ausgrabungen durchführe. 32 ) Schliemann, Ithaka, der Peloponnes u. Troja, Leipzig, 1869, S. 28ff., 62ff., 151 ff.; E. Meyer, Einleitung zu: Briefe, 1936, S. 46. Die Mächtigkeit der Schichten auf dem Hügel Hissarlik (16— 17 m) ermittelte Sch. u. a. durch die Freilegung eines Brunnens. Dort, wo der Brunnenschacht auf den anstehenden Felsen stieß, ließ er horizontal einen Tunnel anlegen. Es zeigte sich, daß in dieser Tiefe noch Mauerwerk vorhanden war (H. Schliemann, Selbstbiographie, 1944, S. 53). Derartige Tunnelsondagen und Ausgrabungen sind in den folgenden Jahren hin und wieder angewendet worden. Soweit ich sehe, war Sch. der erste, der diese Methode in die Wissenschaft einführte. 33 ) In Tiryns ließ Sch. 20 Schächte bis zum Urboden anlegen (Brief an Virchow vom 15. 8. 1876, Briefe, 1936, Nr. 55, S. 146). Die Grabungen in Mykene bereitete Sch. durch 34 Sondagen auf der Akropolis vor (Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 237, S. 258; Brief an Conze vom 14. 3. 1874; Hauptbericht an das Französische Institut vom 8./10. 3. 1874, ebenda, Nr. 234, S. 256). H. Schliemann, Mykenae. Leipzig 1878, S. 68. In der Unterstadt von Troja wurden 20 Sondagen angelegt, von Schliemann „Brunnen" genannt (Brief vom 2. 1. 1875, Briefwechsel, 1,1953, Nr. 254,8. 273). In Alexandrien wandte er dasselbe Verfahren an (Brief vom 17. 5. 1888 an Schöne, Briefe, 1936, Nr. 192, S. 278). 34 ) So schrieb er schon im Sommer 1868 : „Ich bin ..., nachdem ich die Topographie des Scamander-Thales genau kennen gelernt habe, zur Überzeugung gekommen, daß es, circa 1 deutsche Meile näher dem Meere, um einen Berg herum gelegen haben muß. ... Dies muß der Ort von Troia sein, denn nirgends in der Iliade finde ich ein Wort davon, daß die Griechen den Scamander überschritten." (Briefwechsel, 2, 1958, Nr. 6, S. 31). Vgl. auch Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 158, S. 277, Brief an Curtius vom 30. 1. 1875 nebst Anm. 423. 35 ) E. Meyer, Einleitung zu: Briefe, 1936, S. 47. In ähnlicher Weise
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spricht auch F. Thierfelder, Heinrich Schliemann, 1958, S. 24, vom „Trojakomplex" Schliemanns, seiner Unfähigkeit, den „letzten Sinn wissenschaftlicher Methodik" zu begreifen (S. 18), andererseits aber auch von seinem Mut, „den Schritten des Schicksals vorweg zu lauschen" (S. 41). ®6) E. Meyer, Einleitung zu: Briefe, 1936, S. 46. 37 ) Erst 1873 begannen die österreichischen Ausgrabungen auf Samothrake, allerdings in geringem Umfang. 1875 setzten die deutschen Ausgrabungen in Olympia ein, von vornherein als Flächengrabung gedacht, nicht auf die unterste Tiefe orientiert. Noch am Ende des Jahrhunderts stand Troja in bezug auf die Erforschung der stratigraphischen Schichtenfolge allein. 3S ) Zum Beispiel Bericht an den Präsidenten des französischen Instituts über die Ausgrabungen 1870 (Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 1 3 1 , S. 163 ff.). An J . T. Wood, der in Ephesos mit Grabungen begann, schrieb er am 8. 1. 1873 (ebenda, Nr. 195, S. 220): „ I would very much advise you to dig for it to a depth of 60 feet. I am sure your trouble would be amply repaid by the most wonderful objects you would find in those layers of rubbish which are previous to the arrival of the greek colony, that is to say in the remains of the nation which preceded the greeks in the plain of Ephesus. In order to give only one instance how important those deep diggings are for science . . . " In einem Brief an Conze vom 30. 1 1 . 1873 äußerte er sich in ähnlicher Weise (ebenda, Nr. 221, S. 242 f.). *•) Schliemann hat mit Calvert die Art der Schnittführung diskutiert. Im Briefwechsel wird u. a. auf das Vorbild Layards hingewiesen, der seine Arbeiten in Ninive mit einem Kreuzschnitt einleitete (Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 1 1 3 , S. 144). 40 ) Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 195, S. 220. Vgl. oben Anm. 32. 41 ) Man vergleiche die Briefe vom 7 1 1 . 1871 (Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 160, S. 192) und vom 1 1 . 1 1 . 1871 (ebenda, Nr. 162, S. 193). Außerhalb von Troja war die Lösung der komplizierten stratigraphischen Verhältnisse in Alba Longa eine beachtliche Leistung (ebenda, Nr. 271, 3, S. 294ff.). Schließlich gab es in Troja Ende der siebziger Jahre zum ersten Mal in der Forschungsgeschichte eine Stratigraphie, die vom Äneolithikum bis in die Römerzeit reichte. 42 ) E. Meyer, Einleitung zu: Briefe, 1936, S. 48. 43 ) Brief an Conze vom 17. 1. 1874 über den Troja-Atlas (Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 226, S. 247); im gleichen Sinne an Max Müller vom 18. 1. 1874 (ebenda, Nr. 228, S. 248f.). " ) Zur Illustration sei nur auf die Ausgrabungen in Pergamon verwiesen, die immerhin fast zehn Jahre später begannen als die Untersuchungen in Troja. Sie waren ganz auf die Antike gerichtet und beseitigten die frühmittelalterlichen und byzantinischen Schichten rigoros (Der Entdecker von Pergamon, Carl Humann. Hrsg. von C. Schuchhardt
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u. Th. Wiegand, Berlin 1930). Über die dabei angewandten Methoden vgl. den Bericht in: C. Schuchhardt, Aus Leben und Arbeit, Berlin 1944, S. 124ff. Ähnliche Beispiele ließen sich in großer Zahl finden. Das Problem, das Schliemann nicht gelöst hat, nämlich allen Schichten gleiche Sorgfalt zu widmen, ist mithin etwas komplizierter, als es imHinblickauf Troja oftmals aus der Sicht der klassischen Archäologie beurteilt wird. 45 ) Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 197, S. 222. 48 ) H. Schliemann, Ilios, Stadt und Land der Trojaner, Leipzig 1881, S. 243. Am 13. 1 1 . 1873 schrieb Schliemann auf Grund der Erfahrungen in den ersten Grabungskampagnen: „Sicherste Kennzeichen für menschliche Siedlungen sind die Topfscherben, die unvergänglicher sind als Haus- und Festungsmauern ... sie geben uns somit zwei termini für das Alter der sie umschließenden Mauern, denn sie können unmöglich älter sein als die neuesten Topfscherben der Baustellen" (Zit. nach E . Meyer, Heinrich Schliemann, 1969, S. 276). 47 ) Schliemann schrieb am 12. 8. 1868 an den Vater: „Nachdem ich hier auf der von den Gelehrten vermeinten Stelle des alten Troias wohl an 30 verschiedenen Orten Ausgrabungen angezettelt und weder Topfscherben noch Spuren von Ziegeln entdeckt habe, bin ich jetzt im Stand zu beschwören, daß Troija hier nie gestanden hat. Ich bin dagegen, nachdem ich die Topographie des Scamander-Thales genau kennen gelernt habe, zur Überzeugung gekommen, daß es circa 1 deutsche Meile näher dem Meere, um einen Berg herum gelegen haben muß. ... Ich bin entschlossen, diesen Berg im nächsten Frühjahre, soweit er künstlich ist, abtragen zu lassen". (Briefwechsel, 2, 1958, Nr. 6, S. 31). Vgl. auch Briefe, 1936, Nr. 110, S. 201; Nr. 1 1 1 , S. 202. 4e ) Briefe, 1936, Nr. 29, S. 127. 49 ) Vgl. Allgemeine Jahresberichte der Archäologischen Zeitung, 33, 1876, S. 190; 34, 1877, S. 234, 238/39; weiterhin den Bericht über die Troja-Diskussion im Philologus 37, 1877, S. 783/84. E. Meyer, Einleitung zu: Briefe, 1936, S. 52ff. 60 ) Der Reisegruppe, die Griechenland und Vorderasien besuchte, gehörten an: Curtius, Stark, F. Adler und Major Regly vom Großen Generalstab, der die topographischen Aufnahmen durchführte. Vgl. Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 154, S. 186; Nr. 1 5 J , S. 187. Über den TrojaBesuch auch E. Curtius, Ein Lebensbild in Briefen. Hrsg. v. F. Curtius, Berlin 1903, Brief vom 5. 9. 1871, S. 607/08; E . Meyer, Heinrich Schliemann, Leben und Werk, 1954, S. i8of. 61 ) R. Hampe, Heinrich Schliemann, Festvortrag, in: Ruperto-Carola 13, Bd. 30, 1961, S. 53ff. 62 ) Weltanschaulich stand Schliemann offenbar dem Materialismus Ludwig Büchners nahe (vgl. die Angaben von E . Meyer, Heinrich Schliemann, 1969, S. 150). 63 ) Brief vom 3. 2. 1858 anBahlmann (Briefwechsel, 1 , 1 9 5 3 , Nr. 57, S. 91).
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64 ) Übersetzt nach Briefwechsel, i, 1953, Nr. 149, S. 183. Für die Pariser Kommune fand Schliemann kein Verständnis, da, wie er einwandte, der Bürgerkrieg den Reichtum des Landes zerstöre (ebenda, Nr. 152, S. 185). Da die Türkei und der Bosporus im Bereich der politischen Ziele der kapitalistischen Großmächte lagen, mußte sich Schliemann auf eines dieser Länder stützen, um Grabungsgenehmigungen zu erhalten. Zunächst waren das England und die USA. Seit dem Zusammentreffen mit Virchow im Jahre 1878 verließ er sich auf die starke Position des deutschen Kaiserreiches am Bosporus. Dabei nutzte er geschickt den Gegensatz zu England aus, wie aus dem Brief vom 29. 1. 1882 an Bismarck hervorgeht (Briefe, 1936, Nr. 103, S. i9of.). 56 ) Brief vom 20. 1. 1881, in: Briefe, 1936, Nr. 89, S. 179. 56 ) Vgl. die Äußerungen über den Tod des russischen Zaren (Briefe, 1936, Nr. 93, S. 184) und zur Kolonialfrage (ebenda, Nr. 156, S. 245, Anm. 1, S. 245). 67 ) Zu R. Virchow vgl. E. Krause, Rudolf Virchows Bedeutung für die Vor- und Frühgeschichte, Berlin, phil. Diss. von 1947 (ungedr.); C. Schuchhardt, Virchow als Prähistoriker, Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, Festsitzung 1921 (Sonderdruck), bes. S. 2iff.; E. Meyer, Rudolf Virchow, Wiesbaden 1956, bes. S. 1 x 9 f£.; P. Diepgen, Die Universalität von Virchows Lebenswerk, in: Virchows Archiv, 322, 1952, S. 221 — 232. 58 ) E. Meyer, Schliemann und Virchow, in: Gymnasium, 62, 1955, S. 446, schreibt: „Virchow hat Schliemann von 1879 an zum wissenschaftlichen Denken geführt". Diese Feststellung ist sicherlich nicht zutreffend, weder im allgemeinen — immerhin hatte Schliemann zehn Jahre vorher promoviert — noch im Hinblick auf die Trojaarbeiten bzw. die archäologischen Untersuchungen. Die Belege dafür sind oben zitiert. Auch Virchow sah die Dinge anders. Seine Trojareise und die Zusammenarbeit mit Schliemann kamen nur zustande, weil Schliemann seit Mitte der siebziger Jahre wissenschaftliche Ergebnisse und Erfolge vorzuweisen hatte, die substantiell waren. Vgl. dazu u. a. R. Virchow, in: Zeitschrift für Ethnologie, 11, 1879, Verhandlungen, S. 179/180; S. 204—217; S. 254—281 (Reisebericht). Die Diskussion wissenschaftlicher Probleme ist die zwischen Partnern (vgl. z. B. Briefwechsel, 2, 1958, Nr. 78, S. 106; Nr. 81, S. 108/09; N f - I4°> s - i64ff.)* Nur so wird verständlich, daß Virchow sich in der Berliner Akademie für Schliemann einsetzte (ebenda, Nr. 65, S. 90). Schon 1881 schrieb Virchow die Worte: „Es ist heute eine müßige Frage, ob Schliemann am Beginn seiner Untersuchungen von richtigen oder unrichtigen Voraussetzungen ausging. Nicht der Erfolg hat für ihn entschieden, sondern auch die Methode seiner Untersuchung hat sich bewährt" (Vorrede zu H. Schliemann, Ilios, Stadt und Land der Trojaner, Leipzig 1881, S. IX). Sofern in den Arbeiten Schliemanns die Phantasie im Spiel war, betraf sie die Zusammenhänge zwischen archäologischem
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Befund und homerischer Überlieferung. Zur Herstellung dieser Zusammenhänge gab es keine wissenschaftliche Methode, und es gibt sie auch heute nicht, weil die schriftliche Überlieferung Einblick in andere Lebensbereiche gestattet als die archäologischen Quellen. Dieses Grundproblem steht bis heute vor der Archäologie. Schliemann erkannte es erst nach bitteren Erfahrungen im Verlaufe der achtziger Jahre; Virchow formulierte es — noch unscharf — in der oben zitierten Vorrede. 59 ) Beispiele dafür in den Briefen des Jahres 1880, in denen es um die Veröffentlichung der „Trojanischen Schädel" durch Virchow geht (Briefwechsel, 2, 1958, Nr. 65, S. 90; Nr. 70, S. 96f.). Ein Ausdruck maßloser Überheblichkeit ist etwa der Brief vom Juli 1874 (Briefwechsel, i, 1953, Nr. 247, S. 269). 60 ) Der Anteil Dörpfelds an Schliemanns Forschungen ist u. E. mehrfach unzutreffend hoch bewertet worden, u. a. von P. Goessler: „ E s bleibt ihm (Schliemann) für immer der Ruhm, durch seine Grabungen, die durchaus nicht nur dem blinden Zufall oder der archäologischen Vorsehung verdankt waren, sondern auf langen Überlegungen und genauer Ortskenntnis beruhten, die versunkene homerische Welt entdeckt zu haben; aber was an wissenschaftlichen Ergebnissen dauerhaft ist, ist in der Hauptsache das Werk von Dörpfelds Forschergenialität" (P. Goessler, Schliemann und Dörpfeld, in: I P E K , 17, (1943 — 48, 1956, S. 16). Dörpfeld sei die „wissenschaftliche Seele" der Trojagrabung gewesen (ebenda, S. 2). Dörpfeld selbst beurteilte Schliemann mit Hilfe eines Ausspruchs von Schopenhauer: „Von Dilettanten und nicht von angestellten Fachleuten ist stets das Größte ausgegangen" (zitiert nach: P. Goessler, Schliemann und Dörpfeld, in: L P E K , 17, 1956, S. 13). Die sorgfältige Hand des erfahrenen Architekten war für die Trojagrabung zweifellos ein unabdingbares Erfordernis. Schliemann hatte bereits in früheren Jahren Architekten angestellt, die jedoch meist ohne archäologische Vorbildung waren. Bald nach der Anstellung Dörpfelds schrieb Schliemann an Gladstone, er bedaure, daß er nicht von Anfang an solche Architekten wie Höfler und Dörpfeld gehabt habe. Aber noch sei es nicht zu spät (Brief vom 3. 5. 1882, Briefwechsel, 2, 1958, Nr. 116, S. 143). Gegen eine Verkleinerung, aber auch gegen eine Überbewertung der Leistungen Dörpfelds wandte sich schon Virchow (ebenda, Nr. 317, S. 337). 61 ) Die Korrespondenz und die Werke Schliemanns geben darüber ausführlich Auskunft (Beispiele im Briefwechsel, 2, 1958, Nr. 40, S. 7 1 ; Nr. 51, S. 80; Nr. 52, S. 80; Nr. 172, S. 195). Sich „mit einem Generalstabe von Naturforschem, Architekten und Archäologen zu umgeben", war seine Absicht, die er auch — für seine Zeit in ungewöhnlichem Umfang — verwirklichte (Briefe, 1936, Nr. 203 vom 13. 9. 1889, S. 288). 62 ) Brief vom 28. 1. 1877 an Virchow (Briefe, 1936, Nr. 58, S. 149).
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• 3 ) Schliemann versuchte seit Mitte der siebziger Jahre, durch Nutzung der komparativen Methode die Schichten von Troja zu datieren. Dem Studium des Materials dienten ausgedehnte Reisen, u. a. nach West-, Mittel- und Nordeuropa. Dabei wurde er 1875 auf die pomerellischen Gesichtsurnen aufmerksam und damit zugleich auf Virchow. Die Diskussionen zwischen Virchow und Schliemann spiegeln sich z. T. in einem umfangreichen Briefwechsel wider (Briefwechsel, 2, 1958, Nr. 81, S. 108; Nr. 140, S. 164; Nr. 247, S. 259). Im Jahre 1880 schrieb er an Virchow: „Bei diesem Werk (Ilios) gehe ich tief ins Studium der komparativen Archäologie" (Briefe, 1936, Nr. 79, S. 168). Zu den Reisen im Jahre 1875 nach London, Den Haag, Leyden, Kopenhagen, Rostock, Danzig und über das Zusammentreffen mit Virchow in den letzten Augusttagen in Berlin vgl. E. Meyer, Heinrich Schliemann, 1969, S. 246 ff. 64 ) C. W. Biegen, Troy and the Troyans, London 1964 (Ancient Peoples and Places, 32), S. 164 u. a., S. 173ff. 66 ) C. Schuchhardt berichtet eine Episode aus dem Jahre 1890, in der sich Sch. während eines Besuches in Hannover bei ihm nach den hannoverschen Hausmieten erkundigte (C. Schuchhardt, Aus Leben und Arbeit, Berlin 1944, S. 178). ••) Schon 1875 schrieb er: „Nie ist jemand geiziger gewesen als ich, als ich im Handel war; ich liebte aber das Geld nicht um des Geldes wegen sondern nur als Mittel um das höhere Ziel meines Lebens zu erreichen..." (Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 275, S. 302). E. Meyer folgt vollständig dieser Version: „Dieses zweite Leben" als Forscher habe „als Fernziel schon hinter dem ersten, der Kaufmannszeit, gestanden"; die Entfaltung seines Wesens habe in diese Richtung gedrängt, weil es seiner romantischen Seelenlage entsprochen habe (E. Meyer, Einleitung zu: Briefe, 1936, S. 42/43. Wir meinen oben gezeigt zu haben, daß eine solche Kontinuität nicht bestand. 67 ) Ehrendoktor und Honorary Fellow von Oxford 1883 (Briefe, 1936, Nr. 138, S. 230); Auszeichnung mit der Großen königlichen Goldmedaille für Kunst und Wissenschaft 1885 (ebenda, Nr. 152, S. 245). 65 ) Mitglied der Académie Royale in Bruxelles (Briefe, 1936, Nr. 213, S. 299). 6 ') Gedächtnisfeier für Heinrich Schliemann, in : Zeitschr. für Ethnologie, 23, 1891, S. 41 —62. Nachweis weiterer Ehrungen vgl. Briefwechsel, 2, 1958, S. 442, Anm. 215. Im August 1970 wurde durch den Internationalen Astronomischen Kongreß in Brighton ein Krater auf der abgewandten Seite des Mondes (20 Süd, 15 50 Ost) nach Schliemann benannt (frdl. Mitteilung von Dr. G. Rüben, Geschäftsführender Direktor des Zentralinstituts für Astrophysik der AdW der DDR, Berlin). ,0 ) Virchows Festrede anläßlich der Verleihung der Ehrenbürgerschaft, in: Zeitschr. f. Ethnologie, 23, 1891, S. 63—65.
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71 ) Eine Durcharbeitung des Werkes von Schliemann unter diesem Gesichtspunkt ist bisher nicht erfolgt. Offensichtlich fand bei Schliemann auch in dieser Frage eine Entwicklung von den Anschauungen des kapitalistischen Händlers bis zum bürgerlichen Humanwissenschaftler statt. Eine solche Entwicklung läßt sich z. B. in der Beurteilung der Sklavenfrage in Mittelamerika erkennen. Gegenüber früheren Äußerungen korrigierte er sich in einem Brief vom 2. 12. 1867 an Hepner (Briefwechsel, 1, 1953, Nr. 102, S. 131). „Der Glaube ist durchaus irrig, daß die Neger keiner höheren Bildung fähig sind! Ich sehe hier in der State Convention täglich ... die farbigen Delegaten der verschiedenen parishes von Louisiana, die noch vor 2x/2 Jahren rohe, unwissende Sklaven waren, und jetzt herrliche Reden improvisieren und dabei gestikulieren, gerade als ob sie ihr Leben lang Redner gewesen wären." Nicht unerheblich hat offensichtlich auch Virchows Einfluß sich seit den siebziger Jahren ausgewirkt. Auch diese Frage ist jedoch bisher nicht untersucht. 72 ) M. Ventris, J . Chadwick, Documents in Mycenaean Greek, Oxford 1956. 7S ) C. Schuchhardt, Schliemanns Ausgrabungen, Leipzig 1890, S. 1/2, schrieb: „Die Pünktlichkeit, mit der nach jeder großen Unternehmung auch ein größeres Buch über dieselbe der Welt vorgelegt wurde, mußte gerade in unserer Zeit, wo wir je größer die Unternehmungen werden, desto längere Jahre auf die Vorlegung des zu Tage geförderten Studienstoffes zu warten uns gewöhnen, sehr viel dazu beitragen, daß Schliemanns Name immer in aller Munde war und heute für das größere Publikum eigentlich die ganze Archäologie beherrscht" (S. 1 — 2). Das Urteil von F. Thierfelder, daß Schliemann „den letzten Sinn wissenschaftlicher Methodik nie begriffen" habe, daß er „in der Mitte zwischen Schatzgräber und Spatenforscher" gestanden habe, wird dem Werk Schliemanns nicht gerecht (F. Thierfelder, Heinrich Schliemann, Versuch eines psychologischen Porträts, in: Mitteilungen des Instituts für Auslandsbeziehungen, 8, 1958, S. 18/19). Zutreffender sah wohl schon im Jahre 1884 A. H. Sayce die Sachlage: „ E r hat im Studium des classischen Alterthums eine neue Ära eingeführt; er hat in unseren Vorstellungen über die Vergangenheit eine Umwälzung hervorgebracht; er hat Sporn gegeben zu jener Forschung mit dem Spaten . . . " (Vorrede zu H. Schliemann, Troja, Ergebnisse meiner neuesten Ausgrabungen, Leipzig 1884, S. XI). Die Archäologie sei zur Wissenschaft geworden, und es sei nun zu spät, zu der vor fünfzig Jahren bestehenden dilettantischen Liebhaberei für Altertümer zurückzukehren (ebenda, S. XXXVII).
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LITERATUR Schliemann, H.: La Chine et la Japon au temps présents. Paris 1867. — Ithaka, der Peloponnes und Troja. Archäologische Forschungen. Leipzig 1869. — Trojanische Altertümer. Bericht über die Ausgrabungen in Troja. Leipzig 1874. — Atlas trojanischer Altertümer. Photographische Abbildungen zu dem Berichte über die Ausgrabungen in Troja. Leipzig 1874. — Mykenae. Bericht über meine Forschungen und Entdeckungen in Mykenae und Tiryns. Leipzig 1878. — Ilios. Stadt und Land der Trojaner. Mit Autobiographie des Verfassers. Vorrede von R. Virchow. Leipzig 1881. — Orchomenos. Bericht über meine Ausgrabungen im böotischen Orchomenos. Leipzig 1881. — Reise in der Troas im Mai 1881. Leipzig 1881. — Catalogue des Trésorts de Mycènes au Musée d'Athènes. 1882. — Troja. Ergebnisse meiner neuesten Ausgrabungen. Leipzig 1884. — Tiryns. Der prähistorische Palast der Könige von Tiryns. Mit Beiträgen von W. Dörpfeld. Leipzig 1886. — Bericht über meine Ausgrabungen in Troja im Jahre 1890. Mit Beiträgen von W. Dörpfeld. Leipzig 1891. — Selbstbiographie. Bis zum Tode vervollständigt von A. Brückner. Hrsg. von Sophie Schliemann. 6. Aufl. Leipzig 1944. — Briefe. Gesammelt u. mit einer Einleitung hrsg. von E. Meyer. Geleitwort von W. Dörpfeld. Leipzig 1936. — Briefwechsel. 1. (1842—1875), 2. (1876—1890). Hrsg. von E. Meyer. Berlin 1953—58. Schuchhardt, C.: Schliemann's Ausgrabungen in Troja, Tiryns, Mykenä, Orchomenos, Ithaka im Lichte der heutigen Wissenschaft. Leipzig 1890. (2. Aufl. 1891). Stoll, H. A. : Der Traum von Troja. Lebensroman Heinrich Schliemanns. Leipzig 1956. Mejeroviö, M. L. : Sliman. Moskva 1966. Meyer, E. : Heinrich Schliemann. Kaufmann und Forscher. Göttingen 1969.
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ANHANGi Aus: H E I N R I C H S C H L I E M A N N ,
Ilios. Stadt und Land der Trojaner. Mit Autobiographie der Verfassers. Vorrede von R. Virchow, Leipzig 1881
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Herrmann
ILIO S Einleitung AUTOBIOGRAPHIE DES V E R F A S S E R S UND G E S C H I C H T E S E I N E R A R B E I T E N IN T R O J A
I. Kindheit und kaufmännische Lauflahn: 1822 bis 1866 Wenn ich dieses Werk mit einer Geschichte des eignen Lebens beginne, so ist es nicht Eitelkeit, die dazu mich veranlasst, wolaber der Wunsch, klar darzulegen, dass die ganze Arbeit meines spätem Lebens durch die Eindrücke meiner frühesten Kindheit bestimmt worden, ja, daß sie die nothwendige Folge derselben gewesen ist; wurden doch, sozusagen, Hacke und Schaufel für die Ausgrabung Trojas und der Königsgräber von Mykenae schon in dem kleinen deutschen Dorfe geschmiedet und geschärft, in dem ich acht Jahre meiner ersten Jugend verbrachte. So erscheint es mir auch nicht überflüssig, hier zu erzählen, wie ich allmählich in den Besitz der Mittel gelangt bin, vermöge deren ich im Herbste des Lebens die großen Pläne ausführen konnte, die ich als armer kleiner Knabe entworfen hatte. Wol darf ich hoffen, dass die Art und Weise, in der ich meine Zeit und meine Mittel verwendet habe, allgemeine Anerkennung finden, und dass für alle Zukunft auch die Geschichte meines Lebens etwas dazu beitragen wird, unter dem gebildeten Publikum aller Nationen die Freude an jenen grossen und schönen Bestrebungen zu verbreiten, die, wie sie mich während so mancher harten Prüfungen aufrecht erhalten haben, mir auch den Rest meiner Tage noch erheitern sollen. Ich wurde am 6. Januar 1822 in dem Städtchen Neu-Buckow in Mecklenburg-Schwerin geboren, wo mein Vater, Ernst Schliemann, protestantischer Prediger war und von wo er im Jahre 1823 in derselben Eigenschaft an die Pfarre von Ankershagen, einem in demselben Grossherzogthum zwischen Waren und Penzün belegenen Dorfe, berufen wurde. In diesem Dorfe verbrachte ich 4*
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die acht folgenden Jahre meines Lebens, und die in meiner Natur begründete Neigung für alles Geheimnissvolle und Wunderbare wurde durch die Wunder, welche jener Ort enthielt, zu einer wahren Leidenschaft entflammt. In unserm Gartenhause sollte der Geist von meines Vaters Vorgänger, dem Pastor von Russdorf, „umgehen"; und dicht hinter unserm Garten befand sich ein kleiner Teich, das sogenannte „Silberschälchen", dem um Mitternacht eine gespenstische Jungfrau, die eine silberne Schale trug, entsteigen sollte. Ausserdem hatte das Dorf einen kleinen von einem Graben umzogenen Hügel aufzuweisen, wahrscheinlich ein Grab aus heidnischer Vorzeit, ein sogenanntes Hünengrab, in dem der Sage nach ein alter Raubritter sein Lieblingskind in einer goldenen Wiege begraben hatte. Ungeheure Schätze aber sollten neben den Ruinen eines alten runden Thurmes in dem Garten des Gutseigenthümers verborgen liegen; mein Glaube an das Vorhandensein aller dieser Schätze war so fest, dass ich jedesmal, wenn ich meinen Vater über seine Geldverlegenheiten klagen hörte, verwundert fragte, weshalb er denn nicht die silberne Schale oder die goldene Wiege ausgraben und sich dadurch reich machen wollte? Auch ein altes mittelalterliches Schloss befand sich in Ankershagen, mit geheimen Gängen in seinen sechs Fuss starken Mauern und einem unterirdischen Wege, der eine starke deutsche Meile lang sein und unter dem tiefen See bei Speck durchführen sollte; es hiess, furchtbare Gespenster gingen da um, und alle Dorfleute sprachen nur mit Zittern von diesen Schrecknissen. Einer alten Sage nach war das Schloss einst von einem Raubritter, Namens Henning von Holstein, bewohnt worden, der, im Volke „Henning Bradenkirl" genannt, weit und breit im Lande gefürchtet wurde, da er, wo er nur konnte, zu rauben und zu plündern pflegte. So verdross es ihn denn auch nicht wenig, dass der Herzog von Mecklenburg manchen Kaufmann, der an seinem Schlosse vorbeiziehen musste, durch einen Geleitsbrief gegen seine Vergewaltigungen schützte, und um dafür an dem Herzog Rache nehmen zu können, lud er ihn einst mit heuchlerischer Demuth auf sein Schloss zu Gaste. Der Herzog nahm die Einladung an und machte sich an dem bestimmten Tage mit einem grossen Gefolge auf den Weg. Des Ritters Kuhhirte jedoch, der von seines Herrn Absicht, den Gast zu ermorden, Kunde erlangt hatte, verbarg sich in dem Gebüsch am Wege, erwartete hier hinter einem, etwa eine viertel Meile von unserm Hause gelegenen Hügel, den Herzog und verrieth demselben Henning's verbreche-
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rischen Plan. Der Herzog kehrte augenblicklich um. Von diesem Ereigniss sollte der Hügel seinen jetzigen Namen „der Wartensberg" erhalten haben. Als aber der Ritter entdeckte, dass der Kuhhirte seine Pläne durchkreuzt hatte, liess er den Mann bei lebendigem Leibe langsam in einer grossen eisernen Pfanne braten, und gab dem Unglücklichen, erzählt die Sage weiter, als er in Todesqualen sich wand, noch einen letzten grausamen Stoss mit dem linken Fusse. Bald danach kam der Herzog mit einem Regiment Soldaten, belagerte und stürmte das Schloss, und als Ritter Henning sah, dass an kein Entkommen mehr für ihn zu denken sei, packte er alle seine Schätze in einen grossen Kasten und vergrub denselben dicht neben dem runden Thurme in seinem Garten, dessen Ruinen heute noch zu sehen sind. Dann gab er sich selbst den Tod. Eine lange Reihe flacher Steine auf unserm Kirchhofe sollte des Missethäters Grab bezeichnen, aus dem Jahrhunderte lang sein linkes, mit einem schwarzen Seidenstrumpfe bekleidetes Bein immer wieder herausgewachsen war. Sowol der Küster Prange als auch der Todtengräber Wöllert beschworen hoch und theuer, dass sie als Knaben selbst das Bein abgeschnitten und mit dem Knochen Birnen von den Bäumen abgeschlagen hätten, dass aber im Anfange dieses Jahrhunderts das Bein plötzlich zu wachsen aufgehört habe. Natürlich glaubte ich auch all dies in kindischer Einfalt, ja bat sogar oft genug meinen Vater, dass er das Grab selber öffnen oder auch mir nur erlauben möge, dies zu thun, um endlich sehen zu können, warum das Bein nicht mehr herauswachsen wolle. Einen ungemein tiefen Eindruck auf mein empfängliches Gemüth machte auch ein Thonrelief an einer der Hintermauern des Schlosses, das einen Mann darstellte und nach dem Volksglauben das Bildniss des Henning Bradenkirl war. Keine Farbe wollte auf demselben haften, und so hiess es denn, dass es mit dem Blute des Kuhhirten bedeckt sei, das nicht weggetilgt werden könne. Ein vermauerter Kamin im Saale wurde als die Stelle bezeichnet, wo der Kuhhirte in der eisernen Pfanne gebraten worden war. Trotz aller Bemühungen, die Fugen dieses schrecklichen Kamins verschwinden zu machen, sollten dieselben stets sichtbar geblieben sein — und auch hierin wurde ein Zeichen des Himmels gesehen, dass die teuflische That niemals vergessen werden sollte. Noch einem andern Märchen schenkte ich damals unbedenklich Glauben, wonach Herr von Gundlach, der Besitzer des benachbarten Gutes Rumshagen, einen Hügel neben der Dorfkirche aufgegra-
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ben und darin grosse hölzerne Fässer, die sehr starkes altrömisches Bier enthielten, vorgefunden hatte. Obgleich mein Vater weder Philologe noch Archäologe war, hatte er ein leidenschaftliches Interesse für die Geschichte des Alterthums; oft erzählte er mir mit warmer Begeisterung von dem tragischen Untergange von Herculanum und Pompeji, und schien denjenigen für den glücklichsten Menschen zu halten, der Mittel und Zeit genug hätte, die Ausgrabungen, die dort vorgenommen wurden, zu besuchen. Oft auch erzählte er mir bewundernd die Thaten der Homerischen Helden und die Ereignisse des Trojanischen Krieges, und stets fand er dann in mir einen eifrigen Verfechter der Sache Trojas. Mit Betrübniss vernahm ich von ihm, dass Troja so gänzlich zerstört worden, dass es ohne eine Spur zu hinterlassen vom Erdboden verschwunden sei. Aber als er mir, dem damals beinahe achtjährigen Knaben, zum Weihnachtsfeste 1829 Dr. Georg Ludwig Jerrer's „Weltgeschichte für Kinder" schenkte, und ich in dem Buche eine Abbildung des brennenden Troja fand, mit seinen ungeheuern Mauern und dem Skaiischen Thore, dem fliehenden Aineias, der den Vater Anchises auf dem Rücken trägt und den kleinen Askanios an der Hand führt, da rief ich voller Freude: „Vater, du hast dich geirrt! Jerrer muss Troja gesehen haben, er hätte es ja sonst hier nicht abbilden können." „Mein Sohn", antwortete er, „das ist nur ein erfundenes Bild." Aber auf meine Frage, ob denn das alte Troja einst wirklich so starke Mauern gehabt habe, wie sie auf jenem Bilde dargestellt waren, bejahte er dies. „Vater", sagte ich darauf, „wenn solche Mauern einmal dagewesen sind, so können sie nicht ganz vernichtet sein, sondern sind wol unter dem Staub und Schutt von Jahrhunderten verborgen." Nun behauptete er wol das Gegentheil, aber ich blieb fest bei meiner Ansicht, und endlich kamen wir überein, dass ich dereinst Troja ausgraben sollte. Wes das Herz voll ist, sei es nun Freude oder Schmerz, des gehet der Mund über, und seines Kindes Mund vorzugsweise: so geschah es denn, dass ich meinen Spielkameraden bald von nichts anderem mehr erzählte, als von Troja und den geheimnissvollen wunderbaren Dingen, deren es in unserem Dorf eine solche Fülle gab. Sie verlachten mich alle miteinander, bis auf zwei junge Mädchen, Luise und Minna Meincke, die Töchter eines Gutspächters in Zahren, einem etwa eine viertel Meile von Ankershagen entfernten Dorfe; die erstere war sechs Jahr älter, die zweite aber ebenso alt wie ich. Sie dachten nicht daran, mich zu
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verspotten: im Gegentheil! stets lauschten sie mit gespannter Aufmerksamkeit meinen wunderbaren Erzählungen. Minna war es vorzugsweise, die das grösste Verständniss für mich zeigte, und die bereitwillig und eifrig auf alle meine gewaltigen Zukunftspläne einging. So wuchs eine warme Zuneigung zwischen uns auf, und in kindlicher Einfalt gelobten wir uns bald ewige Liebe und Treue. Im Winter 1829—30 vereinte uns ein gemeinsamer Tanzunterricht abwechselnd in dem Hause meiner kleinen Braut, in unserer Pfarrwohnung oder in dem alten Spukschlosse, das damals von dem Gutspächter Heidt bewohnt wurde, und in dem wir mit lebhaftem Interesse Henning's blutiges Steinbildniss, die verhängnissvollen Fugen des schrecklichen Kamins, die geheimen Gänge in den Mauern und den Zugang zu dem unterirdischen Wege betrachteten. Fand die Tanzstunde in unserem Hause statt, so gingen wir wol auf den Kirchhof vor unserer Thür, um zu sehen, ob noch immer Henning's Fuss nicht wieder aus der Erde wüchse, oder wir staunten mit ehrfürchtiger Bewunderung die alten Kirchenbücher an, die von der Hand Johann Christians und Gottfriederich Heinrichs von Schröder (Vater und Sohn) geschrieben worden waren, die vom Jahre 1709—99 als meines Vaters Amts Vorgänger gewirkt hatten; die ältesten Geburts-, Ehe- und Todtenlisten hatten für uns einen ganz besondern Reiz. Manchmal auch besuchten wir des jüngern Pastors von Schröder Tochter, die, damals vierundachtzig Jahr alt, dicht neben unserm Hause wohnte, um sie über die Vergangenheit des Dorfes zu befragen, oder die Portraits ihrer Vorfahren zu betrachten, von denen dasjenige ihrer Mutter, der im Jahre 1795 verstorbenen Olgartha Christine von Schröder, uns vor allen andern anzog: einmal, weil es uns als ein Meisterwerk der Kunst erschien, dann aber auch, weil es eine gewisse Aehnlichkeit mit Minna zeigte. Nicht selten statteten wir dann auch dem Dorfschneider Wöllert, der einäugig war, nur ein Bein hatte und deshalb allgemein „Peter Hüppert" genannt wurde, einen Besuch ab. Er war ohne jegliche Bildung, hatte aber ein so wunderbares Gedächtniss, dass er, wenn er meinen Vater predigen gehört hatte, die ganze Rede Wort für Wort wiederholen konnte. Dieser Mann, der, wenn ihm der Weg zu Schul- und Universitätsbildung offen gestanden hätte, ohne Zweifel ein bedeutender Gelehrter geworden wäre, war voll Witz und regte unsere Wissbegier im höchsten Maasse durch seinen unerschöpflichen Vorrath von Anekdoten 57
an, die er mit bewundernswerthem oratorischen Geschick zu erzählen verstand. Ich gebe hier nur eine derselben wieder: so erzählte er uns, dass, da er immer gewünscht habe, zu erfahren, wohin die Störche im Winter zögen, er einmal noch bei Lebzeiten des Vorgängers meines Vaters, des Pastors von Russdorf, einen der Störche, die auf unserer Scheune zu bauen pflegten, eingefangen und ihm ein Stück Pergament an den Fuss gebunden habe, auf welches der Küster Prange seinem Wunsche gemäss niedergeschrieben hatte, dass er, der Küster, und Wöllert, der Schneider des Dorfes Ankershagen in Mecklenburg-Schwerin, hierdurch den Eigenthümer des Hauses, auf dem der Storch sein Nest im Winter habe, freundlich ersuchten, ihnen den Namen seines Landes mitzutheilen. Als er im nächsten Frühjahr den Storch wieder einfing, fand sich ein anderes Stück Pergament an dem Fusse des Vogels befestigt, mit folgender in schlechten deutschen Versen abgefassten Antwort: Schwerin Mecklenburg ist uns nicht bekannt, Das Land, wo sich der Storch befand, Nennt sich Sanct Johannes-Land.
Natürlich glaubten wir dies Alles und würden gern Jahre unseres Lebens darum gegeben haben, nur um zu erfahren, wo das geheimnissvolle Sanct Johannes-Land sich befände. Wenn diese und ähnliche Anekdoten unsere Kenntniss der Geographie auch nicht gerade bereichern konnten, so regten sie wenigstens den Wunsch in uns an, dieselbe zu lernen, und erhöhten noch unsere Leidenschaft für alles Geheimnissvolle. Von dem Tanzunterricht hatten weder Minna noch ich den geringsten Nutzen, wir lernten beide nichts: sei es nun, dass uns die natürliche Anlage für diese Kunst fehlte, oder dass wir durch unsere wichtigen archäologischen Studien und unsere Zukunftspläne zu sehr in Anspruch genommen wurden. Es stand zwischen uns schon fest, dass wir, sobald wir erwachsen wären, uns heirathen würden, und dass wir dann unverzüglich alle Geheimnisse von Ankershagen erforschen, die goldene Wiege, die silberne Schale, Henning's ungeheure Schätze und sein Grab, zuletzt aber die Stadt Troja ausgraben wollten; nichts schöneres konnten wir uns vorstellen, als so unser ganzes Leben mit dem Suchen nach den Resten der Vergangenheit zuzubringen. Gott sei es gedankt, dass mich der feste Glaube an das Vorhandensein jenes Troja in allen Wechselfällen meiner ereigniss-
reichen Laufbahn nie verlassen hat! — aber erst im Herbste meines Lebens und dann auch ohne Minna — und weit, weit von ihr entfernt — sollte ich unsere Kinderträume von vor fünfzig Jahren ausführen dürfen. Mein Vater konnte nicht griechisch, aber er war im Lateinischen gut bewandert und benutzte jeden freien Augenblick, auch mich darin zu unterrichten. Als ich kaum neun Jahr alt war, starb meine geliebte Mutter: es war dies ein unersetzlicher Verlust und wol das grösste Unglück, das mich und meine sechs Geschwister treffen konnte. Meiner Mutter Tod fiel noch mit einem andern schweren Misgeschick zusammen, infolge dessen alle unsere Bekannten uns plötzlich den Rücken wandten und den Verkehr mit uns aufgaben. Ich grämte mich nicht sehr um die Uebrigen: aber, dass ich die Familie Meincke nicht mehr sehen, dass ich mich ganz von Minna trennen, sie nie wiedersehen sollte — das war mir tausendmal schmerzlicher als meiner Mutter Tod, den ich dann auch bald in dem überwältigenden Kummer um Minna's Verlust vergass. In meinem späteren Leben habe ich in verschiedenen Theilen der Welt noch mannichfache und grosse Trübsal zu bestehen gehabt, aber nie wieder hat mir ein schweres Geschick auch nur den tausendsten Theil jenes tiefen Schmerzes verursacht, den ich im zarten Alter von neun Jahren bei der Trennung von meiner kleinen Braut empfunden habe. In Thränen gebadet stand ich täglich stundenlang allein vor dem Bilde Olgartha's von Schröder und gedachte voll Trauer der glücklichen Tage, die ich in Minna's Gesellschaft verlebt hatte. Die ganze Zukunft erschien mir finster und trübe, alle geheimnissvollen Wunder von Ankershagen, ja Troja selbst hatte eine Zeitlang keinen Reiz mehr für mich. Mein Vater, dem meine tiefe Niedergeschlagenheit nicht entging, schickte mich nun auf zwei Jahre zu seinem Bruder, dem Prediger Friedrich Schliemann, der die Pfarre des Dorfes Kalkhorst in Mecklenburg inne hatte. Hier wurde mir ein Jahr lang das Glück zutheil, den Candidaten Carl Andres aus Neu-Strelitz zum Lehrer zu haben; unter der Leitung dieses vortrefflichen Philologen machte ich so bedeutende Fortschritte, dass ich schon zu Weihnachten 1832 meinem Vater einen, wenn auch nicht correcten, lateinischen Aufsatz über die Hauptereignisse des Trojanischen Krieges und die Abenteuer des Odysseus und Agamemnon als Geschenk überreichen konnte. Im Alter von elf Jahren kam ich auf das Gymnasium von Neu-Strelitz, wo ich nach Tertia gesetzt 59
wurde. Aber gerade zu jener Zeit traf unsere Familie ein sehr schweres Unglück, und da ich fürchtete, dass meines Vaters Mittel nicht ausreichen würden, um mich noch eine Reihe von Jahren auf dem Gymnasium und dann auf der Universität zu unterhalten, verliess ich ersteres nach drei Monaten schon wieder, um in die Realschule der Stadt überzugehen, wo ich sogleich in die zweite Klasse aufgenommen wurde. Zu Ostern 1835 in die erste Klasse versetzt, verliess ich im Frühjahr 1836, im Alter von 14 Jahren die Anstalt, um in dem Städtchen Fürstenberg in Mecklenburg-Strelitz als Lehrling in den kleinen Krämerladen von Ernst Ludwig Holtz einzutreten. Einige Tage vor meiner Abreise von Neu-Strelitz, am Charfreitag 1836, traf ich in dem Hause des Hofmusikus C. E. Laue zufällig mit Minna Meincke zusammen, die ich seit mehr denn fünf Jahren nicht gesehen hatte. Nie werde ich dieses, das letzte Zusammentreffen, das uns überhaupt werden sollte, je vergessen! Sie war jetzt vierzehn Jahr alt und, seitdem ich sie zuletzt gesehen, sehr gewachsen. Sie war einfach schwarz gekleidet, und gerade diese Einfachheit ihrer Kleidung schien ihre bestrickende Schönheit noch zu erhöhen. Als wir einander in die Augen sahen, brachen wir beide in einen Strom von Thränen aus und fielen, keines Wortes mächtig, einander in die Arme. Mehrmals versuchten wir zu sprechen, aber unsere Aufregung war zu gross; wir konnten kein Wort hervorbringen. Bald jedoch traten Minna's Eltern in das Zimmer, und so mussten wir uns trennen — aber es währte eine geraume Zeit, ehe ich mich von meiner Aufregung wieder erholt hatte. Jetzt war ich sicher, dass Minna mich noch liebte, und dieser Gedanke feuerte meinen Ehrgeiz an: von jenem Augenblick an fühlte ich eine grenzenlose Energie und das feste Vertrauen in mir, dass ich durch unermüdlichen Eifer in der Welt vorwärts kommen und mich Minna's würdig zeigen werde. Das Einzige, was ich damals von Gott erflehte, war, dass sie nicht heirathen möchte, bevor ich mir eine unabhängige Stellung errungen haben würde. Fünf und ein halbes Jahr diente ich in dem kleinen Krämerladen in Fürstenberg: das erste Jahr bei Herrn Holtz und später bei seinem Nachfolger, dem trefflichen Herrn Theodor Hückstädt. Meine Thätigkeit bestand in dem Einzelverkauf von Heringen, Butter, Kartoffelbranntwein, Milch, Salz, Kaffee, Zucker, Oel, Talglichtern u. s. w., in dem Mahlen der Kartoffeln für die Brennerei, in dem Ausfegen des Ladens und ähnlichen Dingen. 60
Unser Geschäft war so unbedeutend, dass unser ganzer Absatz jährlich kaum 3000 Thaler betrug; hielten wir es doch für ein ganz besonderes Glück, wenn wir einmal im Laufe eines Tages für zehn bis fünfzehn Thaler Materialwaaren verkauften. Natürlich kam ich hierbei nur mit den untersten Schichten der Gesellschaft in Berührung. Von fünf Uhr morgens bis elf Uhr abends war ich in dieser Weise beschäftigt, und mir blieb kein freier Augenblick zum Studiren. Ueberdies vergass ich das Wenige, was ich in meiner Kindheit gelernt hatte, nur zu schnell, aber die Liebe zur Wissenschaft verlor ich trotzdem nicht — verlor ich sie doch niemals, — und so wird mir auch, so lange ich lebe, jener Abend unvergesslich bleiben, an dem ein betrunkener Müller, Hermann Niederhöffer, in unsern Laden kam. Er war der Sohn eines protestantischen Predigers in Röbel (Mecklenburg) und hatte seine Studien auf dem Gymnasium von Neu-Ruppin beinahe vollendet, als er wegen schlechten Betragens aus der Anstalt verwiesen wurde. Sein Vater, der nicht gewusst, was mit ihm anfangen, hatte ihn darauf bei dem Pächter Langermann im Dorfe Dambeck in die Lehre gegeben; und da auch hier sein Betragen manches zu wünschen übrig liess, übergab er ihn dem Müller Dettmann in Güstrow als Lehrling; hier blieb er zwei Jahre und wanderte danach als Müllergesell. Mit seinem Schicksal unzufrieden, hatte der junge Mann leider schon bald sich dem Trünke ergeben, dabei jedoch seinen Homer nicht vergessen; denn an dem oben erwähnten Abend recitirte er uns nicht weniger als hundert Verse dieses Dichters und scandirte sie mit vollem Pathos. Obgleich ich kein Wort davon verstand, machte doch die melodische Sprache den tiefsten Eindruck auf mich, und heisse Thränen entlockte sie mir über mein unglückliches Geschick. Dreimal musste er mir die göttlichen Verse wiederholen, und ich bezahlte ihn dafür mit drei Gläsern Branntwein, für die ich die wenigen Pfennige, die gerade mein ganzes Vermögen ausmachten, gern hingab. Von jenem Augenblick an hörte ich nicht auf, Gott zu bitten, dass er in seiner Gnade mir das Glück gewähren möge, einmal Griechisch lernen zu dürfen. Doch schien sich mir nirgends ein Ausweg aus der traurigen und niedrigen Stellung eröffnen zu wollen, bis ich plötzlich wie durch ein Wunder aus derselben befreit wurde. Durch Aufheben eines zu schweren Fasses zog ich mir eine Verletzung der Brust zu — ich warf Blut aus und war nicht mehr im Stande, meine Arbeit zu verrichten. In meiner Verzweiflung ging ich zu Fuss
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nach Hamburg, wo es mir auch gelang, eine Anstellung mit einem jährlichen Gehalt von 180 Mark zu erhalten: zuerst in dem Materialwaarenladen von Lindemann junior am Fischmarkte in Altona; danach in dem von E. L. Deycke junior, an der Ecke der Mühren und Matten-Twiete in Hamburg. Da ich aber wegen meines Blutspeiens und der heftigen Brustschmerzen keine schwere Arbeit thun konnte, fanden mich meine Principale bald nutzlos, und so verlor ich jede Stellung wieder, wenn ich sie kaum acht Tage innegehabt hatte. Ich sah wol ein, dass ich einen derartigen Dienst nicht mehr versehen konnte, und von der Noth gezwungen, mir durch irgendwelche, wenn auch die niedrigste Arbeit mein tägliches Brot zu verdienen, versuchte ich es, eine Stelle an Bord eines Schiffes zu erhalten; auf die Empfehlung des gutherzigen Schiffsmaklers J . F. Wendt hin, der, aus Sternberg in Mecklenburg gebürtig, mit meiner verstorbenen Mutter aufgewachsen war, glückte es mir, als Kajütenjunge an Bord der kleinen Brigg „Dorothea" angenommen zu werden; das Schiff, das den Kaufleuten Wachsmuth und Kroogmann in Hamburg gehörte, wurde von dem Kapitän Simonsen geführt und war nach La Guayra in Venezuela bestimmt. Ich war immer schon arm gewesen, aber doch noch nie so gänzlich mittellos wie gerade zu jener Zeit: musste ich doch meinen einzigen Rock verkaufen, um mir eine wollene Decke anschaffen zu können! Am 28. November 1841 verliessen wir Hamburg mit gutem Winde; nach wenigen Stunden jedoch schlug derselbe um, und wir mussten drei volle Tage in der Elbe unweit Blankenese liegen bleiben. Erst am 1. December trat wieder günstiger Wind ein: wir passirten Cuxhaven und kamen in die offene See, waren aber kaum auf der Höhe von Helgoland angelangt, als der Wind wieder nach Westen umsprang und bis zum 12. December fortdauernd westlich blieb. Wir lavirten unaufhörlich, kamen aber wenig oder gar nicht vorwärts, bis wir in der Nacht vom 1 x. zum 12. December bei einem furchtbaren Sturme auf der Höhe der Insel Texel an der Bank, die den Namen: „de Eilandsche Grond" führt, Schiffbruch litten. Nach zahllosen Gefahren und nachdem wir neun Stunden lang in einem sehr kleinen offenen Boote von der Wuth des Windes und der Wellen umhergetrieben waren, wurde unsere ganze aus neun Personen bestehende Mannschaft doch schliesslich gerettet. Mit grösstem Danke gegen Gott werde ich stets des freudigen Augenblickes gedenken, da unser Boot von der Brandung auf eine Sandbank unweit der Küste von 62
Texel geschleudert wurde, und nun alle Gefahr endlich vorüber war. Welche Küste es war, an die wir geworfen worden, wusste ich nicht — wol aber, dass wir uns in einem „fremden Lande" befanden. Mir war, als flüsterte mir eine Stimme dort auf der Sandbank zu, dass jetzt die Flut in meinen irdischen Angelegenheiten eingetreten sei und dass ich ihren Strom benutzen müsse. Und noch derselbe Tag bestätigte mir diesen frohen Glauben; denn während der Kapitän und meine Gefährten ihren ganzen Besitz bei dem Schiffbruch eingebüsst hatten, wurde mein kleiner Koffer, der einige Hemden und Strümpfe sowie mein Taschenbuch und einige mir von Herrn Wendt verschaffte Empfehlungsbriefe nach La Guayra enthielt, unversehrt auf dem Meere schwimmend gefunden und herausgezogen. Infolge dieses sonderbaren Zufalls erhielt ich den Beinamen „Jonas", bei dem ich, solange wir auf Texel blieben, genannt wurde. Von den Consuln Sonderdorp und Ram wurden wir hier auf das freundlichste aufgenommen, aber als dieselben mir den Vorschlag machten, mich mit der übrigen Mannschaft über Harlingen nach Hamburg zurückzuschicken, lehnte ich es entschieden ab, wieder nach Deutschland zu gehen, wo ich so namenlos unglücklich gewesen war, und erklärte ihnen, dass ich es für meine Bestimmung hielte, in Holland zu bleiben, und dass ich die Absicht hätte, nach Amsterdam zu gehen, um mich als Soldat anwerben zu lassen; denn ich war ja vollständig mittellos und sah für den Augenblick wenigstens keine andere Möglichkeit vor mir, meinen Unterhalt zu erwerben. So bezahlten denn die Consuln Sonderdorp und Ram, auf mein dringendes Bitten, zwei Gulden (etwa 3,5 M.) für meine Ueberfahrt nach Amsterdam. Da der Wind jetzt ganz nach Süden herumgegangen war, musste das kleine Schiff, auf welchem ich befördert wurde, einen Tag in der Stadt Enkhuyzen verweilen, und so brauchten wir nicht weniger als drei Tage, um die holländische Hauptstadt zu erreichen. Infolge meiner mangelhaften und ganz unzureichenden Kleidung hatte ich auf der Ueberfahrt sehr zu leiden, und auch in Amsterdam wollte das Glück mir zuerst nicht lächeln. Der Winter hatte begonnen, ich hatte keinen Rock und litt furchtbar unter der Kälte. Meine Absicht, als Soldat einzutreten, konnte nicht so schnell, wie ich gedacht hatte, ausgeführt werden, und die wenigen Gulden, die ich auf der Insel Texel und in Enkhuyzen als Almosen gesammelt, waren bald mit den zwei Gulden, die ich von dem mecklenburgischen Consul in Amsterdam, Herrn Quack, erhalten hatte, in dem Wirthshause 63
der Frau Graalman in der Ramskoy von Amsterdam verzehrt, wo ich mein Quartier aufschlug. Als meine geringen Mittel gänzlich erschöpft waren, fingirte ich Krankheit und wurde demgemäss in das Hospital aufgenommen. Aus dieser schrecklichen Lage aber befreite mich wieder der schon oben erwähnte freundliche Schiffsmakler, J . F. Wendt aus Hamburg, dem ich vom Texel aus geschrieben hatte, um ihm Nachricht von unserm Schiffbruch zu geben und ihm zugleich mitzutheilen, dass ich nun mein Glück in Amsterdam zu versuchen gedächte. Ein glücklicher Zufall hatte es gewollt, dass mein Brief ihm gerade überbracht wurde, als er mit einer Anzahl seiner Freunde bei einem festlichen Mahle sass. Der Bericht über das neue Misgeschick, das mich betroffen, hatte die allgemeine Theilnahme erregt, und eine sogleich von ihm veranstaltete Sammlung die Summe von 240 Gulden ergeben, die er mir nun durch Consul Quack übersandte. Zugleich empfahl er mich auch dem trefflichen preussischen Generalconsul, Herrn W. Hepner in Amsterdam, der mir bald in dem Comptoir von F. C. Quien eine Anstellung verschaffte. In meiner neuen Stellung war meine Beschäftigung, Wechsel stempeln zu lassen und sie in der Stadt einzucassiren, Briefe nach der Post zu tragen und von dort zu holen. Diese mechanische Beschäftigung war mir sehr genehm, da sie mir ausreichende Zeit liess, an meine vernachlässigte Bildung zu denken. Zunächst bemühte ich mich, mir eine leserliche Handschrift anzueignen, und in 20 Stunden, die ich bei dem berühmten brüsseler Kalligraphen Magnée nahm, glückte mir dies auch vollständig; darauf ging ich, um meine Stellung zu verbessern, eifrig an das Studium der modernen Sprachen. Mein Jahresgehalt betrug nur 800 Francs, wovon ich die Hälfte für meine Studien ausgab — mit der andern Hälfte bestritt ich meinen Lebensunterhalt, und zwar kümmerlich genug. Meine Wohnung, für die ich monatlich 8 Francs bezahlte, war eine elende unheizbare Dachstube, in der ich im Winter vor Frost zitterte, im Sommer aber unter der glühendsten Hitze zu leiden hatte. Mein Frühstück bestand aus Roggenmehlbrei, das Mittagessen kostete mir nie mehr als 16 Pfennig. Aber nichts spornt mehr zum Studiren an als das Elend und die gewisse Aussicht, sich durch angestrengte Arbeit daraus befreien zu können. Dazu kam für mich noch der Wunsch, mich Minna's würdig zu zeigen, der einen unbesiegbaren Muth in mir erweckte und entwickelte. So warf ich mich denn mit besonderem Fleisse auf das Studium des Englischen und hierbei liess mich die
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Noth eine Methode ausfindig machen, welche die Erlernung jeder Sprache bedeutend erleichtert. Diese einfache Methode besteht zunächst darin, dass man sehr viel laut liest, keine Uebersetzungen macht, täglich eine Stunde nimmt, immer Ausarbeitungen über uns interessirende Gegenstände niederschreibt, diese unter der Aufsicht des Lehrers verbessert, auswendig lernt und in der nächsten Stunde aufsagt, was man am Tage vorher corrigirt hat. Mein Gedächtnis s war, da ich es seit der Kindheit gar nicht geübt hatte, schwach, doch benutzte ich jeden Augenblick und stahl sogar Zeit zum Lernen. Um mir sobald als möglich eine gute Aussprache anzueignen, besuchte ich Sonntags regelmässig zweimal den Gottesdienst in der englischen Kirche und sprach bei dem Anhören der Predigt jedes Wort derselben leise für mich nach. Bei allen meinen Botengängen trug ich, selbst wenn es regnete, ein Buch in der Hand, aus dem ich etwas auswendig lernte; auf dem Postamte wartete ich nie, ohne zu lesen. So stärkte ich allmählich mein Gedächtniss und konnte schon nach drei Monaten meinen Lehrern, Mr. Taylor und Mr. Thompson, mit Leichtigkeit alle Tage in jeder Unterrichtsstunde zwanzig gedruckte Seiten englischer Prosa wörtlich hersagen, wenn ich dieselben vorher dreimal aufmerksam durchgelesen hatte. Auf diese Weise lernte ich den ganzen „Vicar of Wakefield" von Goldsmith und Walter Scott's „Ivanhoe" auswendig. Vor übergrosser Aufregung schlief ich nur wenig und brachte alle meine wachen Stunden der Nacht damit zu, das am Abend Gelesene noch einmal in Gedanken zu wiederholen. Da das G e d ä c h t n i s s bei Nacht v i e l conc e n t r i r t e r i s t , als bei T a g e , f a n d ich auch diese n ä c h t l i c h e n W i e d e r h o l u n g e n von g r ö s s t e m N u t z e n ; ich e m p f e h l e dies V e r f a h r e n J e d e r m a n n . So gelang es mir, in Zeit von einem halben Jahre mir eine gründliche Kenntniss der englischen Sprache anzueignen. Dieselbe Methode wendete ich danach bei dem Studium der französischen Sprache an, die ich in den folgenden sechs Monaten bemeisterte. Von französischen Werken lernte ich Fénelon's „Aventures de Télémaque" und „Paul et Virginie" von Bernardin de Saint-Pierre auswendig. Durch diese anhaltenden übermässigen Studien stärkte sich mein Gedächtniss im Laufe eines Jahres dermassen, dass mir die Erlernung des Holländischen, Spanischen, Italienischen und Portugiesisschen ausserordentlich leicht wurde, und ich nicht mehr als sechs Wochen gebrauchte, um jede dieser Sprachen fliessend sprechen und schreiben zu können.
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Hatte ich es nun dem vielen Lesen mit lauter Stimme zu danken oder dem wohlthätigen Einflüsse der feuchten Luft Hollands, ich weiss es nicht: genug, mein Brustleiden verlor sich schon im ersten Jahre meines Aufenthaltes in Amsterdam und ist auch später nicht wiedergekommen. Aber meine Leidenschaft für das Studium Hess mich meine mechanische Beschäftigung als Bureaudiener bei F. C. Quien vernachlässigen, besonders als ich anfing, sie als meiner unwürdig anzusehen. Meine Vorgesetzten wollten mich indess nicht befördern; dachten sie doch wahrscheinlich, dass jemand, der sich im Amte eines Comptoirdieners untauglich erwies, für irgend einen höhern Posten ganz unbrauchbar sein müsse. Endlich, am i. März 1844, glückte es mir, durch die Verwendung meiner Freunde Louis Stoll in Mannheim und J . H. Ballauf in Bremen, eine Stellung als Correspondent und Buchhalter in dem Comptoir der Herren B. H. Schröder & Co. in Amsterdam zu erhalten; hier wurde ich zuerst mit einem Gehalt von 1 200 Francs engagirt, als aber meine Principale meinen Eifer sahen, gewährten sie mir noch eine jährliche Zulage von 800 Francs als weitere Aufmunterung. Diese Freigebigkeit, für welche ich ihnen stets dankbar bleiben werde, sollte denn in der That auch mein Glück begründen ; denn da ich glaubte durch die Kenntniss des Russischen mich noch nützlicher machen zu können, fing ich an, auch diese Sprache zu studieren. Die einzigen russischen Bücher, die ich mir verschaffen konnte, waren eine alte Grammatik, ein Lexikon und eine schlechte Uebersetzung der „Aventures de Telemaque". Trotz aller meiner Bemühungen aber wollte es mir nicht gelingen, einen Lehrer des Russischen aufzufinden; denn ausser dem russischen Viceconsul, Herrn Tannenberg, der mir keinen Unterricht geben wollte, befand sich damals niemand in Amsterdam, der ein Wort von dieser Sprache verstanden hätte. So fing ich denn mein neues Studium ohne Lehrer an, und hatte auch in wenigen Tagen, mit Hülfe der Grammatik, mir schon die russischen Buchstaben und ihre Aussprache eingeprägt. Dann nahm ich meine alte Methode wieder auf, verfasste kurze Aufsätze und Geschichten und lernte dieselben auswendig. Da ich niemand hatte, der meine Arbeiten verbesserte, waren sie ohne Zweifel herzlich schlecht; doch bemühte ich mich, meine Fehler durch praktische Uebungen vermeiden zu lernen, indem ich die russische Uebersetzung der „Aventures de Telemaque" auswendig lernte. Es kam mir vor, als ob ich schnellere Fortschritte machen würde, wenn ich jemand 66
bei mir hätte, dem ich die Abenteuer Telemachs erzählen könnte: so engagirte ich einen armen Juden, der für vier Francs pro Woche allabendlich zwei Stunden zu mir kommen und meine russischen Declamationen anhören musste, von denen er keine Silbe verstand. Da die Zimmerdecken in den gewöhnlichen holländischen Häusern meist nur aus einfachen Bretern bestehen, so kann man im Erdgeschoss oft alles vernehmen, was im dritten Stock gesprochen wird. Mein lautes Recitiren wurde deshalb bald den andern Miethern lästig, sie beklagten sich bei dem Hauswirthe, und so kam es, dass ich in der Zeit meiner russischen Studien zweimal die Wohnung wechseln musste. Aber alle diese Unbequemlichkeiten vermochten meinen Eifer nicht zu vermindern, und nach sechs Wochen schon konnte ich meinen ersten russischen Brief an Wassili Plotnikow schreiben, den Londoner Agenten der grossen Indigohändler Gebrüder M. P. N. Malutin in Moskau; auch war ich im Stande, mich mit ihm und den russischen Kaufleuten Matwejew und Frolow, die zu den Indigoauctionen nach Amsterdam kamen, fliessend in ihrer Muttersprache zu unterhalten. Als ich mein Studium des Russischen vollendet hatte, begann ich mich ernstlich mit der Literatur der von mir erlernten Sprachen zu beschäftigen. Im Januar 1846 schickten mich meine vortrefflichen Principale als ihren Agenten nach St. Petersburg, und hier sowol als auch in Moskau wurden schon in den ersten Monaten meine Bemühungen von einem Erfolge gekrönt, der meiner Chefs und meine eignen grössten Hoffnungen noch weit übertraf. Kaum hatte ich in dieser meiner neuen Stellung mich dem Hause B. H. Schröder & Co. unentbehrlich gemacht und mir dadurch eine ganz unabhängige Lage geschaffen, als ich unverzüglich an den oben erwähnten Freund der Familie Meincke, C. E. Laue in Neu-Strelitz, schrieb, ihm alle meine Erlebnisse schilderte und ihn bat, sogleich in meinem Namen um Minna's Hand anzuhalten. Wie gross war aber mein Entsetzen, als ich nach einem Monat die betrübende Antwort erhielt, dass sie vor wenigen Tagen eine andere Ehe geschlossen habe. Diese Enttäuschung erschien mir damals als das schwerste Schicksal, das mich überhaupt treffen konnte: ich fühlte mich vollständig unfähig zu irgendwelcher Beschäftigung und lag krank darnieder. Unaufhörlich rief ich mir alles, was sich zwischen Minna und mir in unserer ersten Kindheit begeben 5
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hatte, ins Gedächtniss zurück, alle unsere süssen Träume und grossartigen Pläne, zu deren Ausführung ich jetzt eine so glänzende Möglichkeit vor mir sah; aber wie sollte ich nun daran denken, sie ohne Minna's Theilnahme auszuführen? Dann machte ich mir auch wol die bittersten Vorwürfe, dass ich nicht schon, ehe ich mich nach Petersburg begab, um ihre Hand angehalten hatte, — aber immer wieder musste ich mir selber sagen, dass ich mich dadurch nur lächerlich gemacht haben würde; war ich doch in Amsterdam nur Commis, in einer durchaus unselbständigen und von der Laune meiner Principale abhängigen Stellung gewesen, und hatte ich doch überdies keinerlei Gewähr gehabt, dass es mir in Petersburg glücken würde, wo statt des Erfolges ja auch gänzliches Mislingen meiner warten konnte. Es schien mir ebenso unmöglich, dass Minna an der Seite eines andern Mannes glücklich werden, wie dass ich jemals eine andere Gattin heimführen würde. Warum musste das grausame Schicksal sie mir gerade jetzt entreissen, wo ich, nachdem ich sechzehn Jahre lang nach ihrem Besitze gestrebt, endlich geglaubt hatte, sie errungen zu haben? Es war uns beiden in Wahrheit so ergangen, wie es uns so oft im Traume zu ergehen pflegt: wir wähnen jemand rastlos zu verfolgen, und sobald wir glauben, ihn erreicht zu haben, entschlüpft er uns immer von neuem. Wol dachte ich damals, dass ich den Schmerz über Minna's Verlust nie würde verwinden können; aber die Zeit, die alle Wunden heilt, übte endlich ihren wohlthätigen Einfluss auch auf mein Gemüth, und wenn ich auch jahrelang noch um die Verlorene trauerte, konnte ich doch allmählich meiner kaufmännischen Thätigkeit wieder ohne Unterbrechung obliegen. Schon im ersten Jahre meines Aufenthalts in Petersburg war ich bei meinen Geschäften so vom Glück begünstigt gewesen, dass ich bereits zu Anfang des Jahres 1847 in die Gilde als Grosshändler mich einschreiben Hess. Neben dieser meiner neuen Thätigkeit blieb ich in unveränderter Beziehung zu den Herren B. H. Schröder & Co. in Amsterdam, deren Agentur ich fast elf Jahre lang behielt. Da ich in Amsterdam eine gründliche Kenntniss von Indigo erlangt hatte, beschränkte ich meinen Handel fast ausschliesslich auf diesen Artikel, und so lange mein Vermögen noch nicht 200000 Francs erreichte, gab ich nur Firmen von bewährtestem Rufe überhaupt Credit. So musste ich mich freilich zuerst mit kleinem Gewinne begnügen, riskirte aber auch nichts. Da ich lange nichts von meinem Bruder Ludwig Schliemann 68
gehört hatte, der im Beginn des Jahres 1849 n a c h Californien ausgewandert war, so begab ich mich im Frühjahr 1850 dorthin und erfuhr, dass er verstorben war. Ich befand mich noch in Californien, als dasselbe am 4. Juli 1850 zum Staate erhoben wurde, und da alle an jenem Tage im Lande Verweilenden ipso facto naturalisirte Amerikaner wurden, so wurde auch ich Bürger der Vereinigten Staaten. Gegen Ende des Jahres 1852 etablirte ich in Moskau eine Filiale für den Engrosverkauf von Indigo zuerst unter der Leitung meines vortrefflichen Agenten, Alexei Matwejew, nach dessen Tode aber unter der seines Dieners Jutschenko, den ich zum Range eines Kaufmanns der zweiten Gilde erhob; denn aus einem geschickten Diener kann ja leicht ein guter Director werden, wenn auch aus einem Director nie ein brauchbarer Diener wird. Da ich in Petersburg immer mit Arbeit überhäuft war, konnte ich meine Sprachstudien nicht weiter betreiben, und so fand ich erst im Jahre 1854 ausreichende Zeit, mir die schwedische und polnische Sprache anzueignen. Die göttliche Vorsehung beschützte mich oft in der wunderbarsten Weise, und mehr als einmal wurde ich nur durch einen Zufall vom gewissen Untergange gerettet. Mein ganzes Leben lang wird mir der Morgen des 4. October 1854 in der Erinnerung bleiben. Es war in der Zeit des Krimkrieges. Da die russischen Häfen blockirt waren, mussten alle für Petersburg bestimmten Waaren nach den preussischen Häfen von Königsberg und Memel verschifft und von dort zu Lande weiter befördert werden. So waren denn auch mehrere hundert Kisten Indigo und eine grosse Partie anderer Waaren von den Herren J. Henry Schröder & Co. in London und B. H. Schröder & Co. in Amsterdam für meine Rechnung auf zwei Dampfern an meine Agenten, die Herren Meyer & Co., in Memel abgesandt worden, um von dort zu Lande nach Petersburg transportiert zu werden. Ich hatte den Indigoauctionen in Amsterdam beigewohnt und befand mich nun auf dem Wege nach Memel, um dort nach der Expedition meiner Waaren zu sehen. Spät am Abend des 3. October im Hotel de Prusse in Königsberg angekommen, sah ich am folgenden Morgen, bei einem zufälligen Blick aus dem Fenster meines Schlafzimmers, auf dem Thurme des nahen „Grünen Thores" folgende ominöse Inschrift in grossen vergoldeten Lettern mir entgegenleuchten : Vultus fortunae variatur imagine lunae: Crescit, decrescit, constans persistere nescit.
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Ich war nicht abergläubisch, aber doch machte diese Inschrift einen tiefen Eindruck auf mich, und eine zitternde Furcht, wie vor einem nahen unbekannten Misgeschick bemächtigte sich meiner. Als ich meine Reise mit der Post fortsetzte, vernahm ich auf der ersten Station hinter Tilsit zu meinem Entsetzen, dass die Stadt Memel am vorhergegangenen Tage von einer furchtbaren Feuersbrunst eingeäschert worden sei, und vor der Stadt angekommen, sah ich die Nachricht in der traurigsten Weise bestätigt. Wie ein ungeheurer Kirchhof, auf dem die rauchgeschwärzten Mauern und Schornsteine wie grosse Grabsteine, wie finstere Wahrzeichen der Vergänglichkeit alles Irdischen sich erhoben, lag die Stadt vor unsern Blicken. Halbverzweifelt suchte ich zwischen den rauchenden Trümmerhaufen nach Herrn Meyer. Endlich gelang es mir, ihn aufzufinden — aber auf meine Frage, ob meine Güter gerettet wären, wies er statt aller Antwort auf seine noch glimmenden Speicher und sagte: „Dort liegen sie begraben." Der Schlag war sehr hart: durch die angestrengte Arbeit von acht und einem halben Jahre hatte ich mir in Petersburg ein Vermögen von 150000 Thalern erworben — und nun sollte dies ganz verloren sein. Es währte indessen nicht lange, so hatte ich mich auch mit diesem Gedanken vertraut gemacht, und gerade die Gewissheit meines Ruins gab mir meine Geistesgegenwart wieder. Das Bewusstsein, niemandem etwas schuldig zu sein, war mir eine grosse Beruhigung; der Krimkrieg hatte nämlich erst vor kurzem begonnen, die Handelsverhältnisse waren noch sehr unsicher, und ich hatte infolge dessen nur gegen baar gekauft. Ich durfte wol erwarten, dass die Herren Schröder in London und Amsterdam mir Credit gewähren würden, und so hatte ich die beste Zuversicht, dass es mir mit der Zeit gelingen werde, das Verlorene wieder zu ersetzen. Es war noch am Abend des nämlichen Tages: ich stand im Begriffe, meine Weiterreise nach Petersburg mit der Post anzutreten, und erzählte eben den übrigen Passagieren von meinem Missgeschick, da fragte plötzlich einer der Umstehenden nach meinem Namen, und rief, als er denselben vernommen hatte, aus: „Schliemann ist ja der Einzige, der nichts verloren hatl Ich bin der erste Commis bei Meyer & Co. Unser Speicher war schon übervoll, als die Dampfer mit Schliemann's Waaren anlangten, und so mussten wir dicht daneben noch einen hölzernen Schuppen bauen, in dem sein ganzes Eigenthum unversehrt geblieben ist." Der plötzliche Uebergang von schwerem 70
Kummer zu grosser Freude ist nicht leicht ohne Thränen zu ertragen: ich stand einige Minuten sprachlos; schien es mir doch wie ein Traum, wie ganz unglaublich, dass ich allein aus dem allgemeinen Ruin unbeschädigt hervorgegangen sein sollte! Und doch war dem so; und das wunderbarste dabei, dass das Feuer in dem massiven Speicher von Meyer & Co., auf der nördlichen Seite der Stadt ausgekommen war, von wo es bei einem heftigen, orkanartigen Nordwind sich schnell über die ganze Stadt verbreitet hatte; dieser Sturm war denn auch die Rettung für den hölzernen Schuppen gewesen, der, nur ein paar Schritt nördlich von dem Speicher gelegen, ganz unversehrt geblieben war. Meine glücklich verschont gebliebenen Waaren verkaufte ich nun äusserst vortheilhaft, liess dann den Ertrag wieder und immer wieder arbeiten, machte grosse Geschäfte in Indigo, Farbehölzern und Kriegsmaterialien (Salpeter, Schwefel und Blei), und konnte so, da die Kapitalisten Scheu trugen, sich während des Krimkrieges auf grössere Unternehmungen einzulassen, beträchtliche Gewinne erzielen und im Laufe eines Jahres mein Vermögen mehr als verdoppeln. Wesentlich wurde ich in meinen Operationen während des Krimkrieges durch die grosse Umsicht und Geschicklichkeit meines Agenten und lieben Freundes IsidorLichtenstein, des altern Theilhabers des geachteten Hauses Marcus Cohn & Sohn in Königsberg, und seines jüngern Compagnons Herrn Ludwig Leo unterstützt, welche mir meine Transitogüter, die infolge der Zerstörung Memels alle über Königsberg gingen, mit einer wirklich wunderbaren Promptheit expedirten. Ich hatte immer sehnlichst gewünscht, Griechisch lernen zu können; vor dem Krimkriege aber war es mir nicht rathsam erschienen, mich auf dieses Studium einzulassen; denn ich musste fürchten, dass der mächtige Zauber der herrlichen Sprache mich zu sehr in Anspruch nehmen und meinen kaufmännischen Interessen entfremden möchte. Während des Krieges aber war ich mit Geschäften dermassen überbürdet, dass ich nicht einmal dazu kommen konnte, eine Zeitung, geschweige denn ein Buch zu lesen. Als aber im Januar 1856 die ersten Friedensnachrichten in Petersburg eintrafen, vermochte ich meinen Wunsch nicht länger zu unterdrücken und begab mich unverzüglich mit grösstem Eifer an das neue Studium; mein erster Lehrer war Herr Nikolaos Pappadakes, der zweite Herr Theokletos Vimpos, beide aus Athen, wo der letztere heute Erzbischof ist. Wieder befolgte ich getreulich meine alte Methode, und um mir in kurzer Zeit den 71
Wortschatz anzueignen, was mir noch schwieriger vorkam als bei der russischen Sprache, verschaffte ich mir eine neugriechische Uebersetzung von „Paul et Virginie" und las dieselbe durch, wobei ich dann aufmerksam jedes Wort mit dem gleichbedeutenden des französischen Originals verglich. Nach einmaligem Durchlesen hatte ich wenigstens die Hälfte der in dem Buche vorkommenden Wörter inne, und nach einer Wiederholung dieses Verfahrens hatte ich sie beinahe alle gelernt, ohne dabei auch nur eine Minute mit Nachschlagen in einem Wörterbuche verloren zu haben. So gelang es mir in der kurzen Zeit von sechs Wochen die Schwierigkeiten des Neugriechischen zu bemeistern; danach aber nahm ich das Studium der alten Sprache vor, von der ich in drei Monaten eine genügende Kenntniss erlangte, um einige der alten Schriftsteller und besonders den Homer verstehen zu können, den ich mit grösster Begeisterung immer und immer wieder las. Nun beschäftigte ich mich zwei Jahre lang ausschliesslich mit der altgriechischen Literatur, und zwar las ich während dieser Zeit beinahe alle alten Classiker cursorisch durch, die Ilias und Odyssee aber mehrmals. Von griechischer Grammatik lernte ich nur die Declinationen und die regelmässigen und unregelmässigen Verba, mit dem Studium der grammatischen Regeln aber verlor ich auch keinen Augenblick meiner kostbaren Zeit. Denn da ich sah, dass kein einziger von all den Knaben, die in den Gymnasien acht Jahre hindurch, ja oft noch länger, mit langweiligen grammatischen Regeln gequält und geplagt werden, später im Stande ist, einen griechischen Brief zu schreiben, ohne darin hunderte der gröbsten Fehler zu machen, musste ich wol annehmen, dass die in den Schulen befolgte Methode eine durchaus falsche war; meiner Meinung nach kann man sich eine gründliche Kenntniss der griechischen Grammatik nur durch die Praxis aneignen, d. h. durch aufmerksames Lesen classischer Prosa und durch Auswendiglernen von Musterstücken aus derselben. Indem ich diese höchst einfache Methode befolgte, lernte ich das Altgriechische wie eine lebende Sprache. So schreibe ich es denn auch vollständig fliessend und drücke mich ohne Schwierigkeit darin über jeden beliebigen Gegenstand aus, ohne die Sprache je zu vergessen. Mit allen Regeln der Grammatik bin ich vollkommen vertraut, wenn ich auch nicht weiss, ob sie in den Grammatiken verzeichnet stehen oder nicht. Und kommt es vor, dass jemand in meinen griechischen Schriften Fehler entdecken will, so kann 72
ich jedesmal den Beweis für die Richtigkeit meiner Ausdrucksweise dadurch erbringen, dass ich ihm diejenigen Stellen aus den Classikem recitire, in denen die von mir gebrauchten Wendungen vorkommen. Unterdessen nahmen meine kaufmännischen Geschäfte in Petersburg und Moskau einen stets günstigen Fortgang. Ich war als Kaufmann ungemein vorsichtig; und obgleich ich bei dem schrecklichen Krach der furchtbaren Handelskrisis des Jahres 1857 auch von einigen harten Schlägen betroffen wurde, so thaten mir dieselben doch keinen erheblichen Schaden, und selbst jenes unglückliche Jahr brachte mir schliesslich noch einigen Gewinn. Im Sommer 1858 nahm ich mit meinem verehrten Freunde Professor Ludwig von Muralt in Petersburg meine Studien der lateinischen Sprache wieder auf, die fast 25 Jahre lang geruht hatten. Jetzt, wo ich Neu- und Altgriechisch konnte, machte mir das Lateinische wenig Mühe und ich hatte es mir bald angeeignet. So möchte ich denn für Gegenwart und Zukunft allen Directoren von Gymnasien dringend empfehlen, die von mir befolgte Methode in ihren Anstalten einzuführen, die Kinder zuerst von Lehrern, die geborene Griechen sind, im Neugriechischen unterrichten und sie Altgriechisch erst anfangen zu lassen, wenn sie die moderne Sprache geläufig sprechen und schreiben können, was in ungefähr sechs Monaten erreichbar sein wird. Dieselben Lehrer können dann auch den Unterricht in der alten Sprache ertheilen; wenn sie meine Methode befolgen, werden sie intelligente Knaben schon in einem Jahre dahin bringen, alle Schwierigkeiten bewältigt, das Altgriechische wie eine lebende Sprache erlernt zu haben, alle Classiker verstehen und sich mit Leichtigkeit schriftlich über jedes in ihrem Bereich liegende Thema ausdrücken zu können. Ich verfechte hier nicht leere Theorien, sondern vertheidige unwiderlegliche Thatsachen; und deshalb verdiene ich wol, gehört zu werden. Für ein schreiendes Unrecht erkläre ich es, dass man heute noch Knaben acht lange Jahre hindurch mit dem Studium einer Sprache plagt, von der sie beim Verlassen der Schule im allgemeinen kaum mehr wissen als am Anfang. Was speciell die englischen Anstalten betrifft, so ist bei ihnen der Hauptgrund des Uebels zunächst in der willkürlich angenommenen abscheulichen englischen Aussprache des Griechischen zu suchen, dann aber in der grundfalschen Methode, nach welcher die Schüler alle Accente als ganz überflüssig, ja als blosses Hinderniss zu betrachten lernen, während dieselben doch gerade eins der wesentlichsten 73
Hülfsmittel bei der Erlernung der Sprache darbieten. Man denke, von wie vortheilhaftem Einfluss auf die allgemeine Bildung, wie fördernd für alles wissenschaftliche Streben es sein müsste, wenn fähige Knaben in 18 Monaten sich eine gründliche Kenntniss der neugriechischen sowol als auch der von Homer und Platen gesprochenen schönen, göttlichen, wohlklingenden altgriechischen Sprache aneignen könnten, die sie wie eine lebende Sprache erlernen und somit nicht wieder vergessen würden! Und wie leicht und mit wie geringen Kosten würde eine dahin 2ielende Umänderung der Schulanstalten sich bewerkstelligen lassen! Gibt es doch in Griechenland einen Ueberfluss an hochgebildeten, studirten Männern, die ausser ihrer Muttersprache auch der Sprache ihrer Vorfahren vollkommen mächtig, daneben mit der ganzen classischen Literatur wohl vertraut sind, und die gern und unter massigen Bedingungen derartige Stellungen im Auslande annehmen würden. Wie sehr die Kenntniss des Neugriechischen dem Schüler das Erlernen der alten Sprache erleichtert, wird wol am besten durch eine Thatsache bewiesen, die ich selber mehr als einmal in Athen zu beobachten Gelegenheit gehabt habe; dass nämlich Handlungsgehülfen, die, des Kaufmannsstandes überdrüssig, den Laden mit der Studirstube vertauscht hatten, schon in Zeit von vier Monaten im Stande waren, den Homer und selbst den Thukydides zu lesen. Was die lateinische Sprache anbetrifft, so sollte dieselbe meiner Meinung nach nicht vor, sondern immer erst nach der griechischen gelehrt werden. Im Jahre 1858 schien mir mein erworbenes Vermögen gross genug, und ich wünschte mich deshalb gänzlich vom Geschäft zurückzuziehen. Ich reiste zunächst nach Schweden, Dänemark, Deutschland, Italien und Aegypten, wo ich den Nil bis zu den zweiten Katarakten in Nubien hinauffuhr. Hierbei benutzte ich die günstige Gelegenheit, Arabisch zu lernen, und reiste dann durch die Wüste von Kairo nach Jerusalem. Darauf besuchte ich Petra, durchstreifte ganz Syrien und hatte so fortdauernd Gelegenheit, eine praktische Kenntniss des Arabischen zu erwerben; ein eingehendes Studium der Sprache nahm ich erst später in Petersburg vor. Nach der Rückkehr aus Syrien besuchte ich im Sommer 1859 Smyrna, die Kykladen und Athen und war eben im Begriff, nach der Insel Ithaka aufzubrechen, als ich vom Fieber befallen wurde. Zugleich kam mir auch die Nachricht aus Petersburg zu, dass der Kaufmann Stepan Solovieff, der fallirt hatte und nach 74
einer zwischen uns getroffenen Vereinbarung die bedeutenden Summen, die er mir schuldete, innerhalb vier Jahren und zwar in jährlichen Raten zurückzahlen sollte, nicht nur den ersten Termin nicht innegehalten, sondern überdies bei dem Handelsgerichte einen Process gegen mich angestrengt hatte. Unverzüglich kehrte ich nach Petersburg zurück, die Luftveränderung curirte mich vom Fieber, und in kürzester Zeit gewann ich auch den Process. Nun aber appellirte mein Gegner bei dem Senat, wo kein Process in weniger als drei bis vier Jahren zur Entscheidung gelangen kann, und da meine persönliche Gegenwart unumgänglich nothwendig war, nahm ich meine Handelsgeschäfte, sehr wider Willen, von neuem auf, und zwar diesmal in weit grösserm Maasstabe als je zuvor. Vom Mai bis October 1860 belief sich der Werth der von mir importirten Waaren auf nicht weniger als 10 Millionen Mark. Ausser in Indigo und Olivenöl machte ich in den Jahren 1860 und 1861 auch in Baumwolle sehr bedeutende Geschäfte, die durch den amerikanischen Bürgerkrieg und die Blokade der südstaatlichen Häfen begünstigt wurden und grossen Gewinn gaben. Als die Baumwolle aber zu theuer wurde, gab ich sie auf und machte Geschäfte in Thee, dessen Einfuhr auf dem Seewege vom Mai 1862 an gestattet wurde. Meine erste Theeordre an die Herren J . Henry Schröder & Co. in London war auf 30 Kisten; als diese vortheilhaft verkauft waren, Hess ich 1 000 und darauf 4000 und 6000 Kisten kommen, kaufte auch zu billigem Preise das ganze Theelager von Herrn J. E. Günzburg in St. Petersburg, der sich ganz vom Waarenhandel zurückziehen wollte, und verdiente in den ersten 6 Monaten 140000 M. an Thee, indem ich ausserdem noch 6% Zins vom Kapital hatte. Als aber im Winter von 1862 auf 1863 die Revolution in Polen ausbrach und die Juden die dort herrschende Unordnung benutzten, um riesige Quantitäten Thee nach Russland einzuschmuggeln, konnte ich, der ich immer den hohen Einfuhrzoll bezahlen musste, nicht die Concurrenz dieser Leute aushalten und zog mich daher wieder vom Theehandel zurück. Ich hatte damals noch 6000 Kisten auf Lager, die ich nur mühsam mit geringem Gewinn loswurde. Da ich wegen des niedrigem Landzolls allen Thee über Königsberg importirte, so gewährte mir das Theegeschäft die Freude, meine seit dem Krimkrieg unterbrochene Geschäftsverbindung mit den Herren Marcus Cohn & Sohn in Königsberg zu erneuern und von denselben viele neue Beweise ihrer Umsicht und ausserordentlichen Gewandtheit zu erhalten. Meine Haupt75
stapelwaare aber blieb der Indigo; denn da ich eine gründliche Kenntniss dieses Artikels besass und von den Herren J . HenrySchröder in London immer mit auserlesener und billiger Waare versehen wurde, dazu auch selbst grosse Quantitäten direct von Kalkutta importirte und nie, wie die übrigen Indigohändler in Petersburg, den Verkauf des Indigo meinen Commis oder Dienern überliess, sondern stets selbst im Speicher stand, um den Händlern die Waare zu zeigen und die Engrosverkäufe abzuschliessen, so hatte ich keine Concurrenz zu fürchten und durchschnittlich einen jährlichen Reingewinn von 200000 M. an Indigo und ausserdem 6% Zins vom Kapital. Da der Himmel fortfuhr, allen meinen kaufmännischen Unternehmungen ein wunderbares Gelingen zu schenken, befand ich mich schon gegen Ende des Jahres 1863 im Besitze eines Vermögens, das an Grösse alles übertraf, was ich in meinen kühnsten Träumen je zu erstreben gewagt hatte. Inmitten allen Gewühls des geschäftlichen Lebens aber hatte ich nie aufgehört, an Troja zu denken und an die 1830 mit meinem Vater und Minna getroffene Uebereinkunft, es dereinst auszugraben. Wol hing mein Herz jetzt am Gelde, aber nur, weil ich dasselbe als Mittel zur Erreichung dieses meines grossen Lebenszweckes betrachtete. Ausserdem hatte ich nur mit Widerwillen und weil ich für die Zeit des langwierigen Processes mit Solovieff eine Beschäftigung und Zerstreuung brauchte, meine kaufmännische Thätigkeit wieder aufgenommen. Als daher der Senat die Appellation meines Gegners abgewiesen und dieser mir im December 1863 die letzte Zahlung geleistet hatte, fing ich sofort an, mein Geschäft zu liquidiren. Bevor ich mich jedoch gänzlich der Archäologie widmete und an die Verwirklichung des Traumes meines Lebens ging, wollte ich noch etwas mehr von der Welt sehen. So reiste ich im April 1864 nach Tunis, nahm die Ruinen von Karthago in Augenschein, und ging von dort über Aegypten nach Indien. Der Reihe nach besuchte ich die Insel Ceylon, Madras, Kalkutta, Benares, Agra, Luknow, Delhi, das Himalaya-Gebirge, Singapore, die Insel Java, Saigon in Cochinchina und verweilte dann zwei Monate in China, wo ich nach Hong-Kong, Canton, Amoy, Foochoo, Shangai, Tin-Sin, Peking und bis zur Chinesischen Mauer kam. Dann begab ich mich nach Yokohama und Jeddo in Japan und von hier auf einem kleinen englischen Schiffe über den Stillen Ocean nach San-Francisco in Californien. Unsere Ueberfahrt dauerte 50 Tage, während deren ich mein erstes Buch „ L a Chine 76
et le Japon" schrieb. Von San-Francisco ging ich über Nicaragua nach den östlichen Vereinigten Staaten, von denen ich die meisten durchreiste; dann besuchte ich noch Havanna und die Stadt Mexico, und liess mich endlich im Frühjahr 1866 in Paris nieder, um mich dauernd dem Studium der Archäologie zu widmen, das ich von nun an nur durch gelegentliche kürzere Reisen nach Amerika unterbrach.
II. Erste Reise nach Ithaka, dem Peloponnes und Troja. 1868,186p Endlich war es mir möglich, den Traum meines Lebens zu verwirklichen, den Schauplatz der Ereignisse, die für mich ein so tiefes Interesse gehabt, und das Vaterland der Helden, deren Abenteuer meine Kindheit entzückt und getröstet hatten, in erwünschter Müsse zu besuchen. So brach ich im April 1868 auf und ging über Rom und Neapel nach Korfu, Kephalonia und Ithaka, welches letztere ich gründlich durchforschte; doch nahm ich hier nur in der sogenannten Burg des Odysseus, auf dem Gipfel des Berges Aetos, Ausgrabungen vor. Bei diesem Aufenthalte schon fand ich, dass die Localität der Insel mit den Angaben der Odyssee vollkommen übereinstimmte; ich werde Gelegenheit haben, dieselbe auf den folgenden Seiten genauer zu beschreiben. Später ging ich nach dem Peloponnes und untersuchte hier vorzugsweise die Ruinen von Mykenae, wobei es mir klar wurde, dass die jetzt durch meine Ausgrabungen so berühmt gewordene Stelle des Pausanias, in welcher die Königsgräber erwähnt sind, stets falsch interpretirt worden war, und dass der Perieget nicht, wie bisher allgemein angenommen, die Gräber als in der untern Stadt, sondern als in der Akropolis selbst gelegen bezeichnet hat. Dann besuchte ich Athen und schiffte mich im Piräus nach den Dardanellen ein, von wo ich mich nach dem Dorfe Bunarbaschi an der Südseite der Ebene von Troja begab. Bunarbaschi, mit den im Hintergrunde sich erhebenden Felshöhen des Bali-Dagh, war in neuerer Zeit bis dahin fast allgemein als die Stätte des homerischen Ilion betrachtet worden; die Quellen am Fusse des Dorfes mussten bei dieser Annahme für die von Homer erwähnten beiden Quellen gelten, deren eine warmes, die andere aber kaltes Wasser hervorsprudeln sollte. Anstatt jener zwei fand ich jedoch hier 34 Quellen vor, und wahrscheinlich sind sogar ihrer 40 vorhanden; 77
denn die Stelle wird heute von den Türken Kirk-Giös, d. h. „Vierzig Augen" genannt; überdies fand ich in allen Quellen eine gleiche Temperatur von i7°C. Ueberdies beträgt die Entfernung von Bunarbaschi bis zum Hellespont in gerader Richtung 8 englische Meilen (12,8 km), während die Angaben der Ilias zu beweisen scheinen, dass der Abstand von Ilion zum Hellespont nur kurz gewesen ist und höchstens 3 englische Meilen (4,8 km) betragen hat. Auch würde es unmöglich gewesen sein, dass Achilleus den Hektor hätte in der Ebene um die Mauern von Troja verfolgen können, falls Troja auf der Höhe von Bunarbaschi gelegen hätte. Alles dieses überzeugte mich nun sogleich, dass die homerische Stadt unmöglich hier gestanden haben könne; trotzdem aber wünschte ich, diese hochwichtige Sache durch Ausgrabungen noch näher zu untersuchen und festzustellen, und nahm deshalb eine Anzahl von Arbeitern an, die an hundert verschiedenen Punkten zwischen den Vierzig Quellen und dem äussersten Ende der Hügel Löcher in den Boden graben mussten. Aber sowol bei den Quellen als auch in Bunarbaschi und an allen übrigen Orten fand ich nur reinen Urboden und stiess schon in sehr geringer Tiefe auf den Felsen. Nur an dem südlichen Ende der Anhöhen befinden sich die Ruinen eines sehr kleinen befestigten Platzes, den ich in Uebereinstimmung mit meinem Freunde, Herrn Frank Calvert, Consul der Vereinigten Staaten in den Dardanellen, für identisch mit der alten Stadt Gergis halte. Hier hat im Mai 1864 der verstorbene österreichische Consul G. von Hahn gemeinschaftlich mit dem Astronomen Schmidt aus Athen einige Ausgrabungen vorgenommen; die durchschnittliche Tiefe der Trümmer beträgt nicht mehr als etwa anderthalb Fuss, und sowol Herr von Hahn wie ich fanden dort nur Scherben von ordinärer hellenischer Töpferwaare aus der makedonischen Zeit, aber kein einziges Bruchstück von archaischer Arbeit. Ausserdem fand ich, dass die Mauern der kleinen befestigten Stadt, in denen so viele archäologische Autoritäten die Mauern von Priam's Pergamos gesehen, ganz irrthümlich das Beiwort „kyklopische" erhalten hatten. Da die Resultate der Nachforschungen in Bunarbaschi somit rein negativer Natur waren, untersuchte ich alle Höhen auf der rechten und linken Seite der Ebene auf das sorgfältigste; aber all mein Suchen blieb vergeblich, bis ich an die Baustelle der Stadt kam, die von Strabo Novum Ilium (TÖ crc)fxept.v6v "I/aov, TÖ
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vöv "IXiov, yj vüv Ko7.it;) genannt wird; dieselbe liegt nur 3 englische Meilen (4,8 km) v o m Hellespont entfernt und stimmt in dieser sowie in jeder andern Beziehung vollständig mit den topographischen Erfordernissen der Ilias überein. Hier war es vornehmlich der heute Hissarlik genannte Hügel, der durch seine imposante Lage und seine natürlichen Befestigungen meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm; derselbe bildete die nordwestliche Ecke von N o v u m Ilium und schien mir die Lage der Akropolis dieser Stadt und die der Priamischen Pergamos zu bezeichnen. Nach den Messungen meines Freundes firmle Burnouf, Ehrendirectors der Französischen Schule in Athen, beträgt die absolute Höhe dieses Hügels 49,43 m. A m Rande des Nordabhanges und zwar auf einem Theile des Hügels, der zwei Türken in K u m Kaleh gehörte, fanden vor etwa 25 Jahren zwei Landleute in einem aufs gerathewohl gegrabenen Loche einen kleinen Schatz von ungefähr 1200 Silber-Statern des Antiochos III. Der erste neuere Autor, der die Identität Hissarliks mit der homerischen Stadt erkannte, war Maclaren, der durch die unwiderleglichsten Beweise darthat, dass Troja nie auf den Höhen von Bunarbaschi gestanden haben könne, und dass, wenn es überhaupt jemals existirt habe, Hissarlik seine Stätte bezeichnen müsse. Aber schon lange vor ihm hatte E d w . Dan. Clarke sich gegen Bunarbaschi erklärt und mit P. Barker Webb, der die nämliche Theorie vertheidigte, angenommen, dass die homerische Stadt bei dem heutigen Dorfe Chiblak gelegen haben müsse. Z u Gunsten Hissarliks erklärten sich als gewichtige Autoritäten auch George Grote, Julius Braun und Gustav von Eckenbrecher. Herr Frank Calvert, der früher ein Vertreter der Theorie TrojaBunarbaschi gewesen war, wurde durch die Beweisführungen der obengenannten Schriftsteller und besonders durch Maclaren und Barker Webb für die Troja-Hissarük-Theorie gewonnen, deren eifriger Verfechter er heute ist. Ihm gehört fast die Hälfte von Hissarlik. In zwei kleinen Gräben, die er auf diesem seinem Besitzthum gezogen, hatte er einige Ueberreste aus der römischen und der makedonischen Periode sowie auch ein Stück jener Mauer von hellenischer Arbeit zu Tage gefördert, die nach Plutarch von Lysimachos erbaut sein soll. Ich beschloss sofort hier Ausgrabungen zu beginnen, und kündigte diese Absicht in dem Werke „Ithaka, der Peloponnes und T r o j a " an, das ich gegen Ende des Jahres 1868 veröffentlichte.
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Ein Exemplar dieses Werkes nebst einer altgriechisch geschriebenen Dissertation übersandte ich der Universität Rostock und wurde dafür durch die Ertheilung der philosophischen Doctorwürde dieser Universität belohnt. Seitdem habe ich mit unermüdlichem Eifer stets danach gestrebt, mich dieser Ehre würdig zu zeigen. In den obengenannten Buche erwähnte ich auf Seite 90 u. 91, dass nach meiner Auslegung der betreffenden Stelle des Pausanias (II, 16, 4) die Königsgräber von Mykenae in der Akropolis selber, nicht aber in der untern Stadt gesucht werden müssen. Diese meine Interpretation widersprach nun der Auffassung aller andern Gelehrten, und so wurde ich damals viel verlacht. Aber seitdem es mir im Jahre 1876 gelungen ist, die Gräber mit ihren ungeheuern Schätzen an der von mir angegebenen Stelle aufzufinden, muss meine Deutung schliesslich doch als die einzig richtige angenommen werden. Da ich mich fast das ganze Jahr 1869 in den Vereinigten Staaten aufhalten musste, konnte ich erst im April 1870 nach Hissarlik zurückkehren und eine vorläufige Ausgrabung vornehmen, um zu erforschen, bis zu welcher Tiefe die künstliche Schuttaufhäufung reicht. Ich begann die Ausgrabung an der nordwestlichen Ecke, und zwar an einer Stelle, wo der Hügel beträchtlich an Grösse zugenommen hatte und wo demnach auch die Anhäufung von Schutt aus der hellenischen Zeit sehr bedeutend war. So legte ich erst, nachdem wir 16 Fuss tief in die Erde gegraben hatten, eine 6 1 / 2 Fuss starke Mauer von gewaltigen Steinen bloss, die, wie meine spätem Ausgrabungen bewiesen, zu einem Thurme aus der makedonischen Zeit gehörte.
III. Arbeit des ersten Jahres in Hissarlik.
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Um grössere Nachgrabungen anstellen zu können, bedurfte ich eines Fermans der Hohen Pforte, den ich erst im September 1871 durch die gütige Vermittelung meiner Freunde, des Ministerresidenten der Vereinigten Staaten zu Constantinopel, Mr. Wyne McVeagh, und des inzwischen verstorbenen trefflichen Dragomans der Gesandtschaft der Vereinigten Staaten, Mr. John P. Brown, erhielt. Endlich am 27. September konnte ich mich nach den Dardanellen begeben, und zwar diesmal in Begleitung meiner Frau, Sophia Schliemann, die, eine Griechin, aus Athen gebürtig 80
und eine warme Bewundrerin des Homer, mit freudigster Begeisterung an der Ausführung des grossen Werkes theilnahm, das ich fast ein halbes Jahrhundert vorher in kindlicher Einfalt mit meinem Vater verabredet und mit Minna geplant hatte. Aber immer neue Schwierigkeiten wurden uns von Seiten der türkischen Behörden in den Weg gelegt, und so konnten wir die eigentlichen Ausgrabungen nicht vor dem n . October in Angriff nehmen. Da kein anderes Obdach vorhanden war, mussten wir in dem benachbarten, etwa 2 km von Hissarlik entfernten türkischen Dorfe Chiblak unser Quartier aufschlagen. Nachdem wir bis zum 24. November täglich mit einer durchschnittlichen Anzahl von 80 Arbeitern thätig gewesen waren, wurden wir durch die vorgerückte Jahreszeit gezwungen, unsere Ausgrabungen für den Winter einzustellen. Doch hatten wir in dieser Zeit schon einen breiten Graben an dem steilen Nordabhange ziehen und bis zu einer Tiefe von 3 3 Fuss unter die Oberfläche des Berges hinabgraben können. Dabei fanden wir zunächst die Trümmer des spätem aiolischen Ilion (Novum Ilium), die durchschnittlich bis zu 6 1 / 2 Fuss Tiefe hinabreichten, und mussten leider die Grundmauern eines 5 9 Fuss langen und 43 Fuss breiten Gebäudes aus grossen behauenen Steinen zerstören, welches, nach den darin und dicht daneben gefundenen Inschriften (die ich in dem Kapitel über Novum Ilium wiedergebe) zu schliessen, das Bouleuterion oder Senatshaus gewesen zu sein scheint. Unter diesen hellenischen Ruinen, bis zu einer Tiefe von ungefähr 13 Fuss, enthielt der Schutt nur wenige Steine und etwas sehr rohe mit der Hand gemachte Töpferwaare. Unter dieser Schicht aber stiess ich auf viele Hausmauern von unbearbeiteten, mit Erde zusammengefügten Steinen, und zum ersten mal auf eine ungeheuere Menge von Steinwerkzeugen und Handmühlen, sowie auf grössere Quantitäten roher, ohne Töpferscheibe gefertigter Topfwaare. Von etwa 20 bis zu 30 Fuss unter der Oberfläche zeigte sich nichts als calcinirter Schutt, ungeheuere Massen an der Sonne getrockneter oder leicht gebrannter Backsteine und aus denselben aufgeführte Hausmauern, zahlreiche Handmühlen, aber weniger andere Steinwerkzeuge, und feinere, freilich auch noch mit der Hand verfertigte Thongefässe. In einer Tiefe von 30 und 33 Fuss stiessen wir auf Mauerwerk aus grossen, zum Theil roh behauenen Steinen, sowie auch auf eine Menge sehr grosser Blöcke. Die Steine dieser Häusermauern sahen aus, als wären sie durch ein heftiges Erdbeben auseinandergerissen wor-
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den. Meine Werkzeuge für die damaligen Ausgrabungen waren noch sehr mangelhaft: ich arbeitete nur mit Spit2hauen, hölzernen Schaufeln, Körben und 8 Schiebkarren.
IV. Zweites Jahr der Arbeiten in Hissarlik. 187z Gegen Ende März 1872 kehrte ich mit meiner Frau nach Hissarlik zurück und nahm die Ausgrabungen mit 100 Arbeitern wieder auf. Bald war ich im Stande, die Zahl meiner Arbeiter auf 130 zu erhöhen, und nicht selten beschäftigte ich sogar 15 o Leute ... An dem steilen Nordabhange von Hissarlik, der unter einem Winkel von 450 ansteigt, in senkrechter Richtung genau 4Ö1/2 Fuss unterhalb der Oberfläche des Hügels, liess ich jetzt eine Plattform von 233 Fuss Breite abstechen; bei dieser Arbeit fanden wir eine ungeheuere Menge giftiger Schlagen, darunter eine beträchtliche Anzahl der kleinen braunen Antelion (dcvnrjXiov) genannten Nattern, die kaum dicker als Regenwürmer sind und ihren Namen dem Volksglauben verdanken, dass ein durch ihren Biss Verwundeter nur bis zum Sonnenuntergang am Leben bleibe. Da ich selbst in dieser Tiefe noch nicht den Urboden erreichte, so liess ich einen Brunnen ausräumen, dessen Mündung ich in einer Tiefe von zwei Metern unter der Oberfläche gefunden hatte und der, da er aus mit Cement verbundenen Steinen gebaut ist, von den Bewohnern von Novum Ilium gemacht sein muss. Zu meinem Erstaunen fand ich, dass das Mauerwerk dieses Brunnens 5 3 Fuss tief reicht und dass der Brunnen erst in dieser Tiefe in den Felsen hinabgeht. Ein kleiner Tunnel, den ich von diesem Punkte aus, der Oberfläche des Felsens folgend, grub, bewies mir, dass diese nur mit einer geringfügigen Erdschicht bedeckt war, auf welche die Haustrümmer unmittelbar folgten. Somit sah ich ein dass ich meine grosse Plattform um zwei Meter zu hoch angelegt hatte, und gab derselben daher eine Neigung, um den Unterschied wieder einzuholen. Ich fand, dass die unterste Schicht aus sehr compactem steinharten Mauerschutt und aus Häusermauern von kleinen unbearbeiteten oder rohbehauenen Kalksteinen bestand, die derartig aneinandergefügt waren, dass die Fuge zwischen zwei Steinen immer durch einen dritten Stein gedeckt wurde. Auf diese niedrigste Schicht folgten Hausmauern von grossen, meist unbearbeiteten, manchmal aber auch Zu roh viereckiger Gestalt behauenen Kalksteinblöcken. Mehrmals
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stiess ich auf grosse Massen solcher massiven Blöcke, die dicht übereinanderlagen und wie Mauertrümmer irgendeines grossen Gebäudes aussahen. Nirgends, weder in dieser Schicht von Gebäuden aus grossen Steinen noch auch in der untersten Schuttlage, war eine Spur einer Zerstörung durch Feuersgewalt zu bemerken; überdies waren die zahlreichen Muschelschalen, die sich in den beiden untern Schichten vorfanden, vollkommen unversehrt, ein Umstand, der deutlich beweist, dass sie keiner grossen Hitze ausgesetzt gewesen sind. Die Steinwerkzeuge, die ich in diesen beiden Schichten fand, waren den früher entdeckten vollständig gleich, nur war die Töpferwaare hier von anderer Art und unterschied sich auch von der in den nächstfolgenden Schichten enthaltenen. Da das Abstechen der grossen Plattform an der Nordseite von Hissarlik nur langsam von statten ging, fing ich am i. Mai an, auf der Südseite einen sehr grossen Graben zu ziehen, dem ich, da der Abhang sich hier nur sehr allmählich abdacht, eine Neigung von 14° geben musste. Ziemlich nahe an der Oberfläche deckten wir hier eine stattliche, aus grossen behauenen Kalksteinblöcken zusammengefügte Bastion auf, die wol aus der Zeit des Lysimachos herrühren mag. Der südliche Theil von Hissarlik ist hauptsächlich aus dem Schutt des spätem Ilion entstanden, und aus diesem Grunde finden sich hier griechische Alterthümer bis zu einer viel grössern Tiefe unter der Oberfläche als auf dem Gipfel des Hügels. Da es meine Absicht war, Troja auszugraben, und da ich dasselbe in einer der untern Städte zu finden erwartete, musste ich manche interessante Ruine in den obern Schichten zerstören; so z. B. in einer Tiefe von 20 Fuss unter der Oberfläche die Ruinen eines prähistorischen Gebäudes von 10 Fuss Höhe, dessen aus behauenen, mit Lehm zusammengefügten Kalksteinblöcken bestehende Mauern vollkommen glatt waren. Augenscheinlich gehörte dieses Haus zu der vierten der nacheinander auf den Urboden folgenden gewaltigen Trümmerschichten; und wenn, wie nicht bezweifelt werden kann, jede Schicht die Ruinen einer besondem Stadt darstellt, so gehörte es zur vierten Stadt. Es stand auf den calcinirten Backsteinen und andern Trümmern der dritten Stadt, welche letztere augenscheinlich die Ruinen von vier verschiedenen Gebäuden bezeichneten, die nacheinander auf derselben Baustelle gestanden hatten, und deren unterstes auf Mauertrümmern oder losen Steinen der zweiten Stadt erbaut worden war . . . 6
Herrmann
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Die grosse Ausdehnung, die meine Ausgrabungen allmählich angenommen hatten, machte die Beschäftigung von nicht weniger als 120—150 Arbeitern erforderlich, und wegen der beginnenden Erntezeit musste ich schon am 1. Juni die Arbeitslöhne auf 2 Fr. erhöhen. Aber trotzdem würde es mir bald nicht mehr möglich gewesen sein, die nöthige Anzahl von Leuten zusammenzubringen, hätte nicht der verstorbene Herr Max Müller, deutscher Consul in Gallipoli, mir 40 Arbeiter von dort geschickt. Nach dem 1. Juli konnte ich ohne jede Schwierigkeit wieder eine stehende Anzahl von 150 Leuten aus der Umgegend bekommen. Durch die gütige Vermittelung des englischen Consuls in Konstantinopel, Mr. Charles Cookson, verschaffte ich mir 10 Handwagen, die von zwei Leuten gezogen und von einem dritten geschoben wurden. So konnte ich nun mit 10 Handwagen und 88 Schiebkarren arbeiten; daneben hielt ich noch 6 Pferdekarren, von denen jeder 5 Fr. oder 4 M. pro Tag kostete, sodass die Kosten meiner Ausgrabungsarbeiten sich auf mehr als 400 Fr. oder 320 M. täglich beliefen. Ausser Wagenwinden, Ketten und gewöhnlichen Winden bestanden meine Werkzeuge aus 24 grossen eisernen Hebeln, 108 Spaten, IOJ Spitzhauen, sämmtlich vom besten englischen Fabrikat. Ich hatte drei vortreffliche Aufseher, daneben aber waren auch meine Frau und ich vom Sonnenaufgang bis -Untergang fortwährend bei den Arbeiten zugegen. Aber mit der von Tag zu Tag grösser werdenden Entfernung, bis zu welcher wir den abgegrabenen Schutt fortbringen mussten, wuchsen auch die Schwierigkeiten der Arbeit. Dazu kam noch als äusserst lästiges Hinderniss der unaufhörlich von Norden wehende oft orkanartige Wind, der uns den Staub in die Augen trieb und uns blendete ...
V. Arbeiten des dritten Jahres auf Hissarlik. 1873 Am 14. August stellte ich die Ausgrabungen für das Jahr 1872 ein und nahm dieselben am 1. Februar 1873 in Gemeinschaft mit meiner Frau wieder auf. Neben unsern beiden hölzernen Gebäuden hatten wir im vorhergehenden Herbste noch ein Wohnhaus mit 2 Fuss dicken Mauern für uns errichten lassen, zu dem von mir ausgegrabenen Steine von alten trojanischen Bauwerken das Material abgegeben hatten. Doch mussten wir dieses Haus jetzt unsern Aufsehern einräumen, die nicht mit warmen Kleidungsstücken und Decken hinreichend versehen waren, und
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sonst bei der grossen Winter kälte umgekommen sein würden. So hatten meine arme Frau und ich viel zu leiden; denn der scharfe eisige Nordwind, der an Homer's häufige Erzählung von dem Brausen des Boreas erinnerte, blies so heftig durch die Fugen der Breterwände unsers Hauses, dass wir Abends unsere Lampen nicht einmal anzünden konnten, und dass, trotzdem wir ein Feuer auf dem Herde unterhielten, das Thermometer doch —4 °R. zeigte, und Wasser, welches neben dem Herde stand, zu festem Eise gefror. Während des Tages konnten wir die Kälte durch Arbeiten bei den Ausgrabungen einigermassen ertragen, aber Abends hatten wir ausser unserer Begeisterung für das grosse Werk der Entdeckung Trojas nichts, was uns erwärmen konnte. Einmal entgingen wir nur mit genauer Noth dem Verbrennungstode. Die Steine unsers Herdes ruhten unmittelbar auf den Dielen des Fussbodens; war nun der Cement, der die Steine verband, geborsten oder war irgendeine andere Ursache vorhanden, ich weiss es nicht: genug, der Fussboden unsers Zimmers fing Feuer, und als ich zufällig eines Morgens um 3 Uhr erwachte, stand ein etwa 2 m langes und 1 m breites Stück der Dielen in Flammen. Das Zimmer war mit dichtem Rauche angefüllt, und eben hatte das Feuer sich auch schon der nördlichen Wand mitgetheilt; nur wenige Secunden konnte es noch dauern, so musste ein Loch durchgebrannt sein, und dann würde bei dem starken Nordsturm das ganze Haus in weniger als einer Minute in hellen Flammen gestanden haben. Trotz meines Schreckens verlor ich die Geistesgegenwart nicht: ich goss den Inhalt einer Badewanne gegen die brennende Wand und löschte so in einem Augenblick das Feuer auf dieser Seite. Unser lautes Rufen weckte einen Arbeiter, der in dem anstossenden Zimmer schlief, und dieser rief aus dem steinernen Hause die Aufseher zu Hülfe. In grösster Hast brachten sie Hämmer, eiserne Hebel und Spitzhauen herbei; der Fussboden wurde aufgerissen, in Stücke zerhauen, und schliesslich noch Massen feuchter Erde darübergeworfen, denn Wasser hatten wir nicht. Aber da die untere Balkenlage auch an vielen Stellen brannte, verging eine Viertelstunde, bis wir das Feuer bewältigt hatten und alle Gefahr beseitigt war. In den ersten drei Wochen hatte ich durchschnittlich nur :ioo Arbeiter, aber schon am 24. Februar konnten wir diese Zahl auf 158, bald sogar auf 160 Mann vermehren, und dies blieb bis zuletzt die durchschnittliche Zahl unsrer Leute. Die Ausgrabungen auf dem an der Nordseite gelegenen Felde 6*
des Mr. Frank Calvert wurden fleissig fortgesetzt; ausserdem liess ich noch einen zweiten Graben von 421/2 Fuss Breite ziehen; derselbe befand sich ebenfalls an der nördlichen Seite und zwar am östlichen Ende meiner grossen Plattform ... In diesem neuen Graben mussten wir zunächst eine 10 Fuss dicke Mauer durchbrechen, die aus grossen Marmorblöcken, hauptsächlich aber aus korinthischen Säulentrommeln, mit Kalk aneinandergefügt, bestand; danach kam noch die Mauer des Lysimachos, die 10 Fuss dick und aus grossen behauenen Steinen erbaut war. Auch zwei trojanische Mauern, mussten durchbrochen werden, von denen die erste 51/i, die zweite aber 10 Fuss stark war; beide bestanden aus Steinen, die mit Lehm zusammengefügt waren ... In der That steht das Labyrinth von uralten Hausmauern, die übereinandergebaut und tief unter dem von Lysimachos errichteten Athene-Tempel gefunden worden sind, einzig in seiner Art da und bietet dem Archäologen ein reiches Feld für seine Forschungen. Was mir aber als das Unerklärlichste an diesem Mauerlabyrinth erscheint, das ist eine der obenerwähnten Befestigungsmauern, die, I I 3 / 4 F U S S hoch, von W.N.W, nach O.S.O. durch das Ganze sich hinzieht. Sie ist ebenfalls aus kleinen mit Lehm zusammengefügten Steinen erbaut und hat an ihrem obern Theil eine Breite von 6, am Grunde aber von 12 Fuss. Sie steht nicht unmittelbar auf dem Felsboden, sondern ist erst gebaut worden, nachdem der Felsen sich allmählich mit einer I3/4 Fuss tiefen Erdschicht bedeckt hatte. Mit diesem Befestigungswalle parallel laufend, in derselben Tiefe und nur 21/2 Fuss von ihm entfernt, zieht sich eine 2 Fuss hohe Mauer hin, die auch aus mit Lehm verbundenen Steinen erbaut ist. Das tiefste Zimmer, das ich ausgegraben habe, ist 10 Fuss hoch und 111^ Fuss breit; vielleicht ist es ursprünglich noch höher gewesen: seine Längenausdehnung konnte ich nicht feststellen. Eins der Gemächer in den obersten, unter dem Athene-Tempel belegenen und der dritten, der verbrannten Stadt angehörenden Häusern scheint als Keller eines Weinhändlers oder als Magazin gedient zu haben; denn in ihm befinden sich neun ungeheuere irdene Krüge (711601) von verschiedener Form, von 5 3/4 Fuss Höhe, 43/4 Fuss Durchmesser und mit Mündungen von 29^2—351/4 Zoll Weite. Jeder Krug hat vier 33/4 Zoll breite Griffe; seine Wandungen aber haben eine Stärke von nicht weniger als 21/4 Zoll. Südwärts von diesen Krügen fand ich eine 26 Fuss lange, 10 Fuss hohe 86
Festungsmauer; sie bestand aus an der Sonne getrockneten Ziegeln, welche durch die Feuersbrunst durch und durch gebrannt, dennoch aber sehr zerbrechlich waren. Um Mitte März liess ich dicht neben meinem hölzernen Hause westlich vom Grossen Thurme eine grosse Ausgrabung anfangen. Dabei fand ich dicht unter der Oberfläche die Ruinen eines umfangreichen Hauses aus der griechischen Periode, das bis zu einer Tiefe von 6 1 / 2 Fuss hinabreichte. Endlich deckte ich etwa 30 Fuss unter der Oberfläche eine Strasse von IJ1^ Fuss Breite auf, die mit 4V4—5 Fuss langen und 35 Zoll bis 4 1 j 2 Fuss breiten Steinplatten gepflastert ist und in südwestlicher Richtung ziemlich steil zur Ebene hinabführt. Die Neigung der Strasse ist so bedeutend, dass, während sie an der Nordseite, soweit sie dort eben aufgedeckt ist, nur 30 Fuss unter der Oberfläche des Hügels liegt, sie schon in einer Entfernung von 33 Fuss nicht weniger als 37 Fuss tief hinabreicht. Diese schöngepflasterte Strasse liess mich darauf schliessen, dass vor Zeiten ein grossartiges Gebäude an ihrem obern Ende und zwar in geringer Entfernung an der Nordostseite gestanden haben müsse. So stellte ich denn unverzüglich 100 Mann an, die den nach Nordosten davorüegenden Erdboden abgraben mussten. Ich fand die Strasse 7—10 Fuss hoch mit gelber, rother oder schwarzer Holzasche bedeckt, die mit völlig gebrannten und oft theilweise verglasten mehr oder weniger zertrümmerten Ziegeln und Steinen untermischt war. Ueber dieser dicken Schuttschicht fand ich die Ruinen eines grossen Gebäudes aus mit Lehm zusammengefügten Steinen, von dem ich nur so viel abbrach, als zur Freilegung der Strasse und ihrer Brustwehren nöthig war. Indem wir so in nordöstlicher Richtung vordrangen, deckten wir zwei grosse, 20 Fuss voneinander stehende Thore auf, in deren jedem sich ein langer kupferner Riegel befand, der ohne Zweifel dazu gedient hatte, die hölzernen Thorflügel zu schliessen. Ich gebe unter Nr. 1 1 und Nr. 12 Zeichnungen der Riegel. Die erste Pforte ist i2 1 / 4 Fuss breit und wird durch zwei Vorspränge der Seitenmauer gebildet, von denen der eine 2 1 / 2 , der andere aber 23/4 Fuss weit vortritt; beide haben eine Höhe von 3 1 / i , eine Breite von 3s/4 Fuss ... Ich deckte die Strasse bis etwa 5 Fuss nach Nordosten über das zweite Thor hinaus auf; weiter vorzugehen wagte ich jedoch nicht, da dies nur ausführbar gewesen wäre, wenn man mehr von den Mauern des grossen Gebäudes niedergerissen hätte, welches
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auf der die ganze Strasse 7—10 Fuss hoch bedeckenden Schuttmasse stand. Natürlich stammt dieses Haus aus einer spätem Zeit als das Doppelthor; trotzdem aber schien es mir in archäologischer Beziehung besonders interessant, und zwar um so mehr, als unter ihm sich die Ruinen eines weitläufigen und noch ältern Gebäudes befanden, die sich links und rechts von dem Thore hinzogen. Dieses letztere Gebäude steht auf gleichem Niveau mit dem Doppelthore, und da das eine, nach Nordwesten belegene, das grösste Bauwerk in der verbrannten Stadt (der dritten nach dem Urboden) gewesen zu sein scheint, so hielt ich dasselbe für das Haus des letzten Oberhauptes oder Königs der alten Stadt; und die Richtigkeit dieser meiner Annahme scheint durch die Menge von grössern und kleinern Schätzen, die ich späterhin in und neben dem Hause auffand, bestätigt zu werden. Dass das neuere Haus erst erbaut worden ist, als die Ruinen des ältern mit Asche und calcinirtem Schutt vollständig bedeckt waren, geht aus dem Umstände hervor, dass die neuern Mauern in beliebiger Richtung über den ältern hinliefen, nie unmittelbar auf diesen standen und oft durch eine 61/2—10 Fuss starke Schicht calcinirten Schuttes von ihnen getrennt waren. Die zerstörten Mauern des untern sowol als auch die des obern Hauses sind aus mit Lehm zusammengefügten Steinen gebaut; doch ist das Mauerwerk des untern Gebäudes beträchtlich stärker und fester gebaut als das des obern. Natürlich kann das neuere Haus nur erst erbaut worden sein, als die Strasse schon unter den Trümmern der ältern Bauwerke 7—10 Fuss tief verschüttet lag. Diese und ähnliche Erwägungen Hessen es mir wünschenswerth erscheinen, soviel als möglich von dem alten und dem neuern Gebäude zu conserviren, zumal da ich fürchtete, dass man meinen Angaben vielleicht keinen Glauben schenken würde. So liess ich denn, nachdem ich die beiden Thore freigelegt hatte, die Ruinen beider Gebäude unversehrt an ihrem Platze und deckte nur diejenigen Gemächer des alten Hauses auf, die ohne Beschädigung des obern Gebäudes ausgegraben werden konnten. Eine grosse Menge von höchst merkwürdigen Thongefässen, deren Beschreibung der Leser weiter unten finden wird, wurde in diesen Gemächern entdeckt. Die strenge Kälte hielt nicht lange an, und wir hatten danach herrliches Wetter. Die Nächte blieben freilich bis zur zweiten Hälfte des März noch kalt, und das Thermometer fiel nicht selten gegen Morgen auf den Gefrierpunkt; dafür begann am Tage die 88
Sonnenhitze schon lästig zu werden; oft zeigte das Thermometer mittags im Schatten 18 °R. Von den ersten Tagen des März an ertönte aus den umliegenden Sümpfen das unaufhörliche Gequake von Millionen von Fröschen, und in der zweiten Woche des März kehrten die Störche zurück. Zu den vielen Unannehmlichkeiten unsers Aufenthaltes in jener wüsten Gegend gehörte auch das hässliche Geschrei der zahllosen Eulen, die in den Löchern unserer Grubenwände nisteten; ihr unheimliches, wildes Kreischen war zumal bei Nacht unerträglich. Bis zum Anfang Mai 1873 hatte ich immer angenommen, dass der Hügel von Hissarlik, in dem ich meine Ausgrabungen vornahm, nur die Stätte der trojanischen Pergamos bezeichnete; ist es doch Thatsache, dass Hissarlik die Akropolis von Novum Ilium gewesen ist. So nahm ich denn auch an, dass Troja grösser, oder wenigstens ebenso gross gewesen sein müsse, wie die spätere Stadt; es war mir aber von grosser Wichtigkeit, die genauen Grenzen der homerischen Stadt feststellen zu können, und so liess ich auf der West-, Südwest-, Südsüdost- und Ostseite von Hissarlik, unmittelbar an seinem Fusse, sowie auch in einiger Entfernung davon, auf dem Plateau des Ilion der Griechencolonie, nicht weniger als zwanzig bis auf den Felsen reichende Schachte abteufen. Da ich nun in allen diesen Schachten nur Bruchstücke hellenischer Thongefässe und hellenischen Mauerwerks, nirgends aber eine Spur von prähistorischen Thongeräthen oder Mauern vorfand, und da überdies der Hügel von Hissarlik nach Norden, Nordosten und Nordwesten, d. h. nach dem Hellespont hin, sehr steil abfällt, auch nach Westen gegen die Ebene einen ziemlich steilen Abhang bildet, konnte die alte Stadt sich nicht wohl in einer dieser Richtungen über den Hügel hinaus erstreckt haben. So scheint es denn unzweifelhaft, dass die alte verbrannte Stadt auf keiner Seite über das ursprüngliche Plateau dieser Citadelle hinausgereicht hat, deren Umfang nach Süden und Südwesten durch den Grossen Thurm und das Doppelthor, gegen Nordwesten, Nordosten und Osten durch die grosse Mauer bezeichnet wird. Auf dem Plane des hellenischen Ilion findet der Leser die 20 Schachte, die ich rings ausserhalb des Hügels abteufte, durch die Buchstabens! bis U genau bezeichnet; auch die Tiefe, in der jeder von ihnen den Felsen erreichte, ist angegeben; von den sieben tiefsten Schachten aber sind Durchschnittszeichnungen gegeben. Ich mache daher ganz besonders auf diesen Plan aufmerksam... Was die Einwohner der fünf prähistorischen Städte von Hissar-
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lik anbetrifft, so scheint bei ihnen die Verbrennung der Todten allgemeiner Gebrauch gewesen zu sein; im Jahre 1872 fand ich zwei dreifüssige Urnen mit verbrannten menschlichen Ueberresten auf dem Urboden der ersten Stadt; in den Jahren 1871, 1872 und 1873 aber förderte ich aus der dritten und vierten Stadt eine bedeutende Anzahl grosser Leichenurnen zu Tage, die menschliche Aschenüberreste, aber keine Knochen enthielten; nur einmal fand ich in einer derselben einen Zahn, ein anderes mal einen Schädel in der Asche vor, der bis auf das Fehlen des Unterkiefers vollständig gut erhalten war; eine bronzene Tuchoder Haarnadel die dabeilag, liess mich darauf schliessen, dass er einer Frau angehört hatte. Herr Prof. Virchow hat die Güte gehabt, geometrische Zeichnungen dieses Schädels zu machen, welche ich zusammen mit seiner Abhandlung darüber und über die andern Schädel in dem Kapitel der dritten, der verbrannten Stadt, geben werde ... Um auch die Befestigungswerke auf der West- und Nordwestseite der alten Stadt erforschen zu können, liess ich im Anfang Mai 1873 auf der Nordwestseite des Hügels, und zwar genau an derselben Stelle, wo ich im April 1870 den ersten Graben gemacht hatte, einen Graben von 33 Fuss Breite und 141 Fuss Länge in Angriff nehmen... Um die grossen Ausgrabungen auf der Nordwestseite des Hügels möglichst zu beschleunigen, liess ich auch von der Westseite aus einen tiefen Einschnitt machen, mit welchem ich unglücklicherweise in schräger Richtung auf die hier ebenfalls 13 Fuss hohe und 10 Fuss starke Umfassungsmauer des Lysimachos traf; so musste ich, um mir einen Durchgang zu bahnen, die doppelte Quantität von Steinen wegbrechen. Aber wieder stiess ich dann auf die Ruinen grosser Gebäude aus der hellenischen und vorhellenischen Periode, sodass die Ausgrabung nur langsam fortschreiten konnte. In einer Entfernung von 69 Fuss von dem Abhänge des Hügels und in einer Tiefe von 20 Fuss traf ich auf eine alte Umfriedigungsmauer von 5 Fuss Höhe, die mit vortretenden Zinnen versehen war, und, nach ihrer verhältnissmässig modernen Bauart und geringen Höhe zu schliessen, einer nachtrojanischen Periode angehören muss. Dahinter fand ich einen ebenen, zum Theil mit grossen Steinplatten, zum Theil aber auch mit mehr oder weniger behauenen Steinen gepflasterten Platz und hinter diesem wieder eine 20 Fuss hohe, 5 Fuss starke Befestigungsmauer aus grossen Steinen und Lehm, 90
die unter meinem hölzernen Hause, aber 61/2 Fuss über der von dem Thore ausgehenden trojanischen Umfassungsmauer hinlief. Während wir an dieser Umfassungsmauer vordrangen und immer mehr von ihr aufdeckten, traf ich dicht neben dem alten Hause, etwas nordwestlich von dem Thore, auf einen grossen kupfernen Gegenstand von sehr merkwürdiger Form, der sogleich meine ganze Aufmerksamkeit um so mehr auf sich zog, als ich glaubte, Gold dahinter schimmern zu sehen. Auf dem Kupfergeräthe aber lag eine steinharte 43/4—5x/4 Fuss starke Schicht röthlicher und brauner calcinirter Trümmer, und über dieser wieder zog sich die obenerwähnte 5 Fuss dicke und 20 Fuss hohe Befestigungsmauer hin, die kurz nach der Zerstörung Trojas errichtet sein muss. Wollte ich den werthvollen Fund für die Alterthumswissenschaft retten, so war es zunächst geboten, ihn mit grösster Eile und Vorsicht vor der Habgier meiner Arbeiter in Sicherheit zu bringen; deshalb liess ich denn, obgleich es noch nicht die Zeit der Frühstückspause war, unverzüglich zum Pai'dos rufen. Dieses in die türkische Sprache übergegangene Wort von unbekannter Abstammung wird hier allgemein für